Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass wir heute die Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes abschließend beraten können. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für die Familien in Deutschland. Die erste Lesung fand bereits am 27. November 2020 statt, also vor ziemlich genau zwei Monaten. Dank der sehr konstruktiven Beratungen und Berichterstattergespräche sind wir heute in der abschließenden Lesung. Mit diesem Gesetz machen wir gemeinsam Tempo für Familien und stellen das beliebte Elterngeld besser und krisenfester auf.
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Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen Eltern dabei unterstützen, Familienleben und Beruf noch besser zu vereinbaren, und das partnerschaftlich. Um das zu erreichen, sorgen wir mit diesem Gesetz für mehr Flexibilität und für weniger Bürokratie. Wir sorgen dafür, dass dem partnerschaftlichen Prinzip, der Partnerschaftlichkeit beim Elterngeld verstärkt Rechnung getragen wird. Wir erhöhen beim Partnerschaftsbonus die Stundengrenze für Teilzeit im Elterngeld auf 24 bis 32 Stunden pro Woche. Es soll zukünftig die Ausnahme sein, dass Eltern Nachweise über ihre Arbeitsstunden einreichen müssen, wenn sie während des Elterngeldbezugs in Teilzeit arbeiten. Das erspart Eltern, Elterngeldstellen und den Betrieben auch jede Menge Bürokratie. Zudem machen wir mit diesem Gesetz das Elterngeld krisenfester und stärken so unseren Familien den Rücken.
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So regeln wir, dass sich die Höhe des Elterngeldes für teilzeitarbeitende Eltern nicht verändert, wenn sie zum Beispiel Kurzarbeitergeld oder Krankengeld erhalten; denn wir wollen nicht, dass Eltern, die Lohnersatzleistungen beziehen, auch noch weniger Elterngeld bekommen. Das ist gerade jetzt, in Zeiten der Pandemie, eine gute Nachricht. Wir verlängern wichtige Coronasonderregelungen, die wir im letzten Frühjahr eingeführt haben, bis zum Ende dieses Jahres. So müssen Eltern die vier zusätzlichen Elterngeld-Plus-Monate des Partnerschaftsbonus nicht zurückzahlen, wenn sie wegen der Pandemie oder einer Krankheit nicht wie geplant in Teilzeit arbeiten konnten.
Außerdem sorgen wir dafür – dafür danke ich Ihnen als Parlament sehr –, dass Eltern, deren Kind zu früh geboren wird, bessergestellt werden.
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Im Gesetzentwurf hatten wir ursprünglich einen Frühchenmonat vorgesehen. Das Parlament hat den Gesetzentwurf hier noch einmal besser gemacht und hat dafür gesorgt, dass man für Kinder, die mindestens acht Wochen zu früh geboren werden, einen weiteren zusätzlichen Elterngeldmonat bekommt, also zwei Monate, für 12 Wochen zu früh geborene Kinder drei zusätzliche Elterngeldmonate und, wenn das Kind 16 Wochen zu früh geboren wird, sogar vier zusätzliche Elterngeldmonate. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es einen großen Unterschied macht, ob ein Kind 6 Wochen oder 16 Wochen zu früh geboren wird. Es ist gut, dass das so verabredet und vereinbart worden ist. Dafür möchte ich Ihnen hier im Parlament sehr herzlich danken. Das haben Sie erreicht. Herzlichen Dank dafür!
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Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz machen wir das Elterngeld partnerschaftlicher, flexibler, unbürokratischer. Wir stärken Familien in unserem Land mit der bekanntesten und beliebtesten Familienleistung Deutschlands. Über 7 Milliarden Euro geben wir jedes Jahr dafür aus. Die Elterngeldreform ist ein Bestandteil, ein Baustein unserer modernen Familienpolitik, eine Politik, die die Interessen und Bedürfnisse der Eltern und der Familien in den Mittelpunkt stellt. Das ist ein gutes Zeichen, gerade in der Krise. Deshalb vielen herzlichen Dank für Ihre Unterstützung.
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Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Landsleute! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Elterngeld ist kein großer Wurf, sondern eher ein mageres Herumdoktern an einem System, das einer grundlegenderen Reform bedarf. Der positivste Aspekt des Gesetzes ist noch, dass die Problematik bei Frühchen tatsächlich angegangen wird. Die geplante Lösung überzeugt aber nicht komplett. Um die notwendige medizinische Versorgung Frühgeborener zu berücksichtigen, haben wir als AfD sogar die Empfehlung des Bundesrates auf unserer Seite, wenn wir sagen, dass das Elterngeld ab der Entlassung des Kindes aus dem Krankenhaus beginnen soll. Beim Bezug von Elterngeld Plus verschlechtert der Gesetzentwurf sogar die bisherige Lage der Eltern. Mit der neuen Regelung können Eltern nur bis zum 32. Lebensmonat Elterngeld Plus beziehen statt wie bisher bis zum 48. Monat. Hier muss man zwangsläufig feststellen, dass die Regierung nicht nur ihren eigenen Anspruch der Flexibilisierung konterkariert, sondern sogar bewusst an den Eltern sparen will und einen ersatzlosen Verfall der Familienleistungen billigend in Kauf nimmt!
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2007 hatte die damalige Bundesregierung die Einführung des Elterngeldes noch mit der extrem niedrigen Geburtenrate und der Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Lebensentwürfen begründet. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Anstatt für eine moderne, aktivierende Familienpolitik Geld in die Hand zu nehmen, um die demografische Krise zu überwinden, betreibt das SPD-geführte Ministerium heute vielmehr ideologische Gleichstellung. Der Partnerschaftsbonus ist zwar rhetorisch gut geframt, aber es besteht hier keine Chancengleichheit unter den Familienmodellen. Mit den zusätzlichen Bonusmonaten werden zum Beispiel Doppelverdienerpärchen im öffentlichen Dienst mit einem Kind belohnt, während Selbstständige sich schwer damit tun, volle zwölf Monate in Elternzeit zu gehen.
Und was ist mit Eltern, die mehrere Kinder haben? Sie leben meistens das Alleinverdiener- oder Zuverdienermodell; denn mit mehr Kindern fällt auch mehr Familienarbeit an. Die Regierung speist diese Eltern mit 150 Euro für 24 Monate ab. Das greift eindeutig in die elterliche Wahlfreiheit ein und hat nichts mehr mit der verfassungsrechtlich gebotenen Neutralität des Staates gegenüber den unterschiedlichen Familienmodellen zu tun!
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Daher fordern wir statt einem egalitären Umbau der Familie eine Gleichberechtigung aller Modelle. Das geht am besten mit einer Erhöhung der Bezugsdauer von 12 auf 18 Monate Basiselterngeld bzw. 36 Monate Elterngeld Plus für alle Modelle, also auch für die traditionelle Familie, Frau Giffey.
Um darüber hinaus eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erreichen, müsste aber unbedingt auch die Höhe des Elterngeldes angepasst werden. Die jetzige Berechnung des Elterngeldes basiert nämlich auf einer Statistik von 1986, was zeigt: Das Elterngeld wurde real seit 35 Jahren nicht erhöht. War der Mindestbetrag bei Einführung des Elterngeldes noch vom damaligen steuerfrei zu stellenden Existenzminimum abgedeckt, so müsste dieser entsprechend dem Bericht der Bundesregierung im kommenden Jahr statt derzeit 300 Euro 455 Euro betragen, analog auch für einen Mehrlingszuschlag.
Die Bundesregierung hat aber bis heute eine überfällige Anpassung versäumt, und es besteht dringender Handlungsbedarf, um dem schleichenden Sozialabbau in unseren Familien mit einer jährlichen Anpassung entgegenzutreten. Sowohl der Höchstbetrag als auch die politisch festgelegte Geringverdienergrenze müssten unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze ebenfalls um 36 Prozent erhöht werden. Denn nur mit einer Erhöhung des Mindest- und des Höchstbetrages können wir wahre finanzielle Sicherheit für alle Familien schaffen und es im Übrigen auch den Vätern ermöglichen, mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen heute die Elterngeldreform ab. Das Elterngeld ist eine der beliebtesten Leistungen für Familien in unserem Land. Das Elterngeld und die Elternzeit sind bisher schon sehr gut gewesen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat dies noch verbessert, und wir im parlamentarischen Verfahren haben das, was gut war und verbessert werden sollte, noch einmal mehr verbessert.
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Das ist ein gutes Signal an die Eltern und reiht sich ein in eine ganze Menge anderer Maßnahmen, die wir in dieser Legislaturperiode für Familien gemacht haben.
Elterngeld und Elternzeit, das ist das Paradebeispiel christdemokratischer Familienpolitik; denn wir schaffen damit Zeit für Familien, wir ermöglichen finanzielle Unterstützung, und wir ermöglichen Wahlfreiheit.
Das Elterngeld zeichnet sich dadurch aus, dass es sehr flexibel ist. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten, wie Paare die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder mit der Berufstätigkeit verbinden können. Das machen wir mit diesem Gesetzentwurf noch ein Stück flexibler. Bisher musste man bei dem Bezug von Elterngeld Plus zwischen 25 und 30 Stunden pro Woche arbeiten. Diesen Korridor passen wir an auf 24 bis 32 Stunden. Das passt besser zu einem normalen Achtstundentag. Bisher mussten beide Partner vier Monate parallel in Teilzeit arbeiten, um Partnerschaftsmonate zu bekommen. Auch das ändern wir. Künftig kann man zwischen einem und vier Monaten wählen.
Parallel dazu machen wir es auch noch bequemer. Wir haben vor Kurzem ein Gesetz verabschiedet, bei dem wir die Digitalisierung des Elterngeldes beschlossen haben. Wenn das umgesetzt ist, wird es künftig möglich sein, von der Couch aus das Elterngeld ganz einfach zu beantragen, sich zu informieren, den Antrag zu stellen, medienbruchfrei, ganz bequem.
Es freut mich sehr, dass wir im parlamentarischen Verfahren verschiedene Dinge verbessern konnten. Ganz besonders am Herzen liegt mir die Regelung zu den Frühchen. Die Zeit, die ein Baby im Bauch nicht hatte, braucht es auf der Welt umso mehr. Die kleinen Kämpfer haben es in den ersten Monaten besonders schwer. Sie brauchen mehr Zeit, um den gleichen Entwicklungsstand zu erreichen wie Kinder, die wie geplant zur Welt gekommen sind. Sie brauchen noch mehr Pflege, Fürsorge, Zuwendung, Unterstützung, manchmal auch noch mehr ärztliche und therapeutische Hilfe. Das kostet auch die Eltern viel Kraft und Zeit.
Deshalb werden wir es künftig so machen, dass die Eltern eines Kindes, das sechs Wochen zu früh gekommen ist, einen Elterngeldmonat mehr haben. Ab acht Wochen sind es zwei Elterngeldmonate mehr, ab zwölf Wochen drei Elterngeldmonate mehr und bei 16 Wochen sind es vier Elterngeldmonate mehr. Das ist eine kleine Unterstützung für diese Familien in dieser schweren Zeit, sodass sie mehr Zeit für die Kinder haben, mehr Zeit für Unterstützung, für Zuwendung und um die Entwicklungsrückstände, die frühgeborene Kinder einfach haben, besser aufholen zu können.
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Dass gerade die Coronakrise für Familien eine besondere Belastung ist, das sehen wir ja alle jeden Tag. Das können wir leider auch nicht komplett abfedern. So ehrlich müssen wir sein. Aber wir versuchen, zumindest die finanziellen Einbußen zu schmälern, so auch beim Elterngeld. Wir haben hier schon verschiedene Maßnahmen auf den Weg gebracht, etwa dass der Bezug von Kurzarbeitergeld bei der Berechnung des Elterngeldes nicht reinschlägt. Wir werden jetzt die Regelung der Partnerschaftsbonusmonate verlängern. Die teilweise Nichtanrechnung des Elterngeldes auf Ersatzleistungen wie das Kurzarbeitergeld und das Krankengeld verändern wir. Wir haben gerade in der Krise gesehen, dass das ein Bedarf ist, den wir nicht nur in Krisenzeiten haben. Daher schaffen wir hier Regelungen, die nicht nur in einer Krise gelten.
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Ich finde, es ist ein guter Gesetzentwurf, der sich einreiht in eine ganze Menge von Maßnahmen, sei es Kindergeld, Kinderzuschlag, Alleinerziehendenfreibetrag, das Baukindergeld –
Frau Kollegin.
– und viele weitere. Deshalb ist dies eine gute Legislaturperiode für Familien und das hier ein weiterer wichtiger Baustein dafür.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Grigorios Aggelidis, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Nach zwei Jahren gibt es endlich die lang avisierte und überfällige Reform des Elterngeldes. Die jetzige Vorlage zeigt aus meiner Sicht – das ist unsere Überzeugung –, wie wichtig unser Parlamentarismus ist und wie sehr Debatten prägen und auch zu Verbesserungen führen. Sie zeigt auch, wie gut eine konsequente Oppositionsarbeit wirkt. Immer wieder habe ich auch hier festgestellt, welche Verbesserungen notwendig sind. Deswegen freuen wir uns, freue ich mich ganz besonders, dass wir hier einige Beispiele für die positiven Aspekte, die Sie übernommen haben, nennen können.
Wir freuen uns sehr darüber, dass wir es endlich durchbekommen haben und Sie unseren Vorschlag übernehmen, dass es eine bessere Regelung im Hinblick auf Frühchen geben soll. Ich danke da im Zweifel besonders auch der CDU, die unsere Anregung übernommen hat. Das ist eine gute Lösung. Auch haben Sie die Arbeitszeitkorridore angepasst und die Regelung bezüglich der Partnerschaftsmonate flexibilisiert. All das sind Dinge, die wir begrüßen. Wir begrüßen auch sehr, dass Sie beim Elterngeld die Regelungen für die Anrechnung von Lohnersatzleistung verbessert haben.
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Insgesamt aber fehlt Entscheidendes. Es ist zwar jetzt durch die Beratungen im Parlament ein besserer Entwurf, aber Entscheidendes packen Sie wieder nicht an. Weder das Krankengeld noch das Insolvenzgeld oder das Kurzarbeitergeld werden bei der Berechnung des Elterngeldanspruchs berücksichtigt. Genau das fordern wir, damit Familien vorausschauend auch in kommenden Krisensituationen finanzielle Sicherheit haben.
Darüber hinaus möchten wir – gerade jetzt in der Pandemie sieht man, wie sehr die Familien unter Druck geraten, zum Beispiel durch Kitaschließungen –, dass es eine Verlängerung des Bezugs von Elterngeld gibt, wenn keine Eingewöhnung möglich ist oder diese Eingewöhnung deutlich länger dauert. Diese Verlängerung des Bezugs von Elterngeld haben wir beantragt. Bitte folgen Sie dem.
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Auch die viel zu lange Bearbeitungsdauer wird durch die Digitalisierung des Elterngeldantrags nicht verbessert. Viel zu lange, manchmal monatelang, müssen Familien auf ihr Geld warten. Da fordern wir: Schaffen Sie über eine digitalisierte Bearbeitung eine entsprechende Geschwindigkeit, und ermöglichen Sie Abschlagszahlungen – den entsprechenden Antrag haben wir hier vorgelegt –, damit Eltern, damit Familien schnellstmöglich zu ihrem Geld kommen und nicht monatelang darauf warten.
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Da Sie hier gerade darüber gesprochen haben, dass es Familien gibt, die besonders Unterstützung brauchen: Wir fordern Sie auf – so steht es auch in unserem Antrag –, auch Pflegefamilien, Pflegeeltern die Möglichkeit zu geben, Elterngeld zu beanspruchen. Das brauchen diese Familien, das brauchen diese Eltern, und vor allem tut es den Pflegekindern gut, meine Damen und Herren.
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Die Änderungen, die wir vorgeschlagen und auf den Tisch gelegt haben, wären gerade in dieser Pandemiezeit so unglaublich wichtig. Eine bessere und vorausschauende Elterngeldreform – –
Herr Kollege, achten Sie darauf, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Letzter Satz, Herr Präsident. – Auch heute gilt: Wer gute Familienpolitik will, muss Freie Demokraten wählen, weil wir die besten Lösungen in diesem Bereich haben.
Danke.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Werner, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten abschließend über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes. Ja, der Bezug von Elterngeld soll etwas flexibler werden, die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit werden ein wenig besser, und es soll einfacher werden, den Partnerschaftsbonus zu erhalten. Auch werden Eltern von frühgeborenen Kindern besser unterstützt. Nach großer Kritik in der Anhörung hat die Große Koalition sich sogar zu einer besseren Frühgeburtenregelung durchringen können.
Das sind alles Schritte in die richtige Richtung. Aber, Frau Giffey, auch wenn Sie von einer Reform sprechen, sagen wir: Es ist wieder nur ein Reförmchen. Was ist mit der besseren Unterstützung von ärmeren Familien? Wo sind die mutigen Schritte hin zu mehr Partnerschaftlichkeit? Jahrelang wurden die großen Probleme vieler Familien liegen gelassen. Und wir finden: Die Baustellen sind in den letzten Jahren größer geworden. Ich will einfach einmal in dem Bild bleiben: Jeder weiß, dass man auf großen Baustellen große Bagger braucht, um schnell voranzukommen. Frau Giffey, manchmal hat man das Gefühl, Sie sitzen mit Ihrem Schäufelchen im Sandkasten. So werden wir nie fertig, so kommen wir nicht schnell voran.
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Wir alle wissen: Die Coronakrise hat zu einer enormen Mehrbelastung von Familien geführt. Es hat sich gezeigt, dass die traditionelle Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen zementiert wurde. Immer noch übernehmen vorwiegend Frauen die Haus-, Sorge-, und Erziehungsarbeit; jetzt kommt Homeschooling dazu. Selbst Sie, Frau Giffey, haben am Mittwoch in der Regierungsbefragung darauf hingewiesen. Und es ist jetzt an der Zeit, Maßnahmen für eine gerechtere Aufteilung der Sorgearbeit in Familien zu fördern.
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Die Linke fordert zwölf Monate Elterngeld pro Elternteil, und das nicht übertragbar, für Alleinerziehende 24 Monate.
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Es ist jetzt die Zeit für mehr Partnerschaftlichkeit.
Eine weitere Baustelle beim Elterngeld liegt vollkommen brach: Die bessere Unterstützung von ärmeren Familien zieht die Bundesregierung nicht einmal in Betracht. 2007 wurde das Elterngeld eingeführt. Seit 14 Jahren liegt der Mindestbetrag bei 300 Euro – keine Steigerung. Die Linke sagt: Das muss sich ändern, und zwar jetzt; er muss auf mindestens 400 Euro angehoben werden und sollte jährlich steigen, so wie auch die Verbraucherpreise steigen.
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Bei Menschen in Hartz IV wird das Elterngeld sogar angerechnet. Sie gehen also komplett leer aus. Die Familien, die es am dringendsten benötigen, werden wieder ausgeschlossen. Und da sagen wir: Das darf nicht sein. Solange wir keine Kindergrundsicherung haben, muss die Anrechnung von Elterngeld auf Hartz IV abgeschafft werden.
Es ist jetzt Zeit für einen sozialen Aufbruch. Benachteiligte müssen stärker in den Blick genommen werden, und Solidarität muss stark gemacht werden. Ich sage wie beim letzten Mal: Wenn nicht jetzt, wann dann?
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Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Das wäre ein guter Anfang.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das was wir heute im Bereich des Elterngelds beschließen, ist ein wichtiger und auch notwendiger Schritt; aber der große Wurf ist es nicht. Sie bleiben mit dem, was Sie machen, sehr im Klein-Klein.
Was mich wirklich am meisten ärgert, hat meine Kollegin von den Linken auch gesagt: Wir schaffen mit dem Elterngeld einen Schonraum für Eltern, wenn die Babys gerade auf der Welt sind, und gestehen diesen Schonraum mit einem Basiskindergeld von 300 Euro auch Hausfrauen und ‑männern zu, aber auf Hartz IV rechnen wir das Elterngeld an. Das heißt, für Menschen, die in Grundsicherung sind, sagen wir: Ihr bekommt keinen Schonraum. – Warum nicht?
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Ich verstehe das nicht. Wir sollten es allen Eltern zukommen lassen und nicht unterscheiden, ob die Menschen in Grundsicherung sind oder nicht.
Das Zweite ist: Sie reden über Flexibilisierung, aber Sie machen nicht wirklich eine echte Flexibilisierung. Eine mutige Flexibilisierung würde bedeuten: Es gibt Zeiten, in denen Kinder ihre Eltern brauchen, und manchmal ist es auch das erste Schuljahr. Dieser Übergang vom Kindergarten in die Schule ist eine sehr fragile Situation. Warum sollten dann Vater und Mutter nicht sechs Monate zu Hause bleiben und das Kind in dieser Phase begleiten können? Wenn wir den Eltern das zugestehen würden, dann würden wir ihnen mehr Vertrauen entgegenbringen und sie wirklich unterstützen. Das wäre eine Flexibilisierung, die den Namen auch verdient.
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Lassen Sie uns über die Partnerkomponente reden. Nur damit hier keine Zweifel aufkommen: Ja, ich will mehr Anreize für Väter, ich will, dass Väter sich möglichst gut an der Erziehung beteiligen können. Deshalb schlagen wir „acht, acht, acht“ vor: acht Monate Elterngeld für die Mutter, acht für den Vater, acht zur gemeinsamen Verfügung. Eine echte paritätische Aufteilung – das wäre doch ein Ziel, und nicht „ein bisschen“ oder „ein paar Tage“.
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– Nein, wir schwächen die Familien nicht – ich nehme den Zwischenruf auf –, wir stärken die Familien.
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Viele Väter wollen ihren Kindern nicht mehr aus der Ferne zuschauen. Sie wollen mit ihren Kindern gemeinsam Zeit verbringen; sie wollen nicht mehr die Kinder nur abstellen.
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Und wenn die Väter das wollen, dann sollten wir ihnen das auch genehmigen. Ihr Lebensmodell ist in Deutschland schon lange passé. Die neuen Familien ticken anders als Sie. Gott sei Dank ist das so; denn Kinder brauchen auch ihre Väter – Ausrufezeichen!
Der letzte Punkt. Ja, auch auf Selbstständige und Pflegeeltern müssen wir noch einmal einen Blick werfen; denn auch sie brauchen eine stärkere Unterstützung. Das gilt gerade für die Pflegeeltern: Sie können zwar Elterngeld in Anspruch nehmen, aber nur für Kleinkinder. Was ist aber, wenn sie ein älteres Pflegekind bekommen? Dann bekommen sie es nicht. Aber gerade dann, in so einer schwierigen Situation, braucht man Zeit und Raum für das Kind. Deshalb brauchen wir eine echte Reform genau für diese Menschen, die in diesem Land etwas Gutes tun, um sie zu unterstützen.
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Wir sollten Eltern vertrauen, und wir sollten ihnen in diesem Vertrauen auch mehr Flexibilität gewähren.
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Stefan Schwartze, SPD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Eltern und die es noch werden wollen! Das Elterngeld ist seit seiner Einführung 2007 eine Erfolgsgeschichte. Flexibilisierung, Vereinfachung und Verbesserung, darum geht es heute.
Immer mehr junge Eltern nutzen die Möglichkeiten, durch das Elterngeld mehr Zeit für die Familie zu haben, Arbeits- und Familienzeit gleichberechtigt untereinander aufzuteilen. Genau das ist der Wunsch der Familien. Der Erfolg ist aber auch ein Auftrag, die Regelungen immer wieder den Umständen, Bedürfnissen und Wünschen anzupassen, wie wir das in ganz besonderer Weise in dieser Coronakrise immer wieder tun und wie wir heute das Elterngeld insgesamt weiterentwickeln.
Ich danke Ministerin Franziska Giffey für ihren guten Entwurf, und ich danke dem Koalitionspartner für die schnellen, konstruktiven Beratungen, in denen wir noch wichtige Dinge für die Eltern erreichen konnten.
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Auf drei wichtige Änderungen möchte ich kurz eingehen:
Beim Partnerschaftsbonus sind wir all die Dinge angegangen, die Eltern bisher davon abgehalten haben, ihn zu nehmen. So erweitern wir den Stundenkorridor auf 24 bis 32 Stunden Teilzeitarbeit. Das ist lebensnah; denn jetzt ist eine Drei- oder Viertagewoche möglich. Es wird also flexibler und einfacher. Wir haben aus der Krise gelernt und sorgen dafür, dass sich Kurzarbeit oder Krankengeld nicht mehr negativ auswirken, eine Regelung, die wir auf Dauer übernehmen.
Wenn ein Kind zu früh auf die Welt kommt, ist dies für Eltern und Kind oft eine riesige Herausforderung. Deswegen führen wir eine neue Regelung für diese Familien in das Elterngeld ein; deswegen werden wir diese Familien länger unterstützen.
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Ich bin froh, dass wir an dieser Stelle noch einmal Verbesserungen für die Familien erreichen konnten. Das lag uns gemeinsam wirklich am Herzen. Künftig wird es gestaffelt, je nachdem, ob das Kind 6, 8, 12 oder 16 Wochen zu früh geboren wurde, je einen weiteren Monat Elterngeld geben.
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Diese Regelung gibt den Familien Zeit – Zeit, die sie dringend benötigen.
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Und als dritten Punkt möchte ich auf die Neuregelung für die kleine Selbstständigkeit oder Mischeinkünfte hinweisen. Insbesondere auch Ehrenamtliche mit kleiner Aufwandsentschädigung profitieren von diesen Änderungen.
Das Elterngeld wird sich immer weiterentwickeln. In der nächsten Legislaturperiode werden wir sicherlich über die Höhe des Elterngeldes sprechen müssen und auch darüber, ob wir Pflegeeltern in den Elterngeldbezug mit aufnehmen. Flexibilisierung, Vereinfachung, Verbesserung machen das Elterngeld noch attraktiver, oder wie wir in Ostwestfalen sagen: Da kannst du nix von sagen!
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Maik Beermann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht kurz vorweg: Wir befinden uns gerade in einer Kerndebatte des Deutschen Bundestages. Wir sagen immer: Familien gehören zum Kernstück unserer Gesellschaft. – Deswegen freue ich mich besonders, dass wir gleich zwei familienpolitische Themen heute Morgen in der Kernzeit diskutieren. Ich finde, da gehören sie auch hin.
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Wir haben jetzt schon viel zu dem Gesetzentwurf, zu der Verbesserung des Elterngeldes gehört. Jawohl, das ist eine Erfolgsgeschichte. Als das Elterngeld 2007 von Frau von der Leyen hier eingebracht wurde, ist es mit 4 Milliarden Euro gestartet; jetzt sind wir bei über 7 Milliarden Euro. Ich bin mir sicher, wir werden in diesem Jahr noch an die 8 Milliarden Euro kommen. Das heißt, mit diesem Instrument unterstützen wir Familien ganz konkret. Man kann das nicht immer so kleinreden.
Und wissen Sie, was auch spannend ist, liebe Kolleginnen und Kollegen? Eigentlich sagen heute alle Kollegen hier am Rednerpult, dass die Dinge, die jetzt mit diesem Gesetz verändert und verbessert werden, ganz okay und ganz gut sind. Mehr geht immer! Deswegen können Sie – alle von der Opposition haben eigentlich gesagt, dass das, was wir jetzt machen, gut ist – sowohl dem Gesetzentwurf als auch dem Änderungsantrag zustimmen. Ich lade Sie dazu auf jeden Fall herzlich ein.
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Nun zu den Kosten, damit man sich das ein bisschen zu Gemüte führen kann. Hier wird ja gefordert, das Mindestelterngeld zu erhöhen. Ja, das ist sicherlich ein Punkt, über den wir diskutieren müssen. Das tun wir dann auch sicherlich in der nächsten Legislatur. Aber nur mal als Beispiel: Die Anhebung des Mindestelterngeldes auf 350 Euro im Monat kostet 160 Millionen Euro im Jahr, eine Anhebung auf 400 Euro im Monat kostet 290 Millionen Euro im Jahr. Und wenn ich die Höchstgrenze auf 2 100 Euro anhebe, sind es noch mal 200 Millionen Euro im Jahr. Unsere Aufgabe bestand aber darin, diese Veränderung aus dem eigenen Etat des Hauses zu bestreiten, und da sind die Mittel begrenzt. Ich finde, mit den begrenzten Mitteln, die uns zur Verfügung standen, haben wir wirklich viel auf den Weg gebracht.
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Dann wird ja auch immer hervorgehoben – auch darüber muss man vielleicht irgendwann diskutieren –, dass das Elterngeld nicht auf die Grundsicherung oder auf Sozialleistungen angerechnet werden soll. Die Anrechnung des Elterngeldes auf Sozialleistungen trägt aber nun mal dem Umstand Rechnung, dass der Bedarf der Eltern und der Kinder im System der Grundsicherung durch die Regelsätze und die Zusatzleistungen bereits gesichert ist. Auch das gehört zur Wahrheit dazu; das dürfen wir bei der Debatte nicht vergessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich aber ganz besonders über die Frühchenregelung; das war tatsächlich eine Herzensangelegenheit von mir. Meine Kolleginnen und Kollegen sind schon auf die Punkte eingegangen, aber ich möchte diese Regelung auch noch mal erwähnen: Wenn ein Kind sechs Wochen zu früh geboren wurde, gibt es einen weiteren Monat Elterngeld. Das hat auch einen medizinischen Grund: Ein Kind ist ein Frühchen, wenn es mindestens sechs Wochen zu früh geboren ist. Und danach machen wir einfach monatsgerecht weiter: 8 Wochen zu früh geboren – 2 Monate länger Elterngeld, 12 Wochen zu früh – 3 Monate länger, 16 Wochen zu früh – 4 Monate länger. Ich glaube, das ist eine gute Regelung, mit der wir viele Eltern unterstützen. Auch dafür stellen wir 20 bis 25 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung; das dürfen wir auch nicht vergessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir haben mit den vorhandenen begrenzten Mitteln ein gutes Gesetz noch besser gemacht. Deswegen bitte ich um Zustimmung und lade alle herzlich dazu ein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Voraussichtlich letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie können wir junge Mütter dabei unterstützen, dass sie nach der Geburt des Kindes beruflich den Anschluss nicht verlieren, sich sogar weiterentwickeln können, ihr Potenzial entfalten können, wenn sie das wollen? Wie können wir jungen Eltern mehr partnerschaftliche Teilhabe ermöglichen, wenn sie das wollen? Ja, und wie können wir Eltern von Frühchen helfen, die Herausforderungen, die entstehen, wenn ein Kind deutlich zu früh geboren wird, besser zu meistern? Wir haben uns diese Fragen gestellt, nach Antworten gesucht, und wir haben auch welche gefunden.
Mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen wollen wir die Situation von jungen Eltern verbessern. Dabei haben wir auch viele Anregungen, die aus der Praxis gekommen sind, miteinbezogen. Mehr Flexibilität war ein Wunsch, mehr partnerschaftliche Teilhabe war ein Wunsch und vor allem eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
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Das sind die Kernelemente, die Grundpfeiler unserer Reform. Sie wurden im Einzelnen schon angesprochen; aber ich möchte das auch noch mal tun.
Mich hat mehrfach ein Vater angesprochen und gesagt, er würde sich ja so gerne beteiligen, auch Elterngeldmonate nehmen oder den Partnerschaftsbonus oder Elternzeit. Für ihn wäre eine Viertagewoche vorstellbar; aber eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden ist mit seinem Arbeitgeber schwierig zu machen. Das ermöglichen wir jetzt. Warum? Weil wir die Höchstarbeitszeitgrenze für die Dauer des Elterngeldbezuges und während der Elternzeit von 30 auf 32 Wochenstunden erhöhen. Das heißt, für Elternteile – Mutter oder Vater –, die das wollen, ist zumindest eine Viertagewoche möglich. Sehr viele Arbeitgeber sind oft auch kulant und sagen: Okay, den Freitag nicht, aber diese Viertagewoche biete ich dir an.
Davon profitieren Väter, die stärker den Partnerschaftsbonus nutzen. Man kann es sich aufteilen. Der Rahmen wurde auch hier verändert: Der Stundenkorridor wurde von 24 bis 32 Wochenstunden erweitert, das heißt zum Beispiel – es kann auch andersherum sein –: Die Frau arbeitet drei Tage die Woche, der Mann vier Tage die Woche; man hat vielleicht noch Großeltern im Hintergrund, die zwei Tage die Woche abdecken. Also, wir ermöglichen hier mehr Flexibilität, und das basiert auf den Wünschen vieler Eltern. Die Bezugsdauer ist flexibler.
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Ein weiteres, eines der wichtigsten Anliegen: Wir nehmen die Eltern und Kinder in den Blick, die es beim Start in ein neues Familienleben besonders schwer haben, die Kinder, die zu früh geboren sind. Da gibt es besonders viele Sorgen, Ängste, Nöte, Unsicherheiten; die kann ein Parlament den Eltern nicht nehmen. Aber wir können ihnen etwas Zeit geben – Zeit, die verloren gegangen ist, Zeit, die die Eltern brauchen, um sich neu einzustellen, und Zeit, die das Kind benötigt, um Entwicklungsverzögerungen auszugleichen. Deshalb begrüße ich diese neue Regelung sehr – sie wurde schon erwähnt –: Bei Geburt sechs Wochen zu früh gibt es einen Basiselterngeldmonat extra, bei acht Wochen vorher zwei Monate, ab zwölf Wochen drei Monate und ab 16 Wochen vier Monate extra.
Frau Kollegin.
Leider lässt der Präsident das Ende meiner Redezeit aufblinken; deshalb muss ich zum Schluss kommen. – Wir von der CDU/CSU würden uns gerne noch zwei weitere Monate für die Väter wünschen; denn die drei Wünsche Flexibilität, partnerschaftliche Teilhabe und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind uns sehr wichtig, und wir wollen sie gerne mit Ihnen in der Zukunft weiter verwirklichen.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich freue mich, dass wir heute gleich zwei familienpolitisch große und bedeutsame Gesetzgebungsvorhaben hier im Plenum beraten und besprechen können. Das ist ein gutes Signal, gerade in dieser Zeit, für die Familien in Deutschland.
Wir haben heute die erste Lesung unseres Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes, ein Vorhaben, das wir lange vorbereitet haben, das auch in der vergangenen Legislatur schon einmal einen Anlauf genommen hat. Für mich war es die Aufgabe, als ich Ministerin wurde, dieses Großprojekt zu einem guten Abschluss zu bringen. Wir haben alles getan, damit es dieses Mal wirklich gelingen kann. Wir haben einen umfangreichen Beteiligungsprozess unter dem Motto „Mitreden und Mitgestalten“ angestoßen; 9 000 Beiträge sind eingegangen und in dieses Gesetzgebungsverfahren eingeflossen.
Wir haben mit dieser Reform der Kinder- und Jugendhilfe, die wir heute im Plenum das erste Mal beraten, nach unseren großen Flaggschiffen Gute-KiTa-Gesetz, Starke-Familien-Gesetz jetzt ein weiteres Flaggschiff der Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland.
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Über wen reden wir hier? Wir reden über rund 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche, die in Familien leben, die nicht alleine zurechtkommen. Diese Familien brauchen unsere Unterstützung. Sie erhalten Hilfen zur Erziehung. Dafür gibt der Staat rund 13 Milliarden Euro pro Jahr aus. Allein 240 000 dieser Kinder leben in Einrichtungen oder Pflegefamilien. Für sie alle sind wird verantwortlich.
Ich freue mich, dass wir heute diesen Schritt gehen können; denn wir leiten Verbesserungen für die Kinder und Jugendlichen ein, die es besonders schwer haben in Deutschland. Ich weiß, dass auch viele von Ihnen als Abgeordnete bei diesem Beteiligungsprozess mitgeholfen haben, sich eingebracht haben, fachlich beraten haben. Dafür auch Ihnen, die intensiv dabei waren, vielen herzlichen Dank!
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Wir stellen unser Gesetz unter fünf große Begriffe: schützen, stärken, helfen, unterstützen und beteiligen. Es geht um einen besseren Kinder- und Jugendschutz. Es geht um die Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe untergebracht sind. Es geht darum, dass wir endlich Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen gewähren. Es geht um mehr Prävention vor Ort. Und es geht darum, dass junge Menschen, aber auch ihre Eltern und Familien – sowohl die Pflegefamilien als auch die Herkunftsfamilien – besser beteiligt werden an der Kinder- und Jugendhilfe, an den Dingen, die sie betreffen. Die Einrichtung von deutschlandweiten Ombudsstellen ist zum Beispiel ein Instrument, das mir in dem Zusammenhang sehr wichtig ist.
Auch die Reduzierung der Kostenheranziehung ist mir wichtig: dass Pflegekinder oder Kinder, die in Einrichtungen leben, die einen Ferienjob machen, die etwas selbst tun, eben nicht 75 Prozent ihres Einkommens abgeben müssen, sondern dass es umgekehrt ist: dass sie 75 Prozent behalten dürfen und nur zu 25 Prozent herangezogen werden.
Diese Kostenbeteiligung ist einer von vielen Aspekten. Es geht aber um viel mehr. Wir wollen den Kinderschutz verbessern. Wir werden die Kommunikation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Ärzten verbessern. Wir haben viele Rückmeldungen, dass das ein entscheidender Punkt ist, um Kindeswohlgefährdung abzuwenden.
Und wir sorgen dafür, dass die Familien, die Kinder mit Behinderungen haben, einen festen Ansprechpartner bekommen. Das ist getragen von der Überzeugung, dass jedes Kind erst mal ein Kind ist und dass wir schauen, wie Kinder in der Kinder- und Jugendhilfe die beste Unterstützung bekommen können, statt die Kinder schon vorher nach Behinderungen zu sortieren und sie dann in einem anderen Kreis zu beraten und zu betreuen.
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Mit dieser Reform, meine Damen und Herren, verändern wir die Kinder- und Jugendhilfe für das nächste Jahrzehnt. Wir unterstützen Kinder und Jugendliche beim guten Aufwachsen. Dies ist ein riesiges Vorhaben. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir getragen sind von der Fachszene, von denjenigen, die betroffen sind, von all denen, die in Ländern, in Verbänden beteiligt waren und die sich auf dieses Gesetz freuen, die darauf warten, dass es endlich kommt, weil es echte Verbesserungen bringen wird.
Ich will Ihnen aus meiner persönlichen Erfahrung als ehemalige Bürgermeisterin in einem Brennpunkt hier in Berlin auch sagen: Ich bin froh, dass dieses Gesetz kommt. Ich habe die Familien vor Augen, denen es helfen wird. – Insofern ist heute wirklich ein guter Tag für die Familienpolitik in Deutschland.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Huber, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Landsleute! Das vorliegende Kinder- und Jugendstärkungsgesetz löst ein Wechselbad der Gefühle aus: Sie machen dort Fortschritte, wo Sie Rationalität und Pragmatismus walten lassen, versagen aber leider umso mehr, wo Ihre ideologischen Fantasien mit Ihnen durchgehen.
Sie machen etwa Fortschritte, wenn es um die Überprüfungen der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe geht. Sie schaffen die Möglichkeit, dass diese endlich von den zuständigen Behörden auch unangemeldet geprüft werden können. War es doch bisher – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – eine hinreichende Absurdität, dass es deutlich einfacher war, eine unangekündigte Überprüfung durch die Lebensmittelkontrolle in einer Gastronomie zu erleben, als jenen auf die Finger zu schauen, die sich um unser wertvollstes Gut kümmern, nämlich die Kinder.
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Der große Schönheitsfehler Ihrer Konstruktion besteht jedoch in der von Ihnen nicht bis zum Ende gedachten Funktion der Vertrauensperson. So soll jedes Kind und jeder Jugendliche in einer solchen Einrichtung das Recht haben, eine Vertrauensperson zu einem Gespräch mit der kontrollierenden Behörde mitzunehmen. Was sicherlich gut gemeint ist, kann in der Praxis aber fatale Folgen haben.
Stellen wir uns beispielsweise ein Kind vor, das sich in einer Wohneinrichtung befindet. Dieses Kind wird im schlimmsten, aber leider nicht ausgeschlossenen Fall ein Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Mitarbeiter dieser Einrichtung. Nun ist dieser Mitarbeiter aber selbstredend darüber im Bilde, dass sein Opfer das sogenannte Recht auf das Beisein einer Vertrauensperson in einem Gespräch mit der Kontrollbehörde hat. Er wird also mithilfe der Machtkonstellation in diesen Einrichtungen versuchen, das Kind dazu zu bringen, dass es auch ihn im Falle des Falles mit an den Verhandlungstisch setzt. Somit würden Angst und Täter mit am Tisch sitzen. Durch die bloße Anwesenheit würde das Gespräch kontrolliert. Bei diesen erheblichen Missständen in den Einrichtungen werden die dafür Verantwortlichen über dieses Einfallstor versuchen, die Gespräche zu manipulieren und den Notausgang für das Kind in dieser so wichtigen Situation zu versperren. Hoffentlich habe ich Sie davon überzeugt, dass Sie es bei der richtigen Maßnahme belassen, der unangekündigten Überprüfung.
Sie sollten Ihre teilweise ideologische Haltung aber auch in einem anderen Punkt zugunsten einer wirklich wertvollen Lösung überdenken. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wird nämlich ausgerechnet bei der wahrscheinlich verletzlichsten Gruppe unserer Gesellschaft eher zum Kinder- und Jugendgefährdungsgesetz, nämlich bei den Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Sie heben sie auf den Altar Ihrer Gleichmacherei. Dabei sind es doch vor allem diese jungen Menschen, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen, deren spezifische Bedürfnisse wir berücksichtigen und denen wir auch spezialisierte und differenzierte Lösungen anbieten müssen.
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Sie ziehen aber alle Register – das wollen Sie zumindest machen –, die Ihnen die Bundeskompetenz zulässt, um Ihre Ideologie der Inklusion um jeden Preis durchzusetzen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Inklusion kann sinnvoll und von großem Mehrwert sein. Aber Kinder, die aufgrund ihrer Behinderung besondere Förderung benötigen, benötigen sie in ihrer besten und spezialisierten Form.
Unser Ziel als AfD ist es, diese jungen Menschen auf ein Leben mit möglichst viel Selbstbestimmung vorzubereiten und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, um sie dadurch optimal zu fördern. Wir brauchen mehr Spezialisierung statt Gleichmacherei. Wir brauchen mehr Individualität für mehr Freiheit und bessere Lebensqualität.
Zum Schluss. Lassen Sie also Ihre Ideologie zugunsten dieser Menschen fallen, die mehr als alle anderen auf rationale Entscheidungen angewiesen sind. Dafür setzen jedenfalls wir uns als Alternative für Deutschland ein.
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Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist schon ein Statement der Regierungsfraktionen, dass sie heute zwei große familien-, kinder- und jugendpolitische Themen angemeldet haben, und zwar für 9 Uhr, also zur Primetime, zur besten Sendezeit.
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Damit wird deutlich, dass wir als Koalition die familienpolitischen Themen dahin setzen, wo sie hingehören: an die wichtigste Stelle des Parlamentes. Das ist auch Zeichen einer gewissen Haltung, die wir haben.
Wir haben gerade über die Lebenssituation von Familien debattiert und darüber, wie stabile Familien – Stichwort „Elterngeld“ – ihr Leben im Sinne ihrer Kinder weiterentwickeln können. Jetzt reden wir über die Kinder und Familien, die in schwierigen, herausfordernden Situationen sind. Unsere Haltung ist: Wir wollen Familien stärken; denn Pflege und Erziehung obliegen ja zuvörderst den Eltern. Aber es gibt Situationen im Leben von Kindern, Jugendlichen und Familien, da brauchen sie die Unterstützung der Gemeinschaft, des Staates, des „Nachtwächterstaates“.
Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz soll es deutliche Veränderungen geben. Man muss es leider erwähnen: Wir erleben in Deutschland viele schlimme Situationen von Kindern. Während wir hier 35 Minuten debattieren, werden Kinder aus drei Familien geholt, weil sie Missbrauch oder Gewalt erleben. Das darf uns als Familienpolitiker nicht ruhen lassen. Wir müssen hier die Kinder und die Familien weiter stärken.
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Wir wissen mit Blick auf dieses Gesetz, dass die Lebenssituation von Kindern ein hochsensibles Thema ist. Es geht um junge Menschen, die wir fördern wollen. Wir wollen Benachteiligungen abbauen, Eltern beraten und unterstützen – ob zu Hause, ob in Pflegschaften, ob in Heimen. Das sind die Themen, die wir mit diesem Gesetz deutlich und klar reformieren wollen.
Es ist und war uns immer wichtig, dass dieser Diskurs und dieses Gesetz nicht politisiert oder unter dem Blickwinkel einer Ideologie betrachtet werden dürfen, sondern es ist etwas, das diejenigen, die in diesem Politikfeld Verantwortung haben, gemeinsam entwickeln sollen. Deswegen stimme ich der Ministerin zu: Das war ein guter erster Prozess.
Es war uns ebenfalls wichtig, dass Verbände und die Beteiligten mitgenommen werden, damit wir von möglichst vielen Personen, Gruppen, die sich um die Kinder und Jugendlichen kümmern, hören, wo einiges im Argen liegt, dass wir aber auch eine klare Positionierung für die nächsten Jahre festlegen, wie wir mit diesem Gesetz unsere Leitgedanken umsetzen können, nämlich: Kinder und Jugendliche besser schützen; Kinder, Jugendliche und Familien stärken, Prävention aus einer Hand stärken und auch die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Eltern stärken.
Bei der ersten Lesung neigt man ja dazu, zu sagen: Es gibt noch Dinge, die etwas besser sein müssen. – Wir haben gerade bei der Debatte zum Elterngeld erfahren, wie gut und klug es ist, wenn sich das Parlament mit einmischt und gute Vorlagen noch etwas besser macht. Deswegen möchte ich drei, vier Punkte ansprechen, die aus meiner, aus unserer Sicht noch zu diskutieren sind.
Das erste Thema ist die Heimaufsicht. Es geht um die Fragestellung: Wie sieht es denn mit den Betriebserlaubnissen aus? Wann darf ein Heim aufmachen, und wann muss es geschlossen werden? Da ist es schon wichtig – das sagen wir auch ganz deutlich –, nicht nur nach Aktenlage zu entscheiden, sondern es gilt das Prinzip der örtlichen und unangekündigten Prüfung, weil wir sehen wollen: Wie leben die Kinder in Heimen?
Es gab in der Vergangenheit leider einige negative Fälle. Das ist die Ausnahme; das muss man an dieser Stelle auch mal sagen. Wir haben eine hervorragende Kinder- und Jugendhilfe. Wir reden, wenn wir es kritisch sehen, nur über die wenigen Ausnahmen. Aber, wie gesagt, es betrifft die Lebenssituation von Kindern. Deswegen ist es auch unser Ansinnen, diese zu überprüfen.
Es geht auch um die Frage: Wann spricht man denn mit Kindern und Jugendlichen, und werden diese Gespräche mit dem Einverständnis der Personensorgeberechtigten erschwert? Herr Huber, das haben Sie leider nicht richtig formuliert. In Ihrer Rede ging es um allgemeine Gespräche. Beim sexuellen Missbrauch, bei sexualisierter Gewalt ist es aber nicht so, dass dann derjenige, der dem Kind etwas angetan hat, mit dabei ist. Das war ein bisschen Fake News; das muss mal richtiggestellt werden. Es geht aber grundsätzlich bei den Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen darum, möglichst viel über die Situation in der Unterbringung zu erfahren.
Zweiter Punkt sind die gemeinsamen Wohnformen nach § 19 SGB VIII. Da würden wir uns schon wünschen, Frau Ministerin, dass wir überlegen, wie wir diesen § 19, der momentan nicht angefasst wird, so verändern können, um bei dieser Wohnform zum Beispiel den anderen Elternteil hinzuziehen zu können.
Dritter Punkt, der uns wichtig ist – dieser ist uns schon bei den ersten Debatten und bei den ersten Gesprächen, die wir geführt haben, aufgefallen; den müssen wir uns immer vor Augen führen –: Es gibt in Deutschland über 30 000 junge Menschen – davon übrigens über 6 000 Minderjährige –, die obdachlos sind. Deswegen wird das Thema „Obdachlose Jugendliche und obdachlose Kinder“ auch bei den Debatten und Anhörungen eine zentrale Rolle spielen. Es gibt sehr gute Konzepte, über die wir im Ausschuss schon debattiert haben. Es gab Anträge, die uns noch mal den Impuls gegeben haben, sich dieses Themas anzunehmen. Das wollen wir auch gerne tun, weil es wichtig ist, Stichwort „Housing First“ und Stichwort „Modellprojekte“, die in Deutschland momentan gut funktionieren. Hier können wir uns auch durchaus vorstellen, dass man so etwas im Sozialgesetzbuch XIII verankert, Stichworte „Obdachlosigkeit“ und „Jugendwohnungslosigkeit“.
Ich komme zum vierten Punkt – da geht es auch um das Thema Inobhutnahmen –: Es ist wichtig, auch mal zu hinterfragen, warum es eigentlich so viele Inobhutnahmen gibt und welches die Gründe sind, die dazu führen, dass ein Jugendamt entscheidet, ein Kind in Obhut zu nehmen. Noch einmal: Wir reden über 50 000 Kinder. Städte wie Cuxhaven und Peine sind Städte mit 50 000 Einwohnern, und jedes Jahr, könnte man sagen, wird die Stadt Cuxhaven in Obhut genommen. Deswegen müssen wir uns fragen: Warum ist denn das so? Sind das Entscheidungen des Jugendamtes, die erklärbar sind, oder sind es Entscheidungen, die nicht zu erklären sind?
Deswegen – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – ist es eine große Freude, einen guten Entwurf zu haben. Das ist tatsächlich ein Flaggschiff, und hier beim Königsthema der Kinder- und Jugendhilfe ist es jetzt das Wichtigste, eine Reform auf den Weg zu bringen, die die Kinder und Jugendlichen in den Fokus stellt. Deswegen freuen wir uns auf eine breite Diskussion mit den Verbänden und mit den Experten. Lassen Sie uns dann in einigen Wochen wieder hier zusammenkommen und wie beim Elterngeld einen guten Entwurf zu einem noch besseren Gesetz machen – und das noch in dieser Legislaturperiode. Das, glaube ich, wäre dann auch für die Familienpolitiker, die Kinder- und Jugendpolitiker ein großer Erfolg. Daran wollen wir arbeiten.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Suding, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben etwa 240 000 Kinder und Jugendliche bei einer Pflegefamilie oder in einem Heim. Sie wurden von ihren leiblichen Eltern getrennt, weil diese nicht für sie sorgen können oder – noch schlimmer – weil diese sogar eine Bedrohung für sie sind. Das ist ein unfassbar schweres Schicksal, das diese jungen Menschen so früh in ihrem Leben schultern müssen. Gerade für diese jungen Menschen müssen wir alles tun, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Der Staat aber legt Pflege- und Heimkindern seit Jahren zusätzliche Steine in den Weg, und das ist unerträglich, und das gehört beendet.
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In seiner bisherigen Form verpflichtet das SGB junge Menschen dazu, bis zu 75 Prozent ihres durch Ausbildung oder Nebenjob selbst erarbeiteten Geldes an den Staat abzugeben. So solle die Finanzierung der Unterbringung im Heim oder in einer Pflegefamilie sichergestellt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Familienministerin nun erreichen, dass Pflege- und Heimkinder mit eigenem Einkommen nur noch 25 Prozent davon an den Staat abführen sollen. So werde – Zitat – die Chancengleichheit junger Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf verbessert, brüstet sich Frau Giffey. Liebe Frau Ministerin, das ist gönnerhaft, und das ist respektlos gegenüber den Jugendlichen.
({1})
Für uns als Freie Demokraten steht fest: Die Kostenbeteiligung von Pflege- und Heimkindern muss vollständig abgeschafft werden.
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Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
Erstens. Sie entmündigt junge Menschen auf ihrem Weg zur Selbstständigkeit. Ich selbst habe mein erstes Geld in einem Blumenladen verdient. Mein erster eigener Lohn – das war wirklich ein ganz besonderes Gefühl, auch ein entscheidender Entwicklungsschritt. Ich habe gelernt: Fleiß und Anstrengung werden belohnt. Das Familienministerium lehrt Pflegekinder mit der Kostenheranziehung aber genau das Gegenteil. Übersetzt steht da: Du bist anders. Deine Arbeit und dein Fleiß werden weniger belohnt als bei anderen. – Das ist eine fatale Ungerechtigkeit, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Durch die Abgaben können Jugendliche auf dem Weg in ihr eigenes Leben keine Rücklagen für Möbel, Wohnungskaution oder den Führerschein ansparen. Stattdessen sind viele dann auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Der Staat nimmt diesen jungen Menschen also ihr selbst verdientes Geld weg, damit sie dann zum Amt gehen und finanzielle Unterstützung beantragen müssen. Das kann ja wohl nicht der richtige Weg sein, meine Damen und Herren.
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Drittens. Experten gehen davon aus, dass die Einnahmen der Heranziehung von 25 Prozent nicht einmal die Kosten des Personalaufwandes decken. Das heißt, der Staat zahlt sogar noch drauf. Das ist nicht Win-win, das ist Lose-lose, und das darf nicht Ihr Ernst sein, liebe Familienministerin Giffey.
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Auch das Urteil der angehörten Sachverständigen ist eindeutig: Fünf von sieben sind für die vollständige Abschaffung des Kostenbeitrages. Fördern wir also die jungen Pflege- und Heimkinder auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit und beschneiden wir nicht länger ihre individuellen Aufstiegschancen! Die Kostenbeteiligung muss weg.
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Frau Kollegin Suding, achten Sie bitte darauf, dass Sie eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen.
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Norbert Müller, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute die Reform des Kinder- und Jugendhilferechtes. Seit Jahren steht dessen sozialpädagogischer Ansatz unter Druck. Neoliberale Instrumente sollen einkehren, individuelle Rechtsansprüche geschwächt und Öffnungsklauseln für die Bundesländer eingeführt werden. Im Kern geht es darum, Geld zu sparen.
Bereits in der letzten Wahlperiode hat die GroKo erfolglos versucht – im Bundesrat an links- und grünregierten Ländern gescheitert –, diesen sozialpädagogischen Ansatz ein für alle Mal zu schreddern. Die Linke stand stets und zu jeder Zeit an der Seite derer, die das fortschrittliche Kinder- und Jugendhilferecht verteidigt haben.
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Trotzdem gibt es natürlich Reformbedarf; das wissen auch wir. Die inklusive Ausgestaltung ist nach über 30 Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz überfällig gewesen. Auch die nunmehr verpflichtende Einführung von Ombudsstellen, Frau Ministerin, begrüßen wir ausdrücklich.
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Kinder- und Jugendliche, die in Heimen oder in Pflegefamilien leben, müssen bisher 75 Prozent ihres eigenen Einkommens abgeben. Wer eine Ausbildung macht oder sich im Ferienjob was hinzuverdient, behält also fast nichts. Die Bundesregierung will dieses vormoderne Kostgeld jetzt auf ganze 25 Prozent senken. Ich verstehe nicht, warum diese für die jungen Leute demotivierende Schikane nicht endgültig und vollständig abgeschafft wird.
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Im Gesetzentwurf sind im Detail aber auch echte rechtliche Schlechterstellungen von Familien, Kindern und Jugendlichen enthalten. Ich will dies exemplarisch an der sogenannten Sozialraumorientierung verdeutlichen. Damit wird ermöglicht, individuelle Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung zu versagen und die Betroffenen in den Sozialraum zu verweisen, zu sogenannten niedrigschwelligen Angeboten.
Statt der Gewährung einer individuellen Familienhilfe wie bisher können betroffene Familien beispielsweise auf eine Anlaufstelle der Jugendsozialarbeit, ein Gruppenangebot in der Schule oder einen Kurs im Familienzentrum verwiesen werden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Jugendklubs, Streetwork, Ganztagsangebote in Schulen sind total gut – das unterstützen wir auch –, aber sie ersetzen keine benötigte individuelle Familienhilfe und Hilfe für die Kinder und Jugendlichen.
Auf den ersten Blick hört sich das total gut an: niedrigschwellige Angebote im Sozialraum. – Wenn aber individuelle Rechtsansprüche auf Hilfen für Kinder und Familien abgebaut werden, dann geht es nicht um niedrigschwellige Angebote, dann schleifen Sie den Sozialstaat, und da machen wir als Linke nicht mit.
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Stattdessen wollen wir eine echte Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe. Das bedeutet, dass wir eben mehr finanzielle Ressourcen brauchen statt weniger in den Kommunen und den Ländern. Wer Kinder stärken will, der muss ihre Mitbestimmungsrechte und ihre Rechtsansprüche stärken. Wir wollen Kinderschutz durch präventive Arbeit ausbauen, zum Beispiel durch eine bessere Ausstattung der offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendverbände, wo Kinderschutz praktisch wird. Wir wollen den Rechtsanspruch auf Hilfen für die jungen Volljährigen ausbauen. Da sind die Formulierungen im Gesetzentwurf zu unklar.
Herr Kollege Weinberg, ich habe das zur Kenntnis genommen: Im Familienausschuss haben Sie die Anträge von Grünen und uns zur Jugendwohnungslosigkeit noch abgelehnt. Die Zahlen haben Sie übernommen: über 30 000 betroffene junge Menschen, die ohne eigene Wohnung leben, auf Couchen bei Freunden leben oder sogar auf der Straße. Ich nehme das wohlwollend zur Kenntnis und Ihr Angebot ernst, dass wir im Familienausschuss dazu kommen, diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung wenigstens in dem Punkt zu qualifizieren, dass wir bessere Lösungen finden für Careleaver und für junge Menschen, die ohne eigene Wohnung leben müssen. In diesem Sinne freue ich mich auf den weiteren Austausch.
Vielen Dank.
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Das Rednerpult wird vorbereitet für die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir reden zur Kernzeit, aber leider viel zu kurz für so einen wichtigen und gewichtigen Gesetzentwurf, den wir hier besprechen.
Vieles von dem, was Sie, Frau Ministerin, vorgelegt haben, betrifft überfällige Änderungen im Kinderschutzrecht. Wir werden Sie dabei unterstützen. Wir wollen Sie auch konstruktiv begleiten, damit das Ganze umgesetzt werden kann. Das mal vorneweg gesagt.
Ich will aber trotzdem einige Vorschläge aufzeigen und ein paar Bausteine benennen, die wir in den Beratungen auf jeden Fall in den Mittelpunkt rücken müssen. Der Kernbereich dieses Gesetzes ist der Einstieg in die inklusive Jugendhilfe, und das war tatsächlich fällig. Die Realisierung der zeitlichen Abläufe zur Einführung ist mir aber, ehrlich gesagt, noch nicht ganz klar. Wir werden darüber im Verfahren reden müssen.
Dazu mein erster Vorschlag: Natürlich kriegen wir die inklusive Jugendhilfe nicht über Nacht gewuppt; dafür brauchen wir Zeit. Aber wir sollten den Kommunen, die diese große Arbeit zu stemmen haben, auch mehr Möglichkeiten und Freiheiten geben, zum Beispiel durch eine Experimentierklausel und durch ein Bundesmodellprogramm, das sie darin ermutigt und unterstützt, das Ganze umzusetzen.
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Das könnte modellhaft werden für alle anderen. Das könnte uns Zeit und Luft verschaffen, gute Modelle zu entwickeln und in dieser Systematik ein gutes Produkt rauszubringen.
Ich komme zu meinem zweiten Vorschlag. Sie sagen, vom Kern her sei das ein Leistungsgesetz. Das stimmt; Sie schreiben aber gleich mit rein: Egal was wir am Ende machen, es muss auf jeden Fall kostenneutral sein.
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Aber ich muss mir doch erst mal überlegen, was ich will, und mir dann Gedanken darüber machen, wie ich das finanziert bekomme. Wenn ich aber schon von vornherein sage: „Es darf nichts kosten“, dann kann ich auch nicht wirklich etwas verändern.
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Das funktioniert in der Form nicht. Geben Sie uns Luft und die Chance, etwas Gutes daraus zu entwickeln.
Drittens. Der Gesetzentwurf ist hinsichtlich der Verfahrenslotsen und Ombudsleute komplett vage. Da werden sehr viele Nachfragen kommen, nach dem Motto: Was wollen Sie da eigentlich? – Das finde ich sehr schade. Da sollten wir konkret sein.
Damit komme ich zu den letzten Vorschlägen, die ich in meinen drei Minuten Redezeit unterbringen kann. Einer betrifft § 4 KKG. Ja, es gab einen guten Beteiligungsprozess, in den sich alle eingebracht haben. Aber an diesem Punkt sagen uns alle Experten: Das, was Sie da reingeschrieben haben, ist nicht von uns. – Das wird von niemandem unterstützt.
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Es ist komplett missglückt. Ich glaube, dass da die alte Fassung besser ist als das, was Sie jetzt vorschlagen.
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Zuletzt komme ich zur Absenkung der Kostenheranziehung bei Heim- oder Pflegekindern. Ja, 75 Prozent auf 25 Prozent zu senken, ist sicher ein Fortschritt; aber es spricht wirklich alles dafür, komplett darauf zu verzichten.
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Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie glauben, wenn die Leute einen Teil des Geldes abgeben müssten, hätte das ein pädagogisches Moment.
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Aber Sie verkennen die Lage der jungen Menschen, die davon betroffen sind. Die brauchen andere pädagogische Momente – das hier ist es jedenfalls nicht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns Anwälte der Kinder und Jugendlichen sein, auch mit diesem Gesetz. Dafür müssen wir diese Baustellen aber noch bearbeiten.
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Jetzt erhält das Wort die Kollegin Ulrike Bahr, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Seit 30 Jahren haben wir in Deutschland ein gutes und modernes Kinder- und Jugendhilferecht. Im Mittelpunkt stehen Angebote und Hilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien, die partnerschaftlich entwickelt werden sollen. Dabei leisten Jugendämter und freie Träger ganz überwiegend großartige Arbeit für Familien in schwierigen Situationen.
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Aber es gibt auch Schattenseiten und Probleme, zum Beispiel steigende Zahlen bei Inobhutnahmen, großes Misstrauen gegenüber Jugendämtern, Skandale wegen entwürdigender Erziehungsmaßnahmen in Einrichtungen der Jugendhilfe, eine demotivierend hohe Kostenbeteiligung für junge Menschen in Pflegefamilien und Heimen, aus dem Ruder gelaufene Auslandsmaßnahmen oder ein viel zu abruptes Ende von Hilfen für gerade Volljährige.
Darum ist klar: Das Kinder- und Jugendhilferecht verdient ein Update. Zum einen muss die Kinder- und Jugendhilfe endlich inklusiv werden. Seit vielen Jahren diskutieren wir unter den Überschriften „Große Lösung“, „Inklusive Lösung“ oder jetzt „Hilfen aus einer Hand“ darüber, alle Kinder, mit und ohne Behinderung, unter dem Dach der Jugendhilfe mit den Leistungen zu versorgen, die sie und ihre Familien brauchen. Etwa 360 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leben mit einer Behinderung. Sie brauchen gute und bedarfsgerechte Unterstützung, am besten unbürokratisch und aus einer Hand.
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Zum anderen müssen wir auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe den Sozialstaat auf Augenhöhe weiterentwickeln: Beteiligung, Beratung in wahrnehmbarer Form, Befähigung und Beschwerderechte sind eine zentrale Säule dieser Reform und daher ein ganz wesentlicher Faktor für das Gelingen von Hilfeprozessen.
Der Gedanke der Beteiligung stand auch im Zentrum des Gesetzgebungsprozesses. Hier möchte ich mich ganz herzlich bedanken bei Frau Ministerin Giffey und auch bei Frau Staatssekretärin Caren Marks, die diesen Prozess geleitet hat.
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Zur Vorbereitung hat das Ministerium sehr klug über ein ganzes Jahr diesen Beteiligungsprozess mit Vertretern von Verbänden, Wissenschaft, Ländern und Nachbarressorts durchgeführt. Begleitend gab es ein Forschungsprojekt, eine Onlineplattform und Veranstaltungen vor Ort. Die Ergebnisse wurden nicht nur sorgfältig dokumentiert, sondern auch im Gesetzentwurf umgesetzt. Das war ein großer Aufwand, aber er trägt Früchte. Ich habe in den letzten Monaten mit zahllosen Akteuren auf allen Ebenen gesprochen, und fast alle haben das Verfahren gelobt und begrüßen diesen Gesetzentwurf.
Im Detail gibt es natürlich unterschiedliche Sichtweisen. Auch die Bundesländer haben noch eigene Initiativen angekündigt. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren alles diskutieren, klären und bei Bedarf nachbessern. Im Familienausschuss haben wir dazu bereits eine sehr umfangreiche Anhörung angesetzt.
Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen und die Umsetzung von lange erwarteten Verbesserungen in den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, beim Kinderschutz, der Inklusion und der Beteiligung.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Kinder- und Jugendschutzrechtes ist ein ganz zentrales Vorhaben in dieser Legislaturperiode. Die Vorredner sind bereits darauf eingegangen: Schon in der letzten Wahlperiode gab es den Versuch, das Kinder- und Jugendschutzrecht in Deutschland zu reformieren. Damals kam der Gesetzentwurf kurz vor Ende der Legislaturperiode. Er war schlecht vorbereitet, wurde nicht mit der Fachwelt diskutiert, und die Fachwelt hat dementsprechend reagiert. Es gab einen großen Aufschrei. Wir haben dann im parlamentarischen Verfahren einige Sachen herausgegriffen und versucht, wenigstens diese zu ändern, aber auch das konnte nicht mehr rechtzeitig vom Bundesrat verabschiedet werden.
Deshalb haben wir zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt: Das Ministerium muss das Thema ganz anders angehen. Wir brauchen einen breiten Beteiligungsprozess. Wir müssen die Kompetenz derjenigen, die tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, besser berücksichtigen und besser zuhören, was sie wollen und was sie brauchen, um Kinder und Jugendliche optimal zu unterstützen.
Genau das hat das Ministerium gemacht: in einem breiten Beteiligungsprozess mit Verbänden, mit Experten und mit einer Onlinekonsultation, an der sich jeder beteiligen konnte. Und deshalb, liebe Frau Ministerin, Ihnen und Ihrem Haus ein herzliches Dankeschön dafür. Das war ein guter Prozess. Der Staatssekretärin Caren Marks, die das federführend begleitet hat, sage ich: Hut ab für diesen erfolgreichen Prozess! So haben wir uns das vorgestellt. Das war eine gute Vorbereitung für dieses Gesetz.
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Unter anderem gab es einen Punkt, für den sich unser Kollege Marcus Weinberg sehr stark eingesetzt hat, nämlich das Forschungsmodul „Hochproblematische Kinderschutzverläufe“. Ich bin froh, dass das gestartet wurde. Wir haben auch eine entsprechende Kommission gegründet, und wir wollen, dass die Ergebnisse auch dieser Kommission noch stärker im Gesetzgebungsverfahren mitberücksichtigt werden. Wenn wir solche Sachen initiieren, dann wollen wir auch die Ergebnisse aufnehmen und daraus lernen. Da gibt es also noch ein bisschen was zu tun.
Besserer Kinder- und Jugendschutz, die Stärkung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe, Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen, mehr Prävention vor Ort und mehr Beteiligung – das sind die fünf Bausteine, aus denen dieses Gesetz besteht. Einige Punkte sind in dieser Debatte schon herausgegriffen worden, und auch meine Redezeit reicht nicht, um auf alles einzugehen.
Ich will aber gerne auf folgenden Punkt eingehen: das Heranziehen des ersten Einkommens – sei es der Ferienjob, sei es das erste Ausbildungsgehalt – von Kinder und Jugendlichen, die in Pflegefamilien wohnen. Ja, bisher war es so, dass sie 75 Prozent davon abgeben mussten. Das finden wir ungerecht.
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Als Unionsfraktion setzen wir uns schon lange dafür ein, dass wir an diesem Punkt etwas ändern. Es ist für die jungen Menschen demotivierend, wenn sie den größten Teil des ersten selbst verdienten Geldes abgeben müssen. Deshalb brauchen wir hier dringend eine Änderung. Das wurde auch in diesem Beteiligungsprozess diskutiert. Dort kam man mehrheitlich zu der Auffassung, dass es richtig ist, 25 Prozent abzugeben. Warum? Weil auch Kinder und Jugendliche, die noch bei der Familie wohnen, von ihrem ersten selbst verdienten Ausbildungsgehalt ganz oft ein bisschen ihren Eltern abgeben, quasi als Zeichen dafür, dass man sich an den täglichen Kosten beteiligt, an der Miete, an der Verpflegung. Das ist in vielen Familien selbstverständlich und eine ganz bewusste Maßnahme gegenüber den eigenen Kindern. Deshalb war das Mehrheitsvotum auch in dieser Beteiligungskommission, dass man die Quote natürlich deutlich reduziert, man aber einen geringen Anteil gelten lässt. Deshalb finde ich die Regelung nicht so unsozial, wie Sie das hier darstellen, Frau Suding. Ehrlich gesagt habe ich mich gewundert, dass dieses gerade von der FDP kritisiert wird.
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Ich finde es gut und richtig, dass wir uns noch einmal die Situation der Careleaver vorgenommen haben. Es ist nicht so, dass mit der Volljährigkeit die Hilfe beendet wird. Diese brauchen mehr Sicherheit und mehr Unterstützung, gerade beim Übergang in die Selbstständigkeit.
Mit Blick auf die Redezeit will ich noch einen Punkt erwähnen, der mir besonders wichtig ist. Das sind die Kinder von sucht- und psychisch kranken Eltern. Die sind bisher durch das Raster gefallen, weil sie selbst nicht süchtig sind, weil sie selbst nicht krank sind, weil sie selbst vielleicht noch keine Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Mit diesem Gesetz packen wir das Thema an, ein Thema, das wir als Unionsfraktion mit einer Arbeitsgruppe, die das aufgearbeitet hat, seit Jahren vorantreiben. Wir haben dafür gesorgt, dass es auch im Beteiligungsprozess eine große Rolle spielt. Jetzt schaffen wir ein System, das diese Kinder schon sehr früh auffängt:
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mit Beratung, mit Unterstützung, mit besserer Zusammenarbeit mit den Ärzten. Das ist ein gutes Signal für diese Kinder. Die wollen wir nicht aus dem Blick verlieren. Mit diesem Gesetz werden wir sie auffangen. Auch das ist ein gutes Zeichen.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland kennen wir zwei gesetzlich normierte Ausnahmezustände: zum einen den Verteidigungs-, zum anderen den Seuchen-, Pandemie- oder Infektionsfall.
Im Vorfeld der Regelungen des einen Ausnahmezustandes fanden etwa zehn Jahre lang hitzige Debatten im Parlament und in den Medien statt. Am Ende gab es eine höchst streitige Abstimmung im Deutschen Bundestag. Studenten, Intellektuelle, Gewerkschaften, aber auch SPD und FDP – man höre und staune! – gingen damals gegen diese Grundgesetzänderung vor. Sie fürchteten eine Demokratiegefährdung, und sie erinnerten an die Machtergreifung Adolf Hitlers.
Die Regelung des anderen Ausnahmezustandes ging ganz flott: wenige Tage Debatte, Verunglimpfung der Gegner durch Altparteien und Medien bei gleichzeitiger Unterstützung der Regierenden, ein paar Wasserwerfereinsätze gegen friedliche Demonstranten
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und dann nahezu einstimmige Zustimmung der ganz großen Koalition aus CDU, CSU, SPD und Grünen.
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Meine Damen und Herren, der eine Ausnahmezustand sieht im Verteidigungsfall die Möglichkeit vor, in fünf Grundrechte einzugreifen: Enteignungen, Freiheitsentziehungen, Dienstpflicht für Frauen, Einschränkungen der Artikel 10 und 11. Im Seuchen- und Pandemiefall kann es zu zeitlich unbegrenzten Eingriffen in nahezu sämtliche Grundrechte kommen: angefangen bei der Menschenwürde, Artikel 1, über das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Artikel 2, den Gleichheitssatz, Artikel 3, die Religionsausübung, die Wissenschafts-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit, Artikel 4, 5, 8, die Rechte von Familien, Artikel 6, die Freizügigkeit, Artikel 11, die Berufsausübungsfreiheit, Artikel 12, die Unverletzlichkeit der Wohnung, Artikel 13, bis hin zu Eingriffen in das Recht auf Eigentum, Artikel 14.
({2})
So sieht das dann konkret aus: § 28a Infektionsschutzgesetz. Möglich sind: Anordnung von Abstandsgeboten, Maskenpflicht, Untersagung von Freizeitveranstaltungen, Untersagung des Betriebs von Freizeiteinrichtungen, Untersagung von Kultur- und Sportveranstaltungen, Untersagung von Veranstaltungen, Ansammlungen, Aufzügen, Versammlungen, religiösen Zusammenkünften, Untersagung von Reisen, Untersagung von Übernachtungsangeboten, Untersagung des Betriebs von gastronomischen Einrichtungen, Schließung von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel,
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Untersagung des Besuchs von Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens, Schließung von Hochschulen, Anordnung von Ausgangsbeschränkungen, Untersagung des Betretens von Alten- oder Pflegeheimen und Krankenhäusern. – Das war nicht einmal abschließend, meine Damen und Herren. So weit, so schlecht.
Übrigens das einzige Grundrecht, in das nicht eingegriffen wird, ist das Grundrecht auf Asyl. Man sperrt also ein ganzes Volk ein
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und verbietet Reisen; einreisen und bleiben darf aber jeder. Das verstehe wer will.
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Meine Damen und Herren, wir haben jetzt zwei Ausnahmezustände verglichen, und ich frage Sie: Für welchen der beiden muss man höhere Voraussetzungen erfüllen? Für den einen Fall, den Verteidigungsfall, wo zeitlich begrenzt in fünf Grundrechte eingegriffen werden kann, oder für den Seuchenfall, in dem die Möglichkeit besteht, zeitlich unbegrenzt in alle Grundrechte, die ich Ihnen gerade genannt habe, mit allen Schikanemaßnahmen, die ich Ihnen gerade genannt habe, einzugreifen?
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Also: Für welchen muss man höhere Voraussetzungen erfüllen? – Es weiß keiner. Ich sage es Ihnen: Der Seuchenfall ist viel einfacher festzustellen als der Verteidigungsfall. Für ihn reicht die einfache Mehrheit im Bundestag, um alle Grundrechte abzuschaffen. Für die Feststellung des Verteidigungsfalls braucht man eine qualifizierte Mehrheit im Bundestag und sogar die Zustimmung des Bundesrates.
Ob und wann Grundrechte dann wieder eingeräumt werden, steht in den Sternen. Sie kennen ja die Diskussionen, vor allem auch betrieben von Frau Lambrecht – Wo ist die Gute eigentlich? Gar nicht da – und Herrn Maas, dass es sich um Privilegien handeln würde, wenn man Grundrechte hat.
Meine Damen und Herren, ich sage hier ganz klar: Für uns sind Grundrechte keine Verfügungsmasse.
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Für uns sind Grundrechte keine Privilegien. Grundrechte gelten immer und überall, auch und vor allem in Krisenzeiten. Das schreiben Sie sich hinter die Ohren.
({8})
Wir stellen fest: Es besteht erheblicher verfassungsrechtlicher Klärungsbedarf. Für uns liegt die Verfassungswidrigkeit geradezu auf der Hand. Wenn schon Ausnahmezustand, dann Normierung im Grundgesetz. Das nennt man Vorrang der Verfassung.
Aber auch die einfachgesetzliche Regelung, meine Damen und Herren, ist verfassungswidrig, da unbestimmt. Es reicht die Ausbreitung einer „bedrohlichen übertragbaren Krankheit“, um diesen Ausnahmezustand festzustellen. Was diese bedrohliche übertragbare Krankheit sein soll, ist nicht weiter definiert. Es reicht also im Zweifel jede Grippewelle, wie sie in nahezu jedem Winter auftaucht, um ein ganzes Volk einzusperren und zu drangsalieren. Wie praktisch für die Regierenden, die sich ja seit Jahren an millionenfachen Verfassungs- und Rechtsbruch gewöhnt haben!
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Das Infektionsschutzgesetz – meine Damen und Herren, das sage ich ganz klar – ist ein bewusst vage gehaltenes Unterjochungs- und Freiheitsberaubungsgesetz. Die Lösung wäre so einfach. Warum definieren Sie die „bedrohliche übertragbare Krankheit“ in § 5 nicht einfach so wie in § 6? Nur einen Paragraf später sind bedrohliche Krankheiten konkret aufgelistet. So könnte man ein Gesetz bestimmtheitsmäßig korrekt fassen, sodass keine Probleme mit der Rechtmäßigkeit bestünden. Aber Sie wollen es vage haben. Sie wollen frei schalten und walten können, zulasten der Bürger.
Warum? Der Schikanekatalog in § 28a, den ich gerade vorgelesen habe, ist an alle Bürger gerichtet. Sie stellen alle Bürger unter Generalverdacht. Das ist ein Bruch mit den bisherigen Grundsätzen des Polizeirechts, nach denen grundsätzlich nur Störer Adressat staatlicher Maßnahmen sein dürfen.
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Es sind also schwere Verstöße gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
Wenn Sie sich dann noch mal das Manipulationspotenzial anschauen, was die Inzidenzwerte angeht – willkürlich festgelegte Inzidenzwerte –: Wenn Sie den Ausnahmezustand wollen, testen Sie einfach mehr; dann haben Sie auch mehr Infizierte, wobei wir ja inzwischen alle wissen: „Infiziert“ heißt zwingend weder erkrankt noch zwingend in der Lage, zu übertragen. Also, Sie können da schalten und walten, und genau das wollen Sie. Willkür ist Tür und Tor geöffnet.
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Hinzu kommen dann noch Verstöße gegen den Föderalismus, also die Durchbrechung der Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist greifbar verfassungswidrig und hätte nie in Kraft treten dürfen. Die Merkel-Koalition hat es aber mit Unterstützung der Grünen durchs Parlament gepeitscht und verabschiedet. Die Opposition, hier mal nicht nur allein in Gestalt der AfD, sondern unterstützt durch die FDP und durch die Linken, konnte auf parlamentarischem Wege leider nicht verhindern, dass dieses Gesetz in Kraft tritt; deshalb dieser Antrag, über den gleich möglicherweise namentlich abgestimmt wird und mit dem wir als AfD allen echten Demokraten und Verfassungsfreunden
({12})
hier im Hause die Möglichkeit geben, mit uns vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
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Und ich verspreche Ihnen: Wir werden vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich sein. So wahr ich hier stehe: Wir werden diesen Prozess gewinnen, wenn wir ihn denn gemeinsam als Oppositionsparteien führen, meine Damen und Herren.
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Bewusst haben wir auf die Vorlage – das kommt ja dann gleich – einer ausformulierten Antragsschrift verzichtetet, damit Sie sich in der Debatte auch einbringen können. Wir formulieren dann gemeinsam die Antragsschrift.
Also – ich komme zum Schluss, Herr Präsident –: Mit uns von der AfD gemeinsam für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte – das ist doch was! Ich lade Sie alle herzlich dazu ein.
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Seien Sie herzlich willkommen!
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marco Luczak, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt Freitagmorgen, 10.30 Uhr. Das ist die Primetime des Parlaments. Das ist normalerweise die Zeit, wo wir über die großen Dinge, die großen Herausforderungen, gerade auch in der Pandemie, diskutieren.
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Die Menschen draußen, die uns jetzt zuhören, wollen hören, was wir denn für Lösungen anzubieten haben, was die drängenden Fragen sind und wie wir darauf reagieren wollen. Und was machen wir stattdessen? Wir müssen uns hier mit einem Antrag der AfD auseinandersetzen,
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der formal absurd ist, der inhaltlich völlig daneben ist und der in der Sache billiger Populismus ist.
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Warum ist der Antrag formal absurd? Man muss sich noch mal genauer vergegenwärtigen, was die AfD hier von uns als Deutschem Bundestag beschlossen haben möchte.
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Der Bundestag soll begrüßen, dass sich genügend Mitglieder des Hohen Hauses zusammenfinden, um eine abstrakte Normenkontrolle gegen das Infektionsschutzgesetz auf den Weg zu bringen.
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Meine Damen und Herren, das ist doch absurd. Der Bundestag soll mit Mehrheit beschließen,
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ein Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, das er selbst mit Mehrheit beschlossen hat. – Wenn diese Mehrheit, lieber Kollege Brandner, da wäre, dann könnte der Bundestag das Gesetz doch gleich aufheben.
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Wieso also dieser Umweg zum Bundesverfassungsgericht? Wieso stellen Sie nicht gleich einen Antrag, dass dieses Gesetz aufgehoben wird?
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Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das nicht machen: weil Sie ganz genau wissen, dass Sie für Ihren Antrag hier keine Mehrheit bekommen. Und warum wissen Sie das? Weil Sie den gleichen Antrag – wortgleich, identisch – schon im Oktober 2020 gestellt haben. Und auch damals haben Sie keine Mehrheit gefunden. Sie wissen genau, dass das Nonsens ist, dass das Bauernfängerei ist, dass das billiger Populismus ist. Schade, dass Sie unsere Zeit hier heute Morgen damit verschwenden.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Nein. – Und in der Sache ist dieser Antrag auch völlig unberechtigt. Natürlich stellen sich schwierige verfassungsrechtliche Fragen im Zuge der Pandemiebekämpfung. Ja, es ist richtig: Es gibt einschneidende Maßnahmen, es gibt Eingriffe in Grundrechte, und die Freiheiten der Menschen werden eingeschränkt. Das ist uns allen wohl bewusst.
Und deswegen haben wir das hier im Deutschen Bundestag auch ausführlichst diskutiert, nicht nur bei § 28a Infektionsschutzgesetz, auch in dieser Woche, mit Aktuellen Stunden. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Debatten wir im Deutschen Bundestag über die Fragen der Pandemiebekämpfung geführt haben.
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Es waren viele.
Und ich will nur mal sagen: § 28a ist – anders, als Sie das hier vorstellen – gerade keine Erweiterung von Maßnahmen gewesen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in § 28a als Deutscher Bundestag den Ländern einen ganz konkreten Regelungsrahmen dafür vorgegeben, was sie machen können und was sie auch nicht machen können. Das heißt, wir haben ein abgestuftes Regelungsregime geschaffen, unter Wahrung der strikten Verhältnismäßigkeit, weil wir natürlich genau sehen, dass es einschneidende Maßnahmen sind und dass wir die Grundrechte der Bürger schützen müssen.
Wir haben aber gleichzeitig auch sichergestellt, dass die notwendige Flexibilität, um die Pandemie zu bekämpfen, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, gewahrt wird. Dass das notwendig war, zeigt ja auch gerade das Geschehen, das wir in diesen Tagen haben. Bei den Mutationen ist es eben notwendig, dass wir flexibel darauf reagieren.
Wir haben als Deutscher Bundestag der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichtes Rechnung getragen. Das Parlament, wir als Deutscher Bundestag haben den Rahmen gesetzt, wir haben verbindlich abgesteckt, was möglich ist und was auch nicht. Und der Rechtsstaat, meine Damen und Herren? Der funktioniert. Gerade in der Krise bewährt er sich. Und das zeigt jetzt gerade auch der Blick auf die Entscheidungen der Gerichte in den letzten Wochen und Monaten.
Die Gerichte kontrollieren. Wir haben gerade in dieser Woche eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes gehabt, wo die FFP2-Masken-Pflicht ausdrücklich bestätigt worden ist. Aber gleichzeitig hat das Gericht auch gesagt, dass die Einschränkung des Bewegungsradius, die dort erfolgen sollte, nicht in Ordnung gewesen ist. Das zeigt doch gerade, dass die Gerichte differenziert damit umgehen, dass sie sich sehr genau anschauen, welchen Rahmen wir als Deutscher Bundestag gesteckt haben, was möglich ist und was auch nicht.
Und wenn Sie, Herr Gauland, in diesem Zusammenhang von „Coronadiktatur“ sprechen, dann ist das nicht nur in der Sache falsch, sondern ich finde, es ist eine Verhöhnung von all denen, die wirklich in einer Diktatur leben müssen, meine Damen und Herren.
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Aber von all diesen verfassungsrechtlich hochkomplexen, schwierigen Fragen findet sich in der Begründung Ihres Antrags kein Wort. Kein Wort! Die Begründung ist dünn, außerordentlich dünn.
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Sie haben, so wie in Ihrer Rede, erst mal seitenlang die Vorschriften wiedergegeben und zitiert, Sie haben von Ihrem Sachverständigen in der Expertenanhörung abgeschrieben. Ich habe mich gefragt, welcher Jurastudent im ersten Semester eigentlich diesen Antrag geschrieben hat. Aber wahrscheinlich war es einfach nur Herr Brandner selbst.
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Stattdessen finden sich dort krude Behauptungen, es finden sich dort krude Vorschläge, etwa dass behauptet wird, die Grundrechte würden großflächig suspendiert werden.
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Das ist genau das Narrativ der Querdenker, das Sie damit bedienen.
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Und ich kann Ihnen sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Natürlich gelten die Grundrechte; selbstverständlich gelten die Grundrechte. Aber es ist auch richtig: Die Grundrechte werden eingeschränkt, weil es notwendig ist, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Aber alle Maßnahmen, die wir gemacht haben, um die Grundrechte einzuschränken, geschahen unter Wahrung der strikten Verhältnismäßigkeit, und all das, was Sie hier gesagt haben, dass es zeitlich unbeschränkt eingeschränkt würde, dass es keine Definition der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gibt, all das ist Unsinn. Das wissen Sie auch selbst.
Ich will zum Schluss noch auf einen Vorschlag zu sprechen kommen, den die AfD uns hier im Antrag macht. Sie schlagen allen Ernstes vor, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie unmittelbar im Grundgesetz geregelt werden sollen. Sie schlagen uns allen Ernstes eine Verfassungsänderung vor, um die Coronapandemie zu bekämpfen, und Sie wissen sehr genau, dass man dafür eine Zweidrittelmehrheit hier im Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat benötigt.
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Sie wissen, wie schwerfällig, wie zeitaufwendig ein solches Verfahren ist, dass man manchmal Wochen und Monate darüber diskutieren muss.
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In der Pandemie ist genau das Gegenteil gefordert: Es ist notwendig, dass wir schnell, entschieden und flexibel handeln können.
Und das zeigt nur, wes Geistes Kind Sie sind. Es zeigt, dass Sie diese Coronamaßnahmen ablehnen, dass Sie sie torpedieren wollen. Deswegen sprechen Sie auch von einem Ermächtigungsgesetz.
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Sie sprechen von einer Gesundheitsdiktatur.
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Sie begeben sich damit in Widerspruch zu 84 Prozent der Menschen in unserem Land, die sagen: Die Maßnahmen sind richtig, sie könnten sogar noch schärfer ausfallen.
Mit Ihrem Antrag, mit Ihrer Argumentation schrammen Sie haarscharf an der Coronaleugnung vorbei. Das ist Obstruktionspolitik, und das werden wir nicht mitmachen, meine Damen und Herren.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Wieland Schinnenburg, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es bleibt dabei: Herr Brandner kann keine juristischen Texte verfassen.
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Das war im Oktober letzten Jahres schon so, und das ist auch immer noch so.
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Das ist auch kein Wunder, weil die AfD ja generell mit unserer Verfassung nichts anfangen kann. Sie hält sich nicht an die Grundwerte unserer Verfassung, als da wären: Toleranz und Menschlichkeit.
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Sie machen Kampagnen gegen Ausländer und Andersdenkende. Das hat mit den Grundwerten der Verfassung nichts zu tun. Ein Teil der Mitglieder Ihrer Fraktion greift sogar die Funktionsfähigkeit unseres Parlamentes an, indem sie bis vor Kurzem noch ohne Masken herumliefen
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und die Abgeordneten und deren Mitarbeiter der Gefahr aussetzten, dass sie Corona bekommen. Ein Teil von Ihren Kollegen hat Menschen in den Bundestag gelassen, um den Bundestag zu stören. So gehen Sie mit dem Parlament um, so gehen Sie mit der Verfassung um! Kein Wunder, dass Sie von der Verfassung keine Ahnung haben, meine Damen und Herren.
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Ganz konsequent leidet Ihr Antrag unter ganz schwerwiegenden Mängeln. Lassen Sie mich die wichtigsten aufzählen:
Der erste Punkt. Sie berufen sich auf das Bestimmtheitsgebot. Da empfehle ich Ihnen mal die Lektüre der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Dieses Gericht kämpft intellektuell einige Gewichtsklassen oberhalb von Ihnen.
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Es verwendet nicht so einen starren Begriff von Bestimmtheitsgebot. Lesen Sie es mal nach im 123. Band der Entscheidungen der amtlichen Sammlung! Da steht ganz ausdrücklich drin, dass es nur darauf ankommt, eine Bestimmbarkeit der Grenzen der Ermächtigung zu erkennen. Und im 58. Band heißt es: Das Bestimmtheitsgebot ist von Fall zu Fall unterschiedlich auszulegen. – Davon findet sich im Antrag nichts. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie ein Bestimmtheitsgebot zu bewerten ist.
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Fangen Sie damit erst mal an, bevor Sie solche Anträge schreiben, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Sie berufen sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip und stellen nur darauf ab, dass hier gegen Gesunde vorgegangen wird. Ja, das hat damit eigentlich nahezu gar nichts zu tun. Es wäre ja Aufgabe gewesen, ein milderes Mittel darzulegen, mit dem man den gleichen Zweck hätte erreichen können.
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Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird gegen Ende des ersten Semesters des Jurastudiums unterrichtet. Ich gehe davon aus, dass Herr Brandner zu der Zeit gerade bei einer Demo gegen Ausländer war und deshalb nicht an der Universität anwesend sein konnte.
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Anders ist das wirklich nicht zu erklären.
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Der dritte Punkt. Sie stellen völlig absurde Vergleiche an. Sie vergleichen die Schließung von Restaurants mit der Verkündigung des Verteidigungsfalls. Abgesehen davon, dass das ziemlich makaber und völlig unpassend ist, ist es auch juristischer Unsinn, meine Damen und Herren.
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Auf der einen Seite geht es um Tausende, gar Millionen von Toten, auf der anderen Seite um die Schließung von Restaurants. Ich sage Ihnen was, Herr Brandner: Äpfel und Birnen haben mehr gemeinsam als die Gegenstände der Vergleiche, die Sie hier anstellen. Es ist völlig daneben, was Sie da machen.
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Vierter Punkt. Sie stellen auf die mangelnde Befristung ab. Da gibt es den alten juristischen Grundsatz: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.
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Sie hätten erst mal lesen sollen: In § 5 Absatz 4 Infektionsschutzgesetz steht die Befristung drin. Haben Sie nicht gelesen. Machen Sie das erst mal, bevor Sie solche Anträge schreiben, meine Damen und Herren!
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Fünfter Punkt. Sie schaffen es nicht mal, den Antrag vernünftig zu schreiben. Sie wollen, dass der Bundestag irgendetwas „begrüßt“. Das nützt Ihnen gar nichts. Was Sie brauchen, sind ein fundierter, brauchbarer Antrag und 178 Unterschriften von Bundestagsabgeordneten. Ich sage Ihnen: Sie werden beides nicht bekommen. Weder schaffen Sie einen vernünftigen Antrag, noch bekommen Sie 178 Unterschriften. Das ist das wahre Problem von Ihnen.
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Nun ist es aber nicht so, dass wir als FDP nicht auch irgendwas begrüßen würden. Ich kann Ihnen sagen, was wir begrüßen würden: Wir würden es begrüßen, wenn Sie, Herr Brandner, und Ihre ganze Partei dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören.
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Das würden wir begrüßen; denn solche Leute wie Sie haben hier nichts zu suchen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie ist eine echte Belastungsprobe für uns alle, für unsere gesamte Gesellschaft. Und sie ist, wenn man Herrn Brandner gehört hat, auch eine Herausforderung für unser Parlament, für unsere Demokratie. Der Antrag der AfD wirkt nur auf den ersten Blick so, als ginge es darum, Demokratie und Rechtsstaat zu schützen. Aber es geht der AfD, es geht Ihnen, Herr Brandner, nicht um Demokratie und Rechtsstaat. Wenn Sie sich auf Grundrechte berufen, dann kann ich nur lachen, muss ich ganz ehrlich sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Mit diesem Schaufensterantrag wollten Sie vielmehr vermeintliches Politik- und Regierungsversagen dokumentieren. Herr Luczak hat schon zu Recht gesagt: Für eine abstrakte Normenkontrollprüfung brauchen Sie 25 Prozent der Abgeordneten. – Ich glaube nicht, dass in diesem Parlament 25 Prozent der Abgeordneten Ihren Antrag unterstützen.
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Sie wissen genau, dass Sie die Stimmen nicht bekommen. An die AfD: Statt anzupacken, statt konstruktive Vorschläge zu machen, geht es Ihnen nur um Streit, geht es Ihnen um den kleinen politischen Vorteil. Und das auf dem Höhepunkt einer Pandemie, wo wir alle Kräfte brauchen, wo wir sozialen Zusammenhalt brauchen! Diese Rede und dieser Antrag sind armselig, egoistisch und parteipolitisch oder fraktionspolitisch motiviert und nicht an der Sache orientiert.
Die AfD behauptet, dass das dritte Bevölkerungsschutzgesetz die Demokratie und den Rechtsstaat bedroht. Das Gegenteil ist richtig: Es schützt unsere Demokratie. Werfen Sie einen Blick ins Gesetz! Dort werden gerade die Grundrechte der Bürger besonders differenziert beachtet. Es gibt vor allen Dingen unseren Parlamenten in Bund und Land starke Instrumente in die Hand, um die Exekutive, die Verwaltung zu kontrollieren. Das ist auch notwendig – das sage ich ganz deutlich –; denn seit einem Dreivierteljahr sind die Freiheitsrechte der Menschen so stark eingeschränkt wie noch nie in unserer Nachkriegsgeschichte. Aber es gibt einen Grund dafür: Wir haben nämlich eine Coronapandemie. Da sind diese Einschränkungen auch gerechtfertigt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Deshalb haben wir, gerade auch wir als SPD, für klare Regelungen im dritten Bevölkerungsschutzgesetz gesorgt. Ganz konkret:
Erstens. Es gibt keine Blankovollmachten mehr für einen Gesundheitsminister, und es gibt auch keine Blankovollmacht für die Regierung mehr.
Zweitens. Es gibt einen ganz klaren Rechtsrahmen für die Regierungen in Bund und Land. Herr Luczak hat schon zu Recht gesagt: Es gibt ein abgestimmtes Regelungsverfahren in § 28a Infektionsschutzgesetz. – Da stehen auch beispielhaft 17 Maßnahmen, die die Regierungen im konkreten Fall vollziehen können.
Drittens. Wir als Bundestag können jederzeit bestimmen, dass die Maßnahmen wieder aufgehoben werden können. Also: Am Parlament, an diesem Bundestag geht kein Weg vorbei. Alle wichtigen Entscheidungen werden nach wie vor im Bundestag getroffen, und das ist auch richtig so, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Also: Beim dritten Bevölkerungsschutzgesetz sieht man, wenn man wirklich mal ins Gesetz schaut – Herr Grosse-Brömer wird mir sicherlich zustimmen –,
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dass darin nachvollziehbare Regelungen für den Kampf gegen Corona geschaffen worden sind, nachvollziehbar ausdifferenzierte Regelungen. Wir wollen, wir müssen auch oder werden mit dem Gesetz, mit den Pandemiemaßnahmen Vertrauen schaffen bzw. haben es geschaffen. Alleine wenn Sie sich umschauen, wird das deutlich. Gucken Sie sich die Umfragen an! Schauen Sie sich an, was die Bürgerinnen und Bürger empfinden, die ein sensibles Gefühl dafür haben! Sie haben Vertrauen in die Maßnahmen. Ein Großteil der Bürger sagt sogar: Wir müssen noch härtere Maßnahmen machen, um die Pandemie zu bekämpfen. – Das heißt: Das Vertrauen in die Demokratie, das Vertrauen in unseren Rechtsstaat ist da.
Natürlich sind die Grundrechte unsere wichtigsten Rechte.
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Die Grundrechte sind auch die Rechte, die wir als Abgeordnete schützen gegenüber staatlichem Handeln, weil das gerade Abwehrrechte sind. In der gesetzlichen Systematik ist auch enthalten, dass wir Einschränkungen nur verhältnismäßig machen dürfen. Das heißt: Alle Eingriffe in elementare Rechte der Bürger müssen immer geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das ist bei diesem Gesetz, bei dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz, auch der Fall.
Und – das darf man auch nicht vergessen; das möchte ich auch noch mal sagen –: Wir haben auch berücksichtigt, dass soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen des Gesetzes für den Einzelnen und für die Allgemeinheit bedacht werden, weil nämlich unsere Grundrechte unsere freie Gesellschaft schützen. Deswegen ist das dritte Bevölkerungsschutzgesetz ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
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Wir stärken da nicht nur unsere Demokratie, sondern wir haben auch das Vertrauen in die Demokratie gestärkt.
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Gestern war in der „Tagesschau“ wieder eine Umfrage zu sehen. Schauen Sie doch, was die Bürger denken und was die Bürger für eine Haltung haben! Ein Großteil der Menschen sagt: Diese Maßnahmen waren richtig, die waren notwendig, und die waren sachlich begründet.
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Auch beim Thema Impfungen müssen wir als Politik Vertrauen stärken. Im internationalen Vergleich ist Deutschland, meine sehr verehrten Damen und Herren,
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aktuell sicher nicht an der Spitze. Wir müssen jetzt aufholen. Alle müssen zusammenwirken. Auch der Bundesgesundheitsminister hat hier eine besondere Verantwortung. Wir müssen vor allen Dingen alle praktischen und alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Bevölkerung schnell zu impfen. Hier sind die Bundesländer gefragt, ordentliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
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Hier hakt es bei dem einen oder anderen noch, aber hier wird sicherlich nachgebessert. Schließlich wollen wir alle bald wieder in Biergärten und in Cafés sitzen, und zwar in diesem Sommer und nicht im nächsten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch abschließend sagen: Die Menschen brauchen jetzt Hoffnung und keine Experten, die Angst schüren; denn Angst ist ein schlechter Ratgeber. Das möchte ich ausdrücklich hier auch sagen.
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Ja, auch die nächsten Monate werden viel von uns abverlangen. Corona ist noch nicht besiegt. Es gibt neue Herausforderungen durch die Mutationen. Sie müssen nicht nur wir Gesundheitspolitiker, sondern wir alle ernst nehmen. Aber es gibt im wahrsten Sinne des Wortes Licht am Ende des Tunnels: Durch die Impfungen und durch die wärmeren Temperaturen wird es bald deutlich aufwärtsgehen.
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Ich bin sicher, dass wir im Sommer schrittweise zur Normalität zurückkehren können. Wir als Gesellschaft müssen jetzt noch ein paar Wochen durchhalten und vor allen Dingen zusammenhalten; denn Solidarität ist das wirksamste Mittel gegen die Pandemie.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD ist bald leider schon vier Jahre in diesem Hause. Fast vier Jahre ertragen wir ihre kruden Anträge und Hetzreden mit immerzu der gleichen Platte: gegen Geflüchtete, gegen Merkel und jetzt gegen die Wissenschaft. Ihr Geschäftsmodell ist der Hass und die plumpe Vereinfachung bis hin zu Fake News.
({0})
Ich frage mich, ob Sie manchmal in den Spiegel schauen und sich selbst lächerlich vorkommen angesichts Ihres billigen Geschäftsmodells.
({1})
Ihr neuestes Geschäftsmodell ist die Coronaverharmlosung. Im Zusammenschluss mit den Coronaleugnern von „Leerdenken“ erweisen Sie damit seriöser Kritik an der Pandemiepolitik der Regierung einen Bärendienst; denn Sie lenken von den wirklich skandalösen Themen ab, etwa dass Pharmafirmen durch öffentliche Grundlagenforschung, durch öffentliche Fördergelder, durch öffentliche Infrastruktur an einen Impfstoff gekommen sind, de facto jetzt aber Staaten erpressen, weil sie sich in der stärkeren Machtposition befinden und größtmöglichen Profit einfahren wollen. Statt also Produktionskapazitäten durch umfassenden Technologietransfer zu erweitern und so viele Leben wie möglich zu retten, schaut die Regierung tatenlos zu.
Oder das Thema Homeoffice. Statt die Wirtschaft richtig in die Pflicht zu nehmen, die Beschäftigen ins Homeoffice gehen zu lassen, wo immer das möglich ist, gibt es nur eine windelweiche Regelung.
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Die Menschen sollen ihr Privatleben komplett einschränken, aber in vollen Bahnen zur Arbeit fahren. Das ist erkennbar absurd!
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Diese Art der Pandemiebekämpfung widerspricht nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch der Meinung eines Großteils der Wissenschaft.
Es gibt also viele Punkte, die man seriös an der Pandemiebekämpfung durch diese Regierung kritisieren muss. Doch womit beschäftigen sich die Nulpen von der AfD und von „Leerdenken“? Ob Bill Gates das Coronavirus gezüchtet hat und uns allen Chips einpflanzen lassen will. Das sind die Themen, die Sie interessieren.
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Sie sind wie diese peinlichen Partygäste, die, weil sie ständig viel zu besoffen sind, in die Unterhaltungen aller anderen Gäste reinplatzen und alle noch funktionierenden Konversationen zerstören. Sie sind das Gift für die Demokratie, welches sachliche Debatte verhindert.
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Was will die AfD heute? Sie beantragen, dass der Bundestag einen abstrakten Normenkontrollantrag gegen das dritte Bevölkerungsschutzgesetz begrüßen soll.
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Eine abstrakte Normenkontrolle wird durch ein Viertel der Bundestagsabgeordneten beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das wird nicht im Bundestag beschlossen und im Bundestag auch nicht begrüßt. Wenn Sie eine abstrakte Normenkontrolle in Karlsruhe einreichen wollen, dann suchen Sie sich die nötigen Stimmen, aber behelligen Sie nicht dieses Haus mit so einem Showantrag.
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Interessant ist, dass Sie seit Beginn der Pandemie eine vollständige Kehrtwende vorgenommen haben. Ich zitiere mal einen Tweet Ihrer Fraktionschefin Alice Weidel vom 26. Februar 2020:
Unverantwortliche Verharmlosung durch Gesundheitsminister Jens Spahn. Virologen bestätigen: Die Sterblichkeitsrate beim Coronavirus ist zehnmal höher als bei einer normalen Grippe. Die Regierung unternimmt nichts, um die Risiken für die Bevölkerung zu minimieren.
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Noch mal: Dieser Tweet ist nicht von Professor Drosten, er ist von Ihrer AfD-Fraktionschefin, der Ihr eigener Antrag anscheinend so peinlich ist, dass sie sich heute nicht mal hierhinsetzen möchte.
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Und heute? Heute verharmlosen Sie das Coronavirus. Sie weigern sich, Masken zu tragen. Sie nehmen an Coronaleugnerdemos teil, die den Bundestag stürmen wollten.
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Wer sich die völlige Beliebigkeit der AfD vor Augen führen will, der kann sich übrigens auch die Rede von Frau Weidel vom März 2020 hier, im Bundestag, anschauen. Da hat sie nämlich dasselbe gesagt wie in ihrem Tweet.
Halten wir fest: Sie fanden damals, dass die Regierung zu wenig tut. Sie sagten – richtigerweise! –, dass das Coronavirus viel gefährlicher als die klassische Grippe ist. Interessant an der damaligen Rede von Frau Weidel ist auch, dass sie China als Vorbild in der Pandemiebekämpfung nannte,
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China, das einen sehr harten Lockdown durchgeführt hat.
Die AfD hat tatsächlich mal im Ansatz was Richtiges in diesem Haus gesagt.
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Als ob das blinde Huhn mal ein Korn gefunden hat! Aber dann hat das blinde Huhn das Korn verloren und angefangen, wild um sich zu schlagen.
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Jetzt sind Sie die Speerspitze der Coronaverharmloser. Jetzt sagt die AfD,
Corona sei nicht so schlimm, weg mit den Maßnahmen. Bei Ihnen gilt: Hauptsache dagegen, egal wogegen.
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Im Übrigen: Wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass eine epidemische Lage von nationaler Tragweite bei jeder schlimmeren Influenzasaison ausgerufen werden könne, dann ist das in der Tat so. Wenn wir hier in Deutschland eine Influenzasaison hätten, bei der täglich an die 1 000 Menschen sterben und die Intensivstationen voll wären, dann müssten natürlich Maßnahmen getroffen werden. Das ist doch völlig logisch.
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Meine Damen und Herren, das Coronavirus hat weltweit mittlerweile über 100 Millionen Menschen infiziert. Über 2 Millionen Menschen sind weltweit verstorben. Die sicherlich viel höhere Dunkelziffer ist unbekannt. Mittlerweile sind allein hier in Deutschland über 50 000 Menschen an oder mit dem Virus verstorben. Die Krematorien, zum Beispiel in Sachsen, kommen kaum noch hinterher, alle Leichen zu verbrennen; denn dort sterben mittlerweile 70 Prozent mehr Menschen als zu normalen Zeiten. Am 3. Januar gab es auf Deutschlands Intensivstationen so viele Coronapatienten wie noch nie. Gernot Marx, Chef der Intensivmediziner, sprach davon, dass dies der schwierigste Moment war, seit es intensivmedizinische Behandlung in Deutschland gibt. Und jetzt kommen noch die gefährlichen Virusmutationen. Ja glauben Sie von der AfD denn, dass man staatliche Maßnahmen gegen all das aus Spaß trifft?
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Ihnen ist offenbar völlig egal, dass Menschen an diesem Virus sterben.
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Sie machen aus der Coronapandemie ein widerliches politisches Geschäft. Ihnen geht es um Wählerstimmen von irgendwelchen „Leerdenkern“. Ihr Antrag ist natürlich abzulehnen; denn was Sie betreiben, ist zutiefst verachtenswert.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen bei der Bekämpfung der Pandemie als Gesellschaft, also alle zusammen, vor dem nächsten steilen Hang, und über den müssen wir rüber. Ich glaube, das ist hier und draußen den allermeisten bewusst. Wir alle haben gehofft, dass die Zahlen schneller sinken. Der Druck auf die Menschen in unserem Land, der daraus entsteht, dass die Zahlen nicht sinken, ist enorm. Deswegen – und da wende ich mich an alle anderen und nicht an die AfD – bitte ich darum, dass wir uns hier zusammenreißen.
({0})
Ja, die Landtagswahlen kommen, ja, die Bundestagswahl zieht herauf. Bei der Bekämpfung der Pandemie gibt es noch viel Luft nach oben. Da läuft vieles nicht optimal. Wir debattieren das in vielen anderen Diskussionen; aber die führen wir, damit wir das abstellen, und nicht, um Profit daraus zu schlagen.
({1})
Für die Bekämpfung einer Pandemie ist es weder nötig noch nützlich, sich im Ton zu vergreifen oder der politischen Konkurrenz so etwas wie vorsätzliches Versagen zu unterstellen. Das stereotype Geklapper der parteipolitischen Auseinandersetzung hing schon vor Corona vielen Menschen zum Hals heraus. Wenn die Politik aber so weitermacht wie bisher, während sich das Leben aller anderen Menschen drastisch verändert, dann zeigt das nur eines: Ignoranz.
({2})
Ich bitte auch darum, dass wir es uns alle sparen, der Bevölkerung ständig Vorwürfe zu machen. Manchem gefragten TV-Experten unter uns möchte ich in Erinnerung rufen, dass eine Gesellschaft kein Labor ist, die Welt kein Unihörsaal und dass Menschen sich nicht über Monate wie in Modellrechnungen verhalten können.
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Die Bevölkerung hat einen Anspruch auf eine ehrliche, verständliche und auf eine respektvolle Ansprache. So viele mobilisieren gerade alle Kräfte und wachsen über sich hinaus. Wir können überhaupt nicht dankbar genug dafür sein, dass sich die Menschen trotz aller Lasten so vernünftig verhalten.
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Hier im Parlament müssen wir jetzt schon Anlauf für den nächsten steilen Hang nehmen. Denn zum 31. März endet die Befristung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, ebenso alle Verordnungsermächtigungen für den Bundesgesundheitsminister, die daran anknüpfen. Wir brauchen die Klärung hier im Parlament, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen soll, unter welchen Bedingungen welche Maßnahmen beibehalten werden müssen. Ich wünsche mir, dass wir das trotz aller Wahlkämpfe überall im Land mit Anstand hinter uns bringen.
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Wir Grüne haben dafür gekämpft, dass diese Sonderregelungen befristet werden, dass der Bundestag und nicht die Bundesregierung die epidemische Lage feststellt, aufhebt oder erforderlichenfalls verlängert, und das war auch notwendig.
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Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Koalition nur noch im äußersten Notfall die Kraft aufbringt, die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungsermächtigungen den verfassungsrechtlichen Erfordernissen anzupassen oder sie überhaupt zu schaffen. Einigen Verordnungen des Bundesgesundheitsministers, etwa der zur Impfreihenfolge, fehlt eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
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Auch dagegen, die Verordnungen der Bundesländer auf eine klarere Grundlage zu stellen, haben Sie sich lange gewehrt. Der dann Ende 2020 überstürzt geschaffene § 28a Infektionsschutzgesetz ist zwar besser als nichts, aber er wird uns nicht über die nächsten Monate tragen.
Mit den Mutationen beeinflussen neue Faktoren die Ansteckungsdynamik. Die hatte – da muss man auch mal ehrlich sein – in der Debatte vor Weihnachten von uns keiner auf dem Zettel. Mit der Aussicht auf Impfungen und mit anderen Schutzmaßnahmen wie Schnelltests wird aber auch unser Instrumentenkasten größer, und die Hoffnung wächst.
Auch wenn es mühsam ist, auch wenn wir wahrscheinlich wieder auf Entwicklungen werden reagieren müssen, von denen wir heute noch nichts wissen: Lassen Sie uns einen Weg, eine Perspektive beschreiben, die den Menschen mehr Sicherheit gibt! Wir werden darüber streiten. Aber wir brauchen Ziele, auf die wir zusammen mit der Bevölkerung hinarbeiten und an denen wir die Wirksamkeit und die Erforderlichkeit der Maßnahmen messen.
({8})
Die wesentlichen Entscheidungen über Eingriffe und deren Voraussetzungen müssen hier im Deutschen Bundestag getroffen werden und nirgendwo sonst.
({9})
Es gäbe also auch für die AfD-Fraktion jede Menge zu tun. Aber da Sie sich ja immer noch nicht sicher sind, ob Covid-19 überhaupt ein ernstzunehmendes Problem darstellt – na ja, was soll ich dazu sagen?
({10})
Wenn noch nicht einmal eine lebensbedrohliche Erkrankung am eigenen Leib zur Nachdenklichkeit führt, dann werde ich das mit Argumenten bei Ihnen, Herr Brandner, ganz sicher nicht erreichen; da bin ich Realistin.
({11})
Die AfD-Fraktion hat ja den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten schon länger von Berlin nach Karlsruhe verlegt. Das mögen Sie gerne so halten. Dann sollte Ihre sogenannte verfassungsrechtliche Würdigung aber wenigstens erstens die aktuelle Rechtslage zutreffend wiedergeben,
({12})
zweitens widerspruchsfrei argumentieren und drittens nicht neue Rechtsgrundsätze frei erfinden, die auf eine Außerkraftsetzung der Grundrechte durch eine Verfassungsänderung hinauslaufen.
({13})
An diesem wirren Elaborat gibt es nichts zu begrüßen. Daher lehnen wir diesen Antrag an.
({14})
Herr Brandner, ich war Assistentin an der Uni. Ich habe Tausende Klausuren korrigiert, und bei Elaboraten wie Ihrem hätte ich den Studierenden ins Büro bestellt und mit ihm über seine berufliche Zukunft geredet. Das Angebot mache ich Ihnen gerne.
Vielen Dank.
({15})
Vielen Dank. – Das Wort geht an Ansgar Heveling von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ultra posse nemo obligatur – oder einfach übersetzt: Unmögliches kann nicht verlangt werden. Diesen klassischen Rechts- und allgemeinen Grundsatz lernen Studenten – Herr Brandner, ich gehe davon aus, auch an der Uni Regensburg – im juristischen Studium bereits im ersten Semester beim Schuldrecht.
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Er gilt aber auch allgemein im Strafrecht und im Verwaltungsrecht, und er macht auch Sinn für den Deutschen Bundestag.
Ultra posse nemo obligatur – genau darauf zielt der hier zu beratende Antrag der AfD-Fraktion ab. Nach diesem Antrag soll der Deutsche Bundestag – es ist schon mehrfach gesagt worden – es begrüßen – ich zitiere –, „wenn sich Abgeordnete des Deutschen Bundestags in ausreichender Zahl zusammenfinden, um beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung zu beantragen, dass die Bestimmungen der §§ 5 Absatz 1, 28a IfSG mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig sind“. Ein reiner Begrüßungsantrag! Wir sind hier aber der Deutsche Bundestag und kein Begrüßungskomitee.
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Grundsätzlich ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass der Deutsche Bundestag etwas begrüßt.
({2})
Aber genauso wie man sich im persönlichen Umgang üblicherweise nicht selbst begrüßt, kann der Deutsche Bundestag nur das Handeln anderer Verfassungsorgane oder anderer Dritter, aber doch nicht sein eigenes Handeln oder das seiner Mitglieder begrüßen.
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Ultra posse nemo obligatur. – Die Mehrheit des Deutschen Bundestages könnte Ihrem Begrüßungsantrag aber auch schon logisch nicht zustimmen.
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Er kann doch nicht etwas begrüßen, was er selbst gar nicht könnte. Nach Artikel 93 Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag gar nicht befugt, einen abstrakten Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht zu stellen.
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Antragsbefugt nach Artikel 93 Absatz 1 ist nur ein Viertel der Mitglieder des Bundestages; das sind derzeit mindestens 178 Abgeordnete. Soll sich die Normenkontrollklage aber, wie von der AfD angestrebt, gegen ein Bundesgesetz richten, würde es einem abstrakten Normenkontrollantrag ja schon am Rechtsschutzbedürfnis fehlen. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts wäre rechtsmissbräuchlich.
Wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestages der Ansicht wäre, ein Bundesgesetz wäre verfassungswidrig, dann begrüßt sie weder einen Antrag noch schließt sie sich zu einem solchen Antrag zusammen. Sie würde vielmehr einen viel einfacheren und direkteren Weg wählen: Sie hebt schlicht das als verfassungswidrig angesehene Gesetz auf.
({6})
Das ist in der Vergangenheit im Übrigen auch schon vorgekommen. Dafür bedarf es keines Umweges über das Bundesverfassungsgericht.
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Aber warum befasse ich mich so ausführlich mit diesen banalen Feststellungen? Weil wir einen fast identischen Antrag bereits am 30. Oktober 2020 an dieser Stelle debattiert haben. Ihr Antrag wurde von allen anderen Fraktionen vor nicht einmal drei Monaten abgelehnt mit einer Mehrheit von 551 Stimmen bei 72 Gegenstimmen, 1 Enthaltung und 624 insgesamt abgegebenen Stimmen. Das ist eine übergroße Mehrheit, und daran wird sich auch heute nichts ändern.
({8})
Der Sache nach geht es Ihnen ja aber auch gar nicht darum, dass sich Ihnen eine Mehrheit anschließt. Ihr Antrag ist doch nur ein offensichtliches Vehikel. Worum es Ihnen wirklich geht, haben Sie, Herr Kollege Brandner, gerade wieder einmal eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Sie brauchen Filmmaterial, um Ihre absurden Ideen über Ihre Social-Media-Kanäle verbreiten zu können, und dazu muten Sie uns eine Debatte von einer Stunde Länge zu.
Wir werden den Antrag ablehnen.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Jürgen Martens von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Heveling, Sie haben sich eben gewundert, dass die AfD den Bundestag auffordert, sich selbst zu begrüßen. In der Tat fragt man sich, wie es zu so einer selbstreferenziellen Fehlhaltung kommt. Es erklärt sich allerdings aus dem Dasein der AfD: Wer sollte der AfD denn zustimmen und Zuspruch geben, wenn nicht sie selbst?
({0})
Wir ringen in den Debatten hier in der Tat darum, den besten Weg aus der Pandemie zu weisen. Es gibt unterschiedliche Ansichten, es gibt unterschiedliche Anträge. Die FDP hat bei der letzten Änderung des Infektionsschutzgesetzes einen umfangreichen Änderungsantrag vorgestellt, mit dem wir den auch von uns gehegten Bedenken an der Unbestimmtheit der vorgelegten Regelungen Rechnung tragen wollten und deutlich präzisere Regelungen vorgeschlagen haben. Wir haben keine Mehrheit in diesem Haus gefunden, was wir ausdrücklich bedauern, meine Damen und Herren.
Aber die AfD hat an dieser Diskussion überhaupt nicht teilgenommen. Sie will daran auch gar nicht teilnehmen. Umso mehr erstaunt es jetzt, mit welchem wirklich schlecht gemachten Antrag Sie hier auftreten und behaupten, Sie träten für Gewaltenteilung, Grundrechte und Demokratie ein.
Zur Gewaltenteilung sagen Sie, der Bundestag solle jetzt feststellen: Es bestehen erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz. – Wissen Sie, wer in diesem Land feststellt, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht? – Das stellt nicht der Bundestag fest. Das ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, und es ist dessen Vorrecht. Da hat nicht der Bundestag etwas festzustellen.
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Das verkennen Sie bereits im Ansatz. Das ist das populistische Muster, das in einigen osteuropäischen Ländern gefahren wird, wenn dort gesagt wird: Der Wille des Volkes und ein Beschluss des Parlaments stehen über der Verfassung, stehen über dem Gericht. – Nicht mit uns.
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Sie wollen hier tatsächlich, dass man sich einem Normenkontrollantrag anschließt. Dabei müssten Sie es besser wissen. Das geht nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat das bereits explizit festgestellt:
Einer Plenarentscheidung bedarf es aber anders als für einen Untersuchungsausschuss für die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nicht.
Zitat Ende. – Das ist ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, nicht von 1974, sondern vom 3. November 2020 – keine drei Monate alt.
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Dieser Beschluss ist auch noch in einem Verfahren ergangen, in dem es um den Beitritt von AfD-Abgeordneten zu einem Normenkontrollverfahren das Parteienfinanzierungsgesetz betreffend ging. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen das direkt aufgeschrieben; aber entweder wollten Sie es nicht lesen, Sie können es nicht, oder Herr Gauland war mal wieder nicht am Briefkasten.
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Ja, das hat er jetzt nicht mitgekriegt.
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Um es klarzumachen: Die Demokratie fördern Sie damit bestimmt nicht, meine Damen und Herren. Deswegen wird es Sie auch nicht wundern, dass wir diesem Antrag, mit dem Sie versuchen, das Parlament zum Kasperletheater zu machen, mit Sicherheit nicht zustimmen werden.
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Vielen Dank. – Und das Wort geht an Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die abstrakte Normenkontrolle ist ein Rechtsschutzinstrument und verfassungsrechtlich ein objektives Verfahren, um Normen an der gesamten Verfassungsordnung zu messen. Antragsberechtigt sind nur wenige Verfassungsorgane und Teile von Verfassungsorganen. Der Zweck einer abstrakten Normenkontrolle sind der Schutz unserer Verfassungsordnung und der Schutz der Grundrechte.
Das setzt politisch voraus, dass dieser Verfassungsordnung und den Grundrechten auch Respekt und Würde entgegengebracht werden. Beides lässt die AfD in ihrem politischen Handeln der letzten Wochen und Monate gerade bei diesem Thema sehr vermissen. Deswegen handeln Sie schlichtweg gegen Ihr eigenes Auftreten. Das ist nicht überraschend, es ist erbärmlich. Sie hätten diese Sitzung heute dazu nutzen müssen, sich zu entschuldigen.
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Sie hätten sich dafür entschuldigen müssen, dass Sie Gäste in den Deutschen Bundestag eingeschleust haben, die Abgeordnete und Kollegen bedrängt haben. Sie hätten sich dafür entschuldigen müssen, dass Mitglieder Ihrer Bundestagsfraktion auf Demonstrationen waren,
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bei denen Herr Drosten, Jens Spahn und Angela Merkel in Sträflingsanzügen dargestellt worden sind.
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Sie hätten sich heute dafür entschuldigen müssen, dass Sie eine schwere Krankheit, die die Gesundheit und das Leben vieler Menschen in unserem Land bedroht, verharmlost haben
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und damit Ihrem verfassungsgemäßen Auftrag, Menschen zu schützen, nicht nachgekommen sind. Sie hätten sich entschuldigen müssen.
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Aber es geht Ihnen nicht darum, anderen Menschen gegenüber Respekt zu haben oder Sorge oder Empathie für Menschen auszudrücken, die unter dieser Krankheit leiden.
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Es geht Ihnen darum, die Gesellschaft weiter zu spalten. Es geht Ihnen darum, die Gesellschaft auch dadurch zu spalten,
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dass Sie hier vorsätzlich als ehemaliger Vorsitzender des Rechtsausschusses
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falsche Tatsachen über unsere Rechtsordnung behaupten. Das ist genauso sträflich, wie wenn Sie in Bezug auf Corona falsche Dinge behaupten.
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Aber das Ziel ist das gleiche, und das soll entlarvt werden: Sie wollen das Vertrauen in unseren Verfassungsstaat erschüttern, weil Sie diesen Staat ablehnen, weil Sie die Werte dieses Staates ablehnen. Das wird mit Ihrem Antrag wieder deutlich.
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Ich erkläre Ihnen jetzt noch einmal das Rechtsschutzsystem.
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Das Rechtsschutzsystem gegen Coronaverordnungen ist umfangreicher, als Sie hier dargestellt haben und als Sie die Menschen glauben machen wollen. Zunächst einmal muss der Deutsche Bundestag eine epidemische Notlage von nationaler Tragweite feststellen. Dann müssen die Länder jeweils abgestimmt auf die Pandemielage entsprechende Verordnungen erlassen. Diese Verordnungen sind zu begründen. Sie müssen geeignet und verhältnismäßig sein. Weil es sich um Rechtsverordnungen handelt, kann jeder Richter Normen dieser Verordnung für unzulässig erklären. Gegen jeden Bußgeldbescheid, den Sie bekommen, können Sie vorgehen.
Manche Verordnungen sind gehalten worden, manche Verordnungen sind verworfen worden. Das zeigt, dass dieser Rechtsstaat auch in dieser Pandemie unter schwierigen rechtsstaatlichen Bedingungen hält: Rechtsschutz ist gewährleistet, Grundrechte werden gewahrt, Verhältnismäßigkeit ist gegeben. Wer etwas anderes behauptet, der lügt und der will diese Gesellschaft spalten in einer Situation, in der Zusammenhalt notwendig ist.
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Vor diesem Hintergrund muss eines deutlich gemacht werden: Wir haben uns zuerst auch darüber geärgert, dass Sie 60 Minuten Parlamentszeit für diesen Antrag aufbringen wollen.
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Aber es ist vielleicht auch ganz gut, dass wir 60 Minuten diskutieren, damit die Menschen in diesem Land ganz genau sehen: Wir kümmern uns um die Probleme, wir kümmern uns um Gesundheitsschutz, wir kümmern uns um das Leben, um die Rechtsstaatlichkeit, um Verhältnismäßigkeit, um Grundrechte.
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Sie kümmern sich um Social-Media-Videos, um die Spaltung der Gesellschaft.
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Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
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Vielen Dank. – Und das Wort geht an Heike Baehrens von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was für dummes Zeug
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haben wir uns eigentlich in dieser Woche von den Rednern der AfD wieder anhören müssen.
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Sie ignorieren den Stand des Wissens und der Wissenschaft, versuchen, Experten lächerlich zu machen, und nennen das immer wieder „gesunden Menschenverstand“. Dabei zeigen Ihre Redebeiträge hier im Bundestag, dass Sie nicht wirklich von Verstand geleitet sind, wenn es um das Thema „Schutz der Gesundheit“ geht.
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Und jetzt auch noch diese Neuauflage eines bereits missglückten Antrags, der nicht nur in der Sache, sondern auch handwerklich vollkommen ungeeignet ist. Nur um Aufmerksamkeit zu erheischen, verschwenden Sie schlicht und ergreifend unser aller Zeit. Schlimmer noch: Sie nutzen diese Rechtsverdrehung wieder einmal dazu, das SARS-CoV-2-Virus zu bagatellisieren.
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Auch nach einem Jahr haben Sie immer noch nicht verstanden, dass es bei der Pandemiebekämpfung darum geht, menschliches Leid zu vermeiden und die Gesundheitsversorgung vor dem Kollaps zu bewahren.
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Wir stemmen uns als gesamte Gesellschaft in einem gemeinsamen solidarischen Kraftakt gegen das Virus: damit es sich nicht weiterverbreitet, damit Menschen gesund bleiben, damit diejenigen, die nicht gesund sind oder erkranken, gut versorgt werden können und ihr Leben, wo immer es geht, gerettet werden kann. Das ist Aufgabe von Gesundheitspolitik. Während Sie uns hier mit Schaufensteranträgen beschäftigen, kämpfen Pflegepersonal und Ärzteschaft in unseren Kliniken und Pflegeeinrichtungen am Rande der Erschöpfung um das Leben ihrer Patientinnen und Patienten. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie endlich wieder durchatmen können.
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Sie schwadronieren von – jetzt zitiere ich – gesunden Menschen, die im Sinne der Weiterverbreitung des Virus keine unmittelbare Gefahr darstellen. -Dieser Satz allein ist so grundlegend falsch, dass man sich fragen muss, wo Sie die letzten Monate verbracht haben.
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Das Virus verbreitet sich gerade dadurch, dass gesunde, aber bereits infizierte Menschen es unwissend mit sich tragen. Jede Begegnung, jeder Kontakt bietet ihm dann die Möglichkeit, sich weiter auszubreiten.
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Darum geht es in der Pandemiebekämpfung grundlegend um Vorsorge und Prävention,
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damit das Virus eben nicht weiterwüten kann. Mit den sorgsam getroffenen Maßnahmen wollen wir ja gerade dafür sorgen, dass die Gesunden gesund bleiben.
Mich empört, wie kalt und oberflächlich Sie hier zu diesen Themen sprechen, die mit großem menschlichen Leid verbunden sind. Mich berührt das Schicksal von Menschen, die hart von dieser Infektion getroffen werden. Ich denke oft an den jungen Vater, dessen Frau wenige Wochen nach der Geburt ihres ersten Kindes infiziert wurde und an diesem Virus gestorben ist. Wie mag es ihm mit seinem Kind jetzt gehen, das sein Leben lang seine Mutter vermissen wird? Oder ich denke an die kleinen Kinder, die inzwischen auf Intensivstationen sind und beatmet werden müssen. Wir haben allen Grund, alles in unserer Kraft Stehende zu tun, um der Virusverbreitung entgegenzutreten.
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Alle ernstzunehmenden Experten sagen uns: Wir müssen das Virus kontrollieren. Wenn wir es nicht einhegen, dann wird es mit steigenden Infektionszahlen auch mehr und mehr junge und gesunde Opfer finden – mit schweren Verläufen, mit Spätfolgen und nur allzu oft mit tödlichem Verlauf. Und darum reicht es nicht, sich darauf zu beschränken, die Älteren und die besonders Verletzlichen zu schützen. Wir müssen die Infektionsausbreitung umfassend stoppen!
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– Ja, man merkt wieder: Sie hören nicht zu und verstehen vor allem nicht, was gesagt wird.
Würden wir dem Virus freien Lauf lassen, dann würde auch unser gutes Gesundheitssystem dem irgendwann nicht mehr gewachsen sein.
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Das können wir nicht verantworten!
({12})
– Hören Sie einfach einmal ein paar Minuten zu. Das tut gut.
({13})
– Bekomme ich die Minute zu meiner Redezeit dazu? – Danke.
Meine Hochachtung haben alle, die bei uns im Land tatsächlich ihren gesunden Menschenverstand eingesetzt haben, um sich und andere zu schützen, die sich mit Überzeugung oder auch mit Murren an das halten, was dem Virus die Grundlage entzieht. Wir werden die Pandemie gemeinsam durchstehen. Sie von der AfD werden dazu in keiner Weise beigetragen haben.
({14})
Aber alle, denen das Wohl der Menschen ehrlich am Herzen liegt, werden hier in diesem Haus weiterhin konstruktiv um den richtigen Weg streiten und in sorgfältiger Abwägung schwierige Entscheidungen treffen, um unser aller Gesundheit, unsere Freiheit und unsere Wirtschaft in dieser schwierigen Lage so gut es geht zu schützen.
Vielen Dank.
({15})
Herzlichen Dank. – Das Wort geht an Rudolf Henke von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, dass es meiner gestern und heute Morgen vorbereiteten Rede bedarf, um die Entscheidung zu treffen, die wir gleich zu treffen haben. Ich plädiere sehr dafür, dass wir den Antrag der AfD ablehnen. Alles, was zu sagen ist, haben die Redner meiner Fraktion und der anderen Fraktionen heute vorgetragen.
Gedanken, die noch nicht artikuliert worden sind, verwahre ich mir für den Zeitpunkt, wenn wir über die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite und deren weitere Entwicklung nach dem 31. März sprechen werden. Dann nämlich müssen wir über die Lage ab dem 1. April befinden. Alle Fraktionen können sich mit Vorschlägen einbringen. Das Bundesministerium für Gesundheit hat uns bis dahin mit dem Bundesrat einen Bericht zum bisherigen Epidemieverlauf vorzulegen, inklusive Vorschlägen zu gesetzlichen, infrastrukturellen und personellen Veränderungen. Weil das so ist, glaube ich, kann ich die heutige Debatte mit dem Hinweis schließen, dass ein Coronavirus im Rachen kein Normalbefund ist und dort nicht hingehört.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und verzichte auf den weiteren Teil meiner Rede.
({0})
Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zu einer persönlichen Erklärung des Abgeordneten Brandner nach § 30 unserer Geschäftsordnung. Ich habe dafür zwei Minuten Redezeit vorgesehen.
({0})
Vielen Dank. – § 30 unserer Geschäftsordnung sieht ja die Möglichkeit vor, eine Erklärung zur Aussprache abzugeben, unter anderem um Falschbehauptungen anderer Redner zurückzuweisen. Ich hatte mich während der Rede des Kollegen Luczak zu Wort gemeldet. Er hatte gleich mit einem Stakkato von Falschbehauptungen angefangen. Danach kamen noch Herr Schinnenburg und Herr Martens. Ich weiß nicht, ob ich das alles in zwei Minuten schaffe, aber ich versuche es.
Herr Luczak, das lässt tief blicken. Sie sagten, ich hätte „Ermächtigungsgesetz“ gesagt. Der Einzige, der Erste und Einzige, der in dieser Debatte das Wort „Ermächtigungsgesetz“ gebraucht hat, waren Sie. Kein anderer hat es vor Ihnen gebraucht, kein anderer nach Ihnen. Das lässt tief blicken. – Erste Falschbehauptung.
({0})
Zweite Falschbehauptung. Sie sagten, wir hätten im Oktober 2020 einen identischen Antrag vorgelegt. Ich gebe Ihnen recht: Wenn man nur das Wort „Antrag“ liest, dann ist das richtig, beide Male steht „Antrag“ darüber. Aber Sie oder Ihre Sekretärin müssen weiterlesen. Unser Antrag von Oktober 2020 hatte als Zielrichtung eine Normenkontrollklage zu § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes, zu den ausufernden Ermächtigungsgrundlagen für Verordnungen. Unser jetziger Antrag – Sie haben ihn nicht gelesen, sonst würden Sie nicht solch einen Unsinn reden – beschäftigt sich mit § 5 Absatz 1 und § 28a des Infektionsschutzgesetzes. Das ist etwas völlig anderes. Mein Tipp unter Freunden:
({1})
Lesen Sie nach dem Wort „Antrag“ weiter. Erst nach den Namen kommt der Inhalt.
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Genau das Gleiche ist auch Herrn Schinnenburg passiert. Er ist nicht in der Lage, Gesetze und Rechtsverordnungen zu unterscheiden. Herr Schinnenburg, § 5 Absatz 4 des Infektionsschutzgesetzes bezieht sich auf Rechtsverordnungen. Aber hier geht es um ein Gesetz. Das ist etwas völlig anderes. Sie werfen mir vor, ich wäre ein- oder zweimal nicht in der Vorlesung gewesen. Da haben Sie recht.
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Aber ich glaube, Sie haben permanent blaugemacht, Sie haben eine Universität und einen Hörsaal wohl noch nie von innen gesehen.
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Das verbindet Sie mit Herrn Luczak, von dem ich auch nicht weiß, wo er sein Examen gewonnen hat.
Diese falschen Behauptungen wollte ich hier richtigstellen. Ich hoffe, es ist mir gelungen. Herr Luczak hat schon ganz rote Ohren. Er merkt, dass er sich hier im Bundestag peinlich benommen und sich blamiert hat. Herr Luczak, leben Sie damit. Mir ist das auch schon mal passiert. Irgendwann geht es wieder vorbei. Der Spott Ihrer Fraktion wird Ihnen sicher sein.
Vielen Dank.
({5})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gigabit immer und überall in Deutschland – das ist die Zukunft, das ist unser Ziel. Mit der TKG-Novelle schaffen wir dafür einen modernen Rechtsrahmen. In bewährter Koproduktion haben das Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier und mein Haus diesen Vorschlag gemeinsam entwickelt. Er ist geprägt von dem Dreiklang „Anreizen, Fördern, Stärken“. Das heißt, wir schaffen Anreize, um den Netzausbau durch die Privatwirtschaft weiter voranzutreiben. Wir erleichtern Förderprojekte, und wir stärken die Rechte der Verbraucher.
({0})
Wir haben zur Stärkung der Verbraucherrechte ein Thema angepackt, das durchaus konfliktreich ist. Für Ärger sorgen zum Beispiel immer wieder Störungen des Empfangs und auch, wenn der Techniker einen zugesagten Termin nicht einhält. Anders als heute haben Kunden in solchen Fällen künftig einen Anspruch auf Entschädigung. Ich bin überzeugt, das zeigt Wirkung.
Zu den gestärkten Verbraucherrechten zählt außerdem, dass wir einen Anspruch auf schnelles Internet verankern. Dieser Anspruch ist ein zentrales Element dieses Gesetzentwurfs und ein wichtiger Baustein für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Wir alle erleben derzeit, wie wichtig eine leistungsfähige Internetverbindung ist. Sie macht es möglich, dass wir Homeoffice organisieren, die Kinder zu Hause unterrichtet werden oder der Kontakt im Privatbereich zur Familie und zu Freunden verbessert wird.
({1})
Schnelles Internet heißt Teilhabe und gleiche Chancen, egal ob ich in der Stadt bin oder auf dem Land.
Um den Ausbau anzukurbeln, setzen wir auf mehr Kooperationen der Unternehmer. Eine wichtige Rolle spielen dabei Open-Access-Modelle, also das Öffnen der Netze zu angemessenen Preisen. Wie ein Kooperieren aussehen kann, zeigt schon jetzt der Mobilfunk. Erst vergangene Woche haben die drei deutschen Netzbetreiber eine stärkere Zusammenarbeit angekündigt. Es geht darum, die Antennen gegenseitig zu öffnen und so die letzten Lücken im 4-G-Netz zu schließen.
Damit aber nicht genug. Mit diesem Gesetzentwurf bringen wir weitere Maßnahmen für mehr Tempo auf den Weg.
Erstens. Wir verbreitern die Informationsbasis; denn mehr Informationen heißt schnellerer Ausbau. Dafür wird ein Datenportal eingerichtet. Wir sammeln also Informationen über die Breitbandverfügbarkeit, bereits vorhandene Infrastrukturen, den künftigen Netzausbau und Baustellen oder Liegenschaften, die für einen Ausbau geeignet sind.
Zweitens. Wir bündeln und vereinfachen Genehmigungsverfahren. Das erreichen wir unter anderem durch einheitliche Ansprechpartner auf den Ebenen der Länder und der Kommunen.
Drittens. Wir bauen Hürden im Wegerecht ab. Das heißt, dass zum Beispiel bei Forst- und Wirtschaftswegen oder Bahngrundstücken der Ausbau besser vollzogen werden kann und diese Grundstücke genutzt werden können.
Viertens. Wir führen ein neues Mitnutzungsrecht bei den sogenannten Straßenmöbeln ein, also bei Bushaltestellen, Litfaßsäulen oder Werbetafeln. Künftig ist es einfacher, dort Smart Cells für 5-G-Netze aufzubauen.
Fünftens. Wir stärken die Nutzung von alternativen Techniken wie Trenching und oberirdischer Verlegung. Uns ist wichtig, dass wir jetzt mit dem Ausbau vorwärtskommen, auch mit alternativen Techniken.
Sechstens. Kommunen und Landkreise können künftig mit den privaten Anbietern Ausbauzusagen im Rahmen der Förderung verbindlich fixieren. Das verpflichtet die Privaten, sich an ihre Zusagen zu halten. Bisher war das in unterversorgten Fördergebieten leider nicht immer der Fall.
Moderner wird es auch beim Thema „Mobilfunk und Frequenzverwaltung“. Zum Beispiel soll die Bundesnetzagentur auf Antrag in unterversorgten Gebieten lokales Roaming oder Infrastruktur-Sharing anordnen können. Das heißt: Gibt es für einen Mobilfunkanbieter in einem solchen Gebiet unüberwindbare Hürden beim eigenen Ausbau, soll er das Netz oder die Infrastruktur anderer Unternehmen nutzen dürfen.
Darüber hinaus schärfen wir die Instrumente für mehr Wettbewerb im Mobilfunk und stärken die Investitionssicherheit, indem die Laufzeiten für Frequenzrechte besser vorhersehbar werden. Und wir machen klare Zielvorgaben für künftige Frequenzvergaben, sodass Mobilfunk flächendeckend und ohne Unterbrechung genutzt werden kann – auch auf dem Land.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir bisher beim Breitband- und Mobilfunkausbau erreicht haben, ist gut, aber noch nicht gut genug. Die Zahl der Haushalte mit Gigabit-Anschluss ist allein im vergangenen Jahr, bis Mitte 2020, um sage und schreibe 9 Millionen auf 23 Millionen Haushalte gewachsen. Das ist ein Plus von 64 Prozent in nur einem Jahr. Aber wir müssen weitermachen. Die Privatwirtschaft treibt den 5-G-Ausbau sehr zügig und schneller als ursprünglich geplant voran. Ich konnte in dieser Woche in einigen Ihrer Wahlkreise Projekte an den Start bringen, zehn an der Zahl, mit einem Umfang von 38 Millionen Euro, bei denen in Campuslösungen Testfälle erstellt werden; es handelt sich um Reallabore, die dann natürlich den 5-G-Ausbau weiter anstoßen sollen. Oder denken Sie nur an die neue Strecke im Erzgebirge, wo wir mit Verkehrsinfrastruktur und Digitalinfrastruktur eine Verbindung schaffen, und das auch noch in einem schwierigen Gebiet, topografisch anspruchsvoll; auch auf Nebenstrecken machen wir dies möglich. Das zeigt: Unsere Ziele für das Jahr 2025 sind zum Greifen nah. Dann soll Gigabit-Internet und schneller 5-G-Mobilfunk flächendeckend in Deutschland verfügbar sein.
Diese TKG-Novelle ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg dorthin. Ich bitte um Unterstützung und danke den Fraktionen, weil wir jetzt wirklich einen großen Sprung bei der digitalen Infrastruktur machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Jörn König von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Die Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Telekommunikation modernisieren will und gleichzeitig EU-Richtlinien umsetzen soll. Ersteres ist nur zum Teil gelungen. Beim Umsetzen von EU-Vorgaben sind wir aber Weltmeister, egal ob sinnvoll oder nicht.
Es geht voran, aber in Trippelschritten. Zum ersten Mal werden Dienste und Leistungsmerkmale mit einem funktionalen Ansatz beschrieben und – so wörtlich – „nicht allein“ mit einem „technischen Ansatz“. Damit hinkt die Bundesregierung auch nur etwa zehn Jahre hinter dem Markt her; denn die funktionale Beschreibung von Diensten und Leistungsmerkmalen hat sich schon lange durchgesetzt. Wie soll man auch sonst technologieoffen beschreiben, welche Leistung man haben möchte?
Leider ist der funktionale Ansatz im Gesetz nicht durchgängig angewandt; denn zum Beispiel die Begriffsbestimmung für „Netz mit sehr hoher Kapazität“ bezieht sich hardwaretechnisch wieder auf Glasfaserkomponenten, und erst danach kommen die entscheidenden Dinge wie Bandbreite, Verfügbarkeit, Paketverlust, Latenz, Delay und Jitter. Die Technologie schreitet voran, liebe Bundesregierung. Hohe Kapazitäten kann man nicht nur mit Glasfasern erreichen; das geht auch mit Kupfer, Satellit, Mobilfunk oder auch Richtfunk. Auf die Technologie kommt es an.
Für die entscheidenden Parameter wie Bandbreite, Latenz usw. stehen im Gesetzentwurf leider keine konkreten Zahlen; da muss ich dem Minister widersprechen. Die wirkliche Musik spielt also in den Anhängen zum Gesetz und in den Allgemeinverfügungen und Festlegungen der Bundesnetzagentur. Genau hier ist einfach mehr Mut angesagt. Warum legen Sie zum Beispiel nicht langfristig fest, dass jeder Neuanschluss mindestens eine Bandbreite von 500 Megabit heute und mindestens 1 Gigabit pro Sekunde in drei Jahren zur Verfügung stellen muss?
({0})
Bei Ihren ständigen Verschärfungen der ideologischen Energieeinsparverordnung machen Sie das doch heute schon. Aber Internet ist ja Neuland für die Bundesregierung: Minister lehnen Telefonate vorsorglich ab, weil ihnen Verbindungsabbrüche im Auto peinlich sind, und der Blockchain-Beauftragte sagt im Plenum mehrmals „Blockchange“ statt „Blockchain“, wohlgemerkt in einer Regierung, die IT und den Breitbandausbau in den Jahren 2010, 2012 und 2017 zur Chefsache erklärt hat. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen: Das schaffen Sie nicht mehr. Sie können das nämlich gar nicht.
({1})
Unbedingt ins Gesetz hinein muss eine definierte Ausfallsicherheit; denn seit der Umstellung auf IP-Telefonie sind bei Stromausfall auch automatisch die Telefone der Endkunden tot. Das war früher anders, und wir müssen auch wieder da hin, dass die Telefonie auch bei Stromausfall funktioniert. Nicht jeder von uns hat ein Mobiltelefon. Das Wort „Ausfallsicherheit“ aber tritt im Gesetzentwurf genau einmal auf, und dort nur in den Begriffsbestimmungen. Im Teil 10 des Gesetzentwurfes hätte man im Abschnitt 2, im Bereich „Notfallvorsorge“, die Ausfallsicherheit festlegen müssen. Die Strafe, wenn ein öffentlicher Netzbetreiber die Pflichten der Notfallvorsorge aus den §§ 183 ff. verletzt, ist mit bis zu 1 Million Euro auch viel zu gering.
Die beigestellten FDP-Anträge ergänzen den Gesetzentwurf sinnvoll; die Anforderungen sollten mit ins Gesetz einfließen.
({2})
Unser AfD-Antrag, in dem wir Gigabitnetze forderten, war schon im Ausschuss. Und damit sind wir allen anderen Fraktionen voraus,
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in dem Falle mit der betrüblichen Folge, dass der Antrag hier nicht mehr beigestellt werden konnte.
Den Antrag der Grünen hätte man mindestens redaktionell überarbeiten müssen. Die Forderung nach lokalem Roaming im Mobilfunk – wir haben es gerade gehört – ist bereits erfüllt. Aber auch hier: Wer Einfamilienhäuser verbietet, wer Kobolde in Batterien vermutet, elektrische Leistung in Gigabyte angibt und im Antragstitel Mobilfunk als Daseinsvorsorge bezeichnet, dem kann selbst die AfD nicht mehr helfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Falko Mohrs von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So viel vielleicht vorweg, Herr König: Hilfe von der AfD brauchen wir gar nicht. Sie wollen zurück zu alter Telefonie aus dem letzten Jahrtausend; sie halten Kupfer für zukunftsfähig. Ganz ehrlich: Diese Hilfe braucht in diesem Land wirklich niemand.
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Was wir brauchen, sind moderne, leistungsfähige Telekommunikationsnetze, Netze, die das Nervensystem unserer Gesellschaft, des Zusammenlebens, der Industrie, der Mobilität, der Wirtschaft insgesamt darstellen. Und wir haben doch gerade in den letzten Monaten erlebt, wie wichtig funktionierende, hochleistungsfähige Netze sind. Da, wo wir sie haben, waren sie glücklicherweise stabil. Wir stellen aber eben auch fest, dass sie an vielen Stellen nicht vorhanden sind oder nicht funktionieren. Wir erleben prominent zum Beispiel eine junge Frau, die ihr Referat im Schnee halten musste, weil die Bandbreite für die Übertragung ansonsten nicht ausreichte. Das, meine Damen und Herren, ist mit Sicherheit kein Zustand, der uns in irgendeiner Form zufriedenstellen kann. Das, was hier mit dem Telekommunikationsmodernisierungsgesetz vorgelegt wird, ist ein wichtiges Vorhaben, um die Rahmenbedingungen zu aktualisieren, zu modernisieren und einen Weg in leistungsfähige, schnelle Netze zu ebnen, meine Damen und Herren.
({1})
Wir tun das, indem wir beispielsweise Verlegemethoden vereinfachen, indem wir administrativen Aufwand reduzieren. Wir tun das, indem wir einheitliche Stellen schaffen, die dabei helfen sollen, dass Verfahren zur Genehmigung, zum Aufbau von Masten im Mobilfunk oder zum Verlegen von Leitungen schneller erteilt werden können, meine Damen und Herren.
Wir tun das auch durch zusätzlichen Verbraucherschutz. Beispielsweise dürfen in Zukunft nicht mehr nur 24-Monats-Verträge vorgelegt werden. Vielmehr müssen auch Verträge vorgelegt werden, deren Laufzeit zwölf Monate beträgt. Und wenn sich ein solcher Vertrag verlängert, ist er künftig immer monatlich kündbar, verlängert sich also nicht automatisch um ein weiteres Jahr. Das, meine Damen und Herren, ist konkreter Verbraucherschutz, der vielen Millionen Menschen in diesem Land einen Vorteil verschaffen wird. Das ist ein wichtiger Fortschritt in diesem Gesetz, meine Damen und Herren.
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Wir schaffen bessere Möglichkeiten für Small Cells. Es ist angesprochen worden, dass beispielsweise über 5-G-Antennen an Ampeln oder Masten kleine smarte Zellen aufgebaut werden können. Auch das ist eine wichtige Voraussetzung.
Aber wir haben auch noch einiges an Beratung vor uns, und ich glaube, wir alle können prophezeien: Diese Beratungen werden intensiv. Das liegt daran, dass dieser Gesetzentwurf in der Tat deutlich später gekommen ist, als wir ihn gebraucht hätten. Eigentlich hätten wir im letzten Dezember all das schon umgesetzt haben müssen. Hier haben sich aus meiner Wahrnehmung das Verkehrs- und das Wirtschaftsministerium viel zu viel Zeit gelassen. Aber nun gut, jetzt haben wir ihn endlich im parlamentarischen Verfahren. Jetzt werden wir uns der Stellungnahmen annehmen, die aufgrund der zeitlichen Kürze nicht mehr in den Regierungsentwurf eingearbeitet werden konnten. Das wird eine intensive Arbeit.
Wir haben Dinge wie die Frequenzvergabe vor uns. Ist es immer richtig, bei der Frequenzvergabe in erster Linie auf den Trade-off zwischen Auflagen und Einnahmen zu schauen? Ist es nicht viel wichtiger, dass wir mit intensiven, mit harten Auflagen den Breitbandausbau, den Mobilfunkausbau in der Fläche vorantreiben? Sind wir beispielsweise bei der Frage der Umlagefähigkeit von Inhouse-Verkabelungen im Gesetz schon bei der Weisheit letztem Schluss angekommen? Ich glaube das nicht; ich glaube, hier haben wir noch Nachbesserungsbedarf. So gibt es eben verschiedene Bereiche in diesem Gesetz, wo wir noch intensiv draufschauen müssen und werden, und das trotz allen Zeitdrucks, den wir haben.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Telekommunikationsmodernisierungsgesetz die richtige Grundlage dafür haben, den Rechtsrahmen zu aktualisieren, das Gesetz handhabbarer zu machen, uns dafür fit zu machen, dass wir überall im Land, auch in der Fläche, auch an der letzten Milchkanne, hochleistungsfähige Netze sowohl im Glasfaser- als auch im Mobilfunkbereich haben. Das wird die Aufgabe von uns allen sein. Ich freue mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. – Als Nächstes hat das Wort Reinhard Houben von der FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Minister Scheuer, dass Sie den Ausbau des Mobilfunkstandards 4 G als besonders positiv bewerten, finde ich sehr interessant. Nur durch massiven Druck, sowohl der Politik als auch der Bundesnetzagentur, sind wir verspätet ungefähr da hingekommen, wo wir eigentlich schon vor zwei Jahren sein wollten. Vor diesem Hintergrund macht mich Ihr Vortrag, wie toll diese Modernisierung unseres TKG-Gesetzes wird, etwas nervös.
Meine Damen und Herren, Breitbandkommunikation ist die Schlüsselinfrastruktur des 21. Jahrhunderts. Das haben wir gerade in der Pandemie gemerkt. Deutschland ist in diesem Bereich nicht in einer Spitzenposition; das ist aber unser Anspruch. Ob so, wie vorgeschlagen, der europäische Kodex wirklich richtig umgesetzt wird, ist zu bezweifeln. An einigen Stellen muss man wirklich fragen: Sind hier nicht Dinge aufgenommen worden, die eigentlich gar nicht von EU-Ebene gefordert werden? Ich habe da an manchen Stellen meine Zweifel. Es ist zum Beispiel merkwürdig, dass nach dem jetzigen Entwurf Zahlungsverzug bei Mobilfunkkunden nur dann zu einer Sperre führt, wenn sie keine Flatratetarife haben; wenn sie welche haben, wäre eine Kündigung gar nicht möglich.
Vor allen Dingen aber brauchen wir marktwirtschaftliche und wettbewerbsorientierte Anreize für den Infrastrukturausbau. Die Große Koalition bewegt sich hier auf Messers Schneide. Wer den Universaldienstanspruch zu weit fasst, hebelt nicht nur den Wettbewerb aus, sondern läuft auch Gefahr, dass wir als öffentliche Hand mitfinanzieren müssen.
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Wir hingegen plädieren für einen Gigabit-Gutschein für alle Bürger, und zwar technologieoffen. Das würde nachfrageorientiert die entsprechende Mobilfunk- und Satellitenübertragung in die Wohnung, ins Haus stark fördern. Diesen Weg wollen wir Ihnen in der Debatte vorschlagen.
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Außerdem brauchen wir ein intelligentes und transparentes Auktionsdesign. Es kann nicht sein, dass wir bei den Mobilfunkfrequenzen immer den Bundeshaushalt im Blick haben. Entscheidend ist vor allen Dingen, dass wir graue und weiße Flecken verhindern.
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Und was gar nicht geht, meine Damen und Herren, sind die üblichen Bonbons, die von der Bundesregierung, besonders vom Wirtschaftsministerium, an die Telekom und die Post verteilt werden. Dazu fällt mir das sogenannte Nebenkostenprivileg ein; dort hat die Telekom massiv Lobbyingarbeit geleistet. Dazu gehört aber auch die Streichung der Teilnehmerverzeichnisse, zum Beispiel Telefonbücher, als Universaldienst. Unterstützen Sie also nicht weiter unsere Staatsmonopolisten!
Ich freue mich auf die Debatte, meine Damen und Herren. Ich bitte die Fraktionen von CDU/CSU und SPD – Herr Mohrs hat es angekündigt –, dass wir hier inhaltlich weiterarbeiten können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Anke Domscheit-Berg von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur bei uns in Brandenburg verzweifeln Eltern, deren Kinder ohne Internet nicht digital lernen können oder die zur Arbeit pendeln müssen, weil Homeoffice einfach nicht geht. Ich dachte, während dieser Pandemie hätte auch der Letzte verstanden, welche Bedeutung flächendeckendes Breitband hat, Minister Scheuer allerdings immer noch nicht; das erkennt man nämlich an Taten und nicht an Worten.
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Als die Bundesregierung im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur im November 2019 eingestehen musste, dass in Deutschland aktuell 56 Kilobit pro Sekunde ein „funktionaler Internetanschluss“ sein soll, hat sie sehr schnell versichert, dass mit dieser TKG-Reform ein Rechtsanspruch auf schnelles Internet kommen soll. Das ist ja auch notwendig. Der Zugang zu Internet ist schlicht Daseinsvorsorge.
Doch mit diesem Gesetzentwurf weiß immer noch keiner, welches Recht er oder sie auf Internet hat. Kanzlerin Merkel versprach uns 50 Mbit bis 2018, dann 1 Gigabit bis 2025. In diesem Gesetz steht als Anspruch „der Durchschnitt der genutzten Bandbreite von mindestens 80 Prozent der Verbraucher“, und irgendwelche Gegebenheiten sollen auch berücksichtigt werden. Was soll denn „genutzte Bandbreite“ heißen? Die Bandbreite, die Unternehmen einem versprechen und die laut Bundesnetzagentur nur bei jedem sechsten Nutzer erreicht wird? Oder die tatsächlich verfügbare Bandbreite, wo jeder Dritte nicht einmal die Hälfte der vertraglichen Bandbreite erhält? Oder die tatsächlich von Kundinnen und Kunden ausgenutzte Bandbreite? Und wenn die gemeint ist, nimmt man Spitzenwerte, wenn Leute netflixen, oder den Durchschnitt, wenn sie auch mal schlafen? Geht es um Downloads oder auch um Uploads? Und wie will man das eigentlich erheben? – Klar ist doch, dass derart verklausulierte Beschreibungen offenbaren, dass die Bundesregierung einfach zu feige ist, einen klaren Rechtsanspruch zu benennen. Sie schiebt den Schwarzen Peter der Bundesnetzagentur zu, die soll das Rätsel der Bundesregierung lösen, und wahrscheinlich hofft sie darauf, dann nicht mehr im Amt zu sein. Ich hoffe das auch. Das ist doch peinlich, meine Damen und Herren.
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Richtig gruselig ist allerdings Minister Seehofers Fußabdruck im Gesetz. Denn obwohl Bundesverfassungsgericht und der EuGH die Vorratsdatenspeicherung für rechtswidrig erklärten – mehrfach –, steht sie nun wieder drin. Diese Bundesregierung ist entweder völlig merkbefreit oder schlicht frech.
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Ich verspreche Ihnen: Die Linksfraktion wird auch gegen diese Vorratsdatenspeicherung kämpfen.
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Außerdem werden künftig Messengerdienste und E-Mail-Provider wie große Telko-Konzerne behandelt und gezwungen, Überwachungsinfrastrukturen zu installieren, zumindest dann, wenn ihre Infrastruktur in Deutschland steht, was diese Bundesregierung bisher immer toll fand. Aber Logik ist Ihre Stärke nicht. Die Folge wird nämlich sein, dass sichere elektronische Kommunikation made in Germany ausstirbt. Danke für nichts, GroKo!
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Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft! Machen Sie auch das endlich!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, dass die Urnen um 12.02 Uhr geschlossen werden. Bis dahin ist Zeit zur Stimmabgabe.
Als Nächstes geht das Wort an Margit Stumpp von Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das TK-Modernisierungsgesetz wurde im Dezember zu einem Zeitpunkt vom Kabinett beschlossen, zu dem der europäische Kodex für die elektronische Telekommunikation bereits hätte umgesetzt sein müssen. Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU droht. Deswegen sollten 475 Seiten Entwurf seitens der Verbände innerhalb von 48 Stunden kommentiert werden. Die vorgeschriebene und wichtige Beteiligung der Verbände lief damit faktisch ins Leere. Es fällt schwer, die Motivation dafür einzuschätzen: Entweder will man die eigene Agenda durchdrücken, oder man weiß um die Mängel und hat Angst vor berechtigter Kritik. Klar ist: Dieses Vorgehen schlägt sich letztlich negativ auf die Qualität des Gesetzentwurfs nieder. Ein solches Verfahren wird der Bedeutung dieser umfangreichen Novelle einfach nicht gerecht.
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Als Fraktion sehen wir in den Themenbereichen „Verbraucherschutz“, „Datensicherheit“ und „digitale Infrastruktur“ große Baustellen; ich konzentriere mich heute auf Letzteres. Das neue Gesetz könnte zukunftsweisende Regelungen im Bereich der digitalen Infrastruktur festsetzen – könnte. Eine zukunftsfähige Infrastruktur im Festnetz- und Mobilfunkbereich gehört – das spüren wir jetzt mehr denn je – zur staatlichen Daseinsvorsorge. Deswegen fordern wir seit 2011 den Universaldienst, also einen Rechtsanspruch auf eine schnelle – wohlgemerkt: schnelle – Internetverbindung. Jetzt könnte man sagen: Hurra! Endlich ist Einsicht eingekehrt! – Weit gefehlt. Diese Regierung handelt bei der Umsetzung des EU-Kodex wie ein bockiges Kind, das seine Hausaufgaben nur mit größtem Widerwillen erledigt.
Wie so oft orientiert sich die Bundesregierung am Minimum der Grundversorgung, die die europäische Vorgabe gerade noch zulässt. Das vollmundig versprochene Recht auf schnelles Internet besteht im Entwurf der Bundesregierung aus einem Mindestangebot an Diensten, die ein angemessener Breitbandinternetzugangsdienst unterstützen können muss. Maßstab des Kabinetts ist quasi eine Mail, die sich mühsam durch Kupfer schleicht.
Eine solche Universaldienstverpflichtung wäre vielleicht zu einer Zeit sinnvoll gewesen, als das Internet tatsächlich noch Neuland war. Inzwischen gilt das nicht mal mehr für Hochbetagte, die sich in pandemischen Zeiten tapfer durch die Onlineanmeldung für einen Impftermin klicken müssen.
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Deswegen beantragen wir unter anderem, die Bandbreite dynamisch zu bestimmen und entsprechend der COCOM-Empfehlung zu definieren. Grundlage soll die vertraglich vereinbarte maximale Bandbreite der von 80 Prozent der Nutzer/-innen geschlossenen Verträge sein, nicht die mickrige minimale, die im Kleingedruckten versteckt ist und die ohnehin niemand kennt.
Im Übrigen dauert das Verfahren zur Feststellung der Unterversorgung und zur Bestimmung der Dienstverpflichteten entschieden zu lange. Wer zu Beginn dieser Pandemie interveniert hätte, würde heute noch auf schnelles Internet warten. Das ist eine Zumutung! Im Gegensatz zur Pandemie können wir hier leicht Abhilfe schaffen. Das muss unser gemeinsames Ziel sein.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Axel Knoerig von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! CDU und CSU haben immer deutlich gemacht, dass es bei der digitalen Transformation um zwei große Aufgaben geht: Es geht um den Umgang mit Daten, und es geht um den Transport von Daten. – Beides ist entscheidend für die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern und natürlich auch für die Stärkung der Wirtschaft.
Die Bundesregierung hat in dieser Woche mit der Digitalstrategie die Grundlage gelegt, wie der Umgang mit Daten künftig erfolgen soll. Wir wollen die Datenstrategie zu einer Innovationsstrategie machen. Dafür brauchen wir vor allem eins: mehr Tempo – mehr Tempo beim Transport von Daten, aber auch mehr Tempo beim Ausbau der Netze.
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Ich sage Ihnen dazu auch ganz selbstkritisch: Wie der Ausbau von Glasfaser und 5 G bisher vorangekommen ist, entspricht nicht meiner Vorstellung von einem Land, das Weltmeister bei digitalen Innovationen sein will.
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Damit das künftig schneller geht, modernisieren wir das Telekommunikationsgesetz, sprich: das TKG.
Für mich entscheidend ist, dass wir diese Zweiklassengesellschaft beim Netzausbau beenden. Wenn wir wollen, dass unsere ländlichen Räume für Menschen und Wirtschaft attraktiv bleiben und dass sich der Zuzug in die Städte verlangsamt, dann heißt das in der Konsequenz: 5 G an jeder Milchkanne.
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Im TKG machen wir das an fünf Punkten deutlich.
Erstens. Wir stärken den Wettbewerb unter den Anbietern, indem das TKG eins zu eins dem europäischen Rechtsrahmen entspricht.
Zweitens. Wir schaffen Rechts- und Planungssicherheit für alle Akteure; denn wir vereinfachen die Genehmigungsverfahren und reformieren die Frequenzverwaltung.
Drittens. Wir schließen die Funklöcher, indem wir auf dem Land den Netzausbau um das lokale Roaming ergänzen. Ich bin Minister Scheuer dankbar, dass er das heute hier entsprechend vorgeschlagen hat. Wir werden noch genau schauen, wie wir das Ganze aufsetzen.
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Viertens. Wir beschleunigen die Verlegung von Glasfaser durch eine neue Technologie: Das sogenannte Trenching wird eingeführt. Das heißt nichts anderes, als dass auch oberirdische Verkabelung möglich ist. Das spart Zeit und Geld und beschleunigt den Glasfaserausbau. Ich denke hier an einen Bauernhof in meinem Wahlkreis Diepholz–Nienburg: Da gibt es Landwirte, die KWK- und Biogasanlagen haben. Die brauchen zu dieser Steuerung nicht nur LTE, sondern natürlich sehr wohl auch 5 G.
Fünftens. Wir als CDU haben nicht nur die ländlichen Räume im Blick, sondern wir sind auch Großstadtpartei. Deswegen schaffen wir mit diesem neuen TKG das Nebenkostenprivileg ab.
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12 Millionen Mieter, die noch am Kupferkabel hängen, Herr Houben, können künftig selbst wählen, wie schnell sie im Internet unterwegs sind. Ganz wichtig muss sein: Der TK-Anschluss darf nicht mehr vom Vermieter auf die Nebenkosten umgelegt werden.
All das zeigt: Die Bundesregierung und die CDU/CSU, wir reden nicht nur über Digitalisierung, wir gestalten sie aus.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zum Antrag der FDP, Herr Houben.
Entschuldigung, lieber Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenrede des Kollegen Houben?
Ja, aber doch sehr gerne.
Bitte sehr.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Knoerig, dass ich die Frage unterbringen kann. – Ihr Kollege Joachim Pfeiffer hat am 14. Oktober 2020 gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland gesagt:
Mir ist es besonders wichtig, den Glasfaserausbau bis zum Endkunden zu beschleunigen. Daher wäre aus meiner Sicht auch eine Modifikation des Nebenkostenprivilegs denkbar, der zu einem solchen Ergebnis führt.
Wie kann ich das mit den jetzt von Ihnen vorgetragenen Argumenten zusammenbringen?
Werter Herr Kollege Houben, Sie haben ja auch angesprochen, dass Sie Gutscheine ins Feld führen möchten; 12 Millionen Gutscheine für Mieter. – Ich will nur daran erinnern, Herr Houben, wie das 2009 war. Ihr Wirtschaftsminister war federführend für den Breitbandausbau zuständig. Kollege Mattfeldt und ich, wir haben über den Haushalt 10 Milliarden Euro jährlich eingefordert, damit Netze auch durch die öffentliche Hand gefördert werden. Wir haben bis 2013 Absagen bekommen.
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Mit Minister Scheuer, Herr Houben, haben wir es endlich geschafft, Verfahren zu entwickeln. Mittlerweile wird in zehn Jahren im Wert von bis zu 80 Milliarden Euro bundesweit ausgebaut.
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Wir haben mittlerweile 128 kommunale Gesellschaften gegründet. Wir haben auch das Lückenschlussmodell, um den Breitbandanschluss entsprechend hochbitratig anzubieten. Ich sage Ihnen: Wenn wir diese vier Jahre von 2009 bis 2013 unter Federführung des Ministeriums Ihres damaligen Wirtschaftsministers genutzt hätten, dann wären wir viele Jahre weiter. Leider war das erst ab 2013 möglich.
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Sie stellen sich in diesem Hohen Haus immer wieder hin – das ist ja auch richtig – und sprechen über die sogenannte Spitze des Fortschritts. Dieses Ziel ist ja auch aller Ehren wert, gar keine Frage. Aber mit dem Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, bleiben Sie weit hinter Ihrem Ziel zurück. Was Sie uns hier vorschlagen, ist nichts anderes als eine Verzögerung beim Wechsel von Kupfer zu Glasfaser. Sie wollen letztlich nur die Wohnungswirtschaft schützen und das Nebenkostenprivileg retten.
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Ich erinnere noch mal an Ihre Gutscheinlösung für 12 Millionen Mieter: Das ist doch im Grunde überhaupt gar keine Lösung. Sie benachteiligen damit die Mieterinnen und Mieter. Das ist kein Fortschritt; das ist schlichtweg ein Rückschritt.
Meine Damen und Herren, zu dem Antrag der Grünen. Liebe Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Sie sind anders herangegangen. Sie schreiben – ich zitiere –:
Es sollte zunächst für einen flächendeckenden Ausbau des LTE-Netzes gesorgt werden, bevor dem 5G-Ausbau Priorität eingeräumt wird.
Das ist meiner Ansicht nach der falsche Ansatz; denn die Zweiklassenversorgung würde hier im Grunde genommen nur fortgesetzt, und der Druck auf den Ausbau von 5 G würde weiter sinken. Beides wollen wir nicht. Klar, Sie sagen natürlich: Besser LTE als ein Funkloch. – Doch wenn es um die 5-G-Netze geht, etwa für Schweineställe und Biogasanlagen auf Außenhöfen, dann ist einem mit LTE schlichtweg nicht geholfen.
Wenn wir in Deutschland bei der Digitalisierung schneller sein wollen, können wir uns diesen Zwischenschritt über LTE nicht leisten – weder technologisch noch finanziell. Deswegen seien Sie an der Stelle etwas ambitionierter! Ich weiß, das ist teuer. Sie selbst haben ja auch Vorschläge zur Finanzierung aufgeführt. Darauf kann ich jetzt leider aus Zeitgründen nicht mehr eingehen; aber darüber sollten wir reden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir geht es bei dieser ziemlich komplexen Veränderung des Telekommunikationsrechtes, ehrlich gesagt, nur um einen ganz kleinen Teilbereich. Er schließt aber an das an, was wir gerade diskutiert haben, Herr Knoerig, und zwar an den letzten Punkt in der Auflistung der Kabinettsvorlage, nämlich an die Umlagefähigkeit von Kabelgebühren oder die sogenannten Nebenkostenprivilegien. Wir machen das zu einem Redebeitrag hier, weil es da um Millionen von Mieterinnen und Mietern geht. Diese sind uns allemal wichtig.
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Deswegen diskutieren wir darüber. Mein Kollege Falko Mohrs ist auf die anderen Punkte bereits eingegangen.
Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen, dass wir die in der Kabinettsvorlage vorgesehene Streichung der Umlagefähigkeit für falsch halten, und das in mehrfacher Hinsicht. Ich finde die Überlegungen vernünftig, die hier die FDP angestellt hat; diese wird man in der weiteren Diskussion mit berücksichtigen.
Wir wollen ja eigentlich alle einen zeitnahen flächendeckenden Ausbau von Glasfasernetzen, auch inhouse, wenn ich das mal so sagen darf. Aber Corona zeigt uns ja nicht nur, wie wichtig das ist, sondern leider auch, wie häufig Worte und Taten in der Digitalisierung bisher auseinanderfallen. Deswegen brauchen wir wirklich auch starke Investoren.
Die Wohnungswirtschaft muss man nicht schützen, sondern sie ist dabei ein unverzichtbarer Partner. Beispielsweise hat allein der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft als verlässlicher Partner angekündigt, bis 2025 2 Millionen Wohnungen an Glasfasernetze anzubinden, und zwar im Bestand. Der Neubau kommt selbstverständlich noch dazu, weil diese Anbindung da sowieso passiert. Aber dafür braucht man eben Investitionssicherheit, und diese wird durch die Umlagefähigkeit ein Stück weit gesichert. Wir sollten diese Tür nicht von vornherein zuschlagen, sondern wir sollten sie offenhalten.
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Die komplette Abschaffung und endgültige Beseitigung der Umlagefähigkeit der Betriebskosten für Kabelnetze wären nämlich auch sozial fragwürdig. 12 Millionen Mieterinnen und Mieter würden zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Zweifelsfall auf Einzelverträge umswitchen müssen, was zu Mehrbelastungen führen würde und nicht etwa zu Einsparungen. Mehrbelastungen in Höhe von 100 bis 200 Euro im Jahr, das hat beispielsweise der GdW ausgerechnet.
Also, wir müssen uns in der nächsten Zeit übergangsweise zwischen dem Prinzip von Solidarität und dem von Individualität für einen etwas längeren Zeitraum entscheiden. Wir wollen ja eigentlich beides. Aber ich glaube, dass in diesem Fall die Solidarität beim Ausbau einer zukunftsfähigen Inhouse-Infrastruktur, also die Umlagefähigkeit, zunächst erhalten bleiben sollte, weil diese nämlich ein Stück weit Vorteile für alle bringt und danach auch die Individualentscheidungen erst möglich macht.
Im Übrigen ist die Versorgung von Transferleistungsempfängern hier noch gar nicht angesprochen worden. Dabei ist das ein wichtiger Gesichtspunkt, der zwingend beachtet werden muss. Aktuell werden ja die Kabelgebühren als KdU übernommen. Wenn das anders werden soll, muss das in jedem Falle mitgeregelt werden.
Wir haben mit der Wohnungswirtschaft und den Mieterverbänden ganz ausführlich gesprochen. Wir sind ausgesprochen froh darüber, dass aus diesen Diskussionsprozessen letztlich auch eine gemeinsame Position von Mieterverbänden und Wohnungswirtschaft entstanden ist. Der Mieterbund und auch die Spitzenverbände der Wohnungswirtschaft sprechen sich gemeinsam dafür aus, dass die Umlagefähigkeit von Breitbandanschlüssen in der Betriebskostenverordnung zunächst einmal für mehrere Jahre erhalten bleibt, dass aber auch ein Opt-out-Recht für Mieterinnen und Mieter eingeführt werden soll, also eine Art Kündigungsrecht für einen individuellen Ausstieg aus der Umlagefinanzierung und der Nutzung des Breitbandanschlusses. Die Details dafür sind eigentlich alle eingearbeitet. Ich hoffe, dass sie im Kontext der Beratungen des Gesetzentwurfes eine Rolle spielen.
Wir wünschen uns also, dass die Debatte von den von mir genannten Prinzipien von tatsächlicher Investitionstätigkeit, von Solidarprinzip und von der damit verbundenen Umlagefähigkeit auch bei einer Opt-out-Regelung mitbestimmt wird, und hoffen, dass das auch zu einem Erfolg führt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Mit dem Redebeitrag der SPD-Fraktion ist die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt beendet. Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Fahrrad, Privat-Pkw, Taxi, Bus und Bahn – Punkt! Hier endete für viele die Vorstellungskraft, wenn es um die Auswahl möglicher Fortbewegungsmittel in Städten und in ländlichen Regionen ging. Dank der Digitalisierung ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl neuer Möglichkeiten hinzugekommen. Die meisten davon sind kreativ, bedarfsgerecht, gut für die Umwelt und können für mehr Flexibilität und weniger Verkehr sorgen.
Das trifft zum Beispiel auf die sogenannten Pooling-Dienste zu. Diese plattformbasierten Anbieter sind bereits in vielen Städten und Regionen aktiv und beliebt. Fahrgäste können per App ihre Fahrtwünsche unter Angabe des Abfahrts- und Ankunftsortes sowie der Anzahl der mitfahrenden Personen angeben. Ein Algorithmus ist die Basis für die Fahrtroute. Es ist nicht der direkte Weg. Es ist an dieser Stelle einfach ein Gemeinschaftsgefühl, aber vor allem eine neue Möglichkeit, mobil zu sein.
Ich bin überzeugt: Diese neuen Mobilitätsformen sind wichtige Schnittstellen zwischen Individualverkehr und ÖPNV, von denen viele profitieren. Eins ist entscheidend: Es ist eine Chance für den ländlichen Raum. Natürlich: In Städten ist das Angebot naheliegender, weil da mehr Bürger auf engerem Raum sind. Aber ich bin überzeugt: Wenn wir die Grundlage dafür jetzt schaffen, dann gibt es mehr Flexibilität und eben auch mehr Kreativität.
Gewerbliche Personenbeförderung ist genehmigungspflichtig. Sie ist nur innerhalb der im Gesetz geregelten Verkehrsarten zulässig, also als Linien- oder Gelegenheitsverkehr, zum Beispiel per Taxi oder Mietwagen. Die neuen Mobilitätsangebote lassen sich diesen gesetzlich vorgegebenen Verkehrsarten nicht immer eindeutig zuordnen. Daher gibt es sie bisher meist nur als zeitlich begrenzte Modellprojekte – mit einer Höchstdauer von maximal vier Jahren. Wenn wir neue Mobilitätsangebote aber dauerhaft etablieren wollen, müssen wir ans Gesetz ran. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, die Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen.
Etablierte Mobilitätsanbieter, insbesondere Taxifahrer, hatten von Anfang an Sorge, durch die neuen digitalen Anbieter unter Druck zu geraten. Bei allem Verständnis dafür: Wir haben jetzt die Möglichkeit, intelligente Formen der Mobilität mit mehr Flexibilität zu öffnen, ohne das Fundament, die Basis für die Personenbeförderung, zu verlieren. Und: Ja, wir haben gerade auch in diesen Mobilitätsunternehmen die Coronaschäden im Blick.
Also, die Nachfrage ist da. Wir brauchen Lösungen. Wir haben dazu die Möglichkeiten mit der Digitalisierung. Und wir haben einen angemessenen Ausgleich gefunden. Wie so häufig gilt auch hier: Es muss kein Entweder-oder sein. Wir wollen ein Sowohl-als-auch.
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Unser Ziel muss es sein, Innovationen zu ermöglichen, aber Bewährtes zu erhalten. Wir haben viele Gespräche geführt. Ja, es gab auch viel Protest. Deswegen habe ich mich entschieden, Anfang 2019 eine Findungskommission ins Leben zu rufen. Ich möchte sehr herzlich danken. Neben den Verkehrsexperten der Koalition – den Kollegen Lange, Rainer und Bartol sowie Frau Lühmann – möchte ich vor allem auch denen danken, die aus den Bundesländern dabei sind, zum Beispiel dem Verkehrsminister aus Baden-Württemberg Winfried Hermann von den Grünen, dem nordrhein-westfälischen Verkehrsminister Hendrik Wüst von der CDU, der saarländischen Verkehrsministerin Anke Rehlinger von der SPD und dem schleswig-holsteinischen Verkehrsminister Bernd Buchholz von der FDP.
Ich möchte meinen Dank dafür aussprechen, dass wir einen Kompromiss gefunden haben. Es ist hart gerungen worden, aber ich glaube, wir haben am 19. Juni 2020 mit dem Eckpunktepapier einen sehr guten Kompromiss erzielt. Dieser ist auch die Grundlage für den Gesetzentwurf gewesen.
Dieser Kompromiss sieht unter anderem vor, den neuen Verkehrsformen, Linienbedarfsverkehr innerhalb des ÖPNV und gebündelter Bedarfsverkehr außerhalb des ÖPNV, jeweils eigene Rechtsgrundlagen zu geben. Dabei soll ein fairer Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Beförderungsformen gewahrt bleiben. Kommunen erhalten hierfür entsprechende Steuerungsmöglichkeiten. Um das Taxigewerbe regulatorisch zu entlasten, ist vorgesehen, die für Taxifahrer bisher verpflichtende Ortskundeprüfung abzuschaffen. Stattdessen reicht es künftig aus, ein technisch aktuelles Navi zu haben. Anstelle des Taxameters soll auch ein App-basiertes System zulässig sein.
Es soll zudem dabei bleiben, dass weiterhin nur Taxis herangewunken werden und an Ständen auf Kundschaft warten dürfen. Wir halten außerdem grundsätzlich an der Rückkehrpflicht für auftragslose Mietwagen fest. Weiter können die Kommunen die Taxitarifpflicht für bestellte Taxifahrten lockern. Zudem können sie künftig feste Tarife für Ziele festlegen, die sehr oft angefahren werden, zum Beispiel Bahnhöfe, Flughäfen oder Messen.
Als weiteren wichtigen Punkt schaffen wir einen rechtlichen Rahmen, um Mobilitätsdaten zu sammeln und verfügbar zu machen. Denn Daten sind die Basis, um neue Informations- und Mobilitätsdienste zu entwickeln. Diese Chance wollen wir nutzen.
Ich habe schon beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt gesagt, dass wir Projekte für 5 G diese Woche mit guten Förderungen vergeben haben. Dort ist mir die Stadt Jena in Erinnerung mit einem Projekt, wo die Mobilitätsdaten nicht nur für den Energieversorger eine bessere Organisation der Verbraucherinnen und Verbraucher gewährleisten sollen, sondern wo diese Daten auch für die Mobilität benutzt werden können, um staufreier, klimaneutraler und besser unterwegs zu sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, moderne Mobilität braucht moderne Gesetze. Wir sehen: Die Findungskommission hat einen guten Kompromiss vorgelegt, und jetzt sollten wir diesen schnellstmöglich umsetzen. Bei der letzten Novelle haben wir dafür sechs Jahre gebraucht. Diesmal – bis jetzt, bis zu diesem Zeitpunkt – sind wir hoffentlich schneller – sehr, sehr viel schneller. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir das auch fraktionsübergreifend diskutieren und umsetzen können.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit mittlerweile knapp einem Jahrzehnt sind Anbieter plattformbasierter Mobilitätsangebote auf deutschen Straßen unterwegs. Die können Sie mit dem Handy rufen, zumindest wenn das Netz funktioniert; aber das ist ja auch Ihr Thema, Herr Scheuer. Das nennt man übrigens technischen Fortschritt. Herr Scheuer, diese jahrelange Realitätsverweigerung mit anschließendem Nichthandeln ist das Musterbeispiel einer trägen Regierung, die zwar ständig von Innovation und Digitalisierung redet, aber nichts davon umsetzt.
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Die großen Herausforderungen eines modernen Industriestaats heißen: Digitalisierung, Globalisierung, grenzenloser Wettbewerb. Vor allen Dingen muss eine Regierung dabei Verantwortung zeigen gegenüber den Arbeitnehmern und Unternehmen in diesem Land, die durch diese Veränderung in ihrer Existenz bedroht werden. Dabei ist es natürlich falsch, technischen Fortschritt zu ignorieren, wie Sie das hier getan haben oder wie die Fortschrittsfeinde links, die technischen Fortschritt verbieten wollen. Aber dazu später.
Wir suchen als konservative Partei nach Möglichkeiten, wie wir diesen Herausforderungen begegnen können, und einen eigenen Antrag werden wir nach der Expertenanhörung zu diesem Thema im Ausschuss einbringen.
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Aber so viel vorneweg: Wir wollen, dass digitalen Vermittlungsdiensten eine eigene, eine dritte Rechtskategorie neben dem klassischen Taxigewerbe und Mietwagen zugewiesen wird.
Und wir wollen Chancengleichheit. Uns liegen zuhauf Beschwerden von Taxifahrern vor, dass durch neue Anbieter Sozialstandards verletzt und Dumpinglöhne an Fahrer gezahlt werden – übrigens an Fahrer, die seit kurzer Zeit erst in diesem Land sind. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei die Qualifikation der Fahrer, um diese Dumpingmethoden zu unterbinden und den Passagieren eine hohe Sicherheit zu gewährleisten.
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Deshalb muss ein Personenbeförderungsschein kontrolliert für alle Anbieter Pflicht sein. Wie Taxen sollten auch Fahrzeuge der digitalen Plattformen kennzeichnungspflichtig sein. Das heißt, jeder muss wissen, dass er beispielsweise in ein Uber-Fahrzeug einsteigt.
Wir werden den vorgelegten Gesetzentwurf nun intensiv beraten. Aber eins kann ich vorweg schon sagen: Den Antrag der Linken, der nicht nur auf ein Verbot dieser Plattformanbieter – in diesem Fall Uber – hinausläuft, sondern zudem auch die Schaffung eines ÖPNV-Kombinats unter Einbeziehung von staatlichen Taxis anstrebt, werden wir sicherlich nicht unterstützen.
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Das Ganze disqualifiziert Sie übrigens für jede weitere Diskussion zu diesem Thema.
Die FDP will die totale Liberalisierung. Sie machen sich lächerlich, wenn Sie in einem Antrag die Bundesregierung auffordern, ein – wörtlich – „Level Playing Field“ für Mobilitätsanbieter zu schaffen. Liebe FDP, Sie beschweren sich zu Recht über die Entmachtung des Parlaments durch die Bundesregierung. Wenn Sie es ernst meinen, dann stellen Sie nicht einen Antrag, sondern legen Sie hier einen Gesetzentwurf vor.
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Zur Erinnerung: Die Bundesregierung beschließt keine Gesetze; das machen wir im Bundesrat und im Bundestag. Wir sind der Gesetzgeber. Ihr Antrag ist aus diesem Grund handwerklich miserabel.
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Das ist aber meistens der Fall, wenn Ihnen ein Verband den Antrag nicht vorgeschrieben hat.
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Das Hauptproblem unseres Taxigewerbes ist aber gar nicht irgendeine Formulierung hier in diesen Regulierungen; das Hauptproblem ist die Gängelung des Straßenverkehrs durch Ihre Grün-SPD-Gesetzgebung.
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Solange es ein Ziel rot-grüner Verkehrspolitik bleibt, den innerstädtischen Stau erst zu provozieren, kann auch kein neues Gesetz den Taxifahrern in diesem Land helfen. Und im Stau kann kein Taxi fahren und der Fahrer kein Geld verdienen.
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Das, meine Damen und Herren, ist die traurige Realität. Gegen diese grün-rote Verkehrspolitik, die Taxi- und Autofahren in diesem Land gerne generell verbieten würde, vorzugehen, ist Teil der Lösung und Teil unserer Politik.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Detlef Müller von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede von Herrn Spaniel hat es wieder deutlich gezeigt: Das A in AfD steht nicht für „Alternative“, sondern für „Ahnungslosigkeit“.
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Die FDP legt einen Antrag vor. Die Linke legt einen Antrag vor. Darüber kann man ja wenigstens diskutieren. Von Ihnen kommt aber nichts anderes als Genöle und Gemotze. Hauptsache, immer dagegen, einfach nur dagegen, ohne Ahnung zu haben.
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Wir sind sehr gespannt auf den Antrag, den Sie praktisch kurz vor Toresschluss einbringen werden – nach mehr als zweieinhalb Jahren zäher Verhandlungen.
Wir starten nun endlich das parlamentarische Verfahren zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes. Dieses Regelwerk ist sehr speziell und sehr detailliert. Aber bevor wir hier auf Fachchinesisch von „Level Playing Field“, von „Bündelungsquoten“, von „virtuellen Haltestellen“ oder von „bedarfsgesteuerten Pooling-Diensten“ sprechen, sollte es erst mal um verständliche Grundsätze gehen.
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Das PBefG ist das Grundgesetz für öffentliche Mobilität. Ohne Personenbeförderungsgesetz fährt in diesem Land kein Bus, keine Straßenbahn, kein Taxi – von neuen Mobilitätsarten ganz zu schweigen. Genau hier liegt der Grund für die langen und zähen Verhandlungen. Privates und öffentliches Pooling, also eine Mischung aus Taxi und ÖPNV, Plattformmobilität und auch Uber, findet in einigen Städten längst statt, oftmals mit Experimentierklauseln, oftmals in direkter Konkurrenz zum ÖPNV und auch zum Taxi.
In anderen Städten oder Landkreisen ist von Konkurrenz keine Spur. Da fällt es schon schwer, ohne Vorbestellung am Abend ein Taxi zu kriegen. Es braucht also ein modernes Personenbeförderungsgesetz, das den öffentlichen Verkehr von morgen verbindlich regelt. Es braucht es aber auch, um den Anforderungen an öffentliche Verkehre gerecht zu werden – mit Blick auf die Verkehrswende, mit Blick auf den Klimawandel, aber auch mit Blick auf die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen in diesem Land. Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Gesetzentwurf nun endlich beraten. Der Weg hierhin war nicht einfach.
Im Frühjahr 2019 hat das Verkehrsministerium ein erstes Eckpunktepapier vorgelegt, das – wie ich finde, vollkommen zu Recht – zu massiven Protesten im Taxigewerbe geführt hat. Weiter ging es mit der sogenannten Findungskommission: Verkehrsexperten aus Koalition und Opposition, Verkehrsminister einzelner Bundesländer, die mehr als ein Jahr lang beraten haben, um schlussendlich die Grundlagen für den heute vorliegenden Gesetzentwurf zu liefern.
Die vier Grundsätze meiner Fraktion waren stets klar: Das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs in Deutschland bildet der ÖPNV mit Bussen, Straßenbahnen, S- und U-Bahn. Neue Mobilitätsformen können diese nur ergänzen. Wir wollen klare Spielregeln für alle Verkehrsarten und Geschäftsmodelle im öffentlichen Verkehr, keine Rosinenpickerei, keine Kannibalisierung von Verkehrsarten, kein Wildwest zwischen Anbietern. Wir wollen klare Regeln für den Umgang mit Beschäftigten. Geschäftsmodelle, die auf der Ausbeutung von Mitarbeitern basieren, wird es mit uns nicht geben.
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Wir wollen klare Steuerungsmöglichkeiten für die Kommunen; denn Städte und Landkreise wissen am besten, welche Verkehre sie in ihren Gebieten brauchen und wie diese organisiert werden müssen. Das PBefG kann hier nur einen Rahmen geben, aber es muss eben passen – sowohl im Landkreis Marburg als auch in Passau, in Berlin wie in Gütersloh, in Chemnitz und in der Uckermark. – So viel zu den Grundsätzen.
Was wir erreicht haben, kann sich sehen lassen. Wir schaffen die Grundlage für nachfragegesteuerte Verkehre innerhalb des ÖPNV, die sogenannten Linienbedarfsverkehre. Wir schaffen eine rechtssichere Grundlage für die privaten Pooling-Angebote, die die Fahrtwünsche ihrer Kunden bündeln und damit Mobilität, gerade im Innenstadtbereich, effizienter machen.
Im Mietwagenmarkt wird es Neuerungen geben. Hier schaffen wir die Möglichkeit, Dumpingpreise zu verhindern, indem Mindestpreise festgeschrieben werden.
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Wir behalten die Rückkehrpflicht für Mietwagen bei, von der nur in großen Flächenkommunen abgewichen werden kann, wenn sie es denn wollen. Wir wollen eben nicht noch mehr Fahrzeuge in unseren Städten, die im Fahrgastsuchverkehr um die Innenstadt kreisen.
Die meines Erachtens wichtigste Änderung im Bereich der neuen Mobilität ist, dass wir Mobilitätsplattformen genehmigungspflichtig stellen, nämlich dann, wenn sie für die Erbringung der Verkehre organisatorisch verantwortlich sind. Denn es kann nicht sein, dass Techkonzerne mit der Vermittlung von Mobilität Geld verdienen, sich aber dann einen schlanken Fuß machen, wenn es um die lokalen Auswirkungen der erbrachten Verkehre geht.
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Im Taximarkt wird es neue Regeln und regulatorische Entlastungen geben. So ermöglichen wir Taxitarifkorridore und Festpreise, beispielsweise – der Minister hat es angesprochen – für oft nachgefragte Routen wie Bahnhof–Krankenhaus oder Flughafen–Innenstadt im Bestellmarkt. Wir planen, die in Zeiten von Navigationsgeräten nicht mehr zeitgemäße Ortskundeprüfung für Taxifahrer durch den „Kleinen Fachkundenachweis“ zu ersetzen. Außerdem verdeutlichen wir die Möglichkeit zur Finanzierung von Taxiverkehren in unterversorgten Gebieten durch die öffentliche Hand.
Doch auch hier, meine Damen und Herren, gilt das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt das Parlament so, wie es eingebracht wurde. – Es gibt Änderungsbedarf. Wir werden beispielsweise weiter über die Frage der Festlegung von Sozialstandards verhandeln, sowohl im ÖPNV als auch im Mietwagenmarkt.
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Wir wollen, dass die fachlichen Anforderungen an Taxifahrer auch im Mietwagen- und Pooling-Markt gelten. Wir werden uns einigen müssen über weitere kommunale Steuerungsmöglichkeiten bei Mietwagen- und Pooling-Verkehren im Hinblick auf Emissionsfreiheit, Barrierefreiheit und die Verknüpfung mit anderen Verkehrsarten. Und ja, wir werden auch darüber reden müssen: über Sanktionen und über klare Bußgeldbewehrung bei Regelungsverstößen.
Das nun anstehende parlamentarische Verfahren, meine Damen und Herren, wird uns hierzu die Möglichkeit geben. Ich glaube, wir tun gut daran, hier auch die Stimmen der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zu hören; denn in den Ländern und Kommunen muss das Personenbeförderungsgesetz schlussendlich seine Tauglichkeit beweisen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort geht an Daniela Kluckert von der FDP-Fraktion.
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Meine sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Minister Scheuer wird normalerweise von uns hier immer scharf kritisiert. Dieses Mal, bei dieser Reform, ist es aber nicht seine Schuld, dass da nichts rausgekommen ist und dass das Ergebnis völlig ungenügend ist;
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vielleicht aber doch, weil das Mautdesaster, die Bahnfehler, die Autobahngesellschaft und all das ihn so geschwächt haben, dass er sich nicht mehr durchsetzen kann.
Zu Beginn waren unsere Ziele eigentlich gleich: diesen Markt vom Nutzer her denken; Digitalisierung da nutzen, wo wir wirklich Spitze sind in der Mobilität – unkompliziert, komfortabel und auch zu Marktpreisen –; dazu nationalen und europäischen Start-ups eine echte Chance bieten, hier in Deutschland einen Heimatmarkt zu entwickeln; bessere, klimaschonende Mobilität für das ganze Land.
Für diese Ziele hat sich Minister Scheuer dann ausbuhen lassen. Ich muss sagen: Ich hätte mich danebengestellt, zum einen aus Solidarität, zum anderen für den Fortschritt unseres Landes. Leider ist es dann am Ende doch anders gekommen. Kompromisse über Kompromisse lassen keine Reform mehr erkennen. Eigentlich ändert sich nicht viel. Neue, innovative Mobilität bleibt entweder verboten oder dem ÖPNV vorbehalten. Der darf, was Private nicht dürfen, und das auch noch zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Das ist völlig unverständlich.
Der Taximarkt bleibt weiterhin streng reguliert, und das in einer Zeit – die Kollegen haben es schon gesagt –, in der in dem einen Teil von Deutschland mangels Nachfrage überhaupt keine Taxis mehr zu bekommen sind; in dem anderen Teil von Deutschland gebe es einen funktionieren Markt, und das – Achtung, jetzt mal Turbokapitalismus hier! – auch zu marktgerechten Preisen und zu marktgerechten Angeboten.
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Dumpinglöhne, meine Damen und Herren, und auch alles andere rund um sittenwidrige Arbeitsverhältnisse sind in Deutschland schon verboten. Uber wird mit diesem Gesetz übrigens nicht verhindert; es kommt nur auf einem anderen Weg. Verhindert wird aber, dass die Menschen in Deutschland eine echte bessere Mobilität bekommen und Unternehmen aus Deutschland und Europa sich auch hier bei uns entwickeln können.
Schuld daran ist eine wirklich unheilige Allianz aus Grünen, SPD und Union. Erstere sind – man muss es wirklich sagen – in den Städten gegen alles, was komfortabler ist als das eigene Fahrrad oder der Bus.
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Die SPD hält an ihren Funktionären in Aufsichtsratsposten in ÖPNV-Betrieben und an allem Alten fest,
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und die Wahlkreisabgeordneten der Union bekommen schon einen Schrecken, wenn einmal ein Brief von einem Taxiunternehmen kommt. Das ist alles sehr, sehr schade für unsere Mobilität in diesem wirklich wichtigen Bereich.
Doch es gibt auch Hoffnung, so wie es immer Hoffnung gibt. In diesem Jahr haben wir Bundestagswahl, und wer Innovation möchte, wer bessere Angebote will, wer global agierende nationale und europäische Unternehmen will, die auch digital stark aufgestellt werden, der kann, ja der muss in diesem Fall FDP wählen.
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Ich kann das nur empfehlen.
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Vielen Dank. – Wir hören jetzt Andreas Wagner von der Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wer auf dem Land wohnt, kennt das: Das Angebot des ÖPNV ist meist dürftig, oder es gibt schlichtweg keine Busverbindung. Nicht überall und nicht zu jeder Tageszeit macht es Sinn, einen großen und spärlich besetzten Bus durch die Landschaft zu schicken.
Gleichzeitig steht außer Frage, dass das Angebot des ÖPNV in ländlichen Regionen deutlich verbessert werden muss. Mit der Änderung des Personenbeförderungsgesetzes soll jetzt die Möglichkeit geschaffen werden, einen sogenannten Linienbedarfsverkehr als Teil des ÖPNV einzuführen und ökologische und soziale Standards vorzugeben. Das begrüßen wir.
In Großstädten ist die Situation eine andere. Hier gibt es ein deutlich besseres Angebot mit S-, U- und Straßenbahnen sowie Bussen. Trotzdem ist im Berufsverkehr der ÖPNV regelmäßig überfüllt, und auf den Straßen stauen sich die Autos. Statt das Angebot des ÖPNV auszubauen und den Autoverkehr zu reduzieren, will die Bundesregierung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass mit App-basiertem Mietwagenverkehr noch mehr Autos die Innenstädte fluten. Diese benötigen weiteren Parkraum und verstopfen die Straßen zusätzlich. Das ist weder sinnvoll noch ökologisch, und wir lehnen es daher ab.
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Mietwagenanbieter sind eine direkte Konkurrenz für das ohnehin durch die Coronakrise stark getroffene Taxigewerbe und gefährden zusätzlich dessen Existenz. Bereits heute stehen Taxiunternehmen unter massivem wirtschaftlichem Druck. Prekäre Entlohnung und prekäre Arbeitsbedingungen breiten sich immer weiter aus; doch soziale Standards für die Beschäftigten im Mietwagenverkehr sieht der Gesetzentwurf nicht vor. Damit ist weiteres Lohndumping vorprogrammiert. Hier muss dringend nachgebessert werden.
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Die Anbieter privater Mobilitätsdienste betreiben schon heute Rosinenpickerei auf gut nachgefragten Strecken, während die Taxiunternehmen im Gegensatz dazu einer Beförderungspflicht und Preisbindung unterliegen. Wir befürchten: Die Taxiunternehmen und ihre Beschäftigten werden die großen Verlierer sein, wenn der Gesetzentwurf so beschlossen wird. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher werden das Nachsehen haben, wenn Uber und Co. das Taxi erst mal verdrängt haben. Daran kann niemand ein Interesse haben.
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Der Mietwagenverkehr muss wirksam reguliert und kontrolliert werden. Wir fordern daher unter anderem, die Rückkehrpflicht für Mietwagenverkehre ohne jede Ausnahme beizubehalten und taxiähnliche Verkehre zu unterbinden, für Mietwagen eine Vorbestellfrist von mindestens 30 Minuten vorzusehen und soziale Standards im Mietwagengewerbe festzuschreiben.
Unser Ziel ist und bleibt ein unschlagbar günstiger, sicherer und attraktiver ÖPNV. Statt freier Fahrt für Uber und Co. Taxigewerbe schützen und den ÖPNV ausbauen!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht gleich an Stefan Gelbhaar von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sollen Bus und Bahn künftig neue Konkurrenz bekommen? Wird es das Taxigewerbe noch geben? Sind Weltkonzerne künftig die beherrschenden Mobilitätsanbieter? Werden unsere Kommunen den Verkehr überhaupt noch steuern können? Das sind vier – zugegeben – zugespitzte Fragen, die an das neue Personenbeförderungsgesetz gestellt werden – vier von vielen. Die Beschäftigten, etwa im Taxigewerbe, betrachten mit Sorge und, ja, mit Argwohn die Entwicklungen – ich sage: zu Recht –, meine Damen und Herren.
Verkehrsminister Scheuer stellte vor langer Zeit ein erstes Eckpunktepapier vor. Die Absicht war klar: die völlige Liberalisierung. Taxiunternehmen mit der Pflicht zur Beförderung, mit Tarifpflicht, mit Fachkundenachweis sollten konkurrieren, und zwar mit Mietwagenunternehmen ohne all diese Pflichten. Das war völlig absurd. Tausende Taxifahrerinnen und Taxifahrer protestierten wütend, und zwar mit Recht, meine Damen und Herren.
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Der Verkehrsminister wusste nicht weiter, also gründete er einen Arbeitskreis. In der sogenannten Findungskommission wurde ein neues Eckpunktepapier mit den Bundesländern und mehreren Fraktionen verhandelt. In dem fanden sich einige innovative Punkte, wie das Pooling mit Kleinbussen oder auch die Zusage von Antidumpingregeln. Das wäre ein notwendiges, ein ausgewogenes Update. Dafür haben wir gearbeitet. Deswegen haben wir als Bündnisgrüne dann auch die positiven Punkte öffentlich benannt. Ein Erfolg war greifbar.
Jetzt hat die Koalition allerdings diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich sage Ihnen: Der Entwurf entspricht nicht den vereinbarten Eckpunkten. Er taugt so nicht.
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Umweltverträglichkeit, Verkehrseffizienz – im Entwurf sind das nur Worthülsen. Kontrollierbare Sozialstandards sucht man vergebens. Von den Rechten der Beschäftigten bei den Busunternehmen ist keine Rede mehr. Und es geht noch weiter. Im Bereich des Mietwagengewerbes wollen Sie die ausbeuterische Praxis der Plattformunternehmen erlauben, sie legitimieren. Wozu brauchen wir das? Die versprochenen und funktionierenden Antidumpingregeln – Mehrzahl! – sind nicht zu finden. So ist das eine Ohrfeige ins Gesicht derer, die jeden Tag unsere Mobilität ermöglichen.
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Für die Fahrgäste: riesige Lücken. Stichwort „Barrierefreiheit“ – beginnend bei den Apps –; kein Wort dazu zu finden. Oder: Warum sollen die Sicherheitsstandards bei Mietwagen eigentlich geringer sein als bei Taxis? Gemeint ist zum Beispiel der Fachkundenachweis. Das versteht keiner. Das muss nachgearbeitet werden.
Herr Scheuer, diese Mogelpackung bekommen Sie hier nicht als Erfolg verkauft. Das ist ganz klar. Daher: Lassen Sie uns die Anhörung und die Beratungen nutzen und diesen Gesetzentwurf vom Kopf auf die Füße stellen! Sonst – das sage ich Ihnen voraus – wird diese Reform scheitern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das Wort Michael Donth von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der öffentliche Personennahverkehr bewegt in Deutschland jeden Tag Millionen Menschen, derzeit natürlich eingeschränkt. Aber auch gerade in der Zeit der Pandemie ist der ÖPNV das Rückgrat der Mobilität; mein Kollege Detlef Müller hat es auch schon so formuliert. Die zahlreichen Anbieter und ihre Mitarbeiter sorgen täglich mit viel Durchhaltevermögen und kreativen Lösungen dafür, dass jeder auch zur Arbeit oder zum Einkaufen kommt. Dafür möchte ich zunächst einmal ganz herzlich Danke sagen.
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Danken möchte ich auch unserem Verkehrsminister. Es ist bereits angesprochen worden, aber ich möchte es nochmals klar hervorheben: Ohne Andreas Scheuer und seine Erfahrung als Verkehrspolitiker hätte es keine Findungskommission, kein Eckpunktepapier als Konsens von Bund und Ländern und damit auch diesen Gesetzentwurf nicht gegeben.
Für diesen Konsens, der die Basis dieses Gesetzentwurfs ist, haben auch wir in der Union Abstriche gemacht. Der Erhalt eigenwirtschaftlicher Verkehre, auf die zahlreiche mittelständische Busunternehmen und deren Mitarbeiter angewiesen sind, ist für die Zukunft des ÖPNV essenziell. Wir hätten in dem Bereich für die Stärkung der Branche gerne mehr getan, haben das Thema aber nach langen und harten Verhandlungen und weil auch kein Konsens innerhalb der Branche, der Beteiligten, zu finden war, ausgeklammert.
Wir haben uns dennoch zugunsten dieses Kompromisses entschieden, weil wir die klimafreundliche Mobilität in unserem Land noch in dieser Legislatur voranbringen wollen. Wir wollen sie modernisieren und digitalisieren. Digitale Vermittlungsdienste, On-Demand-Verkehre ohne festen Linienweg, bald vielleicht auch autonom fahrende Busse: Vieles davon ist heute schon möglich oder rückt dank der Innovationspolitik des Verkehrsministeriums in greifbare Nähe.
Während aber in Großstädten wie Berlin oder Hamburg viele ÖPNV-Nutzer diese Angebote bereits kennen und es einen Markt mit vielen Mitbewerbern gibt, haben wir in ländlichen Gebieten, wie bei mir auf der Schwäbischen Alb im Kreis Reutlingen, den Bus zu Schulzeiten, vielleicht noch einen Rufbus bei Nacht und mit ganz viel Glück einen Mietwagen auf Vorbestellung. Da kann man als Familie nicht auf mindestens ein Auto und das „Taxi Mama“ oder das „Taxi Papa“ verzichten. Und genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir ändern.
Mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir mehr Flexibilität für die Gestaltung des öffentlichen Verkehrs. Wir geben Ländern, Landkreisen, Kommunen die Leitplanken vor, innerhalb derer sie mit einer ganzen Palette von Gestaltungsmöglichkeiten eigene passende Verkehrskonzepte umsetzen können, so wie es eben vor Ort sinnvoll ist.
Ich möchte nochmals betonen, dass es uns um ein gutes Miteinander geht von Linienverkehren, Taxi, Mietwagen und auch den neuen Pooling-Anbietern. Daher erweitern wir die Palette, um die Einhaltung der geltenden und der neuen Regeln konsequent kontrollieren zu können. Die Rückkehrpflicht, ein Begriff mit hohem Symbolwert, als starkes Abgrenzungskriterium bleibt erhalten und kann künftig digital vom Schreibtisch aus überprüft werden und durch die neue Kennzeichnungspflicht der Mietwagen auch analog auf der Straße. Eine überfällige und deutliche Verbesserung des Status quo!
Das Eckpunktepapier der Findungskommission bildet auch die Grundlage für die weitere Arbeit an diesem Gesetz. Es ist ein sehr guter Kompromiss, an dem Vertreter – das wurde schon gesagt – von uns Koalitionsfraktionen, der FDP und der Grünen aus dem Bundestag und aus dem Bundesrat mitgewirkt haben. Lassen Sie uns den guten Weg dieser Einigung im parlamentarischen Verfahren gemeinsam weitergehen! Nur wenn wir an diesem austarierten Kompromiss im Verfahren festhalten – das sage ich auch den lieben Koalitionsfreunden –, werden wir am Ende auch ein konsensfähiges Gesetz vorlegen können. Anderenfalls gefährden wir nicht weniger als die Zukunft des ÖPNV bei uns im Land. Wir sind es gerade den Dienstleistern schuldig, die bisher erfolgreich im Rahmen der sogenannten Experimentierklausel agieren, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess schnell zu einem guten Ende bringen. Darum möchte ich Sie alle hier bitten und freue mich auf die weiteren Beratungen.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! FFP2-Masken bieten neben einem Fremdschutz auch einen wirksamen Eigenschutz, und deswegen müssen sie allen Menschen zugänglich sein. Der bestmögliche Schutz vor einer Covid-19-Infektion darf nicht vom Geldbeutel abhängen!
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Es ist Aufgabe der Bundesregierung, sicherzustellen, dass die Masken in einem ausreichenden Maß zur Verfügung stehen, und zwar zu bezahlbaren Preisen. Aktuell erleben wir die 100. Auflage von „Der Markt regelt es nicht“. Als in Bayern die Pflicht für diese Masken ausgesprochen wurde, schnellten sofort die Preise in die Höhe. Eines ist klar: Menschen mit geringem Einkommen dürfen keine Nachteile beim Gesundheitsschutz haben.
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Wir wollen drei Dinge regeln:
Erstens. Das Infektionsschutzgesetz wird ja genutzt, um über Verordnungen den Menschen Vorschriften zu machen, bis weit ins Privatleben hinein. Wenn es aber darum geht, regulierend in die Wirtschaft einzugreifen, dann ist plötzlich Schweigen im Walde: die Möglichkeit, die Patente beim Impfstoff freizugeben, um mehr zu produzieren – Schweigen; die Möglichkeit, bei den FFP2-Masken Regelungen zum Vertrieb, zur Abgabe und zur Preisbildung zu erlassen – Schweigen. Warum macht Herr Spahn an dieser Stelle vom Infektionsschutzgesetz keinen Gebrauch?
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Die Linke fordert den Gesundheitsminister auf, die Masken zentral zu beschaffen und die Preise staatlich zu regulieren.
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Der zweite Punkt. Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, also auch solche mit einer kleinen Rente oder mit einem geringen Einkommen, müssen jetzt endlich einen Pandemiezuschlag von 100 Euro erhalten.
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Was die Bundesregierung hier macht bzw. seit einem Jahr nicht macht, ist ein sozialpolitischer Offenbarungseid. Sie stellt der Lufthansa, ohne mit der Wimper zu zucken, 9 Milliarden Euro zur Verfügung, aber für die Ärmsten in dieser Gesellschaft hat sie nichts, rein gar nichts übrig. Das ist wirklich skandalös,
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genauso skandalös wie die Aussage der Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die meinte: Na ja, die Betroffenen müssen eben in anderen Bereichen sparen, um sich die Masken und Desinfektionsmittel leisten zu können.
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Das ist zynisch, meine Damen und Herren.
Schön, dass jetzt wenigstens zehn Masken zur Verfügung gestellt werden sollen. Aber erstens hoffe ich: Das endet nicht in einem ähnlichen Chaos wie aktuell bei den Risikogruppen, wo 5-jährige Kinder einen Gutschein für eine FFP2-Maske bekommen, aber meine 80-jährige Nachbarin diesen Gutschein nach wie vor nicht bekommen hat. Und zweitens ändert es auch nichts an der Forderung; denn die Menschen im Hartz-IV-Bezug leiden jetzt seit einem Jahr an finanziellen Mehrbelastungen. Dieser Pandemiezuschlag von 100 Euro soll auf einen ehrlich gerechneten Regelsatz von 658 Euro bezahlt werden. Mit dieser Forderung befindet sich die Linke in guter Gesellschaft von 36 Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und weiteren Organisationen. Das muss die Bundesregierung jetzt endlich aufgreifen.
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Nun zum dritten Punkt. Ganz ehrlich, dabei kriege ich als langjährige Betriebsrätin wirklich hohen Blutdruck. Die Bundesregierung duckt sich einmal mehr vor den Arbeitgebern weg. Die Tinte der neuen Arbeitsschutzverordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Covid-19 war noch nicht trocken, da gab es vom Kabinett schon die Rolle zurück, weil es Gegenwind aus dem Arbeitgeberlager gab. Die Regelungen seien bürokratischer Aktionismus, hieß es da. Das ist das übliche Totschlagargument, das wir kennen, wenn es um Arbeitnehmerschutz geht.
Die Mehrheit der Beschäftigten kann nicht ins Homeoffice, und darum war es richtig, dass ursprünglich angedacht war, dass die Arbeitgeber ihren Beschäftigten, die in Präsenz sind, FFP2-Masken zur Verfügung stellen müssen. Das ist jetzt durch mehrere Einschränkungen so verwässert worden, dass es letztlich dem Gusto des Arbeitgebers überlassen bleibt, ob er diese Masken zur Verfügung stellt oder nicht. In Bayern bekommt man ein saftiges Bußgeld, wenn man ohne FFP2-Maske einkaufen geht, aber Arbeitgeber können ihren Beschäftigten die Masken vorenthalten.
Man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Das ganze Land kämpft mit einer Pandemie. Alle sind zur Solidarität aufgerufen. Bund und Länder regieren bis in die Wohnzimmer der Menschen hinein. Und in dem Bereich, in dem sich die Menschen am häufigsten begegnen, am Arbeitsplatz, da gibt es eine Wischiwaschi-Regelung? Das ist absurd, meine Damen und Herren!
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Als langjährige Betriebsrätin sage ich Ihnen: Arbeitsschutz ist Arbeitgeberpflicht, auch und gerade in einer Pandemie. Die Linke sagt deswegen: Die Arbeitgeber haben ohne Wenn und Aber diese Masken den Beschäftigten am Arbeitsplatz und auf dem Weg dahin zur Verfügung zu stellen.
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Abschließend sage ich an die Adresse der Bundesregierung: Die Gesellschaft ist erschöpft, und die Geduld der Menschen ist endlich. Deshalb, erstens: Starke Schultern können mehr tragen. Sorgen Sie dafür, dass die Lasten der Krise endlich solidarisch verteilt werden.
Zweitens. Zwingen Sie auch die Arbeitgeber in die Pflicht. Wälzen Sie die Verantwortung nicht länger nur auf die Einzelnen ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Das Wort geht an Dr. Georg Kippels von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht eine Sitzungswoche zu Ende, in der in einem Debattenmarathon unter der großen Überschrift „Coronapandemie und ihre Folgen“ vor allen Dingen die Wege zu den Lösungen diskutiert worden sind. Neun Einzeldebatten, 435 Minuten, dürften zunächst mal den Vorwurf entkräftet haben, dass wir uns als Parlament mit dieser wichtigen Frage nicht unmittelbar und verantwortlich beschäftigen.
Aber bekanntlich ist Quantität nicht unbedingt Qualität, und bei manchen Anträgen muss man leider das Gefühl bekommen, dass sie in erster Linie zur Verbesserung der Antragsstatistik und zur Steigerung des Erfolgs bei der Suchwortsuche dienen und weniger dazu, wirklich die Lösungen für die drängenden Fragen der Pandemie herauszuarbeiten.
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Der Antrag der Linken muss sich diesen Vorwurf auch trotz dieses Einwurfs gefallen lassen. Und da haben wir eigentlich auch schon ein Problem mit der Quantität und kommen erst später zur Qualität: Lässt man mal die Überschrift und die Unterschrift weg, haben wir es immerhin mit einer halben Seite von Ausführungen zu tun. Die Ausführungen sind teilweise offensichtlich jetzt in Ihrem Vortrag, Frau Kollegin, massiv nachgearbeitet worden, weil der Antrag schlicht und ergreifend überholt ist.
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Trotzdem möchte ich mir die Mühe machen, mich mit den einzelnen Forderungen, die da schlagwortartig aufgestellt worden sind, auseinanderzusetzen.
Zentrale Beschaffung und Deckelung der Abgabepreise: Im letzten Jahr war es vollkommen zutreffend, dass wir aufgrund des Zusammenbruchs der Markt-, Produktions- und Logistiksysteme vonseiten der Regierung und seitens Deutschlands eingreifen mussten, die Beschaffung organisieren und vor allen Dingen auch unter Einsatz erheblicher wirtschaftlicher Mittel dafür Sorge tragen mussten, dass sowohl die Privatkunden als auch insbesondere der fachliche Bereich – Ärzteschaft, Krankenhäuser und die Senioreneinrichtungen – in ausreichendem Maße mit persönlicher Schutzausrüstung versorgt werden konnten. Die ungesunde Preisentwicklung zum damaligen Zeitpunkt hat ihr Eigenes dazu beigetragen.
In der Zwischenzeit zeigt der Blick ins Internet, dass die Marktsysteme durchaus – entgegen Ihrer Darstellung – wieder funktionieren. Wir haben auch durch die erste Schutzmasken-Verordnung vom 14. Dezember 2020 dafür Sorge getragen, dass die über 60-Jährigen bzw. die Risikopersonen mit zunächst einmal drei Masken und im weiteren Verlauf jetzt über die Gutscheine mit weiteren Masken versorgt werden. Eine signifikante Gruppe von über 35 Millionen Bürgerinnen und Bürgern wird daher unmittelbar in den Genuss der Versorgung mit Masken kommen.
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Auch die Preislage stellt sich als entspannt dar – entgegen Ihrer Darstellung, Frau Kollegin. Im Schnitt – das zeigt der Blick ins Internet – liegt der Preis einer FFP2-Maske unter 2 Euro.
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Und bei OP-Masken liegt er bei circa 10 Cent. Für einen radikalen Markteingriff in der Dimension, wie Sie ihn beschrieben haben, besteht nun beileibe keine Veranlassung. Spannend finde ich in diesem Zusammenhang, dass bei dem immer wieder beanspruchten Grundrechtsschutz aus Ihrer Sicht offensichtlich Artikel 12 und Artikel 14 Grundgesetz, Berufsfreiheit und Eigentum, jedenfalls bei Unternehmen überhaupt keine Rolle spielen und keinen Schutz verdienen. Deshalb mein Fazit zu Punkt 1: an der Realität und an den Bedürfnissen vorbei.
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Punkt 2: kostenfreie Masken für Arbeitnehmer. Tja, seit dem 21. Januar 2021 gilt die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung, in der genau das angeordnet wird. Sie versuchen in Ihren Ausführungen nachvollziehbarerweise, jetzt diese ausgiebige Regelung zu entkräften bzw. sie als bürokratisch zu beschreiben; aber Sie verkennen offensichtlich vollkommen, dass es das ureigene Interesse eines Unternehmers gerade in den persönlich geprägten mittelständischen Unternehmen ist, dass die Gesundheit der Mitarbeiter und damit des ganzen Teams und damit die Produktivität des Unternehmens gewährleistet sind.
Kollege Kippels, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Ferschl?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege Kippels, dass Sie die Frage zulassen. Ist Ihnen bekannt, dass die Arbeitsschutzverordnung, von der Sie gerade sprechen, die das alles regelt, praktisch über Nacht geändert worden ist, dass die ursprüngliche Regelung einige Dinge enthalten hat, die am nächsten Morgen gar nicht mehr drin waren? Zum Beispiel war enthalten, dass es sich verpflichtend um FFP2-Masken handeln muss, wohingegen jetzt auch andere Masken möglich sind und jetzt auch andere Schutzmaßnahmen möglich sind, zum Beispiel Lüften oder Abtrennungen, obwohl wir wissen, dass Abtrennungen in geschlossenen Räumen rein gar nichts bringen. Es bleibt also letztendlich der Entscheidungsbefugnis des Arbeitgebers überlassen. Und ist Ihnen auch bewusst, dass der ganze Bereich des Bußgeldkataloges rausgeflogen ist, sodass letztendlich die Sanktionierung extrem schwierig ist und hiermit ein zahnloser Papiertiger geschaffen worden ist? Mich würde interessieren, was Sie denn dazu sagen.
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Frau Kollegin Ferschl, dazu sage ich sehr gerne etwas. Die gesamte Arbeitsschutzverordnung steht eben unter der Gesamtbetrachtung des Arbeitsplatzes. Dabei stellt die Anwendung der Maske sicherlich eine der existenziellen Maßnahmen dar. Aber es lassen bestimmte Büro- oder Produktionssituationen auch andere effektive und nachgewiesenermaßen nützliche Vorsorgemaßnahmen zu.
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Es ergibt sich jeweils aus einer sinnvollen Einzelfallbetrachtung, dort den bestmöglichen Schutz zu nutzen, weil ja auch – das wissen wir alle – das Tragen der Maske von einzelnen Personen nicht immer als besonders angenehm empfunden wird.
Im Übrigen verweise ich darauf, dass in der Schutzverordnung auch ausdrücklich angeordnet ist, dass die Mitarbeiter die Maske, wenn sie dann überreicht wird, auch tragen müssen.
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Insofern bin ich der Meinung, dass die Schutzverordnung den Bedürfnissen der Mitarbeiter Rechnung trägt.
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Fazit zu Punkt 2: Aus unserer Sicht erledigt.
Forderung 3: Zulage für die Grundsicherungsempfänger. Es ist bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, dass Sie bei außergewöhnlichen Ereignissen immer so Grundsatzpositionen aus dem Hut zaubern und die dann als Lösungsansatz für diese schwierigen Lagen anwenden wollen.
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Ich hatte eben schon auf die Preissituation der FFP2-Masken verwiesen. Aber ich verweise auch ausdrücklich darauf, dass ein Zuschlag von 100 Euro in Ansehung der jetzt geltenden Sätze eine Erhöhung um über 20 Prozent bedeuten würde, was ich als unverhältnismäßig erachte, selbst wenn – dazu komme ich jetzt noch – man einen Bedarf anerkennen würde.
Die Bundesregierung hat diesen Bedarf jetzt mit ihrer neuesten Regelung in der Tat erkannt und eine entsprechende Regelung umgesetzt. Die Abgabe von zunächst zehn Masken ist in Ansehung der nachgewiesenen Möglichkeiten der Gebrauchsverlängerung bzw. der Zeit, in der sie angewendet werden, der richtige Weg; das ist eine ausreichende Menge.
Eins bin ich durchaus auch bereit hier an dieser Stelle festzustellen: Mit der Sachleistung der Masken durch die Apotheken wird wirklich dem Zweck Rechnung getragen, den Infektionsschutz in dieser Zeit auch für Menschen mit geringeren Einkommenssituationen zu gewährleisten. Dass Behinderteneinrichtungen und auch die Obdachlosenhilfe in der Zuwendung berücksichtigt worden sind, zeigt, dass die Zielrichtung richtig ist. Der Gesamtbedarf im Hinblick auf die Coronapandemie wird auch nicht durch die Situation der Kinder zusätzlich belastet, weil auch hier der Heimunterricht, der Digitalunterricht berücksichtigt ist.
Fazit für alle drei Antragsforderungen: überholt, erledigt, überflüssig,
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systemfremd oder jedenfalls unverhältnismäßig.
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Deshalb müssen wir diesen Antrag trotz seiner „In der Kürze liegt die Würze“-Aufmachung ablehnen.
Vielen herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuschauer! Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke zur Sofortabstimmung zeugt wieder einmal von Unverständnis unserer Kolleginnen und Kollegen der Linken von unserer Staatsform. Offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt, legen die Linken einen Antrag vor, der sich reichlich aus dem Do-it-yourself-Baukasten „Sozialismus für Anfänger – Staatsformen selbstgebastelt“ zusammensetzt.
Herr Söder hat sich zum Glück mit seinen verschärften bayerischen Vorgaben zum verpflichtenden Tragen einer FFP2-Maske im öffentlichen Personennahverkehr und in Supermärkten in der Ministerpräsidentenrunde nicht durchsetzen können, sodass unserer Bevölkerung nicht nur eine erhebliche finanzielle Belastung erspart geblieben ist, sondern auch unter Umständen erhebliche Gesundheitsschäden bei unsachgemäßer Verwendung der FFP2-Masken wie zum Beispiel zu lange Tragezeiten.
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Werte Kollegen, das betrifft auch die unter Ihnen, die FFP2-Masken tragen. Die maximale Tragedauer für FFP2-Masken ohne Ausatemventil beträgt 75 Minuten, und anschließend braucht man 30 Minuten Ruhezeit.
Nichtsdestotrotz bieten FFP2-Masken, richtig angewendet, gerade für Risikogruppen und bestimmte Berufszweige einen optimalen Schutz. Aus diesem Grund ist es nachvollziehbar und absolut richtig, zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen Bewohner und Personal entsprechend auszustatten wie ebenso im medizinischen Bereich.
Die schlechten Erfahrungen zu Beginn der Pandemie im letzten Frühjahr haben gezeigt – und das ist wichtig zu sagen –, dass sich Deutschland bei der Beschaffung von FFP2-Masken nicht auf fernöstliche Produktions- und Lieferketten verlassen kann und zukünftig auch nicht darf.
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Eine staatlich geförderte Produktion solcher Schutzmasken sowie auch anderer Schutzkleidung in unserem Heimatland ist im Sinne unserer Bevölkerung zu begrüßen. Es darf sich dabei aber nicht um bloße Absichtsbekundungen handeln, sondern antragstellende Unternehmen sollten die Leistungen auch tatsächlich bekommen. Mir sind da leider andere Entscheidungen bekannt, Herr Spahn.
Wenn jedoch Die Linke jetzt eine staatliche Zentralbeschaffung inklusive staatlich verordnetem Preisdeckel fordert,
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mag es sich zwar um ein hehres Ziel handeln, offenbart sich aber in der Umsetzung als staatlich organisierte Wettbewerbsverzerrung und Planwirtschaft, die in einer sozialen Marktwirtschaft, mit Verlaub gesagt, nichts zu suchen hat.
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Im zweiten Punkt ihres Antrages beschäftigen sich die Linken mit einem ihrer Lieblingsthemen: Wie kann ich den Arbeitgebern Knüppel zwischen die Beine werfen? Allen Mitarbeitern, deren Präsenz am Arbeitsplatz unumgänglich ist, soll der Arbeitgeber FFP2-Masken kostenlos zur Verfügung stellen, ob zweckmäßig oder nicht.
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Wie Sie richtigerweise in Ihrem Antrag schreiben, ist „das Tragen einer FFP2-Maske … epidemiologisch dann sinnvoll, wenn Abstandsregeln nicht durchgehend eingehalten werden können“. Ich erweitere Ihre Aussage um: „ist das Tragen einer FFP2-Maske für einige Berufsgruppen sogar zwingend notwendig“.
Allerdings verallgemeinern Sie wieder einmal alle Branchen und Tätigkeitsbereiche, ohne eine nötige Differenzierung vorzunehmen. Diese staatliche Regulierungswut werden wir nicht unterstützen.
Mit dem dritten und letzten Punkt Ihres Antrages schießen Sie wirklich den sogenannten Vogel ab. Nach dem Omnibus-Prinzip verpacken Sie eine Regelbedarfserhöhung für Leistungsbezieher in den Grundsicherungssystemen in einen Antrag zur Sicherstellung des Zugangs zu FFP2-Masken für die Bevölkerung.
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Meine Damen und Herren der Linken, wir alle wissen, dass Ihnen das Prinzip „Arbeit muss sich wieder lohnen“ nichts bedeutet. Eine Regelbedarfserhöhung von den erst kürzlich beschlossenen 446 Euro auf 658 Euro anzustreben – das sind 212 Euro pro Person mehr –, ist eine Zumutung für den deutschen Steuerzahler und für die Menschen, die arbeiten gehen; denn mit diesem Plan führen Sie das Lohnabstandsgebot ad absurdum.
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Bei aktuell 3,8 Millionen Hartz-IV-Empfängern im Alter über 15 Jahren summiert sich Ihr utopisches Ansinnen auf über 805 Millionen Euro Mehrkosten für den Steuerzahler allein im Bereich SGB II jährlich. Da Sie ja alle Leistungsempfänger in den Grundsicherungssystemen im Auge haben – also SGB II, SGB XII sowie Asylbewerberleistungsgesetz –, wird ihr geschickt verpackter Vorstoß, den Regelbedarf unter dem Deckmantel der Coronakrise zu erhöhen, eine gewaltige explosionsartige Belastung des Staatshaushaltes zur Folge haben.
Eine pauschale Sonderzahlung von 100 Euro für Mehrkostenaufwand durch Masken und Desinfektionsmittel für Grundsicherungsempfänger steht ebenfalls seit Anbeginn der Coronakrise auf unserer Agenda, und das gilt nicht nur für die, sondern auch für Menschen mit Schwerbehinderung und obdachlose Menschen. Es freut mich, dass Sie sich hier wieder einmal aus unserem Fundus bedient haben.
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Denn so schlecht können unsere Anträge ja gar nicht sein, wenn Die Linke auf der einen Seite unsere Anträge aus dem letzten Jahr kategorisch ablehnt, im Nachgang aber als eigene neue Idee hier im Plenum verkauft.
Daher lehnen wir Ihren Antrag in der vorliegenden Form ab; denn Ihre Forderungen gehen in dieser Form nicht nur am Thema vorbei,
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sie stellen sogar aufgrund des Gießkannenprinzips eine ganz starke Belastung für unsere Steuerzahler dar.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona verbreitet sich durch den Kontakt zwischen Menschen. Das wichtigste und effizienteste Instrument, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, ist daher die konsequente Kontaktreduzierung. Das trifft uns alle hart, ist aber nach wie vor unerlässlich. Klar ist aber auch, dass sich Kontakte in unserem Leben nicht vollends vermeiden lassen. Wir haben sie beim Einkaufen, im Bus auf dem Weg zur Arbeit, beim Arzt, am Arbeitsplatz oder auch in stationären Einrichtungen. Das Tragen von medizinischen Masken ist daher unser alltagstauglichstes Instrument gegen das Coronavirus.
Medizinische Masken schützen uns selbst, und sie schützen andere. Und sie sind das sichtbare Zeichen für gelebte Solidarität. Ich sage hier explizit „medizinische Masken“, also OP-Masken oder FFP2-Masken;
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denn ehrlich gesagt verstehe ich die komplette öffentliche Fokussierung auf FFP2-Masken nicht ganz.
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Ja, es ist richtig FFP2-Masken gewährleisten einen höheren Eigenschutz – immer vorausgesetzt, sie werden vorschriftsmäßig getragen und gehandhabt.
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Es gibt aber aus gutem Grund Arbeitsschutzvorschriften, die das Tragen einer FFP2-Maske auf 75 Minuten am Stück beschränken, eine Erholungspause von 30 Minuten verlangen und arbeitsmedizinische Voruntersuchungen empfehlen. Wer schon einmal eine solche Maske für längere Zeit unter Belastung getragen hat, der weiß auch, dass das wirklich anstrengend und belastend ist.
Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch: FFP2-Masken sind eine wichtige Ergänzung der persönlichen Schutzausrüstung. Und sie sind außerhalb des Gesundheitswesens immer dann sehr sinnvoll, wenn Personen, die sich mit einem in einem geschlossenen Raum befinden, keinen Mund-Nasen-Schutz tragen – so wie wir es beispielsweise auf der rechten Seite hier im Plenum leider viel zu oft beobachten können.
Aber klar ist auch, dass, wenn alle konsequent und richtig eine medizinische OP-Maske tragen und damit einen konsequenten Fremdschutz betreiben, es automatisch einen Eigenschutz gibt.
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Das würde aber voraussetzen, dass sich alle konsequent daran halten und dass die Masken dann auch tatsächlich Mund und Nase ordentlich bedecken. Solange das nicht der Fall ist, ist das Tragen von FFP2-Masken in gewissen Situationen eine sehr sinnvolle und notwendige Schutzmaßnahme.
Die nunmehr gültige medizinische Maskenpflicht beim Einkaufen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist wichtig, um die Ausbreitung von Infektionen zu verhindern. Ich bin auch dankbar, dass die Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidentenkonferenz hier nicht dem blinden Aktionismus des bayerischen Ministerpräsidenten gefolgt ist.
Klar muss uns sein: Wenn es eine solche Maskenpflicht gibt, dann müssen wir dafür sorgen, dass auch jeder die Masken erhalten kann.
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Sozial schwächere Mitbürgerinnen und Mitbürger dürfen nicht ausgeschlossen sein.
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Daher ist es wichtig und richtig, dass Grundsicherungsempfänger analog zum Verfahren bei den Risikopatienten nun auch mit Masken versorgt werden. Ich bedanke mich recht herzlich beim Arbeitsminister Hubertus Heil, dass es zusammen mit dem Bundesgesundheitsminister Spahn gelungen ist, hier zeitnah eine gute Lösung zu präsentieren.
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Für Risikopatienten haben wir schon im dritten Bevölkerungsschutzgesetz im Dezember geregelt, dass FFP2-Masken zur Verfügung gestellt werden. Mit dieser Entscheidung versorgen wir über 34 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Darüber hinaus wurde bei der letzten Ministerpräsidentenkonferenz vereinbart, die Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu steigern. Arbeitgeber sind – der Kollege Kippels hat es schon erwähnt – seit dem 21. Januar verpflichtet, medizinische Masken am Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.
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Viel entscheidender ist aber, dass Arbeitgeber nun verpflichtet sind, wo immer es möglich ist, Homeoffice anzubieten; denn das trägt zu einer signifikanten Reduzierung der berufsbedingten Mobilität bei. Homeoffice ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil, um Neuinfektionen weiter zu reduzieren.
Meine Damen und Herren, mit den nun geltenden höheren betrieblichen Arbeitsschutzstandards und der Ausgabe von Masken an Risikopatienten und an sozial bedürftige Mitbürgerinnen und Mitbürger schützen wir einen großen Teil der Bevölkerung effektiv und gut. Und es mangelt auch nicht an verfügbaren medizinischen Masken. Die Bundesregierung hat schon im letzten Jahr ein Förderprogramm aufgelegt, um die inländische Produktion attraktiver zu machen. Das Programm zeigt Wirkung mit jährlich 5 Milliarden zusätzlichen Schutzmasken.
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Bevor man staatliche Regulierung fordert, sollte man die tatsächliche Versorgungslage und das Marktgeschehen betrachten. Wenn die Lager gut gefüllt sind und FFP2-Masken mittlerweile bei Discountern für unter 1 Euro angeboten werden, dann gibt es offensichtlich keinen Engpass. Wir müssen daher weder Masken zentral beschaffen noch die Preise staatlich regulieren.
Kollegin Dittmar, Sie können gern weitersprechen, tun das aber auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen.
Das wäre europarechtlich übrigens auch sehr schwer durchzusetzen. Ihr Antrag ist daher abzulehnen.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Reinhard Houben das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte vielleicht mal vorneweg unseren sozialpolitischen Sprecher Pascal Kober zitieren, der schon vor einigen Tagen gesagt hat: Die Versorgung von Grundsicherungsempfängern mit FFP2-Masken ist überfällig. – Also, um die sozialpolitische Frage mal von vornherein abzuräumen: Da sind wir eindeutig auf der Seite derjenigen, die Unterstützung brauchen.
Aber, liebe Fraktion der Linken, ich unterstelle Ihnen mal, dass Sie bestimmten Gruppen helfen wollen. Aber wenn Sie mit solchen Vorschlägen, wie in diesem Antrag formuliert, um die Ecke kommen, muss ich sagen: Sie erreichen doch nicht mal Ihr Ziel!
Wenn Politik ein bestimmtes Produkt innerhalb von zwei Tagen zu einem Produkt für 80 Millionen Menschen in Deutschland macht, dann können Sie nicht von Marktversagen sprechen und sagen: Die Industrie hat das Produkt noch nicht hergestellt. – Ja, wenn es erst keine Nachfrage gibt und durch eine politische Entscheidung die Nachfrage explodiert, ist das doch nicht ein Problem der Industrie und des Handels, sondern es geht um die Frage, inwieweit Politik etwas weiter denkt und früher, mit einem Vorlauf, bestimmte Maßnahmen ankündigt, damit eben der Markt auch entsprechend reagieren kann.
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Meine Damen und Herren, wir haben doch erlebt, dass es funktioniert hat. Es hat zum Beispiel bei den Schutzausrüstungen funktioniert. Da gab es natürlich im ersten Moment ein Problem. Relativ schnell und kurzfristig waren dann die entsprechenden Produkte am Markt. Oder – das ist schon angesprochen worden – die Produktion von Masken: Ja, in Deutschland ist das subventioniert angeschoben worden. Wenn die Rahmenbedingungen hier anders wären, wenn die Energiekosten zum Beispiel niedriger wären, wäre die Produktion solcher Masken in Deutschland auch vorher schon möglich gewesen – ohne Subventionierung.
Deswegen: Der Markt reagiert schneller. Es ist, Frau Dittmar, von Ihnen erwähnt worden, und die Apotheker vermelden es auch heute: Die Versorgung mit FFP2-Masken ist gesichert. Wir haben kein Versorgungsproblem.
Und dann frage ich mal: Wie soll denn das mit den Masken in der Praxis funktionieren? Da fallen mir so nostalgische Begriffe ein wie „NÖSPL“, das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der DDR. So was gab es zum Beispiel auch mal. Also: Wir besetzen dann ein Gremium, bestehend aus Vertretern der Ministerien des Bundes und der Länder. Wir holen die Industrie dazu. Wir holen den Handel dazu. Da wird dann ewig verhandelt und gesprochen. Nach einer Woche kommt ein Ergebnis raus. Bis dahin sind die ersten Masken doch schon längst in der freien Marktwirtschaft produziert worden, meine Damen und Herren.
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Dann die Frage des Preises – das ist ja nun noch mal etwas besonders Wahnsinniges –: Wieso soll ein Preis für ein Produkt festgelegt werden, wenn es über verschiedene Vertriebswege verkauft wird? Natürlich muss doch eine FFP2-Maske in der Tankstelle, die 24 Stunden geöffnet ist, teurer sein als im Supermarkt. Das ist doch betriebswirtschaftliches Einmaleins. Sie wollen aber einen Einheitspreis vorschlagen mit dem Ergebnis, dass die Tankstellen dann diese Masken nicht mehr führen? Wie wollen Sie denn helfen? Sie machen Vorschläge, dass das Produkt viel schlechter zum Konsumenten kommt, als es normalerweise funktionieren würde. Deswegen: Sie helfen noch nicht mal den Menschen, die Sie unterstützen möchten.
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Eine letzte Bemerkung. Sie hatten ja eigentlich einen ganz sinnvollen, diskussionswürdigen Antrag auf der Tagesordnung stehen. Sie haben jetzt diesen Kurzantrag hier eingebracht. Und bei Ihrem Antrag merkt man schon, wie schlecht das mit der Planwirtschaft ist.
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Wenn Sie nämlich nur von FFP2-Masken sprechen und KN95-, N95- und FFP3-Masken vollkommen außen vor lassen, gehen Sie schon an der Stelle am Problem vorbei.
Vielen Dank. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
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Das Wort hat Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise hat eine soziale Dimension. Menschen mit geringerem Einkommen hatten es im letzten Jahr schwerer, sich und auch andere vor Corona zu schützen; denn die Maßnahmen, wie man sich schützen kann, sind teuer. FFP2-Masken waren in den letzten Monaten teuer. Für Menschen mit geringem Einkommen ist es keine Kleinigkeit, wenn eine Maske teilweise 4, 5 Euro das Stück gekostet hat. Es fällt vielen schwer, so viel zu bezahlen.
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Auch Coronaschnelltests sind teuer. Solange sie nicht zur Selbstanwendung freigegeben werden, solange die Ärzte sie nicht flächendeckend in den Hausarztpraxen auch auf Rechnung der Krankenkassen zur Verfügung stellen, so lange entscheidet der Geldbeutel darüber, ob ich bereit bin, 40 Euro dafür auszugeben und in ein Testzentrum zu gehen, wenn ich Halsschmerzen habe, um auf Nummer sicher zu gehen für meine Angehörigen, die ich so vielleicht schützen kann. 40 Euro sind für viele zu viel. Corona hat eine soziale Dimension!
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Auch mit Blick auf Homeoffice und Homeschooling gibt es eine soziale Dimension: ob meine Wohnung so klein ist, dass Homeoffice fast nicht möglich ist, ob ich so wenig Endgeräte habe, dass ich nicht gleichzeitig Homeoffice und Homeschooling hinkriege. Auch diese soziale Dimension hat Corona.
Auch mit Blick auf die Belastungen hat Corona eine soziale Dimension. Kurzarbeitergeld, das nur bei 70 bis 80 Prozent liegt, ist für Menschen mit geringem Einkommen manchmal zu wenig zum Leben. Und auch die Hartz-IV-Regelsätze, die eh schon viel zu gering sind, waren in dieser Krise nochmals zu gering, um die Zusatzbelastungen, die während Corona entstanden sind, aufzufangen.
Das heißt: Corona hat eine soziale Dimension. Und ich würde es so hart formulieren: Es ist einer der größten Fehler gewesen, den insbesondere Bundeskanzlerin Merkel in dieser Pandemiebekämpfung gemacht hat, dass sie die soziale Dimension von Corona nicht gesehen hat.
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Sie hat einen guten Job gemacht – teilweise schon; das muss man sagen –: bei der Langfristbekämpfung, bei dem Sehen, was notwendig ist, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Aber die soziale Dimension kam in ihren Reden hier im Parlament teilweise kaum vor. Ich hatte manchmal den Eindruck – so hart muss ich das sagen –, dass sie sich mehr für Glühweinstände interessiert hat als für die Armut in diesem Land.
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Deswegen ist es auch richtig, dass Die Linke sich in ihrem Antrag mit dieser sozialen Dimension von Corona noch einmal beschäftigt. Deswegen ist es richtig, dass Menschen in der Grundsicherung und selbstverständlich, sage ich, auch Obdachlose und Geflüchtete diese Masken bekommen. Es ist aber richtig, nicht nur darüber zu sprechen, sondern grundsätzlich einen höheren Zuschlag, einen Krisenzuschlag, zur Grundsicherung zu fordern, um die Menschen in dieser Krise zu unterstützen.
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Es ist auch richtig, wenn alle Arbeitgeber verpflichtet werden, ihren Beschäftigten FFP2-Masken auszugeben. Das Verpflichten, sie auszugeben, heißt ja noch lange nicht, dass die Beschäftigten sie tragen müssen.
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Aber jemand, der sich schützen möchte, hat dann die Möglichkeit, wenn er von seinem Arbeitgeber eine solche Maske bekommen hat, sich zu schützen, und er hat auch die Möglichkeit, sich in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit zu schützen. Auch das ist für viele ein relevantes Problem.
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Letzter Punkt ist die Preisregulierung. Da schießen Sie als Linke über das Ziel hinaus. Eine Begrenzung der Preisregulierung auf den Selbstkostenpreis wird nicht funktionieren, sondern wird dazu führen, dass in diesem Land im Endeffekt kaum noch Masken angeboten werden. Das kann nicht das Ziel sein. Herr Spahn hat mit der Infektionsschutzverordnung eine Möglichkeit, Preise sinnvoll zu regulieren, indem er den Zuschlag der Händler begrenzt. Dafür bräuchte es allerdings erst mal ein vernünftiges Preismonitoring.
Kollegin Dröge!
Das haben Sie nicht fortgesetzt. Das wäre der erste Schritt; denn dann würden wir sehen, ob in den Apotheken exzessive Preise erhoben werden, und dann könnten Sie diese auch regulieren.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Emmi Zeulner das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin von den Grünen, wenn sich unsere Kanzlerin – wie auch viele Kollegen hier im deutschen Parlament – nicht auch um Glühweinstände und vor allem um die Menschen kümmern würde, die ebendiesen Glühwein auf den Weihnachtsmärkten oder auf den Jahrmärkten an anderen Ständen Dinge verkaufen, dann würde es dazu führen, dass wir noch mehr Armut in unserem Land hätten.
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Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir uns in aller Breite um die Menschen kümmern, natürlich um die Menschen, die beispielsweise Grundsicherung erhalten, aber eben auch um unsere Selbstständigen.
Und zu dem Kollegen der FDP, von dem ich hörte: „Na ja, wir könnten ganz einfach die Produktion in unser Land zurückholen, wenn wir die Energiepreise, die Strompreise nach unten drücken würden“,
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sage ich: Das ist vielleicht eine kleine Möglichkeit, um das zu unterstützen. Aber faktisch geht es natürlich um die Lohnkosten, die bei uns Gott sei Dank in einem Bereich sind, wo wir sagen: Die Menschen können hier bei uns von ihrem Gehalt leben. Bei uns gibt es eine gute Absicherung, es gibt Sicherheit am Arbeitsplatz. Deshalb finde ich es sehr schwierig, diese Debatte um das Zurückholen von Produktion in unser Land einfach damit abzutun, dass wir beim Strompreis etwas ändern müssen. Da ist noch ganz schön viel mehr nötig.
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Wir, die Union, geben auch Antworten darauf, und deswegen – es wurde schon angesprochen – hat die Regierung ein Programm aufgelegt, mit dem es wieder leichter möglich ist, Produktion in unser Land zurückzuholen. Die ersten Ergebnisse haben wir auch schon vorliegen. Ein Beispiel: In meiner Heimat, in Oberfranken, gibt es ein Unternehmen, das Vliesstoffe für Masken herstellt. Dieses Unternehmen hat jetzt auch aufgrund der Unterstützung des Bundes weitere Kapazitäten geschaffen, sodass wir sicherstellen können, dass die Produktion in unserem Land weiterhin bestehen bleibt.
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Diese Zeit ist insgesamt natürlich für niemanden leicht. Deswegen ärgert es mich einfach ganz grundsätzlich, wenn immer so getan wird, als würde die Kanzlerin früh aufstehen und weitere Beschränkungen, Begrenzungen für die Menschen in unserem Land beschließen. Es macht niemandem Freude oder Spaß und niemand hat Gefallen daran, weitere Begrenzungen aufzuzeigen – weder die Bundesregierung noch die Parlamente auf Bundesebene oder in den Ländern noch die Kollegen in den Kommunen, die die Dinge dann auch umsetzen müssen. Aber wir müssen uns einfach bewusst machen, dass diese Debatte insgesamt eine Debatte auf Zeit ist. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Wir müssen uns auch bewusst machen, dass das natürlich ein lernendes System ist. Deshalb danke ich von ganzem Herzen den Menschen in unserem Land in den verschiedenen Branchen und in ihren verschiedenen Lebenssituationen, dass sie die Maßnahmen – zum großen Teil auch aus Überzeugung – mittragen.
Ich bin zu Beginn schon darauf eingegangen, dass wir auch unsere Unternehmer im Blick behalten müssen. Aber es ist ganz grundsätzlich auch Aufgabe dieses Parlaments, Menschen zusammenzuführen, beieinanderzuhalten und die Gesellschaft nicht zu spalten. Deswegen bitte ich Sie, einmal darüber nachzudenken: Was würden Sie tun, wenn Sie in den Schuhen der Kanzlerin wären?
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Was würden Sie tun, wenn Sie in den Schuhen unseres Bundesministers Spahn wären? Wie würden Sie handeln, wie würden Sie entscheiden, immer in dem Wissen, dass jeder kleine Fehler Ihnen zugerechnet wird, egal wie Sie am Ende entscheiden?
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Deshalb bin ich einfach sehr, sehr dankbar, dass eine große Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft diese Maßnahmen mitträgt.
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Ein Thema ist natürlich das Thema der Masken, das wir auch heute hier diskutieren. Wir haben natürlich auch in diesem Bereich Weiterentwicklungen erlebt, und wir haben reagiert. Deswegen unternehmen wir verschiedene Anstrengungen, um den Zugang zu Masken für viele Menschen möglich zu machen. So sind Gutscheine für FFP2-Masken für über 34 Millionen Menschen mit besonders hohem Risiko, also für Menschen mit schweren Krankheitsverläufen, organisiert worden. Das betrifft nicht nur Menschen über 60, sondern beispielsweise auch Frauen mit einer Risikoschwangerschaft oder Menschen mit Herz- oder Niereninsuffizienz. Weiterhin wird die Bundesregierung 5 Millionen Bedürftige mit FFP2-Masken ausstatten. Geplant ist, dass die Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung je zehn Masken erhalten sollen; das macht im Ergebnis 50 Millionen Masken. Außerdem sollen auch Behinderteneinrichtungen und Stellen für Obdachlose Pakete mit FFP2-Masken erhalten. Auch die Bundesländer unternehmen in diesem Bereich alle Anstrengungen.
Am Schluss finde ich es einfach bemerkenswert, dass es, beispielsweise auch in meiner Heimatstadt, viel ehrenamtliches Engagement gibt und dass auch Unternehmer vor Ort Masken zur Verfügung stellen, und zwar nicht aus einem Selbstzweck heraus, sondern weil sie denen helfen wollen, die Schwierigkeiten haben, sich zu schützen.
In diesem Sinne glaube ich, dass wir insgesamt auf einem guten Weg sind, und ich danke Ihnen, dass wir als Parlament ein Stück dazu beitragen können.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat Dr. Wieland Schinnenburg das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin den Linken sehr dankbar, dass sie diesen Antrag gestellt haben. Sie sorgen für Klarheit: Derjenige, der sich bisher noch Illusionen über Linke machte, der hat diese Illusionen jetzt nicht mehr.
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Ausgerechnet bei einer Diskussion über die Maske ziehen Sie die Maske herunter. Hinter der Maske sozialer Fürsorge erscheint das Gesicht ideologischer Verblendung. Sie wollen Preisregulierung, Sie wollen Belastung von Arbeitgebern und kräftige staatliche Mehrausgaben. Das hilft in dieser Krise nicht. Ganz im Gegenteil: Es schadet. Das Ergebnis wird sein: weniger Masken, aber mehr Schulden. Das nützt niemandem, meine Damen und Herren.
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Ganz besonders erstaunlich finde ich es, dass Sie ausgerechnet in der Coronakrise dem Staat zusätzliche Aufgaben übertragen wollen; denn es ist der Staat, der in der Coronakrise immer wieder schlechte Leistungen abgeliefert hat. Denken Sie – erstens – an die Gesundheitsämter: Auch nach einem Jahr sind sie nicht in der Lage, vernünftige Daten zu liefern; viele kommunizieren immer noch per Fax. Denken Sie – zweitens – an die Schulen: Es gibt bis heute in keinem Bundesland ein vernünftiges, überzeugendes und sicheres Konzept, wie man mit Schulen und Kitas umgehen soll. Denken Sie – drittens – an die Pflegeheime: Fast ein Drittel der Coronatodesfälle gibt es in Pflegeheimen. Dennoch gibt es nach wie vor keinen vernünftigen Schutz für Pflegeheime. Wir als Freie Demokraten haben das seit Monaten gefordert.
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Viertens: Stichwort „Impfen“. Jeder weiß mittlerweile, dass die Impfstoffbeschaffung nicht funktioniert hat. Ich will jetzt gar nicht darauf eingehen, dass Herr Spahn das auf die EU schiebt – für meine Begriffe völlig zu Unrecht –; völlig egal. Sicher ist: Es ist schiefgegangen. Ebenso geht es zunehmend bei der Nutzung der wenigen vorhandenen Impfstoffdosen schief. Jeder kennt aus seinem Wahlkreis die Beschwerden, dass man es einfach nicht schafft, dort Termine zu bekommen. Auch da versagt der Staat.
Fünfter Punkt. Es gibt immer wieder, sagen wir einmal, unglückliche Beschränkungen – Stichwort „Beherbergungsverbote“ –, die danach von Gerichten aufgehoben werden.
Schließlich sechstens. Auch bei der Schutzausrüstungsbeschaffung ist es schiefgelaufen. Es hat im letzten Jahr zwei Monate gedauert, bis es mit der Schutzausrüstungsbeschaffung überhaupt losging – und dann ging es noch schief.
Ausgerechnet also dem Staat, der immer wieder Fehlleistungen erbracht hat, wollen Sie mehr Aufgaben geben. Das mag vielleicht gut sein für die Träume von Ewiggestrigen oder Ideologen, aber es nützt uns allen nichts.
Wir Freie Demokraten wollen den Menschen helfen, und deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat die Kollegin Bettina Müller für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derzeit müssen wir uns alle beschränken, und wir alle merken, dass die Einschränkungen mehr und mehr an uns zehren. Junge Menschen wollen raus, sich treffen, feiern, die Welt sehen. Omas und Opas vermissen ihre Enkel, die aus Vorsicht nicht zu Besuch kommen wollen oder dürfen. Eltern gehen vielfach über ihre Belastungsgrenze hinaus, indem sie versuchen, die Betreuung von Kindern und ihren Job unter einen Hut zu bringen. Und allen fehlt das Kino, das Theater, das Rockkonzert, die Oper.
Umso härter treffen diese Coronamaßnahmen natürlich Menschen im Grundsicherungssystem: Kinder, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderung. Ihr Alltag ist ohnehin von sozialen Sorgen geprägt, und diese Einschränkungen bedeuten für sie einen zusätzlichen Kraftakt. Deshalb brauchen sie Unterstützung in dieser schwierigen Zeit.
Ich gebe Frau Ferschl recht: Der Schutz vor Corona darf keine Frage des Geldbeutels sein, schon gar nicht, wenn das Tragen medizinischer Masken in Bus und Bahn oder auch in Geschäften verpflichtend ist. Deswegen arbeitet unser Minister Hubertus Heil mit Hochdruck an Konzepten, wie er Bedürftige schnell und unkompliziert unterstützen kann.
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Schon in den nächsten Tagen werden über die Krankenkassen Gutscheine für FFP2-Masken an 5 Millionen Bezieher von Grundsicherung verschickt. Außerdem gibt es auch für die Länder die Möglichkeit, den Menschen zu helfen, sich solche Masken zu leisten. Hamburg erwägt beispielsweise eine Pauschale für die Beschaffung dieser Masken. Aber wir wollen keine Förderung nach dem Gießkannenprinzip. Warum sollte der Staat die Masken für Abgeordnete, für IT-Elektroniker mit gutem Verdienst oder auch Universitätsprofessoren subventionieren? Es geht vielmehr darum, Hilfe dort zu leisten, wo sie benötigt wird.
So will der Arbeitsminister neben der Unterstützung mit der – in Anführungsstrichen – „Sachleistung Maske“ den hilfsbedürftigen Menschen mit einer Einmalleistung finanziell unter die Arme greifen. Durch die Pandemie müssen auch Bezieher von Grundsicherungsleistungen zusätzliche Kosten bestreiten: Tafeln sind geschlossen, die Lebensmittelpreise sind hoch, Hygieneartikel müssen angeschafft werden, und für viele Kinder fällt das kostenlose Mittagessen in den Schulen weg. Ein Coronazuschlag auf die Grundsicherung kann hier wesentliche Härten abfedern. Deshalb muss er schnell kommen.
Nun zur Situation am Arbeitsplatz. Fest steht, dass jeder Arbeitgeber gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Schutz- und Fürsorgepflicht hat. Die Anforderungen sind in der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel – das ist schon mehrfach angeklungen – klar formuliert. Da, wo am Arbeitsplatz der nötige Abstand nicht eingehalten werden kann und andere Schutzmaßnahmen nicht möglich sind, müssen die Beschäftigten mindestens eine medizinische oder FFP2-Maske tragen, und diese sind vom Arbeitgeber bereitzustellen. Arbeitsrechtlich gesehen ist also aus unserer Sicht eine zusätzliche Verpflichtung zur kostenlosen Bereitstellung von Masken durch den Arbeitgeber überflüssig.
Sinnvoll wäre aber eine Pflicht für Unternehmen in Hotspots, die Belegschaft regelmäßig zu testen. Leider konnte Arbeitsminister Heil die Union noch nicht für diese Pläne gewinnen.
Insgesamt sehen wir für die Forderung der Linken also keine Grundlage. Es wird schon an vielen Maßnahmen gearbeitet. Wir lehnen diesen Antrag ab.
Danke schön.
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Maria Klein-Schmeink hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Raum! Ich glaube, die Debatte geht ein Stückchen am Notwendigen vorbei; denn wenn wir über die Zurverfügungstellung von Masken reden, dann reden wir über die Zurverfügungstellung von Schutzmaterial, und in der Pandemiebekämpfung ist das eines der wesentlichsten Instrumente, die wir überhaupt haben, solange wir noch keinen durchgängigen Impfschutz in der Bevölkerung haben. Deshalb ist diese Debatte ernst zu nehmen.
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Natürlich hat diese Debatte eine große soziale Dimension. Wirksamer Schutz, und zwar der Schutz der eigenen Person – der ist allein mit der FFP2-Maske möglich –, darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Da müssen wir gegensteuern. Das muss passieren.
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Der erste Schritt im Herbst, dass diejenigen über 60 Jahren und die mit einem gesundheitlichen Risiko eine Maske zur Verfügung gestellt bekommen haben, war richtig. Es war auch richtig, sicherzustellen, dass die Zurverfügungstellung möglichst niedrigschwellig erfolgt. Aber wenn wir uns ansehen, welches Verfahren dafür genutzt wurde, dann müssen wir sagen: Das war hochbürokratisch und sehr teuer. Der Abgabepreis über die Apotheken liegt bei 6 Euro pro Maske. Ich kann Ihnen sagen, bei mir in der Stadt Münster kann ich locker zehn Masken für 12 Euro bekommen. Es gibt Charity-Projekte und andere Projekte, über die sie für 1 Euro abgegeben werden, immer noch verbunden mit einer kleinen Gewinnmarge. Also, da muss man sagen: Dieses Instrument ist leider zu spät gekommen, und das war auch nicht besonders gut gemacht.
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Das muss man kritisieren, zumal Sie dieses Muster fortsetzen wollen, wenn Sie jetzt auch die SGB-II-Beziehenden in das System der Verteilung einbeziehen. Auch das wollen Sie über die Apotheken machen. Wenn Sie das in dieser Machart machen, dann ist das, würde ich sagen, sehr teuer und gleichzeitig nicht wirklich niedrigschwellig. Das sollte man verändern.
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Zumindest die Preise müssen Sie dabei in den Blick nehmen. Es kann nicht sein, dass da solch stolze Preise aufgerufen werden. Das ist ja nahezu absurd.
Zusätzlich ist sicherzustellen, dass wir diejenigen im Blick haben, die nicht offiziell gemeldet sind, diejenigen, die zu den prekären Gruppen gehören. Weil wir wissen, dass da große Probleme bestehen, gerade hinsichtlich gesundheitlicher und sozialer Belastungen, muss sichergestellt sein, dass mit allen Konzepten, die Minister Heil zusammen mit dem Gesundheitsminister auf den Weg bringt, alle vulnerablen Gruppen erreicht werden. Es darf nicht sein, dass wirksamer Selbstschutz am Geldbeutel scheitert. Wir alle wissen, dass mit den Virusvarianten dieser Schutz notwendiger denn je wird. Deshalb ist es eine eminent wichtige gesundheitspolitische Maßnahme des Infektionsschutzes und der Pandemiebekämpfung, wenn wir für alle den Zugang möglichst niedrigschwellig und kostenfrei gestalten.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Tino Sorge das Wort.
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Frau Präsidentin, mit Ihrem Einverständnis würde ich den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke kurz die Möglichkeit geben, Ihren Antrag zurückzuziehen.
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Da das offenkundig nicht passiert, treten wir an diesem Freitagnachmittag wieder ein in die Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Die Linke hat ein Problem entdeckt, und die Linke hat natürlich auch gleich eine Lösung parat: staatliche Regulierung, zentraler Einkauf, planerischer Eingriffe. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie, wenn Sie so was als Antrag stellen, Klartext reden. Dann sagen Sie doch „staatliche Planwirtschaft“, Herr Bartsch. Aber das machen Sie ja gerade nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es müsste doch langsam selbst bei Ihnen angekommen sein, dass Ihre Argumentation, dass die Marktwirtschaft zur Verelendung der Massen führt, nicht greift, weil das in der Geschichte nicht eingetreten ist.
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Das Projekt „staatliche Planwirtschaft“ hat nicht dazu geführt, dass irgendetwas besser geworden ist.
Ich sage Ihnen, warum wir den Antrag – es wird Sie nicht überraschen – ablehnen werden. Mein Kollege Georg Kippels hat bereits darauf hingewiesen – in einem gerichtlichen Verfahren würde man so etwas Erledigterklärung nennen –: erstens weil der Antrag weder sinnvoll noch zielführend ist und zweitens weil er in der Sache erledigt ist.
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Sie fordern hier, wir sollen FFP2-Masken für Grundsicherungsempfänger, für Hartz-IV-Empfänger zur Verfügung stellen. Sie blenden dabei völlig aus, dass wir bereits im letzten Jahr in einem Programm, 2,5 Milliarden Euro umfassend, für 34,1 Millionen Anspruchsberechtigte FFP2-Masken zur Verfügung gestellt haben.
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Das lief über die Apotheken. Ich gebe zu, das hätte durchaus optimaler laufen können. Aber viele oder die meisten dieser 34,1 Millionen Anspruchsberechtigten hatten die Möglichkeit, gegen ein kleines Entgelt von 2 Euro FFP2-Masken zu bekommen.
Was ich an der ganzen Diskussion hier ein bisschen schade finde, ist tatsächlich, dass wir immer wieder nur diese alte Klassenkampfrhetorik aufbringen. Da wird dann vor den bösartigen Arbeitgebern gewarnt. Da wird gesagt, die gesetzlichen Regelungen müssten so gemacht werden, dass Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer nicht gefährden. Da wird davon gesprochen, dass Arbeitgeber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern FFP2-Masken zur Verfügung stellen sollen. Was Sie dabei wieder vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ist, dass wir diese Regelung bereits haben: Corona-Arbeitsschutzverordnung. Genau diese Verordnung sieht vor, dass Arbeitgeber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern medizinische Schutzmasken, FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen haben, wenn es die Gepflogenheiten, die Umstände vor Ort erfordern. Das blenden Sie leider völlig aus.
Kollege Sorge, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Klein-Schmeink?
Sehr gern.
Herr Sorge, Sie rechnen jetzt mit der Linken so martialisch ab. Aber letztendlich ist es so, dass das Infektionsschutzgesetz durchaus die Möglichkeit schafft, preisbegrenzend in die Beschaffung einzugreifen. Das hat der Minister bei der Infektionsschutzverordnung, bei den Antigentests im Dezember durchaus auch gemacht, mit einem gar nicht so unklugen Instrument des Festzuschlags, um eben die Handelsspanne zu begrenzen. Das scheint mir ein durchaus gängiger und gangbarer Weg zu sein.
Sie haben das aber gerade so massiv abgelehnt. Haben Sie denn für sich klar, können Sie sicher sagen, wie die Marktentwicklung in diesem Bereich sein wird, wenn es tatsächlich zu einer großen Ausbreitung der Virusvariante käme? Dann würde den FFP2-Masken noch einmal eine ganz besondere Bedeutung zukommen, und da wäre es wichtig, das Instrument der Marktbeobachtung, regelmäßig, zu haben. Wir mussten im Ausschuss diese Woche lernen, dass es das als regelmäßiges Instrument jedenfalls im Wirtschaftsministerium nicht gibt. Ich meine auch, gehört zu haben, dass es das im BMG nicht als systematisches Instrument gibt.
Also, Sie müssen sich auf Instrumente der Marktbeobachtung und ‑beherrschung einstellen. Was halten Sie von solchen Maßnahmen? Halten Sie sie für durchgängig nicht notwendig? Woran machen Sie das fest?
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Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze für Ihre kurzen Fragen. Ich möchte sie auch sehr kurz beantworten.
Natürlich ist das völlig in Ordnung, wenn man Marktbeobachtung macht. Aber wir reden hier nicht davon, dass wir in der Situation der Knappheit bei einem bestimmten Produkt sind. Also, es wird hier der Eindruck erweckt, als gäbe es nirgendwo FFP2-Schutzmasken, nirgendwo medizinische Masken zu erwerben.
Wir haben eine andere Situation, als wir sie am Anfang der Pandemie hatten; da gebe ich Ihnen recht. Aber das führt jetzt nicht dazu, dass die Konsequenz daraus sein soll, dass wir das System ändern, indem wir auf staatliche Planwirtschaft umstellen.
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Weil Sie den Punkt des Zuschlags angesprochen haben: Es ist schon etwas anderes, ob man bestimmte Preise vereinbart und dann unter den Anbietern jemandem einen Zuschlag erteilt oder ob man von vornherein sagt, dass der Staat alles beschafft und dann auch noch deckelt, zum Selbstkostenpreis diese Masken erwirbt.
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Da frage ich Sie allen Ernstes: Glauben Sie denn, dass ein Unternehmen in so einer Situation, wo eine Nachfrage da ist, diese Masken zu Preisen abgibt, die staatlich verordnet sind? Also, ich glaube, nein, und das ist in einer Marktwirtschaft auch nicht sinnvoll. Deshalb werden wir diesem Antrag hier nicht zustimmen.
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Ich will noch einmal auf die Erledigterklärung hinweisen – die Frau Kollegin Ferschl hat es nur am Rande erwähnt –: Jetzt bekommen auch Grundsicherungsempfänger Masken, wir statten 5 Millionen Grundsicherungsempfänger, Hartz-IV-Empfänger jetzt kostenfrei mit zehn FFP2-Masken aus. Das wird völlig ausgeblendet. Da hätte ich erwartet, dass Sie auch einmal sagen, die Forderung, die Sie haben, hat sich bereits erledigt. Wir als Union zeigen Ihnen, dass es gerade in der Krise darauf ankommt, die Schwächsten zu schützen; dass wir uns um die Schwächsten kümmern.
Ich finde es, ehrlich gesagt, der Sache nicht angemessen, wenn hier immer wieder Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden, wenn immer so lapidar gesagt wird, na ja, für die Lufthansa sei ja Geld da. Was sagen Sie denn den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Lufthansa? Sollen wir die nicht unterstützen in der Krise? Sollen die alle arbeitslos werden? Insofern bitte ich darum, dass wir da ein bisschen konstruktiver miteinander diskutieren.
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Vielleicht noch ein Wort zum Thema FFP2-Masken. Ich glaube, Sie sollten damit aufhören, bei der Frage „Wie kommen wir durch die Krise?“ Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Hier den Eindruck zu erwecken, als hätten wir bösartige Arbeitgeber, geht ja an der Sache vorbei. Die meisten Arbeitgeber, ein Großteil der Arbeitgeber hält sich daran, stellt diese Masken schon freiwillig zur Verfügung; ihnen ist daran gelegen, dass es den Menschen in ihrem Unternehmen gut geht. Insofern hätte ich eher erwartet, dass Sie hier einmal einen Dank in diese Richtung senden – und wenn Sie das schon nicht können, dass Sie sich zumindest für diese Ausfälle, die Sie in der Situation immer haben, einmal entschuldigen.
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Ich bin mir sicher, dass Sie Ihren Antrag nicht zurückziehen werden. Es wird Sie aber sicherlich in der Sache nicht überraschen, dass wir dem nicht zustimmen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit; vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Jetzt hätte ich auch die Maske fast nicht abgenommen. Aber du warst gut zu hören, Bettina. Also insofern gar kein Problem, das wäre bei mir wahrscheinlich auch so gewesen.
Ich möchte eingangs sagen: Ich bin ausgesprochen dankbar, dass wir über den Antrag der Linken hier reden können, und freue mich auch, dass dieser Antrag einmal wieder ein Antrag ist, bei dem wir konstruktiv über etwas reden können, was uns in der Krise nach vorne bringen kann; denn es ist natürlich wichtig, auf die soziale Komponente hinzuweisen, die Fragen zu stellen: Wie gehen wir mit Masken um? Wie gehen wir mit der Maskenbeschaffung um? Wie gehen wir mit der Situation der Menschen um, die sich Schutzmaßnahmen nicht leisten können? Insofern vielen Dank. Nach der Stunde, die wir heute Morgen für den Unfug von rechts verbraten haben, bin ich sehr froh, dass wir jetzt wirklich über konstruktive Dinge reden können,
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auch wenn ich nicht alles teile, was in dem Antrag steht. Aber das ist am Ende nicht das Entscheidende, sondern dass wir darüber reden.
Was ich teile – da bin ich der Kollegin Dröge sehr dankbar, dass sie das im Detail noch einmal von den Masken abstrahiert hat, es an vielen anderen Punkten sehr deutlich gemacht hat, die in der Krise Menschen betreffen –, ist, dass wir den Menschen, die sich das nicht leisten können, helfen müssen, dass sie es sich leisten können, weil wir in der Krise alle mitnehmen müssen – Maria, du hast völlig recht –, weil wir gerade beim Schutz, im Übrigen auch zu unserem eigenen Schutz, alle mitnehmen müssen; denn der, der sich selbst nicht und damit vielleicht auch andere nicht richtig schützen kann, weil ihm die Mittel nicht zur Verfügung stehen, der kann uns nicht helfen, durch die Krise zu kommen.
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Also, natürlich müssen wir das machen. Da bin ich sehr dankbar, dass wir auch schon Wege gefunden haben. FFP2-Masken werden jetzt auch noch einmal in anderer Form zur Verfügung gestellt.
Ich freue mich übrigens als jemand, der aus dem Bereich der Eingliederungshilfe kommt, dass auch die Eingliederungshilfe mitbedacht werden soll.
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Das halte ich für ganz wichtig. Da haben wir viele Menschen, die so etwas brauchen. Ich wäre im Übrigen dankbar, wenn man da nicht nur an die stationäre Eingliederungshilfe denkt.
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Wir haben viele Menschen, die zu Hause betreut und versorgt werden; auch die brauchen solche Masken, haben das dringend nötig.
Insofern: Ja, wir müssen darüber reden. Wir werden auch über den Antrag noch reden. Ich finde, er geht von der Zielrichtung her an bestimmten Punkten durchaus in die richtige Richtung. Ich glaube auch nicht, dass es damit getan ist, FFP2-Masken zu verteilen, sondern wir müssen mehr tun als das; da bin ich ganz der Ansicht, die Sie da vertreten.
Ich glaube aber auch, dass der Antrag, was die Maskenbeschaffung und eine eigene Produktion angeht, sicherlich über das Ziel hinausgeht. Er ist auch aus der Zeit gefallen, weil es inzwischen eigentlich nicht mehr unser Kernproblem ist, ob die Masken da sind, sondern das Problem ist, wie die Menschen an die Masken kommen und – da haben Sie nicht Unrecht – dass sie sie sich leisten können. Das werden wir aber nicht durch staatliche Maßnahmen lösen können.
Ich will noch einen Satz verlieren – weil mich das schon geärgert hat –, Kollege Schinnenburg, zu dem was Sie gesagt haben. Man kann ja den Staat in Grund und Boden verdammen, wie Sie das hier machen. Jedoch hat der Staat – und das Miteinander, das wir alle hier gepflegt haben – schon dafür gesorgt, dass wir überhaupt durch die Krise kommen. Aber was ich schon wirklich daneben finde, ist, als Beispiel ausgerechnet unseren öffentlichen Gesundheitsdienst und unsere Gesundheitsämter zu nehmen,
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die sich wirklich – das Wort kann ich hier nicht sagen – einsetzen und massiv darum kämpfen, dass alles Mögliche getan wird, um die Kontaktverfolgung zu leisten, die wirklich hier zeigen, dass der Staat an den Stellen durchaus funktionieren kann.
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Wir müssen ihn nur funktionstüchtiger machen, weil wir die Menschen dabei unterstützen müssen. Deshalb fördern wir ja den ÖGD. Aber den hier als Negativbeispiel hinzustellen, das, finde ich, geht völlig an der Sache vorbei.
Und ganz ehrlich: Wer hier sozusagen von Ewiggestrigen redet, aber hier nichts anderes als das ewige Prinzip „Der Markt wird es schon richten“ vor sich herzutragen hat, da frage ich mich, wo die Ewiggestrigen sitzen. – Das muss an dieser Stelle einmal gesagt sein.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Auch heute trifft mich die ehrenvolle Aufgabe, das – in Anführungszeichen – „Schlussplädoyer“ zu halten.
Der vorliegende Antrag der Linksfraktion „FFP2-Masken zentral beschaffen – Preise staatlich regulieren“ ist – ich habe genau nachgezählt – der zehnte Debattenpunkt in dieser Woche, welcher sich mit Maßnahmen rund um Corona beschäftigt – so viel, meine Damen und Herren, zu dem nicht mehr zu ertragenden Gerede der Opposition, dass die Debatten nicht hier im Parlament geführt werden. Es ist offensichtlich, dass mit diesem Thema Wahlkampf gemacht wird, und zwar ausschließlich.
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Meine Damen und Herren, Ihr Antrag ist augenscheinlich nicht nur mit heißer Nadel gestrickt, sondern mittlerweile auch überholt. Die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion haben dazu schon das Erforderliche gesagt. Ihr Antrag zeigt aber auch anschaulich Ihre immer gleiche Herangehensweise, nicht nur in der Gesundheitspolitik: verstaatlichen, zentralisieren, planwirtschaftlich durchregulieren. Davon haben die Bürgerinnen und Bürger bundesweit, aber vor allem auch in meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern schon lange die Nase voll. Es ist der absolut falsche Ansatz, den wir als Union grundlegend und gern auch immer wieder ablehnen.
Aber, meine Damen und Herren, schauen wir uns Ihre Forderungen im Einzelnen an:
Erstens: die zentrale Beschaffung von FFP2-Masken sowie die Deckelung der Abgabepreise. Das ist eine charmante Idee, wenn man sich, wie Sie, von den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft gänzlich verabschieden will. Das wollen wir dezidiert nicht.
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Natürlich hat der Staat Verantwortung, wenn der Markt offenkundig versagt; das steht außer Frage. Am Beginn der Pandemie waren medizinische Schutzmasken rar. Ich bin froh, dass die Bundesregierung damals gehandelt hat, nicht zuletzt, um die Gesundheitsberufe mit Schutzausrüstung zu versorgen – so auch jetzt.
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Gestern erklärte die Bundesregierung, dass sie 5 Millionen Bedürftige mit Masken versorgen wird; Empfängerinnen und Empfänger der Grundsicherung werden zehn FFP2-Masken kostenlos erhalten. Und ich darf Ihnen berichten, dass eine Verordnung in Arbeit ist, damit die Preise dem Marktgeschehen angepasst werden. Wir werden uns also auch diesem Problem stellen. Das ist im Übrigen die Übernahme von kontinuierlicher Verantwortung, gerade auch für die angesprochenen Personengruppen.
Meine Damen und Herren, zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag: eine Verpflichtung für Arbeitgeber, allen Beschäftigten, deren Präsenz am Arbeitsplatz notwendig ist, FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihnen ist offensichtlich verborgen geblieben, dass die Arbeitgeber sich hier auch ohne staatliche Regulierung in der Pflicht sehen.
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Ich kann Ihnen berichten, dass ich seit Beginn der Pandemie mit vielen Arbeitgebern
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aus unterschiedlichen Branchen gesprochen habe. Es gibt keinen, der sich nicht um die Gesundheit seiner Mitarbeiter kümmert.
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Es ist doch der Anspruch jedes Arbeitgebers, dass sein Unternehmen gut läuft. Und das geht nur mit gesunden und damit kreativen, motivierten und produktiven Mitarbeitern. Viele Arbeitgeber kümmern sich nicht nur um Masken. Mir wurde berichtet, dass vielfach bereits Teststrategien eingeführt werden. – Ausgerichtet an den persönlichen und betrieblichen Erfordernissen der Beschäftigten, helfen beide Instrumente, die betrieblichen Abläufe zu sichern.
Meine Damen und Herren, die Antragsteller fordern als dritten Punkt eine Erhöhung der Regelbedarfe in den Grundsicherungssystemen um einen Coronazuschlag von 100 Euro. Eine solche Erhöhung halten wir weder für begründet noch für sachgerecht.
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Und wie kommen Sie überhaupt auf 100 Euro? Eine Begründung ist Ihrem Antrag jedenfalls nicht zu entnehmen. In welchem Zusammenhang steht diese Summe zur zentralen Beschaffung von FFP2-Masken und zur staatlichen Regulierung von Preisen, die dem Antrag den Titel geben? Und wie wollen Sie überhaupt sicherstellen, dass das Geld aus der Erhöhung der Grundsicherung für Schutzmasken eingesetzt wird?
Meine Damen und Herren, dazu kommt, wie Sie sicher wissen, dass wir bereits geregelt haben, dass besonders vulnerable Gruppen, also Menschen über 60 Jahre oder mit bestimmten Vorerkrankungen, FFP2-Masken erhalten, allerdings gegen Vorlage eines Gutscheins. Hierzu kommt nunmehr die unter Punkt 1 angesprochene Abgabe von zehn FFP2-Masken an Empfänger der Grundsicherung. Wir glauben, dass das absolut ausreichend ist.
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Meine Damen und Herren, im Ziel Ihres Antrages sind wir uns ja einig: Medizinische Masken wie FFP2-Masken sind sinnvoll, möglichst viele Menschen sollten sie tragen. In den Wegen zur Erreichung des Ziels unterscheiden wir uns aber doch deutlich. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Danke sehr.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf einer BND‑Gesetz-Novelle vor. Sie fußt auf dem Urteil und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020. Damals hat sehr grundsätzlich das Verfassungsgericht erstmals klargestellt, dass sich der Schutz der Grundrechte gegenüber der deutschen Staatsgewalt nicht nur auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt.
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Es hat aber auch gleichzeitig festgestellt, dass es ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer wirksamen Auslandsaufklärung gibt, und damit die Bedeutung eines modernen und leistungsfähigen Bundesnachrichtendienstes für unsere Sicherheit betont. Der BND ist ein essenzieller Bestandteil unserer Sicherheitsarchitektur.
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Wenn man in die Welt schaut, sieht man: Es gibt zahlreiche Konflikte. Und ein wirklicher Blick auf die Welt ist wichtig; denn wir müssen immer wieder in internationalen Konflikten unsere Position bestimmen, und wir müssen entscheiden, ob und, wenn ja, wie wir Partei ergreifen. Das ist angesichts von subjektiven Informationen und Falschinformationen eine große Herausforderung.
Wir haben es zu tun mit internationalem Terrorismus, Anschlägen, die international vorbereitet werden, um dann am Ende auf deutschem oder europäischem Boden ausgeführt zu werden. Wir leben in einer Welt von Cyberangriffen, die sich gegen Infrastrukturen richten, gegen Personen und häufig auch gerade gegen Dinge wie Krankenhäuser oder andere wichtige Institutionen. Wir haben es auch mit gesellschaftlichem Einfluss, hybriden Bedrohungen und Desinformationskampagnen zu tun. Vieles davon kommt aus dem Ausland. Last, but not least hat der BND eine wichtige Aufgabe beim Schutz unserer Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz, damit sie frühzeitig vor Gefahren gewarnt sind und mit ebensolchen nicht konfrontiert werden.
Deshalb: Wir haben den Anspruch, einen modernen Nachrichtendienst zu haben, der seine Aufgaben effektiv erfüllt, der dafür aber auch eine klare rechtliche Grundlage hat und für seine Aufgabe auch eine wirksame Kontrolle.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf haben wir ausgewogene Regelungen gefunden. Zum einen sind der Arbeit in der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung klare und enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt.
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Zum Zweiten schützen wir Vertraulichkeitsbeziehungen von Berufsgeheimnisträgern, wie zum Beispiel Journalistinnen und Journalisten, besser. Diese dürfen in Zukunft nur in sehr eng begrenzten Ausnahmefällen überhaupt erfasst werden. Gerade bei der Übermittlung von personenbezogenen Daten haben wir ein sehr ausdifferenziertes System entwickelt, das sich an Angemessenheit der Eingriffsintensität orientiert.
Das Wichtigste aber ist: Das zentrale Gremium für die Kontrolle des BND bleibt und ist das Parlamentarische Kontrollgremium. Wir ergänzen es durch die Einführung eines Unabhängigen Kontrollrats, der im Gegenzug zur parlamentarischen Kontrolle die lückenlose und umfassende Rechtskontrolle der technischen Aufklärung des BND unterstützt. Und so kommen wir dem Ziel nah, dass der BND seine Aufgabe rechtssicher erfüllen kann und damit dazu beiträgt, dass wir unsere moderne und freiheitliche demokratische Grundordnung verteidigen können.
Vielen herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Christian Wirth für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Einmal mehr beschäftigen wir uns diese Woche mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 und mit Ihrem leider zum Scheitern verurteilten Gesetzentwurf, diesmal mit den Auswirkungen auf den Bundesnachrichtendienst. Bei allem Respekt für das Bundesverfassungsgericht und im Bewusstsein des Spannungsfeldes zwischen Datenschutz und Sicherheit: Hier wurde der BND klassisch abgegrätscht. Am deutschen Grundgesetz soll die Welt genesen – spüren Sie diese geradezu wilhelminische Aura dieses Gesetzes?
Was seit dem Kodex Hammurabi noch kein Jurist jemals erdacht hat, soll jetzt geltendes Recht werden: Anders als jedes andere Gesetz und jede Verfassung auf der Welt, ja anders als selbst die Europäische Menschenrechtskonvention, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Artikel 56, die alle auf das Hoheitsgebiet eines Staates abstellen, soll unser Grundgesetz auf der ganzen Welt gelten. Am deutschen Wesen …
Wenn ein IS-Henker im Irak von seinem Kommandanten in Syrien den Befehl für die nächsten 50 Enthauptungen bekommt, kann er sich dem Schutz seiner deutschen Grundrechte sicher sein.
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Wenn deutsche Soldaten unter Taliban-Feuer liegen, wird deren Funk erst mal von einem deutschen Kontrollorgan geprüft, bevor man ihn abhören kann.
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Was kommt als Nächstes? Schadensersatzklagen der Terroristen und Schwerverbrecher wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte,
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am besten in den USA wegen der horrenden Summen, die dort ausgeurteilt werden? Eine neue Form von Entwicklungshilfe.
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Wir haben dies ausländischen Journalisten zu danken, die aus Ländern mit echten Menschenrechtsverstößen kommen und Deutschland gezielt für ihre Klage ausgewählt haben. Hier, wo die Sicherheitsorgane nur dann nicht auf stiefmütterlichste Art und Weise behandelt und beschimpft werden, wenn sich ihre Aktivitäten gegen verfassungstreue Oppositionsparteien richten.
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Die Folgen dieses Urteils und Ihres Gesetzentwurfes sind katastrophal. Auslandsaufklärung, sofern es um Telekommunikation geht, wird effektiv unmöglich.
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Alle Erkenntnisse, die auch nur ansatzweise zeitnah gewonnen werden müssen, werden durch Kontrollgremien verschleppt. Schließlich und ganz entscheidend wird die internationale Kooperation, zum Beispiel bei der Terrorismusbekämpfung, unmöglich gemacht. Kein Geheimdienst wird seine Kenntnisse mehr mit uns teilen, die „Third Party Rule“ ist tot.
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Und man wird hier in Deutschland sehr schnell merken, dass die Geheimdienste anderer Staaten uns viel weniger brauchen als wir sie.
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Als Partner werden dann an die Stelle des schon jetzt rechtsstaatlich und moralisch festen BND andere Dienste mit deutlich weniger Skrupel, deutlich weniger roten Linien und deutlich mehr Leichen im Keller treten.
Aber diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ja nur ein Teil des Puzzles. Statt das Urteil als Anlass zu nehmen, um die Sicherheitsbehörden grundlegend zu reformieren, so wie die AfD es bei der Entfristung des Terrorismusgesetzes gefordert hat – Zeit genug war und ist noch –, kommt wieder nur Flickwerk. Sie bauen Vorschrift auf Vorschrift auf Vorschrift und schaffen eine neue Reform, die allein als Bürokratiemonster völlig praxisfern die Arbeit des Nachrichtendienstes behindert, was auch die Sachverständigenanhörung am Montag bestätigt hat.
In den 70er-Jahren schlug ein dänischer Politiker aus Protest vor, dass das ganze dänische Militär durch einen Anrufbeantworter ersetzt werden soll, auf dem nur auf Russisch zu hören war: Wir kapitulieren! – Im selben Geiste empfehle ich Ihnen, den BND durch einen Aktenordner zu ersetzen, in dem auf einem Blatt nur steht: Wissen wir nicht. – Es wäre dasselbe Ergebnis wie Ihr Gesetzentwurf hier; aber wir würden wenigstens Geld sparen.
Herzlichen Dank. Ein schönes Wochenende, und fühlen Sie sich sicher!
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Das Wort hat Uli Grötsch für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wirth, wir haben uns eben gefragt, über was Sie hier eigentlich reden und was Sie hier erzählen. Aufgelöst haben Sie es, als Sie von der Anhörung am Montag gesprochen haben. Ich habe mir dann gedacht: Er hat einfach die falsche Rede dabei, und hält die Rede, die er gestern gehalten hat, gleich noch mal.
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Denn mit dem Thema, das hier heute zur Debatte steht, hatte das, was Sie gesagt haben, rein gar nichts zu tun.
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Die Anhörung dazu findet nämlich erst noch statt – das der Vollständigkeit halber –, aber sie war nicht am Montag. Das war ein anderes Gesetz – falsche Rede.
Aber sei’s drum, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich gleich zu Beginn eines sagen: Der beste Geheimdienst ist ja einer, von dessen Arbeit wir gar nichts mitbekommen. Das liegt schon in der Natur der Sache; denn er arbeitet im Verborgenen, im Geheimen. Damit das aber funktioniert, muss so ein Geheimdienst natürlich auf der Höhe der Zeit und mit Instrumenten ausgestattet sein, die eine bestmögliche Abwehr von Gefahren gewährleisten. Cyberattacken, Anschläge, Spionage – die Terroristen schlafen nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und deshalb brauchen wir einen gut aufgestellten und effektiv arbeitenden Bundesnachrichtendienst.
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Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums weiß ich, dass der Bundesnachrichtendienst auch entgegen anders lautender Unkenrufe hervorragende Arbeit und einen großen Beitrag zu unser aller Sicherheit leistet, und das soll – da sind wir uns alle einig, denke ich – und muss auch so bleiben.
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil zum BND-Gesetz fest, dass die bisherige Abhörpraxis des Bundesnachrichtendienstes, um die es ja im Kern hier heute und in diesem Gesetz geht, grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Damit haben wir in dieser Frage Rechtsklarheit. Ich bin froh, dass wir das nun ein für alle Mal geklärt haben.
Was aber nicht geht, ist, die Grundrechte auf das Telekommunikationsgeheimnis gemäß Artikel 10 Absatz 1 und die Pressefreiheit gemäß Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes nur für Deutsche anzuwenden. Vielmehr erstreckt sich dieser Schutz – ich zitiere aus dem Urteil – als Abwehrrechte gegenüber einer Telekommunikationsüberwachung auch auf Ausländer im Ausland. – Und das ist einer der wichtigsten Punkte dieses Urteils. Die bisherigen Rechtfertigungsversuche für diese verfassungswidrige Praxis, wie etwa die sogenannte Weltraumtheorie oder die Funktionsträgertheorie, sind somit vom Tisch.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben das bereits 2015 in unserem Eckpunktepapier als eine Konsequenz aus dem NSA-Untersuchungsausschuss festgestellt. Wir haben unsere diesbezüglichen Bedenken auch in den Verhandlungen zur letzten Reform des BND-Gesetzes in 2016 immer wieder zum Ausdruck gebracht. Und deshalb bin ich letztendlich froh, dass wir nun auch in diesem Punkt Klarheit haben.
Jetzt geht es darum, das BND-Gesetz dem Urteil entsprechend auszugestalten, ohne die Arbeitsfähigkeit des BND zu stark einzuschränken. Das ist eine Gratwanderung, die wir – da bin ich ganz zuversichtlich – dieses Mal verfassungskonform hinbekommen werden. Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des BND-Gesetzes ist zwar nicht der große Wurf – das mag man so sehen –, den sich einige gewünscht haben, aber er entspricht vollumfänglich den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings sehen wir, wie sollte es auch anders sein, an der einen oder anderen Stelle noch Verbesserungsbedarf.
Was die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle betrifft, kann ich dem Antrag der Grünen durchaus etwas abgewinnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch wir – das sagen wir schon seit Jahren – sehen Defizite in den Kontrollmöglichkeiten des PKGr. Zwar haben wir in der letzten PKGr-Reform unter anderem mehr Mitarbeiter für die Kontrollarbeit durchsetzen können, aber der Weisheit letzter Schluss war es wahrscheinlich nicht. Wir haben damals schon weiter gehende Vorschläge gemacht, etwa den Austausch zwischen PKGr und der G 10-Kommission. All das sind wichtige Punkte für uns, die wir in die parlamentarischen Beratungen einbringen werden, und es sind Fragen, die wir in der Anhörung stellen werden.
Ich freue mich, dass das Gesetz heute in den Bundestag eingebracht wurde, und freue mich auf interessante, spannende und gewinnbringende Verhandlungen und Debatten zu diesem Gesetz.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Thomae das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit seiner Entscheidung vom 19. Mai 2020 hat uns das Bundesverfassungsgericht eine in der Tat schwierige Aufgabe aufgegeben, und zwar, in einem ziemlich engen Zeitrahmen die nachrichtendienstliche Kontrolle in einem ganz bestimmten Segment neu zu strukturieren. Das ist keine triviale Aufgabe, das ist seiner Natur nach nicht einfach.
Nur: Das, was Sie, liebes Bundeskanzleramt, jetzt versuchen, halte ich für riskant, nämlich eine Eins-zu-eins-Umsetzung, die keinen Deut mehr bringt, die hart auf Kante genäht ist. Das ist riskant, weil – wenn es eben nicht ganz genau eins zu eins ist, sondern Sie ein bisschen darunter bleiben, quasi 0,9 zu 1 – Sie dann bereits die nächste Klage riskieren, und das wäre eine schlimme Entwicklung. Eine nächste Klage zu provozieren, können wir nicht wollen
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und wollen wir auch dem BND nicht zumuten.
Haben Sie doch nicht so viel Angst vor einer effektiven, guten Kontrolle, liebes Bundeskanzleramt. Auch ein gutes Pferd springt weiter, wenn scharf am Zügel geführt wird. Das ist gute Kontrolle, die auch einen guten Dienst noch besser macht.
({1})
Deswegen werden wir diese Beratungen, die ja erst noch kommen – es kommt erst noch eine Sachverständigenanhörung; Kollege Grötsch hat es schon ausgeführt –, sehr konstruktiv begleiten. Dort werden wir ein paar Punkte zu Sprache bringen.
Ein Punkt wird die enge Auswahl sein, die Sie vorgeben. Sie richten ein Kontrollgremium nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes ein. Die Auswahl der Mitglieder soll auf Vorschlag des BGH-Präsidenten bzw. der BGH-Präsidentin aus einem ganz kleinen Gremium von BGH-Richtern und Bundesanwälten erfolgen. Was uns völlig fehlt, ist eine Art Generalanwalt, der Betroffenenrechte wahrnimmt.
Wir als Parlament sollen einfach nur Vorschläge des BGH-Präsidenten und des GBA abnicken. Das ist keine echte Mitwirkung. Auch hier riskieren Sie, dass irgendwann das Parlament sagt: Nein, die Vorschläge, die uns das Bundeskanzleramt serviert, gehen wir nicht mit. – Wenn Sie glauben, dass angesichts der Kultur, die wir im PKGr haben, der Regierungsmehrheit immer die Stange gehalten wird, dann, glaube ich, haben Sie sich schwer geschnitten. Das sollten Sie nicht riskieren, liebes Bundeskanzleramt.
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Uns fällt ein weiterer Punkt auf: Sie versäumen die Gelegenheit, nachrichtendienstliche Kontrolle grundsätzlich neu zu ordnen. Die Zersplitterung der nachrichtendienstlichen Kontrolle bleibt erhalten. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, die parlamentarische Kontrolle zu stärken. Wir haben seit der letzten großen Reform 2016 den Ständigen Bevollmächtigten, der sich aus meiner Sicht sehr bewährt hat. Das PKGr hat in dieser Wahlperiode bei der Untersuchung rechtsextremer Strukturen in der Bundeswehr mithilfe des Ständigen Bevollmächtigten und seines Apparates gezeigt, wie nachrichtendienstliche Kontrolle funktioniert. Es ist ein effizientes Gremium mit einer guten Struktur, einem starken Muskel. Das zu stärken und diese Arbeit mithilfe eines Nachrichtendienstbeauftragten fortzusetzen, wäre der Vorschlag der FDP-Fraktion. Diese Gelegenheit, die Reform der Kontrolle der Nachrichtendienste weiter voranzubringen, versäumen Sie jetzt leider.
Kollege Thomae, das andere müssen Sie jetzt tatsächlich in die weiteren parlamentarischen Beratungen verschieben und zum Punkt kommen.
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Ich schätze, Sie lassen auch nicht mit sich diskutieren. – Dann werde ich alle anderen Punkte in dieser weiteren Beratung anbringen, die kurz, aber intensiv sein wird. Ich freue mich schon sehr darauf.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun Dr. André Hahn das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die anlasslose Massenüberwachung des Bundesnachrichtendienstes, BND, im Ausland war und ist verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Mai 2020 entschieden und gab damit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Ende 2016 reformierte BND-Gesetz statt. Meine Fraktion hatte bereits damals hier im Bundestag erklärt, dass dieses hochumstrittene Gesetz in Karlsruhe niemals Bestand haben würde, und wir haben recht behalten.
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Ich wage heute die These – wir können darüber reden –, dass auch das jetzt vorgelegte Gesetz wieder beim Bundesverfassungsgericht landen wird.
Das Bundeskanzleramt hat sich eine Gesetzesnovelle zurechtgezimmert, die dem BND im Rahmen der Ausland-Fernmeldeaufklärung weiterhin all das erlaubt, was er bisher ohne Rechtsgrundlage oder im „Graubereich“ bereits getan hat – nur jetzt nachträglich legalisiert. In der Begründung wird zwar behauptet, der Gesetzentwurf beseitige die vom Verfassungsgericht beanstandeten Rechtsverstöße, in der Realität lässt er jedoch klaffende Schlupflöcher offen.
Völlig ohne Kontrolle bleiben zum Beispiel Operationen, die der BND allein oder in Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten im Ausland durchführt. Zentrale internationale Abhöroperationen wie „Monkeyshoulder“ mit den Briten oder „Maximator“ im Verbund mit Dänemark, Schweden, Frankreich oder den Niederlanden konnten bislang nie vom Parlament kontrolliert werden, und das soll offenbar so bleiben. Ein klarer Affront gegen die Karlsruher Richter!
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Der Schutz von Journalisten vor Ausspähung ihrer Arbeit und ihrer Quellen – ein zentraler Punkt im Urteil – wird zwar im Gesetz benannt, die Ausnahmereglungen sind jedoch so windelweich formuliert, dass der BND auch in diesem Bereich de facto weiter machen kann, was er will. Auch das ignoriert die Entscheidung des Gerichts.
Zudem soll der BND demnächst staatliches Hacking betreiben und ganz legal in IT-Systeme von Google, Facebook, Amazon oder Apple eindringen können, um Personendaten zu sammeln. Klare Grenzen sind nicht gesetzt. Am weltweit größten Internetknoten DE-CIX in Frankfurt am Main wäre dem BND künftig eine Kompletterfassung sämtlicher Kommunikation erlaubt. Wir lehnen das ab!
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Durch die Schaffung des sogenannten Unabhängigen Kontrollrates würde die ohnehin schon zersplitterte Geheimdienstkontrolle in Deutschland weiter fragmentiert; Kollege Thomae hat eben darauf hingewiesen. Um dessen Unabhängigkeit zu beweisen, will sich die Bundesregierung dessen Mitglieder auch gleich noch selbst aussuchen. Dreister geht es kaum!
Meine Damen und Herren, Fakt ist: Kein Gremium hätte künftig mehr einen echten Überblick darüber, was beim BND wirklich läuft. Das mag die Regierung freuen. Für das Parlament, vor allem für die Opposition, ist das völlig inakzeptabel.
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Wir als Linke bleiben dabei: Die Kontrolle der deutschen Nachrichtendienste obliegt in erster Linie dem Bundestag, und hier insbesondere dem Parlamentarischen Kontrollgremium, dessen Mitglieder aus gutem Grund mit Kanzlermehrheit gewählt werden. Dieses Gremium darf nicht geschwächt werden!
Letzter Satz. Der Antrag der Grünen enthält viele vernünftige Punkte, auch Dinge, die wir schon vor längerer Zeit hier vorgeschlagen haben. Deshalb freue ich mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier und heute geht es um nichts weniger als die Verrechtsstaatlichung einer Praxis, die vom BND über viele, viele Jahre nicht nur in irgendeinem Graubereich, sondern schlichtweg rechtswidrig durchgeführt wurde.
Die von Edward Snowden und dem Untersuchungsausschuss dieses Hohen Hauses aufgedeckte Praxis deutscher Behörden in einem weltumspannenden geheimdienstlichen Überwachungssystem hat die digitalen Bürgerrechte von Millionen von Menschen im In- und Ausland jahrelang verletzt. Das war ein Skandal, und das bleibt ein Skandal, meine Damen und Herren.
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Mit hanebüchenen Konstrukten wie der Weltraumtheorie hat man verfassungswidrige Praktiken scheinlegitimiert. Als auch dies offenkundig wurde, hat die Große Koalition sie einfach in ein Gesetz geschrieben. So was fliegt einem in Karlsruhe um die Ohren, und zwar zu Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung deutlich gemacht, wie zentral eine wirksame, unabhängige Kontrolle für die Legitimität der Nachrichtendienste ist. Deswegen begrüßen wir grundsätzlich die Auflösung der Third-Party-Rule-Problematik durch die Schaffung eines Unabhängigen Kontrollrats in der Sphäre der Exekutive. Aber, meine Damen und Herren, das Zentrum der Kontrolle nachrichtendienstlicher Betätigung in einem verfassten demokratischen Rechtsstaat ist und bleibt das Parlament, dieses Parlament – so steht es in unserem Grundgesetz.
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Mit einem Kontrollrat, der sich weitgehend losgelöst vom Parlament konstituiert und sich selbst reguliert, schwächt man dieses demokratisch legitimierte Parlament und verliert in der breiten Öffentlichkeit weiter Vertrauen. Deswegen brauchen wir eine Stärkung und Vernetzung aller Ebenen von Kontrollen, bei dem das PKGr gestärkt im Mittelpunkt steht, eine stärkere und weitere Professionalisierung der G-10-Kontrolle, mehr technischen Sachverstand und ungehinderten Kontrollzugang zu den Systemen selbst sowie eine Stärkung des BfDI. Und: Wer SIGINT sagt, muss auch HUMINT sagen. Der völlig unregulierte Bereich der Quellenführung muss endlich parlamentarisch kontrolliert werden, meine Damen und Herren.
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Wirksame Kontrolle, Transparenz, Nachvollziehbarkeit für die Nachrichtendienste und die Exekutive schafft die Legitimität, die wir in einem Rechtsstaat brauchen. Es wäre sehr, sehr wünschenswert, meine Damen und Herren, wenn das hier nach all den Problemen und Skandalen der letzten Jahre endlich der Grundkonsens aller demokratischen Fraktionen wird; denn der BND macht in diesen schwierigen Zeiten eine enorm bedeutsame und wichtige Arbeit. Deswegen möchte ich es nicht versäumen, den Präsidenten und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Tribüne zu begrüßen. Schön, dass Sie da sind, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie uns gemeinsam den rechtsstaatlichen Goldstandard setzen, den wir für diese Tätigkeit im digitalen Zeitalter brauchen. Unser Antrag gibt dafür gute Vorschläge vor. Ich freue mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was gibt uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 19. Mai letzten Jahres mit auf den Weg? Die ganz klare Aussage, dass Ausländer und Ausländerinnen im Ausland unter den Schutzbereich des Grundgesetzes fallen, sowohl was das Fernmeldegesetz als auch die Pressefreiheit angeht. Das sind eine ganz klare Aussage, eine ganz klare Entscheidung für Rechtsstaatlichkeit und eine Aufgabe für den Bundesnachrichtendienst. Der vorliegende Gesetzentwurf ist für die Umsetzung eine sehr gute Grundlage; das ist bereits mehrfach festgestellt worden.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch festgestellt, dass wir eine leistungsfähige Fernmeldeauslandsaufklärung brauchen, dass wir einen leistungsfähigen Auslandsnachrichtendienst brauchen. Das ist der Bundesnachrichtendienst. Aber warum ist es so wichtig, dass wir das auf eine rechtssicherere Grundlage stellen als in der Vergangenheit? Wir brauchen den Bundesnachrichtendienst als Bestandteil unserer Sicherheitsarchitektur; denn die Bundesregierung hat einen Anspruch auf Informationen, möglichst frühzeitig, auf rechtssicherer Grundlage beschafft, zur Gefahrenabwehr und auch zur Beurteilung der Lage in Krisengebieten.
Besonders die Gleichzeitigkeit von Krisen, in der wir gerade leben, jenseits von Corona, macht uns deutlich, dass die Auslandsaufklärung auf rechtssicherer Grundlage stehen muss. Was bedeutet das für uns als Parlament? Ich sage sehr deutlich: Die parlamentarische Kontrolle muss hier eindeutig Vorrang haben. Wenn der Bundesnachrichtendienst essenzieller Bestandteil unserer Sicherheitsarchitektur ist, ist die parlamentarische Kontrolle essenzieller Bestandteil unserer Sicherheitskultur.
({0})
Das bedeutet wiederum, dass das Parlamentarische Kontrollgremium in dieser Form Primus inter Pares sein muss, mit einer ganz besonderen Verantwortung. Ich möchte das an zwei, drei Beispielen verdeutlichen.
Der Unabhängige Kontrollrat, der aus dem Unabhängigen Gremium übergeleitet werden wird, muss in seiner Zusammensetzung vom Parlament zumindest mitbestimmt werden. Die Zusammenarbeit mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten, mit G 10, mit Vertrauensgremien und vielem anderen braucht einen Primus inter Pares: Das ist das Parlamentarische Kontrollgremium.
Und: Wir müssen als Parlament auch Einfluss nehmen auf Verfahrensordnungen, auf die Geschäftsordnung des Unabhängigen Kontrollrats. Auch das ist die Aufgabe des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Und warum? Es geht um Vertrauensschutz, um Geheimschutz. Es geht darum, dass wir dies in Verantwortung für Sie alle im Parlamentarischen Kontrollgremium auf Augenhöhe leisten können. Dazu haben wir den Vorbereitungsstab, der in den letzten drei Jahren dank der Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums Herausragendes geleistet hat. Den dürfen wir auch nicht schwächen, sondern müssen ihn da einbeziehen.
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Ich halte es deshalb für sehr wichtig, dass wir hier Rechtssicherheit schaffen müssen und dass wir uns in der weiteren Beratung dessen auch bewusst sind. Das zeigt unseren ausländischen Partnern, aber auch den Krisenregionen: Die Bundesrepublik Deutschland arbeitet auf rechtssicherer Grundlage, und das machen auch unsere Nachrichtendienste, die zugleich technisch und kontrollmäßig auf Augenhöhe sind.
Es gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Struck’sche Gesetz. Wir werden in den nächsten Wochen miteinander intensiv daran arbeiten und die parlamentarische Kontrolle aufwerten. In diesem Sinne freue ich mich auf das gemeinsame Miteinander, erwarte aber auch, dass wir uns alle bewusst sind, dass die Sicherheit unseres Nachrichtendienstes und seiner Angehörigen und die verlässliche Information für die Bundesregierung an allererster Stelle stehen. Dazu brauchen wir die leistungsfähige parlamentarische Kontrolle und den Vertrauensschutz.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion.
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Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erst mal begeistert, dass Kollege Kiesewetter das Struck’sche Gesetz zur Sprache gebracht hat, lässt es doch darauf hoffen, dass wir in den parlamentarischen Beratungen, die folgen, gemeinsam vieles von dem, was die Kolleginnen und Kollegen hier angesprochen haben, tatsächlich auch in die Tat umsetzen. Ich finde es gut, dass wir die Arbeit, die wir gemeinsam machen, auch als Ganzes betrachten, Kolleginnen und Kollegen.
Kaum ein anderes Land verpflichtet sich dazu, bei den nachrichtendienstlichen Tätigkeiten nicht nur die Grundrechte der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen, sondern die aller Menschen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf führen wir eine neue Kontrollinstanz ein, die genau diesen Schutz gewährleisten soll. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes Rechtssicherheit für ihre wichtige Tätigkeit haben.
Nachdem Kollege von Notz Herrn Präsidenten Kahl enttarnt hat, darf ich Ihnen, Herr Präsident, ein ganz großes Dankeschön dieses Hauses übermitteln, auch für die Arbeit Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist unsere Aufgabe, hier den Rechtsrahmen zu setzen, damit Sie Ihre wichtige Arbeit tun können. Deshalb viele Grüße von uns hier im Deutschen Bundestag.
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Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns im parlamentarischen Verfahren gemeinsam sehr genau anschauen, ob der Entwurf den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts genügt oder ob wir, wie wir es alle angedeutet haben, noch nachbessern müssen. Das gilt insbesondere für die neue Kontrollinstanz und deren personelle Zusammensetzung.
In den anstehenden Beratungen werden wir uns aber auch mit der Frage auseinandersetzen, ob der Schutz von Journalistinnen und Journalisten ausreicht oder ob wir bei dieser Frage mehr Transparenz brauchen, zum Beispiel bei der Definition des Berufsstandes eines Journalisten oder einer Journalistin; das ist nämlich gar nicht so einfach. Ich nehme die Kritik des Journalisten-Verbandes auf jeden Fall sehr ernst. Wir als SPD-Fraktion werden im Verfahren darauf drängen, dass deren Bedenken auch berücksichtigt werden.
Kolleginnen und Kollegen, mit der in diesem Gesetzentwurf angelegten Stärkung der richterlichen und administrativen Kontrolle verändern wir die Kontrollarchitektur der Nachrichtendienste. Wir müssen aber auch als Parlament selbstbewusst nachdenken, wie wir die Arbeit des PKGr stärken und ausbauen können. Die parlamentarische Kontrolle muss die wichtigste und zentrale Kontrolle der Nachrichtendienste sein und auch in Zukunft bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir müssen unserem parlamentarischen Auftrag so gerecht werden können, wie wir das als Gremium gegenwärtig machen und auch in der Vergangenheit gemacht haben. Wir müssen nicht nur die eigenen Möglichkeiten der Kontrolle ausbauen, sondern auch Berichtspflichten der Bundesregierung verändern. Mit der sehr engen Umschreibung des Kontrollrahmens im PKGr-Gesetz – Kontrolle der Arbeit von BND, BfV und BAMAD – werden wir den Entwicklungen der Zeit nicht mehr vollumfänglich gerecht. Deshalb lohnt es, zusammen darüber zu diskutieren, ob das PKGr nicht tatsächlich alle nachrichtendienstlichen Tätigkeiten des Bundes kontrollieren soll.
Neben der Arbeit des BAMAD sollte unser Blick dabei in Zukunft auch dem militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr mit seinen Schnittstellen zu den Nachrichtendiensten gelten. Nehmen wir die Novelle des BND-Gesetzes zum Anlass, dies gemeinsam zu tun.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Volker Ullrich das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat im Wesentlichen Folgendes entschieden:
Zum Ersten. Die Auslandsaufklärung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Ja, mehr noch: Das Interesse unseres Landes an Sicherheit und Beständigkeit verlangt angesichts der Gefahren eine Auslandsaufklärung, und deswegen brauchen wir auch einen handlungsfähigen und gut ausgestatteten Auslandsnachrichtendienst.
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Das ist eine Frage der Selbstbehauptung unseres Landes.
Zum Zweiten gelten die Grundrechte, vornehmlich die Telekommunikationsfreiheit und die Pressefreiheit, auch für Ausländer im Ausland. Das ist letztlich keine Überraschung, weil damit das Prinzip zur Geltung kommt, dass, wann immer der deutsche Staat handelt, Handlungen des deutschen Staates auch grundrechtsgebunden sind. Das ist auch keine Anmaßung. Vielmehr sollte die weltweite Geltung von Grundrechten und Menschenrechten eigentlich immer stärker zum Prinzip einer internationalen Ordnung werden. Deswegen ist diese Aussage folgerichtig, und wir sollten sie konsequent umsetzen.
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Ein Auslandsnachrichtendienst braucht aber auch Vertrauen. Er braucht das Vertrauen seiner ausländischen Partnerdienste, damit Informationen geteilt werden. In vielen Bereichen zeigt sich, dass gerade die Kooperation der Nachrichtendienste erst die Sicherheit gewährleistet, die wir benötigen.
Vertrauen bedeutet zudem auch, dass es ein richtiges rechtsstaatliches Verhältnis geben muss: Vertrauen nach innen und eine richtige Kontrolle der Nachrichtendienste. Vor dem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes erweitert und damit auf ein breiteres Fundament gestellt wird, und zwar durch ein gerichtsähnliches Kontrollorgan. Wie es dann irgendwann rechtspolitisch eingeordnet werden wird – als eine Art Gericht oder Sondergremium der Exekutive –, das wird man sehen. Aber schon allein die Qualifikationsanforderungen an die Mitglieder dieses Gremiums sind hoch, was dazu führen wird, dass die Entscheidungen von herausragender Qualität sein werden.
Aber wichtig ist auch, dass dieses gerichtsähnliche Kontrollgremium in enger Abstimmung mit der parlamentarischen Kontrolle arbeitet; denn wir können bei der Kontrolle der Nachrichtendienste nicht auf die parlamentarische Kontrolle verzichten. Im Gegenteil: Wir brauchen eine weitere Stärkung der parlamentarischen Kontrolle, weil es auch unser Bundesnachrichtendienst ist, der unsere Sicherheit insgesamt schützt.
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Deswegen lassen Sie uns darüber sprechen, wie wir im parlamentarischen Verfahren diese für uns wichtige parlamentarische Kontrolle im Zusammenspiel mit diesem gerichtsähnlichen Kontrollgremium stärken können.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin heilfroh, dass wir schon impfen. Wir haben in unserem Land bereits über 1,7 Millionen Erstimpfungen durchgeführt, vom Erzgebirge bis zur Nordsee, im ganzen Land. Das ist gut so.
Die FDP sagt nun, ein Gesetz sei zwingend erforderlich. Die Realität belehrt sie eines Besseren: Es geht auch ohne.
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Und es geht eben auch deutlich schneller. Die Pandemie erfordert schnelles Handeln. Wenn die Feuerwehr zu einem Einsatz kommt, dann wird zugegriffen und gelöscht, und da werden keine juristischen Spitzfindigkeiten ausgetauscht.
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Wir brauchen keine Paragrafenreiter und Schlaumeier wie Herrn Lindner,
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sondern wir brauchen einen Minister, der anpackt, wir brauchen Ärzte, die impfen, und wir brauchen Arzneimittelfirmen, die Impfstoffe liefern.
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Kollege Krauß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Aschenberg-Dugnus?
Ja, gern.
Vielen Dank, Herr Kollege Krauß, dass Sie mir eine Frage gestatten. – Wissen Sie, ich bin es wirklich langsam leid, dass Sie immer die Verfassungsmäßigkeit mit der Schnelligkeit verwechseln und hier sagen, dass es nur daran liegt, dass wir schnell handeln müssen, dass wir keine gesetzliche Grundlage benötigen. Die Verfassungsrechtler, die Professoren – ich nenne mal einige Namen: Professor Di Fabio, Professor Kingreen, Professor Kießling, Professor Augsberg, Professor Leisner-Egensperger, Professor Dabrock – sagen alle, wir benötigen eine gesetzliche Grundlage. Mich würde jetzt mal interessieren – das frage ich Sie ganz dezidiert –, warum Sie nicht auf diese Experten hören. – Vielen Dank.
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Ich stelle jetzt mal die Gegenfrage: Wenn Sie der Meinung sind, dass es unbedingt eines Gesetzes bedarf, warum sind Sie dann nicht schon eher auf die Idee gekommen, das vorzutragen?
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Seit Oktober wissen wir, dass der Impfstoff bald da ist und dann geimpft wird. Wir haben breit darüber diskutiert, in aller Öffentlichkeit – und das ist auch richtig –, wie priorisiert werden soll. Wenn Sie so klug wären, hätten Sie Ihren Gesetzentwurf schon dreimal eher einbringen können.
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Ich sage Ihnen mal: Ich brauche in meinem Wahlkreis nicht vor die Leute zu treten und ihnen von irgendwelchen Professoren zu erzählen, die irgendwas wollen. Die Leute sagen: Der Impfstoff ist da, und es muss geimpft werden. – Wir haben dafür zu sorgen, dass es möglichst schnell geht und dass es nicht irgendwelche Verzögerungen gibt.
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Ich kann doch auch ein Kind, das zu Weihnachten auf sein Geschenk wartet, nicht vertrösten und sagen: Du kriegst das im Januar; wir müssen erst noch irgendwelche rechtlichen Fragen klären. – Das geht nicht.
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Deswegen müssen wir jetzt einfach auch mal zugreifen, anpacken, nicht irgendwelche Paragrafenreiterei betreiben, die Sie hier vorhaben, sondern wirklich handeln.
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Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, trotz all der strittigen Themen kann man, glaube ich, sagen, dass wir bei manchem ja auch einer Meinung sind, nämlich wenn es um den Inhalt geht. Allerdings gibt es da eine Ausnahme, nämlich bei der Frage, ob man das im Rahmen einer Verordnung oder eines Gesetzes macht.
Wir haben uns entschieden, zu priorisieren. Diejenigen, die den größten Schaden von der Erkrankung zu erwarten haben, sollen zuerst geimpft werden, also die über 80-Jährigen, das Pflegepersonal auf den Intensivstationen, Personen mit Trisomie 21, Bewohner in den Altenheimen. Ich finde es gut, dass wir das so machen, weil das in anderen Ländern anders gehandhabt wird.
Die Möglichkeit, schnell nachzusteuern, haben wir natürlich mit einer Verordnung. Die Ständige Impfkommission hat zum Beispiel empfohlen, dass im Einzelfall der Arzt entscheiden soll, ob junge Leute mit Vorerkrankungen vorzuziehen sind. Ich halte dies für einen guten Ansatz. Das Ministerium kann über die Verordnung jetzt schnell reagieren. Hätten wir eine Regelung als Gesetz in Stein gemeißelt, dann wäre eine Änderung wesentlich langwieriger und komplizierter gewesen.
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Keine Frage: Wir sind beim Impfen noch nicht so schnell, wie wir uns das alle wünschen. Wir wollen, dass mehr geimpft wird, dass mehr Impfstoff zur Verfügung steht. Die Impfbereitschaft der Menschen wächst rasant: von 52 Prozent Mitte Dezember auf jetzt 63 Prozent. Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Trend weiter anhalten wird, weil die Menschen erkennen, wie wichtig es ist, sich selbst zu schützen, damit wir als Land gut durch diese Pandemie kommen und möglichst schnell zum normalen Leben zurückkehren können.
Trotz aller Lieferprobleme der Hersteller: Es gibt mehr und mehr Impfstoffe. Wir haben zwar noch harte Wochen vor uns; aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen:
Wir haben gestern die Nachricht bekommen, dass eine weitere Produktionsstätte für den Impfstoff von BioNTech in Marburg genehmigt worden ist; da stehen dann also mehr Kapazitäten zur Verfügung. Wir erwarten heute die Zulassung des Impfstoffs von AstraZeneca, und ich bin sehr zuversichtlich, dass es für den Impfstoff von Johnson & Johnson, der Phase III der Prüfung bald abgeschlossen haben wird, sehr schnell zu einer Genehmigung kommen kann. Die Firma hat ja auch das Mutationsvirus in den Test einbezogen; auch das ist positiv. Wenn die Zulassung erfolgt, dann kann es vielleicht gelingen, dass wir im ersten Quartal schon mit der Verimpfung dieses Impfstoffes beginnen. Die Besonderheit bei dem Impfstoff von Johnson & Johnson besteht darin, dass es sich um eine Einmalgabe handelt, man also nur einmal geimpft werden muss. Auch das würde uns helfen, weil man dann schneller dazu übergehen kann, in den Hausarztpraxen zu impfen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen Macher. Wir brauchen Leute, die anpacken. Wir brauchen keine Paragrafenreiter, und deswegen werden wir den Antrag der FDP ablehnen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jörg Schneider für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verfassungsrechtler sagen, wir könnten diese Impfreihenfolge nicht per Verordnung regeln, wir bräuchten dafür ein Gesetz. Daher der Vorschlag der FDP.
Aber ich möchte zunächst einmal auf das eingehen, was Sie eben erzählt haben, Herr Krauß. Ich habe mir in den vergangenen Wochen einige Impfzentren in Nordrhein-Westfalen angeguckt.
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Dort wurde gute Arbeit geleistet. Die waren am 15. Dezember letzten Jahres arbeitsfähig. Was aber in den letzten Tagen passiert ist, das war eine Katastrophe. Die Anmeldeinformationen wurden ziemlich zeitgleich an alle aus der betroffenen Prio-Gruppe 1 versendet, und zwar deutlich bevor die Anmeldesoftware scharfgeschaltet war. Da haben also Leute versucht, sich anzumelden, konnten das aber nicht. Die werden schon frustriert aufgegeben haben, bevor dann am letzten Montag endlich diese Anmeldesoftware verfügbar war.
Und dann erlebten diejenigen, die es dann am Montag versuchten, die nächste Überraschung: Weil sich alle gleichzeitig anmelden wollten, kam es dort wieder zu Abstürzen und zu merkwürdigen Fehlermeldungen. Ich frage mich schon: Warum kann man nicht zuerst die Software freischalten, dann die Briefe versenden, und das vielleicht noch zeitlich gestaffelt? Das versteht doch kein Mensch, was Sie da gemacht haben!
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Ich habe noch einen Hinweis. Wir wissen seit dem Sommer, dass es zwei Impfungen erfordert, um Immunität zu erreichen.
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Allerdings deckt das die Anmeldesoftware nicht ab; ich kann nur einen Termin vereinbaren.
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Und dann kommen die Leute in das Impfzentrum. Das Impfzentrum kann aber nicht feststellen, ob es schon einen zweiten Termin gibt. Die müssen dann diesen 80-Jährigen, der vielleicht ein paar Erinnerungsprobleme hat, fragen: Haben Sie eigentlich schon einen zweiten Termin?
Meine Damen und Herren, das ist doch eine Katastrophe! Und dass die FDP sich jetzt hinter verfassungsrechtlichen Problemen versteckt, ist mir natürlich klar; denn für das Chaos in Nordrhein-Westfalen tragen Sie dort als Mitregierungspartei eine gehörige Mitverantwortung.
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Eine Impfpriorisierung hat übrigens auch sehr viel mit den Eigenschaften des Impfstoffs zu tun. Wir wissen, dass der derzeit eingesetzte Impfstoff eine gute Immunität erzeugt. Wir wissen aber noch nicht, ob er auch verhindert, dass der Geimpfte das Virus übertragen kann. Wenn wir das irgendwann mal wissen oder einen geeigneten Impfstoff haben, dann könnte das eine komplette Umkehrung der Priorisierung bedeuten. Dann wäre es vielleicht gar nicht mehr so sinnvoll, den 70- oder 80-Jährigen mit wenigen Sozialkontakten zu impfen, sondern es wäre dann vielleicht viel sinnvoller, die zu impfen, die viele Sozialkontakte haben.
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Das beträfe nicht nur die Pflegekräfte, sondern vielleicht auch die Kassiererin an der Supermarktkasse, den Schaffner im Zug oder den Paketboten.
Wir haben gerade gestern erfahren, dass der Impfstoff von AstraZeneca für Menschen höheren Alters weniger geeignet ist. Heute gab es eine Meldung über einen neuen Impfstoff, der für HIV-Patienten weniger geeignet ist. Wir werden also ständig die Impfprioritäten ändern müssen. Wir müssen unter Umständen für jeden Impfstoff eine eigene Impfstrategie entwickeln.
Was sagt die FDP dazu? Dann gibt es einfach jedes Mal ein Gesetz, und das muss dann im Bundestag abgesegnet werden. Wir haben täglich neue Informationen über Corona und über die Impfstoffe. Da kommt man mit den Verordnungen oder Gesetzen vielleicht noch hinterher, aber wir würden uns hier im Bundestag doch mit nichts anderem mehr beschäftigen.
Meine Damen und Herren, mein Fazit: Ihr Gesetzentwurf mag vielleicht den einen oder anderen Verfassungsjuristen glücklich machen, aber in der praktischen Umsetzung kann er überhaupt nicht funktionieren. Und die Probleme, die die Menschen gerade draußen im Lande haben, die löst er erst recht nicht.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Kollegin Marja-Liisa Völlers für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein E-Mail-Postfach von uns Bundestagsabgeordneten ist eigentlich immer ein ganz guter Gradmesser, wenn es um die Frage geht: Was bewegt die Menschen in unserem Land gerade besonders?
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Und da kann ich Ihnen aus meinen Zuschriften eines ganz klar sagen: Die Frage, ob wir die Priorisierung bei der Impfung gegen Corona besser in einem Gesetz statt in einer Verordnung regeln sollen, taucht dort definitiv nicht auf.
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Bei mir ist keine einzige E-Mail dazu eingegangen. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, dass Ihre Postfächer mit dieser Frage geflutet werden. Die Menschen in meiner Heimat, in meinem Wahlkreis, möchten Antworten zu folgenden Fragen: Warum klappt das mit der Impfstoffbeschaffung nicht so richtig?
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Welche Wirtschaftshilfen bekommt mein Unternehmen? Warum klappt das mit der Kurzarbeit so gut? Das sind die Dinge, für die sich die Menschen bei mir zu Hause interessieren. Die fragen mich nicht nach einer Coronavirus-Impfverordnung.
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Also debattieren wir das heute. Wir debattieren über verschiedene Themen; aber vor allem dieses Thema geht an der Lebensrealität der Menschen und an den Problemen, mit denen sie gerade zu kämpfen haben, völlig vorbei.
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Ich finde, wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollten uns lieber mit anderen, wichtigen Fragen beschäftigen. Diese Debatte, die wir übrigens schon im November geführt haben, gehört irgendwie nicht dazu, sondern sie schwächt das Parlament als solches.
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Wir Abgeordnete haben sehr wohl ein Gespür dafür, wann und wie wir reagieren müssen. Der Bundestag ist doch kein abgehobenes Raumschiff, auch wenn uns das der eine oder die andere mal vorwerfen mag.
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Das zeigt sich zum Beispiel in dieser Woche sehr gut. Wir haben vereinbart, dass wir eine Sitzungswoche aus dem März auf Anfang Februar vorziehen, damit wir hier gemeinsam debattieren und Entscheidungen fällen können und nicht erst am 22. Februar nach Berlin zurückkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich verstehe, ehrlich gesagt, Ihren Grundgedanken bei diesem Gesetzentwurf nicht ganz.
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– Ja, das können Sie so sehen. Alles gut. – Wieso sollte der Gesetzgeber, also der Bundestag, zum Beispiel die Impfreihenfolge festlegen? Wir haben dafür Experten, zum Beispiel vom Robert-Koch-Institut, von der Ständigen Impfkommission, vom Deutschen Ethikrat, von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Das sind die Expertinnen und Experten für genau diese Fragen.
Indem wir als Gesetzgeber mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz in § 20i Absatz 3 des Sozialgesetzbuchs V festgelegt haben, welche Personengruppen bei den Impfungen gegen SARS-CoV-2 grundsätzlich den Vorrang haben sollen, haben wir diesen Korridor gesetzgeberisch schon ganz klar vorgeschrieben und waren dementsprechend bereits an der Priorisierung beteiligt. Wir haben zudem festgelegt, dass das Bundesministerium für Gesundheit die Details dazu in einer Verordnung regelt. Diese wiederum basiert natürlich auf den neuesten wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnissen ebenso wie auf ethischen Überlegungen.
Der Vorteil dieser geltenden Impfverordnung ist, dass mit ihr recht flexibel reagiert werden kann. Und warum ist das nötig? Wir haben es mit einer sehr, sehr dynamischen Situation zu tun. Das sehen wir alle doch jeden einzelnen Tag. Ich sage nur: Impfstoffhersteller und zugesagte Mengen an Lieferungen oder auch die schon angesprochene Entwicklung rund um AstraZeneca. Falls sich nach der Zulassung durch die EMA herausstellen sollte, dass die über 65-jährigen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht mit diesem Vakzin geimpft werden können, dann könnten wir diese Verordnung sehr schnell anpassen. Mit Ihrem Gesetz ginge das aber nicht so einfach und so schnell.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir als SPD sind davon überzeugt, dass das von Ihnen vorgeschlagene Coronavirus-Impfgesetz zur Festlegung der Priorisierung diesem regen Infektionsgeschehen überhaupt nicht gerecht werden kann. Wir müssen den notwendigen Grundrechtsschutz ausreichend absichern, und das geht angesichts der Dynamik am besten über den Weg, den wir hier gewählt haben, nämlich die Verordnung. Mit ihr kann schnell und flexibel reagiert werden.
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Mit einem Gesetz geht das in meinen Augen nicht.
Aber gerade dieses schnelle und flexible Reagieren brauchen wir in einer Pandemie. Ein Gesetz brauchen wir dazu nicht extra; das ist an dieser Stelle nicht notwendig.
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Darin hat uns auch die Anhörung im Gesundheitsausschuss vom 13. Januar dieses Jahres bestätigt.
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– Hören Sie mir doch erst mal zu, Herr Kollege! – Dort gab es zwar zugegebenermaßen auch Stimmen, die Ihre Intention eines Gesetzentwurfes im Grundsatz unterstützten; aber genügend andere Sachverständige haben ganz, ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass ein effektiver Grundrechtsschutz besser über den Verordnungsweg zu gewährleisten ist.
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Die Verfassungsrechtler sind sich, anders als Sie das vermutlich gleich wieder behaupten werden, nicht darüber einig, dass Priorisierungsregelungen zwingend durch Gesetz zu treffen sind. Zum Beispiel die Sachverständige Professor Dr. Leisner-Egensperger hat eine Funktionsteilung zwischen Legislative, also dem Bundestag,
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und der Exekutive, also der Bundesregierung, klar und gut begründet. Sie hat ausgeführt, dass sich mit dem Coronavirus-Impfgesetz, wie es die FDP heute beschließen möchte, kein dynamischer Grundrechtsschutz – diesen verlangt das Bundesverfassungsgericht – verwirklichen lässt. An der Verfassungsmäßigkeit Ihres Gesetzentwurfes gibt es erhebliche Zweifel, die in der Anhörung aufgezeigt wurden.
Folgerichtig lehnen wir, die SPD-Fraktion, Ihren Gesetzentwurf ab. Ich persönlich kümmere mich jetzt, hiernach, wieder um die Anliegen der Menschen in meinem Wahlkreis.
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Einen schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt kommt für die FDP-Fraktion Christine Aschenberg-Dugnus.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich unglaublich, was gerade gesagt wurde; auch von Ihnen, Frau Kollegin. Sie arbeiten einfach mit Falschbehauptungen. Ich war bei der Anhörung dabei. Die von Ihnen genannte Frau Professor Dr. Leisner-Egensperger hat eindeutig gesagt, dass es eines Gesetzes bedarf, um die verfassungsrechtliche Klarheit herzustellen.
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Hat sie gesagt. Wir können uns noch mal die Mitschrift anschauen.
Unser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, verfolgt das Ziel, die verfassungsrechtliche Frage der Impfpriorisierung gesetzlich zu regeln. Warum? Weil der von der Koalition geschaffene Rechtszustand, diese Priorisierung über eine Verordnung zu regeln, verfassungswidrig ist.
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Ich finde es einen Skandal, wie Sie das Verfassungsrecht mit Füßen treten.
Herr Krauß, Sie sagen, es ist Ihnen völlig egal, was die Experten sagen. Das ist eine Unverschämtheit. Es geht hier um Grundrechtsschutz.
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Sie behaupten, das gehe an der Wirklichkeit der Menschen vorbei. Im Moment sind wir uns alle einig, dass die Risikogruppen zuerst geschützt werden müssen. Aber die Frage ist doch: Wer muss danach geimpft werden? Der Polizist oder andere oder die Lehrer? Da geht es nämlich los. Wenn dann einzelne Leute meinen, sie müssten klagen, werden Sie merken, dass das Gesetz verfassungswidrig ist.
({3})
Deswegen betrifft es nämlich auch die Wirklichkeit der Menschen in diesem Lande, meine Damen und Herren.
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Ich frage mal ganz speziell die CDU hier. Das, was Sie zu der Anhörung beigetragen haben, war mehr eine Blockadehaltung als alles andere. Sie waren nicht in der Lage, auch nur einem Experten eine Frage zur Verfassungsmäßigkeit Ihrer Verordnung zu stellen.
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Sie haben die ganze Zeit um den heißen Brei herumgeredet, was ja auch klar war, weil Sie genau wussten, Sie kriegen damit die falschen Antworten. Genau das macht man, wenn man Angst vor den richtigen Antworten hat. Und das muss ich Ihnen vorwerfen.
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Es herrschte nämlich Einigkeit, dass die Verordnung des BMG zur Impfpriorisierung verfassungswidrig ist. Das Ganze wurde danach noch – und das hat mich sehr aufgeregt – von dem Kollegen Heribert Hirte garniert mit einer Fake-News-Kampagne. Zwei der Sachverständigen, nämlich Professor Kingreen und Professor Kießling, wurden auf Twitter als AfDler und Coronaleugner beschimpft. Das ist anstandslos und eines Abgeordneten nicht würdig.
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Ja, er hat sich danach entschuldigt. Aber das reicht nicht, meine Damen und Herren.
In einer Demokratie – und das sind wir hier; darauf sollten sich mal alle besinnen, meine Damen und Herren – ist es Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen – und das ist ein grundlegender Grundgesetzbereich – durch förmliche Gesetze zu legitimieren und alle wesentlichen Entscheidungen selbst hier zu treffen. Und bei der Priorisierung handelt es sich doch zweifelsfrei um eine wesentliche Grundrechtsentscheidung. Es geht hier um Leben und Tod, darum, wer zuerst den Impfstoff erhält. Wenn das keine Grundrechtsentscheidung ist, na, dann frage mich: Was denn sonst?
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Es ist nicht nur die Aufgabe des Gesetzgebers, es ist die Pflicht des Gesetzgebers, diese wesentlichen Entscheidungen hier, im Deutschen Bundestag, zu treffen. Und das betrifft die Menschen vor Ort.
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Ja, auch wir halten die Verordnungsermächtigung des Bundesministeriums für Gesundheit für angebracht. Warum? Es wurde schon gesagt: Damit schnell gehandelt werden kann, wenn es erforderlich ist. Wir sehen es ja gerade bei AstraZeneca. Aber – und jetzt kommt es –: Nach unserem Vorschlag ist eine Verordnungsermächtigung nur mit Zustimmung des Bundestages möglich, und das ist eben der Unterschied, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen klare Verfahren und damit Rechtssicherheit – ein Begriff, der Ihnen leider abhandengekommen ist.
Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause: Seien Sie selbstbewusste Parlamentarier! Beenden Sie den jetzigen verfassungswidrigen Zustand, und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Pia Zimmermann.
({0})
Vielen Dank. – Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat hier die Arbeit der Bundesregierung gemacht – so viel kann man schon mal feststellen –: Sie hat eine gesetzliche Regelung für einen massiven Grundrechtseingriff vorgelegt. Vergessen wir nicht: Die Entscheidung, wer das knappe Gut „Coronaimpfstoff“ zuerst erhalten darf, hebt die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger auf und schafft Vorrang und Nachrang. Eine gesetzliche Regelung, also eine parlamentarische Regelung, ist notwendig. Ich bemängele mit Nachdruck, dass die Große Koalition es bis heute ablehnt, diese Verantwortung zu übernehmen.
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Ich finde es gut, dass Minister Spahn eine Impfpflicht ausschließt. Aber auf der anderen Seite gibt es für die allermeisten keine Möglichkeit, sich für eine Impfung zu entscheiden, und schon gar nicht für einen bestimmten Impfstoff.
Meine Damen und Herren, wir können als Linke dem Gesetzentwurf der FDP trotzdem nicht zustimmen. Denn – und das sieht man hier deutlich – es reicht nicht, einfach nur einen Gesetzentwurf vorzulegen; es kommt natürlich auch auf die Inhalte an, und da hakt es. Extrem viele besonders zu schützende Gruppen mit einem hohen Infektionsrisiko werden in dem Gesetzesvorschlag nicht zur Genüge berücksichtigt. Ich möchte beispielhaft die pflegenden Angehörigen nennen. Wir können auch über Geflüchtete in Massenunterkünften reden oder prekär Beschäftigte in Schlachthöfen oder anderswo.
({1})
Der Schutz pflegender Angehöriger, die in dieser Pandemie vergessen, ignoriert und übergangen werden, ist überfällig, und da spreche ich ausdrücklich nicht nur über Impfstrategien. Wer pflegende Angehörige schützt, schützt mittelbar auch die Menschen mit Pflegebedarf und im Endeffekt die Versorgung in Gesundheit und Pflege, die momentan fast kollabiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Menschen mit Pflegebedarf zu Hause und allein von ihren Angehörigen gepflegt werden, zum größten Teil von Frauen, die für diese Pflege ihre Lohnarbeit und ihre Sozialkontakte einschränken. Diese große Gruppe von Menschen immer wieder so weit zurückzustellen, ist auch aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge falsch. Und wenn Sie mich fragen: Es ist auch moralisch falsch.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes betonen: Wenn wir über die Reihenfolge reden, wer zuerst mit Impfstoff versorgt werden muss, ist der nationale Blick viel zu eng gefasst. Wir reden über eine weltumspannende Pandemie. Über eine Gewichtung in der Impfstoffvergabe zu reden, ohne über eine Freigabe der Lizenzen zu sprechen, ist allerdings scheinheilig. Auch die ärmsten Länder müssen eine Chance haben.
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Meine Damen und Herren, die globale Pandemie überwinden, das können wir nur durch internationale Solidarität.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Pia Zimmermann. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Manuela Rottmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns mit der FDP-Fraktion und – da teile ich Ihre Wahrnehmung der Anhörung – mit allen Sachverständigen einig, dass die derzeitige Impfverordnung über keine gesetzliche Grundlage verfügt.
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Es geht hier nicht um Gesetz oder Verordnung. Jede Verordnung braucht eine gesetzliche Grundlage, und an der fehlt es.
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Und solange der Impfstoff knapp ist, birgt seine Verteilung natürlich Konfliktpotenzial. Ja, es gibt bereits Klagen auf Impfungen und gegen diese Verordnung, und jedes Verwaltungsgericht in Deutschland kann diese Verordnung außer Kraft setzen. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, solche wesentlichen Fragen zu entscheiden und vermeidbare Konflikte nicht den Kommunen oder den Gerichten vor die Tür zu kehren, erst recht nicht, wenn es um eine so zentrale Frage wie die Impfung gegen Covid-19 geht.
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Und ich verstehe nicht, warum die Koalition dieses völlig unnötige Risiko eingeht.
Dass der Impfstoff nicht EU-weit oder, wie es eigentlich nötig wäre, weltweit sofort verfügbar ist, kurz nach der Zulassung, ich finde, das muss jedem vernünftigen Menschen vorher klar gewesen sein. Aber Sie riskieren in dieser schwierigen Situation nun auch noch, dass Ihnen die Regelungen für die Verteilung gekippt werden. Wenn das passiert, dann tragen Sie allein, Sie von Union und SPD, dafür die Verantwortung.
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Der Gesetzentwurf der FDP zeigt aber auch die Schwierigkeit, in einer extrem dynamischen Lage gesetzlich bestimmte Regelungen zu fassen. Wir finden, es ist Ihnen nicht gut gelungen, das richtige Maß an gesetzgeberischer Bestimmtheit und nötiger Flexibilität zu treffen. Auf der einen Seite gibt es da den § 3, der geradezu detailversessen die Impfreihenfolge durchregulieren will. Auf der anderen Seite erteilen Sie dann aber in § 6 eine Verordnungsermächtigung, die diese detaillierte Regelung in § 3 wieder völlig zur Disposition stellt.
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Ich finde, die Verordnungsermächtigung der FDP ähnelt damit – mit Ausnahme der Beteiligung des Bundestags – sehr stark den anderen Ermächtigungen in § 5 Infektionsschutzgesetz, an deren Bestimmtheit wir höchste verfassungsrechtliche Zweifel haben.
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Wir wissen seit gestern, dass der AstraZeneca-Impfstoff nur eine Zulassung für Erwachsene unter 65 Jahren erhalten wird. Das heißt, dass die in Ihrem Gesetz durchformulierte Reihenfolge in § 3 eigentlich schon wieder hinfällig ist. Deswegen finden wir, mit Ihrem Entwurf ist gegenüber dem Status quo zu wenig gewonnen. Dennoch: Die FDP hat sich Verdienste erworben, weil sie das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat.
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Wir haben einen anderen Vorschlag eingebracht. Wir wollen zum Beispiel die Belange von Menschen mit Behinderung stärker einbeziehen sowie die Belange der übrigen Gruppen und die Perspektive der Antidiskriminierungsstelle mit berücksichtigen. Wir wollen, dass die Impfung von pflegenden Angehörigen höher gewichtet wird als bisher, um diesen zu ersparen, dass sie monatelang in die Selbstisolation müssen. Wir schlagen aber vor, dass wir zur Impfreihenfolge nach den groben gesetzlichen Maßgaben, die wir machen, auf den Verordnungsweg verweisen, schreiben allerdings auch eine Beteiligung von Bundestag und Bundesrat fest. Wir glauben, wir genügen so den Anforderungen von Artikel 80 Grundgesetz.
Wir bitten daher alle um Zustimmung zu unserem Antrag. Es ist auch in Ihrem Interesse, im Interesse der Koalition.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Manuela Rottmann. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Erwin Rüddel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss war ich auch dabei
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und habe, glaube ich, auch aufmerksam zugehört. Es gab sehr viele Meinungen, wie das bei Anhörungen immer der Fall ist.
({1})
Meine Wahrnehmung war: Man kann das machen, man muss es aber nicht machen. Ich bin der Meinung: Wir sollten bei dem bleiben, was wir beschlossen haben, und die Verordnung zur Reihenfolge beibehalten. Ich werde mich gegen den Gesetzentwurf aussprechen und begründe das auch gerne.
Die Basis dessen, was wir jetzt tun, ist das dritte Bevölkerungsschutzgesetz, das mit großer, großer Mehrheit hier im Haus beschlossen worden ist. Wir haben mit diesem dritten Bevölkerungsschutzgesetz die Bundesregierung beauftragt, eine Priorisierungsverordnung zu erstellen, und haben ihr auch den Auftrag gegeben, wie sie das machen soll, dass sie nämlich die vulnerabelsten Gruppen und die, die sie pflegen, zuerst impfen lässt. Nach diesem Grundsatz und nach den Grundsätzen der Ständigen Impfkommission ist die Verordnung formuliert worden. Es wird meiner Wahrnehmung nach auch im vorliegenden Gesetzentwurf der FDP diese grundsätzliche Reihenfolge nicht infrage gestellt.
({2})
Zudem haben die Länder auf Basis der Verordnung die Möglichkeit, daran in begründeten Einzelfällen Änderungen vorzunehmen.
Wenn wir jetzt dem Wunsch der FDP folgen und die geltende Verordnung durch eine gesetzliche Regelung zur Priorisierung von Personengruppen ersetzen, käme es unweigerlich zu neuen Diskussionen über mögliche Änderungen der Reihenfolge, und die Menschen würden nur verunsichert.
({3})
Ich möchte auch diesen Hinweis geben: Wenn wir Menschen neu in die Priorisierungsgruppe 1 aufnehmen, dann werden andere Menschen, die heute einen schnellen Zugang zu einem Impfschutz haben, hintenangestellt. Das heißt, wenn man jemandem eine bessere Stellung gibt, muss man auch die Entscheidung treffen, wem man eine schlechtere Stellung gibt. Ich denke, die Zeit ist nicht da, um diese Diskussion zu führen, gerade auch jetzt, wo hochemotional zwar über die Schnelligkeit des Impfens, aber nicht über die Impfreihenfolge diskutiert wird,
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die nach meiner Wahrnehmung allgemein akzeptiert ist.
Wenn ich mir die Entwicklungen bei dem Impfstoff von AstraZeneca ansehe, so kann man heute davon ausgehen, dass die Datenlage es momentan nicht hergibt, dass Menschen über 65 damit geimpft werden. Das kann sich jeden Tag ändern; es ist wahrscheinlich nicht anzuzweifeln, dass auch der Impfschutz für Ältere da ist, aber die Datenlage gibt es heute nicht her. Wenn wir das alles auf Basis eines Gesetzes regeln wollten, dann wäre die Impfchance vergeben.
({5})
Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Nicht nur wegen der Schnelligkeit und Flexibilität, sondern auch, weil wir im dritten Bevölkerungsschutzgesetz die Standards gesetzt haben und sich die Regierung daran orientiert hat, sollten wir bei der jetzigen Regelung bleiben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Erwin Rüddel. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Tino Sorge.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der FDP hat erhebliche Schwächen, leider wieder einmal. Ich will Ihnen drei nennen.
Erstens. Sie sind viel zu spät dran.
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– Tut mir leid, ich kann es Ihnen nicht ersparen. Und selbst wenn wir jetzt sagen: „Wir machen das Gesetz“ – wir würden erheblichen Zeitverzug haben.
Das ist nicht das alleinige Argument,
({1})
aber der zweite Punkt ist: Wir führen hier tatsächlich eine Scheindebatte.
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Das haben ja nun schon einige Vorrednerinnen und Vorredner gesagt. Wir haben wichtigere Probleme. Die Menschen vor Ort interessiert nicht, ob wir ein Gesetz oder eine Verordnungsermächtigung erlassen haben. Die Leute interessiert: Bekomme ich einen Impftermin? Wie schnell wird geimpft? Wie viele Menschen werden geimpft?
({3})
Und da geht es letztendlich nicht um Spitzfindigkeiten, die man so oder so sehen kann. Die Debatte ist sicherlich wichtig, aber sie kommt viel zu spät.
({4})
Liebe Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, ich schätze Sie sehr, das wissen Sie ja auch. Ich schätze Sie auch häufig für Ihre Serviceopposition, die Sie hier vertreten. Aber bei der Frage der Verordnungsermächtigung bin ich wirklich heilfroh, dass wir das gemacht haben. Wir haben damals die Grundlagen geschaffen, damit wir bereits im Dezember mit Impfungen anfangen konnten. Wir sind uns alle einig: Das geht zu langsam, wir brauchen mehr Impfstoff, wir brauchen schneller Impfstoff, und wir brauchen insbesondere mehr Termine, dass geimpft werden kann.
({5})
– Die Scheindebatte, die wir hier führen, ist ja gerade die, dass Sie im Grunde das fordern, was wir bereits mit der Verordnung umgesetzt haben. Wenn Sie wenigstens im Gesetzentwurf etwa fordern würden: dass die Reihenfolge anders ist, dass die Priorisierung anders ist, etwas – was auch immer –, was erheblich von der Verordnung abweicht! Aber das ist nicht der Fall. Und es ist ja angesprochen worden: Diese Verordnungsermächtigung haben wir im Rahmen der parlamentarischen Debatten hier behandelt.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Dr. Schinnenburg?
Von Herrn Schinnenburg? Jederzeit, sehr gern.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Ich habe eigentlich nur fast eine Anregung. Sie werden ja wahrscheinlich unseren Gesetzentwurf ablehnen. Die Frage ist: Wollen Sie ihn vielleicht abspeichern, damit Sie, wenn das Drama eintritt, dass die Gerichte reihenweise dazwischenfunken, schnell unseren Gesetzentwurf als Ihren eigenen einbringen können, um die Situation zu retten? Planen Sie das?
({0})
Lieber Wieland Schinnenburg, ich halte in der Diskussion überhaupt nichts von Alarmismus. Jetzt Alarmismus zu betreiben und zu sagen, dass möglicherweise am Ende dieser sehr kontroversen Debatte ein Gericht darüber entscheidet und vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen könnte, heißt im Ergebnis nicht, dass wir von vornherein immer sagen, das, was wir hier im Bundestag mehrheitlich entschieden haben, sei falsch.
Deshalb möchte ich auch noch mal darauf hinweisen – das hat Christine Aschenberg-Dugnus leider auch wieder gemacht –, dass hier immer suggeriert wird, die parlamentarische Demokratie sei in Gefahr, wir hätten den Erlass der Verordnungsermächtigungen dem BMG ohne gesetzliche Grundlage übertragen. Wir haben im Rahmen der Behandlung des dritten Bevölkerungsschutzgesetzes – daran will ich hier auch noch mal erinnern –, auch wenn es eine sehr kontroverse Diskussion war, mehrheitlich in diesem Hause entschieden, so vorzugehen. Da kann man natürlich anderer Meinung sein. Man kann sich als Serviceopposition auch ein bisschen ärgern, dass man da keine Mehrheit bekommen hat. Aber ich glaube, es hilft niemandem und erst recht nicht denjenigen, die vor Ort auf einen Impftermin warten, die schnell geimpft werden wollen, wenn wir hier darüber diskutieren und wenn Sie sagen: Weil wir keine Mehrheit bekommen haben, ist die parlamentarische Demokratie in Gefahr.
({0})
Insofern, glaube ich, ist uns allen mehr gedient, wenn wir in der Debatte ein bisschen zurückfahren, auch unaufgeregter debattieren. Wir können gern unterschiedliche Auffassungen austauschen. Aber mir wäre es lieber, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden, sodass wir demnächst, sehr, sehr zeitnah, nicht mehr über Knappheiten sprechen, nicht mehr über Priorisierungen sprechen, die wir infolge von Knappheiten vornehmen müssen, wir vielmehr gemeinsam sagen können: Wir haben es schnell hinbekommen; jeder, der geimpft werden will, bekommt einen Impftermin. – Da bin ich sehr, sehr hoffnungsfroh und bedanke mich auch für Ihre Mitarbeit.
Herzlichen Dank.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kriegswaffen sind keine Ware wie jede andere. Deswegen haben Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz auch eine geringere Bestandkraft als andere Genehmigungen. § 6 Absatz 1 lautet: „Auf die Erteilung einer Genehmigung besteht kein Anspruch.“ Nach § 6 Absatz 3 Nummer 1 ist die Genehmigung zu versagen, wenn „die Gefahr besteht, daß die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung … verwendet werden“. Und in § 7 steht: „Die Genehmigung kann jederzeit widerrufen werden.“ Sie ist zu widerrufen, wenn die Gefahr einer friedensstörenden Handlung „nachträglich offenbar“ geworden ist.
Die Bundesregierung hat 2009 den Verkauf von sechs U-Booten der Firma thyssenkrupp an die Türkei genehmigt. Die Herstellung und Lieferung dieser U-Boote findet nach wie vor statt.
2009 hatten wir es mit einer anderen Türkei zu tun als heute. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden eliminiert. 2018 ist die Türkei völkerrechtswidrig ins Nachbarland Syrien einmarschiert. Es kam zu Vertreibungen und ethnischen Säuberungen in der kurdischen Bevölkerung, die bis heute andauern. In Libyen hat die Türkei kontinuierlich das UN-Waffenembargo gebrochen. Sie hat Militärhilfen, Truppen und syrische Söldner nach Libyen geschickt. Besonders bedrohlich für unsere nationale und europäische Sicherheit ist die maritime Eskalationsstrategie der Türkei im östlichen Mittelmeer. Im April schickte die Türkei zur Exploration der Erdgasfelder ein Bohrschiff in Begleitung eines Marinekriegsschiffs in die zypriotische Außenwirtschaftszone. Am 10. Juni haben türkische Kriegsschiffe ein französisches Marineschiff angegriffen, als dieses im Rahmen der NATO-Mission Sea Guardian – an der sich im Übrigen auch die Bundeswehr beteiligt – ein türkisches Schiff inspizieren wollte, um die Einhaltung des UN-Waffenembargos gegen Libyen zu kontrollieren.
Im August ließ die Türkei ein Forschungsschiff von 17 Kriegsschiffen in europäische Gewässer begleiten, wobei es zur Kollision mit einem griechischen Schiff kam. Daraufhin hat Frankreich zur Verteidigung der EU-Außengrenzen zwei Marineschiffe und Kampfflugzeuge in dem Gebiet stationiert. Allein zwischen Januar und September 2020 hat Griechenland über 600 Verletzungen seines Luftraumes durch die türkische Luftwaffe dokumentiert. Der Europäische Rat hat das Verhalten der Türkei mehrfach aufs Schärfste verurteilt und die uneingeschränkte Solidarität mit Griechenland und Zypern zum Ausdruck gebracht.
Das alles ist kein Zufall; es geht nicht nur um Gas. Mit der nationalistischen Agenda „Blaues Vaterland“ will Erdogan vielmehr eine maritime Hegemonialmacht in der Region etablieren. Und was macht die Bundesregierung? Sie liefert Erdogan die strategisch extrem wichtigen U-Boote, um genau diese maritime Hegemonialmacht durchzusetzen. Das ist sicherheitspolitischer Kamikaze.
({0})
Sie schwächen damit die Verhandlungsposition der griechischen Seite, die gerade mal wieder versucht, mit der Türkei zu verhandeln.
Diese Exportgenehmigung muss widerrufen werden, auch wenn die Regierung dafür Aufwendungsersatz zahlen müsste. Europäische Sicherheit und Solidarität gehen vor.
({1})
Kaum ein Rüstungsexportgeschäft hat eine derartig gravierende Gefährdung unserer eigenen Sicherheitsinteressen zur Folge. Welche Genehmigung soll jemals nach § 7 Kriegswaffenkontrollgesetz widerrufen werden, wenn nicht diese?
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Für die Zukunft sollten wir uns besser vorher überlegen, ob wir derartige Genehmigungen überhaupt noch erteilen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Klaus-Peter Willsch.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Keul, jetzt haben wir mal wieder so eine Debatte. Ich habe schon darauf gewartet, dass wir mal wieder Rüstungsexporte debattieren. Heute haben wir dazu gleich drei Anträge, und es sind ein paar echte Klassiker dabei.
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Wieder einmal wird hier von einigen der falsche Eindruck vermittelt, Deutschland wäre die Rüstungsschmiede der Welt.
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Das ist, wie Sie alle miteinander wissen, absoluter Unsinn.
Die Bundesregierung verfolgt eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik. Über die Erteilung von Genehmigungen von Rüstungsexporten entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Grundlage hierfür sind die rechtlichen Vorgaben des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen, des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsverordnung, der Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008, der Vertrag über den Waffenhandel, The Arms Trade Treaty, sowie die am 26. Juni 2019 in geschärfter Form verabschiedeten Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export.
Diese Politischen Grundsätze wurden in ihrer Urfassung, auf deren Grundlage wir übrigens noch heute arbeiten, 2000 von einer rot-grünen Bundesregierung verfasst. Streitpunkt war damals der Export von Panzern an unseren NATO-Partner Türkei. Grüne befürchteten einen Einsatz der Panzer als Mittel der inneren Repression, die SPD hielt dem entgegen – was bis heute richtig ist –, dass wir mit NATO-Partnern, mit denen wir gemeinsam unsere Sicherheit gewährleisten, Lieferbeziehungen unterhalten, auch bei Waffen. Heute geht es nicht um Panzer, sondern um U-Boote. Sie haben selbst gesagt: Das Geschäft ist 2009 begonnen worden.
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Ich will noch einmal deutlich machen, dass wir nach wie vor eine äußerst restriktive Rüstungsexportpolitik betreiben.
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Sie müssen sich nur noch einmal die Protokolle der Anhörung anschauen, die wir eigens auf Ihren Wunsch hin durchgeführt haben. Damals hat sogar die IG Metall in ihrer Stellungnahme zugegeben:
Auch wenn die Einschätzungen über die Genehmigungspraxis der Bundesregierung unterschiedlich sind, so bleibt doch festzuhalten, dass die Rüstungsexportkontrolle in Deutschland im internationalen Vergleich restriktiv gestaltet ist.
Wissen Sie: Die Türkei gehört nicht zu meinen Urlaubszielen. Ich war dort noch nie im Urlaub, und ich habe auch überhaupt keine Neigung, unter diesen Umständen, unter Erdogan, dorthin zu fahren.
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Es gibt sympathischere Staaten, bei denen ich mir eher vorstellen könnte, U-Boote zu liefern. Aber wie dem auch sei: Wir sind, wie auch die Türkei, Mitglied der NATO. Wir können eine außenpolitische, eine verteidigungspolitische Debatte über Bündnisfragen führen,
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aber hier ist nicht der Platz dafür.
Ich bin als Wirtschaftspolitiker darauf erpicht, dass wir als Deutsche zuverlässige Partner in den Technologiefeldern, in denen wir arbeiten, sind, und dazu gehört dieses. Den Grundsatz, dass wir uns innerhalb der NATO gegenseitig mit Waffen und Waffensystemen unterstützen, sollte man wirklich nicht infrage stellen, weil das unsere Bündnisfähigkeit infrage stellt.
Wir hatten diese Woche in der Parlamentsgruppe Luft- und Raumfahrt einen digitalen Termin zum Thema FCAS. Wir versuchen gemeinsam mit Franzosen und mit anderen, die nächste Generation der Luftverteidigung zu entwickeln und aufzubauen. Ich kann Ihnen sagen, dass hier darauf geschaut wird, wie Deutschland mit solchen Themen umgeht. Wenn wir uns in Technologiefragen und in der gemeinsamen Entwicklung, die Perspektiven von mehreren Jahrzehnten haben, als nicht zuverlässig erweisen, dann können wir uns abmelden.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Trittin?
Aber immer. Ja, Herr Trittin, bitte sehr.
Lieber Herr Kollege Willsch, Sie hatten gesagt, es sei Ihre Auffassung, dass sich NATO-Partner gegenseitig mit Waffen beliefern; das sei so üblich. Ich habe zwei Fragen. Die erste: Ist es richtig, dass die von Ihnen zitierte Rüstungsexportrichtlinie, deren Autorin hinter Ihnen sitzt, besagt, dass NATO-Mitglieder auch ausgenommen werden können? Und die zweite Frage, die ich habe: Halten Sie es unter NATO-Mitgliedern für üblich, dass ein NATO-Mitglied, nämlich die Türkei, mit Waffen gegen ein anderes NATO-Mitglied, gegen Frankreich, oder auch gegen eine deutsche Fregatte vorgeht? Halten Sie es für üblich unter NATO-Mitgliedern, dass ein NATO-Mitglied in der AWZ anderer NATO-Mitglieder widerrechtlich Explorationen durchführt?
Herr Trittin, dass Sie es nach wie vor als historische Niederlage empfinden, dass Sie dem damals in der Schröder-Regierung zugestimmt haben, das kann ich nachvollziehen. Aber ich bin nicht Ihr Therapeut, der sich bemüht, Ihre Traumata zu bewältigen. Das müssen Sie schon selbst fertigbringen.
({0})
Darüber hinaus ist das von Ihnen zu Recht kritisierte Verhalten alles andere als üblich unter militärischen Partnern; da gebe ich Ihnen vollständig Recht. Aber das müssen wir an anderer Stelle diskutieren, das gehört nicht hierher.
({1})
Das ist eine bündnis- und verteidigungspolitische Debatte.
({2})
Ich habe mich gewundert, wie, als wir gesagt haben: „Jetzt lasst uns angesichts des Verhaltens von Erdogan endlich mal die Beitrittsverhandlungen abbrechen“, von den Grünen immer wieder kam: Nein, um Gottes willen! Wir müssen weiterreden. Wir müssen sie halten. – Machen Sie sich doch mal ehrlich! Das passt doch nicht zueinander, was Sie uns hier alles vortragen.
({3})
Ich will noch den zweiten Punkt aufgreifen, der in einem der Anträge gegenständlich ist, nämlich dass es eine Regelungslücke gäbe. Es gibt keine Regelungslücke. Natürlich sind alle E-Mails, Vorarbeiten und Konzeptpapiere mit dem gleichen Genehmigungsvorbehalt unterlegt, mit dem auch die Lieferung und der Verkehr von physischen Waffen unterlegt sind.
Noch ein Zitat aus unserer Anhörung zu diesem Thema: Professor Dr. Joachim Krause hat hierzu deutlich Stellung genommen. Sie sollten Wirklichkeiten auch einfach mal zur Kenntnis nehmen. Ich zitiere:
… Produktionsverlagerungen ins Ausland oder technische Unterstützung ausländischer Unternehmen sind ein unvermeidbares Folgeproblem einer deutschen Rüstungsexportpolitik, die deutlich restriktiver ist als die seiner europäischen Partnerländer.
({4})
Und jetzt aufgemerkt:
Eine zu strenge deutsche Genehmigungspraxis treibt Unternehmen ins Ausland. In einer globalisierten Wirtschaft und einer integrierten europäischen Wirtschaftszone ist das kaum zu unterbinden.
Das müssen Sie einfach mal zur Kenntnis nehmen. Das sind Wirklichkeiten, mit denen wir uns als Industrienation auseinandersetzen müssen.
Ich will auch noch ein mahnendes Wort zum Thema „Bewaffnung von Drohnen“ sagen. Auch hier wird eine Nagelprobe für unsere internationale Bündnisfähigkeit und Kooperationsfähigkeit anstehen, und der können wir nicht ausweichen.
({5})
Wenn wir Drohnen, die wir anschaffen, nicht bewaffnen, dann erweisen wir nicht nur den Soldaten, die im Einsatz sind und die nicht nur die Aufklärung, sondern auch die Wirkungsmöglichkeit brauchen, einen Bärendienst, sondern unternehmen auch einen Angriff auf die Wahrnehmung unserer Bündnisfähigkeit und auf die Zuverlässigkeit, mit der uns unsere technologischen Partner betrachten.
Meine Redezeit neigt sich dem Ende zu.
Nein, sie ist zu Ende.
Sie ist gerade überschritten. Deshalb höre ich jetzt auf.
({0})
Lesen Sie nach, was Herr Bartels in der „NZZ“ zu diesem Thema geschrieben hat, dann kriegen Sie eine etwas realistischere Einschätzung zu dem ganzen Thema Rüstungsexportpolitik.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Klaus-Peter Willsch. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Lothar Maier.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte soll es darum gehen, ob der Türkei Material für fast fertiggestellte U-Boote, aber auch für andere militärische Zwecke geliefert werden soll. Da stoßen zwei Themen aufeinander.
Zum einen ist die Türkei nicht nur NATO-Land, sondern auch eine zunehmend aggressiv auftretende Macht, die eine Art neoosmanische Expansionspolitik verfolgt. Sie steht mit jedem – wirklich jedem – ihrer Nachbarländer im Streit: mit Syrien, mit dem Irak, mit Israel, mit Armenien, mit Griechenland sowieso, mit Ägypten, mit Saudi-Arabien, und neuerdings hat sie es fertiggebracht, auch noch mit Frankreich über Kreuz zu sein. Sie besetzt in Syrien und im Irak völkerrechtswidrig Gebiete. Sie bohrt in griechischen und zypriotischen Gewässern gegen den Willen dieser Länder nach Erdgas und versucht, ihre ausschließliche maritime Wirtschaftszone extrem auszudehnen. Sie fördert die Verbreitung des militanten Islam, auch in seinen radikalsten Spielarten, in Afrika und auf dem Balkan. Sie greift über ihre DITIB-Moscheen in die deutsche Innenpolitik ein. Sie förderte und ermöglichte den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Sie zündelt und konspiriert auf der Arabischen Halbinsel, im Sudan, im Niger und in Mali, und schließlich errichtet sie ein System von Stützpunkten, dass sich in einem viele Tausend Kilometer weiten Bogen gewissermaßen von Baku bis Bamako erstreckt. Das wäre schon fast den Friedensnobelpreis wert, wenn man sich anschaut, wer den in der Vergangenheit sonst so bekommen hat.
({0})
In der Tendenz der Politik der Regierung Erdogan wendet sich die Türkei immer mehr vom Westen ab und versucht, das zu werden, was der Informationsdienst IAP dieser Tage als „sunnitische Großmacht“ bezeichnet hat.
Wer dem nicht Vorschub leisten will, muss dazu beitragen, den aggressiven Expansionskurs dieses Landes zu bremsen, auch durch Zurückhaltung bei neuen Rüstungsexporten, zumindest so lange, bis sich die innenpolitischen Verhältnisse in der Türkei geändert haben, sei es durch Abbau diktatorischer Strukturen, durch Respektierung der Menschenrechte und durch eine friedlichere Außenpolitik. Das ist das eine.
Das andere ist die nach unserer Auffassung überzogene Forderung, die letzten noch fehlenden Teile für die Fertigstellung bestellter U-Boote zu liefern. Die sind nämlich zu 95 Prozent bereits fertiggestellt.
({1})
– Woher habe ich das denn? Vom Verteidigungsministerium! Fragen Sie mal nach; Sie werden die gleiche Antwort bekommen.
({2})
Die AfD steht ganz allgemein einer allzu restriktiven Rüstungsexportpolitik kritisch gegenüber, im Interesse der deutschen Industrie und ihrer Beschäftigten ebenso wie dem der Bundeswehr. Je geringer die Stückzahlen bei der Produktion aller modernen Systeme, desto höher sind bekanntlich die Beschaffungskosten. Eine deutsche wehrtechnische Industrie, die ausschließlich für die Bundeswehr produzierte, wäre nicht lebensfähig.
Es gibt schon zu viele Fälle, in denen längst freigegebene Lieferungen noch nach der Produktion der bestellten Güter nicht geliefert werden durften wie im Fall der für Saudi-Arabien produzierten Patrouillenboote. Das hat zu einer generellen Unberechenbarkeit der deutschen Exportpolitik geführt. So geht es nicht! Vertragsbruch war noch nie eine gute Politik.
({3})
Was nottut, ist vielmehr eine große Initiative zu einer umfassenden Lösung des Nahostkonflikts in seinen vielen Formen, und dafür standen die Aussichten vielleicht niemals besser als jetzt. Deshalb unterstützen wir den Plan für eine breit angelegte Nahostkonferenz, die die Basis für eine friedliche Entwicklung in dieser von immer neuen Erschütterungen geplagten Region legen soll. Paul Hampel hat diese Idee vor wenigen Wochen an dieser Stelle erneut aufgegriffen, und auch der Deutsche Bundestag wäre gut beraten, sich mit diesem Konzept möglichst bald eingehend zu befassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Dr. Maier. – Der nächste Redner, Frank Junge, gibt seine Rede zu Protokoll.
Dann kommt als nächster Redner, der leibhaftig hier stehen wird, Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion.
({0})
Leibhaftig! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die Türkei heute ein anderes Land ist, als sie es 2008 war. Obwohl ich an der Stelle betonen möchte: Nicht die Menschen im Land sind andere als 2008, sondern die Führung, die sich von Rechtsstaat und Demokratie abgewendet hat.
({0})
Deshalb habe ich zumindest für meinen Teil die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es in drei oder acht Jahren auch wieder einen anderen Weg für die Türkei geben kann, und das sollte man auch im Auge behalten.
({1})
Wir reden heute über Rüstungsbeschaffung. Und wer anderes als der Bundestag mit seiner Bundeswehr sollte besser wissen, dass das langfristige Projekte sind? Dieses Projekt ist schon zwölf Jahre alt.
Frau Keul, Sie haben angemahnt, man solle schon weit im Voraus planen: Noch kurz davor – ich kann es Ihnen nicht ersparen – sind immerhin 350 Leopard-2-Panzer von Rot-Grün in die Türkei gegangen; da hätte man ja auch weit im Voraus planen können.
({2})
Diese Geschäfte würden heute mit Sicherheit anders bewertet werden; da sind wir uns einig. Und sie werden ja auch anders bewertet. Seit 2016, seit dem Putsch, wird bei Rüstungsexporten in die Türkei überprüft, ob sie nicht im Syrien-Konflikt gegen die Bevölkerung eingesetzt werden. Das ist doch klar.
Jetzt schreiben Sie in Ihre Anträge den Griechenland-Türkei-Konflikt hinein. Herr Trittin hat sich gerade so schön dazu geäußert. Der ist 100 Jahre alt – 100 Jahre! Der war schon in den 70ern da. Die ganze Flotte der Türkei, die unter Wasser schwimmt, ist aus deutscher Produktion. Also, sorry: Wenn man bewerten will, dann doch auch richtig. Ich finde es gut, dass erstmals seit fünf Jahren wieder Gespräche geführt werden, dass jetzt ein Forschungsschiff zurückgezogen wird. Das lässt doch darauf hoffen, dass diplomatisch noch was möglich ist.
Was für mich problematisch ist, ist der Tenor dieser Anträge. Dort wird ja im Grunde nichts anderes gesagt als – das ist man gewohnt von Grünen und Linken –: Rüstungsindustrie in Deutschland ist fürchterlich und gehört eigentlich abgewickelt.
({3})
Dann fragt man sich natürlich: Wer ist denn für die sicherheitsrelevanten Fähigkeiten von Deutschland so zuständig? Wer ist für die Ausrüstung bei Friedenseinsätzen eigentlich zuständig? Und da fällt einem ein: Oh, das sind dann wahrscheinlich die Partner, die man hat; also die NATO.
Es ist übrigens kein Zufall, dass 1952 Griechenland und die Türkei gleichzeitig in die NATO eingestiegen sind. Und diesen NATO-Partnern wollen wir jetzt sagen: Sorry, wir haben zwar Verträge; aber die halten wir nicht ein. – Das ist also Ihre Idee, wie die Sicherheitsarchitektur in nächster Zeit aussehen soll?
({4})
NATO-Partner, die wir brauchen, vor den Kopf zu stoßen, ist nicht die Politik, die wir machen.
Wer den ersten Schritt gehen will – das ist ja jetzt der dritte Schritt –, der könnte doch auch mal deutlich sagen: Wir wollen die Grundlage des Beitritts der Türkei neu bewerten. – Und dann haben wir in der EU genug Hausaufgaben. Dann können wir die Beitrittsverhandlungen endlich mal abbrechen und nicht nur neue Kapitel nicht weiter eröffnen.
({5})
Das wäre der erste Schritt.
Der zweite wäre sicherlich eine Neubewertung der Frage, ob das ein NATO-Partner für uns ist oder nicht. Derjenige, der das tut, muss auch die Frage beantworten, ob dann nicht aus dem Osten gleich der Nächste kommt und im Nahen Osten Sicherheitspolitik betreibt, wenn wir die Türkei als NATO-Partner verlieren. Meine Ansicht ist, dass das nicht so gut wäre.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Sarrazin?
Aber gern.
Dann ist es aber echt aus mit Zwischenfragen.
Lieber Kollege Reinhold, aufgrund Ihrer Kritik an unserem Antrag möchte ich doch versuchen, einen Punkt herauszuarbeiten, auf den Sie meiner Ansicht nach nicht eingegangen sind.
Sie sollen hier eine Frage stellen und nichts herausarbeiten. Aber ich höre trotzdem zu.
Nein, man kann auch eine Meinung äußern; da passe ich schon auf.
Oh, danke!
Herr Kollege, ich passe leibhaftig auf, dass Ihnen nichts passiert.
({0})
Die Frage ist, ob Sie uns in der Einschätzung zustimmen, dass eine Lieferung dieser deutschen Waffen an die Türkei die bisherige strategische Situation im maritimen Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei verändern würde? Wir denken: Ja! Wir denken, dass dies die bisherige strategische Ratio in der Region massiv verändern würde.
Die Griechen haben schon offen angekündigt, dass sie dann auch selber maritim aufrüsten müssten. Das ist also keine Frage von „irgendwelche Waffen an irgendeinen NATO-Partner“, sondern wir sagen vor dem Hintergrund der akuten Auseinandersetzung mit der Türkei und den Angriffen mit diesen Waffen in der AWZ der EU: Dieses maritime Verhältnis wollen wir nicht verändern.
Verstehen Sie? Das ist etwas anderes, als grundsätzlich zu sagen: „Die NATO ist böse“ oder „Wir wollen gar nichts mehr exportieren“. Es geht spezifisch um diese strategisch hochrelevante Waffe in einer sehr explosiven Lage, von der sich unsere griechischen Partner stark bedroht fühlen, und Sie als bedeutende Europapartei müssten unseren EU-Partnern Griechenland und Zypern doch mehr sagen als das, was Sie jetzt sagen.
({0})
Herr Reinhold.
Sehr geehrter Herr Kollege Sarrazin, zuerst einmal ist mir – vielleicht auch Ihnen – durchaus bewusst, wie die Ausstattung beider von Ihnen angesprochenen Länder aussieht und welche Waffen beiden Ländern zur Verfügung stehen. Das bewerte ich zuallererst. Ich weiß auch, welches Alter, welche Qualität die Flotten beider Länder gerade unter Wasser besitzen.
Hier geht es um den Austausch von U-Booten. Und wenn man Ihren Weg zu Ende denkt – das gehört zur Wahrheit dazu –, wenn man Ihre Anträge hier heute annehmen würde, wenn man also dieses Geschäft abbrechen würde – da rede ich noch gar nicht darüber, in welcher Phase man das tut –, was würde dann passieren? Sind wir uns alle sicher, dass dann kein Mensch die Türkei als Partner für die Lieferung von U-Booten entdeckt?
Denn wenn ich Ihnen folge, so ist für Sie die Einführung der Waffen in das Seegebiet das Entscheidende, und das schließen Sie mit diesen Anträgen doch überhaupt nicht aus. Ganz im Gegenteil: Sie treiben die Türkei zu denjenigen, in deren Armen Sie sie bestimmt nicht sehen wollen.
({0})
Das ist ein größeres sicherheitspolitisches Risiko als Verlässlichkeit innerhalb der NATO. Das ist meine Meinung.
Was wir aber bräuchten – das sprechen Sie auch an –, wäre eine eindeutig europäisch abgestimmte Rüstungsexportpolitik. Denn jetzt sind sich die europäischen Partner nicht einmal untereinander darüber einig, wer beliefert wird und wer nicht.
Wir in Deutschland werden in der NATO mit unseren Debatten nicht verlässlicher und erst recht nicht im europäischen Kontext. Sie wissen genau, dass „German free“-Produkte aus der Europäischen Union beworben werden. Eine abgestimmte europäische Rüstungsexportpolitik würde uns helfen, auch im Verständnis der Europäer insgesamt zu ihren NATO-Partnern, und dann wären wir mit Sicherheit schon drei Schritte weiter.
Jetzt bin ich genau eine Sekunde vor dem Ende, bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und die schöne Zwischenfrage und wünsche Ihnen allen noch einen schönen Nachmittag.
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Vielen Dank, Hagen Reinhold. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Sevim Dağdelen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Die Türkei bedroht Griechenland im Erdgasstreit im Mittelmeer. Griechenland fordert die Bundesregierung auf, keine weiteren Waffen an den türkischen Staatspräsidenten Erdogan zu liefern. Und was machen Bundeskanzlerin Angela Merkel von den Konservativen und Außenminister Heiko Maas von den Sozialdemokraten? Sie reden ständig von europäischer Solidarität, aber setzen sich dafür ein, dass die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei weitergehen, und betonen – absurderweise –, dass man ja zuvörderst Waffen für den maritimen Bereich liefere, also genau die Waffen, mit denen das EU-Mitglied Griechenland bedroht wird.
Die Türkei hält weiterhin ein Drittel der Insel Zypern besetzt, setzt auf eine Teilung, provoziert in Famagusta, in Varosha, stationiert auf dem besetzten Teil der Insel deutsche Leopard-2-Panzer und bedroht das EU-Mitglied unter der Vorgabe völkerrechtlich haltloser Positionierung im Streit um die Gasvorkommen rund um die Insel.
Das Parlament Zyperns verweist auf die Verwendung deutscher Waffen bei der Besetzung der Insel und fordert Deutschland einstimmig auf, keine weiteren Waffen an die Türkei zu liefern. Und was macht die Bundesregierung? Sie ignoriert alle Stimmen Zyperns und setzt weiter auf deutsche Waffenlieferungen an die Türkei – koste es, was es wolle.
Die Türkei hat Aserbaidschan mithilfe von islamistischen Söldnern und Drohnen dabei geholfen, Armenier in Bergkarabach abzuschlachten, und einen blutigen Krieg in der Region vom Zaun gebrochen. Alle Hinweise, dass Deutschland entscheidend zum Aufbau der türkischen Kampfdrohnenproduktion beigetragen hat, werden von der Bundesregierung ignoriert.
({1})
Die Liste ließe sich weiter verlängern. Auch in Libyen, in Syrien zündelt die Türkei an der Seite islamistischer Mörderbanden weiter. Im Irak, im Shengal, bedroht die Türkei jetzt die Jesiden, die 2014 noch dem Völkermord des IS entronnen sind. Auch der Krieg gegen die Kurden von Staatspräsident Erdogan und seiner Koalition geht unvermindert weiter. Aber die Bundesregierung lässt weiter Waffen liefern. Ich finde diese Politik der Bundesregierung erschreckend.
({2})
Und in der Europäischen Union verhindert diese Bundesregierung an der Seite Viktor Orbans ein Waffenembargo gegen Erdogans Türkei.
Während die USA nach dem Abtritt Trumps die Türkei scharf kritisieren, steht die Bundesregierung in Partnerschaft zu diesem finsteren Autokraten und seiner islamistisch-faschistischen Koalition in Ankara. Diese Willfährigkeit gegenüber Erdogan, meine Damen und Herren, ist ein Schlag ins Gesicht aller Demokratinnen und Demokraten. Damit muss endgültig Schluss sein.
({3})
Wer weiter an die Türkei Waffen liefern lässt, handelt entweder verantwortungslos oder setzt weiter bewusst auf diese Partnerschaft mit Erdogan aus finsteren geopolitischen Motiven. Eine Außenpolitik, die auf Menschenrechten und Völkerrecht basiert, sieht anders aus, meine Damen und Herren. Das ist das Gegenteil davon.
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Vielen Dank, Sevim Dağdelen. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Gisela Manderla.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Erneut debattieren wir heute je einen Antrag der Grünen und der Linken zum Thema Rüstungsexporte. Erneut werde ich mich dazu positionieren und diesbezüglich vor allen Dingen eindeutige Fakten benennen.
Ein wesentlicher Fakt ist, dass wir uns in Bezug auf Rüstungsexporte nichts vorzuwerfen haben. Tatsächlich liegt Deutschland europaweit und auch weltweit die restriktivsten Exportregeln für Rüstungsgüter an.
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Konkret heißt das: Jeder Rüstungsexportfall wird von der Bundesregierung als Einzelfall behandelt.
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Pauschale Urteile und Unbesehenes gibt es folglich nicht, ebenso wenig leichtfertige Entscheidungen. Ausschlaggebend für die Bewertung sind vielmehr die öffentlich bekannten außen-, sicherheits- und menschenrechtlich-politischen Aspekte.
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Berücksichtigt werden hierbei zudem die Maßgaben des Kriegswaffenkontrollgesetzes – das wurde schon eindeutig gesagt – und der Gemeinsame Standpunkt des Rates der EU, um nur einige der zugrunde liegenden Verordnungen zu benennen.
Weiterhin betreibt Deutschland seine Rüstungsexporte mit gutem Grund. Hiermit komme ich zu einem weiteren Fakt. Deutschlands Rüstungsexporte sind in erster Linie ein Mittel der militärischen Zusammenarbeit mit strategisch wichtigen Partnern. Diese Partner sind sowohl die EU- als auch die NATO-Staaten. Ja, meine Damen und Herren, hierzu gehört immer noch auch die Türkei.
Vielleicht würden wir heute anders entscheiden als 2009. Das Ziel dieser Zusammenarbeit in der NATO ist heute dringlicher denn je. Der Aufbau eines stabilen Bündnisses im europäischen und im transatlantischen Rahmen ist wichtig; denn, meine Damen und Herren, die aktuelle weltpolitische Lage ist geprägt von Ambivalenzen und offen zutage tretenden Konflikten. So sind derartige Bündnisse unserer Staaten unabdingbar wichtig. Nur so kann in der Zukunft auch weiterhin Sicherheit, Frieden und Freiheit gewährleistet werden. Wie wir alle wissen, sind diese drei Dinge die Grundlage aller Nachhaltigkeit.
Der wesentliche Kern dieser Zusammenarbeit ist – und das ist Fakt Nummer 3 – die Planung und Produktion von gemeinsamen Rüstungsprojekten bei gleichzeitigem Austausch von Verteidigungstechnologien. Dies, liebe Kollegen und Kolleginnen, beschreibt im Klartext nichts anders als den Austausch von Rüstungsgütern.
Just in diesem Moment reichen sich Europa und die Vereinigten Staaten die Hand zur Erneuerung des transatlantischen Bündnisses. Damit Europa ein stabiler Bündnispartner für die NATO werden kann, muss es zunächst auch in seiner Verteidigungsfähigkeit selbstständig werden. Diese strategische Autonomie – und damit wäre ich bei Fakt Nummer 4, meine Damen und Herren – erreicht Europa nur, indem es mit einer starken und unabhängigen Rüstungsindustrie selbst Standards setzt und Spitzentechnologie beherrscht. Wir können es uns gewiss nicht leisten, diesen wichtigen, bereits fahrenden Zug zu verpassen und auf die damit verbundenen technischen Fortschritte zu verzichten.
Letztlich sichert eine starke wirtschaftliche und militärische Verwobenheit mit anderen Staaten auch politischen Einfluss. Einfluss zu haben, um ihn im Notfall auch geltend machen zu können – das ist ein sinnvolles politisches Ziel.
Eine starke nationale Rüstungsindustrie hat einen weiteren wichtigen Vorteil: Sie ist Garant für die bestmögliche Ausstattung unserer Soldaten, die für unser Land tagtäglich auf vielfältige Weise, in bestimmten Fällen sogar mit ihrem Leben, einstehen. An dieser Stelle möchte ich allen Soldaten und Soldatinnen ganz herzlich danken, die zurzeit, während der Pandemie, in den Gesundheitsämtern und Pflegeheimen ihren Dienst selbstverständlich tun.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben die Pflicht, unsere Soldaten mit dem maximalen Schutz, mit der besten Technologie auszustatten.
({4})
Eine fehlende nationale Rüstungsindustrie macht den Ankauf externer Rüstungsgüter notwendig. Die Abhängigkeit von ausländischen Industrien jedoch konterkariert maßgeblich unsere europäischen Bemühungen um verteidigungspolitische Eigenständigkeit.
Ich komme zum Ende meiner Rede. Meine Damen und Herren, ich glaube, alle Argumente sind ausgetauscht. Wir lehnen diese beiden Anträge der Grünen und der Linken ab.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollegin Manderla. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 122 Staaten der UNO haben den Atomwaffenverbotsvertrag beschlossen, der nun auch in Kraft getreten ist. Dieser Vertrag kann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen sein. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki mit Hunderttausenden Opfern und Folgen, die bis in unsere Zeit reichen, mahnen uns, jeden, aber wirklich jeden Schritt zu unterstützen, um diese Geißel der Menschheit loszuwerden.
({0})
Gerade weil der von Deutschland ausgehende Zweite Weltkrieg den entscheidenden Anstoß für die Forcierung der Atomwaffenforschung gab, muss Deutschland alle Maßnahmen zum Abbau des Atomwaffenarsenals unterstützen. Das gehört in Anbetracht unserer Geschichte zu unserer Verantwortung.
({1})
Doch die Bundesregierung steht abseits und will dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beitreten. Über 50 ehemalige europäische Außen- und Verteidigungsminister, darunter auch Joschka Fischer und Rudolf Scharping, sowie zwei frühere Generalsekretäre der NATO haben die Bundesregierung und andere Regierungen aufgefordert, den Vertrag zu unterzeichnen, und alle Bedenken der Regierung widerlegt. Das Hauptargument der Regierung – und im Prinzip ihr einziges – ist ein angeblicher Widerspruch zum Atomwaffensperrvertrag, der bekanntlich die Nichtverbreitung von Kernwaffen regelt. Die beste atomare Nichtweiterverbreitung ist aber die atomare Abrüstung.
({2})
Genau darauf zielt der Atomwaffenverbotsvertrag und schließt damit explizit eine Lücke, die der Nichtweiterverbreitungsvertrag hinterlässt.
Dieser Nichtweiterverbreitungsvertrag wird laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages entgegen der Behauptung der Regierung überhaupt nicht angegriffen, sondern nur sinnvoll ergänzt. In 50 Jahren ist eine Methode zur allgemeinen Kontrolle der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen entwickelt worden. Es gibt noch ein Zusatzprotokoll, nach dem man sich noch schärferen Kontrollen unterwirft. Die abenteuerliche Behauptung der Bundesregierung, dass Staaten, die sich der zusätzlichen Kontrolle unterworfen haben bzw. künftig unterwerfen und dann den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen, dieser zusätzlichen Kontrolle nicht mehr unterlägen, ist vom Wissenschaftlichen Dienst ebenfalls absolut klar widerlegt worden.
({3})
Widerlegt wurde auch die These, wonach sich die NATO faktisch auflösen müsste, wenn dieser Vertrag durch NATO-Staaten unterzeichnet werden würde. Ich hätte zwar nichts gegen deren Auflösung, aber das hat mit dem Vertrag nichts zu tun.
({4})
Nun zur nuklearen Teilhabe. Was die atomaren Planungen in der NATO betrifft, ist und bleibt Deutschland als Mitglied daran beteiligt. Allerdings bedeutet die Teilhabe auch, dass Bundeswehrkampfjets die in Deutschland lagernden US-Atombomben im Kriegsfall auf Weisung der USA zu den vorgesehenen Zielen tragen und dort abwerfen müssten – mit deutschen Piloten.
({5})
Der Atomwaffenverbotsvertrag setzt zum Abzug solcher Atomwaffen sehr lange Fristen, und der Bundestag hat auf Initiative des früheren Bundesaußenministers Guido Westerwelle von der FDP ja schon einstimmig beschlossen, dass die US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen sind.
({6})
Die Bundesregierung verletzt diesen Beschluss. Wenn je von Deutschland aus eine Atombombe eingesetzt wird, dann bekommt die Antwort Deutschland und nicht die USA, schon allein, um einen weiteren Einsatz von Atomwaffen aus Deutschland durch Zerstörung zu verhindern.
Von 30 Mitgliedstaaten der NATO – aufpassen, Herr Lambsdorff – haben nur 5 eine solche nukleare Teilhabe; 25 können darauf verzichten.
({7})
Das niederländische Parlament hat beschlossen, seine eigene nukleare Teilhabe 2023 beenden zu wollen. Halten Sie das niederländische Parlament wirklich für dumm?
({8})
Nein, es wusste, dass es die Sicherheit der Niederlande dadurch gerade erhöht.
({9})
Im Unterschied zu den 122 Staaten wollen Sie unbedingt an der nuklearen Abschreckung festhalten. Das ist falsch, gefährlich und zerstört die Hoffnung dieser 122 Staaten.
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Nachdem alle Argumente der Regierung widerlegt sind, muss ich feststellen, dass die Christlich-Soziale Union in Bayern, die Christlich Demokratische Union Deutschlands und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands – Letztes ist eine besondere Schande – kein Verbot von Atomwaffen wollen.
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Wir brauchen bald eine neue Regierung, die den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet.
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Vielen Dank, Dr. Gregor Gysi. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Roderich Kiesewetter.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Grunde sollten wir alle sehr dankbar sein, dass wir heute die Positionen zur Frage der nuklearen Abrüstung hier austauschen können. Wir sind auch Zeuge einer sehr einseitigen Auslegung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geworden, sehr geehrter Herr Kollege Dr. Gysi. Ich will das an einigen Beispielen erläutern.
Erstens. Die nukleare Teilhabe, die die NATO-Staaten vereinbart haben, bedeutet, dass fünf europäische NATO-Staaten für die anderen in Europa Verantwortung übernehmen, um zu verhindern, dass Nuklearwaffen auch in anderen europäischen Staaten stationiert werden.
({0})
Zweitens. Die Bundesrepublik Deutschland hat im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrages und des deutschen Einigungsvertrages darauf gedrängt, dass die Stationierung von Nuklearwaffen nicht östlich des Einigungsgebietes erfolgen darf.
Drittens. Wir haben bewusst auch in der NATO-Russland-Grundakte klargemacht, dass eine Stationierung von Nuklearwaffen in den Ländern, die früher dem Warschauer Pakt angehört haben, unmöglich gemacht wird.
Der Zweck der nuklearen Teilhabe ist es, die Verbreitung von Nuklearwaffen auf europäischem NATO-Boden zu beschränken. Der Vorteil, den die Bundesrepublik mit Belgien, den Niederlanden, Italien und auch der Türkei hat, ist, dass wir Verantwortung übernehmen und in der nuklearen Planungsgruppe Einfluss darauf nehmen, dass die Rolle der Nuklearwaffen in der Nukleardoktrin der NATO zurückgedrängt wird.
Der zweite Bereich, Herr Kollege Gysi, der von Ihnen zwar angesprochen wurde, aber faktisch falsch ist: Der Antrag vom März 2010, den wir mit breiter Mehrheit verabschiedet haben, sah nicht den Abzug der Nuklearwaffen aus Deutschland vor, sondern bestätigte die Unterstützung durch den Bundestag, dass die Bundesregierung an einem Abzug mitwirkt, wenn es sich sicherheitspolitisch vertreten lässt. Ursache war die Rede von Obama im Jahr 2009 in Prag, wo er von der Vision einer nuklearfreien Welt gesprochen hat, was er dann später als Nobelpreisträger deutlich relativiert hat, indem er sehr klarmachte, dass wir, solange es Nuklearwaffen gibt, mit der Realität leben müssen. Das führt zu einer der Lebenslügen der Linken: Sie glauben, dass, wenn wir auf nukleare Teilhabe verzichten oder wenn die NATO-Staaten auf Nuklearstrategien verzichten, die Welt sicherer wird.
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Es ist auch ein Fehler, dass beim Atomwaffenverbotsvertrag nicht Nuklearstaaten mitwirken. Es ist unsere Aufgabe, einen anderen Vertrag zu fördern. Das ist der Atomwaffensperrvertrag, bei dem wenigstens fünf der neun bekannten Nuklearmächte Mitglied sind.
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Wir sollten in der alle fünf Jahre tagenden Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag – ich habe selbst an zweien teilgenommen; die nächste findet im Sommer dieses Jahres statt – das Thema „nukleare Abrüstung“ auf die Tagesordnung setzen.
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Es geht doch nicht darum, dass wir durch eine Delegitimierung oder gar Ächtung der Nuklearwaffen die Welt besser machen, sondern dass wir sensibilisieren und als Bundesrepublik Deutschland die nukleare Teilhabe nutzen, damit die NATO erstens eine Zone ungeteilter gemeinsamer transatlantischer Sicherheit zwischen USA, Kanada und uns Europäern ist und zweitens so lange erhalten bleibt, bis etwas Besseres folgt.
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Auf nordamerikanischem Boden leisten die USA das. Die Kanadier brauchen es nicht mehr. Und auf europäischem Boden sind es eben nur diese fünf Staaten. Deshalb ist das, was wir mitnehmen müssen: Es hilft nicht, emotional auf Nuklearwaffen verzichten zu wollen. Es hilft, deutlich zu machen, dass nukleare Abrüstung vorne stehen muss.
Und diese Abrüstungsbemühungen bekommen einen neuen Schwung.
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Die Regierung Biden hat im Einvernehmen mit Russland New START um fünf Jahre verlängert. Die US-Regierung prüft die weitere Mitwirkung am Vertrag über den Offenen Himmel. Die US-Regierung wird die Verhandlungen bei der Nichtverbreitungskonferenz in New York fortsetzen und aktiv mitgestalten.
Was aus meiner Sicht sehr wichtig ist: Wir brauchen mit Blick auf neue Rüstungsentwicklungen einen neuen Schwung auch für konventionelle Abrüstung. Die Welt wird doch nicht sicherer, wenn wir auf dem Auge blind sind. Cyberwaffen, Überschallwaffen, Hochpräzisionswaffen, automatisierte Kampfführung – das alles muss kontrolliert werden. So haben wir dann eine Abrüstungsverhandlung, vertrauensbildende Maßnahmen, Abrüstungsbemühungen, Verifikation aus einem Guss. Das ist verantwortungsbewusste deutsche Sicherheitspolitik.
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Dafür steht diese Regierungskoalition und im besonderen Maße unsere Union.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Armin-Paulus Hampel.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki haben der Menschheit den ganzen Schrecken der Atomwaffen vor Augen geführt. Aus dem Schock und aus dem Entsetzen entwickelte sich damals aber sehr schnell die Erkenntnis: Nie wieder! – Seitdem wurde in keinem der unzähligen Konflikte weltweit die Nuklearwaffe, eine Atombombe, eingesetzt – zum Glück. Und sehr schnell wurde aus dem militärischen Drohpotenzial eine strategische, eine politische Waffe.
Der Kalte Krieg führte bei den Supermächten Sowjetunion und USA zu einer Überproduktion im Bereich der Interkontinentalraketen. Die NATO erkannte aber schnell, dass man, um einen Abschreckungswillen deutlich zu machen, eine flexible Verteidigungsposition haben muss. Die Flexible Response, also die Verfügbarkeit von Atomwaffen zum einen interkontinental, im Mittelstreckenbereich, aber auch auf dem Gebiet der nuklearen Gefechtsfeldwaffen, bildeten diese Flexibilität ab, und die Notwendigkeit dessen war auch erkennbar. Denn den Sowjets wurde damals eindeutig klargemacht, dass ein konventioneller Angriff auf den freien Westen im schlimmsten Falle von der NATO mit einem Erstschlag beantwortet wird. Erstschlag hätte bedeutet, dass man nukleare Gefechtsgranaten gegen die Gegner eingesetzt hätte, um ihnen zu signalisieren, dass ein weiteres Vorstoßen feindlicher Kräfte fast automatisch die Verwendung schwererer Kaliber nach sich gezogen hätte.
Diese Strategie wirkte, meine Damen und Herren. Abschreckung wirkte. Die Strategie hat über alle Jahrzehnte des Kalten Krieges gewirkt. Besser noch: In den 70er-Jahren begannen die Verhandlungen über die strategische Limitierung, SALT. Dann kamen die strategische Reduzierung, START, und der INF-Vertrag zu den Mittelstreckenraketen. Selbst im konventionellen Bereich, MBFR, kam man weiter. Auf jeden Fall führte es zu einer Reduzierung der strategischen Waffen. Die große Abrüstungsinitiative nach dem Fall der Sowjetunion – Sie erinnern sich – hat den Bestand von interkontinentalen ballistischen Raketen von 70 000 auf 13 000 reduziert.
Das Gleichgewicht der Abschreckung wurde damit aufrechterhalten. Wie Sie wissen, befinden sich 90 Prozent der Atomwaffen in den Händen der Amerikaner und der Russen; nur 10 Prozent liegen in chinesischer Hand, bei den Indern, den Pakistanis, in Nordkorea wahrscheinlich und vielleicht auch Israel – das aber schon über teilweise viele Jahrzehnte. Und trotzdem hat die Abschreckung über all diese Zeiten funktioniert.
Die Atombombe, so makaber es klingt, hat also den Frieden erhalten – solange es keine neuen Systeme gibt; der Kollege Kiesewetter hat gerade zu Recht darauf hingewiesen. Wir kümmern uns um künstliche Intelligenz. Es werden Waffen hergestellt, die fast automatisch, und zwar flexibel und intelligent, reagieren können, wo menschlicher Einsatz oder menschliche Befehlsgewalt teilweise gar nicht mehr vonnöten ist. Das kann bedeuten, dass wir uns in Zukunft mit künstlichen intelligenten Waffensystemen konfrontiert sehen, die vielleicht so abschreckend sind, dass sie einen Krieg in der Tat nicht mehr möglich machen.
Den Glauben allerdings, dass Sie mit der Abschaffung der nuklearen Waffen auf der Welt den ewigen Frieden einläuten, Herr Gysi, haben Sie wahrscheinlich selber nicht. Wir wissen alle, dass das nicht eintreten wird. Ganz im Gegenteil: Mit der Abschaffung der Nuklearkomponente würde konventioneller Krieg erst wieder möglich gemacht,
({0})
und die Auswirkungen wären verheerend für dieses Land, für dieses Europa und den Rest der Welt.
Meine Damen und Herren, aus diesem Grunde lehnt die AfD-Fraktion den Atomwaffenverbotsvertrag ab.
Ich danke Ihnen.
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Danke schön, Armin-Paulus Hampel. – Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist Gabriela Heinrich.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1945, also vor über 75 Jahren, fielen die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. 25 Jahre später kam der Atomwaffensperrvertrag zustande, damals ein Meilenstein der internationalen Rüstungskontrolle. Und heute, noch mal 50 Jahre später? Heute müssen wir feststellen, dass die Atommächte bei ihrer Absicht nicht weitergekommen sind, Verhandlungen über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung zu führen.
Mit dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags wurde jetzt ein neuer, wichtiger Impuls gegeben, ein Impuls für das nach wie vor weit entfernte Ziel einer Welt ohne Atomwaffen. Dieser Vertrag ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie aus der Zivilgesellschaft heraus Impulse für eine bessere und friedlichere Welt entstehen.
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Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, ICAN, hat hier Unschätzbares geleistet. Sie wurde dafür zu Recht mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
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Ein multilateraler Vertrag kommt also zustande, weil zivilgesellschaftliche Organisationen im besten Sinne des Wortes Druck machen. Das zeigt uns, wie sehr der Status quo als frustrierend und unbefriedigend empfunden wird.
Auch wenn es von vielen ins Unterbewusstsein verdrängt wird: Dieser Status quo ist eine Welt, in der so viele Atomwaffen existieren, dass die ganze Menschheit mehrfach ausgelöscht werden könnte. Dieser Status quo ist aber beileibe keine feststehende, sich nicht verändernde Bedrohungssituation. Ganz im Gegenteil: Heute sind wir mit einer neuen nuklearen Ordnung konfrontiert. Diese ist weit komplexer, unübersichtlicher und vor allem gefährlicher als das relative „Gleichgewicht des Schreckens“ des Kalten Krieges. Kurzum, wir leben in einer Bedrohungssituation, die wir so nicht akzeptieren können. Das bedeutet: Wir müssen den Status quo infrage stellen, echten Wandel doch zumindest anstreben und mutig, aber überlegt Debatten über Atomwaffen führen, statt an den alten Denkmustern festzuhalten.
Der Atomwaffenverbotsvertrag verbietet die Entwicklung, die Produktion, die Stationierung und den Einsatz von Kernwaffen. Er ächtet Kernwaffen – so wie wir auch biologische und chemische Waffen ächten. Deutschland engagiert sich in verschiedenen Abrüstungsinitiativen, zum Beispiel in der Stockholm-Initiative. Die nukleare Abrüstung soll durch sie neue, praktische Impulse bekommen. Brücken zwischen Nuklearwaffenstaaten und Nicht-Nuklearwaffenstaaten sollen geschlagen werden.
Auch beim Atomwaffenverbotsvertrag, um den es heute geht, kann Deutschland vermitteln. Die SPD-Fraktion fordert deshalb, einen Beobachterstatus einzunehmen.
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Denn eines ist wichtig: Nichtunterzeichnung heißt nicht automatisch, dass wir gegen den Vertrag sind. Im Gegenteil: Wir unterstützen das Ziel des Vertrags. Aber man muss auch mal klar und unideologisch aussprechen: Wir können den Vertrag aktuell nicht unterschreiben; denn das wäre nicht mit unseren bündnispolitischen Verpflichtungen in der NATO vereinbar. Wenn man also die NATO nicht grundsätzlich infrage stellt, dann geht das einfach nicht zusammen.
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Und genau für diesen Fall ist der Beobachterstatus da, von dem ich gesprochen habe. Er gibt uns die Möglichkeit, den Prozess des Atomwaffenverbotsvertrags zu begleiten, ohne dass wir in Konflikte mit den Interessen unseres Bündnisses geraten. Und könnten wir auf diesem Weg nicht auch mehr erreichen, als NATO-Staat mit gutem Draht zu den westlichen Atommächten und als Land, das sich für nukleare Abrüstung einsetzt?
Ich halte fest: Wir sollten den weiteren Vertragsprozess über einen Beobachterstatus aktiv begleiten und nach Kräften unterstützen. Wir sollten mithelfen, den Vertrag zu verbessern, damit er seine Wirkung entfalten kann. Und wir sollten auch bei unseren Verbündeten dafür werben, auch wenn im Moment keine Aussicht auf sofortigen Erfolg besteht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedrohung ist groß. Aber das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags zeigt uns, dass der Wille zur Veränderung und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt auch sehr groß ist. Das sollte uns Ansporn und Mahnung zugleich sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gabriela Heinrich. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Amtsübernahme der neuen US-Administration wächst die Zuversicht, dass Kooperation und Verbindlichkeit wieder eine stärkere Rolle in der internationalen Politik spielen werden. Für Deutschland und die EU heißt das, dass das aktuelle Zeitfenster proaktiv genutzt werden muss, um Politik zu gestalten, Vorschläge zu unterbreiten, kurz: dem Multilateralismus frischen Wind einzuhauchen. Denn es ist Zeit, dass aus der weltweiten Krise der Vernunft ein Jahrzehnt der Diplomatie und der Demokratie erwächst. Das ist auch grundlegende Voraussetzung für jegliche Bemühungen der internationalen Abrüstung.
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Vor einem halben Jahr habe ich hier eine Rede zu dem Abrüstungsvertrag New START gehalten. Damals habe ich gesagt, eine Aufkündigung des New-START-Vertrages wäre nicht nur bedauerlich, sondern außerordentlich gefährlich für Deutschland, für Europa und für die internationale Gemeinschaft. Nach dem Scheitern von INF und Open Skies ist New START faktisch einer der letzten großen Kooperationen der internationalen Rüstungskontrolle. – Heute, eine US-Präsidentschaftswahl später, können wir von Glück sagen, dass der New-START-Vertrag zwischen Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika als eine der ersten Amtshandlungen der neuen Administration verlängert wurde, meine Damen und Herren.
({1})
Das gibt Hoffnung, Hoffnung auf eine Rückkehr zur Diplomatie und somit auch Hoffnung auf Aufwind für die internationalen Abrüstungsbemühungen.
Mit der weit ausgestreckten Hand des neuen US-Präsidenten kommen aber auch Pflichten. Nichts wäre törichter, als sich jetzt zurückzulehnen und anzunehmen, die neue alte Weltmacht werde es schon richten. Was unter Ex-Präsident Trump deutlich wurde, gilt auch in Zukunft: Europa muss seine eigenen Interessen klar definieren und klar verteidigen, meine Damen und Herren.
({2})
Ich möchte damit sagen: Es kann kein Weiter-so in der Außen- und Sicherheitspolitik geben. Die Bundesregierung muss mehr Antworten auf die Realität finden und weniger Schönwetterreden halten.
Zur Realität gehört, dass die atomare Teilhabe zum heutigen Zeitpunkt ein wesentlicher Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur ist, ja, vielleicht sogar der wesentliche Pfeiler. Allein diese Tatsache führt die heutige Debatte ad absurdum. Die Rede der Kollegin Heinrich habe ich zwar verstanden. Aber ich weiß nicht, für welche Partei oder Fraktion Sie gesprochen haben. Die Position der SPD-Fraktion habe ich letztendlich nicht verstanden, zumal Sie ja auch immer noch Regierungsfraktion sind.
({3})
Weite Teile der SPD haben anscheinend in der Außen- und Sicherheitspolitik den Bezug zur realen Politik längst verloren. Sie bewegen sich in großen Schritten in Richtung Linkspartei,
({4})
also dorthin, wo die Grünen bereits außenpolitisch angekommen sind, meine Damen und Herren.
({5})
Erlauben Sie mir einen Kommentar: Es ist doch umso bemerkenswerter, dass sich offenbar immerhin der Vorstand der Böll-Stiftung kürzlich zur nuklearen Teilhabe bekannte. Ich gratuliere der Böll-Stiftung; sie ist mutiger und klarer in der Außen- und Sicherheitspolitik als die Mutterpartei.
({6})
Über den Atomwaffenverbotsvertrag haben wir in diesem Haus häufig geredet. Natürlich ist das oberste Ziel eine atomwaffenfreie Welt; allerdings bringt uns der vorliegende Vertrag dieser Absicht nicht näher. Während politische Ziele durchaus idealistisch sein sollen, so muss sich doch der Weg hin zu diesen Zielen an der Realität orientieren. Das gilt eben auch für den Atomwaffenverbotsvertrag. Leider wird er nicht dazu führen, dass die bestehenden Atommächte zeitnah abrüsten. Gerade autokratische Staaten wie Russland oder Diktaturen wie China werden uns diesen Gefallen nicht tun. Gerade von diesen Staaten zu erwarten, dass sie ihre nuklearen Fähigkeiten aufgeben, sobald andere voranschreiten, ist naiv und blauäugig, meine Damen und Herren.
({7})
Wer so etwas sagt, gefährdet die gesamte Sicherheitsarchitektur Europas.
({8})
Der Atomwaffenverbotsvertrag setzt ein wichtiges Zeichen im Kampf um eine atomwaffenfreie Welt. Ja, das möchte ich hier auf keinen Fall kleinreden. Doch gleichzeitig greift er viel zu kurz, stellt komplexe sicherheitspolitische Zusammenhänge viel zu einfach dar und relativiert ein wirksames Instrument. Der Nichtverbreitungsvertrag hingegen ist der tragende Pfeiler der internationalen Bemühungen; dessen Erhalt, Umsetzung und Ausbau müssen oberste Priorität der internationalen Gemeinschaft sein und bleiben. Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie dabei gemeinsam mit den amerikanischen Partnern endlich wieder eine aktive Führungsrolle einnimmt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Vielen Dank, Bijan Djir-Sarai. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Atomwaffenverbotsvertrag ist in Kraft getreten. Das ist ein Meilenstein, und das werden Sie auch nicht länger ignorieren können.
({0})
Ihre Gegenargumente halten schlicht nicht stand:
({1})
Erstens. Der Verbotsvertrag schwächt den Nichtverbreitungspakt nicht. Er verweist auf ihn und erklärt den Verifikationsstand des NVV zum Mindeststandard. Damit ist sichergestellt, dass er an keiner Stelle hintern den rechtlichen Verpflichtungen des NVV zurückbleibt.
Zweitens. Auch die politische Spaltung in Atomstaaten und Nichtatomstaaten wurde nicht durch den Verbotsvertrag geschaffen, sondern dadurch, dass die Atomstaaten ihrer Verpflichtung aus Artikel 6 NVV zur kontinuierlichen und vollständigen Abrüstung seit Jahren nicht nachkommen, sondern im Gegenteil investieren und modernisieren, als ob es den NVV nicht gäbe.
({2})
Drittens. Auch NATO-Staaten sind nicht gehindert, dem Verbotsvertrag beizutreten; denn im NATO-Vertrag ist von Nuklearwaffen keine Rede. Erst mit der Strategie von 2010 erklärte sich die NATO zum nuklearen Bündnis, erstaunlicherweise zur gleichen Zeit, als Obama für die Vision von Global Zero den Nobelpreis erhielt und wir im Bundestag gemeinsam den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland beschlossen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Viertens. Wer an der Präsenz von Atomwaffen auf seinem Territorium festhalten will, kann dem Verbotsvertrag nicht beitreten. Richtig! Möglich ist das aber, wenn es einen politischen Willen und eine zeitliche Perspektive für einen Abzug gibt. Und ich sage hier in aller Deutlichkeit: Die grüne Partei und die grüne Fraktion haben diesen Willen, und wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, diesen auch umzusetzen.
({3})
Unsere Fraktionsbeschlüsse sind in dieser Frage ebenso klar wie unser Grundsatzprogramm, und sie wurden allesamt einvernehmlich beschlossen. Wer anderes behauptet, ist auf dem Holzweg.
({4})
Wir wissen sehr gut, welche Widerstände es gibt, und wir sind fest entschlossen, sie zu überwinden. Denn unsere feste Überzeugung ist – damit komme ich zu fünftens –: Nukleare Abschreckung hat nie funktioniert und kann auch gar nicht funktionieren, weil sie nicht glaubwürdig sein kann. Welches soll das Szenario sein, in dem wir Atombomben in Europa einsetzen würden? Ja, wir Grüne stehen zu der Verpflichtung, unsere osteuropäischen Nachbarn in jedem Fall zu verteidigen. Aber wollen Sie unsere Partner allen Ernstes verteidigen, indem Sie sie vernichten? Was ist das für eine absurde Vorstellung, dass deutsche Piloten Atomwaffen aus Büchel gen Osten tragen, um sie dort abzuwerfen, um dadurch Millionen von Menschen zu töten und die Umwelt über Generationen hinweg zu verseuchen?
({5})
Denken Sie an die Bilder von Hiroshima, aber auch an die Atomtests auf den für immer verseuchten Marshall Islands, und machen Sie sich klar, dass jeder der aktuell 3 000 einsatzbereiten Sprengköpfe die 13-fache Sprengkraft davon hat. Es gibt schlicht kein realistisches Einsatzszenario für Atomwaffen.
({6})
Ein Atomkrieg ist rational nicht führbar und kann daher auch niemanden glaubhaft abschrecken. Atomwaffen haben Kriege nicht verhindert, weder in Syrien, in der Ukraine, in Bergkarabach noch sonst wo.
({7})
Die nukleare Abschreckungsdoktrin ist ein Irrweg. Die NATO wird diesen Irrweg verlassen müssen, besser früher als später.
({8})
Real ist allein das Risiko, und dieses Risiko einer nuklearen Katastrophe ist heute höher als jemals zuvor. Schon im Kalten Krieg sind wir der Katastrophe 46-mal allein durch göttliche Fügung entgangen, wie der frühere Oberbefehlshaber des US-Atomraketenarsenals General Georg Lee Butler sagte, den ich hier schon mal zitierte.
Aber neue Technik und schnellere Abläufe machen menschliches Eingreifen im Ernstfall immer schwieriger. Wir sind verwundbarer denn je durch Hyperschallwaffen, KI und Cyberangriffe. Gerade erst am 12. Dezember gab es einen Fehlalarm auf der US-Air Base in Ramstein, und die Bundesregierung weiß darüber so gut wie nichts. Wie viele Minuten haben denn diesmal noch gefehlt zwischen Entwarnung und Katastrophe? „Früher oder später wird unser Glück uns verlassen – wenn wir nicht handeln“, heißt es in einem offenen Brief ehemaliger NATO-Generalsekretäre sowie 53 weiterer ehemaliger NATO-Außen- und Verteidigungsminister. Den beeindruckenden Wortlaut dieses Briefes können Sie in unserem Antrag von letzter Woche vollständig nachlesen.
Die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen sind der Art, dass schon der Internationale Gerichtshof 1996 allein die Drohung mit einem Nuklearschlag als Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht gewertet hat. Er hat damals moniert, dass es noch kein explizites Verbot von Atomwaffen gebe. Jetzt gibt es eins, und es wird seine Wirkung entfalten. Davon bin ich überzeugt. Bis dahin bleibt uns nur weiterhin die Hoffnung auf die göttliche Fügung.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Henning Otte.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Freitagnachmittag: Aktuelle Stunde, beantragt von der Fraktion Die Linke. Das zeigt doch, dass es Ihnen eigentlich nicht ernsthaft um diese Debatte geht. Diese Kurzfristigkeit, die Sie heute am Freitagnachmittag zum Ausdruck bringen, ist auch ein Synonym für das Zu-kurz-Gedachte bei dieser Debatte. Das ist ein ernstes Thema, bei dem man sich mit der Realität auseinandersetzen muss.
Frau Kollegin Keul von den Grünen, also Ihre Rede eben hat dem Fass ja wirklich den Boden ausgeschlagen. Fernab von jeglicher Realität suggerieren Sie ein Bild, als wolle man Atomwaffen vom Himmel werfen, um Menschen und Natur zu vernichten. Es geht doch nur darum, dass wir nicht angegriffen werden.
({0})
Unsere nukleare Teilhabe dient als Abschreckungspotenzial. Das, meine Damen und Herren, hat auch dazu beigetragen, dass wir seit 70 Jahren in Frieden und Freiheit in Europa leben.
({1})
Wir als CDU fühlen uns dem Frieden verpflichtet, und wir wollen Frieden gestalten. Wir wollen die Schöpfung bewahren, und wir wollen eine gute Zukunft für alle Kinder. Aber Frieden fällt eben nicht vom Himmel; vielmehr muss man aktiv für ihn eintreten. Und mit einem Beobachterstatus allein, Frau Heinrich, ist es doch nicht getan. Damit würden wir eher schwere Kollateralschäden gegenüber Frankreich und den USA erzielen. Wir müssen das vielmehr gemeinsam und auf Augenhöhe miteinander beraten. Kein NATO-Mitglied würde diesem Atomwaffenverbotsvertrag zustimmen. Fast kein europäisches Land würde diesem Vertrag zustimmen. Wir würden uns völlig isolieren; wir würden uns aus der Teilhabe herausnehmen. Wir würden uns aus dem Mitspracherecht herausnehmen. Das ist doch keine Gefühlswelt, in die wir hier an einem Freitagnachmittag eintauchen.
Wir müssen doch der Realität ins Auge sehen. Wir müssen die sicherheitspolitischen Herausforderungen sehen. Dazu gehört nukleare Teilhabe. Solange andere Länder, die uns nicht wohlgesonnen sind, in der Lage sind, uns nuklear zu bedrohen oder anzugreifen, müssen wir die nukleare Teilhabe beibehalten. Deswegen lehnen wir den Beitritt zu einem solchen Verbotsvertrag ab, meine Damen und Herren.
({2})
Es geht doch vielmehr darum, dass wir bei den NATO-Planungszielen mitreden, dass wir, wenn wir die Trägersysteme zur Verfügung stellen, wie ein zweiter Schlüssel auch die eigene Verantwortung überprüfen. Es geht auch darum, dass wir unsere Werte verteidigen, dass wir unsere Interessen einbringen, dass wir handlungsfähig sind, auch im Rahmen der Klimagestaltung. All das dürfen wir doch nicht leichtfertig freitagnachmittags mal eben so aufs Spiel setzen. Das sind hergebrachte Grundsätze unserer Strategie.
Herr Gysi, Sie erzählen hier nur die halbe Wahrheit. Dem haben ja nur 52 von 193 UN-Mitgliedstaaten überhaupt zugestimmt; kein einziges NATO-Mitglied war dabei.
({3})
Wir gehen einen anderen Weg, wir gehen einen konstruktiven Weg. Wir sagen, der Nichtverbreitungsvertrag von 1969 muss weitergeführt und weitergestaltet werden. Wir begrüßen den New-START-Vertrag, der mit Joe Biden jetzt neu aufgelegt worden ist. Wir sagen, es braucht einen neuen INF-Vertrag, und wir kritisieren die Verletzung dieses Vertrages durch Russlands Stationierung von nuklear bestückten Hyperschallraketen, die auch Deutschland bedrohen können. Und wir sagen, wir brauchen eine transparente Verifikation durch den Open-Skies-Vertrag.
Aber zu sagen, dass die Welt mit einem einseitigen Ausstieg friedlich wäre, das ist wirklich Gefühlsduselei. Damit kriegen wir auch keine standhafte Diplomatie. Sie muss mit glaubhaften, messbaren Mitteln dargestellt werden. „Hic Rhodos, hic salta“ – beweis doch, was du kannst. Und das, meine Damen und Herren, das ist auch Regierungsverantwortung. Wir stellen uns dieser Regierungsverantwortung. Wir müssen bereit sein, in die Sicherheit unseres Landes zu investieren. Wir müssen bereit sein, NATO-Verpflichtungen zu erfüllen, weil wir bereit sind, eine Kultur der Verantwortung zu pflegen – für die Sicherheit Deutschlands, für die Sicherheit Europas und für ein Stück sichere Welt auf diesem Globus.
Wir sagen: Frieden und Freiheit sind nur mit Diplomatie, auf Augenhöhe, im Dialog, aber auch mit einem Abschreckungspotenzial zu gestalten, solange andere Länder diese Waffen haben und nicht bereit sind, ebenbürtig zu reduzieren. Deswegen lehnen wir den einseitigen Beitritt zu einem solchen Verbotsvertrag ab.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Henning Otte. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Anton Friesen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im Vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“ Wir alle teilen den Schrecken des Atomkriegs, den Albert Einstein mit diesen deutlichen Worten zum Ausdruck brachte.
Ja, eine Welt ohne Atomwaffen wäre wünschenswert. Bereits Michail Gorbatschow hatte diesen Traum, den Barack Obama Jahrzehnte später aufgriff. Nun tritt für die Unterzeichnerstaaten der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft, der diese hehren Ziele ebenfalls verfolgt. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft eine große Kluft, und Politik – das weiß jeder spätestens seit Bismarck – ist die Kunst des Möglichen.
Tatsächlich liegen die Gründe, die eine Welt ohne Atomwaffen auf absehbare Zeit unrealistisch machen, in der geopolitischen Machtverteilung. Solange es eine Supermacht gibt, die gegen von ihr zu solchen erklärte Schurkenstaaten Kriege führt, werden sich die Machthaber in ebendiesen Staaten Atomwaffen zulegen oder jedenfalls danach streben. Denn Sie wissen nur allzu gut, was mit Staaten wie Irak oder Syrien passiert ist, die keine Atombomben besaßen.
({0})
Vor die Wahl zwischen dem von außen aufgezwungenen Regime Change und der Atombombe gestellt, entscheiden sie sich für Letzteres. Ich bin mir sicher: Hätte Syrien Atomwaffen besessen, wäre es nicht zum Opfer von Franzosen, Briten, US-Amerikanern geworden – mit tätiger bundesdeutscher Unterstützung.
({1})
Doch nicht nur die weltweiten militärischen Interventionen des US-Hegemons schaffen Anreize für atomare Hochrüstung. Auch der Kriegspazifismus à la Grüne, der Kriege unter dem Deckmäntelchen der humanitären Interventionen hoffähig machen will – selbst ohne UN-Mandat, wie wir im Kosovo ja gesehen haben –, trägt zu einer atomar bewaffneten Welt bei. Grüne Heuchelei und Doppelmoral machen es möglich. Die Ökosozialisten setzen sich einerseits für das weltweite Atomwaffenverbot ein, andererseits sorgen sie für die Gründe, die zur atomaren Bewaffnung von immer mehr Staaten führen. Logik darf man von Ihnen nicht erwarten. Aber die ist für Grüninnen und Grüne ohnehin ein Fremdwort.
({2})
Die Alternative für Deutschland als Friedenspartei
({3})
lehnt humanitaristisch verbrämten Kriegspazifismus ab. Wir setzen uns für die globale Abschaffung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen ein. Dabei sollten auch die US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden
({4})
unter der Voraussetzung, dass wir in einem starken System kollektiver Sicherheit schlagkräftige Streitkräfte haben, die unser Land verteidigen können. Damit wäre auch die Voraussetzung geschaffen, aus der nuklearen Teilhabe Deutschlands in der NATO auszusteigen.
Die Bundesregierung sollte viel mehr tun, um im Bereich der nuklearen Abrüstung zwischen den USA und Russland zu vermitteln. Warum kam kein Vorschlag aus Berlin, deutsche Beobachter einzusetzen, um die gegenseitigen Vertragsverletzungsvorwürfe beim INF-Vertrag zu untersuchen? Sowohl Washington als auch Moskau hätten sich offen dafür gezeigt. Immerhin haben sich die Russen und die Amerikaner über die Verlängerung von New START verständigt – ein Hoffnungszeichen.
Für den Atomwaffenverbotsvertrag gilt: Man sollte nicht den zweiten vor dem ersten Schritt tun, sonst stolpert man. – Einem Vertrag beizutreten, der hehre Ziele verfolgt, allerdings auf absehbare Zeit nicht realistisch umgesetzt werden kann, das lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({5})
Danke schön, Dr. Friesen.
({0})
Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Siemtje Möller.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bemerkung vorweg: Auch wenn ich mich selber nicht unbedingt als sozialistisch bezeichnen würde, aber lieber Ökosozialist als Neonationalsozialist. Das vielleicht noch mal an dieser Stelle.
({0})
Aber zur Sache. Dass Atomwaffen die Welt zu einem gefährlicheren Ort gemacht haben, ist spätestens seit den Abwürfen von „Little Boy“ und „Fat Man“ grausame Gewissheit geworden.
({1})
Nicht weit von hier, im Schloss Cecilienhof in Potsdam, wurde 1945 von Harry Truman die Entscheidung getroffen, diese Atombomben gegen Japan einzusetzen.
Es ist deshalb heute ein guter Tag, um in Berlin über nukleare Abrüstung und den Weg in eine atomwaffenfreie Welt zu debattieren. Denn eins ist doch klar: Wir alle hier wollen eine atomwaffenfreie Welt. – Vielleicht abgesehen von ein paar Verirrten ganz rechts hat selbst die Union zu meiner großen Erleichterung die Haltung von Franz Josef Strauß aufgegeben und Abstand genommen von der Idee, dass die Bundesrepublik eigene Atomwaffen besitzen solle. Welch ein Glück für uns alle!
Aus meiner Sicht machen drei Dinge die Welt sicherer: Bündnisse, Abrüstung und international verbindliche Verträge. Ich sage es gleich vorweg: Die Welt, Europa und damit auch die Bundesrepublik würden nicht sicherer, friedlicher, wenn wir uns aus der NATO verabschieden würden.
({2})
Für uns ist klar, dass wir immer in Bündnissen mit Freunden agieren wollen, um Frieden und Sicherheit für die Menschen in diesem Land zu sichern. Als starkes Land muss die Bundesrepublik ihren Beitrag leisten und darf das Bündnis, das Sicherheit in Europa garantiert, nicht gefährden. Das steht für mich außer Frage. Nur wenn man Freunde an seiner Seite hat, ist man in der Not nicht verlassen. Das gilt heute genauso wie morgen.
2010 verabschiedete der Deutsche Bundestag einen fraktionsübergreifenden Antrag, der sich gegen Atomwaffen aussprach. In den internationalen Beziehungen herrschte Aufbruchstimmung, leider – das wissen wir alle – nicht von Dauer. Wir blicken auf Jahre zurück, in denen ein internationaler Vertrag der Rüstungskontrolle nach dem anderen aufgekündigt oder nicht verlängert wurde: JCPoA, um das wir ringen, INF, Open Skies.
Wir blicken zugleich zurück auf Jahre, in denen in internationalen Verträgen niedergeschriebene Sicherheiten ignoriert wurden. Russland annektierte die Krim und förderte den Krieg in der Ostukraine, obwohl im Budapester Memorandum die territoriale Integrität der Ukraine im Gegenzug zur Abrüstung der eigenen Atombomben zugesichert wurde. Die Welt wurde damit unsicherer, weil internationale Verträge an Verlässlichkeit eingebüßt haben. Insbesondere die vergangenen vier Jahre haben vielen von uns sehr große Sorgen bereitet. Wir befürchteten, dass die alte Weltordnung des Kalten Krieges, die wir hinter uns gelassen zu haben glaubten, wieder Realität werden könnte.
Ich finde es – ich will das auch so deutlich sagen – begrüßenswert, dass der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist. Er beweist, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage ist, internationale Abkommen zu schließen. Niemand würde bestreiten, dass das eine gute Initiative ist. Um aber tatsächlich zu nuklearer Abrüstung zu kommen, braucht es mehr als den Appell all derjenigen Länder, die eben keine Atomwaffen haben. Ein erhobener Zeigefinger führt nicht zu Abrüstung.
Was wir brauchen, sind verbindliche Vertragswerke, die zwischen den Ländern getroffen werden, die Atomwaffen besitzen.
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Das sind vor allem Russland und die USA. Das sind Vertragswerke, wie der bereits bestehende Nichtverbreitungsvertrag; Vertragswerke, die Verlässlichkeit und Vertrauen schaffen, damit konkret abgerüstet wird, die ein hartes Sanktionsregime umfassen, die Transparenz herstellen und die den Willen der Atommächte ausdrücken, dass sie die Atomwaffen, die sich in ihrem Besitz befinden, Stück für Stück reduzieren und am Ende ganz aufgeben.
Dass im Frühjahr, Anfang April, in Washington die verschobene Überprüfungskonferenz nachgeholt wird, ist, wie ich finde, ein wirklich gutes Zeichen. Dass der neue US-Präsident Joe Biden bereit ist, den New-START-Vertrag, der Russland und den USA Obergrenzen für atomare Sprengköpfe vorgibt, vorerst um fünf Jahre zu verlängern, ist ebenfalls ermutigend.
Es bewegt sich etwas. Abrüstungsverträgen wird wieder höhere Priorität eingeräumt. Ich finde, das muss unser Weg sein: Nicht vorschnell handeln und dem gutgemeinten, aber für Atommächte nicht verbindlichen Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, sondern die Wiederbelebung der Rüstungskontrolle vorantreiben, die guten Chancen auf eine sicherere Welt, die sich mit der neuen US-Regierung aufzeigen, nutzen, Deutschlands Gewicht in die Verhandlungen einbringen, Gesprächsplattformen anbieten.
Ich bin überzeugt: So können wir einen guten Beitrag zu einer sichereren Welt und zu einem sicheren Europa leisten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Siemtje Möller. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Heike Hänsel.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Inkrafttreten des UN-Atomwaffenverbotsvertrags am 22. Januar haben wir einen wahrhaft historischen Tag erlebt, und er wurde ja auch weltweit gefeiert.
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Die Weltgemeinschaft hat sich auf den Weg gemacht, die Menschheit von der Geißel der Atomwaffen zu befreien.
Seit dem 22. Januar sind Atomwaffen nunmehr verboten. Dies ist ein riesiger Erfolg der internationalen Friedensbewegung, die beharrlich zehn Jahre lang auf ein globales völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen im Rahmen der ICAN-Kampagne hingearbeitet hat.
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Das sollten wir mal ausdrücklich anerkennen, und wir sollten uns bei all denen bedanken, denen das Wohl der Menschheit und die Sicherheit des Planeten wirklich am Herzen liegen. In Deutschland sind das zum Beispiel die IPPNW, die Initiative „atomwaffenfrei. jetzt“, die „Mayors for Peace“ und all jene, die immer wieder vor dem Atomwaffenlager in Büchel demonstrieren und blockieren. Das ist ihr Erfolg.
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Sie suggerieren jetzt, es wäre ja eine verblendete Linke, die diesen Vertrag unterstützt. Dabei sieht doch die Realität ganz anders aus. Eine übergroße Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen steht auf der Seite des internationalen Rechts und hat diesen Vertrag unterstützt. Guterres selbst, der UN-Generalsekretär, hat ihn willkommen geheißen.
In Deutschland sprechen sich laut aktuellen Umfragen 92 Prozent der Bevölkerung für den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag aus.
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Mehr als 120 Städte, darunter alle 16 Landeshauptstädte in Deutschland, setzen sich für den Verbotsvertrag ein, ebenso vier Bundesländer. Im Bundestag selbst gibt es einen fraktionsübergreifenden Arbeitskreis aller demokratischen Parteien für den Atomwaffenverbotsvertrag. Sind das alles Irre? Wollen Sie das ernsthaft behaupten?
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Ihr Nichtverbreitungsvertrag hat doch überhaupt nicht zu atomarer Abrüstung geführt. Im Gegenteil: Wir haben mittlerweile neun Staaten, die Atomwaffen besitzen. Die Welt ist unsicherer denn je, und genau deswegen brauchen wir den Verbotsvertrag.
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Mit Entsetzen müssen wir allerdings feststellen, dass die Bundesregierung den Atomwaffenverbotsvertrag boykottiert und an der Logik der nuklearen Abschreckung, das heißt der Androhung der gegenseitigen vollständigen Auslöschung, festhalten will. Damit steht die Bundesregierung auf der falschen Seite der Geschichte, nicht wir.
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Sie hat beschlossen, nicht die Fahne des Friedens, sondern die des Unrechts zu hissen, und will Atomwaffen eben nicht verbieten.
Wer so handelt, braucht sich dann bitte aber nicht mehr im Bundestag hinzustellen und salbungsvolle Reden für atomare Abrüstung zu halten, wie wir es unter anderem immer von Außenminister Heiko Maas von der SPD hören.
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Wer den Atomwaffenverbotsvertrag nicht unterzeichnet, hat eben nichts, rein gar nichts mit atomarer Abrüstung im Sinn. So einfach ist das.
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Für diesen verheerenden Standpunkt der Bundesregierung ist das Duo infernale der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, Heiko Maas und Annegret Kramp-Karrenbauer, direkt mitverantwortlich. Beide wollen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO nicht vom deutschen Zugriff auf Atomwaffen lassen und hintertreiben damit auch den Beschluss des Deutschen Bundestages, sich für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.
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Und: Sie versuchen, zur Rechtfertigung ihres zutiefst unrechten Handelns die Öffentlichkeit mit der fadenscheinigen Behauptung zu täuschen, eine Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags würde die Abrüstungsbemühungen innerhalb des Nichtverbreitungsvertrages gefährden. Das ist hier ja oft genug erwähnt worden.
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einem 40-seitigen Gutachten, das meine Kollegin Sevim Dağdelen in Auftrag gegeben hatte, festgestellt – das können wir dem Außenministerium gerne noch einmal zusenden –, dass diese Argumentation einfach nichtig und falsch ist, dass sich Atomwaffenverbotsvertrag und Nichtverbreitungsvertrag selbstverständlich nicht entgegenstehen, sondern ergänzen.
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Was für eine schallende Ohrfeige für Ihre Politik!
Nach zwei verlorenen Weltkriegen war es einmal der Gründungskonsens dieser Republik, dass Deutschland ein für alle Mal auf Massenvernichtungswaffen verzichtet.
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Die Bundesregierung muss zu diesem Gründungskonsens endlich zurückkehren und den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen.
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Das bedeutet eben auch, einmal Rückgrat zu zeigen, und nicht alles, was von der US-Administration – wie im Fall der Blockade dieses Atomwaffenverbotsvertrags – kommt, weiter dienerhaft auszuführen. Duckmäusertum ist ein schlechter außenpolitischer Ratgeber.
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Das kann ich hier nur der Bundesregierung und auch Heiko Maas sagen.
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Unterzeichnen Sie den Verbotsvertrag!
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Sagen Sie den USA endlich, dass sie ihre Atomwaffen wieder mit nach Hause nehmen können.
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Das wäre einerseits ein wichtiges Zeichen für die Bevölkerung in Rheinland-Pfalz, wo die US-Atomwaffen ja gelagert sind.
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Sie wären übrigens ja auch eines der ersten Angriffsziele –
Frau Kollegin.
– ich komme zum Schluss – bei einem Atomschlag in Europa. Es wäre andererseits ein wichtiger Beitrag zur Abrüstung. Wir bräuchten dann keine Milliarden mehr für neue atomare Kampfbomber. Diese Milliarden könnten wir ins Gesundheitssystem investieren.
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Vielen Dank, Heike Hänsel. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Nikolas Löbel.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hänsel, da haben Sie gerade aber wirklich ein Feuerwerk der internationalen Verantwortungslosigkeit abgefeuert. Eins muss ich Ihnen schon sagen: Wenn Sie sich als gewählter Vertreter dieses Hauses hierhinstellen und sagen, wir würden hier nicht die Flagge des Friedens, sondern die Flagge des Unrechts hissen, dann ist das etwas, was ich aus der Mitte dieses Hauses zurückweisen muss.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wollen nukleare Abrüstung; das eint uns. Aber wer nukleare Abrüstung will – das hat der Kollege Kiesewetter vorhin wunderbar erklärt –, der muss den Weg der nuklearen Teilhabe gehen, um gemeinsam mit den Atommächten dieser Welt eine internationale Sicherheitsarchitektur zu erhalten, die auch ohne Atomwaffen dauerhaften Frieden sichern kann.
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Im Bündnis mit unseren NATO-Partnern ist die nukleare Teilhabe eben bisher einer der Grundpfeiler unserer strategischen Sicherheitsarchitektur. Ja, auf deutschem Boden befinden sich Atomwaffen, und, ja, sie sind auch ein Teil der Garantie für unsere Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir die nukleare Teilhabe infrage oder gar in Abrede – genau das wäre das Ergebnis des von Ihnen geforderten Beitritts zum AVV –, nehmen wir uns selbst aus der Diskussion und aus der Planung unserer eigenen Sicherheit in der Zukunft. Wer sich selbst aus der Debatte herausnimmt, der darf sich nicht wundern, wenn am Ende gegen seine Interessen und damit gegen die Sicherheitsinteressen der Menschen in diesem Land entschieden wird.
Genau das meine ich, wenn ich sage: Wer nukleare Abrüstung will, der muss den Weg der nuklearen Teilhabe gehen.
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Wir als Union handeln sicherheitspolitisch verlässlich, und deshalb werden wir uns weiter klar dem Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag entgegenstellen. Denn wir stehen zur NATO. Wir stehen zu unserer internationalen Verpflichtung. Wir stehen für Frieden und für Sicherheit ein – eben nicht nur auf dem Papier.
Die Frage ist ja: Was bedeutet dieser Atomwaffenverbotsvertrag eigentlich im Kern? Ich finde, die „Tagesschau“ hat das vor einigen Wochen in einem Beitrag wunderbar beschrieben, indem sie die Überschrift wählte: „Symbolisches UN-Abkommen“. Damit ist der Vertrag perfekt zusammengefasst.
Der Atomwaffenverbotsvertrag wurde ohne die bestimmenden Atommächte verhandelt und beschlossen. Er enthält keine Verifikation und Kontrollmechanismen und wird international nicht von den Staaten getragen, die im Fokus der nuklearen Abrüstungsbemühungen stehen.
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Das Gleichnis des Blinden, der über die Farbenlehre spricht, spare ich mir an dieser Stelle lieber.
Ungeklärt ist außerdem die Frage des Einflusses des Vertrages auf den NVV, auf den Nichtverbreitungsvertrag; das wurde schon mehrfach erwähnt. Eine Schwächung des NVV ist auf alle Fälle nicht in unserem Sinne.
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Bekommen Sie jetzt bitte keinen Herzinfarkt hier!
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Wir führen die Debatte ordentlich zu Ende. Aber das macht eben auch den politischen Unterschied, ob man sachlich in der Mitte diskutiert oder ob andere eine Debatte emotional anheizen. Das ist das Einzige, was Sie mit dieser Debatte heute überhaupt erreichen wollen.
Hier ist unsere Position zu dem Thema ganz klar: Nur mit einem starken transnationalen und transatlantischen Partner und gemeinsam im Dialog mit Russland können wir hier weitere Schritte erzielen. Das erste Telefonat zwischen dem neuen US-Präsidenten Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hat uns da ja etwas Hoffnung gegeben; denn sie sind schnell zu einer Einigung zur Fortsetzung des New-START-Vertrages gekommen.
Ein Werkzeug zur Deckelung von nuklearen Arsenalen steht also kurz vor seiner fünfjährigen Verlängerung. Diese Verlängerung gibt uns ein neues Zeitfenster, und dieses Zeitfenster müssen wir nutzen, auch als Deutschland, um uns weiter engagiert und konstruktiv in diese Debatte einzubringen.
Der Beitritt zum AVV wäre dabei das falsche Signal. Wir würden damit unsere internationalen Partner brüskieren, unsere Verhandlungsposition schwächen, und wir würden uns einfach nur selbst moralisch über die anderen stellen, ohne in der Sache auch nur irgendetwas zu verändern. Das ist nicht unser Weg einer Politik der Verantwortung aus der Mitte. Deswegen lehnen wir diesen Antrag heute ab.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Positive am Anfang: Ich bin erfreut darüber, in welch hoher Anzahl die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags und die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank heute bei dieser Aktuellen Stunde noch anwesend sind, um bei diesem wichtigen Thema und dieser wichtigen Aktuellen Stunde zu lauschen.
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Ich würde mir allerdings noch wünschen, dass die mediale Aufmerksamkeit für den Weltfrieden eine höhere wäre; bei anderen Tagesordnungspunkten ist sie dann doch höher.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Weltuntergangsuhr – der eine oder andere kennt sie – steht 100 Sekunden vor zwölf. Vorgestern hat das renommierte „Bulletin of the Atomic Scientists“ wie jedes Jahr bekannt gegeben, wie knapp die Menschheit aus seiner Sicht vor einer allumfassenden Katastrophe steht. Seit 1947 existiert diese symbolische Uhr. Wenn sich die Lage verschlechtert, wird die Zeit vorgestellt, und wenn die Lage sich entspannt, wird sie zurückgestellt. Letzteres ist jedoch seit dem Ende des Kalten Kriegs und den Abrüstungserfolgen, die damit direkt verbunden sind, nur ein einziges Mal passiert: 2010, als Russland und die USA den New-START-Vertrag unterzeichneten, ein wichtiges Vertragswerk, ein wichtiges Werk für den Frieden. Ansonsten bewegt sich der Zeiger leider unerbittlich voran. Und bereits 2020 wurde die Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor zwölf gestellt – so weit wie nie zuvor.
Diese Uhrzeit wurde nun exakt beibehalten. Was heißt das? Dass 2020 ein Jahr des Stillstands war? Nein, im Gegenteil: 2020 war ein Jahr dramatischer Rückschritte für die nukleare Abrüstung: die immer weiter vorangetriebene Urananreicherung des Irans im Widerspruch zum JCPoA-Abkommen, China, das seine Fähigkeiten erweitert und Interkontinentalraketen mit mehreren individuell steuerbaren Gefechtsköpfen bestückt, Nordkorea, welches wieder mal eine größere Rakete – ob sie funktioniert oder nicht, wissen wir nicht – präsentierte, die voranschreitende Entwicklung nuklearfähiger Hyperschallwaffen, destabilisierende Raketenabwehr, Trägersysteme, die sowohl konventionell als auch nuklear bestückt werden können, sowie die Fantasien über mögliche passgenaue Mikronuklearwaffen. Die Fachleute des Bulletins haben deutlich gemacht, dass solche Entwicklungen ein weiteres Vorstellen der Uhr gerechtfertigt hätten.
Jedoch gab es auch Hoffnungsschimmer. Genannt wird die Wahl von Joe Biden, der, anders als sein Vorgänger, auf internationale Kooperationen setzt. Kaum ist er im Amt, erreicht er gemeinsam mit Russland die ersehnte Verlängerung des New START um weitere fünf Jahre. Deshalb hoffen wir – wir in Deutschland und in Europa –, dass die USA nun auch dem Atomabkommen mit dem Iran wieder beitreten können.
Als weiterer großer Hoffnungsschimmer wird das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags vor einer Woche genannt. Die SPD-Fraktion begrüßt dies – und ich ebenfalls – ausdrücklich. Wir wollen deshalb die richtigen Schlüsse daraus ziehen.
In dieser Aktuellen Stunde wird gefordert, dass wir unverzüglich selbst beitreten sollten, wenn man Kollegin Hänsel beispielsweise folgt.
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Das klingt nobel. Das mag gut gemeint sein, bringt aber nichts. Aber ein alter Spruch besagt: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. – Fakt ist doch, dass alle Atommächte den Vertrag ablehnen und er daher für den Moment an der Existenz, an der Anzahl von Atomwaffen überhaupt nichts ändert.
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Einige dieser Atommächte sind unsere engsten Verbündeten: die USA, Großbritannien, Frankreich. Wenn Deutschland diesem Abkommen ohne Absprache und Rücksicht beitritt,
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wird das vor allen Dingen diese guten Verhältnisse belasten. Warum das gut für nukleare Abrüstung sein soll, würde ich dann nicht verstehen.
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Komischerweise scheint dieses offensichtliche Problem manchen hier ganz herzlich egal zu sein. Andere nehmen es vielleicht sogar in Kauf. Die Linke, die diese Aktuelle Stunde beantragt hat, freut sich diebisch – das merkt man doch – über alles, was die NATO schwächen könnte.
Aber es kann doch niemand ernsthaft glauben, dass Staaten wie Nordkorea ihre Atomwaffen nur deshalb abrüsten, weil es in der NATO Streit gibt. Nein, wir, die SPD-Fraktion, haben da einen besseren Vorschlag, nämlich als Beobachter bei der Vertragsstaatenkonferenz teilzunehmen. Ein Beitritt Deutschlands ist im Augenblick nicht zielführend. Aber es heißt nicht, dass wir uns komplett aus diesem Vertrag fernhalten sollten.
Wir erkennen an, dass der Atomwaffenverbotsvertrag das richtige Ziel hat: eine atomwaffenfreie Welt. Und wir erkennen an, dass die Staaten, die ihn unterstützen, ein Recht darauf haben, gehört zu werden. Denn Atomwaffen gehen die ganze Menschheit an. Ihr Einsatz betrifft auch die, die keine Macht über Atomwaffen haben.
Machen wir uns klar: Jene Staaten können den Atommächten keine Abrüstungsangebote machen; denn sie haben keine Atomwaffen, die sie abrüsten können. Deutschland sollte deshalb die ganzen 122 der 193 UN-Mitgliedstaaten unterstützen und deren legitime Interessen ernst nehmen, sich proaktiv mit ihnen auseinandersetzen – als Beobachter, als Scharnier, als derjenige, der das Gespräch offenhält.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Wir wollen weder Stillstand noch rücksichtsloses Vorpreschen, sondern wir wollen kluge Außenpolitik und Sicherheitspolitik im Sinne des Friedens.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
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Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde und am heutigen Sitzungstag: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vision einer atomwaffenfreien Welt ist richtig. Sie wird von uns als Ziel geteilt und ist Hoffnung vieler Menschen auf der Welt. Auch in den Städten und Gemeinden unseres Landes wird darüber diskutiert, genauso wie von Nichtregierungsorganisationen. Aber die Frage muss erlaubt sein: Welcher Weg zu einer atomwaffenfreien Welt ist der erfolgversprechendste, und welcher ist mit unseren Bündnis- und Sicherheitsinteressen vereinbar? Deswegen warne ich davor, dass wir diese Debatte vom eigenen Standpunkt her moralisch überhöhen. Auch wenn jemand im Zusammenhang mit dem Atomwaffenverbotsvertrag Skepsis anmeldet, bedeutet das nicht, dass er nicht glaubhaft auch für eine atomwaffenfreie Welt eintreten könnte. Die Welt ist komplex, und deswegen müssen wir dieses Thema komplett durchdenken.
Was mir bei der Debatte ein bisschen zu kurz kommt, ist der Umstand, dass der Atomwaffensperrvertrag, der sogenannte Nichtverbreitungsvertrag, seit über 50 Jahren gilt, dass ihm 191 Staaten dieser Welt beigetreten sind und dass er zwei wichtige Aspekte hat: Erstens darf außer den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern kein anderer Staat Atomwaffen besitzen; diese haben aber die Verpflichtung, abzurüsten.
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Zweitens haben die anderen Staaten der Welt die Möglichkeit, Kernenergie friedlich und zivil zu nutzen.
Bei der friedlichen und zivilen Nutzung allerdings gibt es sogenannte Safeguards bereits im Atomwaffensperrvertrag. Diese Safeguards sind im Atomwaffensperrvertrag übrigens wesentlich schärfer und präziser als im Atomwaffenverbotsvertrag. Das führt dazu, dass unter dem Regime des Atomwaffenverbotsvertrags möglicherweise die Kontrolle der zivilen Nutzung weniger stark wäre als im Regime des Nichtverbreitungsvertrags. Es ist vielleicht kompliziert, das so darzustellen; aber das heißt letztlich, dass der Atomwaffenverbotsvertrag in dem Bereich weniger Sicherheit bedeuten würde.
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Zudem muss man deutlich machen, dass die Abrüstungsbemühungen der letzten Jahre in der Tat nicht so waren, wie wir uns das vorgestellt haben. Aber das lag doch nicht an den Vereinigten Staaten, sondern vor allen Dingen an den Rüstungsbemühungen von Russland und China. Und da gilt es, die Sicherheitsinteressen unserer Partner in Mittel- und Osteuropa besonders in den Blick zu nehmen.
Der Atomwaffenverbotsvertrag hat nämlich folgende Defizite: Keine Atommacht der Welt ist diesem Vertrag beigetreten. Kein NATO-Staat ist beigetreten. Selbst die Schweiz und Schweden, die bei der Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts führend waren,
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haben Abstand davon genommen, diesen Vertrag zu ratifizieren, weil sie sagen, dass uns dieser Vertrag vor allen Dingen aufgrund der Kautelen, die zu einer mangelnden zivilen Überprüfung führen, im Bereich der atomaren Abrüstung im Augenblick nicht weiterbringt. Ich bin der Meinung: Diese Stimmen sollten wir auch hören.
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Das bedeutet nicht, dass wir gegen atomare Abrüstung sind – ganz im Gegenteil. Aber man muss die Sicherheitslage komplett in den Blick nehmen. Der Punkt ist nämlich, dass gerade aus unserer Geschichte deutlich wird, dass zu Zeiten des Kalten Krieges die konventionelle Übermacht des Warschauer Paktes nur deswegen keine unmittelbare Bedrohung war, weil wir unter dem transatlantischen Nuklearschirm der Vereinigten Staaten gestanden haben.
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Damit haben die Androhung der Atombombe und letztlich deren Nichteinsatz unsere Sicherheit garantiert.
Wenn wir also dem Atomwaffenverbotsvertrag jetzt beitreten würden, dann würden wir ein Stück weit die Axt an das Transatlantische Bündnis anlegen,
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und zwar gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem aufgrund der neuen US-Administration eine neue Chance besteht, das Transatlantische Bündnis zu beleben.
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Wir brauchen eine Belebung des Transatlantischen Bündnisses.
Wir brauchen auch die Übereinkunft um das Wissen, dass die Sicherheit in unserem Lande nach wie vor von der nuklearen Garantie der Vereinigten Staaten abhängt. Das dürfen wir nicht infrage stellen. Deswegen ist es unser Ziel, dass es im Rahmen internationaler Bündnisse und Abkommen zu weiteren Abrüstungsschritten kommt – aber nicht zu einseitigen, die unsere Sicherheit gefährden würden, sondern zu bilateralen und multilateralen Abrüstungsschritten.
Das ist der Weg, den wir gehen wollen, um die Vision einer atomwaffenfreien Welt realistisch zu erreichen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Volker Ullrich. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.