Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir legen heute dem Deutschen Bundestag den Alterssicherungsbericht und den Rentenversicherungsbericht vor. Damit verbunden sind zwei wichtige Nachrichten: Erstens. Die älteren Menschen in Deutschland leben ganz überwiegend in gesicherten finanziellen Verhältnissen. Zweitens. Die Rentenversicherung folgt dem Prinzip der Lebensleistung. Es geht also um soziale Sicherheit, es geht auch um soziale Gerechtigkeit und Stabilität, und darum kümmern wir uns in dieser Koalition.
Ganz konkret bedeutet das, dass die Haushaltseinkommen der Menschen ab 65 Jahren in den Jahren 2015 bis 2019 im Schnitt um 14 Prozent gestiegen sind; im Vergleich dazu stiegen die Lebenshaltungskosten übrigens um 5,3 Prozent. Damit sichern wir ein Grundversprechen des Generationenvertrages ab, nämlich dass Rentnerinnen und Rentner Anteil am steigenden Wohlstand aufgrund der in Deutschland erwirtschafteten Wirtschaftsleistung haben, und zwar im gleichen Maß wie die Menschen, die in Arbeit sind.
Wichtig ist auch, dass die Rentenversicherung stabil ist. Die Sicherungsreserve ist gut gefüllt, und die Renten sind gestiegen, jedenfalls bis zum letzten Jahr, bis vor der Coronakrise. Das liegt nicht nur an der guten wirtschaftlichen Entwicklung der Jahre vor der Coronakrise und der steigenden Zahl von Beschäftigten; es liegt auch an rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre und auch dieser Legislaturperiode.
Ich will erwähnen den Rentenpakt, den wir auf den Weg gebracht haben, mit dem wir das Rentenniveau gesichert haben. Ich will erwähnen die Verbesserungen beim Thema der Mütterrente. Ich will erwähnen, dass wir zumindest für zukünftige Fälle bei der Erwerbsminderung Verbesserungen eingeführt haben. Ich will erwähnen, dass wir die Beiträge gesenkt haben für 3 Millionen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler mit geringem Einkommen, also bis 1 300 Euro, ohne dass sie bei ihren Alterssicherungsansprüchen schlechtergestellt werden.
Gleichzeitig konnten wir den Beitragssatz 2018 auf 18,6 Prozent absenken und stabil halten. Meine Damen und Herren, damit da keine Mythen entstehen: Ich kann mich noch erinnern, dass vor 1998, also vor über 22 Jahren, der Rentenversicherungsbeitrag in Deutschland schon mal über 20 Prozent war.
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Insofern ist es eine wichtige Nachricht, dass wir die Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung stabil gehalten haben.
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Wir haben damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung von Wirtschaft und Beschäftigten geleistet.
Und wir haben im Herbst dieses Jahres in diesem Deutschen Bundestag dafür gesorgt, dass Rentnerinnen und Rentner, dass vor allen Dingen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die digitale Renteninformation wissen können, mit welchen Ansprüchen sie in der gesetzlichen Rente und in anderen Säulen der Alterssicherung rechnen können.
Vor allen Dingen aber hat dieser Deutsche Bundestag die Grundrente beschlossen, die jetzt zum 1. Januar in Kraft getreten ist. Das, meine Damen und Herren, ist ein wesentlicher sozialpolitischer Meilenstein, weil es das Vertrauen von Menschen in die Rentenversicherung stärkt, weil klar ist, dass diejenigen, die ihr Lebtag gearbeitet haben, die Kinder erzogen haben, die Angehörige gepflegt haben, mehr verdient haben als das, was sie bisher bekommen haben. Es kann nicht sein, dass vor allen Dingen Frauen aufgrund von viel, viel zu niedrigen Löhnen trotz ihrer Lebensleistung im Alter schlechtergestellt sind. Deshalb ist dieser Fortschritt der Grundrente ein Herzensanliegen – für mich jedenfalls –, und ich bin froh, dass es in dieser Koalition gelungen ist.
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Die Debatte ist heute aufgrund der Pandemie kurz. Deshalb möchte ich in den letzten 30 Sekunden, die ich habe, auf Folgendes hinweisen –
16 Sekunden.
– „16 Sekunden“, hat mir der Präsident gerade gesagt; jetzt sind es noch 10 –:
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Wir haben noch eine ganze Menge vor der Brust, um Weichen zu stellen, zum Beispiel die Absicherung von Selbstständigen im System der Alterssicherung. Das ist notwendig, gerade in diesen Pandemiezeiten, weil auch für Selbstständige gilt, dass sie nach einem Leben harter Arbeit eine anständige Absicherung im Alter brauchen. Das wird uns in den nächsten Wochen noch zu beschäftigen haben.
Insgesamt können wir aber feststellen, dass die Alterssicherung in Deutschland trotz mancher Diskussionen und auch mancher Diffamierung mit der tragenden Säule der gesetzlichen Rentenversicherung gut aufgestellt ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing, AfD.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! Aktuell sind die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung recht gut. Wir sollten uns also daran erfreuen, solange dieser Zustand anhält; denn das Ende ist leider absehbar und wird aufgrund der wirtschaftlichen Folgen des Lockdown noch eher kommen. Wenn also im Bericht für das Jahr 2023 ein steigendes Rentenniveau vorausgesagt wird, dann liegt das nicht etwa an den dann steigenden Renten und daran, dass der Arbeitsminister so toll gearbeitet hat, sondern an den durch die Wirtschaftskrise bis dahin sinkenden Einkommen. Denn das Rentenniveau ist nichts anderes als das Verhältnis vom durchschnittlichen Arbeitseinkommen zur Standardrente.
Zur Wahrheit gehört auch: Die OECD hat unser Rentensystem jüngst zum schlechtesten aller Industriestaaten gekürt.
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Nirgendwo sonst in den Industriestaaten sind die Sozialbeiträge so hoch wie bei uns und das Rentenniveau so niedrig. Nirgendwo dürfen die Menschen dafür auch noch so lange arbeiten. Dazu findet sich aber nichts im Rentenbericht und auch nichts im aktuellen Alterssicherungsbericht; dabei wäre das durchaus angebracht. Viele Menschen fragen sich zu Recht, wie es sein kann, dass Deutschland Milliardenbeträge in einen europäischen Aufbaufonds verschiebt bzw. dafür bürgt, aus dem dann Länder wie Italien und Spanien ihre üppigen Rentenzahlungen finanzieren.
Denn leider: Ganz so rosig, wie Sie es darstellen, sieht die Altersversorgung in Deutschland eben nicht aus. Ja, es gibt gutgestellte Rentner. Vor allem aber haben wir einen dramatisch ansteigenden Teil von Rentnern, deren Rente nicht mehr zum Leben reicht. In meinem Bundesland, in Mecklenburg-Vorpommern, gibt es für 40 Beitragsjahre gerade einmal 1 000 Euro Bruttorente im Durchschnitt, und davon werden noch die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abgezogen. Das kann nicht reichen, und das wissen Sie.
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Vor diesem Hintergrund klingt es wie Hohn, dass Sie zwar im Bericht feststellen, dass das Betriebsrentenstärkungsgesetz bislang weitgehend wirkungslos war und auch dass die nachgelagerte Besteuerung der Renten das Versorgungsniveau senken wird, aber dann darauf verweisen, dass die Bürger ja privat vorsorgen könnten. Ja, wovon denn? Die vielgepriesene Riester-Rente – auch das wissen wir heute – war ein Schuss in den Ofen. Nach der anfänglichen Euphorie sank die Zahl der Verträge kontinuierlich.
Wollen die Menschen nicht mehr privat vorsorgen? Die Antwort ist: Sie können nicht. Von allen Beschäftigten, die weniger als 1 500 Euro brutto im Monat verdienen, hat noch nicht einmal die Hälfte eine zusätzliche Altersversorgung, und damit ist die Altersarmut vorprogrammiert.
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Bei mir im Wahlkreis, Mecklenburgische Seenplatte, betrifft das zum Beispiel die Menschen in der Gastronomie und im Tourismus. Bei den Selbstständigen sieht es noch schlimmer aus. Schon heute sind viele ehemals Selbstständige im Alter auf Grundsicherung angewiesen, und es werden immer mehr.
Diese Entwicklung sehen wir seit Jahren, ohne dass die Bundesregierung irgendetwas dagegen getan hätte. Wir warten immer noch auf die Einbeziehung der Selbstständigen in die Rentenversicherung. Wir warten immer noch darauf, dass die Doppelverbeitragung für Betriebsrentner, deren Verträge vor 2004 abgeschlossen wurden, endlich beseitigt wird. Und wir warten immer noch auf die Umsetzung der angekündigten Hilfen für zahlreiche DDR-Rentner, denen im Zuge der Rentenüberleitung ihre Zusatzversorgung genommen wurde. Und vor allem warten wir immer noch auf eine vorausschauende Wirtschaftspolitik, weil letztendlich nur eine florierende Wirtschaft dafür sorgen kann, dass die Menschen zu guten Löhnen arbeiten können und dann entsprechend in die Rentenkasse einzahlen. Altersarmut, die aktuelle wie die zukünftige, ist letztendlich das Ergebnis dieser Halbherzigkeit.
Ich komme zum Ende mit einem Zitat aus dem Gutachten des Sozialbeirats:
Damit für möglichst viele eine lebensstandardsichernde Gesamtversorgung gewährleistet wird, muss die Politik den bisherigen Pfad der Alterssicherung … überdenken.
Das, meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis für die Bilanz
des Arbeitsministers und dieser Koalition.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gerade in einer Zeit vielfältiger Verunsicherung, wie wir sie derzeit erleben, tut es gut, dass ein nicht auf Vermutungen, sondern auf präzis erhobenen Zahlen beruhender Bericht zeigt: Unsere gesetzliche Rente, das Hauptstandbein der Altersversorgung der Menschen in unserem Land, ist stabil, ist gerade in dieser Krise stabil; und sie hat vor allen Dingen eine ausreichende Rücklage von über 36 Milliarden Euro zum Jahresbeginn 2021, die uns hilft, auch bei wirtschaftlichen Schwankungen und Veränderungen zu sagen: Ja, die Rente ist sicher in unserem Land. – Das ist eine tolle Nachricht.
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Klar, die Pandemie wird auch ihre Auswirkungen haben. Die wahrscheinlich nicht gerade tolle Lohnentwicklung des Jahres 2020 wird ihre Auswirkung darin haben, dass eben 2021 die Renten nicht steigen können. Trotzdem ist schon sicher, dass für die Rentnerinnen und Rentner im Osten es noch mal eine Steigerung geben wird. Auch das ist eine gute Botschaft: Der Osten holt auf. Wir schaffen schnell und zügig die Rentenangleichung Ost-West.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist vom Herrn Bundesminister daran erinnert worden: Wir haben ja zurzeit einen, wenn man die letzten Jahrzehnte überblickt, historisch niedrigen Rentenbeitrag von 18,6 Prozent. Wenn man das würdigen will, dann muss man die alten Rentenversicherungsberichte von früheren Jahren lesen. Wenn man den alten Berichten von vor zehn Jahren folgen würde, dann müssten wir heute bei 19,9 Prozent Rentenversicherungsbeitrag liegen
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und müssten mit einer Minirücklage in der Rentenversicherung rechnen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt den Erfolg der letzten Jahrzehnte, in denen wir das Rentensystem stabil gemacht haben, Leistungsverbesserungen eingeführt haben und trotzdem den historisch niedrigsten Beitragssatz haben. Das muss man erst mal hinbekommen. Wir haben es hinbekommen.
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Der Alterssicherungsbericht, der nur alle vier Jahre vorzulegen ist und der auf der mit über 40 000 Befragungen größten Repräsentativerhebung zur Altersvorsorge in Deutschland fußt – nirgendwo gibt es solidere und besser erhobene Zahlen als in diesem Bericht –, zeigt uns: Es gibt viel Licht, es gibt auch Schatten. Zum Licht gehört, dass in der Tat die Alterseinkommen der Deutschen in den letzten zehn Jahren gestiegen sind. Zum Licht gehört auch, dass die Verbreitung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge angestiegen ist. Allerdings ist sie in den letzten Jahren dem hohen Beschäftigungsaufwuchs nicht nachgekommen. Das zeigt: Das ist einer der Punkte, an denen wir nachsteuern müssen, um die zusätzliche Altersvorsorge zu stärken.
Da spielt natürlich die Frage, wie gerade Geringverdiener zu einer zusätzlichen Rente kommen sollen, eine entscheidende Rolle. Wir haben ja deswegen die Geringverdienerförderung eingeführt. Der Alterssicherungsbericht sagt uns: Ja, das fängt schon an zu wirken. – Ich bin der Auffassung, wir sollten diese Geringverdienerförderung, die eine rein arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersvorsorge aufbaut, noch mal zusätzlich stärken und vielleicht auch verpflichtend machen.
Das Zweite ist das Thema der Selbstständigen. Der Bericht zeigt: Wir haben eine große Zahl von Selbstständigen, die ein gutes Einkommen haben, gut fürs Alter vorgesorgt haben – kein Problem. Aber wir haben eben auch eine Gruppe von Selbstständigen, die wenig oder gar nicht fürs Alter vorgesorgt hat, was zu dem Effekt führt, dass der Anteil ehemals Selbstständiger in der Grundsicherung im Alter deutlich höher ist als der früherer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deswegen ist eine verpflichtende Altersvorsorge für Selbstständige ebenfalls ein Vorhaben, das aus diesem Alterssicherungsbericht zwingend als Notwendigkeit zu erkennen ist.
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Wir haben ja im Parlament immer wieder Debatten über niedrige Renten. Die gibt es, ja, aber vor allem – das zeigt der Bericht als Erstes – bei denjenigen, die nicht einmal 30 Jahre im Arbeitsleben waren. Da ist es auch eine logische Konsequenz; dann kann man ja keine Entgeltpunkte angesammelt haben. Der Bericht zeigt uns auch als Zweites: Meistens, sehr oft fällt niedrige Rente mit einem sehr hohen Einkommen zusammen. Das wird meistens in Debatten verschwiegen, weil es sich nämlich um Personen, um Mitbürgerinnen und Mitbürger handelt, die in anderer Art und Weise fürs Alter vorgesorgt haben, ein gutes Alterseinkommen haben. Mit einer gemäß der Statistik niedrigen Rentenzahlung ist noch nichts über Altersarmut ausgesagt. Man muss immer gucken: Was ist das Gesamteinkommen? Dazu sieht man eben in diesem Bericht sehr deutlich herausgearbeitet: Oft steht niedrige Rente im Zusammenhang mit hohem Alterseinkommen, das aus anderen Quellen stammt. – Auch das sollte man endlich aus Fairness mal zur Kenntnis nehmen.
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Dann haben wir – das ist schon interessant – auch öffentliche Debatten erlebt über das Thema „Menschen, die im Rentenalter sind und doch noch arbeiten gehen“. Dazu, finde ich, ist diese Untersuchung hochinteressant. Ja, 24 Prozent der Befragten sagen, sie machen das, weil sie dadurch ihre finanzielle Situation verbessern wollen. Aber noch mal mehr, 27 Prozent, sagen, sie machen das, weil sie Spaß an der Arbeit haben. Und 22 Prozent sagen: weil sie weiterhin eine Aufgabe haben wollen. Das zeigt doch sehr deutlich: Das Bild ist viel bunter. Es ist doch schön, dass viele Menschen im Rentenalter sagen: Ich habe Spaß und Freude an Arbeit, und deswegen mache ich das. – Das sollten wir ihnen nicht vermiesen und auch nicht schlechtreden.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesen wenigen Hinweisen will ich einfach nur sagen: Dieser Alterssicherungsbericht, für den ich mich ausdrücklich bedanke, weil er so hervorragende Untersuchungen auf breiter Basis enthält, zeigt: Wir haben mehr Licht als Schatten in der deutschen Altersversorgung. Wir sind aber aufgerufen, auch die Schattenstellen gründlich zu bearbeiten. Das wollen wir machen.
Vielen Dank.
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Jetzt erhält das Wort der Kollege Johannes Vogel, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, dieser Bericht zeigt Licht, er zeigt Schatten, und er wirft Fragen auf.
Licht, in der Tat. Gott sei Dank ist die finanzielle Situation der meisten Menschen im Alter in unserem Land gut. Gute wirtschaftliche Entwicklung kommt auch bei den Menschen an. Die meisten, die im Alter noch arbeiten, tun das, weil sie es gerne wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der politische Schluss daraus muss doch sein: erstens ein flexibles Rentensystem, wie Schweden uns das vormacht, wo man selber entscheiden kann, wie lange man arbeiten will,
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und zweitens zielgenaues Vorgehen gegen Altersarmut. Unsere Kernkritik an Ihrer Grundrente ist, dass die genau das nicht leistet, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist falsch.
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Schatten, in der Tat. Der Bericht zeigt auch, dass Männer im Alter immer noch erheblich besser abgesichert sind als Frauen. Das zeigt, wie wichtig Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt ist und ein Rentensystem, das zu modernen Lebensläufen passt. Schatten: Der Bericht zeigt, dass – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Peter Weiß hat es eben beklagt – genau seitdem Sie, namentlich Horst Seehofer mit seiner Aussage „Riester ist gescheitert“ – er ist ja hier –, angefangen haben, die kapitalgedeckte Altersvorsorge schlechtzureden, die Verbreitung in Deutschland zurückgeht. Das zeigt doch: Wir sollen sie nicht schlechtreden, sondern endlich besser machen; denn wir brauchen die kapitalgedeckte Altersvorsorge.
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Deshalb muss sie endlich einfacher, verbraucherfreundlicher und aktienorientierter werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Und: Fragen, die wirft dieser Bericht insbesondere auch auf. Das ist ja der letzte Rentenversicherungsbericht, den wir hier in dieser Legislaturperiode diskutieren, das heißt auch ein Stück weit die Gesamtbilanz dieser Koalition in der Rentenpolitik. Daher, lieber Hubertus Heil, sehr geehrter Herr Arbeitsminister, will ich mal ein paar Fragen formulieren, die bis heute unbeantwortet sind.
Ihr Rentenpaket, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, sorgt dafür, dass wir bis 2030 68 Milliarden Euro zusätzliche Kosten haben, sagt die Deutsche Rentenversicherung. Bis 2035 haben wir schon 80 Milliarden Euro zusätzliche Kosten,
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sagt ein Mitglied Ihrer Rentenkommission – übrigens nicht in Summe, sondern Jahr für Jahr.
Wir haben Sie in diesem Plenum schon mehrfach gefragt, und Sie beantworten diese Frage bis heute nicht: Wie wollen Sie das künftig finanzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen?
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Soll der Beitragssatz für die Jüngeren explodieren? Setzen Sie auf wundersame Brotvermehrung im Steuertopf? Wollen Sie, dass die Hälfte des Bundeshaushaltes künftig für den Rentenzuschuss draufgeht? Wir sind jetzt schon auf dem Weg zu einem Drittel. Oder wollen Sie die Steuern erhöhen? Um das mal zu quantifizieren: 80 Milliarden Euro zusätzliche Kosten jährlich, das wären zum Beispiel 6 Prozent Mehrwertsteuererhöhung. Oder sollen alle Bürgerinnen und Bürger zwangsweise bis 70 arbeiten?
Diese Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, müssen Sie beantworten; Sie tun es bis heute nicht. Deshalb muss man leider sagen: Für die jüngere Generation – denn die müssen das bezahlen – ist das eine katastrophale Bilanz in der Rentenpolitik.
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Dieser Bericht zeigt leider auch: Wir müssen bei der Rente endlich anfangen, wieder in Jahrzehnten zu denken – und nicht nur bis zum Ende der Legislaturperiode. Ihre Rentenpolitik macht leider das Gegenteil, und wir sollten in diesem Wahljahr darüber reden, wie wir das in Deutschland wieder ändern können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Matthias Birkwald, Die Linke, hat als Nächster das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrter Herr Minister! Meine Damen und Herren! Ein Vergleich mit Frankreich und Italien aus der „Welt am Sonntag“ in puncto Rente zeigt: Es ist höchste Zeit für einen Neustart in der Rentenpolitik.
Warum? Die Menschen in Frankreich und Italien geben für ihre Seniorinnen und Senioren deutlich mehr Geld aus als wir. Darum erhalten Durchschnittsverdienende hierzulande auch nur die Hälfte ihres Nettoeinkommens als Rente. In Frankreich sind es mehr als zwei Drittel und in Italien sogar fast 80 Prozent. Darum dürfen die Menschen in diesen beiden Ländern eher in Rente gehen; denn in Deutschland liegt das tatsächliche Renteneintrittsalter durchschnittlich bei knapp 62 Jahren, in Italien bei fast 61 Jahren und in Frankreich nur bei gut 59 Jahren.
Frankreich und Italien liegen auf den Plätzen zwei und drei bei der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft in der Europäischen Union. Sie sind gut mit Deutschland vergleichbar. Mehr Rente vom Netto, früher in Rente und höhere Ausgaben für Rentnerinnen und Rentner, das zeigt: In Frankreich und in Italien sind die Älteren und die Alten der Gesellschaft deutlich mehr wert als in Deutschland, und das ist gut so.
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Darum brauchen wir endlich Reformen mit Herz, Mut und Verstand.
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Die Linke sagt: Die Rentnerinnen und Rentner von heute, morgen und übermorgen brauchen sichere Renten, die verlässlich vor Altersarmut schützen und den Lebensstandard sichern, und das ohne Maloche bis zum Tode.
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Der aktuelle Rentenversicherungsbericht und der jüngste Alterssicherungsbericht zeigen deutlich, wie weit der Weg dahin ist:
Erstens. Die Renten in Deutschland sind viel zu niedrig. Die durchschnittlich ausgezahlte Rente aller gut 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner beträgt aktuell nur 1 048 Euro, und da sind die Witwenrenten schon mit drin. Aber 80 Prozent der Rentnerinnen und Rentner erhalten nur eine einzige Rente, und die liegt im Schnitt nur bei 949 Euro. Damit haben zwar nur wenige Menschen Anspruch auf Grundsicherung oder Wohngeld; aber ein würdevolles Leben im Alter ist damit nicht möglich. Steigende Mieten und Mehrausgaben während der Pandemie drängen diese Menschen an den Rand, und der Sozialstaat lässt sie nach einem harten Arbeitsleben oft im Stich.
Zweitens. Die Altersarmut nimmt von Jahr zu Jahr zu, und das ist ein Skandal.
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Nach Daten des Statistischen Bundesamtes liegt jeder fünfte Rentnerhaushalt unterhalb der Armutsschwelle, Herr Weiß, und die liegt nach dessen Konzept bei Alleinlebenden bei 1 074 Euro netto und für einen Zweipersonenhaushalt bei 1 611 Euro.
Meine Damen und Herren, 20 Prozent Arme sind viel zu viel, und daran muss sich jetzt dringend etwas ändern.
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Statt einer Nullrunde im Juli fordern wir Linken, das Rentenniveau stufenweise wieder auf lebensstandardsichernde 53 Prozent anzuheben – wie im Jahr 2000.
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Dann läge die Durchschnittsrente nämlich nicht mehr bei 1 048 Euro, sondern mit knapp 1 155 Euro immerhin auch über der Armutsgrenze.
Liebe Bundesregierung, liebe Koalition, ich fordere Sie auf:
Erstens. Bekämpfen Sie die Ursachen zukünftiger Altersarmut mit einem gesetzlichen Mindestlohn zwischen 12 und 13 Euro!
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Zweitens. Streichen Sie die willkürliche 12,5-Prozent-Kürzung aus der sogenannten Grundrente!
Drittens und letztens. Arbeiten Sie mit uns nach österreichischem Vorbild an einer einkommens- und vermögensgeprüften Solidarischen Mindestrente von 1 200 Euro plus Wohngeld in Städten mit sehr hohen Mieten!
Herr Präsident, mein letzter Satz. – Meine Damen und Herren, machen Sie endlich Politik für die Menschen statt für Profite! Stärken Sie die gesetzliche Rente, damit Rentnerinnen und Rentner nicht nur in Frankreich und Italien, sondern auch in Deutschland gut leben können!
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben mit den geburtenstarken Jahrgängen im Erwerbsleben seit Jahren in einer demografischen Schönwetterphase. Wir haben – bis zur Coronapandemie – eine zehnjährige Phase der Hochkonjunktur mit guter Beschäftigungsentwicklung und guter Lohnentwicklung hinter uns. Da müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn die Rentenfinanzen nicht relativ in Ordnung wären, was sie sind. Was Sie, Herr Heil, aber verschwiegen haben – Sie schwelgen ja in der Vergangenheit und in der Erinnerung –, ist, dass Sie diese wirklich guten Jahre komplett verschenkt haben, um die Rentenversicherung auf die Zukunft vorzubereiten.
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Ganz im Gegenteil haben Sie mit Mütterrente I und II, Rente mit 63 neue Ausgabenblöcke geschaffen, die aus Steuermitteln hätten finanziert werden müssen und nicht aus Beitragseinnahmen. Das belastet die gesetzliche Rentenversicherung mit insgesamt 13 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist die Bilanz von sieben Jahren Großer Koalition.
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Und dann sprechen Sie, Herr Weiß, von präzisen Zahlen.
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Tatsache ist, dass dieser Rentenversicherungsbericht die Wirklichkeit verschleiert. Sie sprechen von einem Gesamtversorgungsniveau von 53 bis 55 Prozent und nehmen dabei an, dass die Leute vom ersten Tag an in die Riester-Rente einzahlen, dass 4 Prozent Rendite dabei herausspringen und dass nicht mehr als 10 Prozent Verwaltungskosten fällig werden.
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Die Wirklichkeit ist, dass gerade mal 11 Millionen Personen von 35 Millionen Berechtigten überhaupt die Riester-Zulagen kriegen, die meisten davon noch nicht mal vollständig. 4 Prozent Rendite kriegt man bei einer sicheren Anlage niemals, und die durchschnittlichen Verwaltungskosten betragen 25 Prozent, so nach Untersuchung des Vereins Finanzwende. Das ist die Wirklichkeit.
Das habe ich auch Ihr Ministerium gefragt, und das Ministerium, Herr Heil, hat gesagt, das seien alles Modellannahmen, die Praxis – so nahezu wörtlich – sei irrelevant. Also, wenn die Praxis für Sie irrelevant ist, wenn es um so etwas Entscheidendes geht wie das Gesamtversorgungsniveau, dann kann man bei diesem Rentenversicherungsbericht überhaupt nicht von präzisen Zahlen und von der Wirklichkeit sprechen.
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Ich sage jetzt ganz klar: Für Bündnis 90/Die Grünen – das haben wir in unserem Grundsatzprogramm erst jüngst beschlossen – hat ein stabiles Rentenniveau oberste Priorität; denn wir wollen eine verlässliche Einkommensabsicherung für alle. Und wenn wir andere Gruppen in die Rentenversicherung einbeziehen wollen, zum Beispiel die Selbstständigen, dann geht dies nur, wenn diese mehr erwarten können als eine etwas bessere Armutsabsicherung.
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Das geht aber nur, wenn es eine stabile Einkommensabsicherung gibt.
Das sage ich den Leuten, die vielleicht Angst haben vor der Bürgerversicherung: Mit Bündnis 90/Die Grünen kann man sich darauf verlassen, dass das System der gesetzlichen Versicherung intakt und solidarisch bleibt.
Danke.
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Ralf Kapschack, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr gut, dass wir gerade jetzt über die gesetzliche Rente und über die Altersversorgung insgesamt reden; denn viele Menschen – wir haben es schon gehört – haben nicht nur wegen der aktuellen Krise erhebliche Bedenken, wie es denn mit der Rente weitergeht. Das ist gefährlich für das Vertrauen in den Sozialstaat, und das ist auch gefährlich für das Vertrauen in die Demokratie.
Große Teile der Rentnerinnen und Rentner sind auf die gesetzliche Rente als einzige – zumindest als wichtigste – Einkommensquelle angewiesen;
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das zeigen beide Berichte. Da hat es auf Druck und Initiative der SPD seit 2014 erhebliche Verbesserungen gegeben: mit der sogenannten Rente mit 63, mit Verbesserungen bei Erwerbsminderungsrenten, mit den Haltelinien für Niveau und Beitrag bis 2025 und nicht zuletzt mit der Grundrente. Und wir wollen die gesetzliche Rente weiter stärken.
Was ihre Zukunft angeht, wird ja in diesen Tagen wieder schlicht die Forderung „Wir müssen länger arbeiten, weil wir länger leben“ angeführt; anders sei das auf Dauer nicht zu finanzieren. Um es klar zu sagen: Mit der SPD ist eine pauschale Erhöhung der Altersgrenze nicht zu machen.
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Denn eine erneute Heraufsetzung der Altersgrenze bedeutet für Hunderttausende eine Kürzung ihrer Rentenansprüche, für diejenigen nämlich, die es schon heute nicht schaffen, bis 65 plus zu arbeiten. Und mit weiter steigendem Renteneintrittsalter würde dieser Anteil umso größer.
Es ist auch eine Verteilungsfrage; denn Lebenserwartung und damit die Frage, wie lange überhaupt Rente bezogen wird, hängt stark vom sozialen Status und vom Lebensstandard ab. Konkret: Schlecht verdienende Beschäftigte bekommen nicht nur geringere Renten, sie haben oft auch weniger davon, weil sie nicht so lange leben. Gute Arbeit ist auch hier der entscheidende Hebel für eine ordentliche Rente.
Wenn man schon die Forderung nach längerem Arbeiten gebetsmühlenartig wiederholt, dann erwarte ich auch konkrete Vorschläge, wie Arbeitsbedingungen und Arbeitszeit so gestaltet werden können, dass deutlich mehr Beschäftigte die Rente gesund erreichen.
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Dann erwarte ich auch Lösungen für diejenigen, die es wegen einer starken körperlichen Belastung einfach nicht schaffen und mit lebenslangen Abschlägen leben müssen. Dazu hört man aber nix.
Was wir brauchen, sind mehr flexible und sozial abgesicherte Optionen für den Übergang in den Ruhestand. Das Flexirentengesetz kann da eine gute Grundlage für entsprechende Vereinbarungen der Tarifpartner bieten. Da ist noch jede Menge Luft nach oben.
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Die Forderung nach längerer Lebensarbeitszeit wird ja mit den finanziellen Herausforderungen der Rentenversicherung in den nächsten Jahren begründet. Wir haben da andere Vorschläge: Gute Arbeit mit ordentlichen Löhnen und eine fantasievolle Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind die entscheidenden Stellschrauben für eine gute Rente.
Die Beiträge sind bis 2025 gedeckelt, aber – das sage ich auch ganz offen – sie sind nicht in Stein gemeißelt.
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Daneben braucht es sicher auch in Zukunft erhebliche Steuermittel. Und: Wir schlagen eine Erwerbstätigenversicherung vor, in die alle einzahlen, auch Selbstständige, Beamte und Abgeordnete.
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Das hat auch etwas mit dem Zusammenhalt in der Gesellschaft zu tun und mit Vertrauen in Staat und Demokratie.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind am Schluss dieser Debatte zum Rentenversicherungsbericht bzw. zum Alterssicherungsbericht. Ich glaube, das sind eindrucksvolle Zahlen, die der Bundesminister vorgestellt hat, die auch die Kollegen Weiß und Kapschack hier verdeutlicht haben.
Dieser Rentenversicherungsbericht zeigt aber auch auf, dass die Rentnerinnen und Rentner vielfältige Möglichkeiten haben. Es gibt ja nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung, sondern auch die Beamtenversorgung, die Versorgung in den berufsständischen Versorgungswerken, in der landwirtschaftlichen Alterskasse und in der Knappschaftsversicherung. Das zeigt: Die Rentensituation für die Bürgerinnen und Bürger ist sehr vielfältig, das hat sich auch aus der Historie heraus so ergeben.
Das Großartige dabei ist, dass die wenigsten Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind: 2,5 Prozent bei den Altersrenten; bei der Erwerbsminderungsrente sind es etwas mehr. Selbst bei den Selbstständigen, bei denen wir darüber nachdenken, sie in eine Versicherungspflicht aufzunehmen, zeigt der Alterssicherungsbericht, dass nur 4,2 Prozent der Selbstständigen auf Grundsicherung angewiesen sind.
Hier ist zu hinterfragen, aus welchen Gründen dies entstanden ist. Manche können auch kurz vorm Eintritt in die Altersrente unter Umständen mit der Firma Pech haben, wenn sie abhängig sind von einem Lieferanten bzw. wenn von einem, dem sie sehr vieles geliefert haben, das nicht bezahlt wird. Das gibt es natürlich auch, diese Wechselfälle des Lebens. Das zeigt aber auch sehr deutlich, dass wir mit dem Instrument der Grundsicherung, das in der Debatte in der Regel vielfach nicht großartig geschätzt wird, sondern negativ bewertet wird,
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ein großartiges soziales Sicherungssystem für die Wechselfälle des Lebens haben.
Herr Kollege Straubinger, der Kollege Springer, AfD, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
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Sehr geehrter Kollege Straubinger, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie erwähnten gerade Ihren Fraktionskollegen Peter Weiß, der vorhin einen Redebeitrag gehalten hat. Ich würde noch mal auf diesen Redebeitrag zu sprechen kommen und Ihnen dazu eine Frage stellen. Ich möchte vorher kurz einleiten, worum es vorhin in dem Redebeitrag von Peter Weiß ging.
Wir haben im letzten Jahr 1,29 Millionen Rentner gehabt, die neben ihrer Rente einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind. Ihr Fraktionskollege sagte, dass es ideelle Gründe dafür gebe, zum Beispiel „Spaß an der Arbeit“ oder einfach „nützlich sein wollen“. In der Tat sagen Studien, dass das so ist. Andere Studien – das sind die Studien, die Ihnen sehr wohl bekannt sind, nämlich die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – sagen nach statistischen Erhebungen hingegen, dass 70 Prozent der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit während der Rente nachgehen, dies tun, weil das Geld nicht reicht; bei den Männern sind es 53 Prozent.
Meine Fragen an Sie wären: Wie bewerten Sie es, dass Ihr Kollege Peter Weiß die Öffentlichkeit so über die Fakten hinwegtäuscht, die er als Sozialpolitiker selber kennen sollte? Und was sagen diese Zahlen eigentlich aus über Ihre vergangenen Leistungen hinsichtlich der Rentenpolitik im Land, über die Leistungen der Bundesregierung bei der Ausgestaltung der Rente, die offenbar nicht mehr reicht, um ohne Arbeit im Lebensalter würdevoll leben zu können?
Vielen Dank.
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Herr Kollege, die Darstellung des Kollegen Weiß kann ich nur bestätigen und untermauern. Allein wenn ich in Ihre Reihen schaue, muss ich feststellen, dass sehr viele dabei sind, die im Alter noch arbeiten wollen, beim Fraktionsvorsitzenden beginnend.
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Es ist offensichtlich durchaus möglich, dass man viel Freude hat, sodass man auch im gesetzteren Alter noch arbeiten will. Von daher ist das, was der Kollege Weiß dargestellt hat, durchaus sehr nachvollziehbar und wird auch im Alterssicherungsbericht manifestiert.
Ich verstehe gar nicht, dass Sie das anzweifeln – vor allen Dingen, da Sie bisher für die Rentenversicherung überhaupt kein Konzept haben. Ihre Fraktion weiß ja immer noch nicht – nach fast vier Jahren Zugehörigkeit im Deutschen Bundestag, aber auch angesichts eines doch schon etwas längeren Bestehens der Partei –, wie sie sich zwischen der Abschaffung der Rentenversicherung und der kapitalgedeckten Altersvorsorge entscheiden soll. Denn das, was Sie verabschiedet haben, war ein rentenpolitisches Wischiwaschi; anders kann man es nicht nennen.
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In keinster Weise haben Sie etwas dafür getan, dass sich die Menschen in der Zukunft danach sehnen und sagen: Die Alterssicherung, die uns die AfD auftischt, wäre wirklich eine tolle Nummer.
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Das muss man doch wirklich sehen. Da ist es tatsächlich so, dass man so lange in seinem Leben arbeiten muss wie Ihr Fraktionsvorsitzender.
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Das ist letztendlich die Konsequenz daraus. Von daher: Sie brauchen uns hier keine Belehrungen mit auf den Weg geben.
Darüber, sich im Alter zu betätigen, werden wir zukünftig sicherlich noch reden müssen; denn wir haben etwa folgende Situation: 80 Jahre erreichen die Menschen in unserem Land. Dann reden wir von bis zu 20 Jahren Schulausbildung und Ähnlichem, bis man ins Berufsleben kommt. Wir haben mittlerweile eine durchschnittliche Rentenbezugszeit von knapp 20 Jahren. Das bedeutet: 20 Jahre auf der einen Seite vorm Berufsleben, 20 Jahre auf der anderen Seite. Also, das heißt nicht Malochen bis zum Umfallen, lieber Herr Birkwald, wie Sie es ausgedrückt haben, sondern fast 20 Jahre Rentenbezugszeit; das ist eine ganz andere Geschichte. Wenn wir also 40 Jahre arbeiten und die Lebenserwartung weiter steigt, dann müssen wir darüber nachdenken, wie wir diese Anforderungen auf die Gesellschaft verteilen. Diese Fragen hat der Kollege Vogel aufgeworfen, aber leider nicht beantwortet. Er hat gesagt: Das ist eine Herausforderung für uns alle.
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Ich glaube, das Wichtigste dabei ist, Herr Kollege Vogel, dass wir eine starke Wirtschaft haben
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und dass wir eine hohe Erwerbstätigenquote haben. Die haben wir in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesteigert.
Ich sage ganz offen: Ich bin etwas zurückhaltend, wenn ich sehe, dass im letzten Jahr die Zahl der erwerbstätigen Menschen um 500 000 gefallen ist. Das bereitet mit Blick auf die soziale Sicherung der Menschen insgesamt Sorgen. Dabei geht es nicht nur um die Rente, sondern das wird irgendwann sicherlich auch Auswirkungen auf die Krankenversicherung, auf die Arbeitslosenversicherung, auf die Pflegeversicherung haben.
Deshalb ist es entscheidend, darauf zu achten, eine vernünftige wirtschaftliche Grundlage in unserem Land zu erhalten. Und das ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur zu erreichen, wenn wir weiterhin Zugang zu den Weltmärkten haben. Ich danke der Bundeskanzlerin insbesondere für ihr Eintreten für ein Investitionsabkommen mit China,
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für das Abkommen mit Kanada, für das Mercosur-Abkommen und dergleichen mehr. All das, was verschiedentlich kritisch diskutiert wird, gerade von der linken Seite und von der rechten Seite, ist die Grundlage für unseren wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand.
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Es wird in der Zukunft darum gehen, hier die richtigen Weichenstellungen zu tätigen. Die Union wird das auf alle Fälle gewährleisten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier im Haus in den vergangenen Monaten immer wieder darüber diskutiert, was der richtige Umgang mit Gefährdern ist. Vor allen Dingen sind wir uns im Klaren darüber, dass wir mit einer in der Geschichte unseres Staates wahrscheinlich einmaligen Gleichzeitigkeit von extremistischen Bedrohungen aus unterschiedlichen Richtungen konfrontiert sind. Deshalb ist klar, dass wir mit einer großen Zahl von Gefährdern zu kämpfen haben.
Unsere Sicherheitsbehörden sagen, dass wir allein aus dem islamistischen Spektrum 670 Gefährder und relevante Personen in Deutschland auf freiem Fuß haben. Dazu kommen 80 Gefährder aus dem rechtsextremistischen Bereich – Tendenz stark steigend – und 5 Gefährder aus dem linksextremistischen Bereich. Allein diese große Zahl macht deutlich, dass man mit isolierten Maßnahmen nicht weiterkommt, sondern man ein Gesamtkonzept braucht, wie man mit Gefährdern in unserem Land umgeht.
Ich würde sagen, man kann in drei Spiegelstrichen deutlich machen, was notwendig wäre:
Erstens. Wir brauchen eine konsequente Abschiebung von ausländischen Gefährdern.
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Das klappt beispielsweise bei Straftätern aus dem Irak immer besser. Die Innenministerkonferenz hat im Hinblick auf Syrien nun den ersten Schritt getan. Das war richtig und gut, und das unterstützen wir auch.
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Gleichzeitig ist es natürlich so, dass die Abschiebung von Gefährdern alleine nicht ausreicht,
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allein schon deshalb, weil wir 400 islamistische Gefährder in Deutschland haben, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben und deshalb eben gar nicht abgeschoben werden können. Deshalb muss man sich – das ist der zweite Punkt – durchaus darüber Gedanken machen, inwieweit in bestimmten Fällen der temporäre Freiheitsentzug notwendig ist, um drohende Gefahren abzuwehren. Da gibt es im Übrigen Beispiele: In Bayern gibt es die Präventivhaft für drei Monate, die um drei Monate verlängert werden kann. Ich rate dringend dazu, dass andere Länder sich ein Vorbild an diesem Beispiel aus Bayern nehmen.
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Aber das ist ein Vorbild für die Länder. Der Bund hat, anders als uns die AfD mit ihrem Antrag glauben machen mag, eben gerade keine Kompetenz im Bereich der Gefahrenabwehr. Diese Kompetenz liegt aus guten Gründen bei den Ländern, und da soll sie auch bleiben.
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Ich will ein Weiteres zum Thema Freiheitsentzug sagen. Wenn man sich beispielsweise vor Augen führt, dass die Attentäter in Dresden oder auch in Wien einschlägig, stark und mehrfach straffällig geworden sind, dann stellt sich natürlich schon die Frage – gerade nach Situationen wie in Dresden –, ob wir bei der strafrechtlichen Sicherungsverwahrung nicht viel zu hohe Hürden haben, wenn solche Personen nicht in Sicherungsgewahrsam genommen werden können.
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Deshalb müssen wir an dieser Stelle nacharbeiten. Ich habe von der Bundesjustizministerin bisher noch nichts dazu gehört; aber ich rate dringend dazu, dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen und schauen, ob wir diese Hürden absenken müssen, um sachgerechte Lösungen entwickeln zu können.
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Der dritte Punkt. Im 21. Jahrhundert muss der Kampf gegen Gefährder vor allen Dingen auch digital geführt werden. Wir müssen jederzeit wissen – auf Schritt und Tritt –, wo diese Personen sich aufhalten und was sie tun. Darum geht es bei Gefährdern. Das ist entscheidend, wenn es um den Schutz der Bevölkerung geht. Deswegen brauchen wir beispielsweise die unverschlüsselte Ausleitung von Daten durch die Telekommunikationsunternehmen. Deswegen brauchen wir die Kompetenz für die Onlinedurchsuchung beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Deshalb muss klar sein, dass Telekommunikationsunternehmen erst nach glasklarer Identifikation den Zugang zu ihren Diensten ermöglichen dürfen. Und deshalb brauchen wir die Unterstützung der Telekommunikationsunternehmen bei der Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Das alles ist notwendig, wenn der Staat auch im 21. Jahrhundert sein Sicherheitsversprechen einhalten möchte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Martin Hess, AfD, ist der nächste Redner.
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Kollege Frei, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung: Abschiebungen bringen nichts, solange unsere Grenzen nicht effektiv geschützt werden.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Vor zehn Wochen rollte eine islamistische Terrorwelle durch Deutschland und Europa und forderte zahlreiche Todesopfer. Damals schlug unsere Fraktion mit diesem Antrag vor, alle islamistischen Gefährder, die nicht abgeschoben oder nicht in Abschiebehaft genommen werden können, präventiv in Gewahrsam zu nehmen. Sie hingegen legten Ihre übliche Betroffenheitsrhetorik an den Tag, aber gehandelt haben Sie nicht. Genau das akzeptieren aber die Bürger dieses Landes nicht länger. Sie wollen eine Regierung, die endlich handelt, statt nur zu reden. Genau das fordern wir mit unserem Antrag.
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Immerhin haben wir mit unserem Antrag erreicht, dass der Innenminister den Freiheitsentzug für Gefährder eine Woche später in der Videokonferenz mit den anderen EU-Innenministern angesprochen hat. Dank des Engagements des Bundeskriminalamtes soll es bald eine europaweit einheitliche Gefährderdefinition geben und sollen diese Gefährder dann auch im Schengener Informationssystem erfasst werden. Genau das ist lange überfällig, und genau das habe ich in diesem Hause bereits am 17. Mai 2019 gefordert. Es ist schön zu sehen, dass die AfD wirkt.
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Aber leider können wir aus der Opposition heraus nicht stark genug wirken, um den Krieg gegen den islamistischen Terrorismus endlich zu gewinnen. Herr Minister – das muss ich klar sagen –, Sie schaffen das nicht oder wollen das nicht; das haben uns die Erfahrungen der letzten Monate gezeigt. Sie haben zwar unsere zentrale Forderung, den bundesweiten Präventivgewahrsam, in die Innenministerkonferenz eingebracht, aber Sie haben dort keine konkreten Lösungen erzielt. Das zeigen die Beschlüsse der Konferenz eindeutig. Zwar erteilen Sie und Ihre Länderkollegen dem AK II, also dem Arbeitskreis II, den Auftrag, den von uns geforderten Präventivgewahrsam zu prüfen. Der Protokollnotiz ist aber zu entnehmen, dass Sie und einige Länderkollegen diese Verantwortlichkeit wieder in die Länder zurückverlagern wollen. Herr Frei, wir wissen doch: Das funktioniert nicht. Sie wissen genau, dass der Gewahrsam so nie zur Umsetzung kommen kann. Die Zersplitterung des Polizeirechts würde weiter zunehmen. Links-grün-rote Innenminister würden die Umsetzung des Gewahrsams verhindern, und die Gefährder würden auf freiem Fuß bleiben und könnten weiterhin ungehindert ihre Anschlagspläne verfolgen. Das, Herr Minister, ist nicht mehr nur unverständlich, das ist unverzeihlich und inakzeptabel.
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Die CSU fordert jetzt allen Ernstes den Einsatz der Fußfessel, um Anschläge zu verhindern. Die Fußfessel, die übrigens schon seit Jahren nicht zur Anwendung kommt, soll also die Lösung sein. Aber wir alle wissen doch: Sie verbessert maximal die Aufklärungsergebnisse in Bezug auf das Bewegungsbild oder die Kontaktpersonen, aber nie und nimmer verhindert die Fußfessel auch nur einen Anschlag, weil sich der Gefährder weiterhin ungehindert bewegen kann. Also hören Sie auf, ständig die Fußfessel als Lösung zu verkaufen. Sie ist keine Lösung, und sie wird nie eine Lösung sein.
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Dann fordern Sie von der CSU noch die Sicherungsverwahrung. Liebe Kollegen von der CSU, der Begriff „Gefährder“ kommt von Gefahr. Eine drohende Gefahr bekämpft man nicht dadurch, dass man wartet, bis jemand eine Straftat begeht, mit der er seine Gefährlichkeit unter Beweis stellt, um ihn dann in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Wer bei der Gefährderbekämpfung bis zur Straftat wartet, der lässt genau diejenigen Gefährder außer Acht, die bislang nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Wir müssen handeln, bevor es zur Begehung von Straftaten kommt, liebe Kollegen.
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Deshalb reicht auch dieser Vorschlag bei Weitem nicht aus. Also hören Sie auf, den Bürgern ständig Sand in die Augen zu streuen.
Wir alle wissen spätestens seit dem 11. September 2001, vor welche Herausforderungen uns der islamistische Terrorismus stellt. Und trotzdem haben Sie, hat Ihre Partei, hat diese Regierung nichts Wirksames dagegen unternommen. Im Gegenteil: Sie haben Ihre Politik der offenen Grenzen – da sind wir wieder beim Thema, Herr Frei – weitergeführt und islamistische Terroristen und Gefährder in großer Zahl in unser Land gelassen. Einer von ihnen, Anis Amri, hat 2016 den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz begangen und elf Menschen ermordet. Ein weiterer Gefährder hat erst letzten Oktober bei einem Messeranschlag in Dresden einen Mann ermordet. Diese Anschläge hätten verhindert werden können, wenn diese Regierung rechtzeitig wirksame Maßnahmen zur Terrorbekämpfung ergriffen hätte.
Über die derzeitige islamistische Gefahrenlage kann es keine zwei Meinungen geben. Wir haben derzeit in Deutschland über 28 000 Islamisten, 12 500 Salafisten – das ist ein Anstieg von 87 Prozent seit 2014 – und 619 islamistische Gefährder. Ich muss Sie korrigieren, Herr Frei: Nur 242 – eine immer noch viel zu hohe Zahl – dieser Gefährder sind auf freiem Fuß. Wir hatten laut Europol in Europa zwischen 2007 und 2014 16 Terrorangriffe mit acht Toten, also ein Terrortoter pro Jahr. Das hat sich gravierend verändert: Zwischen 2015 und 2019 waren es 94 Terrorangriffe mit 374 Toten. Das sind 74 Terrortote pro Jahr. Und der Rizinanschlag von Köln hätte bis zu 13 500 Todesopfer gefordert und noch einmal so viele Verletzte, wenn unsere Sicherheitsbehörden diesen Anschlag nicht rechtzeitig verhindert hätten. Deshalb appelliere ich an Sie mit allem Nachdruck: Setzen Sie endlich diesen bundeseinheitlichen Gefährdergewahrsam um, bevor es wieder zu einem tödlichen Terroranschlag in Deutschland kommt.
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Der BKA-Präsident hat 2015 klar gesagt, dass es unmöglich ist, alle islamistischen Gefährder lückenlos zu überwachen, und damals war die Zahl nur halb so hoch. Der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes hat nach dem Anschlag in Dresden klar und deutlich dargestellt, dass sogar eine lückenlose Überwachung einen Anschlag nicht verhindert. Trotzdem stecken Sie den Kopf in den Sand.
Schluss mit dieser Vogel-Strauß-Politik! Wir alle in diesem Hohen Haus sind zum bestmöglichen Schutz unserer Bürger verpflichtet. Kommen Sie dieser Pflicht endlich nach! Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Maßnahmen statt endloser Diskussionen und Prüfaufträge. Genau dazu dient unser Antrag. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen. Verweigern Sie unserer Bevölkerung nicht länger diese längst überfällige Schutzmaßnahme, und stimmen Sie diesem Antrag zu.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gefährder sind tickende Zeitbomben. Wir nennen sie Gefährder, weil von ihnen jederzeit die Gefahr eines Terroranschlages ausgeht. Diese Islamisten und Rechtsextremisten sind eine Gefahr für unsere Sicherheit und die Sicherheit unseres Landes. Und natürlich sind wir froh um jeden der circa 70, die wir in den letzten beiden Jahren in ihre Herkunftsländer abschieben konnten. Tatsache ist aber, dass das nicht immer geht, zum Beispiel, wenn es sich um deutsche Gefährder handelt. Wohin – das schreiben Sie in Ihrem Antrag nicht – möchten Sie Islamisten oder Neonazis mit deutscher Staatsangehörigkeit abschieben?
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Und eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch den Verfassungsschutz, Meldeauflagen, Kontaktverbote, Deradikalisierungsprogramme, das alles und viel, viel mehr gibt es dank dieser Koalition bereits seit vielen Jahren.
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Regelungen zum präventiven Gewahrsam von Gefährdern, also dass man Menschen zur Gefahrenabwehr für eine kurze Dauer vorbeugend wegsperrt, gibt es schon in den Polizeigesetzen der Bundesländer. Dennoch zeigt uns der Messerangriff von Dresden am 4. Oktober, dass es leider nicht möglich ist, jeden Terroranschlag zu verhindern. Auch das gehört zur Wahrheit. Deshalb ist es richtig, dass wir im Bund und in den Bundesländern prüfen, was rechtlich noch möglich ist in Bezug auf Sicherungsverwahrung im Anschluss an die Haft, in Bezug auf vorbeugenden Gewahrsam auf Bundesebene usw. usf.
Vieles machen wir bereits, und zwar unabhängig von Ihrem Antrag; dafür brauchen wir Sie ganz bestimmt nicht. Wo es Schutzlücken bei Gefährdern gibt, die wir rechtlich schließen können, schließen wir sie. Aber auch wenn wir eine Art vorbeugende Haft für Gefährder auf Bundesebene einführten – Sie schreiben, für drei Monate –, könnten Sie immer noch nicht ausschließen, dass dieser Gefährder nach drei Monaten einen Anschlag verübt. Niemand kann in die Köpfe dieser Personen schauen. Der Attentäter von Wien etwa hat noch bis wenige Tage vor dem Terroranschlag an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen. Das ist einer der Punkte, über die wir reden müssen. Neben der Frage, ob die Bundesebene überhaupt zuständig ist – Gefährder fallen im Rahmen der Gefahrenabwehr, wie wir schon gehört haben, in die Zuständigkeit der Länder –, gibt es eine weitere zu klärende Frage: Warum glauben Sie, dass die Bundesebene das besser regeln kann als die eigentlich zuständigen Bundesländer? Auch das lassen Sie in Ihrem Antrag unbeantwortet.
Ich erinnere mich noch daran, welche Bedeutung wir hier der Einführung der elektronischen Fußfessel für Gefährder auf Bundesebene beigemessen hatten und wie die Reaktionen darauf waren. Dann müssten die Beamten nicht mit hohem Personaleinsatz Observationen durchführen, auch das war ein Argument für die Einführung der Fußfessel. Das ist eine Befugnis des Bundeskriminalamtes, die trotzdem noch kein einziges Mal zum Einsatz kam, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich glaube, dass wir in Zukunft unsere Schwerpunkte in der Terrorismusbekämpfung ein Stück weiter fassen müssen. Ich denke, dass wir auch einen Schwerpunkt auf diejenigen Islamisten legen müssen, die in absehbarer Zeit aus der Haft entlassen werden. Wir müssen schauen, wo die Deradikalisierung erfolgreich war und wo nicht. Wir müssen schauen, was in den Haftanstalten passiert, wo wir vielleicht unsere Programme ausbauen oder womöglich auch umbauen müssen, wenn sie nicht wirken; denn Prävention, liebe Kolleginnen und Kollegen, verhindert immer mehr Schaden, als Repression jemals reparieren kann.
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Das gilt genauso auch für Rechtsextremisten. Ich denke, die Demokraten in diesem Haus sind sich einig, dass wir alle Register gegen radikalisierte Personen ziehen müssen. Wir stecken mehr Geld in Präventions- und Bildungsprojekte als je zuvor, und das ist ganz gewiss der richtige Weg.
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Hier geht es Ihnen, Ihnen hier rechts außen, gerade um Islamisten. Im Innenausschuss gestern ging es bei den von Ihnen angemeldeten Themen vor allem um Linksextremisten. Nur zu den Vorgängen in den USA beim Sturm auf das Kapitol sind Sie ganz, ganz leise. Dabei war die AfD keinesfalls untätig. Sie lässt sich digital über Jan Böhmermann aus,
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das Gendern im Duden oder über die Bundeszentrale für politische Bildung. Zur historischen Katastrophe im US-Kapitol in Washington gibt es im Gegensatz dazu nur eine kleine, kleine Pressemeldung. Wo bleibt denn die Empörung der AfD? Schließlich sind zwei Polizisten gestorben. Das sollte Sie doch auf die Barrikaden bringen und nicht das, was Sie nach außen darstellen.
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Ihr Parteichef Meuthen meint, der Sturm aufs Kapitol sei nicht zu vergleichen mit der versuchten Erstürmung des Bundestages in Berlin im August und im November, das seien ganz andere Dimensionen. In Wahrheit ist es aber so, dass der braune Mob im Kapitol Ihre Gesinnungsgenossen sind. Es sind Rassisten, Reichsbürger, Coronaleugner und Verschwörungsanhänger.
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Das ist die gleiche braune Soße, mit der Sie sich hier vor dem Reichstag und bei Anticoronademonstrationen solidarisieren. Deshalb sind Sie so leise.
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Ich will nicht zu weit vom Thema abdriften und komme deshalb zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind als Antragsteller Teil der menschenverachtenden Ideologie, die Sie in Ihrem Antrag anprangern. Aus diesem und den eben dargestellten Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Benjamin Strasser, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr haben wir als FDP-Fraktion in diesem Parlament einen Antrag zur Einsetzung einer Föderalismuskommission III zur Abstimmung gestellt. Ziel war und ist es, dass Bund und Länder sich an einen Tisch setzen und über eine zeitgemäße Neuverteilung der Kompetenzen in der Terrorismusbekämpfung sprechen und vor allem entscheiden.
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Herr Hess von der AfD hat heute seine altbekannte Schallplatte abgespielt. Was er aber vergessen hat, ist, dass er vor einem Jahr zu unserem Antrag etwas Bemerkenswertes gesagt hat. Die AfD hat unseren Antrag nämlich mit der Begründung abgelehnt – Zitat –: „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis.“ Heute findet sich unsere Forderung im Antrag der AfD. Herr Hess, weiß die AfD jetzt einfach nicht mehr weiter, oder haben Sie endlich verstanden, dass ohne Neuordnung der Zuständigkeiten keine effektive Terrorismusbekämpfung möglich ist? Die Einsicht wäre Ihnen zu wünschen.
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Der Kernpunkt Ihres Antrags ist aber ein ganz anderer, nämlich die Einführung der sogenannten Präventivhaft für Gefährder, in Bayern auch Unendlichkeitshaft genannt und als solche angewendet. Sie preisen die Unendlichkeitshaft als das Lösungsinstrument im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Wenn man aber mit den Menschen in den Sicherheitsbehörden spricht, die tagtäglich mit diesem Thema zu tun haben, dann muss einem klar sein, dass ein solches Instrument überhaupt nur für einen Bruchteil der 600 Gefährder im islamistischen Bereich anwendbar sein dürfte und auch nur für einen sehr kurzen Zeitraum.
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Das hat seinen guten Grund: Man kann in einem Rechtsstaat Menschen, die keine Straftat begangen haben und denen man auch keine konkreten Anschlagsplanungen nachweisen kann, nicht einfach so wegsperren. Das mag im Mittelalter gegolten haben. Das gilt aber nicht in einem freiheitlichen Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Im Testlabor Bayern, Herr Frei, sehen wir doch die Auswirkungen der Unendlichkeitshaft. Es ist immer die gleiche Masche: Die CSU im Landtag schwört bei der Einführung Stein und Bein, dass es nur für Terroristen und nur in absoluten Ausnahmefällen angewandt wird. Im Abschlussbericht der Prüfkommission zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz Ihrer Landesregierung wird ganz offen dargelegt, dass selbst bei geringfügigen Verstößen wie – Zitat – „Trunksucht“ oder „Zechbetrügereien“ Personen bis zu zwei Wochen oder länger in Präventivhaft genommen worden sind. Das zeigt das immense Missbrauchspotenzial dieses Vorschlags.
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Er ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Deswegen klagen wir Freie Demokraten auch vor dem Verfassungsgericht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer islamistischen Terrorismus wirklich bekämpfen will, der muss an mehreren Stellen ansetzen: bei sinnvollen Zuständigkeiten, bei mehr Abschiebehaftplätzen und bei einer besseren Analysefähigkeit von Sicherheitsbehörden. Diese und andere kluge Vorschläge haben wir in einem Antrag zusammengefasst, der bald im Ausschuss beraten wird. Verfassungswidrige Vorschläge von AfD und CSU finden sich darin allerdings nicht.
Vielen herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD möchte Menschen, die sich keiner Straftat schuldig gemacht haben, auf bloßen Verdacht hin hinter Gitter bringen. Das geht aus unserer Sicht schon aus rechtsstaatlichen Gründen gar nicht.
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Laut dem Antrag sollen Personen nicht deshalb inhaftiert werden, weil sie eine schwere Straftat begangen oder vorbereitet haben. Nein, die AfD will Menschen bereits inhaftieren lassen, wenn diese vom BKA irgendwie als gefährlich eingestuft werden. Dieses Ansinnen ist nicht nur rechtswidrig, es ist auch inhaltlich überhaupt nicht begründet;
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denn wer Terroranschläge plant und vorbereitet, kann schon auf Grundlage geltender Gesetze inhaftiert werden. Das ist in den letzten Jahren bei einer Reihe von Naziterroristen geschehen, zum Beispiel, wenn sie Waffen gehortet oder Anschläge auf Moscheen oder Flüchtlingsheime geplant haben. Auch einen Anis Amri hätte man lange vor seinem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz dingfest machen können.
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Das geschah vor allen Dingen deshalb nicht, weil die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht haben, und nicht wegen fehlender Gesetze.
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Was die AfD nun einführen will, ist die Möglichkeit, den Freiheitsentzug schon auf bloßen Verdacht hin anzuordnen, und zwar auf unbestimmte Zeit; denn als sogenannte Gefährder gelten Personen, denen die Polizei eine schwere Straftat lediglich zutraut, und zwar aufgrund unklarer, weder gesetzlich noch gerichtlich festgelegter Kriterien. Die Gefahr, die von diesen Personen ausgeht, soll nach Ansicht der AfD nicht einmal konkret oder dringend sein, sie soll nur irgendwie für die Allgemeinheit bestehen. Mit dieser Begründung könnte man auch Ihren ehemaligen Parteikameraden Kalbitz in Gewahrsam stecken; der ist ja sogar eine Gefahr für Ihre Freunde.
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Allerdings muss man sagen, dass die Idee eines Präventivgewahrsams für Gefährder gar nicht auf dem Mist der AfD gewachsen ist. Schon 2017 hat die CSU eine solche Gefährderhaft im bayerischen Polizeiaufgabengesetz verankert. Dagegen ist noch eine Klage vor dem Bayerischen Verfassungsgericht anhängig. Man wird sehen, was dabei herauskommt. Es gibt aber auch schon einen neuen Polizeigesetzentwurf von der CSU; das heißt, sie rudert offenbar zurück. Damals schimpfte die bayerische AfD, das Gesetz sei – ich zitiere –: „unverhältnismäßig, demokratiefeindlich und nach Expertenmeinung auch verfassungswidrig“.
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Ich meine, besser haben das Ihre eigenen Kollegen im Bayerischen Landtag nicht charakterisiert.
Auch wir lehnen Ihren Antrag ab.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Antrag der AfD ist eine neue Stufe Ihres Plans, den Rechtsstaat abwickeln zu wollen.
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Der einzige Wert Ihrer Anträge besteht darin, dass wir darin immer schwarz auf weiß und haarklein nachlesen können, was wir auf gar keinen Fall wollen, nämlich Rechtsgrundlagen für das Unrecht zu schaffen, meine Damen und Herren.
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Es gibt ohne Zweifel Handlungsbedarf beim Thema Gefährder. Meine Fraktion hat erst kürzlich einen sehr ausführlichen Antrag zu genau diesem Thema vorgelegt. Wer sich, anders als die AfD, mal ernsthaft im Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz mit der Aufarbeitung befasst, der erkennt viele Punkte, an denen man ansetzen muss, zum Beispiel bei einer besseren Beobachtung von Gefährdern in Bund und Ländern, bei der Ausschöpfung der bestehenden strafrechtlichen Möglichkeiten, bei einer besseren Abstimmung zwischen Polizei und Verfassungsschutz und, und, und.
Aber wenn es um Arbeit und Details geht, ist Ihr Puls ja eher niedrig; das haben wir alle schon mitbekommen.
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Sie scheinen in jedem Fall vermeiden zu wollen, dass die Wirklichkeit Ihrer verfassungsfeindlichen Politik irgendwie in die Quere kommt.
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Aber die Wirklichkeit kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Es ist nun einmal so: Der Begriff „Gefährder“ ist ein polizeilicher Arbeitsbegriff. Wir reden dabei über Personen, die potenziell gefährlich sind, bei denen aber noch nichts Konkretes vorliegt.
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Ich habe noch eine weitere Wirklichkeit für Sie, nämlich die Verfassungswirklichkeit. Lesen Sie einmal den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. April 2016. Da heißt es ganz klar, dass eine Freiheitsentziehung, ein Präventivgewahrsam zur Verhinderung einer Straftat nur erfolgen kann, wenn – ich zitiere – „Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie das potenzielle Opfer hinreichend konkretisiert sind“.
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Wenn es jetzt vielleicht ein bisschen viel Realität auf einmal für Sie war, dann frage ich Sie: Was genau haben Sie daran eigentlich nicht verstanden?
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Noch mal: Sie können niemanden präventiv einsperren und schon gar nicht unendlich, wenn nichts Konkretes gegen diese Person vorliegt. Deswegen musste ja in Bayern nach dem Prüfbericht das Polizeiaufgabengesetz nachgebessert werden. Das gilt für Islamisten genauso wie für Gefährder aus Ihrem rechtsextremen Umfeld.
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Solche Vorschläge, wie Sie sie hier machen, sind rechtsstaatsfeindlich und sorgen auch nicht für mehr Sicherheit. Wenn wir etwas für die Sicherheit in unserem Land tun wollen – das geht natürlich uns alle an –, dann müssen wir die Vollstreckungsdefizite beheben. Es laufen immer noch viel zu viele Gefährder mit offenem Haftbefehl frei herum. Da muss dringend gehandelt und priorisiert werden, gerade in dieser Zeit.
Da sehe ich es wie der Terrorismusforscher Peter Neumann, der diese Woche im „Spiegel“ erklärt hat, dass von dem Angriff auf das US-Kapitol eine erhebliche terroristische Bedrohung ausgeht; denn so etwas dient Rechtsextremen weltweit als Blaupause für ihre umstürzlerischen Pläne. Hier braucht es nicht nur eine starke Zivilgesellschaft, sondern auch Reformen in der Behördenzusammenarbeit. Aber diese Reformen müssen auf den Prämissen des Rechtsstaats gründen. Ansonsten können wir dieser Bedrohung nicht glaubwürdig entgegentreten.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander Throm, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz unserer Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen ist sicherlich eine der wichtigsten Aufgaben von Politik und Sicherheitsbehörden, aber auch eine der herausforderndsten und schwierigsten. Der Schutz vor zukünftigen Taten ist schwierig, es ist schwer greifbar. Bei Gefährdern handelt es sich nicht um gewöhnliche Kriminelle, sondern um ideologisch verblendete Fanatiker, die nahezu unberechenbar sind, und Gefährder erklären sich selbst zu Feinden unserer Gesellschaft und unserer freiheitlichen Art, wie wir leben, und nutzen dazu gerade unsere grundgesetzlich garantierten Freiheiten gegen uns aus. Insofern – das will ich damit deutlich machen – sind Gefährder eine ganz besondere Gruppe in der Kriminalität, die wir nicht mit den gewöhnlichen Maßnahmen greifen können. Besondere Herausforderungen erfordern auch eine besondere Herangehensweise bei der Sicherungsverwahrung, im Bereich der Abschiebung, der Abschiebehaft und auch der Überwachung.
Die AfD schlägt uns heute quasi eine Generallösung vor: Wir nehmen alle Gefährder einfach mal eine gewisse Zeit in Haft, und dann wird alles gut. Es ist typische Vorgehensweise der AfD, für komplexe, schwierige Sachverhalte einfache Lösungen zu präsentieren, die aus verschiedenen Gründen, verfassungsrechtlichen, aber auch praktischen, nicht greifen können. Kollege Frei hat es schon gesagt: Wir haben in den Ländern – diese sind für die Gefahrenabwehr zuständig – bereits entsprechende Regelungen. Es wäre sicherlich wünschenswert, wenn man diese, etwa im Rahmen eines gemeinsamen Musterpolizeigesetzes, aneinander anpassen könnte.
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Ich möchte das Augenmerk, Herr Kollege Hess, auf einen anderen Punkt legen, auf das Thema Sicherungsverwahrung. Bereits 2017 haben wir die Staatsschutzdelikte in den Tatbestandskatalog aufgenommen. Hier müsste vielleicht noch ein bisschen nachgeschärft werden, etwa hinsichtlich des Werbens und Rekrutierens von Mitgliedern terroristischer Vereinigungen. Da brauchen wir ein höheres Strafmaß, damit dies auch zum Katalog gehört und eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann.
Wir müssen auch darüber nachdenken, ob wir bei terroristischen Tätern – sie waren oder sind ja schon in Haft –, die zukünftig noch als Gefährder eingestuft werden, eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ermöglichen wollen. Ich weiß, dies ist rechtsstaatlich schwierig. Aber wir müssen dies prüfen; denn besondere Gruppen der Kriminalität, der Gefährdung erfordern auch besondere Maßnahmen. Wir haben bisher nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ausschließlich die Gruppe der Sexualstraftäter als Beurteilungsmaßstab, nicht die der Gefährder. Deswegen sollten wir als Parlament, als Gesetzgeber hier rangehen. Das hätte auch den Vorteil, dass wir Gefährder mit deutschem Pass oder Ausländer, die wir, aus welchen Gründen auch immer, nicht abschieben können, mit dieser Maßnahme zumindest in Teilen greifen können. Es gibt ein trauriges Beispiel, wo dies gewirkt hätte, nämlich beim Dresdner Attentäter. Dieser hat sich in der Haft weiter radikalisiert. Da hätte es, wenn wir so weit gehen, die Möglichkeit gegeben, ihn weiter in Haft zu lassen.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich finde, wir müssen auch beim Thema Abschiebung deutlich besser werden. Wer selbst erklärt, Feind dieser Gesellschaft zu sein, hat keinen Schutz verdient, auch nicht den Schutz vor Abschiebung. Deswegen war es richtig, dass bei den Syrern der generelle Abschiebestopp aufgehoben wurde. Gerade bei der Gruppe der Gefährder – ich persönlich gehe gar nicht mal so weit, zu sagen: bei der Gruppe der Straftäter – muss es uns gelingen, diese tatsächlich zurückzuführen.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die AfD hat einen Antrag zur Einführung eines sogenannten Präventivgewahrsams vorgelegt. Sie bezieht sich in ihrem Antrag ausschließlich auf die islamistische Gefährdungslage. Ja, der Islamismus stellt eine erhebliche Bedrohung für unsere innere Sicherheit dar. Aber was Sie in Ihrem Antrag schlichtweg vergessen haben, ist – ich sage es Ihnen – der Begriff „Rechtsextremismus“, der Begriff „Rechtsterrorismus“. Auch das ist eine wesentliche Bedrohungslage für unser Land.
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Entscheidend ist, dass wir jeden Extremismus in diesem Land adressieren und bekämpfen.
Wenn es um die Einführung von neuen Maßnahmen geht, muss eines deutlich sein: Nicht alles, was irgendwie zweckdienlich erscheint, kann im grundrechtsgebundenen Verfassungsstaat möglich werden.
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Gerade bei der Frage der Präventivhaft ist entscheidend, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten. Dies setzt uns klare Grenzen. Im Rahmen dieser Rechtsprechung werden wir unsere politischen Maßnahmen vorschlagen. Das bedeutet, dass nicht jeder Gefährder verhaftet werden kann, sondern dass sich eine Gefahr zumindest irgendwie konkretisiert haben muss. Wir werden im Rahmen dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben bleiben. Denn für uns ist deutlich geworden – das hat auch der Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz gezeigt –: Entscheidend ist, dass das rechtliche Instrumentarium ausgefüllt wird, dass die Länder ihrer Aufgabe nachkommen, dass der Datenaustausch zwischen Bund und den Ländern und zwischen den Ländern untereinander funktioniert und dass wir zu einheitlichen Regelungen kommen. Deswegen treten wir auch für ein Musterpolizeigesetz ein. Wir wollen auf Ebene der Länder die gleichen rechtlichen Voraussetzungen haben.
Darüber hinaus setzen wir uns für einen europaweit einheitlichen Gefährderbegriff und für einen Datenaustausch zwischen den europäischen Mitgliedstaaten ein. Wir wollen die Quellen-TKÜ haben. Wir wollen auch im Bereich der digitalen Gefährderüberwachung noch stärker werden, weil deutlich wird, dass sich Gefährder im Internet radikalisieren.
Im Bereich des Strafrechts erscheint mir auch die Wiedereinführung der Sympathiewerbung für Terrorismus ein entscheidender Schritt. Damit kommen wir dann auch zu einem Instrument, dessen stärkere Nutzung notwendig ist, nämlich den strafrechtlichen Sammelverfahren; denn wenn ich jemanden nicht wegen einer terroristischen Straftat dranbekommen kann, kann es zumindest andere Straftaten geben – das hat auch der Fall Anis Amri gezeigt –, mit denen ich jemanden dingfest machen kann.
Insgesamt haben wir also wesentlich klügere und verfassungsrechtlich geeignetere Maßnahmen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Plattformen, Suchmaschinen, Onlineshops, Nachrichtenservice, Produkthersteller, Cloud- und Streamingdienstleister, Datensammler, Werbemedium – die modernen digitalen Gatekeeper, sie können alles. Sie sind marktübergreifend tätig, sie beherrschen den Algorithmus, sie sind kapitalstark. Schon 2019 waren die größten drei von ihnen mehr wert als sämtliche 763 börsennotierten Unternehmen in Deutschland. Es sind digitale Ökosysteme.
Der dringende Handlungsbedarf ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Pioniere der Plattformen – Google, Apple, Facebook und Amazon – aus ihrer innovativen Sturm- und Drangzeit herausgewachsen sind, dass sie sich durch ihren wachsenden Einfluss für Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kultur unentbehrlich gemacht haben, dass sie ihr Wachstum nicht mehr nur auf Innovation beruhen lassen, sondern auf zum Teil erheblicher Beeinträchtigung des Wettbewerbs, dass sie ihrer Verantwortung für einen fairen und umsichtigen Umgang mit Kunden, mit Unternehmen, mit Wettbewerbern, mit Verbrauchern nicht gerecht werden, und schließlich, dass die bisherigen Instrumente unseres Wettbewerbsrechts nicht ausreichen, um sie wirksam in Verantwortung zu nehmen.
Mit unserem Vorstoß – das ist weltweit übrigens der erste – wollen wir weder die Zerschlagung noch die Verbannung der Technologiekonzerne vorantreiben, sondern einen moderaten, aber effektiven Regulierungsansatz über das Kartellrecht wählen. Wir legen hier heute in zweiter und dritter Lesung eine sorgfältig vorbereitete Lösung vor: das GWB-Digitalisierungsgesetz. Damit wollen wir die Digitalwirtschaft nicht ausbremsen, etwa indem wir Unternehmen nur wegen ihrer bloßen Größe und wegen ihres Erfolges angehen, sondern wollen sie lediglich dort in ihre Verantwortung nehmen, wo Unternehmen ihre Marktposition zum Nachteil der Wettbewerber, der Verbraucher, der Unternehmen missbräuchlich ausnutzen.
Das Gesetz verspricht also ein modernes, schnelles und effektiveres Kartellrecht, um die schiefen Wettbewerbsverhältnisse in der Digitalwirtschaft wieder ins Lot zu bringen: Wir verschärfen die Aufsicht des Bundeskartellamtes über digitale Plattformen, die besonders großen Einfluss auf den Wettbewerb haben. Wir beschleunigen die Verfahren gegen Wettbewerbsverstöße in der Digitalwirtschaft. Wir erleichtern den Zugang zu vor- und nachgelagerten Märkten. Wir stärken den Mittelstand durch Erleichterung von Kooperationen und Fusionen in Deutschland.
Den vom Wirtschaftsministerium vorgelegten schon sehr guten Gesetzentwurf haben wir nach der Anhörung im Ausschuss noch in einigen wesentlichen Punkten verbessert.
Die Kernvorschrift der Novelle, den neuen § 19a GWB – wir sprechen auch von den 19a-Sachen –, der dem Bundeskartellamt eine stärkere Kontrollmöglichkeit über besonders marktmächtige Digitalplattformen einräumt, haben wir durch Regelbeispiele greifbarer und rechtssicherer gemacht. Wer als Plattformbetreiber mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb ohne sachlich gerechtfertigten Grund etwa Softwareanwendungen nur auf einer bestimmten Hardware ohne Alternative zulässt, wer die Nutzung seines Angebotes von der Nutzung weiterer Angebote abhängig macht, wer sich Konditionen einräumen lässt, die völlig außer Verhältnis zur angebotenen und erbrachten Leistung stehen, wer als Marktplatz eigene Produkte bevorzugt und andere diskriminiert, der muss künftig mit der Untersagung seines wettbewerbsschädlichen Verhaltens rechnen.
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Um der neuen Kernvorschrift mehr Wirkung zu verleihen, muss sie zügig und rechtssicher durchsetzbar sein. Für die voraussichtlich wenigen Fälle soll deshalb ausnahmsweise unmittelbar ein oberstes Bundesgericht, nämlich der Bundesgerichtshof, in erster und letzter Instanz entscheiden. Denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich durch mehrere Instanzen durchgefochtene Verfahren über Jahre hinziehen und sich die Märkte bereits weitergedreht haben, wenn die Entscheidung dann endlich in Rechtskraft erstarkt.
Wir sorgen schließlich im Bereich der Fusionskontrolle dafür, dass sich das Bundeskartellamt nicht mehr mit einer Flut unproblematischer Fälle befassen muss – das betrifft gerade den mittelständischen Bereich –, sondern dass es seine knappen Ressourcen für die wirklich wichtigen Fälle einsetzen kann, insbesondere für die im Markt der digitalen Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, wir statten das Bundeskartellamt nach der Ausschussanhörung mit mehr Durchsetzungskraft und Schwung aus. Es ist ein scharfes Schwert. Wir treten heute Wildwestmethoden im Bereich der Digitalwirtschaft entgegen. Wir wollen die Märkte im digitalen Bereich offenhalten. Dass Deutschland dabei auf nationaler Ebene voranschreitet, ist kein Nachteil in Europa. Im Gegenteil: Wir würden uns freuen, wenn dieses Beispiel in die europäische Gesetzgebung Eingang finden würde.
Meine Damen und Herren, diese Novelle ist eine Richtschnur für eine ungewisse Dauer. Wir wissen nicht, wie lange diese Zustände anhalten. Aber wir glauben, dass sie ein Vorbild ist, das durchaus ein Profil für die digitale Wirtschaft bilden kann.
Für die gute Zusammenarbeit bei der Abfassung des Gesetzentwurfes möchte ich mich herzlich bedanken bei Falko Mohrs von der SPD, bei Hansjörg Durz von der CSU und insbesondere bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Wirtschaftsministeriums, die sich an diesem wirklich schwierigen Gesetzgebungsverfahren über viele Jahre abgearbeitet haben. Ich glaube, dass wir hiermit einen guten Erfolg erzielen, um der Durchsetzung des Kartellrechts Geltung zu verschaffen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Maier, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Verbraucherschutz – um den soll es hier gehen – kann man nicht nur dadurch entwickeln und fördern, dass man das Wettbewerbsrecht immer weiter ausdifferenziert. Man kann das auch auf eine andere Weise tun, die sich in stärkerem Maß auf Freiwilligkeit, auf persönliche und kollektive Verantwortung stützt und die sich in einigen anderen Ländern in der Welt glänzend bewährt hat. Das ist die Co-Regulierung. Sie beschäftigt sich nicht so sehr mit eklatanten Verstößen gegen geltendes Recht, sondern sie beschäftigt sich in erster Linie mit rechtlichen Grauzonen, mit Fragen etwa der Deontologie, die in gesetzlichen Regelungen ohnehin nur schwer, wenn überhaupt zu erfassen sind. Es ist ein Verfahren, dass sich insbesondere in Großbritannien seit etlichen Jahren bewährt hat, aber auch in anderen Case-Law-Ländern wie in Australien, meines Wissens auch in Kanada.
Bei uns ist es so, dass sich die Kontrolle der Einhaltung geltenden Verbraucherrechts nicht auf eine Behörde stützt, die das überwacht, sondern darauf, dass sich Verbraucherverbände oder auch einzelne Personen bei solchen Verstößen gerichtliche Unterstützung verschaffen.
Die Handelsverbände – Wirtschaftsverbände allgemein, Handelskammern, auch Handwerkskammern – haben in der Vergangenheit durchaus auf diese Problematik reagiert, indem sie sogenannte Wohlverhaltenskodizes, Codes of Conduct, entwickelt haben, oft in allerbester und auch ehrlicher Absicht. Aber man muss auch feststellen: Diese Codes of Conduct sind in den allermeisten Fällen wirkungslos geblieben, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen haben diejenigen, die sie beschlossen haben, nicht die Möglichkeit, die Einhaltung dieser Codes systematisch zu überwachen, und zum anderen haben sie keine Sanktionsmöglichkeiten. Dem versucht die Co-Regulierung zu begegnen.
Was ist das nun? Die Sache ist ganz einfach. Sie beruht ihrerseits auf Codes of Conduct, aber nicht auf solchen, die die Wirtschaftsverbände allein und nach ihren Interessen gestalten, sondern auf Codes of Conduct, die die Wirtschaftsverbände zusammen mit anerkannten Verbraucherverbänden, wie sie zum Beispiel im KapMuG definiert sind, und den dafür jeweils zuständigen staatlichen Behörden definieren. Entscheidend ist, dass sich diese Codes of Conduct, wie sie in Großbritannien, Australien gelten, auf Sanktionen stützen. Diese Sanktionen werden nicht von denjenigen, die die Codes beschlossen haben, sondern von zuständigen Behörden verhängt. Das wäre zum Beispiel im Bereich der Telekommunikationsbranche bei uns die Netzagentur, im Bereich der Finanzdienstleistungen die BaFin usw.
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich zum wiederholten Male für die Einführung der Co-Regulierung in der EU eingesetzt.
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Das ist durchaus unumstritten; aber die Europäische Kommission ist dem nicht gefolgt mit der Begründung, die europäischen Verträge lieferten keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür. Deshalb sollten wir auch nicht darauf warten, dass die Europäische Union damit irgendwann einmal herüberkommt; vielmehr sollten wir einen Vorstoß machen und auf der nationalen Ebene das regulieren, was die Co-Regulierung in den Ländern, in denen sie bereits eingeführt ist, so erfolgreich gemacht hat. Dafür werbe ich, und deshalb bitte ich Sie, unserem Vorschlag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wettbewerb hat eine entscheidende Rolle in unserer sozialen Marktwirtschaft. Im besten Fall sorgt Wettbewerb dafür, dass Produkte innovativer und besser werden; Wettbewerb sorgt dafür, dass Produkte zu attraktiven Preisen angeboten werden; Wettbewerb ist damit ein wirklich wesentlicher und wichtiger Teil unserer sozialen Marktwirtschaft. Deswegen muss Wettbewerb auch geschützt werden.
Wenn man dieser Logik folgt, dann ist das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung, das GWB, dessen Novelle wir heute beschließen, so etwas wie das Grundgesetz, die Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft in Deutschland; davon sind wir fest überzeugt. Wir sehen aber – deswegen ist es wichtig, mit dem GWB entsprechend zu reagieren –, dass insbesondere auf digitalen Märkten Wettbewerb nach anderen Regeln ab- und verläuft. Wir erleben, dass es auf digitalen Märkten eine viel stärkere Tendenz zu Monopolen gibt, Netzwerkeffekte sehr viel stärker eintreten, also die Unternehmen, die schon groß und stark sind, die Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten haben, immer mehr Marktmacht auf sich konzentrieren und damit immer weniger Raum für kleine und mittelständische Wettbewerber lassen. Das, meine Damen und Herren, ist eine Entwicklung, die insbesondere auf digitalen Märkten sehr viel schneller und drastischer verläuft.
Digitale Märkte haben eine Tendenz zum, wie wir es nennen, „The winner takes it all“, also am Ende gibt es einen einzigen Wettbewerber, der so dominant wird, dass Wettbewerb auf diesen Märkten de facto nicht mehr stattfindet. Das ist eindeutig und, ich glaube, völlig unbestreitbar ein Problem, dem wir uns annehmen müssen. Das tun wir mit diesem Gesetz.
Herr Dr. Maier, ich habe Sie bisher in der Debatte des Wettbewerbsrechts im Wirtschaftsausschuss noch nicht erlebt; ich weiß auch gar nicht, worüber Sie gesprochen haben. Aber eine Aussage habe ich herausgehört: Eigentlich wollen Sie am Ende alles irgendwelchen Verpflichtungen der Unternehmen überlassen; „Code of Conduct“ ist ja – ich weiß gar nicht – 35-mal gefallen, mehr habe ich nicht verstanden. Ich glaube aber, dass das, was ich gerade im Wettbewerbsrecht beschrieben habe, doch und insbesondere auf den digitalen Märkten der Beweis dafür ist, dass es eben nicht funktioniert, wenn wir den großen digitalen Plattformen wie Google, Facebook, Amazon, Apple die Regeln für den Markt allein überlassen. Nein, es bedarf klarer Richtlinien und eines scharfen, starken Schwertes in Form eines Gesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen packen wir das GWB an. Wir machen es fit für die digitalen Märkte. Das ist der richtige Weg. Wir dürfen nicht alles dem Markt überlassen, wie es hier eben vorgeschlagen wurde.
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Mit der Novelle des Wettbewerbsrechts übernimmt Deutschland weltweit eine Vorreiterrolle; denn mit dem Herzstück dieser Wettbewerbsrechtsnovelle, dem neuen § 19a GWB, werden wir proaktiv. Wir sorgen dafür, dass das Bundeskartellamt bei den Unternehmen, wo wir sagen: „Da gibt es eine überragende, eine marktübergreifende Macht und Dominanz“, vor die Lage kommt und proaktiv, präventiv Verhaltensregeln aussprechen kann, an die sich diese Unternehmen halten müssen. Der Kollege Heider hat es gesagt: Wir verbieten damit Unternehmen, sich selber zu bevorzugen.
Wir erleben auf digitalen Märkten oder Plattformen immer wieder, dass der eigentliche Anbieter dieses Marktplatzes eigene Produkte, mit denen er selber Geld verdient, besser rankt, besser darstellt als die von Wettbewerbern, ohne dass es dafür irgendeinen Grund gibt. Wir erleben auch, dass Unternehmen Konditionenmissbrauch betreiben, also für diejenigen, die bei ihnen eine Dienstleistung oder ein Produkt anbieten wollen, zusätzliche Bedingungen schaffen, die nicht notwendig wären; sie erzwingen beispielsweise den zusätzlichen Zugang zu Daten, nur damit sie diese attraktiv anbieten können. Das, meine Damen und Herren, können wir uns nicht bieten lassen, und deswegen bieten wir dem Marktgebaren dieser digitalen Großunternehmen die Stirn.
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Es gibt weitere Dinge, die wir im Hinblick auf digitale Märkte mit dem Wettbewerbsrecht anpacken. Wir werden in zwei Paragrafen regeln, dass dort, wo Daten so etwas wie eine Infrastruktur für Wettbewerb sind – wir kennen das von der Bahn bei dem Thema Gleise –, ein Datenzugangsanspruch verankert wird, dass dort, wo es für den Wettbewerb eine klare Begründung gibt, auch der Zugang zu Daten geregelt und angewiesen werden kann.
Wir haben auch an anderen Stellen reagiert. Wir sehen zum Beispiel, dass es Unternehmen gibt, die im ersten Schritt eine Übernahme eines Klein- oder Mittelständlers planen; diese Übernahme ist vielleicht noch gar nicht problematisch für den Wettbewerb. Dann gehen sie aber den nächsten, den übernächsten Schritt und nehmen kleine Unternehmen, die vielleicht knapp unter den Aufgreifschwellen, den Umsatzschwellen liegen, nach und nach auf. Mit dem neuen § 39a GWB haben wir dafür gesorgt, dass genau diese Übernahmen, die Schritt für Schritt erfolgen, in Zukunft vorher beim Bundeskartellamt angemeldet werden müssen, wenn vom Bundeskartellamt festgestellt wurde, dass auf diesen Märkten eine problematische Tendenz für den Wettbewerb besteht. Das ist ebenfalls eine wichtige Neuerung, die insbesondere den Wettbewerb im Mittelstand garantiert und schützt, meine Damen und Herren.
Wir haben das Bundeskartellamt entlastet, indem wir Umsatzschwellen anheben; auch das ist eine Entlastung für den Mittelstand. Wir haben – auch das ist angesprochen worden – dafür gesorgt, dass es gerade bei den großen, den komplizierten Fälle gegen die Giganten der Tech-Industrie schneller zu einem abschließenden Urteil und damit zu Rechtssicherheit für alle Beteiligten kommt. Auch das, meine Damen und Herren, sorgt dafür, dass ein Urteil nicht erst dann ergeht, wenn die Konkurrenten längst verschwunden sind, verdrängt wurden, der Markt sich weiter gedreht hat, sondern dass hier schnell Klarheit und damit auch Sicherheit für den Wettbewerb besteht.
Deswegen bin ich wirklich fest davon überzeugt, dass das, was wir hier – weltweit als erstes Land – mit dieser GWB-Novelle vorlegen, wirklich Inspiration für die Diskussion auf europäischer Ebene sein wird, Inspiration auch für das Wettbewerbsrecht in anderen Ländern wird. Wir sind damit Vorreiter; darauf können wir stolz sein. Ich werbe dafür, dass wir heute hier eine breite Zustimmung zu diesem guten Gesetz bekommen, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich die letzten, kurzen Sekunden zumindest noch einmal darauf verweisen, dass dieses Gesetz auch als ein Trägergesetz dafür gilt, dass wir die Zahl der Tage, für die Anspruch auf Kinderkrankengeld besteht, in dieser außergewöhnlichen Lage von Corona erhöhen, das heißt, Alleinerziehende oder auch andere Eltern, viele Millionen diesem Land, bekommen eine Verdopplung der Kinderkrankengeldtage für dieses Jahr. Das ist wichtig zur Abfederung der Lasten in dieser schweren Zeit, meine Damen und Herren.
Insofern ist das Gesetz ein gutes Wettbewerbsgesetz, ein gutes Trägergesetz für eine wichtige Regelung in der Coronazeit. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Theurer, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten tragen die Vorschläge zum Kinderkrankengeld selbstverständlich mit; die Hilfe muss bei den Schwächsten in der Gesellschaft ankommen.
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Aber wenn wir heute hier schwerpunktmäßig über das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen sprechen, dann muss man vorneweg einmal sagen: Die ganze Diskussion um die Wettbewerbsgleichheit, um den fairen Wettbewerb zwischen analoger und digitaler Wirtschaft, hat überhaupt keinen Sinn, wenn bei der analogen Wirtschaft, die jetzt gerade durch den Lockdown massiv betroffen ist, die Hilfszahlungen überhaupt nicht ankommen.
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Sehr verehrter Herr Minister Altmaier, gemeinsam mit Herrn Finanzminister Scholz, hat man den Eindruck, geben Sie das Bild eines Duo infernale ab. Sie sind, was die Auszahlung der Hilfen angeht, kläglich gescheitert. Sie hatten Schnelligkeit, Einfachheit, Großzügigkeit angekündigt – stattdessen haben Sie Vorschriftenwirrwarr und Antragschaos geliefert. Wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die Hilfen auch bei der Wirtschaft, bei den Betroffenen ankommen, meine Damen und Herren!
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Zu dem Gesetzentwurf, der hier vorliegt und den wir als Freie Demokraten aktiv und mit Änderungsanträgen unseres Berichterstatters Gerald Ullrich begleitet haben: Es sind viele Fortschritte, eine Stärkung der Wettbewerbsbehörden des Bundeskartellamts enthalten, die wir mittragen. Stichwort ist die Intermediationsmacht. Stichwort ist die Sanktion gegen die Verweigerung zum Zugang wettbewerbsrelevanter Daten. Stichworte sind auch das Selbstbevorzugungsverbot und das Verbot von Tipping, also der Beeinflussung von Nutzern. Meine Damen und Herren, das tragen wir mit. Allerdings glauben wir, dass der Gesetzentwurf nicht präzise genug ist, etwa im Hinblick auf § 19 GWB. Wir haben dazu Änderungsanträge gestellt. Bemerkungswert ist, dass die regierungstragenden Fraktionen jetzt eine Entschließung vorlegen, in der sie selber Verbesserungen an dem jetzt zu beschließenden Gesetz fordern. Hätten Sie auf unsere Änderungsanträge gehört und ihnen zugestimmt, dann wäre diese Entschließung überflüssig gewesen, meine Damen und Herren.
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Wir jedenfalls können dem Gesetz trotz Verbesserungen nicht zustimmen; wir werden uns enthalten. Denn eines ist klar: Wir brauchen eine europäische Regelung – auf die setzen wir. Die liberale Kommissarin Margrethe Vestager und Thierry Breton haben hier mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act gute Vorschläge auf den Tisch des Hauses gelegt. Wir sind ein Binnenmarkt; da muss der Ordnungsrahmen auch für die Digitalökonomie selbstverständlich europäisch geregelt werden.
Aber eines ist auch klar: Das Wettbewerbsrecht alleine sichert nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Europäer und der deutschen Wirtschaft im Digitalmarkt. Wir brauchen dafür bessere Rahmenbedingungen in der Digitalwirtschaft, zum Beispiel für Start-ups, damit die auch wachsen können, in die globalen Märkte hinein. Wir fordern seit Langem ein Venture-Capital-Gesetz. Wir brauchen Verbesserungen auch im Bereich der Arbeitskräfte. Es ist ein Skandal, dass Freelancer abwandern, dass IT-Experten abwandern, zum Beispiel, weil die Besteuerung in Deutschland – Stichwort „Solidaritätszuschlag“ – immer noch abschreckend ist. Wir fordern Sie auf: Bessere Rahmenbedingungen für die IT-Wirtschaft, für die Digitalwirtschaft sind der beste Weg, um unsere Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Meiser, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn allein ein Konzern wie Amazon darüber entscheidet, ob und zu welchen Konditionen andere Einzelhändler Zugang zur Welt des Onlinehandels haben, dann ist das nicht erst seit der Coronakrise ein tiefgreifendes Problem. Und wenn ein Konzern wie Google bestimmt, welche Produkte und welche politischen Informationen in der Unendlichkeit des Internets erfolgreich gesucht und gefunden werden, oder wenn ein Konzern wie Facebook immer mehr entscheidet, wie unser soziales Leben aussieht, und in seinen Geschäftsbedingungen regelt, was anstößige und was zulässige Meinungsäußerungen sind, und wenn sie alle zusammen riesige Geschäfte mit unser aller privaten Daten machen und so mächtig sind, dass sie sich erfolgreich um das Zahlen von Steuern drücken können, dann sind das keine Lappalien, über die man achselzuckend hinwegsehen kann, dann haben wir ein eklatantes politisches Problem, und dann muss hier endlich konsequent gehandelt werden.
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Ja, es ist gut, dass die Bundesregierung zumindest im Kartellrecht endlich erste zaghafte Schritte in die richtige Richtung geht. Doch leider machen Sie an vielen Stellen noch halbe Sachen. Ich befürchte, die Vorstandschefs von Amazon, Google, Facebook und Co. dürfte dies nicht um den Schlaf bringen. So sieht das Herzstück Ihres Gesetzentwurfs für den neuen § 19a GWB lediglich vor, dass das Kartellamt künftig bestimmte Geschäftspraktiken marktübergreifend bedeutsamer Plattformen verbieten kann. Warum es aber langwieriger Untersuchungen bedarf, um Amazon und Co. im Einzelfall zu untersagen, andere Einzelhändler zu benachteiligen oder ihnen inakzeptable Vertragsbedingungen zu diktieren, hat die Bundesregierung bis heute nicht schlüssig darstellen können. Wir als Linke fordern hier weiterhin ein klares und eindeutiges Verbot missbräuchlicher Praktiken per Gesetz.
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Auch das Problem der sogenannten Killerakquisition, also dass die genannten Digitalkonzerne gezielt Start-ups aufkaufen, bevor sie ernstzunehmende Konkurrenten werden können, bleibt ungelöst. Unverständlicherweise haben Sie zudem im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens die Fusionskontrolle generell geschwächt, indem Sie die Prüfschwellen für Fusionen weiter nach oben geschraubt haben. Und leider liefert Ihr Gesetzentwurf auch keine Ansätze, um die Macht bestehender Monopole grundsätzlich infrage zu stellen. Wir als Linke bleiben dabei: Dort, wo Konzerne mit überragender Bedeutung zu mächtig und damit auch nicht mehr anders zu kontrollieren sind, darf auch in Deutschland und Europa nicht länger vor der Ultima Ratio einer präventiven Zerschlagung solcher Konzerne zurückgeschreckt werden.
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In den USA ist das schon seit gut hundert Jahren möglich, und die US-amerikanische Aufsichtsbehörde hat auf dieser Grundlage kurz vor Weihnachten jetzt ein Verfahren eingeleitet, mit dem Facebook gezwungen werden soll, die zuvor erworbenen Unternehmen WhatsApp und Instagram wieder zu veräußern.
Die Debatte zeigt aber auch, dass es zu kurz gesprungen ist, wenn man glaubt, die Macht digitaler Monopole allein mit dem Instrument des Kartellrechts lösen zu können. Es geht um mehr als um die Aufhebung von Wettbewerbsbeschränkungen, es geht um klare Regeln für die digitale Zukunft. Gerade die digitalen Plattformen sind inzwischen zentrale Bestandteile der gesellschaftlichen Infrastruktur und bedürfen deshalb wie die Energienetze, die Verkehrswege und auch das klassische Postwesen einer besonderen Regulierung und demokratischer Steuerung. Dafür braucht es ein Plattformstrukturgesetz, in dem für die verschiedenen digitalen Plattformen der gesetzliche Rahmen gesetzt wird, und eine eigene Regulierungsbehörde, die die Durchsetzung dieser Regeln von Amts wegen überwacht.
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Klar ist – ich komme zum Schluss –: Diese Herausforderungen können nur im engen Zusammenspiel zwischen der nationalen und der europäischen Ebene gelöst werden. Aber wer wie die Bundesregierung bei all diesen Problemen mit dem Finger nach Brüssel zeigt, der kommt seiner eigenen Verantwortung im Kampf gegen die Macht der Digitalkonzerne nicht nach.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, Sie haben sich sehr viel Zeit gelassen, um diese Reform des Wettbewerbsrechts in den Bundestag einzubringen: Anderthalb Jahre nachdem wir den Referentenentwurf – geleakt zwar, aber in einer eigentlich dem heutigen Gesetz sehr ähnlichen Fassung – zu Gesicht bekommen haben, schaffen Sie es endlich, dieses Gesetz in den Bundestag einzubringen. Diese Langsamkeit ist in dieser Krise fatal, Herr Altmaier.
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In einer Pandemie, in der auf der einen Seite der lokale Handel ums Überleben kämpft und auf der anderen Seite Internetgiganten wie Amazon immer mächtiger werden, wo immer mehr kleine Händler auf die Angebote der digitalen Giganten angewiesen sind, ist ein starkes Wettbewerbsrecht für viele Unternehmen überlebenswichtig. Deswegen wäre es so dringend notwendig gewesen, dass Sie schnell gewesen wären mit dieser GWB-Novelle.
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Aber diese Trägheit im Regierungshandeln ist ein bisschen zum Sinnbild Ihrer gesamten Amtszeit geworden. Das ist gerade in der Coronakrise ein Problem. Der Kollege Theurer hat es eben angesprochen: Sie haben angesichts des erneuten Shutdowns für relevante Bereiche der Wirtschaft über schnelle, unbürokratische, einfache Wirtschaftshilfen gesprochen – und nichts davon ist passiert.
Ihr Chaos im Duo mit Minister Scholz droht viele Unternehmen in den Ruin zu treiben, weil die Hilfen, die zugesagt waren, nicht ausgezahlt werden, weil die Software, die man hätte programmieren können, nicht funktioniert hat. Das sind alles Sachen, auf die hätten Sie vorbereitet sein müssen. Die Unternehmen sind gutwillig. Sie wollen uns unterstützen, und sie wollen die Pandemie bekämpfen; aber dafür brauchen sie auch eine Wirtschaftspolitik, die ihnen das wirtschaftliche Überleben sichert.
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Jetzt legen Sie ein hartes Wettbewerbsrecht vor. Ich muss es sagen: Sie gehen mit diesem Gesetz wirklich einen Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir uns Verbesserungen gewünscht hätten. Es ist zum Beispiel nicht einsichtig, warum Sie das Thema Interoperabilität, bei dem es um offene Schnittstellen und um eine Förderung von Wettbewerb geht, nur auf die ganz Großen des Internets beschränken wollen und warum Sie das nicht grundsätzlich für marktbeherrschende Unternehmen regeln, so wie wir es vorgeschlagen hätten. Es ist nicht verständlich, warum Sie den strategischen Ankauf von Start-ups durch die Großen nicht auch besser regulieren, so wie wir es von Ihnen gefordert hätten. Das alles wären Verbesserungen, die auch im jetzigen Gesetzentwurf möglich gewesen wären. Da müssen Sie in Zukunft nachbessern.
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Ein weiterer Bereich – das ist auch sehr bezeichnend – ist völlig aus Ihrem Fokus geraten, nämlich das Thema Verbraucherschutz. Das Ministerium hat selber einen Entwurf von einem Wissenschaftler dazu entwickeln lassen, wie der Verbraucherschutz im Wettbewerbsrecht hätte gestärkt werden können. Gerade in einer Zeit, in der wir alle zunehmend auf digitale Angebote angewiesen sind, weil man lokal nichts mehr kaufen kann, wäre eine Stärkung der Verbraucherrechte im Wettbewerbsrecht dringend notwendig gewesen. Dass das die große Leerstelle Ihres Gesetzentwurfs ist, ist angesichts der Pandemie ein großes Problem.
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Schließlich haben Sie ein Omnibusgesetz geschaffen, indem Sie die Ausweitung der Tage beim Kinderkrankengeld für die Eltern mit an den Gesetzentwurf drangehängt haben. Es ist gut und richtig, dass die Große Koalition dies jetzt regelt – das haben wir von Ihnen gefordert –, auch wenn Sie hier noch Fragezeichen stehen lassen. Die Situation der Selbstständigen beispielsweise hätten Sie besser in den Blick nehmen müssen ebenso wie die Frage, wie es für die Eltern weitergeht, wenn die Zahl der Kinderkrankentage aufgebraucht, die Pandemie aber noch nicht zu Ende ist.
Zum Schluss richte ich einen eindringlichen Appell an alle, die Verantwortung tragen: Nehmen Sie in der Pandemie die Situation von Kindern besser in den Blick. Treffen Sie nicht einfach Beschlüsse wie den MPK-Beschluss, mit dem Sie Kontaktbeschränkungen für Haushalte vorgeben, wodurch das Leben mit Kindern quasi nicht mehr organisierbar ist. Eltern, die sich wirklich bemühen, sich an alle Regeln zu halten, wissen nicht mehr, wie sie das Ganze schaffen sollen.
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Kollegin Dröge.
Familien müssen das Leben organisieren können. Politik hat nicht nur die Aufgabe, zu zeigen, was nicht geht, sondern auch, zu zeigen, wie ein verantwortungsvolles Leben in der Pandemie aussehen kann. Das zu berücksichtigen, ist mein dringender Appell an Sie.
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Das Wort hat der Kollege Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Amerikaner haben die Digitalisierung monetarisiert. Kapitalismus in Reinform hat dazu geführt, dass in vielen Bereichen des Lebens Anbieter digitaler Plattformen die Regeln von Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Die Chinesen haben die Macht der Plattformen dem Taktstock staatlicher Akteure unterstellt. Der digitale Überwachungsstaat ist übermächtig und ganz offensichtlich noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten.
Und Europa? Deutschland? Auch wir schreiben Geschichte. In einer Zeit, in der Digitalkonzerne bestimmen, wann die Mächtigen der Welt reden dürfen und wann ihnen das Wort entzogen wird, in einer Zeit, in der der am weitesten verbreitete Messengerdienst des Landes seine Nutzer vor die Wahl stellt, ihre Daten mit denen eines Techgiganten endgültig zu vermengen oder den Dienst nicht weiter zu nutzen, in einer solchen Zeit braucht es genau ein Gesetz wie dieses.
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Wir feiern heute nicht weniger als die Geburtsstunde der sozialen digitalen Marktwirtschaft. Nicht das Wohl von Unternehmen, nicht das Wohl des Staates, sondern der Mensch wird zur bestimmenden Konstante der digitalen Wirtschaft. Freier Schöpfergeist, Chancengleichheit, Wahlfreiheit – es sind diese gemeinsamen europäischen Werte, die wir heute in der Digitalwirtschaft verankern. Diese Novelle ist nicht weniger als eine, wenn man so will, Revolution. Als erstes Parlament der Welt verabschiedet der Deutsche Bundestag ein Wettbewerbsrecht, das den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht wird.
So manche Oppositionspartei tönt derweil, dies sei nur ein laues Lüftchen statt echter Gegenwind für die führenden Plattformen dieser Welt. Doch sie springen mit ihren Rufen nach einem viel schärferen Vorgehen zu kurz; denn sie verachten die Tatsache, dass unsere Gesellschaft von diesen Unternehmen auch enorm profitiert. Lockdown ohne digitale Plattformen hieße, die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben endgültig zu verlieren. Den Unternehmen wäre der einzige virenfreie Marktzugang verwehrt. Und wie sähe in dieser schweren Zeit berufliches und gesellschaftliches Leben ohne digitale Plattformen aus?
Wir haben das Gesetz deshalb so gestaltet, dass Gatekeeper auch weiterhin innovativ sein können. Wir wollen systemrelevante digitale Plattformen nicht vernichten; wir wollen aber, dass sie sich an faire Spielregeln halten.
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Und diese Spielregeln haben wir hier klar und deutlich formuliert, zum Beispiel ein Verbot der Selbstbevorzugung. Eigene Produkte dürfen auf Plattformen nicht bessergestellt werden als die von Wettbewerbern. Auch die ausschließliche Vorinstallation unternehmenseigener Apps und Angebote auf Endgeräten kann künftig untersagt werden. Zudem kann betroffenen Unternehmen verboten werden, die Nutzung eines Dienstes von der Nutzung weiterer Dienste desselben Unternehmens abhängig zu machen.
Bleibt die Frage, wie wir es mit einem Verbot von Unternehmensaufkäufen halten. Wir haben Eingriffsmöglichkeiten für das Bundeskartellamt vorgesehen. National verbieten wollen wir solche sogenannten Killer Acquisitions jedoch nicht. Erkannt haben wir das Problem allerdings sehr wohl; das können Sie in unserem Entschließungsantrag schwarz auf weiß nachlesen. Doch fordern wir eine europäische Regelung; denn der Aufkauf durch einen großen Player ist weiterhin eine beliebte Exit-Strategie für Gründer. Wir als Union werden das nicht zulassen. Wir werden Gründern in diesem Land keinen hausgemachten Wettbewerbsnachteil ans Bein binden.
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Wir sorgen auch dafür, dass dieses Gesetz nicht bloß ein Papiertiger ist. Nein, wir wollen, dass die Reform nicht bloß auf den Schreibtischen der Rechtsgelehrten, sondern vor allem auf den Endgeräten der Bürger ankommt. Deshalb verkürzen wir den Rechtsweg. Allein der BGH wird als oberste und einzige Rechtsinstanz über die Streitigkeiten von Unternehmensanwälten und Staatsdienern im Rahmen des § 19a GWB entscheiden. So schaffen wir Rechtssicherheit statt jahrelanger Verunsicherung und werden der Dynamik digitaler Märkte gerecht.
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Die Reform ist ein Vorbild für Europa. Kurz vor Weihnachten hat die EU-Kommission einen Entwurf zur Regulierung von Techgiganten vorgestellt. Die Ziele dieses Gesetzespaketes sind richtig, und es ist gut, dass wir damit einen Schritt hin zu europäisch einheitlichen Lösungen gehen. Viele europäische Ideen haben wir bereits aufgenommen. Doch zur Wahrheit gehört auch: Bis diese europaweiten Regelungen in Kraft treten, werden wohl noch Jahre vergehen.
In dieser Zeit wird Deutschland Praxiserfahrungen mit den neuen Regeln sammeln, und diese Erfahrungen werden wir in Europa einbringen. Welche Regelung sich auch immer auf europäischer Ebene durchsetzen wird, sie muss nur eines klar regeln: Über Erfolg oder Misserfolg im wirtschaftlichen Leben entscheidet künftig nicht mehr die unsichtbare Hand von Amazon und Alphabet, sondern die unsichtbare Hand von Angebot und Nachfrage.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die unsäglichen Bilder von letzter Woche mit dem Mob im US-Kongress sind für die meisten von uns wahrscheinlich Schock und Warnung zugleich. Selbstgefälligkeit oder gönnerhafte Angebote von Marshallplänen, die verbieten sich allerdings, meine Damen und Herren, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass letztes Jahr auch bei uns zweimal aufgebrachte Demonstranten das Parlament gestürmt haben, einmal sogar nachweislich unterstützt von Parlamentariern aus diesem Hause.
Dieser gewaltsame Angriff gilt allen demokratischen Gemeinwesen, und unsere Antwort muss heißen: „Jetzt erst recht Demokratie, jetzt erst recht Fairness und Respekt, jetzt erst recht ein anständiges parlamentarisches Ringen um die besten Ideen zum Wohle der Menschen in unseren Ländern“,
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womit wir schon bei der Handelspolitik sind; denn Freihandel, das ist eine wichtige Säule für internationale Zusammenarbeit. Freihandel, das sind gute Arbeitsplätze bis in den letzten Landkreis hinein im ländlichen Raum, und Freihandel, das ist Aussicht auf Wohlstand und persönliche Perspektiven.
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Jedes Freihandelsabkommen, das aktuell in Kraft ist, sei es mit Japan, mit Südkorea, mit Mexiko, wirkt für Arbeitnehmer und für Unternehmen wie ein kleines Konjunkturpaket, und das alles ohne Milliardenkosten und Schwierigkeiten bei der Auszahlung. Aber Freihandel schafft nicht nur Arbeit, Freihandel ist seit Jahrtausenden die Grundlage dafür, dass sich Völker verständigen und zusammenarbeiten. Und wo gehandelt wird, da entsteht ein reger Austausch von Ideen, von Technologien, von Know-how.
Schauen wir zum Beispiel auf die Entstehung der Europäischen Union: Am Anfang stand ein gemeinsamer Markt für Stahl und Kohle, und dann hat sich daraus Schritt für Schritt ein gemeinsamer Binnenmarkt entwickelt, heute mit den höchsten Standards weltweit. Und wir können unsere Zukunft gemeinsam so viel besser gestalten als jedes Land für sich alleine. An dieser Stelle einen schönen Gruß nach Großbritannien, weil der Brexit ein Lehrstück dafür ist, wohin nationaler Egoismus führt. Wir sollten unsere Lehren daraus ziehen.
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Wir Freien Demokraten werben deshalb heute für ein zeitgemäßes Konzept in der Handelspolitik, und zwar beruhend auf drei Säulen:
Erstens. Anstatt überfrachteter Mammutabkommen wollen wir modulare Verträge. Ambitionierte Ziele sind richtig, auch wichtig; aber wir erreichen sie halt besser Schritt für Schritt durch ein stufenweise umgesetztes Baukastensystem.
Zweitens. Gute Handelsbeziehungen sind das Fundament für Vertrauen und Kooperation, gerade in den Bereichen Klima, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, liebe Grüne. Zur guten Partnerschaft gehören auch Kompromisse und Zuverlässigkeit. Über Jahre ausgehandelte Handelsverträge mit Mercosur, mit Kanada nicht zu ratifizieren, macht die EU als Vertragspartner unglaubwürdig, meine Damen und Herren.
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Sind wir in der Handelspolitik kein zuverlässiger Partner, werden wir international auch in der Klimapolitik alleine dastehen.
Drittens setzen wir Freien Demokraten auf ein Prinzip: Der Handel von heute setzt die Standards von morgen. China betreibt aggressiv Handelspolitik ohne Rücksicht auf fairen Wettbewerb und Rechtsstaatlichkeit, von Umwelt- und Sozialstandards mal ganz zu schweigen. Als Gegengewicht rufen wir Freie Demokraten zu einer transatlantischen Wirtschaftsgemeinschaft der EU zusammen mit Großbritannien, mit Kanada, mit Mexiko und mit den USA auf. Gemeinsam können, nein, gemeinsam wollen wir die Spielregeln des 21. Jahrhunderts nach demokratischen und freiheitlichen Grundsätzen gestalten.
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Der Kernschmelze von Trumps Präsidentschaft setzen wir eine Zukunftsversion von vertiefter transatlantischer Freundschaft entgegen. Die Amerikaner haben in der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte zu uns gehalten und haben uns unterstützt. Nun ist es in dieser schwierigen Zeit der US-Demokratie an uns, diese Freundschaft zu erneuern und
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gemeinsam mit Präsident Biden Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit wieder ins Zentrum transatlantischer Beziehungen zu stellen.
Handel für Wandel, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich lade Sie ein, sich mit uns Freien Demokraten auf den Weg in eine mutige Zukunft zu machen. Herzlich willkommen!
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Andreas G. Lämmel hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ob es nun ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk für die Europäer war oder ob es für die Chinesen ein vorgezogenes Geschenk zum chinesischen Neujahrsfest war, das kann man nun unterschiedlich bewerten: Auf jeden Fall war der Abschluss des Investitionsabkommens zwischen der Europäischen Union und China am 30. Dezember noch mal ein großer Erfolg für Europa und für die deutsche Ratspräsidentschaft, meine Damen und Herren.
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Wenn man jetzt mal die Situation betrachtet und fragt, warum das so ein großer Erfolg ist, dann muss man feststellen, dass in China das letzte Jahr „Jahr der Metallratte“ hieß. In diesem „Jahr der Metallratte“ hat China dieses Investitionsabkommen mit Europa geschlossen. China hat aber auch die Regional Comprehensive Economic Partnership abgeschlossen, also die umfassende Wirtschaftskooperation im asiatischen Raum. Meine Damen und Herren, ab Februar beginnt in China das Jahr des Büffels, sozusagen des Metallbüffels. Da darf man ja, wenn man schon im Jahr der Ratte solche Abkommen schließen kann, jetzt sehr gespannt sein, was uns dann im Jahr des Büffels erwartet.
Meine Damen und Herren, dieses transpazifische Abkommen umfasst 15 Staaten, und in 31 Runden wurde dieses Abkommen verhandelt. 2,2 Milliarden Menschen wohnen in diesem Wirtschaftsraum. Dieses Abkommen umfasst ungefähr 30 Prozent des Welthandels. Die Europäische Union bringt es auf 33 Prozent des Welthandels. Dieses asiatisch-transpazifische Abkommen ist überhaupt erst deswegen möglich geworden, weil 2016 die USA unter der Führerschaft ihres Präsidenten Trump das damals bereits ausgehandelte TPP, also die Transpazifische Partnerschaft, verlassen haben. Damit haben die Amerikaner China den Weg geöffnet, dieses große Partnerschaftsabkommen unter Dach und Fach zu bringen.
Das zeigt ganz deutlich, meine Damen und Herren, dass die Asiaten nicht auf uns warten: Sie warten nicht auf die Amerikaner, wie sie sich entscheiden, und sie warten auch nicht auf Europa, sondern sie nehmen ihre Dinge selbst in die Hand und stellen uns immer wieder vor vollendete Tatsachen. Gerade deswegen ist ebendieses Investitionsabkommen vom Dezember letzten Jahres ein Meilenstein auch für die Europäische Union.
Wenn man sich die Weltkarte mal genauer anschaut, dann kann man ganz klar sehen: Wir als Europa klemmen jetzt zwischen zwei großen Wirtschaftsblöcken. Die eine Seite ist das transpazifische Abkommen, die andere ist das Abkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada, also das frühere NAFTA; jetzt heißt es USMCA. Daran kann man ganz klar sehen: In der Mitte klemmt Europa. Das heißt, die Europäische Union muss handeln, um in der Welt bestehen zu können. Sie handelt ja auch; denn Abkommen mit Japan, Singapur, Vietnam, Mexiko, Mercosur, Chile, Neuseeland, Australien und Kanada wurden verhandelt oder sind bereits abgeschlossen worden.
Jetzt kommt aber das große Problem: Es konnten zwar viele Abkommen letztendlich erfolgreich verhandelt werden, aber die Ratifizierung in Europa geht einfach nicht voran. CETA, das besondere Abkommen, das wir ja alle hier im Deutschen Bundestag gefeiert haben, nämlich das Handelsabkommen mit Kanada,
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ist eben bis zum heutigen Tag nur in zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert.
Wir hatten am Mittwoch eine Ausschussanhörung zum Thema CETA. Es war für mich schon wirklich erschreckend, dass vor allem die links-grüne Seite seit 2016 nicht den kleinsten Fortschritt im Denken gemacht hat
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und überhaupt nicht erkannt hat, dass die Welt ringsherum sich in einem rasanten Tempo ändert. Sie haben immer wieder die gleichen Fragen gestellt und immer wieder die gleichen Befürchtungen angesprochen, die Sie schon vor fünf Jahren geäußert haben, meine Damen und Herren.
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Es ist schon das Tragische daran, dass wir bei der Diskussion um diese Fragen einfach nicht vorankommen.
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Ob man bei Ratifizierungsgesetzen immer auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes warten muss, ist bei der Anhörung am letzten Mittwoch auch sehr infrage gestellt worden. Wir müssen jetzt in Europa und auch in Deutschland ganz einfach vorankommen.
Nun kommt die FDP mit ihrem Antrag. Den habe ich mir angeguckt und habe mir gedacht: Mensch, dieser Antrag hat ja einen interessanten Titel. Da kann man eigentlich nur zustimmen.
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Die Grundintention, meine Damen und Herren, ist schon gut, natürlich. Transatlantischer Wirtschaftsraum, das ist genau das, was auch wir wollen. Dazu benötigen wir eine handlungsfähige US-Administration, die willens ist. Wir brauchen auch den Willen, das hier in Europa zu verhandeln.
Aber dann kommt der Pferdefuß – deswegen können wir diesem Antrag auch nicht zustimmen; Sie wollen es nämlich genauso, wie es die Grünen und Linken immer wieder machen –: Es wird ein Abkommen ausverhandelt, und dann werden Nachforderungen gestellt. – So machen Sie das auch im Antrag. Sie erklären: Das Mercosur-Abkommen soll schnell ratifiziert werden – Frau Weeser, Sie haben es ja gerade auch noch mal gesagt –, aber wir hätten gerne noch ein Zusatzabkommen dazu. – Ja, so kann man doch in der Welt nicht verhandeln. Also, sind wir nun als Europa ein Partner, auf den man sich verlassen kann, oder sind wir ein Partner, der nach jedem abgeschlossenen Verhandlungsstand ständig neue Forderungen stellt?
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Deswegen, meine Damen und Herren: Die Intention Ihres Antrages ist sehr gut. Aber genau wegen diesem Punkt können wir dem einfach nicht folgen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hansjörg Müller für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP erkennt selbst: Freihandelsabkommen mit Werteideologie zu verbrämen, ist ein Problem der EU-Handelspolitik. – Das steht unten auf Seite 1 Ihres Antrags.
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China dagegen realisiert pragmatisch Handelsvorteile. Die Lösung laut FDP sei, einen neuen Anlauf für das gescheiterte Transatlantische Handelsabkommen TTIP zu starten, diesmal – ich zitiere – „schrittweise“ und „auf Basis der gemeinsamen Werte“. Dieser Ansatz ist doch auch wieder ideologisch und löst nicht das Problem des fehlenden Pragmatismus in der EU-Handelspolitik.
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Die heutigen Ausgangsbedingungen sind schlechter als noch vor zehn Jahren: Handelskriege, Zollschranken, Russland-Sanktionen, WTO-Blockadepolitik. Daran wird auch der hingetrickste Präsident Joe Biden nichts ändern, der sich eher für die globale Finanzindustrie einsetzt als für den globalen Handel.
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– Schön, dass Sie wieder mal die Realität nicht hören wollen. – Es ist abwegig, zu erwarten, dass China tatenlos zusehen wird, wenn sich die EU über ein TTIP 2.0 den USA erneut unterordnet, um China im Welthandel zu bekämpfen. Hallo, liebe fünf Linksfraktionen hier im Deutschen Bundestag, kommen Sie mal von Ihrem militärischen Blockdenken runter! Weltweiter Freihandel ist eine friedliche Veranstaltung.
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Und als Exportnation darf sich Deutschland keinesfalls einseitig nach Westen ausrichten, sondern muss sich alle Optionen offenhalten. Einseitige Handelsallianzen unterminieren den freien Handel Deutschlands in alle Himmelsrichtungen, den wir – auch Sie von den fünf Linksfraktionen – so dringend brauchen.
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Aber vielleicht kommt es sowieso ganz schnell ganz anders, als alle denken: wenn Sie nämlich mit dem Lockdown-Wahnsinn und der Ruinierung des Euro unserer Wirtschaft das Lebenslicht auch schon vorher ausgeblasen haben.
Nein, alter Wein in neuen Schläuchen kann nicht die Lösung sein. Was also dann ist die Lösung? Endlich mehr Eigennutz in unserer Handelspolitik verfolgen, statt als Missionar Freihandelsverträge mit linksgrünem ideologischen Blabla zu überfrachten.
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Es ist völlig legitim, wenn Deutschland im Handel zuerst einmal seine eigenen Interessen und die Interessen der deutschen Unternehmen vertritt.
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Deutschlands politisch oft nachteilige geografische Mittellage ist wirtschaftlich unser großer Vorteil. Wir sitzen nicht nur in der Mitte Europas; wir sitzen auch verbindend zwischen dem östlichen, dem westlichen und dem asiatischen Wirtschaftsraum. Sich dann einseitig Richtung Westen anzuketten, ist törichte Selbstbeschränkung.
Der eurasische Wirtschaftsraum ist der Turbo für Deutschland und seine Unternehmen im 21. Jahrhundert, und zwar analog zur EWG, nicht zur EU. Russische Rohstoffe und deutsche Technologie sind eine großartige Symbiose. Vor 20 Jahren machte uns ein russischer Staatsmann genau von diesem Rednerpult aus das Angebot grenzenlosen Wirtschaftens von Lissabon bis Wladiwostok. Und nicht ohne Grund versucht die NATO seitdem, genau das zu verhindern.
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Genau über Eurasien bekommen wir unmittelbaren Zugang zum neuen asiatischen Wirtschaftsraum und dessen Freihandelsabkommen RCEP, genau was Sie von den fünf Linksfraktionen ja wollen. Aber das ist ein realistischer Ansatz.
Selbstverständlich werden wir die älteren Wirtschaftsverbindungen mit dem Westen auch weiterhin hegen und pflegen. Aber wir werden offen auch auf die östlichen und asiatischen Wirtschaftsverbindungen zugehen. Das heißt: Realpolitik auch in der Wirtschaft.
Ich bedanke mich.
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Für die SPD hat nun Markus Töns das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Vorredner hört, fällt es einem manchmal schon schwer, eine vernünftige Replik darauf zu geben. Es war ja viel Irres unterwegs, unter anderem natürlich wieder bei Herrn Müller; das kann man gar nicht anders beschreiben. Er zieht also die Wahl eines amerikanischen Präsidenten in den USA in Zweifel,
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dann erzählt er hier was von einer russisch-europäischen Koexistenz, bei der wir, wie er glaubt, nur noch deutsche Interessen durchsetzen müssten. Ich glaube, das ist schon ein bisschen irre, was die ganze Handelspolitik betrifft. Ich glaube, Sie haben überhaupt nichts verstanden.
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Aber genau das ist Ihr Problem.
Ich sage Ihnen das, was ich Ihnen schon mal gesagt habe, liebe Kollegen: Es gibt in allen Ländern Hilfetelefone für Leute wie Sie. Sie müssen nicht in diesem Haufen bleiben. Sie können raus aus dem Rechtsradikalismus.
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Es gibt da Hilfen. Rufen Sie an! Und wenn Sie nicht wissen, wie Sie an die Telefonnummern kommen: Wir helfen Ihnen dabei. – Das ist wirklich hilfreich.
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Aber lassen Sie uns mal zum Antrag kommen; das ist ja, glaube ich, auch ganz spannend, sich damit zu beschäftigen. Ja, Frau Weeser, es ist richtig, dass wir ein transatlantisches Handelsbündnis brauchen und dass wir einen Weg dahin beschreiten müssen; auch das ist richtig. Aber die Frage ist: Wie sieht dieser Weg aus? Da habe ich bei Ihrem Antrag schon erhebliche Zweifel. Ich will Ihnen diese auch nennen. Es ist eben nicht auf China zu schauen und zu sagen: So, das ist der Rule Maker, wir müssen uns jetzt an dem orientieren; deshalb setzen wir die Standards herunter, und wir halten uns nicht mehr an soziale Standards, nicht mehr an Umweltstandards, nicht mehr an Nachhaltigkeitsstandards. – Das kann definitiv nicht der Weg für eine internationale Handelspolitik der Europäischen Union und Deutschlands sein.
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Weil das eben nicht die Antwort auf die Handelsabkommen Chinas und den Aufstieg Chinas ist, müssen wir dafür sorgen, dass die Europäische Union eine Werteunion ist; das vergessen Sie in Ihrem Antrag komplett.
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Diese Europäische Union ist eine Werteunion. Genau deshalb müssen wir darauf gucken, dass die Europäische Union in diesem Verhandlungsschema der Rule Maker ist und nicht China mit dem Senken und dem Nichteinhalten von Sozialstandards etc., auch von Menschenrechten. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
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Wir haben viel zu bieten innerhalb der Europäischen Union. Wir haben einen attraktiven Markt mit 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten. Wir haben ein Netz an Handelsabkommen von fast 80 internationalen Abkommen weltweit, auch mit Asien, unter anderem Japan, Vietnam und Singapur. Und wir haben das Know-how beim Setzen internationaler Standards. Das ist eigentlich der entscheidende Punkt. Das ist unsere Stärke, und die sollten wir auch betonen, weil diese Standards nämlich vieles verändern können. Deshalb ist das ein attraktives Gegenmodell zu einseitigen Abhängigkeiten, die zum Teil auch durch China in dieser Welt geschaffen werden.
Was ist genau das Gegenmodell? Das ist ein multilaterales Handelssystem, das wir stärken müssen. Ja, Joe Biden könnte eine Chance sein, um mit der amerikanischen Administration wieder in ein vernünftiges Gespräch zu kommen. Aber zunächst sollten wir nicht über Handelsabkommen reden, sondern über die Frage der Stärkung der WTO. Die WTO ist ein geschwächter Partner in der Welt, und wir müssen dafür sorgen, dass sich das ändert. Das wird gemeinsam mit den USA, sehr wahrscheinlich auch mit dieser Administration, möglich sein.
Wir brauchen die WTO auch wieder als Ort der Streitschlichtung, zumindest da, wo es uns nicht anders möglich ist. Ich plädiere weiterhin für den multilateralen Handelsgerichtshof, weil ich glaube, dass das die Zukunftsentwicklung ist, die in CETA verankert ist – im Gegensatz zu anderen, die das hier immer wieder kritisieren. Das ist zukunftsgerichtet. Das ist der Goldstandard, und den sollten wir international auch durchsetzen.
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Wir brauchen bei der Doha-Entwicklungsrunde sicherlich auch Verhandlungspartner wie die USA, um dort auch etwas zu vollbringen; denn da muss deutlich mehr passieren. Wir müssen die Nachhaltigkeitsstandards international stärken. Nach der Klimakonferenz in Paris sind wir deutlich weiter gekommen, als das bisher der Fall war. Wir müssen dies zukünftig doch auch in internationalen Handelsverträgen festschreiben. Sich davon zu verabschieden oder es erst gar nicht in den Blick zu nehmen, nach dem Motto „Da bedroht uns jetzt aber ein großer asiatischer Wirtschaftsraum“: Ich weiß gar nicht, wovor Sie Angst haben, Herr Lämmel. Der Vertrag liegt ja noch gar nicht in der Übersetzung vor. Wir müssen da, glaube ich, mal in Ruhe reingucken. Aber sehr viel Angst habe ich vor diesem Vertrag ganz ehrlich gesagt nicht. Denn so viel wird da nicht verhandelt worden sein, das uns wirklich bedroht. Aber wir haben die Möglichkeit, es besser und sogar deutlich besser zu machen.
Ja, wir Sozialdemokraten – das will ich an dieser Stelle betonen – stehen zu Freihandelsabkommen, und zwar zu Wandel durch Handel, anders als Sie es gesagt haben, Frau Weeser – das kann aber auch ein Versprecher gewesen sein –: nicht Handel zum Wandel, sondern Wandel durch Handel. Wir Sozialdemokraten stehen hier zwischen zwei extremen Positionen; das will ich auch mal betonen: zwischen denen, die Freihandelsabkommen grundsätzlich ablehnen – das halte ich für vollkommen weltfremd –,
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und denen, die Freihandel frei von Werten und Standards durchsetzen wollen. Wirtschaft und Freihandel gehen eben nicht vor Sozialstandards, Umweltstandards und Nachhaltigkeit.
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Es geht hierbei um einen gerechten, regelbasierten Welthandel, und den erreicht man eben nicht durch Dumping. Gerade die EU ist eine Werteunion – ich habe es vorhin betont –, und das muss sich in modernen Handelsabkommen auch widerspiegeln. Dafür plädieren wir auch in der Zukunft. Und deshalb an dieser Stelle: Lassen Sie uns darüber weiterhin reden. Aber in der Form, wie Sie es eingebracht haben, werden wir dem nicht zustimmen können.
Mein herzliches Glück auf!
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Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Klaus Ernst das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann es nicht lassen: Als Erstes muss ich was zu dem Kollegen Lämmel sagen. Herr Kollege Lämmel, Sie haben gerade das Investitionsabkommen zwischen China und Europa gelobt. Das wundert mich jetzt insofern, als das ja noch gar nicht vorliegt. Keiner kennt das. Oder, Herr Altmaier, haben Sie das dem schon gegeben und uns nicht? – Das geht ja auch nicht. Sie loben hier also ein Abkommen, Herr Lämmel, das überhaupt noch nicht bekannt ist, und finden das großartig.
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Das ist genau das Problem bei dieser Handelspolitik: dass es oft Verträge gab – das haben wir bei CETA erlebt –, und keiner hat sie gekannt, dass wir als Abgeordnete überhaupt keinen Zugang zu den Vertragstexten hatten, dass wir dazu beitragen bzw. es hinkriegen mussten, dass wir überhaupt reinsehen durften; dabei hätten wir in die amerikanische Botschaft gehen sollen, um das TTIP-Abkommen einzusehen. Diese Geheimhalterei ist ein Grund, warum die Bürger Europas diese Politik nicht einfach abnicken, und das ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Zum Zweiten. Ich habe wenig Zeit, aber ich komme nicht umhin, das jetzt doch auch noch zu dem Vertreter der AfD zu sagen: Da habe sich der neue Präsident jetzt ins Amt – wie haben Sie das formuliert? -
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hingetrickst. Ja, wie kommen Sie denn dazu? Langsam kriege ich vor Ihnen auch Angst. Wenn Sie ein Wahlergebnis nicht akzeptieren, dann stellen Sie sich künftig auch auf die Stufen hier vor dem Reichstag und randalieren, gehen rein und hauen die Leute nieder?
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Ist das das, was sie wollen? Sie machen eine Politik, meine Damen und Herren, die die Demokratie infrage stellt, wenn Sie Wahlergebnisse in der Demokratie infrage stellen. Also hören Sie auf mit diesem Unfug!
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Kollege Ernst, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Brandner?
Er kann gerne danach eine Zwischenbemerkung machen. Ich habe keine Lust auf diesen Kram.
Nein, nein. Das Wort zu Kurzinterventionen erteilt immer noch die Präsidentin.
So. – Jetzt habe ich noch eineinhalb Minuten, weil Sie so einen Quatsch reden, für den FDP-Antrag. Wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass Sie deshalb bei diesem Abkommen so aufs Tempo drücken, weil Sie offensichtlich befürchten, dass Sie in der nächsten Legislatur gar nicht mehr mitreden können, weil Sie nicht mehr im Bundestag sind. Da verstehe ich Ihre Eile. Sie ist inhaltlich nicht geboten, und ich sage Ihnen, warum.
Die Stiftung Wissenschaft und Politik stellt zu diesen Abkommen, die gegenwärtig überall geschlossen werden, in diesem Fall zu dem Freihandelsabkommen mit den Chinesen im pazifischen Raum, fest – Zitat –: Dieses Freihandelsabkommen stellt
keinen großen Durchbruch hin zu einem liberalen Wirtschaftsraum dar. RCEP ist ein relativ schwaches Handelsabkommen. Es hat nicht das Potential, aus dem asiatisch-pazifischen Raum einen monolithischen Block in der internationalen Handelspolitik zu machen.
Warum also diese Eile? Sie ist gar nicht notwendig.
Aber ich sage Ihnen, wo ein Problem bei diesem Abkommen ist – es gibt viele –: Wenn ein kanadisches Unternehmen in Deutschland investiert, dann kann es, wenn es sich durch deutsche Regulierungen schlecht behandelt fühlt, CETA dazu verwenden, dass es vor ein Schiedsgericht geht – nach wie vor ein eigenes Rechtssystem! Das deutsche Unternehmen, das genau derselben Regulierung unterliegt,
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muss offensichtlich nach Ihrer Ansicht dem schnöden deutschen Rechtssystem ausgeliefert sein.
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Es kann nämlich nicht vor ein Schiedsgericht gehen, weil es in Europa oder in Deutschland ansässig ist. Erklären Sie das mal Ihrer Klientel! Warum stellen Sie mit der wirklich raschen Ratifizierung deutsche Unternehmen schlechter als ausländische Investoren? Das versteht kein Mensch. Das lehnen wir ab, und deshalb lehnen wir auch das Abkommen in dieser Form ab.
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Die letzte Bemerkung. – Ich bin ein wenig schon drüber und muss aufhören.
Herr Kollege Ernst, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ja. – Wenn die Vorredner zum Thema gesprochen hätten und nicht so einen Quatsch, dann hätte ich mehr zum Antrag sagen können.
Herzlichen Dank.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Brandner das Wort.
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Vielen Dank. – Hören Sie auf, zu stöhnen; Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen will. Es wird Sie begeistern.
Herr Kollege Ernst, ich gehe auf einen Aspekt Ihrer Rede ein, den Sie am Anfang in den Vordergrund gestellt hatten, nämlich den, dass die Ergebnisse demokratischer Wahlen zu akzeptieren sind. Ich glaube, wir sind uns alle in diesem Hause einig, dass das genau den Nagel auf den Kopf trifft. Ergebnisse demokratischer Wahlen sind zu akzeptieren. Punkt!
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Meine Frage in diesem Zusammenhang: Sie beschränken sich jetzt mit Ihrem möglicherweise etwas begrenzten Horizont darauf, in diesem Zusammenhang die USA zu erwähnen und den Kollegen Müller. Wie haben Sie es denn persönlich oder wie hat es Ihre Fraktion oder wie hat es Ihre Partei denn vor etwa einem Jahr, Anfang Februar 2020, gehandhabt, als der FDP-Politiker Kemmerich im Thüringer Landtag demokratisch zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und binnen Minuten der linke Mob auf der Straße war, binnen Minuten Ansagen an AfD-Abgeordnete im Thüringer Landtag gemacht wurden: „Geht nicht auf die Straße, draußen erwartet euch Böses von den Gegendemonstranten!“? Wie beurteilen Sie, dass dieser Ministerpräsident unter Druck gesetzt wurde? Seine Familie wurde angespuckt. Frau Merkel hat ihn aus Südafrika zum Rücktritt aufgefordert. Meinen Sie, dass das keine demokratische Wahl in Thüringen war, oder legen Sie da andere Maßstäbe an?
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Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Also, allein die Tatsache, dass Sie hier sitzen, zeigt doch
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– nicht Sie alleine, aber Ihre Freunde –,
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dass wir das Ergebnis demokratischer Wahlen akzeptieren, übrigens alle. Keine der hier sitzenden Parteien hat versucht, das dadurch zu verhindern, dass wir in diesen Reichstag über die Treppe reingehen, vielleicht mit Knüppeln, und den einen oder anderen von euch uns sozusagen greifen. Kein Mensch hat das gemacht. Aber das macht die Klientel, die Sie in den USA verteidigen; und das ist das Verwerfliche.
Man kann Wahlergebnisse von Parlamenten nicht mögen. Man kann übrigens auch – das war der Vorgang in Thüringen – sagen: Die Konstellation, die zu einem Ministerpräsidenten führt, wollen wir verhindern. – Aber niemand hat es mit Gewalt versucht,
(Dr. Roland Hartwig [AfD]: Das ist Unfug, was Sie da sagen!
und was Sie hier machen, ist, die Gewalt zu verteidigen, die Leute – das ist der eigentliche Mob – bei den letzten Vorgängen in den USA praktiziert haben.
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Das ist ein Unterschied.
Ich habe den Eindruck, Sie würden da gerne mitmachen, Sie wären da gern dabei gewesen. Das ist der Eindruck, der entsteht, auch durch die einen oder anderen Vorgänge von Ihren Leuten,
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die wir nun wirklich in der Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen. Deshalb: Wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht, sind Sie der Letzte, der das Recht hat, dazu was zu sagen.
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Das Wort hat Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die politischen und auch die wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA unter Präsident Trump waren schwierig. In der Handelspolitik hat Trump eine Politik gemacht, die auf Eskalation gesetzt hat, auf Sanktionsandrohungen gesetzt hat, auf Strafzölle gesetzt hat und auf die Blockade von multilateralen Organisationen. Es ist gut, dass das mit dem Wechsel zu Biden und Harris in den USA nun vorbei sein wird.
Mit Biden und Harris haben wir die Chance, die Handelspolitik und die handelspolitischen Beziehungen mit den USA neu zu denken. Deswegen ist es auch richtig, dass die FDP sich hier im Bundestag damit beschäftigen möchte. Ich finde es auch anerkennenswert, dass die FDP nachgedacht hat und sich von diesem alten Riesenkonzept TTIP ein Stück weit verabschiedet hat. Ich muss ganz ehrlich sagen: Da ist sie sogar weiter als die CDU, als zum Beispiel der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der vor Kurzem im „Tagesspiegel“ noch einmal die Neuauflage dieses alten toten Freihandelsabkommens TTIP gefordert hat – jenseits jeder Realität.
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– Das hat nicht Trump beerdigt; da kann ich kurz Aufklärung leisten. TTIP ist schon unter Präsident Obama extrem schwierig gewesen.
Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich, um auch realistische Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Denn auch unter Biden wird es nicht einfach in der Handelspolitik. Auch Biden wird auf eine Politik setzen, die sagt: „Buy American“, die auf eine Stärkung des amerikanischen Wirtschaftsraums abzielt. Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man über die Wirtschaftsbeziehungen mit den USA redet.
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Das allerdings nimmt die FDP nur zum Teil zur Kenntnis; denn Sie schlagen jetzt einen Ansatz vor, der vorsieht: Wir gehen die kleinen Schritte und machen erst mal Wirtschaft, und irgendwann machen wir dann Klimaschutz und bearbeiten andere Fragen. – Genau das Gegenteil macht aber Sinn mit den USA. Denn wenn man sich anschaut, wo Joe Biden und Kamala Harris bereit sind, in den internationalen Beziehungen voranzugehen, dann ist das genau beim Thema Klimaschutz der Fall. Das wäre die große Chance, die wir als Europäische Union haben, dass wir den USA ein starkes Angebot machen und sagen: Gemeinsam, EU und USA, setzen wir auf das Thema Klimaschutz.
Die USA werden dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten. Die USA denken beispielsweise darüber nach, Klimazölle einzuführen, etwas, das auch die Europäische Kommission im Rahmen Ihres Green Deals voranbringen will. Wie stark wäre es, wenn die USA und die EU das gemeinsam machen würden und damit auch ein Zeichen an die ganze Welt senden würden, dass sich klimaschädliche Technologien nicht lohnen, dass der Export von klimaneutraler Technologie die Zukunft ist? Diese Vision fehlt allerdings in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
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Ich glaube, das müssen wir als Europäische Union deutlich machen.
Es war hier sehr viel Ängstlichkeit im Raum, sehr viel: Die anderen wollen all das nicht, was wir wollen. – Das stimmt einfach nicht! Es sind extrem viele Länder auf der Welt bereit, mit uns eine progressive Handelspolitik zu machen. Teilweise sind sie sogar weiter; teilweise scheitert es am Willen der Europäischen Union, beispielsweise beim Handelsabkommen mit Neuseeland, wo Neuseeland die guten Vorschläge macht und die Europäische Union das Ganze blockiert.
Es gibt Möglichkeiten, Handelspolitik, Menschenrechte und Klimaschutz progressiv zu verbinden; wir müssen es nur wollen. Das ist der Appell: Starten wir in dieses Jahrzehnt mit einem Blick nach vorne, mit einer Handelspolitik, –
Kollegin Dröge.
– die Klimaschutz und Handel verbindet.
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Das Wort hat der Kollege Stefan Rouenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das asiatisch-pazifische Freihandelsabkommen RCEP ist ein Weckruf – ein Weckruf für das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente in den EU-Mitgliedstaaten und damit auch für uns als Deutschen Bundestag.
Während bei uns von der Europäischen Kommission ausgehandelte Freihandelsabkommen, in denen selbst hohe Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards verankert sind, immer wieder zerredet werden, schafft China mit 14 weiteren Staaten neue Fakten und bildet die größte Freihandelszone der Welt! Alles ohne Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards, aber dafür mit großem Einfluss auf künftige Handelsströme und internationale Standardsetzung. Das können wir nicht wirklich wollen, und da dürfen wir nicht einfach achselzuckend am Spielfeldrand stehen.
US-Präsident Trump und seine Abkehr von der Transpazifischen Partnerschaft, TPP, hat im Asien-Pazifik-Raum ein Vakuum hinterlassen. Und dieses Vakuum hat China jetzt mit RCEP gefüllt. Das sollte uns eine Lehre sein. Wir sollten nicht über Jahre verhandelte Abkommen fahrlässig in den Wind schlagen, wenn solide Vertragstexte erreicht wurden.
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Insbesondere dann nicht, wenn solche Vertragstexte mit demokratisch verfassten Staaten ausgehandelt wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und sicherlich auch von den Linken, in Ihren Sonntagsreden erklären Sie ja immer, die Europäische Union stärken zu wollen. Aber mit Ihrer handelspolitischen Ausrichtung der vergangenen Jahre haben Sie in Wahrheit das Gegenteil gemacht: Sie haben die Europäische Union geschwächt. Sie haben TTIP abgelehnt – von Anfang an. Sie haben das Handelsabkommen mit Kanada abgelehnt, das Abkommen mit Japan, das EU-Singapur-Abkommen; ich könnte die Liste jetzt so fortsetzen.
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Mit Ihren regelmäßigen Forderungen nach umfassenden Nachverhandlungen haben Sie nicht nur unter Beweis gestellt, dass Sie von internationaler Wirtschaftskooperation, selbst mit gleichgesinnten Staaten, sehr wenig halten. Sie haben auch gezeigt, dass Sie in Kolonialherrenmanier den Drittstaaten die Marschrichtung vorgeben wollen.
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Und das hat nichts mit verantwortungsvoller Außen- und Handelspolitik zu tun.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Handelspolitik befindet sich am Scheideweg. Entweder treiben wir den Abschluss von EU-Handels- und ‑Investitionsverträgen mit Nachdruck voran, und zwar auch dann, wenn es an der ein oder anderen Stelle Abstriche gibt! Oder Europa wird bei der Gestaltung der internationalen Wirtschaftspolitik und Standardsetzung erheblich an Einfluss verlieren. Das heißt nicht – das will ich ausdrücklich sagen –: Handelsabkommen zu jedem Preis. Aber es heißt: Pragmatismus und Realismus müssen wieder Einzug in die europäische Handelspolitik finden. Und dazu sollten wir alle unseren Beitrag leisten. Nur dann bleibt Europa handlungsfähig.
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Deutschland trägt hier als größte Volkswirtschaft und Handelsnation in der Europäischen Union eine besondere Verantwortung. Wenn wir bei internationalen Wirtschaftskooperationen auf der Bremse stehen, dann schaden wir vor allem jenen EU-Mitgliedstaaten, die auf vertiefte Wirtschaftsbeziehungen und neue Absatzmärkte dringend angewiesen sind, dringender als wir. Das hat nichts mit europäischer Solidarität zu tun, gerade in Coronazeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, vor diesem Hintergrund wird es auch höchste Zeit, dass wir endlich CETA ratifizieren. Ihr früherer Minister Sigmar Gabriel hat gestern noch einmal in der öffentlichen Anhörung zu CETA unterstrichen: Kanada ist europäischer als so manch ein Land in der EU. Liebe Sozialdemokraten, geben Sie sich endlich einen Ruck, und lassen Sie uns CETA noch bis zum Sommer ratifizieren!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass die bestehenden Handelskonflikte mit den USA so schnell wie möglich beigelegt werden sollten. Aber ich bin nicht so optimistisch, dass wir hier zu schnellen Erfolgen kommen werden. Der von US-Präsident Trump eingeschlagene Weg lässt sich nicht so einfach zurückdrehen, und die amerikanische Handelspolitik unterliegt heute tatsächlich neuen Realitäten.
Und auch wenn wir nichts unversucht lassen dürfen: Wir sollten nicht zu sehr den Traum von der Wiederbelebung oder von einem neuen TTIP träumen, auch wenn wir alle Anstrengungen dafür unternehmen sollten. Wir alle wissen, wie unterschiedlich die handelspolitischen Vorstellungen zwischen der Europäischen Union und Amerika sind. Lassen Sie uns, liebe Freundinnen und Freunde von den Grünen, auf die Bereiche fokussieren, die in der neuen Biden-Administration wirklich erfolgsversprechend sind, und – das haben Sie ja gesagt, Frau Dröge – dazu gehören vor allem Handel und Klima. Hier können wir tatsächlich neue weltweite Standards setzen. Hier machen die Grünen vielleicht ausnahmsweise auch mal mit und lehnen nicht immer alles ab.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Guten Tag, sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ernährung ist ein Lebensthema; das wird uns in der aktuellen Coronasituation wieder besonders bewusst. Wichtig ist die Sicherheit, dass Lebensmittel jederzeit verfügbar sind. Es ist ungewohnt, wenn wie jetzt Kantinen geschlossen sind oder das Schulessen ausfällt. Viele beschäftigen sich jetzt mehr als vorher mit der Zubereitung der Mahlzeit zu Hause.
Ganz klar: Auch die Ernährungspolitik ist durch das aktuelle Geschehen gefordert. Wichtig war uns, schnell dafür zu sorgen, dass auch in der Krise Lebensmittel gut verfügbar sind. Dazu hat die Bundesregierung gemeinsam schnell gehandelt. Wir haben klargestellt, dass die gesamte Land- und Ernährungswirtschaft als systemrelevant einzustufen ist.
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Und wir haben uns gleichzeitig um den Verbraucherschutz gekümmert, zum Beispiel, indem wir darauf geachtet haben, dass Verbraucher nicht getäuscht werden, etwa durch Werbung mit irreführenden Qualitäts- und Gesundheitsversprechen. So ist das Werben mit einem speziellen Coronabezug für Nahrungsergänzungsmittel unzulässig.
Sehr geehrte Damen und Herren, die grundsätzlichen Fragen und Aufgaben der Ernährungspolitik bleiben aber unabhängig von der Krisensituation bestehen. So sind in Deutschland viele Erwachsene, Kinder und Jugendliche übergewichtig. Die Folgen wirken sich nicht nur direkt auf die Betroffenen aus, sondern verursachen auch erhebliche Kosten in unserem Gesundheitssystem.
Und unsere Gesellschaft ändert sich permanent und mit ihr natürlich die Ernährungsgewohnheiten. Kinder essen beispielsweise mittags immer öfter im Kindergarten oder in der Schule. Der Handel bietet neue Vertriebswege über Onlinekanäle an. Die Versorgungsmöglichkeiten werden vielfältiger. Aufgrund der Altersstruktur müssen die besonderen Bedürfnisse gerade auch von unseren Seniorinnen und Senioren verstärkt in den Blick genommen werden. Deshalb habe ich Vernetzungsstellen für Seniorenernährung eingerichtet.
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Umweltschutz, Tierwohl und das Ziel, Lebensmittelverschwendung zu vermeiden, sind weitere Aufgaben. Zu deren Lösungen können auch wir als Konsumenten sehr konsequent beitragen. All das sind neue Anforderungen, auch für eine aktuelle, moderne Ernährungspolitik. Zwei Punkte sind mir dabei besonders wichtig: Erstens: Eine gesundheitsförderliche und nachhaltige Ernährung muss überall möglich sein. Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass sie für unsere Verbraucher im Alltag auch machbar ist.
Deshalb verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz mit dem Ziel, Konsumentinnen und Konsumenten bei ihren Entscheidungen zu unterstützen, ihre Ernährungskompetenz zu stärken und das Angebot an Fertiglebensmitteln zu verbessern. Um dies zu erreichen, stärken wir die Ernährungsbildung, fördern die Forschung, haben ganz konkrete Ziele vereinbart mit der Lebensmittelwirtschaft, mit den Erzeugern. Und dort, wo es nötig ist, passen wir den Rechtsrahmen an. Zum Beispiel habe ich bei Baby- und Kleinkindertees süßende Zutaten verboten.
Unsere Schwerpunkte der laufenden Legislaturperiode zeigen sehr gut, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass wir ganzheitlich denken, dass wir nicht Stückwerk, sondern wirklich eine Politik aus einem Guss machen.
Wir sorgen dafür, dass es beim Kauf von Fertigprodukten einfacher wird, die gesunde Wahl zu treffen. Deshalb werden wir die Zucker-, Fett- und Salzgehalte in Fertigprodukten reduzieren. Dass wir hier auf dem richtigen Weg sind, belegt das wissenschaftliche Monitoring des Max-Rubner-Instituts.
Erkennbarkeit und Orientierung sind in einer Welt, in der Angebote so vielzählig sind, gerade für Verbraucher sehr wichtig. Nach einer hierzulande mindestens – wirklich: mindestens! – zehn Jahre währenden Auseinandersetzung habe ich mit einer Verordnung den Weg für den Nutri-Score in Deutschland frei gemacht und bedanke mich bei allen für die Unterstützung und auch für die konstruktive Diskussion.
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So, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl. Sie wird nicht alles ersetzen. Am Ende muss man selber entscheiden; es ist ein gesamter Lebensstil. Aber wir wollen dabei behilflich sein.
Wir sind mit Frankreich und Belgien die Vorreiter in der EU. Gleichzeitig haben wir unsere deutsche EU-Ratspräsidentschaft erfolgreich dafür genutzt, die Diskussionen und Entscheidungen über ein EU-einheitliches erweitertes Nährwertkennzeichnungssystem voranzubringen. Da sind wir sehr weit gekommen. Aber es gibt auch erhebliche Widerstände; das will ich auch sagen. Es gibt Mitgliedstaaten, in denen das Thema Verbraucherschutz keine so große Rolle spielt.
Wichtig ist, dass wir die Ernährungskompetenzen in allen Lebensphasen fördern: in den 1 000 ersten Tagen – das ist das eine –, in der Schule, aber auch, wenn es um unsere älteren Menschen geht. Ich fordere die Länder auf, die DGE-Qualitätsstandards für Essen in den Kitas und Schulen zur Verpflichtung zu machen. Mit der Gründung eines Instituts für Kinderernährung, den vielen Datenbasen und vor allen Dingen der Evaluation überprüfen wir die Wirksamkeit unserer Politik.
Ernährung geht uns alle an. Sie bestimmt unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit, unsere Lebensqualität. Sie hat Auswirkungen auf die Umwelt, sie hat Auswirkungen auf unser Klima, auch weltweit. Deshalb sage ich: Es ist kein Sprint, es ist ein Dauerlauf. Aber dieser Ernährungspolitische Bericht zeigt, dass wir erfolgreich unterwegs sind.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm von Gottberg für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Frau Ministerin Klöckner! Meine Damen und Herren! Wir erörtern jetzt und hier den im vergangenen Mai vorgelegten ernährungspolitischen Bericht der Bundesregierung. Zu diesem 62 Seiten umfassenden Bericht wurden vier weitere Anträge der Fraktionen gestellt. Dafür bekommt die größte Oppositionsfraktion gerade einmal vier Minuten Zeit, um ihre Bewertung vorzutragen.
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Meine Damen und Herren, seriös und umfassend ist das nicht zu leisten. – Dies vorausgeschickt nun einige Anmerkungen zum Inhalt des Berichtes.
Zutreffend wird festgestellt, dass Fehlernährung und Bewegungsmangel gesundheitliche Folgen für die Menschen haben. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Alarmierend in dem Bericht ist, dass die Übergewichtigkeit der Menschen in Deutschland in den letzten 20 Jahren gravierend zugenommen hat. Das gilt auch – leider – für Kinder.
Richtig ist auch: Derzeit ist in Deutschland eine gesunde, ausgewogene und nachhaltige Ernährung für alle Menschen gewährleistet. Gleiches gilt für die Futtermittelsicherheit. Die Tiergesundheit hat einen hohen Stellenwert; kein oder wenig Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung. Unbelastetes Trinkwasser in Deutschland ist die Regel.
Auch die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung wird angesprochen und angestrebt. Der Bericht nennt zahlreiche Initiativen der Bundesregierung, um das Bewusstsein der Menschen für eine gesundheitsbewusste Ernährung zu schärfen. Ein Schwerpunkt hierbei ist die Ernährungsbildung in den Schulen.
Das Dokument ist aber auch ein Zeugnis für die ausufernde Bürokratie in unserem Land. 79 Fußnoten braucht ein 62 Seiten umfassender Bericht nicht zu haben.
Inhaltlich gibt es an der Vorlage wenig auszusetzen. Es überrascht, was die Bundesregierung an Details in diesen Bericht hineinpackt. Es stellt sich schon die Frage, ob das alles in einen ernährungspolitischen Bericht hineingehört. Da es hier aber auch um Produktsicherheit für die Verbraucher geht, kann man die gestellte Frage vielleicht mit Ja beantworten. Aber auch eine gegenteilige Auffassung ist vertretbar.
Da wird die Schadstofffreiheit von Kosmetika gefordert. Vor schädlichen Chemikalien in den Tätowierungsmitteln wird gewarnt. Der Konsum von elektronischen Zigaretten wird angesprochen. Auch die Reform der EU-Spirituosenverordnung darf nicht fehlen – Beispiel: Eierlikör verfeinert mit Kirschwasser. Meine Damen und Herren, gehört das in einen ernährungspolitischen Bericht?
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Die gleiche Frage ergibt sich auch für die Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter in den Entwicklungsländern; Seite 60 des Berichts.
Auf den letzten Seiten des Berichts werden lobenswerte globale Ziele der Bundesregierung hinsichtlich der Ernährungspolitik genannt. Beispiele: Das Menschenrecht für angemessene Nahrung weltweit verwirklichen. Die Unterstützung des Welternährungsprogramms fortsetzen. Hunger und Mangelernährung in den Entwicklungsländern beseitigen. Die Tropenwälder als Quelle der Nahrungsmittel erhalten.
Abschließend. Der Bericht hat ein nicht unerhebliches Defizit: In einem 62 Seiten umfassenden ernährungspolitischen Bericht gehört unverzichtbar eine Aussage über die Lebensmittelnotversorgung in Deutschland in Krisenzeiten. Diese unverzichtbare Daseinsvorsorge hat man offensichtlich bei der Abfassung des Berichts nicht im Blick gehabt.
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Die AfD empfiehlt diesbezüglich, einen kurzen Nachtrag zum ernährungspolitischen Bericht 2020 anzufertigen. Der nächste Bericht erscheint ja erst 2024.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Für die SPD hat nun die Kollegin Ursula Schulte das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Ernährungspolitische Bericht der Bundesregierung beleuchtet den Zeitraum von 2016 bis 2020 und zeigt – und darüber freue ich mich sehr –, wie bedeutend das Thema Ernährung in den letzten Jahren geworden ist. Der Bericht führt uns aber auch vor Augen, dass es im 21. Jahrhundert noch immer nicht gelungen ist, den Hunger zu beseitigen. 820 Millionen Menschen hungern weltweit, und mehr als 2 Milliarden Menschen sind von Mangelernährung betroffen. Das ist beschämend, auch weil gleichzeitig 1,3 Milliarden Tonnen genießbarer Lebensmittel jedes Jahr weltweit vernichtet werden, mindestens 12 Millionen Tonnen allein in Deutschland. Diese Zahlen mahnen uns, das Menschenrecht auf Nahrung niemals aus den Augen zu verlieren.
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Die Coronapandemie hat die Situation gerade in den ärmsten Ländern noch einmal verschlimmert. Aber auch in den USA, dem Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, wissen die Menschen nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, sie sind zunehmend auf Lebensmittelspenden angewiesen. Unser Sozialstaat hat sich in der Coronakrise, wie ich finde, wieder einmal bewährt und in vielen Fällen für schnelle Hilfen gesorgt. Wie oft habe ich im letzten Jahr den Satz gehört: Was für ein Glück, dass ich während dieser Pandemie in Deutschland leben darf. – Die Menschen meinen diesen Satz wirklich ernst. Wir können also alle zu Recht stolz auf unseren Sozialstaat sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich gesund ernähren will, muss über entsprechende Kompetenzen verfügen, aber er muss sich auch gesunde Nahrungsmittel leisten können. Der Bericht erkennt den Zusammenhang zwischen Armut und ungesunder Ernährung an. Insbesondere Kinder aus benachteiligten Familien ernähren sich schlechter, sind häufiger krank oder übergewichtig. Die SPD-Fraktion hat zum Thema Ernährungsarmut ein umfangreiches Positionspapier verabschiedet. Viele unserer Forderungen decken sich mit denen des Wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz. Uns eint auch die Forderung nach einer kostenlosen Kita- und Schulverpflegung nach DGE-Standards in ganz Deutschland. Damit können wir den Ernährungsstatus aller Kinder verbessern und gleichzeitig für mehr Chancengleichheit und weniger Diskriminierung sorgen.
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Wer Existenzängste hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, der hat den Kopf nicht frei, sich auch noch um gesunde oder gar nachhaltige Ernährung zu kümmern. Deswegen gehören die Abschaffung prekärer Beschäftigung und ein Mindestlohn von 12 Euro mit in die Debatte über gesunde Ernährung.
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Mir liegt auch das Thema Ernährungsbildung sehr am Herzen, und zwar von der Kita an. Die Bundesländer müssen das endlich in ihren Bildungsplänen berücksichtigen. Ich begrüße sehr das aktuelle Forschungsprojekt der Europa-Universität Flensburg, mit dem nach Möglichkeiten für eine gezielte Ernährungsbildung gerade für verletzliche und bildungsferne Bevölkerungsgruppen gesucht wird. Das ist genau der richtige Weg.
Im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung – Frau Klöckner, Sie haben es auch erwähnt – leisten die Vernetzungsstellen für Schul- und Kitaverpflegung sowie Seniorenverpflegung bereits gute Arbeit. Sie sind aber immer noch zu wenig bekannt. Es gilt, die kommunalen Verwaltungen und Räte stärker für das Thema zu gewinnen. Oft wird ja gedacht, gutes und gesundes Kantinenessen sei um ein Vielfaches teurer; wir wissen aber aus Untersuchungen und auch aus Gesprächen etwa mit der Berliner Kantine Zukunft, dass das so nicht stimmt.
Es sollte auch selbstverständlich sein, dass in allen Schulen Wasserspender vorhanden sind; denn das Lieblingsgetränk der Kinder, gesüßte Limonade, ist nicht gesund und sorgt für Übergewicht, wenn man nicht Maß halten kann. Eine Limonadensteuer könnte hilfreich sein, ausdrücklich nicht als Einnahmequelle des Staates, sondern in erster Linie als Lenkungssteuer. Wir können uns da ein Vorbild an unserer Steuer auf Alcopops nehmen, deren Aufkommen heute nur noch ein Zehntel dessen beträgt, was im ersten Jahr eingenommen wurde. Wir haben durch diese Alcopopsteuer also das Ziel erreicht. Die mit einer Limonadensteuer gewonnenen finanziellen Mittel könnten wir umgehend in Bewegungs- und Sportprogramme für Kinder investieren; denn da sind wir uns doch hoffentlich alle einig: Gesunde Ernährung und Bewegung gehören unbedingt zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sich gut und gesund zu ernähren, setzt Vertrauen in die Produzenten und Hersteller unserer Lebensmittel voraus. Ich vertraue den Landwirten bei mir vor Ort, die sich Tag für Tag bemühen, gesunde Produkte zu erzeugen.
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So wie mir geht es vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern; denn regionale Produkte werden immer beliebter. Der Kennzeichnung „Regionalfenster“ mit seinen über 4 000 Produkten stellen die Verbraucherinnen und Verbraucher ein sehr gutes Zeugnis aus.
Die Landwirte allerdings fühlen sich nicht wertgeschätzt. Das liegt unter anderem daran, dass ihre Produkte teilweise verramscht werden. Gerade bei Fleischprodukten sind die niedrigen Preise für mich auch eine ethische Frage; denn das Kotelett war vorher ein lebendiges Mitgeschöpf. Mich macht es sehr nachdenklich, dass immer mehr Familienbetriebe aufgeben, weil sich ihre Arbeit nicht mehr lohnt und weil sie keine Zukunft mehr für sich sehen. Es ist doch an der Zeit, dass wir genau diese Betriebe stärker in den Blick nehmen und auch stärker unterstützen.
Ich denke da an die GAP-Mittel und an die Diskussion gestern Abend: Die GAP-Mittel sollen doch unter anderem das Einkommen der Landwirte absichern; daher kann und will ich nicht verstehen, warum wir über die Flächenprämie das Einkommen von Investoren sichern, die mit Landwirtschaft nichts am Hut haben. Das Geld gehört in die Hände der aktiven Landwirte, insbesondere in die Hände der Familienbetriebe.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns auch ruhig mal als Koalitionäre auf die Schultern klopfen; denn wir haben im vergangenen Jahr viel erreicht für die gesunde Ernährung und für den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Meine Zeit läuft mir trotz der 7 Minuten Redezeit weg, deswegen erwähne ich nur: Die Einführung des Nutri-Score, die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung, das Verbot von Zucker in Kinder- und Säuglingstees – das alles kann sich wirklich sehen lassen. Natürlich hätten wir als SPD einiges viel lieber verbindlicher gestaltet. So hätten wir wahrscheinlich schon längst das Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel auf den Weg gebracht; aber wir sind beharrlich und konnten mit dem Haushalt 2021 noch mal Akzente setzen im Bereich der Ernährungsarmut und Tafeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mir wirklich Sorge bereitet, ist das Thema Lebensmittelkontrollen. Auch wenn hier in erster Linie die Länder zuständig sind, dürfen wir die Augen doch nicht davor verschließen, dass es einfach zu wenig Kontrolleure gibt. Immer wieder wird mir gesagt: Wir können wegen Personalmangels unserer Verpflichtung eigentlich nicht im erforderlichen Maße nachkommen. – Die gerade geänderte AVV RÜb wird vom Bundesverband der Lebensmittelkontrolleure anders betrachtet als von Ihnen, Frau Ministerin. Sie sehen darin eine Schwächung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Dabei gehört genau dieser zu den zentralen Elementen der staatlichen Fürsorgepflicht. Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass die Lebensmittel sicher sind. Verstöße gegen das Lebensmittelrecht sind keine Kavaliersdelikte.
Ich hätte Ihnen gerne noch was über Nahrungsergänzungsmittel gesagt, komme aber nicht dazu, weil mir die Redezeit davonläuft. Ich möchte einfach als Fazit der Lektüre des Ernährungspolitischen Berichtes Folgendes sagen: Ich finde, wir haben beachtliche Fortschritte auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung und zu mehr Verbraucherschutz für alle erreicht. Erfolge wollen immer alle gerne für sich reklamieren. Natürlich sage ich auch: Die SPD war hier oft der Motor; aber im Bereich gesunde Ernährung haben wir trotz sonstiger Querelen in der Koalition gut zusammengearbeitet und auch im Ministerium oft ein offenes Ohr gefunden. Darüber freue ich mich. So sollten wir im Interesse der Menschen weiter miteinander arbeiten.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun die Abgeordnete Nicole Bauer das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Ministerin, wenn Sie schon von uns abschreiben, dann bitte konsequent und vollständig. Kopieren Sie nicht nur die Forderung eines EU-weiten Tierwohllabels oder der Herkunftskennzeichnung, sondern übernehmen Sie doch dann bitte auch unsere Forderungen zu den Themen Digitalisierung und künstliche Intelligenz;
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denn dann hätten wir eine zukunftsfähige und wettbewerbsfähige Ernährungspolitik.
Mich wundert es auch nicht, dass Sie auf unsere Vorschläge zurückkommen. Es ist doch noch gar nicht so lange her, als der Wissenschaftliche Beirat des BMEL Ihnen, Frau Ministerin, ein sehr schlechtes Zeugnis für Ihre Ernährungspolitik ausgestellt hat. Mir scheint, Sie könnten da ein bisschen Nachhilfe brauchen. Weil wir uns ja als Serviceopposition verstehen, habe ich Ihnen auch tatsächlich drei Ideen mitgebracht: Sorgen wir mit Bildung und Verbraucherkunde für einen selbstbestimmten Lifestyle eines jeden und einer jeden Einzelnen, bauen wir bürokratische EU-Vorschriften zugunsten einer nachhaltigen Landwirtschaft ab, und vermeiden wir Lebensmittelverschwendung durch künstliche Intelligenz. – Das ist mehr als nur eine App.
Sie haben beim Max-Rubner-Institut eine weitere Lebensmittelkennzeichnung in Auftrag gegeben. Diese ist völlig überflüssig. Diese Forschungsgelder hätten wir besser in den Anwendungsbereich der Blockchain und der künstlichen Intelligenz gesteckt, meine Damen und Herren.
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Wir Freie Demokraten setzen auf Fortschritt und Digitalisierung und haben hier drei wesentliche Forderungen in unserem Antrag: erstens hinderliche Vermarktungs- und Handelsnormen zu überprüfen und gegebenenfalls abzuschaffen, zweitens nachhaltige und intelligente Verpackungen in unseren Alltag zu integrieren und drittens ein dynamisches Verderbslimit einzuführen statt eines starren Mindesthaltbarkeitsdatums.
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Sorgen wir also für mehr Nachhaltigkeit beim Umgang mit unseren Lebensmitteln und unseren Ressourcen.
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Sorgen Sie, Frau Ministerin, dafür, dass unsere qualitativ hochwertigsten Lebensmittel endlich das kosten, was sie tatsächlich wert sind, nämlich mehr. Die Bäuerinnen und Bauern verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung. Viele von ihnen haben aber das Gefühl, von Ihrer Politik verschaukelt zu werden. Und ganz ehrlich: Ich kann es verstehen.
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Aktuelles Beispiel: die Bauernmilliarde. Erst zwingen Sie die Landwirte zu Investitionen in neue Gerätschaften durch Regelungen wie die Düngemittelverordnung, und dann versagt bei der Vergabe der Fördermittel das System. Das ist doch peinlich.
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Ja, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Aber sind Sie doch dann bitte so ehrlich und geben zu, dass der Start dieser Förderplattform nicht der große Erfolg war. Sogar aus Ihren eigenen Reihen ist zu hören, dass es ein „politischer Totalschaden“ ist. Frau Ministerin, Kompetenz, Wertschätzung, Verlässlichkeit und Planungssicherheit schauen anders aus.
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Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Klöckner, Ihr Bericht, um den es heute geht, zeigt das, was Sie in den letzten Jahren gemacht haben, oder besser: all das, was Sie nicht gemacht haben; denn Sie gehen die ernsthaften Probleme, die es in der Ernährungspolitik gibt, nicht entschlossen an. Teilweise wird es statt besser sogar schlechter. Zum Beispiel gibt es nach wie vor viel zu wenige Lebensmittelkontrollen. Und Sie, Frau Klöckner, haben die Pflichtzahl sogar noch reduziert. Das ist unverantwortlich.
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Der Stillstand beim Tierwohl ist wirklich ein Skandal. Nach wie vor werden die meisten Tiere in viel zu engen Ställen gehalten, über Hunderte, Tausende Kilometer transportiert. Von dem Grauen in vielen Schlachthöfen will ich gar nicht reden. Ihr Tierwohllabel ist und bleibt eine Alibiveranstaltung. Es täuscht Verbesserungen vor, die es kaum gibt. Das geht so nicht.
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Nächster Punkt: ernährungsbedingte Krankheiten – nach wie vor ein wachsendes Problem. Ungesunde Fertigprodukte mit viel Zucker, Salz und Fett leisten dazu einen wesentlichen Beitrag. Aber statt die Lebensmittelindustrie zu verpflichten, ihre Rezepturen zu verändern, setzen Sie weiterhin auf freiwillige Selbstverpflichtung. Das ist wirklich ein Witz. Sie feiern zum Beispiel die angeblich große Zuckerreduktion von 7,5 Prozent in Kinderjoghurts. Dabei heißt das konkret, dass statt der viel zu großen Menge von 15 Gramm Zucker pro 100 Gramm jetzt 14 Gramm Zucker drin sind; also wirklich lächerlich.
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Es hat einen Grund, warum besonders in Fertigprodukten so viel Zucker, Salz und Fett drin sind; denn das sind billige Geschmacksträger. Sie zu reduzieren, reduziert die Gewinnmargen der Lebensmittelkonzerne. Das wollen diese Konzerne nicht. Dieser Wunsch der Lebensmittelkonzerne ist Ihnen doch Befehl, Frau Klöckner. Aber das geht so nicht.
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Ernährungsbedingte Krankheiten betreffen Menschen aus allen Einkommensschichten, überproportional betreffen sie aber Menschen mit niedrigem Einkommen. Das ist Fakt. Die Bundesregierung behauptet, das läge nicht am niedrigen Einkommen, jeder könne sich in Deutschland gut ernähren. Dazu möchte ich nur eins sagen: Die Schlangen vor den Tafeln sprechen da eine andere Sprache.
Sehen wir uns die Hartz-IV-Regelsätze an. Für ein Kind zwischen 6 und 14 Jahren sind nur 4 Euro am Tag für Essen und Trinken vorgesehen. Ja, ich kenne Ihre Rechenmethoden, statt mit realen Preisen für gutes Essen rechnen Sie mit dem Billigsten vom Billigen. Die Menschen müssen jeden Cent dreimal umdrehen. Ich finde das offen gesagt menschenverachtend.
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Gerade für Kinder ist Mangelernährung ein sehr großes Problem; denn dadurch werden die Weichen für die Gesundheit von Anfang an falsch gestellt.
Wir beantragen daher heute erneut eine Maßnahme, die dazu führen würde, dass es Mangelernährung bei Kindern in unserem Land nicht mehr gibt. Das sagen auch die Experten aus Ihrem Ministerium, Frau Klöckner. Wir brauchen gesundes Essen in Kitas und Schulen für alle Kinder. Damit es eben wirklich für alle Kinder da ist, muss es beitragsfrei sein.
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Darum: Nehmen Sie unseren Antrag an.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Renate Künast das Wort.
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Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es mit einem massiven Problem von Fehlernährung zu tun: hier in Europa und weltweit. Im Ergebnis gibt es zwei Gruppen. Die eine Gruppe hat schlicht und einfach zu wenig zu essen, die andere isst zu viel vom Falschen: Softdrinks, hochverarbeitete Lebensmittel, sogenannte Frühstückscerealien. Das ist unser Problem.
Dass es ein Problem ist – mit allen Folgeerkrankungen –, haben wir niemals deutlicher gesehen als jetzt in Zeiten von Corona, wo Menschen mit Diabetes, Menschen mit einem massiven Übergewicht, Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Menschen mit Problemen im Bewegungsapparat in die Gruppe der Risikopatienten gehören, und zwar egal wie alt sie sind. Deshalb muss man sagen: Unser Ernährungssystem ist gescheitert.
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Das ist keine gesunde Ernährungsumgebung, die wir haben. Das finden nicht nur wir Grüne so, sondern es hat, wenn ich es einmal adressieren darf, im Jahr 2018 ein Bündnis aus 15 Ärzteverbänden, Fachorganisationen, Krankenkassen plus Ärztinnen und Ärzte gegeben, das gesagt hat: Wir müssen wirksame Maßnahmen gegen Fehlernährung ergreifen.
Der Wissenschaftliche Beirat des Ministeriums hat im Sommer 2020 gesagt: Wir brauchen eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung des Politikfeldes Ernährung. Wir brauchen verbindliche Maßnahmen, und wir brauchen Steuerungsmaßnahmen. Im Verhältnis zu anderen Ländern fehlen diese in Deutschland.
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Eine wissenschaftliche Kommission, EAT-Lancet – sie hat ja den Planetary Health Diet erfunden –, hat gesagt: Machen wir einmal etwas für individuelle Gesundheit und planetare Gesundheit, die auch auf uns alle und auf die Bedingungen der Bauern wieder zurückfällt. – Sie hat einen entsprechenden Speiseplan für gesunde und nachhaltige Ernährung gefordert. Und was bieten Sie als Bundesregierung? Freiwilligkeit. Ich sage Ihnen aber: Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei, weil sie nie gewirkt hat.
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– Ja, ich sehe besonders viel Unruhe bei der FDP, weil Sie wieder an Shareholder-Value denken. Wir reden hier aber über Ernährung und Gesundheit, meine Damen und Herren.
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Gerade bei hochverarbeiteten Lebensmitteln geht es den Unternehmen doch darum, möglichst viele – meine Vorrednerin hat es gesagt – billige Rohstoffe zu bekommen, niedrige Personalkosten zu haben und Gewinne an ihre Aktieninhaber auszahlen zu können. Aber das ist doch nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, wirklich für ein gesundes Ernährungsumfeld zu sorgen, meine Damen und Herren.
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Hier muss ich sagen: Die vielen freiwilligen Maßnahmen reichen mir nicht aus. Reduktionsziele, Ampelkennzeichnung, Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung – alles ist freiwillig. Ich sage Ihnen eines an der Stelle: Was wir brauchen, ist, dass wir jetzt zumindest die Kinder in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen. Da geht es nicht darum, dass die Kinder mehr Wahlmöglichkeiten haben, Frau Ministerin, sondern, dass wir tatsächlich ein Ernährungssystem aufbauen, das angefangen bei der Transparenz des Angebots bis hin zu einer Limonaden- oder Zuckersteuer und zur Einschränkung von Werbung für Süßigkeiten die Dinge mit Blick auf die Kinder wirklich verändert.
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Kollegin Künast.
Wir brauchen eine andere Ernährungsumgebung, weil das eine Gesundheits-, eine Umweltfrage, eine soziale Frage ist, meine Damen und Herren. Da hilft Freiwilligkeit gar nicht, und Schneckenrennen hilft auch nicht.
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Das Wort hat die Kollegin Ingrid Pahlmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab möchte ich, wie die Fraktionen vor mir, der Bundeslandwirtschaftsministerin und ihrem ganzen Haus für die erfolgreiche Ernährungspolitik in den letzten vier Jahren ganz herzlich danken. Ich denke, wir haben gemeinsam viel erreicht.
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Wenn wir uns jetzt allerdings die Statistiken angucken, wird auch deutlich, dass wir wirklich noch viel zu tun haben – ist ja völlig unbestritten –; denn zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in unserem Land sind übergewichtig oder adipös. Das betrifft leider auch Kinder und Jugendliche. Diese Fehlentwicklung – falsche Ernährung zusammen mit zu wenig Bewegung – belastet unser Gesundheitssystem in Milliardenhöhe. Eigentlich wissen wir alle, was wir falsch machen, trotzdem hapert es ganz oft an der Umsetzung der guten Vorsätze.
Wir als Union wollen nicht bevormunden, sondern die gesunde Wahl zu einer leichten Wahl machen.
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Deshalb sind die vielen Programme des BMEL wie die Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz sowie das Verbot von gesüßten Kinder- und Säuglingstees und die Förderung von IN FORM usw. immens wichtig und müssen weitergeführt werden.
Ernährung gehört nun einmal zu den ureigenen Bereichen unseres Lebens. Deshalb sollte jeder und jede befähigt werden und auch die Möglichkeit haben, sich gesund und abwechslungsreich zu ernähren. Dafür setzen wir mit unserer Politik den richtigen Rahmen. Egal ob zu Hause, bei der Arbeit, unterwegs, in der Kita, in der Schule oder auch im Seniorenheim: Gemeinschaftsverpflegung nach DGE-Standards muss der Maßstab sein. Dafür kämpfen wir. Dafür treten wir mit unserer Ernährungspolitik ein. Wir wünschen uns hier allerdings stärkere Unterstützung von den Kulturministerien der Länder; denn je früher man Ernährungswissen erlangt und das Handling erlernt, umso leichter fällt es auch, gesund und fit durchs Leben zu kommen.
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Wenn nun die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich im Raum steht, dann sollten wir die Chance nutzen, bei der Umsetzung Ernährungsbildung in Theorie und Praxis mitzudenken und nicht isoliert zu betrachten.
Die Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige gesunde und sichere Lebensmittel stehen uns in unserem Land zur Verfügung. So gehören unser Dank, unsere Anerkennung, aber auch unsere Rückendeckung dem landwirtschaftlichen Berufsstand, der für seine Leistungen wirtschaftliche Preise erhalten muss. Die Protestaktionen vor den Toren des Lebensmitteleinzelhandels haben allerdings nur zu blumigen Bekenntnissen der Handelsriesen geführt und zu Zusagen, die zum Teil leider nicht lange gehalten haben. Dieses Verhalten ist unehrenhaft, unanständig und auch weit entfernt von Verhandlungen auf Augenhöhe.
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Gute, nachhaltige Produktion hat ihren Preis. Da bedarf es eines Umdenkens aller Beteiligten: über Handelsketten, Genossenschaften und verarbeitende Industrie hinweg. Deshalb werden wir beim Verbot der unlauteren Handelspraktiken ganz genau hinschauen und gegebenenfalls auch deutlich nachschärfen.
Ich muss aber sagen: Auch wir Verbraucher sind gefragt. Lockangebote des Lebensmitteleinzelhandels stehen in der Regel nicht für faire, gerechte Preise. Wir alle haben die Macht, wirtschaftliche und sozial nachhaltige Lebensmittelproduktion in unserem Land zu unterstützen. Nutzen wir diese Macht! Schauen wir ganz genau hin! Kaufen wir regional und stärken so mit unserem Kaufverhalten die Bemühungen der Landwirtschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Bundesministerin! Eigentlich würden wir heute Abend alle unseren Zweitwohnsitz auf das Messegelände in Berlin verlegen, weil Internationale Grüne Woche ist. Das ist die Messe überhaupt, auf der mit internationalen Gästen, die aus allen Ländern der Welt zu uns kommen, über Ernährung diskutiert wird. Leider findet diese aus den bekannten Gründen nicht statt. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir heute über den Ernährungspolitischen Bericht 2020 im Deutschen Bundestag diskutieren.
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Der vorliegende Ernährungspolitische Bericht bezieht sich auf den Zeitraum Juni 2016 bis März 2020. Ich bin gespannt, wie der Bericht über den Zeitraum der Coronapandemie aussehen wird; denn die Coronapandemie hat auch etwas im Ernährungsverhalten unserer Bevölkerung verändert. Das sollte uns zu denken geben.
Wir haben – das ist meine größte Sorge – viel zu wenig Bewegung und viel zu wenig sportliche Aktivität. Deshalb ist es aus meiner Sicht für die Gesundheit unserer Bevölkerung existenziell, dass unsere Sportvereine, unsere Schwimmhallen und unsere Wintersportvereine nach dieser Pandemie schnell wieder in die Gänge kommen, sodass wir uns wieder sportlich betätigen können.
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Bewegung ist ein wichtiger Ausgleich und Baustein für ein gesundes Leben zusammen mit der richtigen Ernährung.
Ernährungskompetenz war noch nie so gefragt wie in der Coronazeit. Wir wissen, dass zehnjährige Kinder in der Lage sind, ein iPhone zu bedienen; ob sie Eier kochen können, weiß ich aber nicht. Wir wissen, dass in manchen Haushalten nicht die Kompetenz vorhanden ist, aus einem Sack Kartoffeln einen schönen Kartoffelsalat herzustellen.
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Ernährungsbildung und Ernährungsaufklärung sind die Gebote der Stunde, gerade in der Coronazeit. Das bedeutet Information sowie die Aufklärung und Schulung unserer Verbraucherinnen und Verbraucher. Hier sind auch die Länder gefordert, in den schulischen Einrichtungen tätig zu werden. Wir müssen hier stärker zusammenarbeiten und mehr Maßnahmen nach vorne bringen.
Eines noch: Wenn man über Ernährung redet, muss man auch über die Produktion von Nahrungsmitteln reden. Wir sind in Deutschland in der Lage, die weltweit gesündesten Lebensmittel zu produzieren. Deshalb muss man in einer Ernährungsdebatte auch unseren Bäuerinnen und Bauern für ihre tägliche Arbeit, dafür, dass sie uns – gerade auch in Coronazeiten – mit Nahrungsmitteln versorgen, danken. Das ist die wichtigste Aufgabe unserer Bäuerinnen und Bauern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirkungsvolle und sichere Impfstoffe sind entscheidend, um die Pandemie dauerhaft zu bezwingen, und dabei ist Eile geboten; denn durch seine Mutationen verbreitet sich das Virus vermutlich schneller und leichter. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, jetzt alle Möglichkeiten zu ergreifen, um die Produktionskapazitäten für Impfstoffe schnellstmöglich zu erhöhen.
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Ich teile die Kritik am Missmanagement der Bundesregierung bei der Bestellung und Verteilung der Impfstoffe zum Teil. Aber das ist gar nicht die entscheidende Frage. Denn entscheidend sind weniger der Zeitpunkt und der Umfang einer Bestellung. Entscheidend ist der Zeitpunkt der tatsächlichen Lieferung.
Wenn die EU oder Deutschland nun 300 Millionen Dosen eines Impfstoffes mehr bestellt hätten, so bedeutet das doch nur, dass diese Menge in einem anderen Land, vermutlich in einem ärmeren Land, fehlt. Das Nadelöhr, meine Damen und Herren, sind nicht die Bestellungen, sondern das Nadelöhr sind die Produktionskapazitäten.
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Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht von selbst darauf gekommen sind, sodass Sie Die Linke am Anfang des Jahres darauf aufmerksam machen musste. Es ist wirklich ein Skandal, dass Sie noch immer nicht alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Produktionskapazitäten endlich zu erhöhen.
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Angesichts der globalen Vernetzung kann die Pandemie nicht in einzelnen Ländern oder auf einzelnen Kontinenten dauerhaft erfolgreich bekämpft werden. Deshalb besteht auch ein gemeinsames globales Interesse, die Produktionskapazitäten in Deutschland, in Europa und weltweit deutlich zu erhöhen. Doch die Ausweitung der Produktionskapazitäten wird aktuell verhindert durch Patente, durch Geschäftsgeheimnisse und durch den fehlenden Transfer von Know-how.
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Meine Damen und Herren, angesichts der gesundheitlichen, der sozialen und der wirtschaftlichen Katastrophe, die das Coronavirus ausgelöst hat, ist das nicht länger hinnehmbar. Die Lizenzen müssen jetzt freigegeben werden.
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Für die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe und für den Ausbau der Produktionskapazitäten wurden enorme Steuermittel aufgewendet. Doch anstatt als Gegenleistung für öffentliche Fördergelder und Abnahmezusagen einen schnellen und massenhaften Zugang für alle kostengünstig zu sichern, knickt die Bundesregierung vor den Profitinteressen der Pharmalobby ein.
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Die Bundeskanzlerin hat noch im letzten Frühjahr davon gesprochen – hören Sie zu; Sie werden es nicht oft erleben, dass ich die Kanzlerin zitiere –, dass ein wirkungsvoller und sicherer Impfstoff als „globales öffentliches Gut“ zur Verfügung stehen sollte. Ich finde, recht hat sie.
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Doch dagegen lief der Verband Forschender Arzneimittelhersteller sofort Sturm – erfolgreich, wie sich nun zeigt. Meine Damen und Herren von der SPD und von der CDU/CSU, das ist der Preis, den man zahlt, wenn man einen Pharmalobbyisten zum Gesundheitsminister macht.
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Nach den Epidemien SARS und MERS hat der europäische Pharmaindustrieverband den Vorschlag der EU-Kommission abgelehnt, zu den Coronaviren zu forschen. Der Pharmaindustrie waren die Gewinnaussichten zu niedrig, das unternehmerische Risiko zu hoch. Mit staatlichen Fördergeldern und Abnahmezusagen haben Sie genau dieses Risiko in der Pandemie vollständig beseitigt.
Aber wo ist die Gegenleistung der Pharmaindustrie? Meine Damen und Herren, warum schöpfen Sie die rechtlichen Möglichkeiten nicht aus, die Sie sich selbst mit dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz gegeben haben? Zwingen Sie die Impfstoffhersteller, Lizenzen zu vergeben, damit die Bekämpfung der Pandemie endlich Vorrang vor den Profitinteressen der Pharmaindustrie bekommt.
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Die Pandemie wird entweder weltweit besiegt oder gar nicht. Doch gerade auf globaler Ebene versagt die Bundesregierung leider vollständig. Die Regierungen Südafrikas und Indiens haben bei der Welthandelsorganisation den Antrag gestellt, den Schutz von Patenten auf Medikamente und Impfstoffe zur Bekämpfung der Coronapandemie auszusetzen, solange diese andauert. Auf meine Frage im Unterausschuss Globale Gesundheit hat die Bundesregierung erklärt, dass sie diese Initiative nicht unterstützt.
Meine Damen und Herren, das ist nicht nur unsolidarisch gegenüber den Menschen in den ärmeren Ländern, sondern das ist auch eine grobe Missachtung unserer eigenen Interessen. Denn, wie gesagt, erst wenn ein Großteil der Menschen weltweit vor dem Virus und weiteren Mutationen geschützt ist, ist auch unser eigener Schutz dauerhaft gesichert. Ich bitte Sie deshalb sehr, sehr dringend: Unterstützen Sie unseren Antrag!
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Das Wort hat Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Kessler, zu Beginn kann ich Ihnen in einer kleinen Passage recht geben: Uns eint hier im Hohen Hause die Absicht, möglichst schnell und umfassend der Coronapandemie die Stirn zu bieten und durch aussichtsreiche Maßnahmen diesen Kampf zu gewinnen.
Für mich als Gesundheits- und als Entwicklungspolitiker sehe ich das naturgemäß nicht nur durch die Brille der deutschen Interessen, sondern insbesondere auch der weltweiten Interessen, weil es – dies haben Sie richtig zitiert – allgemeine Meinung ist, dass wir den Kampf gegen Corona nur weltweit oder gar nicht gewinnen können.
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Bedauerlicherweise endet aber an dieser Stelle unsere Gemeinsamkeit; dies ist für Sie wahrscheinlich nicht überraschend. Zu meinem Bedauern holen Sie an dieser Stelle wiederum die gute Keule der Ideologie raus, und stereotyp, fast wie in Form eines Rituals, wird die Industrie als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung beschrieben. Genau das Gegenteil ist natürlich der Fall.
Womit haben wir es an dieser Stelle zu tun? Wir haben es mit einem hochkomplexen neuen Impfstoff zu tun, für den keineswegs weltweit die Produktions- und Abfüllstraßen in Warteschleife stehen. Vielmehr müssen wir uns mit einer qualitätssichernden Herstellung auseinandersetzen, die bis jetzt nur an wenigen Orten dieser Welt möglich ist. Das ist für diese neue Art der Bekämpfung der Pandemie ein wichtiges Kriterium, weil wir natürlich auch potenzielle Nebenwirkungen, Veränderungen während des Produktionsprozesses, also Qualitätssicherung, im Interesse des Patienten unbedingt im Auge behalten müssen. Da macht es überhaupt keinen Sinn, jetzt wie mit einem Füllhorn die Patente jedem Beliebigen in die Hände zu geben; denn in diesem frühen Stadium des Prozesses ist die notwendige Kontrolle nicht gewährleistet, und diese haben wir alle hier zu verantworten.
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Der zweite Punkt, der natürlich eine große Rolle spielt, ist die Frage der dauerhaften Überwachung. Pharmakovigilanz, die Haftungsfrage – all das setzt kontrollierte Prozesse voraus, und auch das kann ich nicht durch eine beliebige Weitergabe der Patente gewährleisten.
Tatsächlich ist es so, dass wir alle hier in Deutschland, aber auch weltweit intensiv an einer Ausweitung der Produktionskapazitäten arbeiten. Wir alle haben den Standort Marburg für BioNTech im Auge, und wir haben seit gestern auch die Nachricht, dass am Standort Halle des US-Unternehmens Baxter die Produktionsstränge auf die Herstellung des Impfstoffes gegen Covid-19 umgestellt werden und in absehbarer Zeit auch dort zusätzliche Produktionskapazitäten zur Verfügung stehen. Insgesamt gibt es in der Zwischenzeit schon 216 Fertigungs- und Produktionsvereinbarungen für den Impfstoff und 44 Fertigungs- und Produktionsvereinbarungen für potenzielle Therapien. Alles das sind Wege in die richtige Richtung.
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Zum Schluss will ich an dieser Stelle auch noch bemerken: Die Bundesregierung setzt sich in vielfältiger Hinsicht dafür ein, dass auch schwächere Länder, Entwicklungsländer in die Lage versetzt werden, sich alsbald mit Impfstoff zu versorgen. Auf die logistischen Probleme – Lagerung bei minus 70 Grad und Verdünnung vor der Verabreichung – will ich an dieser Stelle gar nicht eingehen. Die Bundesrepublik hat die Covax Facility, ACT-A und GAVI mit signifikanten Geldmitteln, einmal 100 Millionen Euro und einmal 600 Millionen Euro, aktiv unterstützt.
({3})
Alles das sind konkrete Maßnahmen, um die Verfügbarkeit weltweit zu gewährleisten. Das sind eben keine ideologischen Maßnahmen, sondern das sind konkrete, handwerklich sauber gemachte, finanziell abgesicherte und nachhaltige Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Deshalb halten wir diesen Antrag an dieser Stelle für vollkommen ungeeignet.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Paul Viktor Podolay das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Innovation – ein Begriff, der häufig verwendet wird, ohne seine Bedeutung zu verstehen: von Funktionären, die nie etwas Neues kreieren oder erfinden mussten, von Politikern, die keine Ahnung davon haben, irgendwelche Lösungen zu finden. Eben diese Unwissenheit und Unerfahrenheit mit Dingen des realen Lebens findet man in diesem Antrag der Linken, in dem gefordert wird, die Impfstoffpatente an jedermann freizugeben; denn mit Enteignungen kennen Sie sich ja bestens aus.
Was man in diesem Antrag liest, ist haarsträubend und zeugt von großer Unwissenheit. Das Freigeben von Patenten ist nämlich nicht gleichzusetzen mit der Erhöhung der Produktionskapazitäten; denn Produktionsmöglichkeiten müssen aufgebaut werden, was wegen der hohen Qualitätsanforderungen an die Herstellung von Impfdosen bekanntlich auch in Deutschland eine Herausforderung darstellt.
Was Sie verlangen, ist ein weiterer Meilenstein in der Zerstörung der deutschen Innovationskraft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dies passt zwar zu Ihrer sozialistischen Agenda, trifft den deutschen Bürger jedoch ins Mark! Eigeninitiative, geistiges Eigentum und Wille zur Innovation müssen weiterhin geschützt werden; denn Hersteller brauchen Anreize für die Entwicklung von Impfstoffen. Was soll ein Unternehmen motivieren, so viel Zeit und Geld zu investieren, um ein Patent zu finden, das dann gratis an alle verteilt wird? Altruismus? Sind die schon so weit abgedriftet? Das ist Sozialismus pur!
({0})
Deutschland kommt seinen internationalen und humanitären Verpflichtungen bereits großzügig nach: Um die weltweiten Produktionskapazitäten auszugleichen, unterstützt Deutschland die Covax-Impforganisation, die der WHO untersteht, bereits mit mehreren hundert Millionen Euro. Die Initiative soll reichen und armen Ländern gleichermaßen einen fairen Zugang zu wirksamen Impfstoffen gewährleisten. Es gibt also keinen Anlass für Ihren Alarmismus! Außer natürlich die bevorstehende Bundestagswahl.
Um in die Zukunft zu schauen und unser Land wieder aus der Misere herauszuführen, ist es an der Zeit, logisch und rational zu denken. Wir brauchen jetzt mehr denn je verlässliche gesundheitspolitische Rahmenbedingungen, um den Entwicklungs- und Produktionsstandort Deutschland zu stärken. Viele Menschen werden aufgrund des unwissenschaftlichen Handelns der Regierung mit dem Endlos-Lockdown ihre Arbeitsplätze verlieren. Das ist eine unbequeme Tatsache, die von der Regierung gerne unter den Teppich gekehrt wird. Fakt ist: Wir wurden von unseren Bürgern gewählt, und für die Lebensumstände ebendieser Bürger sind wir verantwortlich!
({1})
Dass Ihnen die zermürbten Menschen da draußen egal sind, haben Sie schon vielfach bewiesen. Wir müssen jeden Arbeitsplatz und jede Investition schützen; denn wer sich selbst nicht hilft, kann auch anderen nicht helfen.
Da Ihnen als Kommunisten grundlegende ökonomische Kenntnisse fehlen, erkläre ich Ihnen nun, was Deutschland braucht und wofür die AfD steht: –
Das schaffen Sie nicht mehr. Sie sind schon über die Redezeit. Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Einen fairen Wettbewerb, erschwingliche Arzneimittel, den Schutz der Innovation und eine ortsgebundene pharmazeutische Industrie, die zur Stabilität unserer durch Corona angeschlagenen Volkswirtschaft beiträgt.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass mich die aktuelle Debatte über die Beschaffung der Coronaimpfstoffe schon sehr stark verwundert. Noch im letzten Frühjahr sah es nämlich so aus, als ob wir frühestens in diesem Frühjahr, also so in zwei Monaten, mit dem flächendeckenden Verimpfen beginnen könnten. Es ist also ein absoluter Glücksfall, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt bereits zwei zugelassene Impfstoffe haben. Ein weiterer Impfstoff durchläuft gerade den Zulassungsprozess, und wir werden ihn sehr wahrscheinlich zeitnah zur Verfügung haben.
Die völlig unsachliche Kritik an der Bestellung der Impfstoffe durch die EU, die sich übrigens auch in dem Antrag der Linken wiederfindet und die wir gestern dann noch einmal von der Fraktionsvorsitzenden der Linken zu hören bekommen haben, kann ich absolut nicht nachvollziehen.
({0})
Es ist fast schon lachhaft, wenn Die Linke auf einmal die nationalen Egotrips der USA und Israels zum Vorbild für Deutschland erklärt.
({1})
Der Vorwurf, dass sich Deutschland im Verteilungskampf zuungunsten unserer Partner mehr Impfstoff hätte sichern sollen, ist unsolidarisch und geht am Kernproblem absolut vorbei.
({2})
Wer die Debatte beobachtet hat, muss von der Rhetorik geschockt sein. Wer die Verteilungskämpfe um Schutzausrüstung zu Beginn der Pandemie verfolgt hat, der erlebt jetzt sein Déjà-vu. So zerschmettern wir politisches Porzellan auf dem internationalen Parkett, ohne dass es auch nur das Geringste nützen würde.
({3})
Es grenzt vor diesem Hintergrund fast ans Zynische, dass wir heute einen Antrag beraten, dessen Kern die Solidarität bei der globalen Verteilung der Impfstoffe ist.
({4})
Wenn die Diskussion über die Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe innerhalb Europas bei allen Parteien in diesem Hause bereits eine derartige politische Rhetorik schürt, kann es mit der Solidarität außerhalb der europäischen Grenzen auch nicht weit her sein.
({5})
Und tatsächlich, die Regierungen der reichen Länder einschließlich Deutschlands, die lediglich 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, haben sich bereits mehr als 50 Prozent der Impfdosen gesichert. Gleichzeitig besteht kein einziger Exklusivvertrag mit einem Entwicklungsland. Wir müssen zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass eine Durchimpfung der Weltbevölkerung frühestens bis 2023 erreicht werden kann. Es wird mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung in den ärmsten Ländern gerechnet. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Armutszeugnis für die ganze Welt, aber auch für uns.
({6})
Wer mich kennt, weiß: Ich bin kein Freund davon, die pharmazeutische Industrie zu verteufeln. Ich weiß: Manche im Plenum halten Big Pharma für das personifizierte Böse. Denen kann ich nur entgegnen, dass wir ohne Big Pharma nicht da wären, wo wir heute stehen.
({7})
Ich sehe darüber hinaus, dass es aufseiten der Industrie große Bemühungen gibt, die Nachfrage nach dem Impfstoff zu decken. Es wird geschätzt, dass alle Unternehmen, die dieses Jahr einen Impfstoff auf den Markt bringen werden, ihre gemeinsamen Kapazitäten auf 4,5 Milliarden Impfdosen für das Jahr 2021 ausbauen können. Wir als SPD-Fraktion begrüßen diese Anstrengungen ausdrücklich.
({8})
Aber ich sehe natürlich auch, dass das nicht ausreichend ist. Und ich befürchte auch, dass es am Ende wieder die ärmsten Länder sind, die den größten Schaden tragen. Um das zu vermeiden, müssen sowohl die Bundesregierung als auch die EU Maßnahmen ergreifen, um den globalen Kampf gegen die Pandemie solidarischer zu gestalten.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Ja. – Entschuldigen Sie, ich habe den Wechsel des Vorsitzes nicht mitbekommen. Ich habe mich gefragt: Welcher Mann spricht da?
Ich komme aus Schleswig-Holstein, aus Kiel. Ich wollte nur sagen: Wir haben gestern die Bayern geschlagen. Insofern kann mich nicht erschüttern, dass Sie den Wechsel nicht mitbekommen haben.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie mir das Wort erteilt haben, und herzlichen Glückwunsch nach Schleswig-Holstein.
({0})
Vielen Dank, liebe Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Wenn ich das richtig sehe, sprechen Sie für die Fraktion der SPD. Ich habe drei Fragen:
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass auch der Vizekanzler – meines Wissens Mitglied Ihrer Partei – massive Kritik an der Impfstoffstrategie der Bundesregierung geäußert hat? Auch Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer hat in die Kritik eingestimmt. Warum Sie das jetzt so pauschal zurückweisen, verstehe ich nicht.
Zweitens. Haben Sie der Rede meines Kollegen Achim Kessler ein bisschen gelauscht? Er hat ausdrücklich gesagt, dass er sich keine andere, egoistische Verteilung des Impfstoffs wünscht; vielmehr hat er gefordert, dass die Impfstoffkapazitäten ausgeweitet werden. Dazu würde ich gerne etwas von Ihnen hören.
Drittens. Wie Sie wissen, haben wir in Berlin eine rot-rot-grüne Regierungskoalition.
({1})
Ist Ihnen bekannt, dass in Berlin auf maßgebliches Betreiben der Linken und der SPD-Fraktion ein gemeinsamer Antrag in das Abgeordnetenhaus eingebracht wurde, der ausdrücklich fordert, dass von den entsprechenden Regelungen im Infektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht wird und die entsprechenden Lizenzen freigegeben werden, um die Impfstoffkapazitäten erweitern zu können? Der Regierende Bürgermeister Müller hat hier gestern sehr deutliche Kritik an der Regierung in dieser Frage geübt. Ich würde Ihnen sehr empfehlen, mit Ihren Fraktionskollegen und auch mit Ihren Parteikollegen in Berlin zu sprechen.
Vielen Dank.
({2})
Sehr geehrter Kollege, wenn Sie meiner Rede bis zum Ende gefolgt wären, dann wüssten Sie, was ich dazu gesagt hätte, welche Anstrengungen es braucht. Das ist das eine.
Zum anderen habe ich nicht auf die Rede von Herr Kessler Bezug genommen, sondern auf das, was wir gestern von der Fraktionsvorsitzenden gehört haben.
({0})
Ich habe es mir extra noch einmal angehört. Ich sage sehr explizit – ich finde den Hinweis auch richtig –: Das, was Sie gestern gesagt haben, hat mich umgetrieben.
({1})
Der Vergleich mit USA und Israel hat mich ins Mark getroffen. Das haben Sie gestern so gesagt.
({2})
Ich möchte jetzt gerne weiter ausführen.
({3})
Um zu vermeiden, dass die ärmsten Länder den größten Schaden tragen – das sagte ich bereits –, und um den globalen Kampf gegen die Pandemie solidarischer zu gestalten, muss die EU Maßnahmen ergreifen. Dazu gehören die Aufstockungen der Mittel der COVAX-Initiative der WHO, und dazu gehört auch der konsequente Transfer von Technologien und Forschungsdaten in den von der WHO etablierten Covid-19 Technology Access Pool. Und in letzter Konsequenz gehört auch die Lockerung von Patentrechten für Covidimpfstoffe und ‑therapien dazu, solange die Pandemie andauert. Aktuell passiert in diesen drei Feldern so gut wie nichts.
Ganz besonders ärgert mich die Blockade der Lockerung von Patentrechten mit dem Argument, dass dieser Schritt den Wettbewerb in der Impfstoffverteilung behindern würde. Das ist schlichtweg falsch, und dafür gibt es auch Beispiele. Bereits bei der Bekämpfung von HIV hat sich gezeigt, dass die Aufhebung von Patentmonopolen für die Behandlung von ärmsten Teilen der Weltbevölkerung eine Erfolgsgeschichte ist. Es ist klar, dass die Lockerung von Patentrechten keine Sofortlösung aller Probleme ist. Impfstoffe sind schließlich keine Gummibärchen, und nicht jeder kann sie in der Qualität herstellen, in der sie benötigt werden.
Dennoch bin ich der Meinung, dass eine solche Initiative, besonders mit Blick auf die Impfstoffe, die jetzt in der Pipeline sind, zur Verbesserung der Situation beitragen kann. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung noch einmal ganz tief in sich gehen und überlegen, ob außergewöhnliche Krisen nicht doch außergewöhnliche Lösungsansätze brauchen.
({4})
Ich bin davon überzeugt, dass wir dann dieser Pandemie global beikommen können.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Stamm-Fibich. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Andrew Ullmann, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen der Linken, von mir erhalten Sie eine Goldmedaille, und zwar eine Goldmedaille für Innovationszerstörung.
({0})
Sie stellen nämlich den Schutz von geistigem Eigentum durch Aussetzung des Patentschutzes infrage.
({1})
– Darf ich meine Rede weiter halten, Herr Präsident?
Was Sie nicht begreifen wollen, ist, dass geistiges Eigentum kein Eigentum zweiter Klasse ist, das einfach enteignet werden kann. Ohne Patentschutz fehlt etwas Wichtiges: Anreize, Ideen zu entwickeln, um sie dann anschließend zu verwirklichen.
(Beifall bei der FDP – Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Was ist mit der öffentlichen Förderung?
Wer heute Patentschutz aussetzt, muss mit den verheerenden Konsequenzen von morgen leben. Das wäre Ihre Hypothek.
({2})
Ihre Argumentation: „Während einer Pandemie ist alles anders“, zieht nicht. Natürlich bedarf es bei globalem Gesundheitsschutz der hohen Kunst der multilateralen Zusammenarbeit; aber in Ihrem Antrag wird gar nicht darauf eingegangen. Doch Ihre einfache Lösung, Patentschutz auszusetzen, wird die Wirkung verfehlen und unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten nachhaltig eliminieren.
({3})
In der Theorie klingt das für Sie vielleicht gut; doch wer die Praxis kennt, weiß, dass es nicht funktionieren wird. Bei der Bekämpfung der nächsten Pandemie werden wir wegen fehlendender Innovationen krachend scheitern, und dann wird diese Covid-19-Pandemie wie ein harmloses Vorspiel erscheinen. Sie wollen offensichtlich als Innovationszerstörer in die Geschichte eingehen.
({4})
– Was für ein Quatsch, Herr Kessler, das wissen Sie ganz genau.
({5})
– Ich würde den Kollegen Tino Sorge gerne zitieren; aber das ist sein Zuruf. Ich glaube, das passt eigentlich ganz gut dazu.
Aber offensichtlich kennt sich die Fraktion der Linken mit klinischer Forschung nicht aus. Ich empfehle Ihnen ein Praktikum in den Universitäten, Instituten, Start-up-Unternehmen oder in der Pharmaindustrie.
({6})
Der klinische Forscher bedarf eines langen Atems und Motivation. Es geht um Drittmitteleinwerbung, Ausdauer, Widerstandsfähigkeit gegen Frustration. Dabei entsteht auch Wettbewerb zwischen den Impfstoffen. Ihre planwirtschaftlichen Ideen würden dazu führen, dass vielleicht nur ein Impfstoff – wenn überhaupt! ‑hergestellt würde; möglicherweise würde das nicht ausreichend sein.
({7})
– Einen Moment, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, stellen Sie eine Zwischenfrage; ich freue mich drauf.
Natürlich braucht es auch Geld: Geld für Personal, für Gerätschaften, für Gebäude. Woher soll das Geld kommen? Geld wächst nicht auf Bäumen; das Zauberwort heißt Gewinne. Für die einen sind Gewinne Sünde, aber für die meisten von uns bedeuten Gewinne Investition in die Zukunft; denn ohne Investitionen aus der Privatwirtschaft gäbe es heute keine SARS-CoV-2-Impfstoffe.
({8})
Ohne Investitionen aus der Privatwirtschaft gäbe es keine Produktionsstätten für SARS-CoV-2-Impfstoffe.
Herr Ullmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Fraktionsvorsitzenden der Linken?
Ich erlaube eine Zwischenfrage.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen; Sie haben mich ja förmlich dazu aufgefordert, sie zu stellen. Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass auch Ihr Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender, Herr Lindner, genau wie wir – also nachdem wir es gefordert haben – die Lizenzfreigabe konkret für diese Impfstoffe gefordert hat. Können Sie dazu etwas sagen?
Das Zweite ist: Sie haben es hier so dargestellt, als würden wir fordern, das Patentrecht abzuschaffen. Das ist falsch! Wir fordern, die Möglichkeiten, die das Infektionsschutzgesetz ausdrücklich vorsieht, nämlich einen Lizenzfreigabe für den konkreten Fall, zu nutzen. Übrigens sieht auch das deutsche Patentrecht in Ausnahmefällen zum Schutz des Gemeinwohls ausdrücklich diese Möglichkeit vor. Es geht nicht darum, das Patentrecht auszusetzen; bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!
Danke schön.
({0})
Vielleicht darf der Kollege Ullmann antworten.
Also, unser Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender hat sich nicht für die Aussetzung von Patentrechten ausgesprochen.
({0})
– Nee, schauen Sie sich das noch mal an! Es ist auch in der Öffentlichkeit entsprechend geschrieben worden. Es geht hier um die Auslizenzierungen, die möglich gemacht werden sollten, und diese Möglichkeit gibt es heute bereits: Firmen können heute auslizenzieren,
({1})
es bedarf keiner zusätzlichen, staatlichen Regelung. Für diese Auslizenzierungen sind hohe rechtliche Hürden angesetzt. Und es funktioniert, es läuft auch bereits – vielleicht haben Sie es nicht mitbekommen –,
({2})
die Zusammenarbeit der Firmen ist heute schon existent. Es gibt Firmen, die die Basistechnologie bereits auslizensiert haben. Ich erwähne hier nur: Gerade bei den mRNA-Impfstoffen sind die Transportmöglichkeiten dieses kleinen Moleküls, in die Zelle hineinzukommen, auslizensiert worden, von Moderna beispielsweise. Das sind Aspekte, die Sie hier völlig unberücksichtigt lassen. Es läuft bereits. Und das ist aus der Privatwirtschaft gekommen und nicht durch irgendwelche planwirtschaftlichen oder Enteignungsmöglichkeiten, die Sie hier vorschlagen.
({3})
So geht Forschung, und so geht auch Innovation.
Ich würde jetzt einfach meine Rede fortsetzen und mit dem letzten Satz beenden.
Sie haben noch einen Satz dazu.
Es ist relativ einfach: Ohne die Privatwirtschaft hätte es die Impfstoffe nicht gegeben, hätte es auch nicht verschiedene Impfstoffe gegeben, hätte es auch keinen Wettbewerb gegeben, der ganz wichtig ist, und ohne Investitionen aus der Privatwirtschaft würden die Produktionskapazitäten nicht ausgeweitet. Das nennt sich übrigens „Kreislauf der Innovation durch Investitionen“.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Ullmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Pandemie bekämpft man nur global, und die Impfung ist in allen Teilen der Welt dabei zentral. In Europa sehen wir dank des Impfbeginns, auch wenn er einige Probleme mit sich bringt, endlich Licht am Ende des Tunnels. Aber aus globaler Sicht fahren wir gerade erst in diesen Tunnel hinein.
Für mehr Impfstoffe braucht es gemeinsame Anstrengungen von Politik, von Wirtschaft und von Zivilgesellschaft – auch und gerade für die ärmeren Länder dieser Welt.
({0})
Hier ist es unabdingbar, dass man nicht nationalstaatliche Lösungen sucht, sondern dass die EU gemeinsam aktiv wird, die COVAX-Initiative der WHO unterstützt und sich an der globalen Impfstrategie beteiligt.
({1})
Eine solche Impfstrategie beinhaltet natürlich auch Patentfragen, aber weltweit. Dazu gehören natürlich die Fragen von Lizenzvergaben. Auch wir Grünen fordern dies in unserem Grundsatzprogramm. Und natürlich ist es auch gang und gäbe in allen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit, solche Fragen zu diskutieren. Lizenzen sind zentral in dieser Frage.
Wir reden zweitens über Technologietransfer und über gerechte Preise, wie es Die Linke ja auch in ihrem Antrag erwähnt. Aber von einer Impfstrategie, meine lieben Damen und Herren von der Linken, ist Ihr Antrag leider weit entfernt.
({2})
Für eine globale Impfstrategie sind viele Fragen offen in diesem Antrag. Zum Beispiel, erstens: Wie kommen wir weltweit und bei uns in Europa dazu, die Produktionskapazitäten schnell auszubauen?
({3})
Wir sehen, das ist ja schon bei uns nicht einfach, und zwar nicht nur wegen der Lizenzen oder Patente. Es geht ja nicht nur um Fabriken und Maschinen – schon das scheint ein Problem zu sein –, es geht um Personal, um qualifiziertes Personal, es geht um Wissenstransfer, es geht um Qualitätssicherung. Da frage ich Sie: Wie sollen wir denn im Moment, in einer Situation der Pandemie mit Lockdowns und Reisebeschränkungen, schon Antworten haben, wie man solche Aufgaben löst? Diese Frage ist meiner Meinung nach offen.
Die zweite Frage, die offen ist: Welche Impfstoffe können wir unter welchen Bedingungen in welchen Ländern überhaupt produzieren und transportieren?
({4})
Eine dritte Frage: Wie unterstützen wir denn gerade ärmere Länder dabei, nicht nur Impfstoffe zu beschaffen, sondern auch die Infrastruktur aufzubauen, die sie brauchen, um ihre Bevölkerung impfen zu können?
({5})
Ich bin mir übrigens sicher, dass wir das alles schaffen können, dass das möglich ist; denn viele Länder des Südens, gerade Länder des Südens, haben viel Erfahrung mit Infektionskrankheiten und viel Erfahrung mit Impfungen. Aids, Ebola, Tuberkulose, Kinderlähmung: Meine Damen und Herren, ich glaube, wir können, was das Impfen angeht, viel von diesen Ländern lernen.
Der Skandal – ich empfinde das so – ist, dass in den letzten Jahrzehnten diesem Kampf zu wenig Unterstützung gegeben worden ist von den reicheren Ländern der Welt und leider auch von Europa.
({6})
Mein Fazit: Der Antrag der Linken reicht nicht aus. Eine Pandemie bekämpft man nicht mit einzelnen Maßnahmen, sondern nur mit einer Strategie, und man kann sie nur gemeinsam bekämpfen, in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation und mit einer starken EU als Vorreiter internationaler Solidarität.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
({0})
– Das wird schwierig jetzt.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Was die Covax-Fazilität angeht, die Covax-Initiative, so ist es ja so, dass die Bundesregierung die globale Covax-Fazilität für den gleichberechtigten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen unterstützt. Bilateral unterstützt die Bundesregierung den Covax Advance Market Commitment, AMC, in 2020 mit einem Finanzierungsbeitrag von 100 Millionen Euro für Impfstoffe für Länder mit niedrigem und niedrigerem Einkommensniveau. Die Bundesregierung ist über den Team-Europe-Ansatz an einem Beitrag der Europäischen Kommission in Höhe von 500 Millionen Euro an der Covax-Fazilität beteiligt; das entspricht Optionen zum Kauf von 88 Millionen Impfstoffdosen – das ist ein Anfang, mehr nicht, aber ein Anfang –, die perspektivisch über den GAVI-Covax-AMC an Länder mit niedrigem und niedrigerem Einkommensniveau weitergegeben werden sollen. Insgesamt unterstützt die Bundesregierung alle vier Säulen des ACT mit rund 600 Millionen Euro. Die globale Koordinationsplattform ist von der EU, von der Weltgesundheitsorganisation und wichtigen globalen Gesundheitsakteuren mit dem Ziel auf den Weg gebracht worden, dass medizinische Produkte gegen Covid 19 schneller entwickelt werden und alle Länder weltweit gerechten Zugang dazu bekommen.
Auch in den Jahren zuvor haben wir nicht nur geredet, sondern wir haben gehandelt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat von 2008 bis 2019 ein Projekt zur Beratung von Entwicklungsländern über die Nutzung der TRIPS-Flexibilitäten durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung in einem Umfang von rund 4,7 Millionen Euro finanziert. In den Projekten wurden Fachkräfte, Entscheidungsträger in Entwicklungsländern mit den bestehenden Ausnahmemöglichkeiten des TRIPS-Abkommens vertraut gemacht und bei der Konkretisierung geistiger Eigentumsrechte im eigenen Land geschult. Derzeit unterstützt die Bundesregierung über die UNCTAD ein Vorhaben zur Unterstützung der Afrikanischen Freihandelszone, welches unter anderem die Beratung von Entwicklungsländern über die Nutzung der TRIPS-Flexibilitäten in Afrika fortsetzt.
Deswegen glaube ich, dass der Ansatz leider nicht in der Kontinuität dieser Bemühungen steht, sondern ein Stück weit dazu dient, politische Aufregung und politische Konfrontation zu erzeugen, weil Sie in der Befassung mit der pharmazeutischen Industrie eigentlich der Meinung sind – das habe ich gestern schon mal gesagt –, dass es um mehr Verstaatlichung, weniger Patente, im Grunde mehr Sozialismus geht.
({0})
– Ja. Ihre verehrte Frau Fraktionsvorsitzende hat das gestern mit „Ach Gott!“ im Zwischenruf kommentiert. Ich weiß gar nicht, warum sie nicht genügend Selbstbewusstsein hat. Ihr sozialistischer Ansatz müsste doch so sein, dass das in die Richtung geht.
({1})
Warum sind Sie denn da nicht selbstbewusst genug? Natürlich wollen Sie doch eine Verstaatlichung der Pharmaindustrie, natürlich ist doch Ihr Ziel nicht eine privatwirtschaftlich organisierte pharmazeutische Industrie.
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Diese Auseinandersetzung führen Sie mit dem Ziel, das populärer zu machen. Ich bin all denen dankbar, die in der Diskussion darauf aufmerksam gemacht haben, dass wir unter den Bedingungen des Schutzes des geistigen Eigentums die besseren Bedingungen dafür haben, Innovationen zu erzeugen, Anreize zur Innovation zu finden und Produktionskooperationen zwischen Unternehmen zu schließen.
Georg Kippels hat vorhin in seiner Rede schon auf die Situation im westfälischen Halle aufmerksam gemacht, wo neben Marburg jetzt auch in Nordrhein-Westfalen ein weiteres Werk bereitsteht, um diese komplexe und schwierige Produktion eines Impfstoffes zu übernehmen. Das ist natürlich ein konkreter Schritt nach vorne, und der kommt zustande, ohne dass man deswegen Patente außer Kraft setzt, ohne dass man deswegen mit Zwangslizenzen operiert –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– und ohne dass man damit die Frage des Eigentumsrechts an der Erfindung, an der Innovation unter Zweifel stellt.
({0})
Und das ist das, was ich Ihnen vorwerfe.
({1})
Die Instrumente im TRIPS-Abkommen, die Instrumente, –
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
– die wir auch im Bevölkerungsschutzgesetz beschlossen haben, haben wir mit Mehrheit beschlossen. Machen Sie uns deshalb also keine Vorwürfe. Es ist aber nicht so, dass wir Abschied nehmen können vom Eigentumsrecht –
Herr Kollege, bitte!
– oder Abschied nehmen wollen vom Recht auf geistiges Eigentum an Innovationen. Wenn Sie das mal in Ihre Anträge reinschreiben würden, dann wären Sie konstruktiv.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich kann das in voller Ruhe und Gelassenheit hinnehmen, Herr Kollege. Sie haben bedauerlicherweise aber gerade dazu beigetragen, dass der Kollege Pilsinger nur noch einen Zweiminutenbeitrag hat.
({0})
Herr Kollege Pilsinger: zwei Minuten mit ein bisschen Nachschlag.
Das ist aber sehr kurzfristig angemeldet.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns derzeit zweifelsohne in der bislang schlimmsten Pandemie der jüngeren Geschichte. Trotz monatelang andauernder, teils massiver Kontaktbeschränkungen wütet das Coronavirus auf der ganzen Welt. Schon jetzt hat die Pandemie knapp 2 Millionen Todesopfer gefordert, allein in Deutschland über 42 000 Menschen.
Doch nun, im Jahr 2021, ist endlich ein Ausweg aus der Pandemie erkennbar. Innerhalb weniger Monate ist es der pharmazeutischen Industrie in einem beispiellosen Entwicklungsmarathon gelungen, mehrere hochwirksame Impfstoffe gegen das Coronavirus zu entwickeln. Das Impfen – davon bin ich überzeugt – ist unser Weg aus dieser Pandemie.
({1})
Schon mit der ersten Phase der Impfungen – auch davon bin ich überzeugt – werden wir einen entscheidenden Unterschied in der Bekämpfung der Pandemie machen können.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal betonen, dass ich es für absolut richtig halte, dass wir bei der Impfstoffbeschaffung den europäischen Weg gegangen sind. Wer uns jetzt dafür kritisiert, dass wir uns bei den Bestellungen mit unseren europäischen Partnern abgestimmt haben, der stellt sich dem Gedanken der Einheit der Europäischen Union fundamental entgegen. Die Art und Weise, wie wir jetzt gemeinsam diese schwere Zeit überstehen, wird die Beziehungen zwischen den Staaten der Europäischen Union noch auf Jahrzehnte prägen.
Eine Pandemie dieses Ausmaßes lässt sich nicht national im Alleingang bewältigen. Insofern stimme ich der Fraktion Die Linke zu: Nationale Interessen müssen bei der Bekämpfung der Pandemie außen vor bleiben.
({2})
Deshalb aber gleich die Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe und Therapeutika zu fordern, halte ich in Anbetracht der geleisteten Forschungsanstrengungen jedoch für widersinnig und wenig zielführend.
({3})
Auch international setzt sich die Bundesrepublik schon heute im Rahmen mehrerer Initiativen wie der Impfallianz GAVI oder der Impfstoffplattform Covax ausdrücklich dafür ein, dass die Impfstoffe weltweit zugänglich und bezahlbar sind. Auch andere Staaten und zudem die Hersteller haben sich verpflichtet, für einen fairen Zugang zu den Impfstoffen zu sorgen.
Meine Damen und Herren, dank der Entwicklung solcher innovativen Therapien sind wir nun endlich auf einem guten Weg, die Pandemie gemeinsam zu besiegen, und das sollten wir stets im Blick behalten.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Pilsinger. Sie sehen: Weil Sie aus München kommen, war ich sehr nachsichtig heute.
({0})
Man muss auch mal andere gewinnen lassen.
({0})
– Ich habe ja gesagt: Weil er aus München kommt, war ich sehr nachsichtig mit der Redezeit heute.
Damit beenden wir die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist den globalen Nachhaltigkeitszielen verpflichtet, und wir sind überzeugt: Gemeinsames Handeln ist der richtige Weg.
Beim Klimagipfel in Glasgow oder auch beim Biodiversitätsgipfel in Kunming in China in diesem Jahr geht es um elementare Aufgaben der Menschheit. Die wachsende Weltbevölkerung benötigt immer mehr Nahrungsmittel und Rohstoffe, und gleichzeitig müssen wir Klima, Umwelt und Artenvielfalt schützen.
({0})
Und das geht, wenn wir alle miteinander zukünftig nachhaltiger leben und wirtschaften.
Auf der linken Seite dieses Hohen Hauses dreht sich in Debatten immer alles um die Frage: Wie wollen wir künftig leben? Aber eines beantworten Sie leider nicht, nämlich: Wovon wollen wir in Zukunft leben? Auch diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört im Deutschen Bundestag diskutiert.
({1})
Unsere Kinder und Enkelkinder sollen sehen, dass wir Nachhaltigkeit auch in Generationengerechtigkeit denken. Wie und wovon wir künftig leben, sind zwei Seiten derselben Medaille; das eine geht nicht ohne das andere. Deshalb stellen wir jetzt in Deutschland die Weichen zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, und das Innovationsland Deutschland kann das. Wir haben – das hat die Impfstoffforschung mit Bravour gezeigt – die Kraft und die Köpfe, um Lösungen für die großen Herausforderungen der Menschheit zu finden.
In der Bioökonomie steckt großes Innovationspotenzial für alle Wirtschaftsbereiche. Aber wir werden dieses Potenzial biobasierter Innovationen für Deutschland nur dann zum Fliegen bringen, wenn wir es nicht, wie bei der Biotechnologie leider so oft geschehen, mit ideologischen Rucksäcken am Boden halten.
({2})
Die Nationale Bioökonomiestrategie der Bundesregierung setzt auf Technologieoffenheit und auf Innovationsfreude; denn Bioökonomie, liebe Grüne, heißt eben nicht einfach nur „Jute statt Plastik“; wir sprechen hier vielmehr von Hightech.
({3})
Bei der Bioökonomie geht es im Kern darum, biologische Prinzipien für neue Produkte, neue Produktionswege, neue Dienstleistungen zu nutzen. Mit der Bioökonomie kann uns der Aufbau einer modernen, nachhaltigen Kreislaufwirtschaft gelingen – Nachhaltigkeit, die dann der Exportschlager made in Germany der Zukunft ist.
Am Anfang steht die Materialinnovation. Aus Materialinnovationen entstehen nachhaltige Produkte und neue Märkte, und daran müssen wir jetzt arbeiten; denn nur so helfen wir dem Klima und der Umwelt und schaffen gleichzeitig hochattraktive Arbeitsplätze in Deutschland. Computerdisplays aus recycelbarem Material, Mikroalgen zum Schutz von Gebäudefassaden, Autoreifen auf der Basis von Löwenzahn: All das ist bereits heute Realität, weil wir diese Entwicklung mit der Forschungsförderung zur Bioökonomie vorangetrieben haben.
Das Ziel ist doch klar: Wir wollen der Wegwerfkultur in unserem Land und auf der Welt im 21. Jahrhundert mit aller Entschiedenheit den Stecker ziehen, und dabei sind Materialinnovationen das eine. Auch die Nutzung und Zweitverwertung vermeintlicher Neben- und Abfallprodukte ist ein ganz wichtiges Forschungsfeld. Neben- und Abfallprodukte sind kein Müll. Es sind Rohstoffe, die man verwerten und nutzen kann und aus meiner Sicht auch muss.
Besser nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auch die Potenziale der neuen Züchtungstechniken. Moderne Pflanzenzucht ermöglicht widerstandsfähigere Kulturpflanzen, weniger Dünger, weniger Pflanzenschutzmittel. Aber in Europa sind die Möglichkeiten der Genschere momentan so stark beschnitten, dass sie Innovationen behindern. Und das geht nicht.
In der Genschere, übrigens gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, stecken Lösungen gegen den Hunger in der Welt. Wir stehen doch in der Pflicht, mit Forschung und Entwicklung auch unseren internationalen Beitrag gegen den Hunger in der Welt zu leisten. Und liebe Grüne, hier sind Ihre europäischen Kollegen jetzt am Zug;
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denn Ernährungssicherheit in Afrika gibt es nur, wenn wir diese Züchtungstechniken, also Genomeditierung, ganz gezielt und verantwortungsvoll erforschen und für die Nutzpflanzenzüchtung einsetzen. Hören Sie endlich auf, Ängste vor der Pflanzenforschung zu verbreiten! Wer Ja sagt zur medizinischen Biotechnologie, der kann nicht glaubwürdig Nein sagen zum Einsatz in der Pflanzenforschung.
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Da haben Sie, liebe Grüne, an Ihrer Basis noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Technologieoffenheit statt ideologischer Scheuklappen, das muss jetzt endlich auch bei Ihnen ankommen. Damit wird dann die Bioökonomie zu einem Erfolg in Deutschland werden, und wir als Bundesregierung stellen dafür bis 2024 über 1 Milliarde Euro für Investitionen bereit.
Aber wir brauchen eben in unserem Land immer auch die Menschen an unserer Seite. Denn nur wenn wir Akzeptanz für die großen Chancen der Bioökonomie, der biobasierten Wirtschaft und der Biotechnologien gewinnen, können wir Fortschritt durch Wissenschaft und Forschung möglich machen.
Und deshalb steht das Wissenschaftsjahr 2020/2021 ganz im Zeichen der Bioökonomie. Wir wollen mit den Menschen, die Fragen zur Bioökonomie haben, ins Gespräch kommen. Wir wollen informieren und aufklären, mit wissenschaftlichen Argumenten überzeugen. Aber natürlich wollen wir eins ganz besonders: Wir wollen Menschen begeistern.
Das hier, meine Damen und Herren, was ich in der Hand habe, ist Bioökonomie zum Anfassen.
({6})
Diese Maske besteht zu 67 Prozent aus Holzfaser, und dabei ist sie ganz weich und angenehm zu tragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns mit den jungen Menschen, für die jungen Menschen eine Perspektive für unsere Zukunft aufzeigen. Ich freue mich auf Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Ministerin Karliczek. – Nächster Redner wird der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion, sein.
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Und die Kollegin Staffler kann sich schon darauf einrichten, dass ihre Redezeit um eine Minute gekürzt werden muss.
Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der CDU! Frau Ministerin Karliczek hat jetzt gerade eine völlig neue Version des Grundsatzprogramms der CDU vorgetragen: Sie möchte jetzt eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft errichten.
Ich darf an dieser Stelle noch einmal klarstellen, dass die AfD eine soziale Marktwirtschaft behalten will. Daraus erklären sich vielleicht auch viele Auffassungsunterschiede. Wenn Sie jedenfalls die soziale Marktwirtschaft weiter stützen wollen, sollten Sie sich vielleicht um eine Bewerbung bei der AfD Gedanken machen, meine Damen und Herren.
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Denn die Nationale Bioökonomiestrategie der Bundesregierung hat auch nicht viel mit Forschung und Wissenschaft zu tun.
Wir als Professorenpartei AfD
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sprechen sehr gerne von Wissenschaft und Forschung, und wir fördern auch sehr gerne die Biotechnologie, deren Produkt Ihre Maske ist, Frau Karliczek. Aber Bioökonomie ist doch was ganz anderes. Es ist tatsächlich eine Erfindung der Bundesregierung zusammen mit der EU-Kommission, die wissenschaftlich überhaupt nicht anerkannt wird. Es gibt ganze zwei Studiengänge zur Bioökonomie – der eine ist grundlegend, der andere ist aufbauend – in Deutschland. Die wesentlichen Verleger, die zu diesem Thema publizieren, sind so herausragende Verlage wie die Nature Publishing Group in London oder das Stockholm Environment Institute. Darauf bauen wir jetzt also unsere Politik auf. Das finde ich ganz zielführend.
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Bioökonomie bedeutet ja letztendlich, dass sich die Bundesregierung vorstellt, Ökologie und Ökonomie miteinander zu verzahnen. Also, die marktwirtschaftlichen Prinzipien sollen nicht mehr gelten, sondern ökologische Prinzipien diese dominieren. – Sie glauben also nicht mehr an die Marktwirtschaft. Stattdessen glauben Sie an Sprunginnovationen, die es dann ermöglichen werden, komplett auf biogenen Rohstoffen aufzubauen und dann sozusagen die Wirtschaft und die Gesellschaft völlig umzugestalten.
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Verstehen Sie mich nicht falsch! – Übrigens, Sie haben Bioökonomie und Biotechnologie im FDP-Antrag völlig durcheinandergeworfen, Herr Brandenburg. Sie sollten sich vielleicht auch mal überlegen, ob Sie einer Bioökonomie, also einem Ökosozialismus, hinterherrennen oder tatsächlich zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Dazu würde ich eine klare Aussage von Ihnen in Ihrem Redebeitrag sehr wünschen, der dann ja sicherlich folgt.
Aber ich war dabei stehen geblieben, dass die Bioökonomie versucht, volkswirtschaftliche Prinzipien infrage zu stellen, und zwar in der Hoffnung darauf, dass es Sprunginnovationen geben wird, nachdem man ein bisschen Forschungsgelder reingesteckt hat, und dass uns das dann ermöglicht, zum Beispiel Bildschirme aus Zucker herzustellen, oder vielleicht produzieren auch irgendwann mal Bakterien Stahl.
Und so schlimm es ist, wenn Sie so denken, wenn Sie in Regierungsverantwortung sind – noch schlimmer ist es, dass Sie das mit einer Politik kombinieren, die das auch noch forciert und sich alleine darauf verlässt. Sie verwetten unser letztes Hemd mit dem EU-Green-Deal. Unter anderem verbieten Sie Technologien, die Deutschland stark gemacht haben, die die deutsche Wirtschaft stark gemacht haben, wie zum Beispiel Verbrennungsmotoren wie den Diesel. Sie bauen Arbeitsplätze ab. Sie tragen dazu bei, dass der Mittelstand im Prinzip nicht mehr frei forschen und entwickeln kann. Und genau das ist eine Gefahr für Deutschland; denn Sie verlassen sich tatsächlich auf die Idee, dass eine Sprunginnovation unsere Art des Wirtschaftens und unsere Gesellschaft verändern wird. Und was, wenn sie nicht kommt? Das ist wirklich reichlich naiv.
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Wir als AfD stehen für ideologiefreie Forschung und Entwicklung, und wir sagen ganz klar Ja zur Biotechnologie und auch zur Gentechnik und zu ähnlich verwandten Technologiebereichen.
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Wir müssen dabei aber dazu beitragen, dass die Forschungsgelder ideologiefrei und ohne Scheuklappen genutzt werden können. Die Forscher wissen doch, woran sie forschen können und sollten und wo es zielführende Wege gibt, und daraus entwickeln sich dann die Innovationen.
Genau das Gleiche gilt für die mittelständischen Unternehmen. Da müssen wir Regularien abbauen, damit sie eben besser und freier forschen können. Und vor allem brauchen wir auch einen Rahmen, sodass Spitzenforscher gerne in Deutschland bleiben. Wir brauchen eine Abkehr von den prekären Arbeitsbedingungen mit schlechter Bezahlung, die es gerade in der Biologie, Biochemie, Biotechnologie gibt. Wir brauchen hier bessere Bedingungen. Dann bleibt übrigens auch das Wagniskapital in Deutschland. Und das brauchen wir, damit Anwendungen, die tatsächlich zielführend und zukunftsträchtig sind, durchfinanziert werden können. – Haben Sie herzlichen Dank.
Vernunft statt Ideologie ist das, was wir in der jetzigen Zeit brauchen, und die Regierung ist davon leider ganz weit weg.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kleinwächter. – Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin schon ein bisschen erstaunt. Ich muss ausdrücklich sagen, Frau Ministerin: Ich finde, dass sich die Bioökonomiestrategie in den letzten Jahren sehr gut entwickelt hat. Es ist ein Fortschritt und eine kluge Geschichte, die Erschließung und nachhaltige Nutzung von biogenen Ressourcen oder Verfahrensweisen, die umweltschonend agieren, zu erforschen und weiter auf den Weg zu bringen.
Und aus meiner Sicht ist das tatsächlich eine der ältesten Ökonomien, die es in der Menschheit gibt. Es ist eigentlich überhaupt nichts Neues – dazu braucht es auch keine neuen Studiengänge –; denn die meiste Zeit in der Geschichte hat der Mensch Bioökonomie dadurch betrieben, dass er mit biogen entstandenen Rohstoffen, nämlich mit Holz oder Stein oder Ähnlichem, gearbeitet und gelebt hat und es punktuell so verändert und verbessert hat, dass er eine Gesellschaft aufgebaut hat. Also, das ist überhaupt nichts Neues, auch keine Erfindung; es war schon längst vor der sozialen Marktwirtschaft existent und auch bewährt. Und es hat sich tatsächlich dadurch verändert, dass man dann, als neue oder im Wesentlichen neue Technologien kamen – außer der Erfindung des Feuers oder des Rades oder so was –, irgendwann glaubte, dass Fortschritt nur dadurch entstehe, dass es neue Technologien gibt.
Sich das einmal in Ruhe anzuschauen und zu überlegen, ob dieser Begriff wirklich richtig ist, ist ja auch vernünftig, glaube ich. Und deswegen ist die Bioökonomie nicht nur ein sehr althergebrachter, sondern aus unserer Sicht auch ein sehr zukunftsweisender Ansatz, wenn nicht sogar der einzige Ansatz, der unsere Existenz hier nachhaltig sichern wird, nämlich so zu wirtschaften – und ich lasse den Entropiesatz jetzt mal obendrüber stehen –, dass wir das Gleichgewicht, das es auf dieser Erde gibt, einigermaßen aufrechterhalten und trotzdem leben können.
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Obwohl es etwas Selbstverständliches war, war es auch richtig, dass der Mensch immer eingegriffen hat. Das ist selbstverständlich. Das war lange Zeit kein Problem, weil das nur punktuell erfolgte und die Veränderungen nicht spürbar waren. Aber tatsächlich ist Bioökonomie deswegen so alt und erfolgreich, weil wir in diesen 4 Milliarden Jahren der Existenz dieses Planeten eine Situation von Balance und Gleichgewicht vorgefunden haben. Die muss nicht immer gut sein – da gibt es zweifelsohne auch Nachteile –, aber sie hat gewährleistet, dass es eine Ausbalancierung unterschiedlicher Methoden gibt; übrigens auch mit dramatischen Sprüngen und Brüchen in der Geschichte dieses Planeten. Aber immerhin funktioniert er jetzt so, wie er ist.
Schwierig wird es eben dann, wenn man das Ganze nicht nur punktuell aus der Balance bringt, weil man nicht den Gesamtüberblick über dieses Gleichgewicht hat und eben nicht ganzheitlich agiert. Es ist richtig, dass der Mensch – und das ist auch gut so, weil Natur nicht per se gut oder schlecht ist und aus menschlicher Sicht vieles eher grausam oder unverständlich erscheint – in die Abläufe der Natur immer wieder eingreift. Wir sehen jetzt in der Pandemiezeit, bei Corona, dass es natürlich richtig ist, ursprüngliche biologische Systeme, nämlich die Entstehung von Immunität, zu nutzen, um die Coronapandemie über biotechnologische Verfahren zu bekämpfen. Das heißt, das ist ein richtiger punktueller Eingriff mit neuen Technologien, der die Situation von Menschen besser machen sollte.
Der ganzheitliche Blick allerdings könnte auch dazu führen, dass man die Erkenntnis gewinnt, dass das ganze Problem erst dadurch entstanden ist, dass wir an einigen Stellen das Gleichgewicht gestört haben, dass wir Menschen mit Tieren oder Viren oder Ökosystemen in Kontakt gebracht haben, die normalerweise überhaupt nicht im Zusammenhang stehen, weil wir diese Gleichgewichtssituation, den ganzheitlichen Blick verloren haben.
Deswegen ist aus unserer Sicht Bioökonomie nicht etwa nur, wie es in der Strategie steht, das Miteinander von Ökologie und Ökonomie plus Sozialem, sozusagen die Nachhaltigkeitsgrundpfeiler, sondern aus unserer Sicht muss Bioökonomie sich so entwickeln, dass es im Zentrum des Wirtschaftens steht, ergänzt um die soziale Komponente und da, eben wo möglich, auch um die wirtschaftliche Nutzbarkeit. Also, Bioökonomie ist zentral für uns, und das ist sie in unserer Gesellschaft auch weiterhin.
Ich bin etwas erstaunt, Frau Ministerin, dass Sie diese Ganzheitlichkeit bzw. die Notwendigkeit des ganzheitlichen Blickes, was Sie in der Strategie ja auch beschreiben, jetzt wieder auf die gentechnische Veränderung von Pflanzen verkürzt haben. Das finde ich dann auch nicht angemessen, weil es tatsächlich vom ganzheitlichen Blick ablenkt.
Vielleicht wäre auch zu fragen: Wenn man nun durch gentechnische Verfahren eine Pflanze entwickelt, die sehr gut auf versalzten Böden wächst oder wenig Wasser braucht: Was passiert eigentlich mit den Böden nach der ersten Vegetationsperiode, wenn die Pflanze denn gewachsen ist? Insofern ist diese Technologie nicht allein ein Fortschritt, sondern es ist auch das, was Sie richtigerweise in der Strategie beschreiben: dass es auch um Verteilungsgerechtigkeit geht, dass man den breiteren Blick haben muss, dass es auch um Bürgerrechte, um Menschenrechte geht, um ökologische Entwicklung und Armut in der Welt. Es ist, finde ich, eigentlich der erste Schritt, zu fragen: Welche Methoden brauchen wir, welche Maßnahmen und welche Veränderungen?
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Insofern will ich ausdrücklich sagen: Den ganzheitlichen Blick sehen wir und finden wir richtig. Die Verkürzung auf einzelne Technologien muss man eben immer wieder hinterfragen.
Ausdrücklich gut finden wir in der Strategie, dass Sie mehr Partizipation der Zivilgesellschaft vorhaben; das haben wir seit Jahren gefordert. Das ist immer noch nicht genug. Wir finden die Anmerkung richtig, dass gewonnene Erkenntnisse aus staatlich geförderter Forschung, also mit öffentlichen Mitteln geförderter Forschung, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden sollen. Wir finden es eben auch richtig, dass an der Bioökonomie möglichst viele Menschen beteiligt werden sollen.
Am Ende darf ich auch noch zum FDP-Antrag etwas sagen. Ich habe es als sehr wohltuend empfunden, dass ziemlich zu Anfang der Strategie die SDGs, die Sustainable Development Goals, also die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, als vorderstes Ziel der Bioökonomiestrategie genannt werden, die die FDP noch um die Bruttowertschöpfung als Indikator ergänzt. Das halten wir tatsächlich für nicht wirklich angemessen; das kann man mitnehmen. Jeder Autounfall ist eine Erhöhung der Bruttowertschöpfung in Deutschland, sagt aber noch nichts über die Erreichbarkeit der Bioökonomieziele aus.
Wenn Sie im FDP-Antrag am Ende wieder verkürzen, nämlich von der Biotechnologie hin zur Gentechnologie: Machen Sie doch einfach mal eine Initiative in den Ländern, in denen Sie mitregieren, um gentechnisch veränderte Pflanzen endlich freizusetzen. Das wäre offener und ehrlicher, als immer solche Anträge zu stellen. Deswegen werden wir den FDP-Antrag ablehnen, finden aber die Bioökonomiestrategie in die richtige Richtung gehend.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Röspel. – Nächster Redner ist der Kollege Mario Brandenburg, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kleinwächter, jetzt habe ich nur drei Minuten Redezeit und muss noch Ihr Wirrwarr aufräumen. Es geht der FDP nicht darum, irgendwelche marktwirtschaftlichen Prinzipien oder die soziale Marktwirtschaft zu hinterfragen. Es ist aber nun mal ein Faktum, dass es in der Bioökonomie darum geht, gesellschaftliche und ökologische Wahrheiten mit marktwirtschaftlichen Prinzipien zu verbinden. Die Welt ist nicht so schwarz und weiß, wie Sie sie malen.
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Aber dass die AfD ein Schwarz-Weiß-Problem hat, ist nichts Neues.
So, denken Sie sich ein tolles Intro! – Das habe ich jetzt leider verschenkt.
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Deswegen kommen wir direkt zur Strategie. Wir teilen natürlich das Ziel, aber Sie haben da so einen – neudeutsch würde man sagen – Signature Move, etwas, das sich durchzieht, nämlich keine Messbarkeit und ganz schwammige Kriterien. Es kommen dann so Sätze wie: Deutschland sollte in der Bioökonomie führend bleiben und die Jobs der Zukunft liefern. – Niemand hier drin und niemand da draußen wird dem widersprechen.
Nur: Dann muss man eben auch aufschreiben, wie wir das messen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Geht es da um Ausgründungen? Geht es um Patente? Oder geht es eigentlich um die Urdefinition der Bioökonomie: clevere Kreislaufwirtschaft, Recyclingquoten, Kaskadennutzung? Das alles ist da leider sehr schwammig. Insofern: Wenn man die Transformation eines Wirtschaftskreislaufs möchte hin zu mehr Ökologie und hin zu mehr Nachhaltigkeit, muss man eben auch ganz klar benennen, an was für Punkten man Erfolg oder Misserfolg misst; und das bleiben Sie schuldig.
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Um zu sehen, dass so etwas geht, müssen Sie nur auf die EU schauen. Da gibt es das EU Bioeconomy Monitoring System dashboard. Da können Sie sich Livezahlen angucken, alle Statistiken; das ist topmodern. Wenn man in Deutschland den Bioökonomierat googelt, kommt man auf eine Webseite, auf der der letzte Beitrag von 2019 ist.
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Das ist an dieser Stelle keine Wissenschaftskommunikation, Frau Karliczek, obwohl sie ein Ziel ist. Jetzt sehen Sie, wie toll Ziele und Messkriterien sind. Jetzt haben Sie was gesehen, jetzt können Sie es ändern – perfekt! Und genau deswegen braucht es hier Ziele und Messkriterien.
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Jeder weiß, dass in Deutschland die Innovation nicht an klugen Köpfen und im Übrigen auch nicht an der Forschungsfinanzierung scheitert. Es scheitert am Transfer. An dieser Stelle ist die Strategie leider etwas schwammig. Ein bisschen Lektüre für Herrn Kleinwächter, wenn der Puls wieder unten ist:
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Lesen Sie unseren Antrag „Von der Biologie zur Innovation – Von der Innovation zum Produkt“. Da geht es eben um die Ausfinanzierung entlang der Prozesskette, damit eben auch marktwirtschaftliche Prinzipien gewahrt bleiben.
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Weil es mir meinen Zeitplan leider ziemlich zerhauen hat, komme ich nur noch zum letzten Teil. Frau Karliczek hat es zum Glück dieses Mal angesprochen: Wenn eins in der Strategie fehlt, dann ist es leider der Mut. – Sie hören nicht auf Ihre eigenen Berater. Dass Sie teilweise acatech und die Leopoldina ignoriert haben, daran kann man sich vielleicht, auch wenn es wehtut, gewöhnen. Aber Ihr eigener Bioökonomierat hat Sie kritisiert. In diese Strategie muss ein klares Bekenntnis zur Gentechnik als ein potenzieller Lösungsweg für die Probleme der Zukunft. Das sind Sie leider schuldig geblieben. Das spielt den Fortschrittspessimisten wie Herrn Ebner in die Hände, auf dessen Rede ich mich natürlich freue.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brandenburg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nationale Bioökonomiestrategie – da kann ich an den Grundton des Kollegen Brandenburg anknüpfen – wurde vor exakt einem Jahr beschlossen, nämlich im Januar vor einem Jahr. Schon im Dezember 2020, also elf Monate später, wurde ein neuer Bioökonomierat gebildet. Eilig hatten Sie es offensichtlich nicht.
Unter den 20 Mitgliedern des nunmehr dritten Bioökonomierates ist nur ein Vertreter einer NGO. Das ist insofern erwähnenswert, als die Bundeslandwirtschaftsministerin dem Bioökonomierat ein enormes Potenzial zuschrieb: Man müsse Grenzen und Zielkonflikte diskutieren; denn die landwirtschaftliche Fläche sei begrenzt – was ja stimmt –; die Hauptaufgabe der Landwirte bleibe die Erzeugung unserer Nahrungsmittel, und die Debatten müssten unter Einbindung der Gesellschaft geführt werden. – Hm.
Meine Damen und Herren, unbestritten können natürlich mit Bioökonomie spannende Projekte realisiert werden. Damit kann der Verbrauch von fossilen Ressourcen wie Kohle und Erdöl allemal verringert und durch nachwachsende Rohstoffe ergänzt werden. Unbestritten ist aber eben auch, dass dadurch – ich habe es schon erwähnt – Lebensmittelproduktion und bisherige Bodennutzung weiter unter Druck geraten werden. Umso dringlicher wäre eben eine Flankierung durch eine nachhaltige Reform, beispielsweise durch eine andere europäische Landwirtschaftspolitik, nämlich unter ökologischen Gesichtspunkten.
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Nachhaltiges Wirtschaften soll Ressourcenverbrauch und die Verbesserung der Lebensqualität voneinander entkoppeln. Das ist nötig, und das ist möglich. Wie es konkret gemacht wird – Frau Ministerin, da lassen wir Sie nicht aus der Spur –, interessiert uns sehr wohl, und genau das bleibt nämlich diese Strategie schuldig.
Bioökonomie soll eine biobasierte, an natürlichen Stoffkreisläufen orientierte, neue und nachhaltige Wirtschaftsform werden. – Aha! Da sagt Die Linke: Was? Eine neue Wirtschaftsform?
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Das interessiert mich aber; das ist total verlockend für mich.
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Aber natürlich geht es Ihnen gar nicht um eine neue Wirtschaftsform. Vielmehr geht es um die Nutzung biobasierter Ressourcen mittels technologischer Innovationen, die in die bisherige Wirtschaftsform eingebettet werden. Es geht also um Anpassung oder, um Ihren Worten aus der Strategie zu folgen, um Anpassung an den Markt. – No more!
Damit aber noch nicht genug. Es wird sogar der Naturschutzbund wach und sagt in seiner Kritik an dieser Bioökonomiestrategie, es würde zu sehr auf Biologie gesetzt werden. Ich zitiere:
Eine nachhaltige Entwicklung erfordert jedoch kulturelle, ökonomische und institutionelle Änderungen, die nicht ohne Widerstände und Konflikte verlaufen werden.
Absolut richtig.
Sie dagegen tun so, als scheitere der Übergang zu nachhaltigem Wirtschaften allein an technischen und betriebswirtschaftlichen Problemen. Nein, genau so verpuffen Chancen aus der Bioökonomie. Ins Zentrum gehören auch hier vor allem gerechte Macht-, Beteiligungs- und Verteilungsverhältnisse. Unter dem wird vor allem der Klimawandel überhaupt nicht zu machen sein.
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. – Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll fallen allein in Deutschland jährlich an. Dies wächst infolge der Coronapandemie sogar noch deutlich weiter an. Eine reine Substitution, Frau Ministerin, nach dem Motto „Jute statt Plastik“ wird das Problem selbstverständlich nicht lösen können. Wir müssen den Ressourcenverbrauch insgesamt deutlich reduzieren, damit Bioökonomie zu mehr Nachhaltigkeit beitragen kann.
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Die Nationale Bioökonomiestrategie benennt solche Zielkonflikte und betont zu Recht die Bedeutung der planetaren Grenzen. Aber leider bleiben diese Erkenntnisse weitgehend ohne Konsequenzen. Die Vorlage bleibt Stückwerk mit vielen Leerstellen. Das ist keine Strategie, sondern ein grün aufgemachtes Floskel-Sammelsurium. Es ist dreist, wenn Sie in der Strategie beispielsweise eine nachhaltige Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik fordern, wo doch Ministerin Klöckner seit Jahren eine echte Reform der GAP blockiert und beim Glyphosatausstieg versagt. Scheinheilig ist auch Ihr Eigenlob bei der Forschungsförderung im Ökolandbau. Viele Jahre haben Sie genau das im Haushalt durch Nullrunden sträflich vernachlässigt.
Ich möchte aber auch etwas ausdrücklich loben, nämlich Ihre genannten partizipativen Ansätze. Die Umstellung unseres Wirtschaftens auf echte Nachhaltigkeit bedarf nicht nur parlamentarischer Rückkopplung, sondern auch der engen gesellschaftlichen Einbindung. Das muss dann aber auch, bitte schön, umgesetzt werden.
Da verwundert es umso mehr, dass die Bundesregierung – anders als jetzt in der Rede die Frau Ministerin – ihre Absichten vor der geneigten Leserschaft so sorgsam versteckt. Sie sprechen von Technologieoffenheit und von neuartigen Produktionsorganismen; aber Sie vermeiden dabei das gerade von den Kollegen schon genannte Wort der Gentechnik wie der Teufel das Weihwasser. Warum denn eigentlich? Sie wollen hier ganz offenbar davon ablenken, dass Sie genau die auch in der Landwirtschaft etablieren wollen, obwohl nicht nur die grüne Basis, sondern die Mehrheit in der Bevölkerung diese auf dem Acker und auf dem Teller deutlich ablehnt. Das passt so gar nicht zu Ihrem eigenen Partizipationsanspruch, dass Sie an der Stelle den Menschen nicht sagen, was Sie wollen.
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Statt von den wirklichen Erfordernissen der Lösung der Welternährungsfrage, wie von 50 Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit formuliert, zu reden, blenden Sie, Frau Ministerin, mit Ihrer einseitigen Gentechnikfixierung alle diese Erkenntnisse aus, beispielsweise Lebensmittelverschwendung, Zugang zu Land, also die ganzen Themen, die die Organisationen genannt haben. Sie wollen am Ende, wenn sie die Regulierung in Europa beklagen, den Menschen die Wahlfreiheit nehmen, sich entscheiden zu können.
Mein letzter Satz, Herr Präsident: Es kann bei der Bioökonomie nicht länger darum gehen, den Blick biologischen Wissens auf die molekulare Ebene zu verengen und die Natur dem Menschen anzupassen, sondern wir müssen auf die Ökosysteme schauen. Kollege Röspel hat da ganz recht: Nur so wird aus der Bioökonomie ein großes Ganzes.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Der letzte Satz hatte ja schon fast klassisches Format. – Letzte Rednerin in dieser Debatte wird sein die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon immer wieder was Besonderes, hier an diesem Rednerpult zu stehen: Lederauflage, hier ein Display, lackiert mit dem Bundesadler, ein Kunststoffdisplay, wo der Präsident ein Lichtlein einschaltet, wenn man zu lange redet. Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, ob ich das Thema der heutigen Debatte nicht kenne. Doch, das kenne ich sehr wohl. Aber stellen Sie sich mal vor: In zehn Jahren stehen wir hier vielleicht schon an einem Rednerpult, bei dem diese Auflage aus Äpfeln gemacht worden ist. Das Display, wo es die schönen Blinklichter vom Präsidenten gibt, sieht dann vielleicht noch genauso aus, wie es heute aussieht; aber es ist dann eben aus biobasierten und damit nachhaltigen Rohstoffen hergestellt. Die vielfältigen Bereiche der Bioökonomie machen es möglich.
Indem wir fossile Rohstoffe zunehmend durch nachwachsende biobasierte Rohstoffe ersetzen, müssen wir eben nicht auf so was wie superleichte Laufschuhe bei der morgendlichen Laufrunde oder das Waschmittel, das wesentlich ressourcenschonender auch den hartnäckigsten Fleck aus der neuen Bluse bekommt, verzichten. Das sind alles Produkte, die in ihrer herkömmlichen Form, so wie wir sie heute kennen, durch den Einsatz von Erdöl hergestellt sind oder einen hohen Anteil an Kunststoff haben und dadurch schädlich für die Umwelt sind. Aber: Es sind Produkte, die genauso gut aus biobasierten Rohstoffen hergestellt werden können. Die Bioökonomie zeigt uns also, dass sich Ökonomie und Ökologie eben nicht gegenseitig ausschließen, sondern wir können sie auf kluge und innovative Art und Weise miteinander verbinden und vernetzen und so was gutes Neues erschaffen.
Deutschland hat in der Bioökonomie seit Jahren einen Spitzenplatz. Jetzt haben wir die neue Strategie vorgelegt. Mit der Weiterentwicklung der bestehenden Ansätze und Maßnahmen setzen wir jetzt auch bewusst einen Schwerpunkt aufs Thema Nachhaltigkeit. Genau das ist die Grundlage, mit der wir als Deutschland jetzt den Anspruch haben müssen, dass wir eine Vorreiterrolle einnehmen. „Vorreiterrolle“ bedeutet für mich: Wir müssen die erfolgreichen Forschungs- und Entwicklungsergebnisse, die wir haben, zum weltweiten Exportschlager machen, weil wir damit eben nicht nur hier bei uns, sondern überall, weltweit einen riesengroßen Beitrag leisten können für die Etablierung von einem nachhaltigen Wirtschaftssystem, einen Beitrag für mehr Klimaschutz und für die Ernährungssicherheit. Die Transformation hin zu so einer biobasierten Wirtschaft gelingt uns nur dann, wenn wir auf dem Weg dahin die Menschen mitnehmen, weil die Verbraucher mit ihren Konsumentscheidungen eben einen wesentlichen Beitrag zum Vorantreiben der Bioökonomie leisten; und – das wissen wir auch – Erfolg am Markt können solche Produkte nur dann haben, wenn der informierte Verbraucher sie am Ende des Tages auch kauft.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter? Das würde Ihre Redezeit verlängern.
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Der hatte heute, glaube ich, hier genug Redezeit. Aber er darf sich freuen, weil ich ihm am Schluss auch noch eine kleine Nachhilfestunde geben werde.
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Wir müssen die Bioökonomie also noch sehr viel stärker als bisher sichtbar machen, zum Beispiel durch das Wissenschaftsjahr, das sich dieses Jahr der Bioökonomie widmet. Dabei darf es aber nicht bleiben. Wir haben heute noch viel zu viele Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber modernen, sicheren, hilfreichen biobasierten Technologien. Ich glaube, die Diskussion heute hat es uns eindrücklich mal wieder gezeigt.
Wir dürfen nicht aufhören, dass wir immer wieder wiederholen, was wir gerade bei komplexen Technologien transparent, anschaulich und für jedermann verständlich und durchaus auch mit einem positiven Blick auf die Chancen neuer Technologien kommunizieren und diskutieren müssen. In diesem Sinne: Ich versuche, mit gutem Vorbild voranzugehen. Ich freue mich darauf, wenn ich in zehn Jahren vielleicht hier am Rednerpult stehe, ein gutes Beispiel ist, dass Bioökonomie eben nicht mehr nur die Ausnahme, sondern die neue Normalität ist.
Und nun einen letzten Satz zu Herrn Kleinwächter; ich kann es mir nicht verkneifen. Sie haben sich in Ihrer Rede ironisch darüber lustig gemacht, dass Bioökonomie nicht relevant genug wäre, um in der weltweiten Wissenschaftscommunity wahrgenommen zu werden. Ihr Beleg war, dass dieses Thema nur in unwichtigen Medien wie denen der Nature Publishing Group erscheinen würde. Kurze Nachhilfe: „Nature“ und „Science“ sind die weltweit anerkanntesten Wissenschaftsmagazine und wissenschaftlichen Publikationen, die es überhaupt gibt.
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Das abzutun, als wäre es nur eine Nebensächlichkeit, ist, Entschuldigung, selbst für Sie zu peinlich.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Ich bin wirklich beeindruckt, dass Sie festgestellt haben, dass Ihnen ein kleines Lichtlein blinkt, wenn Sie zum Ende kommen sollen. Es wäre schön, wenn Ihnen auch ein kleines Lichtlein aufgehen würde, damit Sie dieser Bitte Folge leisten.
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Mit Ihren Worten beende ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit von Hartz IV ist vorbei. Denn Hartz IV basiert auf der Annahme, Erwerbslosigkeit und Armut seien persönliches Versagen. Das war schon vor der Coronakrise falsch. Durch die Coronakrise ist für sehr viele Menschen noch deutlicher geworden, wie wenig das mit der Lebensrealität zu tun hat.
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Denn Corona erzeugt Notlagen, in die niemand selbstverschuldet geraten ist. Genau deswegen müssen wir daraus jetzt die richtigen Lehren ziehen und Hartz IV endlich überwinden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Tausenden Soloselbstständigen und Kulturschaffenden etwa ist von heute auf morgen die Existenzgrundlage entfallen. Statt eines einfachen, unbürokratischen Unternehmer/-innen-Lohns werden sie an die Jobcenter verwiesen. Doch warum eigentlich hat bis heute nur ein Bruchteil der Soloselbstständigen Hartz IV beantragt? Mich haben zahlreiche Berichte erreicht, die viel darüber sagen, warum Hartz IV viele Menschen so sehr abschreckt. Der Bericht einer alleinerziehenden Künstlerin hat mich besonders erschüttert. Sie lebt zusammen mit ihrer Tochter, die studiert und BAföG erhält. Das BAföG der Tochter wurde mit dem Grundsicherungsanspruch der Mutter verrechnet, weil sie eine sogenannte Bedarfsgemeinschaft bilden. Auf den Einwand der Mutter, die Tochter brauche das Geld aber doch für ihre Ausbildung, wurde ihr erwidert, dass die Tochter in dieser Notlage ja das Studium aufgeben oder unterbrechen könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch nicht richtig. Das müssen wir doch ändern.
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Mit der Garantiesicherung legen wir Grüne heute ein ambitioniertes und umfassendes Konzept vor, wie wir Hartz IV überwinden und die soziale Mindestsicherung umfassend reformieren können. Die Garantiesicherung garantiert Teilhabe. Ich finde es nach wie vor völlig unfassbar, dass die Große Koalition bei all den milliardenschweren Hilfspaketen keinen einzigen Cent mehr für Erwachsene in der Grundsicherung übrighat. Auch das wollen und müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Garantiesicherung ist sanktionsfrei; denn die Würde des Menschen erlaubt keine Kürzungen unter das Existenzminimum. Sanktionsfreiheit bedeutet Rechtsklarheit, bedeutet mehr Zeit für individuelle Förderung, bedeutet weniger Klagen vor den Sozialgerichten und bedeutet ein besseres Klima in den Jobcentern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Mit der Garantiesicherung überwinden wir auch die Bedarfsgemeinschaften. Es ist einfach ungerecht, wenn heute etwa die systemrelevante Altenpflegerin mit ihrem kleinen Gehalt noch für ihren soloselbstständigen Partner aufkommen muss, der in der Krise nicht arbeiten darf. Jeder Mensch muss aus sich heraus einen eigenen Anspruch auf Sozialleistungen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Mit der Garantiesicherung verzichten wir auch auf die aufwendige Vermögensprüfung. Wir vereinfachen und wir digitalisieren die Antragsverfahren. So bauen wir auch Bürokratie in den Jobcentern ab. Und: Die Garantiesicherung ist eingebettet in Maßnahmen zur Stärkung unterer Einkommen. Wir wollen den Mindestlohn deutlich anheben, das Tarifsystem stärken und prekäre Beschäftigung eindämmen, damit deutlich mehr Menschen als heute von ihrer eigenen Arbeit leben können. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ganz zentral: Mit der Garantisicherung sind Kinder nicht mehr in Hartz IV; denn da gehören sie einfach nicht rein. Kinder sind keine kleinen Erwerbslosen; Kinder müssen durch eine Kindergrundsicherung eigenständig abgesichert werden.
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Kurzum: Die Garantiesicherung schafft soziale Sicherheit in unsicheren Zeiten. Sie begegnet Menschen auf Augenhöhe, mit Vertrauen und vor allem mit Zutrauen. Ich freue mich wirklich sehr aufrichtig, dass der Druck aus Opposition, aus Gewerkschaften, aus Sozialverbänden nun auch dazu geführt hat, dass Minister Heil eine Reform von Hartz IV angekündigt hat, auch wenn das eher Trippelschritte sind. Aber immerhin gibt es sie. Wenn man sich aber jetzt anschaut, dass Union und FDP vor allem sofort Widerstand angekündigt haben und mal wieder in den Medien mit der Keule „Grundeinkommen“ hantiert wird, dann zeigt das nur eins: Sie haben in dieser Krise keine sachlichen Argumente mehr, die für Hartz IV sprechen; Sie haben ideologische Schützengräben. Aber aus Schützengräben heraus lässt sich keine gute Politik für die Menschen machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Menschen erwarten zu Recht, dass gerade jetzt der Sozialstaat ein sicheres Netz bietet und sie in Krisensituationen auffängt und unterstützt und ermutigt. Mit der Garantiesicherung zeigen wir Grüne, wie das gehen kann.
Ich freue mich auf die Beratungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Eigentlich wollte ich mit ein paar positiven Aspekten des Grünenantrags anfangen; aber nachdem der Kollege Lehmann hier schon eine solche Wahlkampfrede gehalten hat, muss ich sagen: Das ist ein bisschen früh für dieses Jahr, Herr Kollege. Das fängt schon damit an, dass Sie hier mit Wahlkampfsprüchen, mit Wahlkampfbegriffen um sich schmeißen, zum Beispiel mit dem Wort „Garantiesicherung“.
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Allein damit fängt es schon an. Sie suggerieren damit, die SGB-II-Leistung sei bisher so eine Art Lotterie, die mal sichert, mal nicht sichert – als ob wir einen unsicheren Sozialstaat in diesem Land hätten! Das weise ich mit aller Schärfe zurück.
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Das SGB II ist das Netz, das alle Menschen in diesem Land in der Krise auffängt.
Sie bemängeln in Ihrem Antrag – ich finde, zu Unrecht – auch eine sogenannte Zweiklassensystematik in Hartz IV. Die Regelung haben wir aufgrund der Coronakrise eingeführt, damit Selbstständige, wenn sie ihr Betriebsvermögen einsetzen, weil sie zurzeit nicht arbeiten können, den Betrieb nicht verkaufen müssen und hinterher auch noch einen Betrieb haben, mit dem sie wirtschaftlich tätig sein können. Jetzt, hinterher, festzustellen, dass das eine Zweiklassensystematik ist, ist infam, Herr Kollege.
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Ich sage auch ganz offen: Ich war erschüttert, als ich in Ihrem Antrag gelesen habe, dass Sie sagen: Wenn jetzt erst der Partner aufkommen muss, bevor man Hartz IV beziehen kann, dann ist man quasi ein Anhängsel seines Ehemanns oder seiner Ehefrau.
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Sie reden hier immer von gemeinschaftlicher Verantwortung und von Solidarität in unserer Gesellschaft, aber mit solchen Worten zerstören Sie die wichtigste gesellschaftliche Solidargemeinschaft in unserem Land, nämlich die Familie. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
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Sie reden in Ihrem Antrag von Stigmatisierung über SGB II, und ich stelle fest: Wir stigmatisieren niemanden, egal ob er Multimillionär oder SGB-II-Empfänger ist. Die Einzigen, die das tun, sind Sie.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen?
Herzlich gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege Whittaker, ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen, dass wir in dem Antrag „Garantiesicherung“ zu dem Thema Bedarfsgemeinschaften ausformuliert haben, dass wir insbesondere die Bedarfsgemeinschaften bei unverheirateten Paaren als Problem sehen. Sie profitieren nämlich nicht von steuerlichen Vorteilen, wie zum Beispiel vom Ehegattensplitting. Da ist das Beispiel von meinem Kollegen Sven Lehmann sehr lebensnah gewesen: eine unverheiratete Krankenschwester in Partnerschaft mit einem Künstler, in der das Gehalt dieser Frau noch mit dem Hartz-IV-Anspruch des nicht mehr arbeiten dürfenden Künstlers verrechnet wird.
Wir haben in diesem Antrag bewusst gesagt: Wenn wir perspektivisch die Individualisierung auch auf Ehen beziehen wollen, dann ist das ganz grundsätzlich nur denkbar mit einer größeren Reform, die dann auch das Ehegattensplitting mit betreffen würde. Dass Sie zum Thema Ehe sich ein bisschen anders positionieren, ist das eine. Aber ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit der Garantiesicherung insbesondere bei den wirklich sehr ungerechten Regelungen ansetzen, die unverheiratete Paare betreffen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie bereit sind, das zur Kenntnis zu nehmen, und ob Sie glauben, dass das einen Unterschied macht.
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Frau Kollegin, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir offensichtlich zwei völlig unterschiedliche Ansichten dessen haben, was wir als die kleinste Einheit in diesem Land verstehen. Sie möchten eine Individualisierung bei Leistungen des Sozialstaates; wir glauben an die Kraft der Verantwortungsgemeinschaft in der Familie, egal ob mit oder ohne Trauschein.
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Deshalb wollen wir diese Verantwortungsgemeinschaft nicht zerstören – im Gegensatz zu Ihnen, die Sie jede Leistung individualisieren wollen. Wir glauben, dass das nicht der richtige Weg ist.
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Außerdem haben Sie in Ihrem Antrag nicht explizit dargestellt, dass dies für Ehepartner nicht gelten soll; also insofern sind Sie da nicht sauber.
Sie sind in Ihrem Antrag auch weiterhin nicht sauber, wenn Sie zum Beispiel – ich finde es etwas seltsam, dass es drinsteht – auf einen zu erhöhenden Mindestlohn verweisen. Sie fordern 12 Euro die Stunde. Das finde ich deshalb sehr interessant, weil es Ihre Fraktion war, die, als wir hier über den Mindestlohn gesprochen und diskutiert haben, darauf bestanden hat, dass es eine Kommission geben soll, die jenseits der politischen Einflusssphäre, jenseits dieses Parlaments steht und mit den Tarifpartnern zusammen entscheidet, wie der Mindestlohn ausgestaltet werden soll.
Heute machen Sie eine Kehrtwende und verlangen 12 Euro die Stunde, ohne es zu begründen. Ich vermute, Sie wollen damit Armut aufgrund von Armutslöhnen bekämpfen. Aber wenn Sie das wirklich wollen, dann müssten Sie eigentlich so konsequent sein wie die Linken und sagen: Dann machen wir es an 60 Prozent des durchschnittlichen Lohnes in Deutschland fest. Nur: Dann bräuchten wir keine Mindestlohnkommission mehr, und genau das lehnen wir als Unionsfraktion ebenfalls ab.
({2})
Zu guter Letzt. Mit Ihrer Politik vergessen Sie schlicht und ergreifend die gesellschaftliche Mitte in diesem Land. Sie schreiben in Ihrem Antrag sehr deutlich, dass Sie in Zukunft die SGB-II-Leistungssätze am Konsumverhalten der Mitte der Gesellschaft orientieren wollen. Das heißt übersetzt nichts anderes, als dass knapp die Hälfte, nämlich die untere Hälfte, die, die unter dem Durchschnitt liegt, in Zukunft diese SGB-II-Leistungen, Ihre Garantiesicherung, beziehen soll. Wir wollen nicht, dass die Hälfte in diesem Sozialstaat Leistungsbezieher ist, sondern wir wollen, dass die Menschen in Arbeit sind und ihr eigenes Geld verdienen können.
({3})
Ich war ebenfalls entsetzt, als ich gelesen habe – das haben Sie schön mit den Worten verbrämt: wir wollen Bürokratie abbauen und Vereinfachungen haben –: Na ja, in Zukunft soll der Antragsteller einfach angeben, er hat kein Vermögen und er hat dies nicht und er hat das nicht, und wir prüfen das nicht weiter.
Ich meine, so kann man natürlich auch Bürokratie abbauen, indem man einfach zwei Augen zudrückt. Aber ich bin mal gespannt, wenn wir das bei den Finanzämtern machen und nicht nachprüfen würden, ob das, was in den Steuererklärungen drinsteht, auch wirklich stimmt: Dann kämen wir nicht mehr sehr weit mit unserem Staat.
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Ich frage mich ernsthaft, wen Sie da eigentlich schützen wollen. Wissen Sie, Sie verschließen ein bisschen die Augen vor der Realität. Es gibt Sozialleistungsmissbrauch.
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Es gibt kriminelle Banden, die auch SGB-II-Betrug machen. Ich finde, mit Ihrem Antrag schützen Sie niemanden: weder die Steuerzahler, die arbeiten und einzahlen, noch die Leistungsbezieher, die SGB II brauchen, wenig Geld zur Verfügung haben und dann noch wegen dieser kriminellen Banden schlechtgemacht werden.
({6})
Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Wissen Sie, ich hätte es ja verstanden, wenn Sie wenigstens gesagt hätten: Auf der anderen Seite fordern wir drakonischere Strafen, wenn man Sozialbetrug macht.
({7})
Aber selbst das fehlt in Ihrem Antrag, und deshalb können wir dem so nicht zustimmen.
Zu guter Letzt fordern Sie – altes Lied –, die Sanktionen abzuschaffen. Auch das, glaube ich, zerstört die Solidargemeinschaft.
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Übrigens ist es fachlich falsch – es ist fachlich falsch –: Der Chef der BA fordert das explizit nicht. Im Gegenteil: Er möchte nach wie vor Sanktionen.
Ich glaube, es zerstört die Solidargemeinschaft in diesem Land deshalb, weil klar ist: Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern sie funktioniert nur im Austausch miteinander. Wenn ich als Steuerzahler für einen Sozialstaat einzahle, dann muss ich auch erwarten, dass diejenigen, die in der Sozialhilfe sind, alles dafür tun, so schnell wie möglich wieder aus ihr herauszukommen.
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Deshalb kann ich Ihnen nur zurufen: Die einzige Garantiesicherung, die es in diesem Land gibt, die beste Garantiesicherung, die es in diesem Land gibt, ist Arbeit. SGB II bzw. Hartz IV ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben die Arbeitslosigkeit seit 2005, seit wir die Regierung von Ihnen übernommen haben, halbiert. Wir haben die Langzeitarbeitslosigkeit mehr als halbiert. Wir haben die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa.
Deshalb müssen wir mehr in dieser Richtung tun: digitalisieren, vereinfachen. Wir müssen gucken, dass wir die Hinzuverdienstregeln verbessern. Leistung muss sich lohnen. Und: Wir brauchen eine bessere Betreuung, damit wir die Menschen in die Arbeitswelt führen können. Das ist unsere Aufgabe.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg Schneider, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Coronamaßnahmen haben viele Branchen in die Krise gestürzt, und unser Sozialsystem hilft dort nicht immer. Der Soloselbstständige hat halt keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, und der Friseur, der Wirt, der jetzt unter einem monatelangen Berufsverbot leidet, wartet ungefähr genauso lange auf die Entschädigungsleistungen.
Auch die Kritik der Grünen am Sozialsystem ist durchaus gerechtfertigt. Es ist sehr kompliziert; es setzt die falschen Anreize. Für den, der Sozialleistungen bezieht, lohnt sich Arbeit oft nur in Form von Schwarzarbeit. Aber wie Sie das miteinander verknüpfen, das ist schon ein bisschen abenteuerlich. Da haben wir eine Situation, in der eigentlich die Solidarität dieser Gesellschaft gefordert ist, und Sie wollen die Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger abschaffen. Das heißt, Sie wollen diejenigen, die sich innerhalb unseres Sozialsystems unsolidarisch verhalten, auch noch belohnen. Das versteht doch wirklich kein Mensch mehr, meine Damen und Herren.
({0})
Die Forderung haben wir von Ihnen ja schon in unterschiedlicher Weise gehört; nur die Begründung ist diesmal eine andere: Es ist jetzt Corona. Ich finde das nicht besonders glaubwürdig. Wenn man immer wieder die gleichen Sachen fordert, aber immer wieder eine andere Begründung liefert, dann deutet das doch darauf hin, dass es eigentlich keine wirklich stichhaltige Begründung gibt, weil es halt einfach beliebig ist.
Aber was für mich noch viel entscheidender ist: Die Grünen sehen sich doch immer als Partei der Nachhaltigkeit. Wir in Deutschland haben weltweit mit das großzügigste Sozialsystem, und, verbunden mit offenen Grenzen und einem lockeren Bleiberecht, ist es natürlich ein Magnet, gerade für Menschen, die wenig leistungswillig, wenig leistungsfähig sind. Die wissen ganz genau: Nie wird es ihnen irgendwo auf der Welt so gut gehen wie hier in Deutschland.
({1})
– Da brauchen Sie gar nicht die Augen zu verdrehen,
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nach dem Motto: AfD und Zuwanderer.
Nein! Sie haben dem Thema „Zuwanderer und Sozialleistungen“ in Ihrem Antrag einen großen Raum eingeräumt. Sie haben das getan; ich gehe nur darauf ein. Und diese Anreize wollen Sie jetzt sogar noch erhöhen, meine Damen und Herren.
Nur, das Ganze muss auch finanziert werden. Okay, wenn wir jetzt Italien wären, würden wir sagen: Ach, das machen wir über den EU-Haushalt; die Deutschen zahlen. – Nur, hier in Deutschland kriegen wir das natürlich so nicht hin. Da werden es die Steuerzahler sein, die bezahlen müssen.
Wir haben in Deutschland schon die höchsten Steuern und Sozialabgaben. Und hohe Steuern und Sozialabgaben haben einen Nachteil: Sie schrecken gut ausgebildete, potenziell Besserverdienende eher ab. Und da wollen Sie noch ein bisschen was drauflegen.
Das ist die fatale Gemengelage, die wir hier in Deutschland haben. Wir schaffen auf der einen Seite für wenig Leistungswillige, wenig Leistungsbereite Anreize, nach Deutschland zu kommen, hier zu bleiben. Und auf der anderen Seite schrecken wir gut Ausgebildete und damit potenziell Besserverdienende ab. Die Zahlen der OECD spiegeln das wider: Ungefähr jeder Zweite, der aus Deutschland auswandert, hat einen akademischen Abschluss; aber nur jeder Vierte, der nach Deutschland kommt, hat überhaupt irgendeine Qualifikation. Häufig ergeben sich die letztgenannten Zahlen nur auf Basis von eigenen Erklärungen der Betreffenden.
Meine Damen und Herren, wenn man es mal plakativ ausdrücken will: Wir vertreiben die Akademiker, und für jeden Akademiker, der auswandert, holen wir uns einen Analphabeten ins Land.
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Das ist eine gewaltige Schieflage. Diese Schieflage werden Sie durch Ihren Antrag sogar noch verschärfen.
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Dem können wir nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Minuten für einen politischen Ritt durch weite und wesentliche Teile unseres Sozialstaats – da muss man sich ein wenig konzentrieren. Ich möchte vier Punkte herausgreifen, die mir ganz besonders wichtig sind:
Als Allererstes. Die SPD teilt zutiefst die Forderung nach einer Kindergrundsicherung. Kinder haben in einem System für Arbeitslose nichts, aber auch gar nichts verloren.
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Aber wer glaubt, Chancengleichheit allein durch eine anständige Geldleistung herstellen zu können, wird nicht nur in der Pandemie eines Besseren belehrt. Ohne eine starke und funktionierende Infrastruktur, die Kinder und Jugendliche und ihre Familien unterstützt, die Nachteile ausgleicht, ist es nicht zu leisten. Deswegen hat unsere Kindergrundsicherung zwei Säulen: eine anständige und gute finanzielle Leistung und starke Investitionen in Infrastruktur für mehr Teilhabe und echte Bildungsgerechtigkeit.
({1})
Zweitens. Wir wollen eine Grundsicherung, die stigmatisierungsfrei allen hilft, die in Not geraten sind und bei denen solidarische Sicherungssysteme nicht oder nicht mehr wirken. Wir wollen eine Grundsicherung, die allen individuell gerecht wird und nicht für Selbstständige ein anderes System aus Steuermitteln schafft mit höheren und anderen Leistungen als für alle anderen. Wir wollen vielmehr eine Grundsicherung, die nach persönlichem Bedarf und Möglichkeiten differenziert und an die verschiedenen Lebenslagen angepasst ist. Eine stigmatisierungsfreie Grundsicherung, die Menschen wieder in gute Arbeit bringt – dazu hat Hubertus Heil dankeswerterweise erste sehr gute Vorschläge gemacht. Mein Kollege Martin Rosemann wird dazu noch mehr ausführen.
Da komme ich direkt zum dritten Punkt, nämlich zu dem Recht auf Arbeit. Die allermeisten Menschen wollen durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt sichern.
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Wer arbeitslos wird, hat das nur selten selbst zu verantworten. Wir wollen, dass jeder und jede, der oder die arbeiten will, auch gut arbeiten kann. Das gilt für diejenigen, die arbeiten – dass sie in Arbeit bleiben; durch Qualifizierung und Gesundheitsschutz –; das gilt für diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben – durch ein konkretes, adäquates Arbeitsangebot oder Qualifizierungsangebot –, und das gilt für diejenigen, die lange raus sind, wie bereits beschrieben. Wir sehen uns in der Verantwortung, für alle, die arbeiten wollen, auch gute Arbeit zu ermöglichen.
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Beim vierten Punkt geht es darum, das komplizierte Leben in Deutschland für alle leichter zu machen und Bürgerinnen und Bürger von Bürokratie zu befreien. Uns reicht es nicht, wie bei Ihnen, nur Leistungen zum Lebensunterhalt aus einer Hand zu gewähren. Unser Bürgerservice soll alle Leistungen des Sozialstaates umfassen. Er berät nicht nach Sozialgesetzbüchern, sondern nach Lebenslagen, und er übernimmt als Partner der Menschen Verantwortung dafür, an diese Leistungen zu kommen und die Anträge zu stellen.
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Er hat viele verschiede Zugänge, damit ihn alle erreichen können und er alle erreicht, die ihn brauchen: reale Türen vor Ort, die gut erreichbar sind, aber auch eine digitale Tür. Er ist aufsuchend, und, vor allem, er ist ambitioniert.
Glück auf!
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nun lauschen wir den Worten des Kollegen Pascal Kober, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorneweg: Lieber Bundesminister Hubertus Heil, Sie sind am Wochenende mit einem eigenen Reformvorschlag für Hartz IV an die Presse gegangen, an die Öffentlichkeit gegangen. Da muss ich sagen: Reichlich spät. Dafür hätten Sie vier Jahre lang Zeit gehabt. Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, mit einem Vorschlag zu kommen, zeigt letzten Endes, dass Sie es wahrscheinlich gar nicht ernst meinen mit einer Reform, und das ist nicht in Ordnung.
({0})
Aber ich möchte natürlich vor allen Dingen zu dem Antrag der Grünen sprechen. Er enthält viele einzelne Forderungen, über die man streiten kann. Er enthält auch einzelne Forderungen, wo wir miteinander am selben Strang ziehen. Es ist erfreulich, dass Sie sich da wirklich im Detail Gedanken gemacht haben.
Aber Sie wissen natürlich, dass wir an einer Stelle einen fundamentalen Gegensatz austragen müssen, und das ist die große Frage, ob wir von den Mitwirkungspflichten im Hartz-IV-System absehen wollen. Wir sehen in den Mitwirkungspflichten letztlich den Spiegel eines Gesellschaftsverständnisses, nach dem alle Menschen zu wechselseitiger Solidarität und Verantwortung verpflichtet sind – je nach ihrer individuellen Fähigkeit, je nach ihrem individuellen Können.
Das bedeutet für die einen in einer Gesellschaft, dass sie Einkommensteuer bezahlen, dass sie Sozialversicherungsbeiträge entrichten auf ihre Arbeit, dass, wenn sie das nicht tun, die Gesellschaft sie zu Recht zur Verantwortung zieht, sie also sanktioniert. Und das bedeutet auf der anderen Seite, dass wir von denjenigen, die arbeitsuchend sind – das sind ja, das wissen Sie, nicht die Schwächsten in unserer Gesellschaft –, also von denjenigen, die arbeiten können und wollen, auch eine Verantwortung, eine Mitwirkung erwarten bei der Verkürzung der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit.
({1})
Das ist eine fundamentale Frage an unser Gesellschaftsverständnis. Da haben wir eine andere Sicht auf die Dinge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen.
({2})
Glücklicherweise muss man ja feststellen, dass nur ein ganz kleiner Teil überhaupt sanktioniert wird.
({3})
Wenn wir diese Sanktionen so groß machen, sie zum Problem machen, dann müssen wir auch sehen, dass das gleichbedeutend damit ist, dass wir die Anstrengung der 97 Prozent Leistungsbezieher, die nicht sanktioniert werden, letztlich nicht wertschätzen, sie geringschätzen, und das sollten wir nicht tun.
({4})
Da gibt es viele, die strampeln, die kämpfen, die mitwirken. Diese Mühe sollten wir wirklich respektieren.
({5})
Was ich gut finde an Ihrem Antrag, ist, dass Sie sich die Frage der Zuverdienstgrenze stellen. Was ich gut finde an Ihrem Antrag, ist, dass Sie darauf hinweisen, dass die Betreuungsquote in den Jobcentern verbessert werden muss. Wir haben da einen guten Vorschlag gemacht. Bei Ihnen fehlt noch ein bisschen die Idee, wie man das erreichen könnte.
({6})
Da haben wir schon etwas präzisere Vorstellungen in der Öffentlichkeit geäußert und in den Bundestag eingebracht. Klar ist auch, dass wir entbürokratisieren müssen und dass es klug wäre, eine Bagatellgrenze, die Sie bei 50 Euro sehen – wir haben mal 25 Euro in den Deutschen Bundestag eingebracht –,
({7})
einzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Diskussion, auch über fundamentale Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Als nächste Rednerin wird die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke, zu uns sprechen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines sollten wir hier am Anfang endlich mal festhalten: Hartz IV war eine richtig miese Idee, und das von Anfang an.
({0})
Aus Zeitgründen nur ein Beispiel von vielen für das tägliche Verzweifeln daran. Ich zitiere dazu aus dem Brief eines Mannes aus Sachsen, der als Trainer arbeitete und unglücklicherweise in Hartz IV rutschte. Er schreibt: Was ich jetzt erlebe, konnte ich mir lange für Deutschland nicht vorstellen. Nachdem ich beim Angebot als Etikettenkleber, was für mich der direkte Weg in die Altersarmut gewesen wäre, eine vernünftige Bezahlung gefordert habe, wurde ich von Amts wegen sanktioniert. Dabei hatte ich nur das Durchschnittseinkommen von Sachsen angenommen. Ich habe mittlerweile zwei Empfänger kennengelernt, die aus Angst schon eine Nacht vorher nicht schlafen können, wenn sie zum Amt müssen. Zurück bleibt bei diesen Menschen versteckte Wut. – Zitat Ende. Zurück bleibt Wut.
Ja, Hartz IV hinterlässt Spuren, nicht nur auf den Rentenkonten, sondern auch auf den Seelen der Menschen. Deswegen müssen wir Hartz IV mit seinem Sanktionssystem, dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft und den kleingerechneten Regelsätzen endlich überwinden.
({1})
Seit Beginn sagen wir als Linke: Hartz IV gehört ersetzt durch gute Arbeit, durch eine bessere Arbeitslosenversicherung und durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung; denn kein Mensch sollte im Monat unter 1 200 Euro fallen.
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Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Linke mit ihrer Kritik an Hartz IV im Bundestag recht alleine. Inzwischen hat sich rumgesprochen, dass wir dazu Alternativen brauchen. Darauf können wir als Linke auch ein bisschen stolz sein. Als ich das vorliegende Konzept der Grünen las, habe ich mich ein bisschen an unsere sanktionsfreie Mindestsicherung erinnert gefühlt und gedacht: Mensch, das macht echt Lust auf neue linke Mehrheiten; denn gemeinsam könnten wir Millionen im Land die Last der Armut und der Sanktionen nehmen. Wenn wir Millionengewinne und Millionenerbschaften stärker besteuern, wäre es finanzierbar, alle hierzulande vor Armut zu schützen.
({3})
Doch solange die Union in der Regierung ist, wird sie genau das blockieren. Insofern sage ich an die Adresse der Grünen: Wenn ihr auf Schwarz-Grün setzt, werdet ihr dieses schöne, dieses gute Konzept der Garantiesicherung leider in die Tonne treten können. Um Hartz IV zu überwinden, brauchen wir soziale Mehrheiten links der Union.
({4})
Abschließend ein Satz an die Erwerbsloseninitiativen und sozialen Beratungsstellen im Land: Eurer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass nun auch Parteien, die einst Hartz IV einführten, davon abgerückt sind. Ich weiß, eure Arbeit ist gerade verdammt schwer, aber ich rufe euch zu: Lasst nicht locker, macht weiter Druck, bleibt dran; denn Hartz IV war eine richtig miese Idee. Höchste Zeit, damit Schluss zu machen! Höchste Zeit für eine sanktionsfreie Mindestsicherung!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping. – Vorletzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wochen sind alle Regelsätze im Bereich der Grundsicherung gestiegen.
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Alle Regelsätze! Vor wenigen Wochen haben wir hier gemeinsam mit breiter Mehrheit beschlossen, 2,6 Milliarden Euro mehr ins System zu geben für die Menschen, die sich im Regelkreis der Grundsicherung befinden. Und in die Berechnung des Regelbedarfs haben wir – das ist eine Veränderung – die Kosten für einen Mobilfunkvertrag aufgenommen, um mehr Beteiligung, um mehr Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, und das in einer Zeit, da wir uns in der größten wirtschaftlichen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. Ich sage das nur, um den Stabilitäts- und Ankercharakter unseres Sozialsystems zu betonen. Ich will einmal festhalten, worüber wir heute sprechen: über das im internationalen Vergleich stärkste und stabilste Sozialsystem.
({1})
Es wäre natürlich zu einfach, zu sagen: Wenn wir jetzt so gut dastehen, dann darf das System nicht reformiert werden. – Aber der jetzige Status ist nicht in Stein gemeißelt. Natürlich muss das System reformiert werden; permanent müssen wir daran arbeiten. Wir müssen Systeme anpassen, wir müssen sie vereinfachen, wir müssen sie entbürokratisieren.
Aber wir dürfen eines nicht vergessen – das geht mir bei Ihrem Antrag ab –, nämlich die Frage des Ausgleichs. Wenn wir über Ausgleich sprechen, dann sprechen wir darüber, dass wir natürlich denen verpflichtet sind, die auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, weil sie unverschuldet arbeitslos geworden sind, weil sie individuelle Schicksale erlitten haben. Denen gebührt die Solidarität der Gesellschaft. Diese Gruppe müssen wir fördern. Es ist aber auch Teil der Wahrheit, dass sich nicht alle Menschen in der Grundsicherung an alle Vorgaben, Regeln und Fristen halten. Das ist der kleinste Teil; nicht einmal jeder Zehnte ist sanktioniert worden. Ich sage das, weil die Frage, wie wichtig Sanktionen für Personen im Regelkreis sind, in der Diskussion immer überhöht wird. Also, nur der kleinste Teil der Menschen in Grundsicherung ist sanktioniert worden. Das heißt: Die meisten halten sich an die Regeln; das ist anscheinend nicht so schwierig. Aber es gibt einen kleinen Teil, der sich halt nicht an die Regeln hält, der Fristen platzen lässt, der nicht jede zumutbare Arbeit annimmt. Auch um diese Menschen müssen wir uns kümmern. Dafür gibt es Sanktionen; das ist das Instrument des Forderns.
Nur im Ausgleich, nur im Gleichgewicht schaffen wir einen sozialen Frieden in diesem Land. Das war einer der Gründe, warum man Hartz IV Anfang der 2000er-Jahre eingeführt hat: um den sozialen Frieden nachhaltig zu erhalten. Das geht mir bei Ihrem Antrag ab. Das Wichtigste, wenn wir über ein Existenzminimum sprechen, ist, dass dieses in beiden Ausgleichssphären Akzeptanz schafft, auch bei denen, deren Verdienst leicht über dem Existenzminimum liegt, die keine Alimentationszahlungen vom Staat beziehen, die ihre Wohnung selber bezahlen müssen, bei denen es keine Wohnraumuntersuchung durch das Amt gibt, weil der Markt die Miete bestimmt. Auch um die müssen wir uns kümmern, auch denen sind wir Rechenschaft schuldig. Ihr Antrag geht weit an einem Ausgleich, weit an Stabilität vorbei, und deswegen können wir ihn nur ablehnen.
Gleichwohl müssen wir uns im weiteren Verfahren darüber unterhalten, was wir bei Hartz IV verändern müssen. Ich denke, wir müssen uns sehr wohl darüber unterhalten, wie wir mit Hinzuverdienstgrenzen einen unterschwelligen, besseren Zugang zum ersten Arbeitsmarkt oder überhaupt wieder zurück zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Das muss attraktiv sein, aber es darf nicht zu Fehlallokationen kommen. Ich glaube, dass wir die Antragsverfahren entbürokratisieren und auch in der Kommunikation mit den Ämtern viel mehr auf Digitalisierung setzen müssen und auch das Hartz-IV-Verfahren viel stärker digitalisieren und anpassen müssen. Und ich glaube, dass wir uns im Zusammenhang mit Digitalisierung und Entbürokratisierung auch über Bagatellgrenzen unterhalten müssen, nicht, um diejenigen zu privilegieren, die sich nicht an Regeln halten, sondern um das System nicht zu überfrachten. So schaffen wir wieder ein stabileres System – nicht durch eine Revolution, wie Sie es vorhaben, sondern durch eine Evolution –, und wir werden permanent daran arbeiten.
Noch mal: Vor 13 Tagen trat die Erhöhung der Regelsätze in Kraft. Mit dieser Erhöhung zum 1. Januar 2021 haben wir als Parlament ein Zeichen gesetzt, wie wichtig uns Stabilität ist, auch eine finanzielle. Das darf nicht bloß eine Phrase bleiben. Unser Ziel muss sein, Stabilität und Ausgleich zu schaffen. Dann haben wir auch soziale Sicherheit im Land und ein stabiles System. Ihr Antrag wird diesem Ziel leider nicht gerecht.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Grünen ist es wieder mal wie bei Hase und Igel: Der grüne Hase legt einen Antrag zur Änderung des SGB II vor, und der rote Igel Hubertus hat schon den Gesetzentwurf parat,
({0})
einen Gesetzentwurf, der umfassend Unterstützung erfährt von Wohlfahrtsverbänden, von Gewerkschaften und von namhaften Ökonomen.
({1})
Mit den Reformplänen werden die richtigen Lehren aus der Coronakrise gezogen, sagt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, sagt – ich zitiere –:
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dreht an den richtigen Stellschrauben, wenn es dem bedingungslosen Grundeinkommen eine Absage erteilt und stattdessen das SGB II an kritischen Punkten wie dem Sanktionsrecht und der Weiterbildung reformiert.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Sozialstaatskonzept der SPD setzt im Wesentlichen auf zwei Dinge, auf das Recht auf Arbeit – Dagmar Schmidt hat darüber gesprochen – und auf den Sozialstaat als Partner, der Menschen in konkreten Situationen individuell unterstützt und hilft, der Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Das gilt natürlich auch für das SGB II und für die Jobcenter.
Das bedeutet im Wesentlichen vier Dinge:
Erstens. Es geht um eine andere Kultur. Dazu gehört, was Andreas Peichl vom ifo-Institut sagt:
Es ist falsch, gleich zu sagen: Du beantragst Hartz IV, also musst du dir eine neue Wohnung suchen.
Dazu gehört aber auch: Keiner, der zum Amt geht, ist Bittsteller; es sind Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Rechten. Ihnen müssen wir Hilfen aus einer Hand geben, anstatt sie von einer Stelle zur anderen Stelle zu schicken. Das gilt für das Jobcenter, aber auch darüber hinaus. Deshalb wollen wir Bürgerservicestellen für alle Bürgerinnen und Bürger und für alle Sozialleistungen, wie es Dagmar Schmidt beschrieben hat.
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Zweitens. Es geht um ein Bündnis auf Augenhöhe zwischen den Betroffenen und den Jobcentern. Es geht um einen respektvollen Umgang, um einen Kooperationsplan mit konkreten Verabredungen, mit konkreten Schritten, mit einer klaren Verabredung, was der Betroffene macht und was das Jobcenter macht, und zwar verständlich und klar formuliert, gemeinsam und auf Augenhöhe vereinbart.
Drittens. Es geht um individuelle Unterstützung, um umfassende Förderung und Unterstützung. Deshalb wollen wir aufsuchende Sozialarbeit und individuelles Coaching, einen monatlichen Weiterbildungsbonus und dass auch das dritte Umschulungsjahr im Zweifel finanziert wird. Um Andreas Peichl noch einmal zu zitieren:
Es ist ganz zentral, dass man vom ersten Tag an versucht, die Leute zu qualifizieren.
Viertens. Es geht um Bürokratieabbau für die Betroffenen und für die Beschäftigten. Deshalb wollen wir eine Bagatellgrenze.
Meine Damen und Herren, zum Schluss: Ein solcher umfassender Hilfeansatz kann nur funktionieren, wenn Hilfe und Unterstützung immer im Vordergrund stehen und wichtiger sind als Sanktionen. Wenn man aber so individuell –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– fördert und unterstützt, kann man auch Mitwirkungspflichten verlangen. Auch dies ist eine Frage der Solidarität.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Angriff auf die Herzkammer der amerikanischen Demokratie, das Kapitol, hat auch viele von uns ins Herz getroffen. Schließlich verdanken wir Deutschen unsere Demokratie nach 1945 auf ganz besondere Weise dem großen Einsatz der USA. Das dürfen und das werden wir nicht vergessen.
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Doch so tief der Schock über die Vorfälle auch sitzt: Diese Vorfälle kamen nicht überraschend. Donald Trump hat die demokratische Entscheidung der amerikanischen Wählerinnen und Wähler missachtet, und er hat demokratische Spielregeln mit Füßen getreten, gerade in den letzten Wochen.
Ein großartiges Amerika, das in der Welt respektiert wird, hatte er, als er gewählt wurde, seinen Anhängern versprochen. Die Reaktionen aus Peking und Moskau auf die Ausschreitungen in Washington, die Schadenfreude in Teheran, Caracas oder Pjöngjang sprechen auf schmerzhafte Weise für sich. Sie zeigen, was daraus geworden ist. Sie zeigen, welchen Bärendienst Rechtspopulisten ihren Ländern erweisen und welche Gefahr für die Demokratie von ihnen ausgeht.
({1})
Es wird der neuen US-Regierung unter Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris viel Kraft abverlangen, das Vertrauen in die amerikanischen Institutionen wiederherzustellen.
Zugleich gilt aber auch: Die amerikanische Demokratie und ihre berühmten Checks and Balances haben den Angriffen standgehalten. Noch in der Nacht nach dem Sturm auf das Kapitol hat der Kongress Joe Biden als legitimen Sieger der Präsidentschaftswahl bestätigt. Deshalb wäre es völlig falsch, jetzt selbstgerecht über die USA zu urteilen.
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Die gesellschaftliche Spaltung, die es dort gibt, sehen wir nicht nur dort, sondern längst auf beiden Seiten des Atlantiks. Auch wir in Deutschland mussten erleben, wie aus hetzerischen Worten hasserfüllte Taten wurden: in Halle, Kassel, Hanau und vor einigen Wochen hier, auf den Stufen des Reichstages.
Meine Damen und Herren, in einer Zeit der Großmächterivalität brauchen Deutschland und Europa eine starke handlungsfähige und weltzugewandte amerikanische Demokratie. Deshalb müssen wir gemeinsam den Schulterschluss aller Demokraten gegen die Feinde der Demokratie suchen, innerhalb unserer eigenen Gesellschaften, aber auch darüber hinaus, weltweit. Dieser Schulterschluss beginnt damit, die Urheber solcher Entgleisungen zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu zählen die gewalttätigen Randalierer, und dazu zählen auch ihre Anstifter. Wer hetzt, trägt Verantwortung.
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Meine Damen und Herren, es steht mir nicht zu, die Einleitung eines zweiten Impeachment-Verfahrens gegen Präsident Trump zu bewerten. Letztlich ist es aber nichts anderes als der Ausdruck des amerikanischen Bedürfnisses, die Beschädigung ihrer demokratischen Institutionen nicht folgenlos zu lassen. Dabei – auch das muss klar sein – kann die juristische Aufarbeitung natürlich nur ein erster Schritt sein für das, worum es in den USA in der nächsten Zeit ganz besonders gehen wird, nämlich die gesellschaftliche Aussöhnung.
Dass Politiker wie Donald Trump und seine Unterstützer jahrelang ungebremst manipulieren und hetzen konnten, ist auch das Resultat einer völlig veränderten Kommunikations- und Medienlandschaft. Soziale Netzwerke tragen heute große Verantwortung für das Funktionieren unserer Demokratie. Deshalb dürfen wir die Antwort auf die Frage, wie wir Hetze im Netz eindämmen und wo wir die Linie zwischen Meinungsäußerung und Hassrede ziehen, nicht allein den CEOs im Silicon Valley überlassen.
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Dafür braucht es klare rechtsstaatliche Vorgaben. Vor allem ein nicht unerheblicher Teil unseres Landes, auch auf der politischen Bühne und in diesem Haus, hat das bis heute nicht verstanden. Wohin diese Uneinsichtigkeit führt, zeigt auch der Blick auf die Gewalt in Washington.
Deutschlands Regeln für Plattformbetreiber stellen klar: Die Meinungsfreiheit schützt ganz besonders Ansichten, die der eigenen entgegentreten und die uns möglicherweise nicht gefallen. Aber sie endet genau dort, wo strafbare Bedrohung und Hetze beginnen, auch in den sozialen Netzwerken. Mit dem Digital Services Act gehen wir in der EU in den kommenden Monaten bei diesem Thema weiter voran.
Ich bin zuversichtlich, dass wir künftig in Präsident Biden einen starken transatlantischen Partner haben, wenn es um die Verteidigung unserer Demokratien geht, und das nicht nur gegen Hetze und Verschwörungstheorien im Internet. Joe Biden denkt über ein internationales Netzwerk der Demokratien nach. Wir haben in den letzten drei Jahren vor allem mit unseren französischen Freunden mit der Allianz für den Multilateralismus in eine ganz ähnliche Richtung gearbeitet, und diese Arbeit wollen wir von Tag eins des Amtsantritts der neuen US-Regierung an gemeinsam fortsetzen.
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Meine Damen und Herren, was uns mit der neuen US-Regierung verbindet, ist die feste Überzeugung, dass die Demokratie auch im 21. Jahrhundert die beste und auch die menschlichste Staatsform ist und dass eine freie Gesellschaft gut beraten ist, auf die Stimmen der Vernunft und gerade in Zeiten wie diesen auch auf die der Wissenschaft zu hören. So haben wir – übrigens über den Atlantik hinweg – in Rekordzeit Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickelt, und darum geht es in diesen Tagen ganz besonders. So sollte es uns auch gelingen, unsere Demokratien gegen das Virus gesellschaftlicher Spaltung zu immunisieren, nicht nur bei uns, sondern weit über die Grenzen Europas hinaus.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Herr Minister Maas. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Gesetzwidrigkeiten bei den Vorgängen am Kapitol gehören streng bestraft. Die politische Auseinandersetzung ist ausschließlich mit friedlichen demokratischen Mitteln zu führen. Aber was für ein Schauspiel! In den USA eskaliert eine Demonstration, und in Deutschland beeilt man sich, festzustellen, dass hier ein ähnlicher Mob agiert. Gut, dass wir in Deutschland eben keinen vergleichbaren Vorfall, etwa vor dem Reichstag, hatten. Während im Kapitol ein Haufen stundenlang wütete, verlief sich hier die Truppe mit ihren Treppenselfies binnen Minuten – kein Eindringen, keine Verletzten, keine Sachbeschädigung, drei Polizisten genügten.
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Aber man zieht einen schamlos falschen Sachvergleich, um mit Schreckensbildern aus den USA die deutsche Bevölkerung gegen Kritiker der Regierungspolitik aufzuwiegeln.
({1})
Das ist Hass, das ist Hetze gegen demokratische oppositionelle Minderheiten.
({2})
Warum werden Regierungskritiker diffamiert? Nun, indem man sie quasi außerhalb der Meinungsvielfalt stellt, will man sie a priori ausgrenzen und damit anzeigen, dass man sich mit der Kritik, etwa an überzogenen Lockdown-Maßnahmen,
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gar nicht auseinanderzusetzen brauche, da das sowieso Gedankenverbrecher sind. Nichts möchte die Regierung lieber, als dass sich die Opposition radikalisiert. Wo das ausbleibt, fantasiert man sich das einfach herbei,
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wie der bayerische Verbalrambo mit seiner Corona-RAF; denn dann muss man der Opposition nicht mehr mit der Kraft des besseren Arguments begegnen – wo das Eis dünn wäre –, sondern kann sich als Ordnungsmacht gegen Gesetzesbrecher stilisieren. Wer ist da ein Treiber der gesellschaftlichen Spaltung, wer Provokateur der Hysterisierung? Es ist diese Regierung selbst, die ihre Vorgaben stets als alternativlos darstellt und Andersdenkende ausgrenzt.
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Sollte Trump ein schlechter Verlierer sein, was wäre dann von Deutschland zu halten, wo eine Kanzlerin ein Wahlergebnis für unverzeihlich erklärt und verkündet, es gehöre rückgängig gemacht? Wer hat da ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie, meine Damen und Herren?
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Und was ist davon zu halten, wenn es beim Verfassungsschutz, einer der Regierung unterstehenden Behörde, laut deren Ex-Chef politischen Druck gab, eine bestimmte Partei unbedingt zu beobachten, wenn man sogar eine Pressekonferenz abhält, die hinterher als gesetzwidrig eingestuft wurde? Muss sich der Verfassungsschutz vielleicht mal selbst beobachten?
Ja, die Demokratie in Deutschland ist gefährdet. Mehrere Landesverfassungsgerichte mussten nach AfD-Klagen das verfassungswidrige Parité-Gesetz gegen den Willen seiner Unterstützer Giffey, Barley, Lambrecht, Widmann-Mauz stoppen. Das Bundesverfassungsgericht erkannte, ganz im AfD-Sinne, dass die illegale Staatsfinanzierung beim EZB-Anleihenkauf grundgesetzwidrig ist. Die Demokratie, die von Sprechfreiheit lebt, ist auch in Gefahr, wenn schon die Verwendung einzelner Wörter sanktioniert werden soll – Volk, Nation –, und wenn derjenige, der nicht auf Regierungslinie ist, gleich den Zusammenhalt gefährdet, und das, obwohl Meinungsstreit und das Ringen um den Weg doch das Wesen der Demokratie ist.
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Zunehmend werden abweichende Meinungen mit gesellschaftlicher Ächtung, medialer Diffamierung und Jobverlust abgestraft. Wer nicht mitspielt bei den Umbauplänen der Regierung für dieses Land, wird bekämpft, gesperrt, gelöscht. Auch der vorpolitische Raum wird auf Linie gebracht, von der Schriftstellerin bis zum Kabarettisten. Eine Mehrheit der Deutschen hält sich laut Umfrage mit der eigenen Meinung inzwischen lieber zurück, anstatt offen zu sagen, was man denkt; denn was stört, wird zur Nichtmeinung erklärt, als Hass deklariert, dem Grundrechtsschutz entzogen.
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Man legt eine offizielle Wahrheit fest, nennt Zweifel daran Hetze und Verschwörung, will so eben doch Meinungen verbieten.
Der eigentliche Angriff auf die Demokratie ist die Instrumentalisierung der Ausschreitungen im Kapitol, um eine flächendeckende Zensur zu etablieren. Die Löschorgien im Netz trommeln täglich zum Marsch in den digitalen Totalitarismus. Man will alle Kritiker zum Schweigen bringen – eine Bücherverbrennung von gigantischem Ausmaß, meine Damen und Herren.
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Dabei gefährden diejenigen den Rechtsstaat, die eklatante Grundrechtsverletzungen ohne wirkliche Abwägung der Angemessenheit anordnen. Diejenigen gefährden die Demokratie, die meinen, die Bevölkerung täuschen zu können und ihr bei Gelegenheit einer Gesundheitskrise mal eben eine Haftungs- und Finanzunion unterjubeln zu können
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oder die Beraubung in dreistelliger Milliardenhöhe durch einen vermeintlichen Wiederaufbaufonds.
Meinungsvielfalt ist doch Voraussetzung der Demokratie. Aber Politik und Medien werden dem Gebot nicht gerecht, alle Stimmen der Fachwelt einzuholen, alle Meinungen abzubilden. Stattdessen gibt es einseitige, einzig gültige Vorgaben – ARD und ZDF als Impfzentren des Wahrheitsministeriums.
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Wenn jemand in Deutschland die Demokratie gefährdet, dann ist es eine Regierung, die ihr Handeln als alternativlos ausgibt, die sich der Debatte entziehen und alle Gegenstimmen von vornherein diskreditieren will. Deshalb ist die Alternative für Deutschland geradezu ein Schutz der Demokratie in Deutschland.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Curio. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf darauf hinweisen, dass Zwischenrufe das parlamentarische Geschäft beleben. Wenn Sie, Herr Kollege Gremmels, allerdings eine relativ dichte Maske tragen, dann kommt hier von Ihren Zwischenrufen außer einer großen Lautstärke relativ wenig an.
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Nehmen Sie sich ein Beispiel am Kollegen Theurer. Er hat beim Zwischenruf die Maske mal kurz abgenommen und sie dann wieder aufgesetzt. So haben wir ihn wenigstens verstanden.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die ungeheuerlichen Ereignisse in Washington auch uns eine erneute Mahnung sein sollten, dass unsere Demokratie zu verteidigen ist, dann hat der Kollege Curio genau diesen Beweis geliefert.
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Ich sage Ihnen, Herr Curio: Wir haben aus der Vergangenheit gelernt. Wehret den Anfängen! Sie drehen die Dinge hier um.
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Was Herr Gauland angekündigt hat – „wir werden sie jagen“ –, ist genau das, was Sie machen. Das ist eine Diffamierung des demokratischen Rechtsstaates, und das werden wir hier in Deutschland nicht mehr zulassen. Darauf können Sie sich verlassen.
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Die Vorgänge in Washington hier verharmlosend darzustellen, indem man sagt, da sei eine Demonstration eskaliert – das hätte Präsident Trump nicht besser sagen können, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Er selbst – viele in Amerika sehen das mittlerweile als den Versuch eines Staatsstreichs an – hat sie losgeschickt. Er selbst hat ihnen den Auftrag gegeben, Richtung Kapitol zu marschieren. Das muss man sich vorstellen: Das Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten von Amerika hat den Mob aufgerufen, die Herzkammer der Demokratie anzugreifen. – So war es, und das lassen wir von Ihnen hier auch nicht anders darstellen.
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Das muss uns Anlass sein, hier und auch international aufmerksam zu sein und die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika und natürlich auch – das hat Außenminister Maas gerade eben vollkommen richtig gesagt – mit der neuen Biden-Administration zu suchen.
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– Auch mit Kamala Harris, selbstverständlich.
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– Ich freue mich darüber, dass sie gewählt worden ist.
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Wenn Sie an dieser Stelle eine abweichende Meinung vertreten, ist das auch bezeichnend, und ich warte auf Ihre Begründung.
Ich will nur darauf hinweisen: Das soll kein Anlass für uns sein, uns zurückzulehnen und zu meinen, nun läuft alles von alleine; jetzt haben wir eine neue Administration, und alles wird wieder gut. – Nein, die neue Administration – Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris – wird sich sehr auf die Innenpolitik konzentrieren müssen. Trump hat in Amerika nicht nur sozusagen den demokratischen Rechtsstaat, sondern durch eine Vernachlässigung der Coronaepidemie auch das gesamte Staatsgefüge in große Gefahr gebracht. Das heißt, die Vereinigten Staaten von Amerika brauchen jetzt Partner. Wir, Europa und Deutschland in Europa, müssen jetzt Freunde und Partner dieser neuen Administration und dieses Amerikas sein, mit dem wir jahrzehntelang erfolgreich zusammengearbeitet haben und dem wir so viel zu verdanken haben.
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Deswegen müssen wir aber nicht alles richtig finden, was die amerikanische Sicht der Dinge ist.
Heute hat der Außenminister Pompeo als einzige Aussage noch einmal „America First“ gepostet. Wir wissen aber: Die neue Administration denkt anders. Sie denkt transatlantisch; sie ist bereit zur Partnerschaft. Sie hat natürlich eigene Interessen, aber jetzt müssen Deutschland und Europa bereit sein, sich unterzuhaken. Es darf doch nicht das Ergebnis sein, dass sich die Machthaber in Peking und in Moskau auf die Schenkel klopfen und sich darüber freuen, dass demokratische, freiheitliche Staaten in Schwierigkeiten sind. Nein, wir müssen uns jetzt unterhaken und zusammenarbeiten.
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Dann ist auch im Klimaschutz mehr möglich; das ist wichtig. Biden hat dazu angekündigt, er werde extra einen Beauftragten ernennen, nämlich John Kerry, den früheren Außenminister. Das ist ein Schwergewicht. Das heißt, das ist eine wichtige Zukunftsaufgabe.
Wir dürfen uns aber die Themen nicht aussuchen und nicht nur die nehmen, die wir schön finden. Auch die gemeinsame Sicherheitspolitik ist wichtig. Deutschland muss seine Beiträge zur Lastenteilung in der NATO leisten. Ich will jetzt nicht wieder mit den 2 Prozent anfangen, aber es gehört dazu, dass wir hier auch in Zeiten der Coronaepidemie unsere Hausaufgaben machen und eine aktive Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreiben. Überall dort werden wir gemeinsam gebraucht. Wir müssen daneben eine gemeinsame China-Politik mit den USA formulieren, und wir haben die Chance, wieder eine gemeinsame Iran-Politik zu formulieren.
Das sind sehr viele große internationale außenpolitische Aufgaben. Lassen Sie uns gemeinsam diese Chance nutzen, mit dieser neuen Administration voranzugehen.
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Abschließend: Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten wir uns bitte keinen Antiamerikanismus. Amerika ist ein vielfältiges Land. Es gibt manches, was ich nicht gut finde, aber gerade in diesen Tagen sage ich einmal der linken Seite des Hauses: Joan Baez ist gerade 80 Jahre alt geworden. Das ist auch Amerika.
Es ist also ein tolles Land, es ist ein vielfältiges Land, es steht an unserer Seite, und wir sollten aktiv auf diese USA zugehen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Johann Wadephul. – Einen schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir Ihnen. Für die FDP-Fraktion redet Alexander Graf Lambsdorff.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was waren das für schreckliche Bilder! Verschwörungsfanatiker, Neonazis, Demokratiefeinde, Wissenschaftsleugner, Rassisten erstürmen das Parlament. Fahnen rechtsextremer Organisationen waren zu sehen, auch viele Abzeichen und Symbole verfassungsfeindlicher Gruppierungen. Die Polizei in der Hauptstadt war kaum darauf vorbereitet und tat ihr Bestes, den Ansturm zurückzuschlagen.
Und im Parlament? Einige Abgeordnete mischten sich unter die Gewalttäter, nahmen sogar an der Demonstration teil, von der die Gewalt ausging, Gewalt, die darauf abzielte, die Freiheit, die Verfassung und die Demokratie zu untergraben, ja, zu zerstören. Schreckliche Bilder, in der Tat!
Meine Damen und Herren, ich rede über den 29. August 2020 hier in Berlin. Ich rede über den – dank unserer Polizei – glücklicherweise gescheiterten Versuch, in den Bundestag einzudringen.
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Ich rede über die Demokratiefeinde in diesem Parlament. Es wäre nämlich ganz falsch, wenn wir uns von den Bildern in Washington abwenden und glauben würden, sie beträfen uns nicht auch, und zwar ganz direkt.
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Keine Partei ist den QAnon-Lügen, den Hawleys, Gosars und Cruzes näher als die AfD. Paradoxerweise ist zugleich keine Partei so antiamerikanisch wie unsere Rechtsextremen hier und bewundert, wie Donald Trump auch, nicht etwa naiver-, sondern gefährlicherweise die Autokraten der Welt, ganz gleich, ob Sie sie nun in Moskau oder Damaskus finden. Vielleicht will Herr Chrupalla demnächst einmal nach Minsk; da kann er noch etwas lernen.
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Meine Damen und Herren, was am 29. August 2020 hier geschah, war von der Anlage her das Gleiche wie der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar.
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Ich weiß, der eine oder andere mag sagen: Solche Vergleiche sind schwierig. – Ich sage: Ein Vergleich ist keine Gleichsetzung, aber die Parallelen liegen auf der Hand. Eine große Gruppe von Menschen, die jahrelang von Freiheitsfeinden, Antidemokraten und ihren publizistischen Büchsenspannern mit Lügen in die Irre geführt wurden, schreitet unter Führung zynischer Rädelsführer und gewaltbereiter Gruppen zur Tat, zum versuchten und teilweise vollendeten Verbrechen gegen Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie.
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Die Ereignisse von Berlin wie von Washington waren das Ergebnis eines jahrelangen Angriffs auf die Wahrheit, eines Angriffs auf Fakten und Vernunft, auf Wissenschaft und Logik.
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Schon Hannah Arendt hat das beschrieben: Die Zerstörung des Wissens um das, was richtig ist, was Fakten sind, schafft die Voraussetzung für totalitäre Regime.
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Der Historiker Timothy Snyder hat das letztes Wochenende in der „New York Times“ nachgezeichnet: Durch jahrelange kleine und größere Lügen hat Donald Trump es geschafft, dass seine Anhänger ihm auch seine ganz großen Lügen abgenommen haben.
Seine Gegnerin von vor vier Jahren, Hillary Clinton, verleumdete er als Rechtsbrecherin. „Lock her up!“
({7})
„Sperrt sie ein“, war der Slogan auf seinen Wahlkampfveranstaltungen.
({8})
Und es gibt eine direkte Linie von „Lock her up“ zu „Stop the steal“.
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Auftritt für Auftritt, Lüge für Lüge, Tweet für Tweet behauptete er, die Präsidentschaftswahl gar nicht verloren zu haben, nein, Joe Biden habe die Wahl gestohlen.
All das war keineswegs spontan. Das war nicht naiv; das ist kein Zufall. Donald Trump folgte einem Drehbuch, dem Drehbuch der Autokraten Orban, Kaczynski, Putin oder Erdogan.
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Trump erklärte demokratische Wettbewerber zu Feinden des Volkes, hetzte gegen Minderheiten im eigenen Land,
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fabulierte von einer ständigen Bedrohung aus dem Ausland, besonders durch Zuwanderer, konstruierte angeblich globalistische Eliten und korrupte Medien, die dem Volk die Wahrheit verschweigen. Dann stilisierten er und seine publizistischen Alliierten bei „Fox News“ sich zu den Einzigen, die noch die Wahrheit sagen und das Volk beschützen könnten.
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Das ist zwar alles vollkommen falsch, aber wer sich die Publizistik der Neuen Rechten in Deutschland anschaut, sieht die Parallelen sofort.
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Es ist die Philosophie eines antidemokratischen Rechtspopulismus. Es ist die Philosophie des völkischen Autoritarismus. Es ist die Wurzel der Diktatur, und wir müssen diese Wurzel ausreißen, denn sie führt zu Gewalt, Leid und Tot.
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Meine Damen und Herren, mein persönlicher Held der letzten Wochen ist der republikanische Wahlleiter des Bundesstaates Georgia, Gabriel Sterling, der immer wieder darauf hinwies, dass Worte Konsequenzen haben, dass das Verhalten und die Lügen von Trump und seinen Anhängern dazu führen, dass geschossen werden wird, dass Menschen sterben werden. Aus Worten werden Taten. – Er sollte recht behalten.
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Aber glücklicherweise hatte er auch in einer anderen Hinsicht recht. Die demokratischen Institutionen der Vereinigten Staaten von Amerika waren stärker als ihre Feinde. Gerade in Georgia wurde das klar. Ein Staat mit einem republikanischen Gouverneur, einem republikanischen Innenminister, einem republikanischen Wahlleiter führte die Wahl seiner beiden Senatoren rechtsstaatlich, demokratisch und korrekt durch. Das Ergebnis kann jeden Freund und Kenner des amerikanischen Südens nur überraschen. Zum ersten Mal wurden ein jüdischer und ein schwarzer Politiker von den Bürgerinnen und Bürgern des Peach State als Senatoren ins Kapitol nach Washington entsandt.
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Ich habe lange in den USA gelebt und da studiert und gearbeitet. Damit hätte ich wirklich nicht mehr gerechnet.
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Aber schon vorher, in den Wochen und Monaten davor, haben sich die Wahlbehörden im ganzen Land genau wie Gerichte den antidemokratischen Umtrieben der Trump-Anhänger entgegengestellt. Richterinnen und Richter, nicht wenige von Präsident Trump selbst ernannt, haben alle Versuche zurückgewiesen, korrekt ermittelte Wahlergebnisse gerichtlich wieder zu kassieren. Auch der amerikanische Kongress hat nach Unterbrechung durch die Aktivisten, durch die Eindringlinge seine Aufgaben verfassungsgemäß erfüllt und festgestellt: Joe Biden wird der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Herr Graf Lambsdorff, Sie denken bitte an die Redezeit.
Jawohl. Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, nutzen wir die Chance, die die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris bietet! Setzen wir uns für die Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft ein! Kämpfen wir gemeinsam den Kampf gegen die Feinde von Frieden, Freiheit und Demokratie! Lassen Sie uns in Deutschland, Europa und den USA daran arbeiten, einander gute Freunde wo möglich, faire Konkurrenten wo nötig, vor allem aber verlässliche Verbündete für die Freiheit zu sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Alexander Graf Lambsdorff. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Petra Pau.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es waren schlimme Bilder aus den USA, als am 6. Januar dieses Jahres ein wütender Mob in Washington das Kapitol stürmte – furchtbar, weil es nicht schlechthin Randale war, sondern eine gewalttätige Attacke gegen die parlamentarische Demokratie. Das lehnen Linke ab, allemal, wenn sie sich wie wir, wie ich für Bürgerinnenrechte und Demokratie engagieren.
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Ja, der US-Präsident Trump hatte dazu ein gerüttelt Maß beigetragen. Deshalb steht er weltweit in der Kritik – endlich. Aber Trump ist nicht das eigentliche Problem, sondern dass zig Millionen US-Bürger seiner abseitigen Politik folgten und folgen.
({1})
Viele der Putschisten ließen schon äußerlich keinen Zweifel aufkommen, dass sie Rassisten, Rechtsextremisten, ja Faschisten sind. Daran gemessen war der Polizeieinsatz gegen sie nahezu entgegenkommend. Das gehört zum Problem, ist aber auch nicht neu.
Nun gibt es solche Ausschreitungen nicht nur in den USA. Auch anderswo gibt es Ähnliches, auch hier in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb will ich mich jetzt gar nicht länger am Kapitol in Washington festhalten, sondern zu den Fragen dieser Aktuellen Stunde kommen. Was ist zur Stärkung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu tun?
Erstens. Man darf diese Entwicklungen nicht kleinreden, sondern man muss sie ernsthaft bearbeiten.
({2})
Zur Erinnerung: Vor einigen Monaten hatte Bundesinnenminister Seehofer eingeräumt, dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Diese Einsicht kam spät, sie war eine Premiere, aber sie ist zutreffend. Die Frage ist nur: Was folgt darauf? So gut wie nichts. Es gibt ernsthafte Hinweise, dass es auch in deutschen Sicherheitsbehörden rechte und rassistische Positionen gibt, dass diese dort präsent sind. Aber anstatt das ernsthaft aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen, wiegelt der Bundesinnenminister weiter ab. Das halte ich für verantwortungslos.
({3})
Gegen Rechtsextremismus und Rassismus helfen letztlich nur engagierte gesellschaftliche Initiativen vor Ort. Sie brauchen von der Politik hinreichende und dauerhafte Unterstützung. Stattdessen werden etliche von ihnen infrage gestellt oder selbst als Extremisten verteufelt, wie zum Beispiel die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“. Ich halte das für hochgradig kontraproduktiv.
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Zweitens weise ich auf tiefer liegende Fehlentwicklungen hin. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu und ebenso die Akzeptanz von Gewalt. Das belegen seit Längerem wissenschaftliche Studien, unter anderem von der Uni Bielefeld, aber nicht nur diese. Brandbeschleuniger für diese Entwicklungen, so Professor Heitmeyer, ist eine Politik, die neoliberal genannt wird und dominant ist: Das Soziale wird kleingeschrieben und die Demokratie entleert. Darüber müssen wir endlich reden. Es muss geredet und gehandelt werden.
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Das fordere ich, das fordert Die Linke erneut und mit Nachdruck.
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Vielen Dank, Petra Pau. – Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Agnieszka Brugger.
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Sehr geehrte Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche haben faschistische Fanatiker das Parlament in den USA angegriffen. Sie hatten nicht nur Handschellen, Sprengstoff und Waffen dabei, sie wollten Politikerinnen und Politiker töten und das Ergebnis freier und fairer Wahlen mit Gewalt zerstören. Viel zu spät sind die Sicherheitskräfte eingeschritten. Einzelne Polizisten haben sogar Selfies mit diesen Verbrechern gemacht. Fünf Menschen sind tot. Auch wenn sie ihre Ziele nicht erreicht haben und die Demokratie sich behaupten konnte: Diese Attacke war die Folge einer langjährigen eiskalten Strategie der Zersetzung und Eskalation, mit der Donald Trump und seine Unterstützer Millionen von Menschen mit Hass, mit übelstem Rassismus, mit Lügen und Verschwörungen immer weiter aufgehetzt haben.
Und machen wir uns nichts vor: Ähnliche Strategien verfolgt die extreme Rechte auch hier bei uns in Europa. Die Geschichte hält einen ganz klaren Rat bereit: Mit Faschisten und Rechtsextremisten können wir Demokratinnen und Demokraten keine Kompromisse machen, ja, wir dürfen es nicht. Gegen die Feinde der Demokratie muss unsere Haltung glasklar sein, immer und überall!
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Wehret den Anfängen! Ja, das gilt auch hier im Bundestag.
Aber eine klare Haltung fängt auch an bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt. Dass Angela Merkel gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so kompromissbereit war, dass seine Partei trotz seiner Angriffe auf diese fundamentalen Prinzipien der Europäischen Union immer noch Teil der konservativen europäischen Parteienfamilie sein darf, ist nicht nur unsäglich, es ist auch gefährlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Lehre der letzten Tage und Jahre ist deshalb auch, dass wir als Demokratinnen und Demokraten eine Verantwortung haben; denn wir können die Einfallstore für die Faschisten schließen. Unsere Vielfalt und auch die Unterschiede zwischen den demokratischen Parteien machen uns doch stark: indem wir im fairen Wettbewerb der Argumente die besten Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit im Sinne des Allgemeinwohls suchen, indem wir transparent arbeiten, auch Fehler zugeben und besser werden, indem wir bei allem leidenschaftlichen Streit anständig miteinander umgehen und bei Wahrheit und Fakten bleiben.
Jetzt schlägt auch die Stunde des Zusammenhaltes und der Zusammenarbeit in einem breiten Bündnis der Demokratinnen und Demokraten. Wir müssen sie nutzen, nicht nur über Fraktions-, sondern auch über Ländergrenzen hinweg!
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Bei allen Meinungsverschiedenheiten auch mit der neugewählten US-Regierung können wir gemeinsam doch so viel bewegen – mit einem Green New Deal gegen die Klimakatastrophe
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und mit globaler Gerechtigkeit beim Krisenmanagement dieser Pandemie, aber auch bei Rüstungskontrolle, bei Digitalisierung und auch im Kampf gegen Rassismus und bei der internationalen Aufarbeitung von Sklavenhandel und Kolonialismus. Die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris bietet enorme Chancen, und die dürfen wir nicht verstreichen lassen.
Eine Sache meine ich damit explizit aber nicht. Herr Außenminister Maas, ihr Vorschlag von einem „Marshallplan für die Demokratie“ in den USA ist geschichtsvergessen und anmaßend, und ich kann einfach nur hoffen, dass das in den USA niemand mitbekommen hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, je düsterer die Bilder sind, umso heller strahlen die Heldinnen und Helden der Demokratie: Menschen wie der Polizist Eugene Goodman, der ganz alleine zwischen den gewalttätigen Extremisten und dem Raum, in dem viele Senatorinnen und Senatoren waren, stand, der sie unter Lebensgefahr mit einem gedankenschnellen Täuschungsmanöver von dort weglockte. Er hat im wahrsten Sinne des Wortes die Sätze des Congressman und Bürgerrechtlers John Lewis mit Leben gefüllt – ich zitiere –: „Democracy is not a state. It is an act.“
Diese Sätze sollten uns Verpflichtung sein, Tag für Tag, im Großen und im Kleinen. Wir müssen unsere Demokratie mit maximaler Wachsamkeit und mit der Stärke eines wehrhaften Rechtsstaates verteidigen:
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hier bei uns im Bundestag, auf der Straße, aber auch im Alltag, bei den Sicherheitsbehörden, aber auch endlich in den sozialen Netzwerken. Wir dürfen die Regulierung dieser Plattformen nicht dem Gutdünken großer Digitalkonzerne überlassen, sondern müssen konsequent und hart gegen Hass, Hetze und Verschwörungsideologien vorgehen.
Genauso müssen wir eine vielfältige, eine unabhängige und kritische Medienlandschaft stärken. Und lassen Sie uns nicht vergessen: Für viele Menschen auf der Welt ist Demokratie eine ferne Sehnsucht. Wir schauen mit Bewunderung nach Belarus, wo vor allem mutige Frauen für Mitbestimmung einstehen. Der Kontrast zu den randalierenden Faschisten in Washington könnte nicht größer sein. Mutige Zivilgesellschaft wie in Belarus gibt es in vielen Staaten der Welt, und wir müssen sie stärker unterstützen.
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Für die Demokratie und ihre Werte einzutreten, ist unsere gemeinsame Verantwortung. Wir müssen dabei nicht immer so krass mutig sein wie Eugene Goodman oder die Frauen auf den Straßen in Belarus. Aber wir können uns von ihrem Mut begeistern und inspirieren lassen. Wenn wir zusammenstehen, werden wir immer stärker sein als die Feinde der Demokratie. Die Antwort kann deshalb nur sein: Jetzt erst recht und nie wieder.
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Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Nils Schmid.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sturm einer Meute auf das Kapitol in Washington letzte Woche war ein Fanal, ein Fanal, das uns eindringlich vor Augen führt, wie gefährdet Demokratien sind, und zwar nicht nur in Ländern wie der Türkei oder Peru, sondern auch in gefestigten Demokratien mit langer und stolzer Tradition wie den USA, aber auch in Europa.
Es ist bestürzend und bezeichnend zugleich, dass Fiona Hill in „Politico“ ganz charakteristische Elemente eines Putschversuchs analysiert hat, und zwar nicht bezogen auf eine Bananenrepublik in Zentralafrika, sondern auf die USA: der Versuch, die Unabhängigkeit der Justiz auszuschalten, der Versuch, Sicherheitskräfte zu instrumentalisieren, der Versuch, Mediendominanz herzustellen, der Versuch, traditionelle Institutionen und Parteien beiseitezuschieben. Aber es bleibt auch festzustellen: Der Versuch ist gescheitert. Es ist beim Versuch geblieben, und die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Demokratie hat sich in dieser einmaligen Bewährungsprobe gezeigt.
Aber es reicht nicht aus, auf dieses eine Ereignis zu verweisen; vielmehr müssen wir auch feststellen, dass vier Jahre Trump ein einziger Anschlag auf die Demokratie in den USA gewesen ist.
({0})
Es war der systematische Versuch, Verfassung und Institution zu untergraben; gegipfelt hat es dann in der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses, von langer Hand vorbereitet mit kleinen Lügen, so wie Graf Lambsdorff das beschrieben hat. Es ist erschütternd, festzustellen, dass auch in diesem Hause noch im Dezember von Teilen der AfD das Wahlergebnis nicht anerkannt worden ist,
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dass Sie hier in diesem Hause die gleiche Rhetorik, die gleiche Lügenrhetorik, die gleiche Lügenpropaganda fortsetzen.
({2})
Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind, und es zeigt, dass auch wir hier in Deutschland etwas zu verteidigen haben.
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Vier Jahre Trump wären aber nicht möglich gewesen ohne die Helfershelfer in den etablierten Institutionen, insbesondere in der Republikanischen Partei. David Ziblatt und Steven Levitsky haben von der Gatekeeper-Funktion, der Torwächterfunktion, der Wächterfunktion von politischen Parteien gesprochen. 2016 hat die Republikanische Partei bei dieser Torwächteraufgabe für die amerikanische Demokratie versagt, indem sie einen Menschen wie Trump zum Kandidaten einer etablierten Partei ernannt hat. Die gleiche Republikanische Partei hat im Jahre 1940 – die Lage war für die Amerikaner sicher eine wesentlich schwierigere als im Jahr 2016 – Charles Lindbergh eben nicht zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten gemacht, der damals versucht hat, mit antisemitischen, neonazistischen Parolen anzutreten. Nein, sie haben sich für einen anderen Vertreter entschieden, obwohl es in der Partei, wie traditionell üblich, isolationistische Tendenzen gab.
Dass dies 2016 möglich war und 1940 nicht, zeigt das historische Versagen einer der großen amerikanischen Parteien in der jüngeren Geschichte, zeigt, welchen Tiefpunkt die Republikanische Partei erreicht hat, und es zeigt auch den Reformbedarf der Republikanischen Partei und welche Bewährungsprobe das Impeachment-Verfahren für die Republikaner im Kongress darstellt.
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Für uns bedeutet das – ich glaube, das zeichnet die deutsche Demokratie und dieses Parlament aus –, dass wir es geschafft haben, die Brandmauer zu den Rechtsradikalen und Neonazis aufrechtzuerhalten, dass wir es als demokratische Parteien geschafft haben – auch wenn wir in Thüringen ein unerfreuliches Ereignis gesehen haben – in Deutschland die Parole „Nie wieder und keinen Fußbreit den Neonazis“ aufrechtzuerhalten. Das muss in Deutschland, in Europa und selbstverständlich auch in Amerika für die Zukunft gelten.
({5})
Deshalb, liebe Kollegin Brugger, erlauben Sie mir, dass ich Ihre Kritik an der Bezeichnung „Marshallplan für die Demokratie“ nicht teilen kann; denn es geht ja nicht darum, dass wir etwa aus Deutschland oder Europa einen Marshallplan für die Demokratie in den USA vorgeschlagen hätten, sondern es geht darum, gemeinsam mit den Amerikanern Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Welt zu verteidigen,
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so wie es auch Präsident Biden in seinem Wahlprogramm anerkannt hat. Wenn Sie die Agenturmeldung vom letzten Wochenende lesen, dann sehen Sie, dass es Heiko Maas genau darum gegangen ist. Wir wollen gemeinsam mit unseren europäischen, amerikanischen Freunden und Partnern in der ganzen Welt für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Ich glaube, mit Biden haben wir in der Zukunft einen guten Partner.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Dr. Nils Schmid. – Die nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Joana Cotar.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Freiheit, Meinungsfreiheit, unser höchstes Gut: auch denen zuzuhören, mit denen man nicht übereinstimmt, ihnen die Meinung nicht zu verbieten, sie nicht zu zensieren, sie nicht unter Druck zu setzen, damit sie schweigen. Das sollte demokratischer Konsens aller sein.
Nur leider ist das nicht so, weder im realen Leben, wenn zum Beispiel Wirte bedroht werden, weil sie bereit sind, ihre Räumlichkeiten an die AfD zu vermieten, noch im Internet, wo Nutzer denunziert werden, willkürliche und unbegründete Löschungen und Shadowbans stattfinden, die keiner nachvollziehen kann – natürlich nur bei konservativen Accounts – und wo lebenslange Sperrungen ausgesprochen werden, wie wir das letzte Woche bei Donald Trump gesehen haben. Deplatforming nennt man das offiziell; digitale Zensur nenne ich das.
({0})
Und viele stehen daneben und applaudieren, wie zum Beispiel Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann von der CDU, die die Sperre Trumps verteidigt hat. Meinungsfreiheit, ja, ja, aber die Meinung müsse ja nicht unbedingt veröffentlicht werden. Ähnlich äußerten sich Mitarbeiter des ZDF und andere Journalisten – aber gut, bei denen wundert mich wenig. Gerade die Linken, die plötzlich Medienmonopole und private Unternehmen verteidigen, amüsieren mich persönlich besonders: immer so, wie es gerade passt, egal wie absurd es gerade ist.
({1})
Schauen wir uns an, was in den USA tatsächlich passiert ist: Die Digitalkonzerne haben bewiesen, dass sie mächtiger sind als der Präsident der Vereinigten Staaten. Sie haben nicht nur sein privates Konto gelöscht, sie haben auch das offizielle Konto des Präsidenten gelöscht.
({2})
Damit haben die Digitalriesen einen Präzedenzfall geschaffen, für den sich die Unrechtrechtsregime weltweit mit Kusshand bedanken werden; denn scheinbar ist es jetzt okay, den politischen Gegner stummzuschalten, ihn zum Schweigen zu bringen.
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Konzerne in den USA machen es vor, und die sogenannten Demokraten feiern das – es wird sehr schwer, demnächst mit dem Finger auf China zu zeigen.
Erstaunlich finde ich die Kritik von Angela Merkel an der Sperre Trumps durch Twitter, die Meinungsfreiheit als Grundrecht von elementarer Bedeutung könne nicht nach der Maßgabe von Unternehmen eingeschränkt werden. Liebe Frau Merkel, haben Sie vergessen, dass es Ihre Regierung war, die das Netzwerkdurchsetzungsgesetz beschlossen hat,
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die damit die Rechtsprechung outgesourct hat und den Plattformen genau die Macht gegeben hat, die Sie jetzt kritisieren?
({5})
Sie haben die sozialen Netzwerke in Deutschland zu Anklägern, Richtern und Henkern gemacht. Twitter hat also nur das umgesetzt, was Sie wollten. Und jetzt reden ausgerechnet Sie von Meinungsfreiheit? Mehr Heuchelei geht nicht, meine Damen und Herren.
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Aber es wurde ja nicht nur Trump gesperrt. Im Zuge dessen startete im Internet eine regelrecht Säuberungswelle: Unzählige Accounts wurden gelöscht. Die Plattform Parler, die in der Apple- und in der Google-Bibliothek auf Platz eins der Downloadcharts stand, wurde zuerst aus dem App Store entfernt und dann von den Amazon-Servern geworfen. Damit hat man Menschen bestraft und in Kollektivhaftung genommen, die mit dem Sturm aufs Kapitol überhaupt nichts zu tun hatten. Glauben Sie wirklich, eine zerrissene Gesellschaft so zu befrieden? Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen sehen sich in ihren Vorwürfen bestätigt, das Misstrauen wächst.
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Und welches Unternehmen, das seine Daten in den Clouds der US-Internetgiganten speichert, kann noch darauf vertrauen, dass sie dort sicher sind, dass sie nicht die nächsten sind, die gegen irgendwelche Standards verstoßen und plötzlich vor dem Nichts stehen? Digitale Souveränität wäre jetzt prima, aber da hat die Regierung leider Jahrzehnte gepennt.
Meine Damen und Herren, es kann und darf nicht die Aufgabe von digitalen Plattformen sein, die Grenzen der Meinungsfreiheit zu definieren, sie dürfen nicht bestimmen, wie Diskurse geführt werden.
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Wir können und wir dürfen unsere Demokratie nicht in die Hände von Techoligarchen legen, die ihre marktbeherrschende Stellung dann ausnutzen. Auch das muss eine Lehre der Ereignisse der letzten Woche sein.
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Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Er ist dafür zuständig, auf solchen Machtmissbrauch zu reagieren. Die Plattformen müssen reguliert werden. Wir brauchen mehr Transparenz, ein Nutzerbeschwerdesystem. Die Meinungsfreiheit muss gewahrt werden. Notfalls ermöglicht uns das Kartellrecht wettbewerbsrechtliche Schritte, um die marktbeherrschende Stellung der Techgiganten zu beenden.
({10})
Wir sollten die Netzwerke dringend daran erinnern, dass sie keine Medien sind; sie sind Plattformen, die neutral sein müssen. Sie sollen keine Meinung machen; sie sind ein Instrument des Meinungsaustausches. Wenn sie Medien sein wollen, wenn sie redigieren und sogenannte Faktenchecker kommentieren und Meinung machen, dann sollen sie auch wie Medien behandelt werden. Aber dann sind sie auch für das verantwortlich, was die User in ihnen schreiben, dann sind sie dafür auch haftbar, und das wird teuer.
({11})
Meine Damen und Herren, es ist völlig egal, wie man zu Donald Trump steht.
({12})
Das, was letzte Woche auf den Internetplattformen passiert ist, sollte uns alle aufschrecken. Letzte Woche wurde Trump gesperrt. Morgen könnten Sie das sein – oder Sie – oder Sie,
({13})
je nachdem, wie der Wind sich dreht.
({14})
Lassen Sie uns das verhindern und gemeinsam für die Demokratie und die Freiheit kämpfen, bevor es zu spät ist, bevor wir keine Stimme mehr haben.
Vielen Dank.
({15})
Danke schön, Kollegin Cotar. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weise aufs Schärfste zurück, wie hier gerade der Versuch unternommen wurde, Täter zu Opfer zu stilisieren.
({0})
Ich komme zu einem Punkt, den ich ergänzend zu dem, was viele der Vorredner bereits angesprochen haben, ansprechen möchte: Das ist das laufende Impeachment-Verfahren gegen Präsident Trump. Es gibt eine Diskussion darüber, ob es klug ist, in der gegenwärtigen Situation dieses Impeachment tatsächlich zu starten. Ich sage ganz klar: Aus meiner Sicht, aus meiner Kenntnis der Dinge ist es absolut gerechtfertigt, dass das Abgeordnetenhaus heute diesen Weg eingeschlagen hat.
Ich kann mich jetzt nicht erinnern – weder in Bezug auf meine Lebenszeit noch auf die der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika –, dass eine Handlung eines Präsidenten jemals Impeachment-würdiger gewesen wäre als das, was wir erlebt haben.
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Er hat – bis zum heutigen Tag – ein Wahlergebnis als gefälscht bezeichnet, das mit über 60 Gerichtsurteilen als absolut korrekt festgestellt wurde. Er hat versucht, seinen Vizepräsidenten – in seiner Rolle als Vorsitzender des Senats – zu nötigen, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu verdrehen und die Abstimmung über die Feststellung der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses zu verhindern. Er hat damit glücklicherweise keinen Erfolg gehabt. Er hat seine Anhänger aufgefordert, zum Kongress zu marschieren. Ich glaube, das sind Dinge, die in jedem demokratischen rechtsstaatlichen Land dieser Erde politisch und rechtlich schwerwiegende Konsequenzen haben,
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und ich bin sehr gespannt darauf, was dem folgt.
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Ich fand bei dem Sturm aufs Kapitol das Verhalten der Stürmenden auch insofern irritierend, dass sie offensichtlich gar nicht auf die Idee kamen, dass sie eines Tages jemand für das, was sie da tun, zur Rechenschaft ziehen könnte. Auch das ist – Kollege Schmid hat es angesprochen – ein Merkmal von Putschisten: Man hält sein Gesicht in die Kamera, weil man damit rechnet oder darauf setzt, dass man eines Tages ein Denkmal in seiner Heimatstadt dafür gebaut bekommt. In Wirklichkeit hat der Staatsanwalt leichte Hand und kann die Täter dingfest machen. Das zeigt, welch Grad der Gehirnwäsche in den Köpfen derer eingesetzt hat, die diesem Aufruf Trumps gefolgt sind und das Kapitol besetzt haben.
Gott sei Dank haben der Sicherheitsdienst, die Polizei des Kongresses, und die Polizei des Districts of Columbia und die herbeigerufene Unterstützung aus Virginia besonnen gehandelt; denn bei denen, die das Kapitol gestürmt hätten, sind wohl viele dabei, die im Zweifel jeden Hühnerdieb, der sich widerrechtlich auf ihrem Grundstück aufhalten würde, mit der Pumpgun über den Haufen geschossen hätten. Wenn die Kongresspolizei in dieser Art und Weise, wie man das im Mittleren Westen unter Trump-Anhängern im Zweifel gut findet, so gehandelt hätte, dann wäre es zu einem schwerwiegenden Blutbad gekommen. Ich bin froh – trotz aller Kritik an dem, was dort auch seitens der Sicherheit passiert ist –, dass das nicht passiert ist und dass die Sitzung des Kongresses tatsächlich dann mit circa vier Stunden Verspätung ordnungsgemäß fortgesetzt werden konnte.
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Die Frage ist, ob uns in Deutschland und Europa so etwas auch passieren kann. Ich warne davor, leichtfertig zu behaupten, dass wir davor gefeit seien. Wir haben es im August hier erlebt. Ich fand es übrigens interessant, wie der Kollege der AfD jetzt diejenigen, die hier versucht haben, den Reichstag zu stürmen, vereinnahmt hat als Anhänger seiner Partei.
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Da gibt es ja noch eine Diskussion drüber: Der ein oder andere behauptet ja, das hätte mit der AfD nichts zu tun. Aber hier ist das Bekenntnis offensichtlich ganz eindeutig.
Ich glaube, dass wir in Deutschland ein vielleicht geeigneteres Wahlsystem haben, um solche Entwicklungen in der Demokratie besser aufzufangen: durch unser proportionales System und durch unsere Vielparteiendemokratie.
Ich glaube aber, dass wir nicht erst in der Coronakrise, sondern zum Beispiel bereits in der Debatte um das Handelsabkommen TTIP erlebt haben, dass Falschinformationen, die in sozialen Netzwerken verbreitet wurden, die Diskussion in unzulässiger Weise mit bestimmt haben. Wenn wir glauben, wir wären gefeit davor, dass diese Flut von Falschinformationen oder dieser Populismus bei uns in Deutschland greifen kann, dann sollten wir sehr aufpassen.
Deswegen glaube ich auch, dass wir keinen Marshallplan brauchen, um die Demokratie in Amerika zu stärken. Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen, es weltweit zu tun. Wir als Deutsche sollten im Übrigen unsere Hausaufgaben machen. Wir sollten zu unseren Versprechen stehen. Münchner Sicherheitskonferenz: Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Wales-Gipfel der NATO von 2014: Wir sind bereit, mehr für Verteidigung auszugeben. Ich erinnere auch unsere Bereitschaft, in der Handelsfrage enger mit Amerika zusammenzuarbeiten. All das sollten wir erfüllen. Dann sehe ich einer guten, einer sehr gedeihlichen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Weißen Haus und zwischen Deutschland und dem Weißen Haus in vielen Fragen entgegen, und darauf freue ich mich.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Thomas Hitschler.
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Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder aus den USA in der vergangenen Woche haben die große Mehrheit von uns geschockt. Historisch konnten wir uns immer auf die USA als Hort und Hüterin der Demokratie verlassen; dieses Verständnis war einer der Grundpfeiler der Nachkriegsordnung. Genau deswegen waren die Bilder vom Capitol Hill so grauenvoll: weil sie auch unser Selbstverständnis angegriffen haben. Auch unsere liberale Demokratie, die gerade so viel leistet, aber auch so viel aushalten muss bei der Bewältigung der Generationenaufgabe Corona, wird von den Angreifern infrage gestellt. Wir sind mit dem Gedanken konfrontiert, welche Konsequenzen der Putschversuch von Washington für unsere Demokratie hat, und ich frage bewusst nicht laut, ob diese Tat hierzulande Nachahmer finden wird.
Wir alle haben mitbekommen, wie im August ein Mob versucht hat, das Reichstagsgebäude zu stürmen, oder wie im November Störer ins Haus geschleust wurden, die dann versucht haben, Abgeordnete von einer Abstimmung abzuhalten. Die beiden Gruppen, die hier bei uns und in den USA für die Angriffe verantwortlich sind, verbindet bei allen Unterschieden ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit.
Die Gegner der Demokratie werden immer versuchen, Zweifel zu schüren, um die Wahrheit ein klein wenig infrage zu stellen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder schreibt dazu in seinem Buch „Über Tyrannei“, dass, wenn nichts wahr sei, alles Spektakel werde. Inszenierung trete an die Stelle von Fakten – sei es ein halbnackter Typ mit Büffelhelm im US-Capitol, sei es das Schwenken der Reichskriegsflagge auf den Stufen des Reichstagsgebäudes –; denn wenn nichts mehr wahr ist, kann man den Leuten alles erzählen.
Das funktioniert bei vermeintlichem Wahlbetrug ebenso gut wie bei einer herbeigeträumten Coronadiktatur. Menschen, die sich selbst als kritische Geister verstehen, werden gezielt durch rechtsextreme Agitatoren missbraucht. Und ja, es sind Rechtsextreme, die auf diese Weise versuchen, unsere Demokratie zu destabilisieren. Wer davor die Augen verschließt, hat auch die jüngsten, sehr öffentlichen Warnungen des Innenministers nicht gehört: Der Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für die Sicherheit in Deutschland.
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Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir daher, auf das Zitat von Timothy Snyder eines von einem Fastnamensvetter folgen zu lassen, nämlich von Dee Snider, dem Sänger von Twisted Sister: „We’re not gonna take it anymore“ – wir lassen uns das nicht mehr gefallen. Die Bundesrepublik war immer als wehrhafte Demokratie konzipiert. Wir müssen gewaltsamen Herausforderungen auch mit einem starken Staat begegnen: durch starke Polizeipräsenz bei Sonderlagen, durch bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane, damit Netzwerkbildungen von Gefährdern frühzeitig erkannt werden, und auch durch mehr klassische Polizeiarbeit im digitalen Raum.
Gerade in der jetzigen Krisensituation haben wir gesehen, wie wichtig ein funktionierender Staat auf allen Ebenen ist. Diese Fähigkeiten müssen wir erhalten und ausbauen.
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Ein starker Staat muss immer auch dafür sorgen, dass die Verteidiger des Staates gut aufgestellt sind.
Wir werden aber auch gemeinsam die schärfsten Schwerter der Demokratie nutzen: Bildung und Transparenz. Wir müssen politische Bildung auf allen Ebenen ausbauen und stärken, damit alle Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten kennen. Wir müssen die Medienkompetenz stärker in den Lehrplänen betonen, damit nicht alles geglaubt wird, was irgendwo im Netz steht oder was per Messenger verbreitet wird. Wir müssen zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus den Rücken stärken, zum Beispiel durch ein Demokratiefördergesetz.
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Und: Wir müssen die Arbeit dieses Hauses weiterhin so offen und auch so transparent wie möglich halten.
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Wir wollen, dass die Menschen nachvollziehen können, worüber wir diskutieren und warum wir Entscheidungen treffen. Wir wollen weiterhin mit Schulklassen und den Bürgerinnen und Bürgern aus unseren Wahlkreisen hier in Berlin diskutieren können. Das werden uns die Radikalen nicht wegnehmen, Kolleginnen und Kollegen.
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So stärken wir das Vertrauen der Menschen in die Institutionen unseres Staates, und so entziehen wir Lügen und Spektakel den Nährboden.
Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, sehe ich täglich das Hambacher Schloss. Das Schloss ist für mich ein Ort, der immer auch daran erinnert, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Sie ist in unserem Land mit erkämpft worden. Sie muss gelebt werden, und sie muss verteidigt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Hitschler. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Philipp Amthor.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Debatte über die außenpolitischen Dimensionen des Sturms auf das Kapitol in Washington schon gesprochen; deshalb möchte ich den Blick jetzt noch ein bisschen auf die Innenpolitik richten; denn wir müssen schon sagen: Der erlebte Druck auf die nationalen Symbole, der erlebte Druck auf den Sitz eines zentralen Verfassungsorgans in den USA, der findet – das fand schon Erwähnung – auch eine Parallele bei uns in Deutschland. Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Wie wehrhaft sind unsere Institutionen?
Natürlich ist auch hier schon in Erinnerung gerufen worden, wie unwürdig die Bilder der Tumulte vor dem Reichstag waren, der Reichskriegsflaggen auf der Reichstagstreppe und der unwürdigen Vorgänge des Einschleusens von Störern durch die AfD.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine zentrale Debatte, die wir aus Washington mitnehmen müssen, und eine zentrale Lehre. Für mich ist völlig klar: Die größte Gefahr der Integrität von staatlichen Institutionen geht davon aus, dass diese Institutionen aus sich selbst heraus infrage gestellt werden. Und wir stehen vor dem Problem, dass Donald Trump als Präsident die Institution des Präsidenten selbst demontiert, delegitimiert hat. Die Parallele ist, dass wir hier im Bundestag mit der AfD eben eine Fraktion haben, die genau das mit dem Parlament versucht, und dem, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir entgegentreten!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso wie sie es von Donald Trump gelernt hat, versucht die AfD, mit populistischer Tonalität, mit Verrohung von Sprache und Umgangsformen und mit dem Inkaufnehmen des Jonglierens mit der Unwahrheit entgegenzuhalten – gegen Fakten.
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Das führt in der Konsequenz zu den Entgrenzungen, wie wir sie in Washington erlebt haben. Das führt in der Konsequenz zu einer Spaltung der Gesellschaft,
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und das sieht man auch praktisch in den Debatten. „Ermächtigungsgesetze in der Coronadiktatur“; Merkel müsse in der Zwangsjacke aus dem Kanzleramt abgeführt werden. Das sind Ihre Worte.
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Herr Curio, Sie haben hier von einer „Corona-RAF“ geredet. Ihre AfD-Kollegen aus Bayern reden davon, die Bundeskanzlerin sei lieber hinter Gittern als in der Quarantäne zu sehen.
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Ich sage Ihnen: Sie verbreiten Unwahrheiten.
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Sie verklären die Geschichte. Dem halten wir entgegen, um des Vertrauens in unsere staatlichen Institutionen willen.
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Sie widersprechen jetzt natürlich; das ist klar. Das ist ja ein beliebtes Muster. Sie sagen: Das sind Verschwörungsmystiker, Rechtsextremisten, die nicht zu uns gehören.
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Aber dann muss man nur mal genau zuhören. Ihr AfD-Kollege Renner sagt zum Sturm auf das Kapitol – ich zitiere –:
Trump führt den gleichen politischen Kampf – den man schon Kulturkampf nennen muss – wie wir als „Alternative für Deutschland“ in der Opposition.
Wir müssen in der Debatte heute festhalten: Diese verirrten Stimmen, die wir hier zitiert haben, das ist nicht nur ein Flügel Ihrer Partei, sondern das ist ein untrennbarer Teil; denn wer Extremisten in den eigenen Reihen duldet, ist nicht besser als die Extremisten selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Frage ist natürlich: Was lernen wir daraus? Wie gehen wir damit um? Wie müssen wir unseren Parlamentarismus hier aufstellen? Ich glaube, das Erste ist wichtig: Wenn es solche Versuche des Delegitimierens staatlicher Institutionen gibt, egal ob diesseits oder jenseits des Atlantiks, dann müssen wir klar sagen: Wir weichen dem nicht. Wir wollen keine künstliche Distanz zu den Bürgern. Wir wollen uns nicht abriegeln. Wir wollen, dass das Parlament ein offener Ort des Diskurses und das Forum der Nation bleibt. Wir treten denen entgegen, die von außen die Deutungshoheit über den Rechtsstaat beanspruchen wollen: mit der Polizei, mit dem entsprechenden Rechtsrahmen und eventuell auch mit einer Verschärfung des Strafrechts.
Denjenigen, die sich – wie es einige Abgeordnete getan haben – zu den Helfershelfern von innen für diese Proteststürme machen, denen müssen wir sagen: Sie müssen auch mit Konsequenzen leben. Deswegen erinnere ich daran, dass etwa der Bonner Verfassungsrechtler Ferdinand Gärditz vorgeschlagen hat, dass gerichtlich verurteilte Volksverhetzer ihre Wählbarkeit verlieren könnten oder über das Parlamentsinnenrecht sanktioniert werden. Ich finde, das ist ein kluger Vorschlag. Aber selbst das würde bei Ihnen wohl nicht zur Besserung führen.
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Zur Besserung führt das bei Populisten und Vereinfachern eh nicht, sondern es ist unsere gemeinsame Verantwortung, die Unterschiede aufzuzeigen. Und ich sage hier: Die Trennlinie verläuft nicht zwischen rechts und links, sondern sie verläuft zwischen Wahrheit und Lügen, und wir entscheiden uns für Wahrheit und Fakten als Argumente.
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Das ist unsere Linie, und das ist auch die zentrale Lehre aus Washington, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächste Rednerin: Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Die Fernsehbilder vom Sturm auf das Kapitol haben viele von uns erschreckt. Und einen Moment lang stellte ich mir vor dem Fernseher vor, wie es wohl für uns sein würde, wenn uns bewaffnete Sicherheitskräfte mit Pistolen vor einem wütenden Mob hier in diesem Plenarsaal, hier an diesen Türen würden schützen müssen.
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– Ruhe! Jetzt rede ich.
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Wer die Erstürmung des Kapitols, an deren Ende fünf Tote, darunter zwei Polizisten, zu beklagen sind, nur mit der Persönlichkeit Trumps erklären will, übersieht eben leider viel zu viel. Wer also die Irrungen und Wirrungen, die in den USA zum Alltag geworden zu sein scheinen, in ihren bizarren Auswüchsen verstehen will, muss mehr als nur vier Jahre zurückblicken, der muss sich mit dem Waffenbesitz und der Nation Rifle Association befassen und sich die Kriegstreiberei anschauen, die keineswegs erst mit dem Irakkrieg unter Bush senior begann, und muss verstehen, welche Rolle die frommen und homophoben, gar rassistischen – ja – Republikaner/-innen zuweilen in diesem Powerplay übernommen haben
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Wir sollten uns daran erinnern, dass Trump an der mexikanischen Grenze Mauern und Internierungslager für geflüchtete Kinder baute. Ja, wir sollten eine bessere, eine humanere Migrations- und Flüchtlingspolitik machen. Aber davon verstehen Sie ja nichts.
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Herr Braun, können Sie einfach mal eine Minute ruhig sein? Das wäre schon eine ziemliche Errungenschaft, weil jetzt eine Rednerin dran ist.
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– Ich sage nichts zu Zwischenrufen; aber Sie haben permanent, die ganze Debatte über, Zurufe gemacht. Jetzt ist Frau Daniela De Ridder dran. Ich werde mir auch nachher die emotionalen Zwischenrufe im Protokoll noch mal genauer anschauen.
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– Ja, das werde ich tun. Das werde ich tun, ja.
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Frau De Ridder, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Das war notwendig. – Trump mag eine gestörte, eine narzisstische Persönlichkeit sein, ein Egomane, ein Bauernfänger, allerdings einer, der sich für zahlreiche Bevölkerungsgruppen wunderbar als Projektionsfläche anbietet. Und Sie haben gerade bewiesen, dass Bauernfänger auch in diesem Hause sitzen. Trump ist und bleibt ein Phänomen, weil es ihm als Repräsentanten des Establishments gelungen ist, die Wut auf jenes Establishment zu befördern, und ähnlich tun das die Populisten in Europa und leider eben auch hier.
Ja, Trump hat nicht nur die US-amerikanische Demokratie lädiert und empfindlich getroffen. Er hat auch offenbart, wo ihre Schwächen liegen. Er hat Hass und Hetze, Rassismus und Sexismus bedient und in den USA leider salonfähig gemacht, einen Politikstil propagierend, liebe Kolleginnen und Kollegen, den wir hier nie – nie! – zulassen dürfen.
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Trump kann auf die republikanische Parteistruktur bauen, auf die Vasallentreue eines Vizepräsidenten Mike Pence und eines Außenministers Mike Pompeo. Auch daraus haben wir viel zu lernen. Wäre ihm nicht die Pandemie dazwischengekommen – da bin ich sicher –, sein untaugliches Krisenmanagement und Abertausende Tote und Erkrankte, deren Schicksal ihn wenig berührt zu haben scheint, hätte er vermutlich erneut die Wahl gewonnen.
Trump war und ist allerdings auch Hoffnungsträger im Rust Belt, dort, wo die Deindustrialisierung hohe Arbeitslosigkeit beschert hat, dort, wo sich die Menschen abgehängt fühlen, wo die Stahlindustrie bereits seit Langem in der strukturellen Krise steckt, und überall dort, wo sich Arbeitslosigkeit, Kriminalität und urbaner Verfall manifestieren, ebenso im frömmelnden Bible Belt. In den ländlichen Regionen des Mittleren Westens scheint Trump die Rolle des Messias zugewachsen zu sein.
„This is not America“, hat Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, gesagt. Aber ich fürchte, da hat er sich geirrt; denn auch dies ist Amerika.
Biden und Harris werden ein Gegengift gegen eine Politik der Tea Party entwickeln müssen, die bereits Obamas Wirtschaftspolitik absurderweise kommunistisch nannte, gegen White Pride und sämtliche grassierende Verschwörungstheorien. Sie werden um Glaubwürdigkeit und Integrität ringen müssen, nicht nur in Charlottesville, wo Trump offen Rassisten und Neonazis unterstützt hatte. Sie werden ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch Reformen einleiten und damit erfolgreich sein müssen.
Und wir sollten sie darin unterstützen, dass sie nicht nur die Protestierenden einbinden müssen, sondern auch diejenigen, die sie gewählt haben. Für all diese, aber auch uns gilt: „This land is your land and this land is my land … This land was made for you and me“, wie es der Gewerkschafter Woody Guthrie sang. Auch dies ist uns Auftrag, Losung und Warnung für die transatlantischen Beziehungen und die transatlantischen Freundschaften.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Der letzte Redner in dieser sehr emotionalen Aktuellen Stunde: Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schockierenden Ereignisse vom vergangenen Mittwoch waren nicht nur ein Sturm auf das Kapitol, sie waren ein Angriff auf die Demokratie, ein Angriff auf die Werte, die auch wir teilen. Es war ein Angriff, der von einem Präsidenten der USA angestachelt wurde, der den Wesenskern der Demokratie nicht verstanden hat: faire Wahlen und das Akzeptieren einer Niederlage. Das Verhalten Trumps ist abscheulich, und es ist vor allem gefährlich – gefährlich, weil es zeigt, dass nichts in Stein gemeißelt ist, auch nicht der demokratische Grundkonsens und der Respekt vor den demokratischen Institutionen, nicht in den USA und auch nicht bei uns.
Die Chaoten vom vergangenen Mittwoch sprachen selbst von einer Revolution und einem Umsturz, den sie erreichen wollten. Das führt uns vor Augen: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht einfach gegeben. Wir müssen sie verteidigen, wir müssen für sie kämpfen. Demokratien müssen wehrhaft sein.
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Deshalb ist die entscheidende Frage unserer Zeit: Wie kann die Demokratie im digitalen Zeitalter bestehen? Denn uns muss klar sein: Die größte Herausforderung ist die digitale Parallelwelt, sind Informationsblasen, in denen Politik diffamiert, Fakten geleugnet und ein Klima der Wut erzeugt werden. Das ist der Nährboden für Verschwörungstheoretiker, Querdenker, Reichsbürger und Extremisten aller Art. Und, wie wir es oft hören: Das ist alles nicht weit weg. Auch hier auf der rechten Seite wird ja immer noch geglaubt, dass Trump die Wahl ordnungsgemäß gewonnen hat, meine Damen und Herren.
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Für die Zukunft sind drei Punkte ganz entscheidend.
Erstens müssen wir noch konsequenter gegen Hass und Hetze im Netz vorgehen. Wir brauchen auch im Internet feste Regeln, und die müssen demokratisch legitimierte Parlamente festlegen. Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind wir in Deutschland schon jetzt Vorreiter bei der Entfernung krimineller Inhalte.
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Das brauchen wir jetzt in ganz Europa. Und deshalb ist es wichtig, dass wir hier den Digital Services Act und den Digital Markets Act voranbringen. Wir müssen hier weltweit Standards setzen – unsere Standards, meine Damen und Herren.
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Wir als CSU fordern darüber hinaus, dass im Verfassungsschutzbericht ein eigenes Kapitel für gezielte Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen eingerichtet wird. Dann können wir besser gegen die vorgehen, die unter dem Deckmantel ihrer Freiheitsrechte in Wahrheit unsere Demokratie angreifen wollen.
Zweitens ist es notwendig, dass wir die internationale Dimension von Desinformation stärker im Blick haben. Es gibt staatliche Akteure, die gezielt Sand in unser demokratisches Getriebe streuen wollen. Sie versuchen, die Meinungsbildung unserer Öffentlichkeit zu beeinflussen. Sie wollen Stimmungen erzeugen und Zweifel an westlichen Demokratien säen.
Wir müssen zum einen die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft ausbauen und vor allem das Bewusstsein für solch gefährliche Einflussnahmen schärfen. Zum anderen müssen wir unser Land vor solchen Aktivitäten noch besser schützen, Desinformationskampagnen schneller entlarven, Maßnahmen gegen deren Verbreitung ergreifen und dann vor allem auch Fake-Accounts gezielt vom Netz nehmen. Dafür brauchen wir ein noch besseres Lagebild. Ich bin der Meinung, dass wir die dazu notwendigen Werkzeuge auf europäischer Ebene gemeinsam weiterentwickeln sollten.
Drittens müssen wir als Demokraten klare Kante gegenüber den Feinden der Demokratie zeigen: keine Annäherung, keine Zusammenarbeit! Denn das bringt Unheil. Der Republikanischen Partei ist genau das mit der Tea-Party-Bewegung passiert und nun mit den Verschwörungstheoretikern der QAnon-Bewegung. Diesen Fehler werden wir nicht machen.
Meine Damen und Herren, der Westen muss immer für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einstehen. Das können wir nach außen nur glaubwürdig vertreten, wenn wir diese Werte auch im Inneren leben. Auf jeden Einzelnen kommt es an, um den Antidemokraten, den Lügnern und den Hetzern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann wird unsere Demokratie immer stärker sein; davon bin ich überzeugt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Thomas Erndl. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir zuletzt einmal das Konvolut all der Maßnahmen angeschaut, die wir im letzten Jahr im Zuge der Pandemie ergriffen haben: Über 70 Einzelmaßnahmen haben wir auf den Weg gebracht, damit wir gut durch diese Krise kommen. Dabei ist natürlich das Kurzarbeitergeld gewesen, aber zum Beispiel auch die Homeoffice-Pauschale. Ich denke, dass das ein wichtiges Signal war. Auch das Recht auf Homeoffice ist etwas, worüber wir intensiv nachdenken müssen. Wir haben auch einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung, der sich jetzt bewährt hat, auf den Weg gebracht. All das musste ebenso wie auch die zahlreichen Wirtschaftshilfen, die sehr schnell angegangen werden mussten, genau und natürlich auch EU-rechtskonform sein. All das ist uns immer wieder aufs Neue gelungen. Der Dank gilt da natürlich dem Bundesfinanzministerium, dem Finanzminister Olaf Scholz und der ganzen Bundesregierung dafür, dass wir das immer wieder so schnell geschafft haben.
Bei aller Kritik – mir wäre es auch lieber gewesen, wenn manche Hilfen schneller und die technischen Probleme im Wirtschaftsministerium geringer gewesen wären – zeigt dieser Gesetzentwurf, glaube ich, auch, dass die Hilfen in Anspruch genommen werden. Denn diejenigen, die sie beantragen, die Steuerberaterinnen und Steuerberater, haben uns gesagt: Wir haben so viel Arbeit mit der Beantragung von Überbrückungshilfen, von November- und Dezemberhilfen, dass wir für die Bearbeitung von Steuererklärungen länger brauchen. Die Steuererklärungsfristen sollten verlängert werden. – Und das tun wir jetzt, und zwar um sechs Monate, damit eben alle die Anträge stellen können, damit der Druck ein bisschen aus dem Kessel ist und damit alle ihre Hilfen bekommen, die sie auch bekommen sollen. Ich glaube, das ist ein gutes Signal dieser Großen Koalition.
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Unser Dank gilt allen, die das möglich machen, insbesondere den Angehörigen der steuerberatenden Berufe. An dieser Stelle muss aber auch betont werden, dass die ja dafür nicht alleine zuständig sind. Es gibt auch diejenigen, die diese Anträge bearbeiten und genehmigen. Ich glaube, wir sollten auch daran erinnern, dass die Finanzverwaltung derzeit eine unglaublich gute Arbeit macht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzverwaltung sind ebenso ausgelastet, haben aber nicht wie Steuerberaterinnen und Steuerberater die Möglichkeit, neue Mandate abzulehnen. Sie müssen die Fälle innerhalb der Fristen abarbeiten. Deshalb der Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzverwaltungen; auch das sei an dieser Stelle deutlich gesagt.
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Wir verlängern nicht nur die Steuererklärungsfrist, sondern wir verlängern auch die Karenzzeit für Erstattungs- und Verzugszinsen. Was heißt das? Wenn der Steuerbescheid erst 15 Monate nach Ablauf eines Steuerjahres erlassen wird und Steuererstattungen anstehen, werden darauf Zinsen fällig. Ebenso gilt das auch für Verzugszinsen. Wir verlängern also auch diese zinsfreie Zeit im Gleichlauf mit der Verlängerung der Steuererklärungsfrist. Auch das ist ein ganz normaler Vorgang. Wir gleichen es somit an.
Ich glaube also, das ist insgesamt etwas, das wieder zeigt, dass wir handlungsfähig sind, dass wir auf die immer neuen Herausforderungen eingehen.
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Ich glaube, so können wir auch weiterhin gut durch diese Pandemie kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Michael Schrodi. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Albrecht Glaser.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Intention der Gesetzesänderung ist die Verschiebung der Steuererklärungsfrist für den Veranlagungszeitraum 2019 um sechs Monate. Analog dazu soll der Zinslauf für verspätet gezahlte Steuern des Jahres 2019 ebenfalls sechs Monate später beginnen. Dies alles soll nur für Steuerpflichtige gelten, die von den Steuerberatern ihre Erklärung erstellen lassen. Die Intention insgesamt ist richtig, die Maßnahme ist sachgerecht, die Haushaltsbelastung marginal.
Allerdings stellt sich die Frage, warum diese Maßnahme so spät kommt und nicht etwa aus dem Finanzministerium. Als ob man nicht schon im letzten Jahr, beispielsweise bei der Verabschiedung des zweiten Coronasteuerpaketes, im Juni hätte wissen können, dass die finanziellen Kalamitäten für Unternehmen und die Arbeitsbelastung der Berater sehr groß sein würden!
Es kommt hinzu, dass die Bundestagsfraktion der AfD bereits im April letzten Jahres einen Antrag auf der Drucksache 19/18727 eingebracht hatte, der eine Reihe wichtiger notwendiger Maßnahmen vorschlug, um die finanziellen Folgen der Pandemie mit Mitteln des Steuerrechtes wirksam abzumildern.
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Darunter war auch die Verschiebung von Fristen aufgeführt. Insofern ist das, was nunmehr auf dem Tisch liegt, meine sehr verehrten Damen und Herren, gesetzgeberisches Kleingeld. Substanzielle steuerliche Maßnahmen in Zeiten von Corona sehen anders aus.
Wo bleibt der weitgehende Verlustrücktrag für Unternehmen bei der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Gewerbeertragsteuer im Sinne von § 10d Einkommensteuergesetz für das Kalamitätsjahr 2020? Dies wäre wichtiger, zielgenauer und für den Fiskus billiger als staatliche Darlehensangebote.
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Wo bleibt die Aufhebung der Einschränkung der Verlustverrechnung nach § 10d Absatz 2 Einkommensteuergesetz für die Folgejahre, die sogenannte Mindestbesteuerung? Auch dies wäre Selbsthilfe der Wirtschaft aus eigener Kraft. Die Steuereinnahmen würden nur zeitlich verschoben.
Wo bleibt die Anhebung der Kleinunternehmergrenze nach § 19 Umsatzsteuergesetz und die Erhöhung der Grenze für die Istbesteuerung im Umsatzsteuerrecht?
Wo bleibt die Aussetzung oder gar Abschaffung der Zinsschranke nach § 4h Einkommensteuergesetz oder § 8 Absatz 1 Körperschaftsteuergesetz?
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Auch das wäre für alle bisher gut funktionierenden Unternehmen wichtiger als Staatshilfe.
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Wieso, meine Damen und Herren, wird bei der allgemeinen Nullzinslage nach wie vor am Zinssatz von 6 Prozent per anno für Steuernachzahlungen festgehalten? Der Bundesfinanzhof hat bereits seine Zweifel zur Verfassungsmäßigkeit der 6-Prozent-Zinsen judiziert. Diese Frage liegt dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. Bedauerlicherweise steht der Finanzminister auf dem Standpunkt, die Bürger müssten sich ihr Recht einklagen. Diese seit Jahren von der gesamten Fachwelt fast einhellig beurteilte Frage muss jedoch vom Einfachgesetzgeber geregelt werden; dazu braucht es kein Bundesverfassungsgericht.
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Stattdessen haben sich der Finanzminister und die ihn tragenden Parteien dazu verstiegen, eine kurzzeitige Mehrwertsteuersenkung, welche dem Fiskus eine Steuereinbuße von 20 Milliarden Euro einbrachte, als Hilfsprogramm für die Wirtschaft zu verkaufen. In Wahrheit war diese Maßnahme als Stimmungsaufhellung für breite Bevölkerungsschichten konzipiert. Wie wir damals vorausgesagt haben hier an dieser Stelle und inzwischen wissen – das ifo-Institut hat das nachgerechnet –, war dies ein Schlag ins Wasser. Die geringe Nachfrageerhöhung steht in keinem Verhältnis zu parallel entstandenen Steuerausfällen und damit zur Schuldenerhöhung.
Den vorliegenden Gesetzentwurf, meine sehr verehrten Damen und Herren, als Miniaturmaßnahme tragen wir natürlich mit. Mit Reformen, welche dieses Land in reichem Maße auch und gerade im Steuerbereich braucht, hat dies jedoch nichts zu tun. Eine ganze Legislaturperiode ohne nennenswerte steuerrechtliche Impulse ist die Bilanz dieser Koalition.
Herzlichen Dank.
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Danke schön, Herr Glaser. Würden Sie bitte Ihre Maske aufsetzen? Danke schön.
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– Ja, er macht es jetzt.
Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Antje Tillmann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während einige Mitarbeiter gezwungenermaßen zu Hause bleiben und einige Unternehmen ihre Arbeit einstellen mussten, haben andere so viel zu tun, dass sie gar nicht wissen, welche Aufgabe sie zuerst erfüllen müssen. Die Steuerberaterinnen und Steuerberater und ihre Mitarbeiter gehören dazu. Schon in normalen Zeiten helfen sie Unternehmen bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten. Jetzt kommt die Coronasituation noch dazu. Wir haben aus gutem Grund vorgesehen, dass viele Programme über den Steuerberater zu beantragen sind, weil wir hoffen, dass damit die Bearbeitung sachgerechter und der Betrug weniger wird.
Steuerberaterinnen und Steuerberater mussten im September/Oktober entscheiden, ob sie die Steuererklärung ihrer Mandanten oder Coronahilfsanträge bearbeiten. Diese Situation war sehr schwierig für die Unternehmen, zumal auch Verspätungszuschläge und Zwangsgelder drohten und die Steuerberater damit in Haftung gehen müssen. Für beide, für Unternehmen und für Steuerberater, war das keine zufriedenstellende Situation. Ich gebe zu: Da empfand man die angebotene Fristverlängerung des Finanzministeriums um einen Monat schon ein bisschen als Hohn. Die Berater waren darüber auch zu Recht verärgert.
Deshalb bin ich froh, lieber Lothar Binding, dass es uns gelungen ist, jetzt eine ordentliche Fristverlängerung von sechs Monaten auf den Weg zu bringen mit einer Verlängerung der Karenzzeiten für den Zinslauf, weil damit sowohl die Anträge, von denen wir wollen, dass sie gestellt werden, für die Unternehmen erarbeitet werden können, als auch die Steuererklärungen 2019 dann noch fristgerecht abgegeben werden können.
Das vergangene Jahr war für beide, für Unternehmen und für Steuerberater, ein schwieriges. Die Umsatzsteuersenkung ist gerade schon angesprochen worden. Innerhalb kürzester Zeit haben wir Unternehmen aufgefordert, die Mehrwertsteuer zu senken und zum 31.12. wieder zu erhöhen. Ich weiß, dass das eine Zumutung war, und ich danke allen, die trotzdem dafür gesorgt haben, dass es geklappt hat. Aber auch da war natürlich das Beratungspotenzial ein erhebliches.
Lieber Herr Glaser, man kann hier ständig rumkritteln; aber diese 20 Milliarden Euro sind bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen.
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Und selbst wenn sie nur beim Lebensmittelkauf angekommen sind, ist das Geld bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen, sonst hätte das im Haushalt keine Auswirkung gehabt. Das ifo-Institut hat die Auswirkungen auf die Wirtschaft geprüft, aber natürlich nicht den Geldbeutel der Hartz-IV-Familie, die selbstverständlich 3 Prozent weniger von ihren Bezügen gezahlt hat. Deshalb war diese Mehrwertsteuersenkung ein Erfolg.
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Bei den Covidprogrammen – das gebe ich gerne zu – knirscht es an der einen oder anderen Stelle. Wir wollen die Hilfen möglichst schnell zur Verfügung stellen mit dem Ergebnis, dass manches auch im Nachhinein noch geklärt werden muss. Selbstverständlich hätten wir uns ein halbes Jahr Zeit nehmen können für alle Hilfen und hätten sie sehr gut austarieren können. Aber sie sollten schnell zur Verfügung gestellt werden. Leider müssen sie dann an der einen oder anderen Stelle nachgesteuert werden. Das ist ärgerlich; das tut mir auch leid. Dazu kommt, dass manchmal die Technik zusammenbricht oder die Hilfen in Dollar ausgezahlt werden. Das ist kein guter Zustand. Wir müssen da besser werden. Aber ich glaube, dieser Zustand wäre noch schwieriger, wenn die Unternehmen damit alleine stünden und nicht auf erfahrene Steuerberater zurückgreifen könnten.
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Deshalb ist auch aus diesem Grund die Fristverlängerung richtig.
Ich freue mich, dass mit dem heutigen Tag auch die Fristverlängerung für Antragsteller durch ist. Für die November- und Dezemberhilfen sowie für die Überbrückungshilfe II ist die Frist jetzt auf den 31. März dieses Jahres verschoben worden. Auch da gibt es ein bisschen Luft für die Bearbeitung. Auch da bin ich sicher, dass die Qualität sowohl der Anträge als auch der Bearbeitung in den nächsten Wochen steigt.
Ich weiß, liebe Länder, liebe Finanzbeamte, dass Sie dieses Gesetz nur mittragen, weil wir Sie darum gebeten haben. Die Finanzbeamten haben natürlich Sorge, dass dann im Sommer die Frist für die Steuererklärung 2019 mit den neu abzugebenden Steuererklärungen 2020 zusammenfällt und sie dann einen Antragsstau haben. Seien Sie gewiss, dass wir dann auch Ihnen den Rücken stärken, wenn es Beschwerden über Bearbeitungszeiten gibt.
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Diese Zeiten sind schwer genug. Ich glaube, wir überstehen sie nur – Unternehmen, Politiker, Steuerberater, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer –, wenn wir uns wechselseitig mit Geduld und Nachsicht begegnen und wenn wir den einen oder anderen Fehler vielleicht auch mal geradebiegen oder Verständnis haben, wenn irgendwas nicht so schnell geht, wie wir es uns wünschen.
Wir als Politik sollten aufhören, uns zu streiten, und Lösungen finden. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf getan. Liebe Koalitionskollegen, ich hoffe, dass wir das weiter machen; denn das nächste Projekt ist die Sonderfristverlängerung bei der Umsatzsteuer für die Dauerfrist. Ich hoffe, dass wir das für die Unternehmen ähnlich schnell hinkriegen. Da steht am 15. Februar die nächste Zahlung an. Vielleicht schaffen wir es bis dahin, ein Gesetz zu schaffen, mit dem wir Unternehmerinnen und Unternehmer um diesen Betrag entlasten.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Antje Tillmann. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katja Hessel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange heute mal mit einem Lob an. Das tue ich eher selten; aber ich freue mich. Deswegen wirklich ein großes Dankeschön an die CDU/CSU und an die SPD, dass Sie mal gezeigt haben, dass dieses Parlament sich auch durchsetzen kann, und dass Sie die Fristverlängerung für diese sechs Monate eingebracht haben.
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Wer es so ein bisschen verstanden hat, weiß: Es gab großen Ärger. Wir haben es nicht ins Jahressteuergesetz gebracht. Es kam dann – das war auf der Seite des BMF schon veröffentlicht – eine Fristverlängerung von einem Monat; Frau Tillmann hat es gerade angesprochen. Dann kam die Pressemitteilung: Die Große Koalition hat sich geeinigt. Es gibt die sechs Monate. – Am nächsten Tag veröffentlicht das BMF ein Schreiben, in dem steht: Es gibt eine Fristverlängerung von einem Monat. – Dementsprechend ein Dankeschön, dass sich das Parlament hier durchgesetzt hat, dass wir dieses halbe Jahr kriegen. Und dieses halbe Jahr ist wichtig für den Berufsstand.
Es ist heute schon angesprochen worden im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf, dass wir uns alle einig darin sind, wie wichtig es ist, dass dieses halbe Jahr Fristverlängerung kommt. Die ganzen Überbrückungshilfen – Novemberhilfen, Dezemberhilfen, Überbrückungshilfe II, wie wir sie auch alle nennen – laufen über die Steuerberater. Wir hören auch alle in unseren Wahlkreisen und überall: Sie laufen nicht so, wie sie laufen sollten. Die Überbrückungshilfen werden nicht so abgerufen, wie sie hätten abgerufen werden sollen und wie Gelder dafür zur Verfügung stehen.
Wissen Sie, Kolleginnen und Kollegen, wo der Ärger als Allererstes ankommt? Bei den Steuerberatern, die sie für ihre Mandanten beantragen. Die wenden sich nicht zuerst an Sie; sondern die wenden sich zuerst an den Steuerberater. Deswegen ist es, glaube ich, hier auch wichtig, dass die Steuerberater in dem Punkt den Rückenwind des Parlamentes kriegen für diese Fristverlängerung, die wir brauchen.
Wie es aber bei jedem guten Gesetz ist: Man kann es noch ein Stück weit besser machen.
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Wir brauchen auch die Klarheit für das Jahr 2020, weil da genauso die Frage ansteht, wie es dann kommt. Das heißt, es wäre schön, hier auch weiter Klarheit zu kriegen. Wir müssen noch klären, was mit den landwirtschaftlichen Betrieben ist; die sind von dem momentanen Gesetzentwurf nämlich nicht umfasst. Wir müssen auch noch mal an die Verspätungszuschläge denken. Es gibt noch viel zu tun.
Einen Satz vielleicht schon noch, weil heute viele Redezeit hatten und sich mit vielem beschäftigen konnten, was auch nicht gerade den Gesetzentwurf angeht: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bazooka, das Herzstück des Konjunkturprogramms, war die Umsatzsteuersenkung für ein halbes Jahr, die nicht nur den Unternehmen und den Steuerberatern viel Arbeit gemacht hat, sondern auch nicht den Effekt gebracht hat, den sie hätte bringen sollen als Herzstück Ihres Konjunkturprogramms.
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Da hätten wir bessere Vorschläge gehabt und uns wesentlich mehr gewünscht. Für dieses Geld hätte man auch mehr erreichen können als vor allem viel Umstellungskosten und Umstellungsarbeit.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Katja Hessel. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Stefan Liebich.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie kennen ja bestimmt den Spruch: Es ist bereits alles gesagt, aber noch nicht von jedem. – Das möchte ich heute mal nicht machen. Also, Frau Tillmann, Herr Schrodi und Frau Hessel haben alles Richtige gesagt. Es ist ein Problem erzeugt worden, weil Steuerberaterinnen und Steuerberater mehr Aufgaben bekommen haben. Das Problem ist durch einen guten Gesetzentwurf der Koalition gelöst worden, nämlich dadurch, dass sie mehr Zeit bekommen. Diesen Gesetzentwurf unterstützen wir.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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So macht man sich beliebt, Herr Liebich.
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Bin mal gespannt, ob die anderen auch den Applaus wollen. Schauʼn mer mal.
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Liebich, ich hatte den gleichen Gedanken und hätte es auch fast so gemacht.
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Aber ich habe mich doch noch entschlossen, drei Sätze mehr zu sagen.
Also: Auch Bündnis 90/Die Grünen unterstützen und begrüßen ganz ausdrücklich diese Verlängerung. Allerdings muss ich schon anmerken: Wir hätten es auch einfacher haben können. Wir hätten es deutlich einfacher haben können; das wurde schon angesprochen. Wir haben letztes Jahr das Jahressteuergesetz verabschiedet. Alle Steuerberaterinnen und Steuerberater haben darauf gewartet. Sie haben den ganzen Prozess über vier Wochen verlängert. Da hätten wir es wirklich locker reinpacken können. Und einen Tag nachdem wir hier das Jahressteuergesetz verabschiedet haben, veröffentlichen Sie eine Pressemitteilung, dass die Frist Ende Februar nicht gelten soll und dass es dazu eine Gesetzesinitiative braucht. Das hätten wir alle miteinander wirklich deutlich einfacher haben können.
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Deswegen ist es zwar gut, dass das Gesetz jetzt endlich kommt; aber gleichzeitig ist es eben auch ein typisches Beispiel dafür, was Sie hier derzeit für ein Hickhack, für ein Hin und Her, für ein Durcheinander, für ein Nicht-sortiert-Sein in der Koalition im Rahmen der Pandemie veranstalten. Etwas, was wir alle miteinander definitiv nicht brauchen, meine Damen und Herren.
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Wir wollen ja da mitmachen, wir wollen da wirklich mitmachen. Aber es ist leider so, dass damit eben nicht nur das Vertrauen der Wirtschaft in Ihre Fähigkeit schwindet, mit dieser Situation umzugehen, sondern, wenn das mit den Wirtschaftshilfen nicht funktioniert, dann sind eben auch die Unterstützung und das Vertrauen nach dem Motto „Die schaffen das schon mit den Coronamaßnahmen“ insgesamt schwer erschüttert. Auch deswegen brauchen wir da einen anderen Umgang, und deswegen müssen wir da etwas ändern, meine Damen und Herren.
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Dass jetzt die Plattform für die Coronahilfen immer noch nicht funktioniert, ist dabei ja inzwischen sogar das kleinere Problem. Wir haben ja gestern im Finanzausschuss intensiv darüber diskutiert, alle miteinander, wie verheerend es gewesen ist, dass Altmaier und Scholz zusammen diese Pressemitteilung letztes Jahr im November herausgegeben haben, gemäß der sich alle darauf verlassen haben, es kommen eben diese 75 Prozent vom Umsatz. Und erst jetzt, in diesen Tagen, wird im Kleingedruckten deutlich: Ups, es kommt so gar nicht, sondern kommt irgendwie ganz anders. 90 Prozent der Anträge müssen noch mal bearbeitet werden. – Das ist natürlich eine krasse Verunsicherung der Leute, die wir alle miteinander nicht brauchen, meine Damen und Herren.
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Deswegen müssen die Hilfen jetzt endlich schnell kommen. Die Vielfalt der Hilfen ist mittlerweile so verwirrend. Es gibt unverständliche Ungleichbehandlung, zum Beispiel bei Mischbetrieben. Es war gestern auch Thema, warum der Bäcker mit dem Kaffee anders behandelt wird als die Brauerei mit dem Ausschank.
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Solche Dinge versteht draußen kein Mensch.
Die Hilfen sind nach wie vor auch kompliziert. Für Soloselbstständige und Kleinstunternehmerinnen und Kleinstunternehmer gibt es immer noch keinen Unternehmerlohn. Hier, ganz zentral, wäre ein Gesetzentwurf jetzt wirklich sehr dringend. Dazu haben Sie noch die Chance. Nutzen Sie sie!
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Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal – das sei in einer solchen Debatte erlaubt – möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen Steuerberater in Deutschland mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön aussprechen. Sie leisten in der Pandemie eine außerordentliche Arbeit.
Ohne die Steuerberater wäre eine Abwicklung der zahlreichen von uns beschlossenen Maßnahmen in dieser Weise gar nicht möglich: Abrechnung des Kurzarbeitergelds; Stundungsanträge für Sozialversicherungsbeiträge, für Steuerzahlungen, für Steuervorauszahlungen; Beantragung der zahlreichen Coronahilfen mit den großen Herausforderungen, insbesondere mit den sich doch immer wieder ändernden FAQs; Beantragung der KfW-Darlehen und die damit verbundene betriebswirtschaftliche Bearbeitung; Berechnung und Beantragung des unterjährigen Verlustrücktrags; die Verarbeitung – Frau Kollegin Tillmann hat es ja auch gesagt – des Wechsels des Mehrwertsteuersatzes für ein halbes Jahr und vieles, vieles mehr. Dazu gehört übrigens auch, dass die Steuerberater immer ein offenes Ohr für die täglichen Sorgen und Nöte der Mandanten haben. Gerade in einer solchen Zeit wird das besonders in Anspruch genommen.
Das führt dazu, dass es unglaublich viele Überstunden bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, aber es führt auch zu einer hohen Arbeitsbelastung der Inhaber. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir für die Fertigstellung und Einreichung der Steuererklärung 2019 jetzt nicht die normale Abgabefrist, sondern eine verlängerte Abgabefrist beschließen. Normal ist ja bei Inanspruchnahme von steuerberatenden Berufen eine Frist bis Ende Februar des übernächsten Jahres; also wäre die Frist für die Jahressteuererklärung 2019 Ende Februar ausgelaufen. Jetzt wird sie bis August verlängert.
Bei den Zinsen ist es genauso: Der Zinslauf beginnt ab dem 15. Monat nach dem Veranlagungsjahr. Also würden zum 1. April eben 0,5 Prozent Zinsen pro Monat laufen. Jetzt wird das verlängert auf den 1. Oktober. Das heißt, alle Steuererklärungen, die bis dahin abgegeben werden, werden nicht verzinst.
Es ist angesprochen worden: Das ist im parlamentarischen Verfahren erreicht worden, weil der Finanzminister es vorher nicht in unserer Weise, wie wir es im Jahressteuergesetz beantragt haben, hat durchgehen lassen. Deswegen bedanke ich mich ausdrücklich bei den Koalitionsparteien und beim Koalitionspartner, dass wir das gemeinsam im parlamentarischen Verfahren durchgeführt haben.
Wir werden uns aber auch – das muss man schon hier in dieser Debatte sagen – für die Einreichungsfristen 2020 etwas überlegen müssen; die Frau Kollegin Hessel hat es angesprochen. Man muss ja unmissverständlich sagen: Wenn die Frist zur Abgabe für 2019 jetzt im August endet, dann haben die Steuerberaterinnen und Steuerberater sechs Monate Zeit, die Arbeit für ein ganzes Jahres zu erledigen, weil nämlich die Frist zur Abgabe der Steuererklärung 2020 dann wieder im Februar endet. Insofern bitte ich den Finanzminister hier, in den nächsten Wochen initiativ zu werden und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit wir dann auch hier eine geordnete Besteuerung vornehmen können.
Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Lothar Binding.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich denke, ein Lob verträgt auch Wiederholung. Deshalb möchte ich Antje Tillmann danken für die gute Zusammenarbeit, der AG Finanzen der CDU/CSU, aber auch der Opposition, die hier gut nennt, was gut ist. Ich meine, das muss man auch erst mal machen.
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Ich will auch den steuerberatenden Berufen danken. Bei mir ist der große Vorteil: Ich kann denen danken, ohne mich selbst zu meinen. Das ist bestimmt gut.
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Und zwar danke ich denen, weil sie einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Coronakrise leisten und auch sonst natürlich im Hinblick auf unsere Einnahmen; das ist klar.
Steuerliche Erleichterungen und Überbrückungshilfen haben eine gigantische Anzahl von Vorgängen erzeugt. Michael Schrodi hat es schon gesagt: Es gibt 70 verschiedene Maßnahmen, die da verwaltet werden müssen. Ich glaube, das zeigt schon, um was es hier geht.
Um ein paar Zahlen zu nennen: Bei der Novemberhilfe gibt es fast 280 000 Anträge, die vom Volumen her 4,5 Milliarden Euro ausmachen; und 1,2 Milliarden Euro sind schon ausbezahlt. Nur so viel für die, die sagen: Es passiert nichts. – Für die Dezemberhilfe gibt es mehr als 82 000 Anträge mit einem Volumen von mehr als 1 Milliarde Euro und bisherige Auszahlungen in Höhe von 400 Millionen Euro. Irgendwo muss das Geld angekommen sein, auch wenn noch nicht alle haben, was sie benötigen und brauchen.
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Aber zugleich muss natürlich auch in der Verwaltung viel getan werden. Deshalb will ich mich auch Michael Schrodis Dank anschließen. Die Finanzverwaltung leidet auch unter diesem Problem. Natürlich haben die jetzt die Sorge, dass, wenn wir die Fristen verlängern, im ersten Halbjahr wenig kommt und sich dann alles häuft. Das ist logisch, weil natürlich gegen Fristende sehr viel passiert. Und das ist für die nicht sehr leicht. Die müssen zinslose Stundungen überlegen, erleichterte Herabsetzung händeln, auf Vollstreckungsmaßnahmen verzichten. Das bedeutet richtig viel Arbeit.
Das Gerücht, dass dieses Gesetz jetzt nur für die Steuerberater im Bundestag gemacht wird, ist falsch. Das wird ja auch für die wenigen Steuerberater außerhalb des Bundestages gemacht. Insofern sind ganz viele Leute davon betroffen.
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– Ein kleiner Witz ist doch mal erlaubt.
Diese Frist hat übrigens eine Geschichte. Die Geschichte ist: Früher hatten die Steuerberater nur 9 Monate Zeit, nämlich bis zum 30. September. Das ging dann über 12, 14, 15 Monate, und jetzt haben die Steuerberater 20 Monate Zeit. Da merkt man: Wir strengen uns an, das System wirklich gut zu machen. Bei dem, der nicht beraten wird, sind die Fristen kürzer. In der Vergangenheit war die Frist bis zum 31. Mai; seit 2018 ist sie bis zum 31. Juli. Es sind also immerhin 7 Monate. Man sieht, dass wir uns kümmern, dass da was passiert.
Und die Fristen sind wichtig. Denn wenn man sie nicht einhält, hat man Folgendes zu befürchten: einen Verspätungszuschlag, ein Zwangsgeld, möglicherweise eine Steuerschätzung, Zwischennachzahlungen oder Zinsnachzahlungen; möglicherweise wird auch die Immunität aufgehoben, wenn es einen Abgeordneten betrifft. Also: Man hat tatsächlich Konsequenzen zu befürchten. Deshalb sind die Fristen wichtig.
Sie sind aber auch wichtig für Erstattungen und Nachzahlungen. Wer eine Erstattung bekommt, der will das Geld natürlich schnell haben. Wer eine Nachzahlung zu leisten hat, der muss sich überlegen, ob es dafür einen Zinslauf gibt, der fair ist. Und wir haben es gehört: Der Zinslauf ist fair, und er wird auch verlängert.
Insofern: insgesamt ein gutes Gesetz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Lothar Binding. – Letzter Redner in dieser Debatte: Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben ja nun festgestellt, dass alle Fraktionen der Meinung sind: Das ist ein gutes Gesetz. – Das kommt hier auch nicht immer vor.
Man kann kritisieren, dass wir das nicht schon im Jahressteuergesetz 2020 gemacht haben. Die Opposition tut dies, ohne aber zum Jahressteuergesetz 2020 einen Antrag für entsprechende Änderungen gestellt zu haben. Das hätte sich so gehört.
Was ich aber gut finde: Als wir hier über das Jahressteuergesetz 2020 debattiert haben, habe ich in meiner Rede auf genau diesen Umstand hingewiesen und darauf, dass die Finanzverwaltung nicht so reagiert hat, wie wir das erwartet hatten, nämlich mit der Verlängerung um einen Monat. Ich habe das hier einen „Schlag ins Gesicht der beratenden Berufe“ genannt. Das führte dazu, dass mich am nächsten Morgen der Kollege Lothar Binding angerufen und gesagt hat: Die Argumente haben mich überzeugt! Lass uns darüber reden! – Wir haben dann innerhalb kürzester Zeit diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich finde: Das ist gelebte Demokratie; das ist Parlamentarismus. Darum einen herzlichen Dank auch an Lothar Binding!
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Es ist jetzt mehrfach ausgeführt worden, warum wir das alles brauchen. Es ist richtig: Die in den steuerberatenden Berufen Tätigen – und nicht nur die Steuerberater im Deutschen Bundestag – sind für ihre Mandanten mittlerweile fast rund um die Uhr da. Wir sind der erste Ansprechpartner. Wir sind sozusagen der Hausarzt der Unternehmerinnen und Unternehmer und der Unternehmungen.
Wir sollen immer eine Lösung parat haben. Wir sollen unterstützen beim Kurzarbeitergeld, bei den Stundungsanträgen, den Herabsetzungsanträgen; es ist all das genannt worden. Ich will ergänzen: Bei der Beantragung der KfW-Darlehen machen wir jede Menge: Sofortkredite, schnelle Kredite, Unternehmenskredite. Die kann man aber nicht einfach beantragen. Da müssen Planungen vorgelegt werden, und diese Planungen müssen gemacht werden.
Die größte Herausforderung sind derzeit natürlich die Beantragungen der Überbrückungshilfen. Über die Probleme unterhalten wir uns schon die letzten Tage. Die muss man auch benennen dürfen. Der Bundestag hat der Bundesregierung viel Geld zur Verfügung gestellt, und wir haben die Erwartung, dass diese Gelder auch jetzt bei den Unternehmen ankommen.
Ich akzeptiere, dass es da am Anfang Probleme geben kann. Milliarden können nicht von heute auf morgen verteilt werden; das muss sorgsam geschehen, damit wir keine Fehlallokationen haben. Aber dennoch müssen wir die Erwartungshaltung – die wir selber erzeugt haben –, dass dieses Geld ankommt, auch befriedigen.
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Lieber Lothar Binding, mittlerweile sind bei der Novemberhilfe 4,5 Milliarden Euro beantragt, aber nur 1,3 Milliarden Euro geflossen. Als Praktiker sage ich: Viele Anträge, die für die November- und Dezemberhilfe gestellt werden müssten, sind derzeit noch nicht gestellt, weil sie noch gar nicht gestellt werden können. Wir erschweren den steuerberatenden Berufen derzeit die Arbeit dadurch, dass die Rahmenbedingungen für die Beantragungen teilweise völlig unklar sind. Von daher die dringende Aufforderung an die Bundesregierung, an das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirtschaftsministerium, hier endlich Klarheit zu schaffen, damit die Gelder beantragt werden können und auch dort ankommen, wo sie ankommen sollen.
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Von daher ist das heute ein gutes Gesetz.
Ich will nur noch eines mit auf den Weg geben: Wir sollten in Zukunft über weitere Fristen diskutieren. Es geht um Fristen zur Aufstellung von Jahresabschlüssen; das ist teilweise sanktionsbewehrt. Es geht um Offenlegungsfristen. Also: Wir haben noch einige Fristen, die wir uns auch angucken sollten. Von daher können wir das, was wir heute schon gut gemacht haben, noch besser machen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema: fehlgeleitete Steuergelder und Haftungsrisiken in der EU. Um Steuergelder sinnvoll verwenden zu können, bedarf es zwingend einer strategischen Konzeption. Diese Konzeption fehlt in der EU. Das belegt das Beispiel „Wiederaufbaufonds“.
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Dort wird erst Geld angesammelt, dann wird das Geld an Staaten verteilt, und dann wird anschließend überlegt, wofür das Geld überhaupt ausgegeben werden soll. Dieses verkehrte Vorgehen erzeugt Chaos. Das sehen wir aktuell an Italien, wo der Streit um die Geldverteilung zur Regierungskrise geführt hat. Die aktuelle EU-Politik ist nicht in der Lage, Gelder effizient einzusetzen.
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Das führt mich zum Amtseid. Der verpflichtet dazu, stets zum Wohle des deutschen Volkes zu handeln, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Die Frage ist: Wird diesem Auftrag entsprochen? Antwort: Nein! Dazu Beispiele:
Die Bundesrepublik Deutschland soll ab 2021 jährlich 42 Prozent mehr an Brüssel überweisen; aber die Leistungen von Brüssel an Deutschland steigen nicht. Wir zahlen zwar mehr, bekommen aber nichts dafür. Wir verschenken Geld. Das ist zum Schaden unseres Landes und der Bürger; das widerspricht dem Amtseid.
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Im Rahmen von „Next Generation EU“ wird ein 750 Milliarden Euro schwerer Coronaaufbaufonds aufgelegt. Dieser soll durch Kredite finanziert werden. Für diese Kredite haften alle Mitgliedstaaten gemeinsam. Für die Italiener zum Beispiel ist das durchaus ein interessantes Geschäft; denn sie bekommen deutlich mehr, als sie an Tilgung zurückzahlen müssen. Wer zahlt dann aber die Zeche? Unter anderem die deutschen Steuerzahler! Wir zahlen durch Tilgung 52 Milliarden Euro mehr, als wir bekommen. Meine Damen und Herren, das Geld könnten wir selbst sehr gut für unsere Lockdown-Geschädigten gebrauchen.
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Zu dem alten Anleihekaufprogramm der EZB stellt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 fest, dass durch die Anleihekäufe ein erhöhtes Risiko für Immobilien- und Aktienblasen ausgeht, und es testiert ausdrücklich negative ökonomische und soziale Auswirkungen für nahezu alle Bürger. Ergänzend hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die EZB gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen als auch seine Kompetenz überschritten hat. Das gilt nun ebenso für das neue Anleihekaufprogramm PEPP, weil es eine Fortsetzung des alten Programms ist, nur unter neuem Namen. Es ist Aufgabe der Regierung, Schaden abzuwenden. Handeln Sie entsprechend!
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Sie, Frau Bundeskanzlerin, postulierten: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Dieses Dogma führte dazu, dass billionenschwere Rettungsprogramme aufgelegt worden sind, für die auch Deutschland geradesteht. Ich höre Sie schon sagen: Ja, wir sind doch aber die Nutznießer Europas. – Das ist falsch!
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Denn wie titelte „Die Welt“ zutreffend? „Der Euro bremst sogar Deutschland aus“!
In dem Artikel wird eine EZB-Studie besprochen. Sie belegt, dass der Euro das Wachstum Deutschlands dämpft. Der Euro ist eben nicht im Interesse Deutschlands und seiner Bürger; denn er schmälert unseren Wohlstand.
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Wir fordern klar definierte Zielsetzungen des mittelfristigen Finanzrahmens der EU und einen Mehrwert für Deutschland und seine Bürger.
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Meine Damen und Herren, Vertragsbrüche sind gewiss keine Grundlage, um dem Wohle Deutschlands und seiner Bürger zu dienen. Der Artikel 311 AEUV besagt: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Doch was passiert? Der Kommission soll das Recht eingeräumt werden, Ausgaben aus Krediten zu finanzieren.
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Fremdkapital sind aber keine Eigenmittel. Das Vorhaben verstößt gegen EU-Verträge.
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Wir fordern Vertragstreue. Wir fordern die Wahrung bundesdeutscher Interessen, und wir fordern die Erfüllung des Amtseids.
Vielen Dank.
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Danke schön, Dr. Hollnagel. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. André Berghegger.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der hier vorliegende Antrag der AfD-Fraktion bemängelt im Wesentlichen ein fehlendes Konzept für den europäischen Mehrwert bei den Aufgaben der EU am Beispiel des mehrjährigen Finanzrahmens, also der Handlungsgrundlage der EU für die kommenden Jahre. Es fehle die Strategie, und es fehle der zielgerichtete Mitteleinsatz, so wie es der Kollege vorhin angesprochen hat.
Eine Vorbemerkung. Sie zitieren dort häufiger den Europäischen Rechnungshof. Ich kann Sie nur bitten, diesen Rechnungshof auch vollständig zu zitieren; denn sonst könnte ein falscher Eindruck von dem entstehen, was der Rechnungshof gesagt hat, und das wollen Sie ja sicherlich nicht. Sie zitieren aus Berichten vom Februar 2019 und wissen doch, dass die wesentlichen Vertragsverhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen erst in 2020 erfolgt sind. Sei es drum.
Zur Sache. Natürlich gibt es ein Konzept für die Aufgaben der EU. Das Aufstellungsverfahren für den mehrjährigen Finanzrahmen ist transparent und langfristig angelegt. Die ersten Vorschläge hatte noch Kommissar Oettinger in 2019 vorgestellt. Politische Prioritäten und Schwerpunkte wurden festgelegt und vorgestellt, unter anderem die Digitalisierung und der Klimaschutz. Das Verfahren ist natürlich langfristig mit den Mitgliedstaaten abgestimmt. Man ringt um Schwerpunkte, man diskutiert über Umschichtungen. Das Verfahren ist zäh, aber es funktioniert.
Die politischen Schwerpunkte, die am Ende festgelegt werden, sind die Aufgaben, die durch die EU wahrgenommen werden sollen. Das ist das Konzept für den europäischen Mehrwert bei den Aufgaben in den kommenden Jahren. Natürlich hat die Coronapandemie diese Überlegungen durchkreuzt. Aber die Reaktion darauf war ja das Aufbauinstrument „Next Generation EU“. Das zeigt, dass Europa schnell handlungsfähig ist, wenn es notwendig ist.
Eine Anmerkung an dieser Stelle, Herr Hollnagel. Der europäische Mehrwert bei einer Aufgabe muss nicht immer monetär sein. Die EU ist kein Unternehmen, das man ausschließlich nach Kennzahlen führt. Kernelement der EU war, ist und bleibt immer: Sie ist auch eine Wertegemeinschaft, und dazu stehen wir.
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Als Zweites kritisieren Sie die Hebelung des EU-Budgets. Sie beziehen sich dabei auf den Europäischen Fonds für Strategische Investitionen, EFSI, den Nachfolger: das Investitionsprogramm InvestEU, das Aufbauinstrument „Next Generation EU“ und beziehen auch gleich den Green Deal mit ein. Der Green Deal – das sei nur eine Anmerkung – ist im Vergleich zu den anderen Punkten eine politische Äußerung, ein Programm, aber kein Finanzierungsinstrument; deswegen muss man da differenzieren.
Sie kritisieren das Zusammenspiel von eingezahlten Barmitteln und der Übernahme von Garantien. Das Zusammenspiel von Barmitteln und Garantien hat sich aber bewährt. Gucken Sie auf die Europäische Investitionsbank. Dort wird dieses System seit etlichen Jahren – wenn nicht Jahrzehnten – erfolgreich mit guten Bonitätswerten für alle praktiziert. Deswegen ist das keine Neuerung, sondern durchaus praktikabel, auch für die Zukunft.
Bei der Hebelung an sich – das heißt dem Anreizen auch von privaten Investitionen – müssen wir bedenken, dass das ein effektives, marktwirtschaftliches Instrument ist. Was wäre denn die Alternative, wenn man handeln will? Die Alternative wäre – Möglichkeit eins –, mehr öffentliche Barmittel als Mitgliedstaat einzuzahlen und damit das finanzielle Risiko sofort zu erhöhen; das können Sie doch bestimmt nicht wollen. Die zweite Möglichkeit wäre, gar nicht oder im geringeren Maße zu helfen, weniger an die Mitgliedstaaten auszukehren. Wollen Sie das? Da bin ich mir nicht ganz sicher.
Aber allein aus wirtschaftlichen Erwägungen müssen Sie doch verstehen: Rund 60 Prozent des Exportes aus Deutschland gehen in die Mitgliedstaaten der EU. Deswegen hat Deutschland als Exportnation ein elementares Interesse daran, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union wirtschaftlich wieder auf die Füße kommen, damit sie unsere Waren und Dienstleistungen auch abnehmen können.
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Der Wert der Exporte betrug allein 2019 über 900 Milliarden Euro; das sei an dieser Stelle angemerkt.
Und zu guter Letzt. Die Leitplanken, die uns bei diesen Diskussionen vorgegeben werden, gibt uns, würde ich sagen, das Bundesverfassungsgericht vor, aber auch unsere politische Verantwortung. Die Haftungsfragen sind mit Maß und Mitte zu regeln, und vor allen Dingen sind die Haftungen zu begrenzen. Bei der Konstruktion von „Next Generation EU“ in den letzten Wochen und Monaten war es eine zentrale Diskussion, wie wir diese Leitplanken einhalten können. Ich finde, in dieser besonderen Situation, in dieser schwierigen Phase, ist es eine gut vertretbare Lösung, temporär, zeitlich befristet ein solches Instrument aufzusetzen.
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Sie unterstellen des Weiteren, dass sich der Charakter der EU mit dem Rechtsstaatlichkeitsmechanismus von einem freiwilligen Zusammenschluss wegbewegt. Weg von einem freiwilligen Zusammenschluss – mit Verlaub, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wir sehen doch am Brexit, dass die Möglichkeit besteht, aus der Europäischen Union auszutreten. Ob das eine kluge Entscheidung ist, wird sich in Zukunft zeigen. Aber wenn man Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, dann bekennt man sich zu einem Wertekanon. Das macht uns doch stark, und das verleiht der Europäischen Union eine starke Stimme auf dieser Welt.
Der Mechanismus, den Sie ansprechen, ist ein ganz anderer; der ist technischer Art. Wenn Mittel der Europäischen Union ausgekehrt werden und nicht zweckentsprechend verwendet werden, dann muss das doch kontrolliert und bei einer falschen Verwendung im Zweifel auch sanktioniert werden. Das schafft Vertrauen und Verlässlichkeit und unterliegt zudem noch der Einspruchsmöglichkeit der Mitgliedstaaten. Dieser Mechanismus wurde kurz vor Schluss noch hineinverhandelt. Das ist eine vernünftige Regelung, aber auch eine selbstverständliche Regelung.
Sie sehen an diesen drei Beispielen: Mit Ihrem Antrag sprechen Sie eine Vielzahl von Themen an. Aber bewusst oder unbewusst – ich weiß es nicht – diskutieren Sie sie nicht vollständig. Das finde ich unseriös, und deswegen werden wir den Antrag ablehnen.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
({3})
Vielen Dank, Dr. Berghegger.
Ich habe noch einen Nachtrag zu machen. Manche Kolleginnen und Kollegen waren in der Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt mit dem Thema Abgabenordnung schon da. Da wurde der Eindruck erweckt, als wären wir eine Vollversammlung von Steuerberatern und Steuerberaterinnen. Wir haben uns jetzt statistischen Zahlen geben lassen, wie viele Steuerberater und Steuerberaterinnen – ich weiß gar nicht, ob Frauen dabei sind – hier im Hause sind: Es sind sieben. – Also, noch haben sie nicht die Mehrheit.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Otto Fricke.
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Sehr geschätzte Frau Vizepräsidentin! Da bin ich ja froh, dass auch Rechtsanwälte steuerrechtlich beraten dürfen.
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Dann kommen wir schon auf 99 Steuerberaterinnen und Steuerberater; dann erhöht sich die Zahl nämlich.
Frau Präsidentin, ich halte jetzt natürlich fest, dass die Zeit nicht angehalten wurde. Aber da sind Sie sicherlich – wie immer in Ihrer Weisheit – sehr tolerant.
Selbstverständlich; 15 Sekunden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf den Antrag und vor dem Hintergrund, dass der Sinn unseres Parlamentes der Diskurs ist, hätte ich gesagt: „Okay, jetzt arbeiten wir den Antrag, den die AfD hier gestellt hat, mal durch“; denn das ist Teil von Parlamentarismus. Wir müssen dann aber auch sagen, dass er schon veraltet ist, weil die Zeit abgelaufen ist und man zu einem späteren Punkt kommt. Deswegen will ich Sie im Detail nur auf einen Punkt des Antrages hinweisen, an dem man erkennen kann, wes Geistes Kind Sie da eigentlich sind. Denn dass man Europa auch kritisieren können muss, ist klar; dass da auch im finanziellen Bereich vieles nicht richtig läuft, ist auch keine Frage.
Lesen Sie sich mal Ihre eigene Überschrift durch: „Steuergelder der“ – Achtung! – „deutschen Bürger vor nicht zielgerichtetem Einsatz im EU-Budget schützen und ihre Haftungen begrenzen“. Ich stelle Ihnen eine einfache Frage: Was ist denn mit den nichtdeutschen Bürgern – in Ihrer Diktion –, die in Deutschland Steuern zahlen? Die werden in Ihrem Antrag schon nach der Überschrift nicht geschützt. Da merken Sie doch spätestens, dass Sie nicht nur eine Schutzsicht haben, sondern eine Sicht, die rein nationalistisch ist, noch nicht einmal patriotisch.
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Solch eine Überschrift ist für uns Grund genug, Ihren Antrag abzulehnen.
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– Nein, das ist keine Haarspalterei. Ich danke für das Stichwort „Haarspalterei“; ich dachte, es kommt nicht. Mit genau diesem Text gehen Sie über die sozialen Medien in die Öffentlichkeit, und Sie fangen die Wähler, die Sie fangen wollen, mit dem Hinweis, dass es nur um deutsche Steuerzahler, nur um deutsche Bürger geht.
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Deswegen verwenden Sie solche Begriffe. Das ist keine Haarspalterei, sondern das ist Parlamentarismus. Sie müssen sich mit solchen Worten auseinandersetzen. – Dabei belasse ich es.
Dann kommen wir zu der Frage, was Europa ist. Eine rein wirtschaftliche Betrachtung von Europa ist genauso falsch wie die rein wirtschaftliche Betrachtung unseres Lebens. Ja, Wirtschaft ist die Grundlage, aber ein Leben, das man allein nach wirtschaftlichen Überlegungen führt, wäre doch sehr armselig. Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Es geht um unseren Wohlstand. – Was ist denn unser Wohlstand? Ich will das deutlich sagen: Unser Wohlstand ist mehr als Finanzen, als Milliarden, als Steuern, als Geld. Ich nehme als Beispiel das Erasmus-Programm: Unser Wohlstand ist auch – das erleben wir jetzt mit dem Austritt der Briten –, dass unsere Kinder in einer Weise in Europa lernen, leben und arbeiten können, wie das keine Generation vorher konnte; das werden hoffentlich noch viele Generationen können. Und das geht nur mit einem Europa, das funktioniert.
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Über das Thema Frieden will ich gar nicht erst reden. Nehmen wir aber das Thema Umwelt: Gehört zum Wohlstand nicht auch, in einer Welt zu leben, zumindest auf einem Kontinent, wo gezeigt wird, dass Ökonomie und Ökologie miteinander vereinbar sind? Ist das nicht auch Wohlstand? – Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, werden oft von Ihnen vergessen.
Ich will es ganz klar sagen – auch weil meine Redezeit abläuft, Frau Vizepräsidentin –: Wir brauchen ein Europa, das sich nicht allein auf die wirtschaftlichen Dinge fokussiert, das die wirtschaftlichen Dinge zwar niemals aus dem Blick verliert, sich aber klarmacht, dass die europäischen Werte das sind, was uns ausmacht und was wir brauchen. – Deswegen ist dieser Antrag falsch.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Otto Fricke. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Metin Hakverdi.
Herzlichen Dank, Frau Vizepräsidentin. – Herr Hakverdi, ich darf einfach ein paar Fragen stellen; auf das, was Sie hier an Hetze abgeliefert haben, will ich nicht eingehen.
Die Europäische Union als Erfolgsmodell: Sie wissen, wir haben seit zehn Jahren weltweit ein Wirtschaftswachstum von über 4 Prozent, wir haben in Europa eines von unter 1 Prozent.
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Wissen Sie, dass die Mehrzahl der europäischen Länder, der EU-Länder, der Euro-Länder in den letzten zehn Jahren null gewachsen ist, dass das Wirtschaftswachstum in der Mehrzahl dieser Länder im Verhältnis zum Rest der Welt geschrumpft ist?
Ist Ihnen bekannt, dass wir vor etwa zehn Jahren eine Geldmenge M1 hatten, die etwa 200 bis 300 Milliarden Euro betrug? Heute haben wir eine von über 2 Billionen Euro. Das ist eine Versechsfachung der Geldmenge, die mit der Realwirtschaft und deren Entwicklung null zu tun hat. Hier wird eine Bombe geladen, die natürlich irgendwann explodiert.
Ich verstehe nicht, was Sie angesichts dessen hier erzählen und wie Sie dann noch eine Jubelarie auf diese Form von europäischer Wirtschaft, von europäischem Erfolg, von der europäischen Stellung in der Welt, halten können. Ist Ihnen bekannt, dass der volkswirtschaftliche Anteil der Europäischen Union am Weltinlandprodukt noch vor zehn Jahren bei 25 Prozent lag, jetzt bei 17 Prozent? Er marginalisiert sich weiter bis in den einstelligen Bereich. Ist Ihnen bekannt, dass die Schulden der EU, die es bisher noch nie gegeben hat, um Ihren eigenen Haushalt zu finanzieren, aufgekauft werden durch die EZB als eigene Institution, weil auf dem Weltmarkt die Ausleihungen gar nicht unterzubringen wären?
Nachdem Sie das gehört haben, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie erklären würden, wie Sie das mit Ihrer Jubelarie zur EU und zur Euro-Zone zusammenbringen.
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Herr Hakverdi, Sie haben jetzt die Möglichkeit, zu antworten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sturm auf das deutsche Parlament, den Deutschen Bundestag, von Mitgliedern – –
({0})
So, jetzt ist Herr Hakverdi dran.
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Wollen Sie den Versuch unternehmen, Herr Baumann, mich niederzubrüllen? Ist das Ihre Art? Erneut?
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– Das war eine rhetorische Frage.
Der Versuch auch Ihrer Parteimitglieder,
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den Deutschen Bundestag im August letzten Jahres zu stürmen,
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die Tatsache, dass Sie Menschen hier in unser Haus gelassen haben, um offensichtlich die innere Ordnung zu stören, und natürlich auch die Tatsache, dass Sie hoffentlich bald vom Verfassungsschutz beobachtet werden, zeigt – –
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Lassen Sie ihn jetzt bitte ausreden.
Das ist so üblich in der Nichtdemokratie, niemanden ausreden zu lassen, nicht wahr?
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– Ja, Sie distanzieren sich von Ihrer Fraktion, Herr Glaser,
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aus gutem Grund. Das verstehe ich.
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Sie sind die Feinde der Demokratie. Ich werde Ihre Frage nicht beantworten.
({3})
Und ich werde auch niemanden aus Ihrer Fraktion zum stellvertretenden Bundestagspräsidenten wählen.
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Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Kollege Glaser. Vielen Dank, Kollege Hakverdi. – Ich gebe jetzt ab an meinen sehr geschätzten Kollegen Kubicki.
Frau Kollegin Dr. Lötzsch, Sie haben als Nächste das Wort.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Linke wollen ein soziales, ein solidarisches und friedliches Europa und eine friedliche Europäische Union. Wir wollen also genau das Gegenteil von dem, was die AfD will, um das einmal in aller Klarheit zu sagen.
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Weil wir die Europäische Union verbessern wollen, üben wir natürlich auch Kritik. Wir sagen ganz klar: Wenn die Europäische Union jetzt 13 Milliarden Euro für direkte militärische Aufrüstung ausgeben will, dann ist das falsch. Diese Gelder könnten wir in einer sozialen Gesundheitspolitik und einer humanen Flüchtlingspolitik viel besser anlegen, meine Damen und Herren.
({1})
Nun versucht die AfD, hier den Eindruck zu erwecken, die Europäische Union sei für Deutschland ein Verlustgeschäft. Das Gegenteil ist der Fall, in Wahrheit ist es genau andersrum.
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Für jeden Euro, den Deutschland als Nettozahler in die EU-Kasse einzahlt, fließen rund 10 Euro als Wirtschaftsleistung nach Deutschland zurück. Eine solche Traumrendite zahlt Ihnen keine Bank, meine Damen und Herren.
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– Ja, Sie müssen einfach nachrechnen. Sie müssen sich einfach nur einmal mit den Fakten beschäftigen, das würde Ihnen vielleicht helfen, meine Damen und Herren.
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Auch der von Ihnen vermittelte Eindruck – das steht auch in dem Antrag –, die Bundesregierung mache eine völlig selbstlose Europapolitik, ist falsch. Schauen wir doch einmal zurück in die Finanzkrise. Damals wurde von der Bundesregierung gegen Griechenland gehetzt. Angeblich hätten die Griechen das Geld deutscher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verschwendet. Das war natürlich üble Propaganda. Die Wahrheit ist, dass die Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass deutsche Banken ihr Geld zurückbekommen haben. Es sind also so massiv die Interessen deutscher Geldhäuser vertreten worden, dass sogar die Spaltung von Europa gedroht hat. So etwas darf sich nie wiederholen, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen in der Europäischen Union und in Europa weniger Egoismus und mehr Solidarität. Eine der Folgen der Finanzkrise, eine der Lehren sollte sein, dass endlich eine europäische Finanztransaktionsteuer eingeführt wird. Die Bundeskanzlerin und verschiedene Finanzminister haben das immer wieder angekündigt und versprochen. Das ist jetzt zwölf Jahre her, nichts ist passiert. Auch hier wollen wir endlich Taten sehen, meine Damen und Herren.
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Ja, es gibt viele Menschen, die die Europäische Union kritisch sehen. Wenn die EU als Selbstbedienungsladen für Banken und Konzerne erlebt wird, dann zeigt das, dass sie den falschen Weg geht. Wir müssen uns auf den Weg machen, endlich zu einer solidarischen Union zu kommen. Sie allerdings versuchen mit Ihrem Antrag, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Das werden wir als Linke nicht mitmachen. Wir lehnen den Antrag ab, und wir sagen Ihnen deutlich: Europa hat nur eine Zukunft, wenn wir in der EU mehr Demokratie, mehr Solidarität und mehr Frieden wagen. Dafür steht Die Linke, meine Damen und Herren.
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Herzlichen Dank, Frau Dr. Lötzsch, Fraktion Die Linke.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach eigener Aussage will die AfD mit ihrem heutigen Antrag Steuergelder der deutschen Bürger schützen, um sich ein paar Zeilen weiter gegen den europäischen Rechtsstaatsmechanismus auszusprechen.
Also: Sie wollen die Möglichkeit der EU, Gelder dann zu kürzen, wenn die Rechtsstaatlichkeit verletzt wird, abschaffen. Also Sie sind dafür, dass deutsche Steuergelder an die korrupten Kumpel von Viktor Orban fließen. Sie sind einverstanden und wollen, dass deutsche Steuergelder dazu beitragen, dass in Polen freie Medien weiter unter Druck gesetzt werden.
Genauso geht es weiter in Ihrem Antrag: Sie behaupten, Deutschland hafte für andere Länder – Lüge.
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Sie behaupten, jedes Mitgliedsland würde für den Wiederaufbaufonds haften – Lüge. Der EU-Haushalt haftet.
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Sie behaupten, Gelder aus dem Wiederaufbaufonds würden ohne inhaltliche Konzeption an die Mitgliedsländer gehen, man würde erst die Gelder rausgeben und sich dann überlegen, wofür – Lüge. Wenn Sie es noch nicht mitbekommen haben: 37 Prozent dieser Gelder müssen in den Klimaschutz gehen, 20 Prozent in die Digitalisierung. Vielleicht ist es Ihnen ja noch nicht aufgefallen.
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Sie behaupten hier, das Wachstum in der Euro-Zone läge bei unter 1 Prozent
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– Lüge. Es beträgt konstant mehr als 1 Prozent.
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Und das ist Ihre Masche: eine Lüge nach der anderen. Und diese Masche, eine Lüge nach der anderen, führt am Ende zur Erstürmung des Kapitals.
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Und ich kann Ihnen sagen, dass wir das werden zu verhindern wissen.
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– Erstürmung des Kapitols.
Und, ja, wir schaffen das in Europa gemeinsam. Sie haben in Ihrem Antrag nach dem Mehrwert Europas für Deutschland gefragt. Ich kann es Ihnen sagen: Frieden, wirtschaftlicher Wohlstand,
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Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Möglichkeit, in dieser unübersichtlichen Welt überhaupt noch etwas Gewicht zu haben, um gemeinsam die großen Herausforderungen wie Klimakrise und Digitalisierung angehen zu können. Das ist der Mehrwert der Europäischen Union.
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Wenn Sie es in Zahlen haben wollen:
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– Ja, ich weiß, Fakten interessieren Sie auch einen Mist. Es ist gut, dass Sie das selber hier so zugeben. Keine Zahlen, keine Fakten – das ist eben die Masche der AfD.
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Aber vielleicht ist ja der Rest des Hauses an Zahlen interessiert.
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10 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung beruht auf dem europäischen Binnenmarkt. 10 Prozent! Das ist der zehnfache Beitrag Deutschlands an den europäischen Haushalt. Also, wenn Sie sich die Zahlen einmal anschauen würden – ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie das nicht wollen –, dann würden Sie sehen, worin auch der wirtschaftliche Mehrwert für Deutschland liegt.
Eine starke Europäische Union ist unsere beste Zukunftsinvestition. Europa ist es wert.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Brantner. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist von der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alois Karl aus Bayern.
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Das Spiel ist noch nicht aus, Herr Präsident.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die augenblickliche Pandemiezeit hat auch etwas Positives: Man kann lesen und vorlesen. Meinem Enkelsohn Christoph habe ich die griechischen Mythologien vorgetragen: Trojanischer Krieg, die Odyssee. In den Abenteuern ist auch der Zyklop Polyphemos vorgekommen. Er hatte mehrere Nachteile, unter anderem den, dass er einäugig war. Wie ich den Antrag der AfD gelesen habe, habe ich an Polyphemos gedacht; denn Sie betrachten die Dinge sehr eindimensional und insbesondere ohne Weitsicht. Sie sind in Ihrer Sichtweise doch sehr eingeschränkt.
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In Ihrem Antrag heißt es, es soll der Mehrwert, den Deutschland aus der Mitgliedschaft in der EU zieht, durch die Bundesregierung dargestellt werden. Wie ich das so gelesen habe, da habe ich mir beide Augen gerieben und gedacht: Es liegt doch auf der Hand, welchen Mehrwert wir aus der Mitgliedschaft in der EU ziehen.
Man muss nicht so weit zurückgehen. Seit Konrad Adenauer 1957 mit den anderen Partnerländern die Römischen Verträge geschlossen und die deutsche Wirtschaft in die Europäische Gemeinschaft geführt hat, gibt es in der deutschen Wirtschaft – um es einmal zu benennen – doch nur eine einzige Richtung, nämlich vorwärts und aufwärts. Noch nie haben wir eine so lange Zeit des wirtschaftlichen Wachstums mit hohen Beschäftigungsraten erlebt
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und auch nicht des freien Austausches zwischen Menschen, Meinungen, Informationen und Dienstleistungen. All das hat zu einer unglaublichen Erfolgsgeschichte in Deutschland geführt. Ich möchte nicht, dass das hier irgendeiner kleinredet, auch Sie nicht.
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Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte wird erweitert um das Friedensprojekt Europa, um eine Wertegemeinschaft. Wenn die Geschichtsschreiber später über die jetzige Zeit schreiben, dann werden sie von einem goldenen Zeitalter reden, von einer Zeit, von der viele Generationen vorher geträumt haben.
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Meine Damen und Herren von der AfD, das ist der Mehrwert, den ich für Deutschland in Europa erkenne: dass wir in diesem Zeitalter leben dürfen und dass wir dies alles genießen können: Frieden, Freiheit, wirtschaftlichen Wohlstand und eine Wertegemeinschaft.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, um auf die Wirtschaft zurückzukommen: Wir haben diese Gemeinschaft von 27 Ländern, zollfrei und grenzfrei. 450 Millionen Menschen umfasst sozusagen der europäische Binnenmarkt. Deutschland ist ein vertrauenswürdiger Partner in diesem Europa geworden. Das hat uns sehr vieles gebracht, unter anderem auch die deutsche Wiedervereinigung. Auch darin sehe ich einen Mehrwert für Deutschland innerhalb dieser großen europäischen Gemeinschaft, der nicht kleingeredet werden darf.
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Die AfD, meine sehr verehrten Damen und Herren, spricht davon, dass Deutschland der größte Beitragszahler in der EU ist. – Stimmt. Wir zahlen ungefähr 25,5 Milliarden Euro. Wir haben eine Nettolast von 13,4 Milliarden Euro, und nach dem Austritt der Briten wird das noch mehr werden. Nur darauf zu verweisen, dass Deutschland der größte Einzahler ist, entspricht Ihrer eingeschränkten Sicht; denn Deutschland ist nicht bloß der größte Einzahler, sondern auch der größte Gewinner in der EU. Wir haben eine Exportleistung von 777 Milliarden Euro in die Mitgliedsländer der EU. Wir sichern damit 6,3 Millionen Arbeitsplätze. Als ob das nichts wäre, meine Damen und Herren!
Dass Sie immer wieder auf die Nettobelastung eingehen, ergibt doch gar keinen Sinn. Wir haben in Europa gemeinschaftliche Aufgaben zu erfüllen, was die Sicherheitspolitik und was die Verteidigung anbelangt. Wir haben in Europa gemeinschaftliche Aufgaben zu erfüllen, was Klimaschutz und Energie, was Forschung und Entwicklung, aber auch die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und vieles andere mehr anbelangt. All dies gehört zu dem Mehrwert, den wir aus Europa ziehen.
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Sie sprechen auch die Hebelung des EU-Budgets und die Risiken der Haftung an. Das ist natürlich nicht ganz unrichtig, aber Fakt ist: Wir verhalten uns in Deutschland schon seit 70 Jahren entsprechend, seit 1951 zum Beispiel mit den Hermesbürgschaften.
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Wir verbürgten uns im vorletzten Jahr für deutsche Exporte im Wert von 177 Milliarden Euro und hoffen, dass wir nicht auf den Bürgschaften sitzen bleiben. Wir zahlen trotzdem 1 Milliarde Euro drauf, wir nehmen aber auch 1,7 Milliarden Euro an Gebühren ein. Obwohl wir das nicht wollen, ziehen wir daraus also einen großen Nutzen.
Ich würde Sie fast bitten, meine Kollegen von der AfD-Fraktion: Verlassen Sie den Holzweg Ihrer Demagogie und der Widersprüchlichkeit,
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nicht dass es Ihnen so geht wie seinerzeit dem vorhin angesprochenen Polyphemos, der am Ende erblindet.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Aber ich sehe erste Anzeichen, dass Sie auch weiterhin blind Ihre Politik betreiben.
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes neues Jahr und Ihnen von der AfD insbesondere Weitsicht.
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Vielen Dank, Herr Kollege Karl. Das war jetzt schon die Verlängerung. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gehört zu den grundlegenden Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates, daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und neu legitimiert werden.
So hat es 1964 schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Diese sogenannte Periodizität der Wahl gewährleistet den für die repräsentative Demokratie konstitutiven Grundsatz der verantworteten Herrschaft auf Zeit.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben ganz bewusst die Dauer der Wahlperiode in Artikel 39 Absatz 1 des Grundgesetzes fest verankert. Die Dauer der Wahlperiode kann daher zu Recht auch aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht nachträglich verlängert werden. Denn mit dem durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützten demokratischen Prinzip wäre es unvereinbar, wenn wir als Mandatsträger unser eigenes Mandat verlängern könnten, sei es auf dem Wege des einfachen, sei es auf dem Wege des verfassungsändernden Gesetzes.
Das bedeutet also: Die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag im September 2021 wird in jedem Fall stattfinden – sie muss stattfinden. Das wird ganz normal und ordnungsgemäß klappen wie bei jeder Wahl; da bin ich mir sicher. Die Kommunalwahlen im März 2020 in Bayern und die Kommunalwahlen im September 2020 in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass Wahlen auch unter Pandemiebedingungen ordnungsgemäß stattfinden können.
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Das Bundesverfassungsgericht erstreckt denn auch die Geltung der Wahlrechtsgrundsätze auf den gesamten Wahlvorgang von der Erfassung der Wahlberechtigten und der Aufstellung der Bewerber bis hin zur endgültigen Feststellung des Wahlergebnisses.
Der Wahlvorgang für die jetzt anstehende Bundestagswahl beginnt somit lange vor dem 26. September. Nach § 19 des Bundeswahlgesetzes sind die Vorschläge der Wahlkreiskandidaten und der Landeslisten bis zum 69. Tag vor der Wahl, also bis zum 19. Juli, einzureichen. Hierfür bedarf es vorbereitender Verfahrensschritte, die bereits jetzt in Gang gesetzt werden müssen oder schon in Gang sind. Der wichtigste ist die Aufstellung der Wahlkreisbewerber und der Kandidatinnen und Kandidaten für die Landeslisten. Die Aufstellung der Landeslisten und vielfach auch die Aufstellung der Wahlkreiskandidaten erfolgt dabei oftmals in Vertreterversammlungen. Diese Vertreter werden von den Parteien in einem oft durchaus mehrfach gestuften Verfahren gewählt.
Aktuell ist aber die Durchführung von Versammlungen in Präsenz mit der erforderlichen Teilnehmerzahl jedenfalls in einem Bundesland rechtlich überhaupt nicht möglich. In anderen Ländern ist die Durchführung dieser Versammlungen von behördlichen Genehmigungen abhängig. Unabhängig davon ist derzeit die Teilnahme an einer Aufstellungsversammlung in Präsenz für Parteimitglieder und Delegierte nicht durchgängig zumutbar. Eine Prognose, wann die Versammlungen ohne rechtliche und praktische Hindernisse wieder uneingeschränkt möglich sein werden, lässt sich heute nicht treffen.
Um die Aufstellung der Wahlbewerber dennoch in einem ordnungsgemäßen Verfahren sicherstellen zu können, haben wir im letzten Herbst die Möglichkeit geschaffen, dass von den Vorgaben der Aufstellung in Versammlungen abgewichen werden kann. Dies setzt ein dreifach gestuftes Verfahren hier im Bundestag voraus.
Zunächst muss der Deutsche Bundestag gemäß § 52 Absatz 4 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes feststellen, dass die Durchführung solcher Versammlungen ganz oder teilweise unmöglich ist. Das soll heute beschlossen werden. Dann ist das Bundesinnenministerium befugt, die entsprechenden Regelungen zu erlassen. Im Gesetz haben wir dazu den Rahmen vorgegeben. Dabei geht es etwa um die Durchführung von Versammlungen im Wege der elektronischen Kommunikation, die Durchführung von mehreren dezentralen Versammlungen – auch in Kombination mit elektronischer Kommunikation – oder auch um eine dezentrale Urnenwahl. Eine ausschließlich elektronische Wahl ist dabei auch nach den Wahlrechtsgrundsätzen ausgeschlossen.
Die Parteien und deren Gliederungen können also entscheiden, ob sie von den ihnen dadurch eröffneten Möglichkeiten Gebrauch machen. Die Gestaltung des Verfahrens bleibt wie bisher – und wie es auch richtig ist – ganz im Verantwortungsbereich der Parteien, und sie haben da einen entsprechenden Gestaltungsspielraum. Das heißt, wir beschließen mit der Verordnung lediglich eine Erweiterung der Möglichkeiten der Parteien im Vorverfahren, um eine ordnungsgemäße Bundestagswahl am Wahltermin – so wie wir es gewohnt sind – dann auch durchführen zu können.
Bevor die Regelungen in Kraft treten können, muss der Deutsche Bundestag aber noch einmal zustimmen. Auch die Verordnung wird dem Deutschen Bundestag also noch einmal vorgelegt, und sie bedarf der Zustimmung des Parlaments.
Wir werden das dann auch sehr genau prüfen und nicht einfach durchwinken. Das ist auch parlamentarische Demokratie.
Damit die Bundestagswahl 2021 und alle vorbereitenden Verfahrensschritte auch unter den erschwerten Bedingungen in einem ordnungsgemäßen Wahlverfahren stattfinden können, bitten wir daher um Zustimmung zu dem Antrag.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Heveling. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Jochen Haug, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollen hier heute beschließen, dass die Durchführung von Aufstellungsversammlungen für die Bundestagswahl zumindest teilweise unmöglich ist. Da frage ich doch direkt mal zurück: Warum sollten ich und meine Fraktion eine unrichtige Feststellung treffen? – Versammlungen sind möglich, und zwar ohne Gefahr für Leib und Leben. Das dokumentieren wir doch gerade jetzt und hier. Wir führen hier eine Versammlung durch, um zu beschließen, dass Versammlungen nicht möglich sind.
({0})
Offensichtlich fällt Ihnen von der Koalition das Paradoxe Ihres Antrages nicht einmal auf, eines Antrages, den Sie erst gestern quasi überfallartig auf die Tagesordnung gesetzt haben und der, sollte er beschlossen werden, zu einer kompletten Umwälzung des Rechts der Kandidatenaufstellung führen würde.
Warum haben Sie einen derart schwerwiegenden Antrag nicht mit angemessenem Vorlauf eingebracht?
({1})
Das zeigt doch schon Ihr schlechtes Gewissen bei dem, was Sie da versuchen.
Aber nun zum Inhalt Ihres Antrages: Weshalb sollen denn Aufstellungsversammlungen nicht möglich sein? – Da wird es nun spannend.
({2})
– Das höre ich von Ihnen gerne; das ist lustig. – Sie begründen die angebliche Unmöglichkeit vor allem damit, dass in einigen Bundesländern die Coronaverordnungen Aufstellungsversammlungen nicht zuließen. Aha! Erst ordnen Sie einen harten Lockdown an, mit massivsten Einschränkungen für die Bürger – Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Länder und zeigen schon damit, was Ihnen unsere Verfassungsordnung wert ist; denn ein solches Gremium gibt es überhaupt gar nicht –,
({3})
und dann heißt es: Weil wir diesen Lockdown haben, können wir uns nicht versammeln, um Kandidaten für die Bundestagswahl zu wählen. – Das ist grotesk. Sie stellen also auf eine angebliche rechtliche Unmöglichkeit ab, die Sie selbst herbeigeführt haben.
({4})
Entscheidend ist aber, ob es tatsächlich unmöglich ist, Versammlungen abzuhalten, und das ist – das wissen Sie auch; wir beweisen es ja gerade hier – eben nicht der Fall.
Richtig peinlich wird es darüber hinaus,
({5})
wenn die angebliche rechtliche Unmöglichkeit überhaupt nicht vorliegt. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf die Lage in Nordrhein-Westfalen und schreiben dazu – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „In Nordrhein-Westfalen ist die Durchführung von Aufstellungsversammlungen aktuell faktisch ausgeschlossen“. – Dabei beziehen Sie sich auf eine Vorschrift in der Coronaschutzverordnung NRW, die dafür überhaupt nicht einschlägig ist.
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– Nein, ist sie nicht.
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– Wir können nachher über die Norm reden. Sie haben eine falsche Nummer zitiert.
({8})
Tatsächlich finden in Nordrhein-Westfalen laufend Aufstellungsversammlungen statt – in Übereinstimmung mit der dort geltenden Verordnung. Gehen Sie nach Nordrhein-Westfalen! Diese werden ohne Probleme unter Einhaltung der Hygienevorschriften durchgeführt.
({9})
Da gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie sprechen,
({10})
oder Sie wollen uns hinters Licht führen.
({11})
Ihre Begründung gibt also keinesfalls eine tragfähige Grundlage dafür her, die Unmöglichkeit der Durchführung von Versammlungen festzustellen.
Es ist aber nicht nur so, dass die Unmöglichkeit, die der Bundestag hier nach Ihrem Willen feststellen soll, gar nicht vorliegt, Ihrem Anliegen ist auch aus inhaltlichen Gründen vehement zu widersprechen. Sie wollen hier gerade ohne Not ein wichtiges Prinzip der Demokratie preisgeben, das Prinzip der Präsenzversammlung.
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Für die Demokratie ist der Austausch der Argumente und Meinungen unter Anwesenden aber nun mal fundamental wichtig. Es kann und darf hier nicht darum gehen, den Gesundheitsschutz und die Aufrechterhaltung demokratischer Verfahren, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, gegeneinander auszuspielen.
({13})
Es ist auch unter den aktuellen Umständen möglich, Versammlungen in hergebrachter Weise unter Einhaltung angemessener Schutzmaßnahmen durchzuführen, und das wissen Sie auch.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Wir lehnen Ihren Antrag selbstverständlich ab.
({0})
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Haug. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Mahmut Özdemir, und ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, die sich nicht an ihren Plätzen befinden, Masken aufzusetzen. – Das ist jetzt eine Bitte.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kollege Haug hat gerade sehr viel über Unmöglichkeit geredet und dabei völlig vergessen und nicht bemerkt, dass sein Verhalten und sein Gebaren hier völlig unmöglich sind und waren.
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Unsere Demokratie, unser Deutscher Bundestag und unsere Länderparlamente trotzen der Pandemie im Land. Wahlen in den Ländern zu Ländervertretungen und kommunalen Vertretungen werden durch die Parteien gut vorbereitet und von den Verwaltungen auch gut vorbereitet durchgeführt. Dazu tragen nicht zuletzt auch die Wählerinnen und Wähler durch ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Disziplin bei, die sich an Hygienevorschriften, an die AHA-Regel usw. usf. halten und dadurch sicher ihren Wahlakt vollziehen können, ob sie das jetzt körperlich an der Urne oder durch Briefwahl tun. Die Bundestagswahl am 26. September braucht dringend diese gute Vorbereitung, mit Kandidatinnen und Kandidaten, die von den Parteien aufgestellt werden. Sie braucht Sicherheit, sie braucht Rechtssicherheit in den Parteien, aber auch am Wahltag, beim Wahlakt.
({1})
Dieser Antrag heute erweitert Möglichkeiten, im demokratischen Wettbewerb Kandidaten auszusuchen. Zugegeben: Er verändert auch plötzlich, im laufenden Verfahren, einige Geschäftsgrundlagen, indem er zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Aber zur Geschichte gehört auch, dass wir damals vor der Sommerpause – und ich erinnere mich noch sehr gut, dass wir mit dem Kollegen Heveling und einigen weiteren Kollegen darüber debattiert haben, ob wir eine solche Regelung angesichts der ersten Welle und des ersten Lockdowns auch in das Bundeswahlgesetz zumindest als Möglichkeit reinschreiben, damit wir im Fall der Fälle möglichst schnell und gewissenhaft handeln können – auf erheblichen Widerstand gestoßen sind. Erst angesichts der nahenden zweiten Welle im September/Oktober konnten wir diese gesetzliche Änderung bzw. diese Möglichkeit einer Verordnungsermächtigung mit dem Fünfundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes ins Bundeswahlgesetz einfügen. Das ist eine sehr vorausschauende Regel, wie ich finde, die der vollen Kontrolle des Deutschen Bundestages unterliegt. Und wir haben sie damals immer unter dem Arbeitstitel „eine Notverordnung“ geführt, weil wir ein schnelles, ein wirksames, aber immer unter parlamentarischer Hoheit stehendes Verfahren haben wollten.
Die Zeitnot bei der Aufstellung wird größer, die Unruhe und auch die Verunsicherung in den Parteien werden größer. Seit März 2020 dürfen Vertreterinnen und Vertreter gewählt werden, und spätestens seit Juli 2020 – für die geneigten unter uns: da gab es die letzten Wahlkreisneuzuschnitte – gibt es auch die Möglichkeit, die Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen. Dies muss auch spätestens 69 Tage vor dem Wahltermin zum Abschluss gebracht werden, und jeder, der einmal an einem solchen Verfahren beteiligt gewesen ist, weiß, dass man hier auch entsprechende Sicherheitszeitpuffer vorsehen sollte, um eventuelle Fehler, Widersprüche und darauf basierende Wiederholungen einplanen zu können.
Seit Juni 2020 stellen die Parteien also auf – von kreativen Lösungen in Fußballstadien bis hin zu konventionellen Möglichkeiten weiterhin in geschlossenen Räumen, aber immer mit einem Hygienekonzept, teilweise in Räumen, die zehnmal so groß sind, wie es normalerweise, unter normalen Nicht-Coronabedingungen, notwendig gewesen wäre.
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Fakt ist: Mit den von den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten unter dem Dach der Bundeskanzlerin verschärften Beschränkungen haben wir eine teilweise Unmöglichkeit; im ganzen Januar und darüber hinaus können wir den Parteien keine Planungssicherheit geben. Eine Länderauskunft, die durch das Bundesministerium des Innern eingeholt worden ist, zeigt, dass es bis Dezember 2020 in allen Ländern Coronaschutzverordnungen gab – 13 von 16 Bundesländern hatten sehr großzügige Regelungen –, die es ermöglichten, solche Kandidatenaufstellungen auch in geschlossenen Räumen vorzunehmen. Sie wurden – das erkennt man, wenn man sich die Coronaschutzverordnungen anguckt – teilweise im gleichen Atemzug, in denselben Regelungen, genannt wie zum Beispiel Blutspendetermine, die auch immer stattfinden müssen. Das heißt, wenn wir diese Veranstaltungen nicht durchführen, haben wir Blutarmut in unserer Demokratie.
Schrittweise Verschärfungen seit Weihnachten haben diese Situation erheblich verändert. Bis dahin haben wir im Deutschen Bundestag unter den Berichterstattern mit großer Vorsicht gemahnt, dass wir diese Regelung nicht leichtfertig nutzen sollten. Fehlende Räume, teilweise fehlendes Personal und die Sorgen in den Parteien hinsichtlich der Zeitpläne haben uns dazu gebracht, diese Regelung mit dem heute vorliegenden Antrag einzuführen.
Ich betone: Nicht das Bundeswahlgesetz oder Ähnliches wird außer Kraft gesetzt. Wir werden nicht von Wahlgrundsätzen abweichen. Wir werden erst recht nicht die Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung zum Einsatz elektronischer Mittel bei Wahlakten oder zu Wahlgrundsätzen mit Füßen treten. Ganz im Gegenteil: Wir werden sie weiterhin sehr gewissenhaft und sehr sorgfältig beachten. Das Bundeswahlgesetz ist damit der Grundsatz; die Aufstellungsversammlung als Vertreter- oder Vollversammlung ist die Regel. Erleichterungen sind keine Ausnahmen, von denen man Gebrauch machen muss. Die Parteien können von diesen Erleichterungen gerne Gebrauch machen, gerade angesichts der teilweisen Unmöglichkeit, die in den Ländern, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, derzeit bis zum 31. Januar besteht. Ob solche Versammlungen ab dem 1. Februar möglich sein werden, wissen wir nicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Satzungsregeln, die dem entgegenstehen, dadurch überwunden werden können, insbesondere zur Mindestgröße der Versammlung.
Die Möglichkeit der einseitigen bzw. zweiseitigen Kommunikation via elektronischer Einsatzmittel und ein schriftliches Verfahren möchten wir mit dieser Verordnung einführen, aber immer nur bis zu dem Punkt, an dem der Sitzungsleiter sagt: „Gibt es weitere Kandidatinnen oder Kandidaten im Saal?“, „Gibt es weitere Bewerberinnen oder Bewerber?“ und „Ich eröffne den Wahlgang“. Das ist der Punkt, an dem Schluss ist. Dann geht es in den Bereich der Briefwahl oder der Urnenwahl, und das ist entsprechend wieder das konventionelle Verfahren, das nicht angetastet werden darf. Die Schlussabstimmungen unterliegen keinem elektronischen Verfahren. Deshalb warne ich immer davor, von der Digitalisierung von Aufstellungsversammlungen zu sprechen. Wir digitalisieren diese nicht, sondern führen sie in einem rechtssicheren, in einem konventionellen, in einem guten und geübten Verfahren fort.
Das Programm ist hier ganz klar: Der Antrag ist getragen von der Erkenntnis, dass die Bundestagswahlvorbereitung mit Erleichterungen stattfinden muss; denn wenn diese Erkenntnis nicht zutage träte, dann müssten wir befürchten, dass die Bundestagswahlvorbereitung und die Bundestagswahl selber erheblichen Schaden nehmen könnten. Das wollen wir nicht, und das bringen wir damit zum Ausdruck, dass für uns der 26. September der Wahltermin ist, an dem unsere – in Anführungsstrichen – „Macht“, die wir aus dem Votum der Wählerinnen und Wähler ableiten, erneuert werden muss. Das steht hier in keiner Weise zur Debatte. Deshalb müssen wir die entsprechenden Wahlvorbereitungen dringend vornehmen.
In der nächsten Sitzungswoche werden wir dann dementsprechend gemeinsam darüber befinden, ob der vom Bundesministerium des Innern vorgelegte Verordnungsentwurf unseren Vorstellungen entspricht. Bis dahin werden wir sicherlich Präzisierungen parlamentarischer Natur vornehmen.
Ich bitte Sie, im Dienste der Demokratie und auch im Dienste der Kandidatinnen und Kandidaten, die aufgestellt werden wollen und diese Bundestagswahl mit ihren Programmen am 26. September mit uns gemeinsam bestreiten möchten, diesem Antrag zuzustimmen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich freue mich auf die weitere parlamentarische Debatte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir. – Nun rufe ich den Kollegen Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, auf.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab ja in den vergangenen Tagen eine ganz bemerkenswerte Diskussion über die Frage, ob das Thema Corona überhaupt Gegenstand des Bundestagswahlkampfs sein darf. Dazu haben wir Freie Demokraten eine ganz klare Haltung: Natürlich muss im Wahljahr 2021 über die großen Fragen unserer Gesellschaft diskutiert werden. Und dazu gehört auch diese Pandemie. Wir wollen wissen, was beim Impfen schiefläuft. Wir wollen darüber diskutieren, warum unsere Schulen nicht digitalisiert sind. Und wir wollen mit den Wählerinnen und Wählern darüber sprechen,
({0})
wie hoch das Maß an Freiheitseinschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie überhaupt sein darf. Deswegen brauchen wir dieses große demokratische Gespräch eines Bundestagswahlkampfs, und es muss verteidigt werden, auch hier durch den Deutschen Bundestag.
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Meine Damen und Herren, damit es einen solchen Wahlkampf geben kann, braucht es aber überhaupt eine Bundestagswahl. Und damit wir eine Bundestagswahl haben, braucht es die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten sowie von Vertreterinnen und Vertretern für die Vertreterversammlungen. Das, was heute hier beschlossen werden soll, ist nur die Feststellung, dass diese Veranstaltungen, bei denen diese Leute gewählt werden sollen, momentan nicht stattfinden, faktisch nicht stattfinden.
Dazu will ich Ihnen ein Beispiel geben: Der Abgeordnete Wolfgang Kubicki wollte sich ursprünglich am 19. Dezember zum Spitzenkandidaten der FDP Schleswig-Holstein wählen lassen.
({2})
Dann musste die Versammlung wegen der aktuellen Situation in Schleswig-Holstein verschoben werden, also wegen der tatsächlichen Unmöglichkeit,
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obwohl rechtlich solche Aufstellungsversammlungen in Schleswig-Holstein erlaubt sind.
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Das zeigt doch, dass wir diese Feststellung heute treffen müssen. Dies löst aus, dass das Bundesinnenministerium eine Verordnung schreiben kann,
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durch die sich dann unterschiedliche Abweichungsmöglichkeiten für die Parteien ergeben können. Und wir machen uns das nicht leicht. Wir hätten es als Freie Demokraten – das will ich hier ganz ausdrücklich sagen – besser gefunden, wenn das nicht im Wege einer Verordnung erfolgte, sondern direkt ins Gesetz geschrieben worden wäre.
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Denn das Wahlrecht ist die Domäne des Parlaments. Und wenn wir schon eine doppelte Parlamentsbeteiligung machen, dann hätten wir auch gleich ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren machen können. Dann hätte man sich auch dieses seltsame Verfahren gespart, und wir hätten hier den Bundestag darüber abstimmen lassen.
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Sei’s drum: Wir werden uns diese Verordnung genau anschauen, und wir werden ihr am Ende nur zustimmen, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind:
Erstens. Es muss ein Primat der Präsenzveranstaltungen geben. Man will sich ein Bild von den Leuten machen, man will denen auch mal eine Frage stellen, man will zwei, drei Leute miteinander vergleichen, und deswegen muss die rechtliche Möglichkeit für Präsenzveranstaltungen immer erhalten bleiben.
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Zweitens. Die Landesverbände der Parteien müssen selber entscheiden, ob sie diese Ausnahmeregel anwenden oder nicht. Denn es gibt Landesverbände, die die meisten Kandidaten und Vertreter schon aufgestellt haben; die brauchen das gar nicht. Deswegen darf es auch keinen Zwang durch die Hintertür für irgendwelche digitalen Formate geben. Das Primat muss bei Präsenzveranstaltungen liegen, und nur dann werden wir dem zustimmen.
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Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir das hier interfraktionell miteinander diskutieren, dass wir diese Regelung auf den Weg bringen. Ich glaube aber und halte es für sehr gut möglich und übrigens auch für wünschenswert, dass diese Regelung am Ende gar nicht zur Anwendung kommt. Das wäre das Beste, und in diesem Sinne freuen wir uns auf die Debatte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Sie sollten noch mal recherchieren, nach welchen Bedingungen ich bereits gewählt worden bin.
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– Also, ich kann jetzt aus eigener Erfahrung sagen: Nicht alles, was FDP-Abgeordnete sagen, ist zutreffend.
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Als nächster Redner hat der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade den Reden entnehmen können: Das, was hier und heute beschlossen werden soll, ist lediglich die Feststellung, dass die Durchführung von Parteiversammlungen zumindest teilweise aufgrund der Pandemielage wegen Corona unmöglich ist. Ich denke, dieser Feststellung kann man sich nicht verschließen; Die Linke verschließt sich dieser Feststellung auch nicht. Wer sich ihr hier verschließt, der will offensichtlich bewusst Menschenleben gefährden, wie es diese Truppe hier rechts in Kauf nimmt.
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Der Beschluss ermöglicht lediglich den Erlass einer Verordnung, der unseren Parteien ermöglicht, Kandidatinnen und Kandidaten und Vertreterinnen und Vertreter für die Vertreterversammlung zu nominieren. Wir stimmen damit über einen reinen Auslösemechanismus ab; das muss einmal so deutlich gesagt werden. Wir stimmen nicht über die hier bereits andiskutierte konkrete Ausgestaltung des Weges in der Rechtsverordnung ab. Es ist wichtig, hier zu differenzieren. Wir haben als Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker auch die Verpflichtung, auf die zahlreichen ehrenamtlich Tätigen in unseren Parteien und die Parteimitglieder Rücksicht zu nehmen. Diese brauchen Rechtssicherheit, damit sie wissen, wie sie ihre Kandidatinnen und Kandidaten für Wahllisten und Ämter wählen können, ohne sich unnötigen gesundheitlichen Gefahren auszusetzen. Gleichzeitig muss dies rechtssicher geschehen, damit wir nicht am Ende auch über juristische Auseinandersetzungen debattieren müssen.
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Es ist aber auch gut, dass nach dem Gesetz das Innenministerium diese Verordnung nicht allein erlassen kann, sondern dem Parlament vorlegen muss. In diesem sensiblen Bereich ist für uns als Linke die parlamentarische Kontrolle die absolute Nummer eins; denn es ist von großer Wichtigkeit, dass wir als Abgeordnete darauf schauen.
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Es ist aber grundsätzlich falsch, dass überhaupt eine Verordnung erlassen werden kann. Wir hätten uns immer schon gewünscht – das hat der Vorredner angesprochen –, dass das Ganze in Gesetzesform geschieht und eben nicht in Form einer Rechtsverordnung.
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Darum haben wir damals – dazu stehe ich auch – diese Verordnungsermächtigung abgelehnt.
Aber ich will noch einmal zusammenfassen: Wir stimmen als Linke nur für den Auslösemechanismus, damit die Basis auch unserer Partei handlungsfähig bleibt, aber wir werden die noch vorzulegende Rechtsverordnung sehr kritisch auswerten, und wir wünschen uns natürlich auch dort, dass Präsenzveranstaltungen – so es denn möglich ist – den absoluten Vorrang haben. Denn parlamentarische Demokratie und politische Auseinandersetzung vollziehen sich immer in einer persönlichen Auseinandersetzung mit Argumenten.
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Wir werden auch dafür kämpfen, dass diese uns noch vorzulegende Rechtsverordnung keine Blaupause ist, die über den Fall einer Pandemie hinaus ihre Gültigkeit behält. Das sind wir uns als Linke und unserem Verständnis von Demokratie schuldig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Staetmanns. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir alle sind beruhigt, dass wir heute keine Regelung extra für Herrn Kubicki schaffen müssen. Spaß beiseite; denn es geht ja um ein sehr ernstes Anliegen, meine Damen und Herren.
Die Ausgangslage ist, wie sie ist: Union und SPD haben am 9. Oktober 2020 gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen das Wahlgesetz geändert und eine unbestimmte und unklare Regelung zur Wahlvorbereitung unter Coronabedingungen geschaffen. Wir hatten das seinerzeit kritisiert und Sie dringend aufgefordert, es im Bundeswahlgesetz nicht an Bestimmtheit mangeln zu lassen. Dieser Aufforderung und auch unserem Änderungsantrag, den inhaltlichen Vorschlägen, sind Sie seinerzeit nicht nachgekommen, meine Damen und Herren. Das ist bedauerlich, und damit haben wir jetzt die Grundlage, wie wir sie heute haben.
Es ist darüber hinaus ein drängendes Problem und ein Anliegen aller Parteien – auch unserer Partei –, rechtssichere Regelungen zu haben, für alle Parteien die Wahlvorbereitung und Aufstellungsversammlung unter den Bedingungen einer großen Infektionslage und dieser Covid-Pandemie abhalten zu können. Wir wollen nicht das Risiko eingehen – und so geht es vielen in unterschiedlichen Regionen des Landes –, sich zu 600 zu versammeln und damit im Infektionsgeschehen die Gesundheit der teilnehmenden Menschen und auch vieler anderer Menschen so zu gefährden, wie Sie das mit Ihrer Aufstellungsversammlung in Kalkar gemacht haben, meine Damen und Herren,
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Da waren viele Menschen. Jede und jeder von uns hier im Bundestag weiß, was das für sie in den zwei Wochen danach im Hinblick auf Covid-Ansteckung bedeutet hat, meine Damen und Herren. Ich kann verstehen, dass viele abwägen und sagen: Unter diesen schwierigen Bedingungen verschieben wir unsere Präsenzaufstellungsversammlung. Das haben ja viele gemacht, und es gibt auch gerade Überlegungen dazu in vielen Parteien. Oder sie verschieben Landesparteitage; da geht es auch darum, Landeslisten aufzustellen.
Aber ich glaube, das Wichtige ist, dass wir in dieser Situation jetzt diesen Feststellungsbeschluss treffen. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir haben damals vor dem Begriff der Unmöglichkeit gewarnt. Wir haben gesagt: Lassen Sie uns eine andere Formulierung für diese Krisensituation finden, aber nicht den Begriff der Unmöglichkeit. Sie haben leider den Ratschlägen des Innenministeriums Ihre Zustimmung gegeben und sich für diesen Begriff entschieden. Deshalb ist es doch müßig, jetzt rückwärtsgewandt zu sagen: Weil das alles so schlecht war, können wir heute nicht reagieren. – Wir müssen reagieren, und deshalb sieht auch unsere Fraktion die Notwendigkeit, in dieser Situation diesen Feststellungsbeschluss zu treffen.
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Meine Damen und Herren, es ist doch wichtig, dass wir jetzt sagen, –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– klar, diese Feststellung gibt’s. Die Priorität liegt bei der Präsenzveranstaltung, und das müssen wir auch alle unseren Landesverbänden, unseren Kreisverbänden sagen. Das muss vor Ort sozusagen der Grundsatz sein. Aber da, wo es nicht möglich ist, –
Frau Kollegin, bitte.
– auch regional vielleicht nicht möglich ist, ermöglicht man jetzt zusätzlich durch den Feststellungsbeschluss diese Offenheit. Das ist der Beschluss, den wir heute treffen, –
Frau Kollegin Haßelmann, bitte.
– und ich erwarte vom Bundesinnenministerium, dass die Rechtsverordnung dem Deutschen Bundestag dann aber auch rechtssicher und mit Bestimmtheit vorgelegt wird –
Frau Kollegin Haßelmann, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
– und wir nicht wieder so eine katastrophale Ausgangslage haben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Als nächster Redner erhält das Wort der fraktionslose Kollege Mario Mieruch.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zweifellos ist die Coronasituation eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft und auch für die bevorstehenden Wahlen, und sehr, sehr viele unserer Bürger halten sich an die Maßnahmen, meiden Kontakte, meiden Ansammlungen etc.
Gleichwohl muss aber auch an dieser Stelle erwähnt werden, dass alles, was dieses Haus in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen beschließen möchte, nicht nur die hier anwesenden Parteien betrifft, sondern auch einen sehr, sehr großen Anteil an kleinen Parteien, Bündnissen, denen eine besondere Rolle an der demokratischen Partizipation in unserer Gesellschaft zuteilwird. Diese leiden unter den gegebenen Umständen, aufgrund geschlossener Gaststätten oder sonstiger Versammlungsorte, nicht nur beim Finden von Räumlichkeiten, sondern sie haben auch das große Problem, die erforderlichen Unterstützungsunterschriften zu sammeln, was bei den großen Parteien in der Regel nicht problematisch ist.
Wenn Sie heute diese Feststellung machen, aus der später das Innenministerium heraus wesentliche, ganz relevante Schlüsse ziehen soll, wie die Bundestagswahl in diesem Jahr vorbereitet und dann auch durchgeführt werden kann, dann ist es zwingend erforderlich, auch festzuhalten, dass die Unterstützungsunterschriften teilweise auch nicht zu sammeln sind, was unter anderem auch daran liegt, dass Wahlkreise nicht immer mit Landkreisen gleichzusetzen sind und oftmals die einzelnen Kandidaten oder die Unterschriftswilligen dann an der 15-Kilometer-Grenze scheitern können.
Insofern habe ich einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht und bitte, das mit zu berücksichtigen, damit auch die kleinen Parteien und Bündnisse die entsprechende Rechtssicherheit bei der Durchführung ihrer Aufstellungen haben und im September alles fair zugeht.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind, nehme ich einmal an, in der überwiegenden Anzahl dieses Hauses in der Politik, weil uns die direkte Auseinandersetzung so am Herzen liegt, der Austausch von Argumenten, der Politik so lebendig macht, und das ist das, wo wir uns alle am schwierigsten wiederfinden, nicht nur wegen eines Bundestagswahlkampfes, sondern auch in der Frage des Übersetzens von Politik an die Menschen. Deshalb ist es uns ein entscheidendes Anliegen, nicht nur die Bundestagswahl am Tag der Wahl zu organisieren, sondern auch den Weg dahin. Das schaffen wir mit einem Arsenal, einem Sicherheitsnetz. Es geht darum, die Parteien in ihrer Selbstorganisationsfreiheit in die Lage zu versetzen, die Möglichkeiten zu finden – ohne einen satzungsändernden Parteitag durchführen zu müssen –, ein Stück weit flexibler zu sein, darauf zu reagieren. Das geht nicht vom Deutschen Bundestag aus. Wir wollen den Bundesländern, wir wollen den Regionen gar nicht erzählen, wie sie es machen können oder machen müssen; denn dort sitzen die Fachleute; die wissen, an welcher Stelle sie in welcher Form ihre Aufstellungsversammlungen abhalten müssen, die notwendig sind – Auftrag der Verfassung –, um Delegierte zu wählen und tatsächlich Kandidaten für die Bundestagswahl zu nominieren; die wissen am besten, wie man das zu tun hat.
Insofern ist vollkommen klar – das darf ich auch sagen –: Dieser heutige Beschluss lässt wie auch unsere Änderung des Bundeswahlrechts überhaupt keinen Spielraum, sie ist absolut präzise an dieser Stelle. Sie sagt nichts anderes als: Heute befinden wir, als Vorbehalt des Parlaments, dass wegen/aufgrund dieser Pandemie bestimmte Dinge, die notwendig sind im politischen Verfahren, teilweise an bestimmten Orten nicht möglich sind. – Mehr ist es nicht. Damit wird ein Vorgang – erneut vom Parlament, durch Einbeziehung und Wiederdiskussion – in Gang gesetzt, an dessen Ende dann im Wege einer Verordnung darüber befunden wird: Wie schaut die Freiheit denn aus, die wir den Parteien tatsächlich überlassen wollen, damit sie am Ende ortsgenau, regional präzise sagen können, an welcher Stelle von bestimmten satzungsrechtlichen Vorgaben gegebenenfalls Abstand genommen werden muss?
Das ist genau der Unterschied, meine sehr verehrten Damen und Herren. Um es einmal mit Karl Kraus zu sagen: Es gibt leider Gottes Dinge, die sind so falsch, da stimmt noch nicht einmal das Gegenteil. – Wer tatsächlich nicht in der Lage ist, eine faktische Unmöglichkeit von einer rechtlichen Unmöglichkeit zu unterscheiden, hat meines Erachtens tatsächlich auch den Anspruch verwirkt, zu sagen, wie er denn den Parteien im Grunde eigentlich mit einem Rat zur Seite stehen will, wie man mit dieser Situation umgeht.
Deshalb kann ich nur sagen: Wir wollen nicht in der klassischen Trump-Manier mit Fehlbehauptungen wieder einen Hebel finden lassen, bei dem man so tut, als gäbe es diese Pandemie nicht, als gäbe es die Todeszahlen nicht, die Menschen, die darunter leiden. Es geht um Menschenleben, und wir haben auch ein Schutzrecht unseren Mitgliedern in den Parteien, den Bürgern gegenüber. Genau dafür öffnet jetzt das Bundesministerium die Möglichkeit, mit einer Verordnung, die wir erneut als Parlament diskutieren müssen.
Und dann kann ich mir den Vorwurf am Ende wirklich nicht ersparen: Durch dieses Gerede, das Sie hier evozieren, sind wir überhaupt erst in die Lage gekommen, jetzt immer noch mit Inzidenzzahlen kämpfen zu müssen;
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denn es liegt natürlich auch an bestimmen Teilen der Bevölkerung, dass wir an bestimmten Stellen nicht in der Lage sind – vielleicht auch noch wochenlang nicht in der Lage sein werden –, Veranstaltungen, die notwendig sind, durchzuführen. Also, hören Sie auf, Dinge einfach zu negieren, so zu tun, als gäbe es keine Bedrohung! Diese Bedrohung ist faktisch, und wir versuchen, die Menschen, aber auch die Parteien darauf vorzubereiten, dass das funktioniert. Das stellen wir heute fest. Wir glauben, dass der Verordnungsweg ein sehr effektiver, schneller Weg sein kann, über den wir bereits in der nächsten Sitzungswoche beschließen können.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeden Tag werden in Deutschland drei antimuslimische Straftaten angezeigt. Jeden zweiten Tag gibt es einen Angriff auf eine Moschee oder einen muslimischen Repräsentanten.
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Die Straftaten gegen Muslime und Musliminnen werden immer gewalttätiger. Das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linksfraktion. Diese Entwicklung ist alarmierend, und die Dunkelziffer ist laut Experten enorm.
Hinter diesen Zahlen stehen Menschen: zum Beispiel die junge Frau aus Groß-Gerau, die letztes Jahr wegen ihres Kopftuches an einer Bushaltestelle rassistisch angegriffen wurde – und der niemand half –, oder der Wolfsburger Imam, der vor gerade einmal zwei Wochen Morddrohungen erhielt. Und dass sie auch vor Mord nicht zurückschrecken, zeigt der hinterhältige Mord an dem jungen Mann in einem Dönerimbiss in Halle, den der rechte Attentäter nach seinem Angriff auf die Synagoge erschoss.
Hass gegen Muslime ist ein zentrales Motiv der rechten Terroristen. Angestachelt werden sie von den geistigen Brandstiftern der AfD. Wenn Frau Weidel hier von – Zitat – „Kopftuchmädchen“ und – Zitat – „Messermännern“ spricht, schürt sie den Hass gegen Muslime.
Aber antimuslimische Einstellungen werden leider auch von staatlicher Seite gestützt. Immer wieder nähren Polizei und Verfassungsschutz Vorurteile, zuletzt bei den stigmatisierenden Razzien von Dutzenden schwerbewaffneter Polizisten in Berliner Moscheen wegen angeblich falscher Beantragung von Coronahilfen. Hier wurden ganze Gemeinden unter Generalverdacht gestellt, wie mir der in Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft hochgeschätzte Imam der Dar-As-Salam-Moschee, Taha Sabri, bestätigte. Eine befreundete Pastorin sagte mir, sie könne sich nicht vorstellen, dass Dutzende Polizisten wegen des Verdachts auf falsch beantragte Coronahilfen eine Kirche stürmen würden.
Hinzu kommt die Diskriminierung im Alltag. Wer einen türkischen oder arabischen Namen trägt, hat Schwierigkeiten, eine Wohnung oder Arbeit zu finden. Besonders häufig trifft es Frauen, die Kopftuch tragen. Ein Beispiel: Eine bosnische Muslimin wird für ihre Probearbeit in einer Münchner Bäckerei gelobt, dann aber nicht eingestellt, da sie als – Zitat – „kopftuchtragende Türkin“ einen ungebildeten Eindruck hinterlasse.
Wir sagen ganz klar: Niemand darf wegen seiner Religion benachteiligt werden!
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Jede Form der staatlichen Diskriminierung muss beendet werden. Das betrifft anlasslose Polizeikontrollen ebenso wie Diskriminierung in staatlichen Institutionen. Die Linke fordert eine Reform des Antidiskriminierungsrechts. Und: Die Betroffenen brauchen mehr Beratungsstellen, an die sie sich wenden können.
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Muslimische Religionsgemeinschaften sind gegenüber anderen in ihren Rechten und Aufgaben benachteiligt. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, Vereinbarungen zur Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften voranzubringen.
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Das Innenministerium hat nach dem Anschlag von Hanau, bei dem ein rechter Terrorist neun Menschen in zwei Shishabars ermordete, den Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit einberufen. Das begrüßen wir. Um ihn zu stärken, fordert Die Linke, dass seine Handlungsempfehlungen nicht nur der Bundesregierung, sondern auch dem Bundestag vorgelegt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. – Der Bundestag muss genauso wie die Zivilgesellschaft antimuslimischen Rassismus bekämpfen. Dazu braucht es auch eine gemeinsame Positionierung der demokratischen Fraktionen.
({5})
Dies wäre nicht nur ein wichtiges Signal an die Musliminnen und Muslime in diesem Land, sondern auch ein Zeichen der Solidarität gegen jede Form von Rassismus und Ausgrenzung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner ist der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eine Große Anfrage der Linksfraktion, die sie schon vor sehr langer Zeit an die Bundesregierung gestellt hat und die auch schon vor fast einem Jahr beantwortet worden ist. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum viele Entwicklungen zwischenzeitlich noch nicht ganz angekommen sind.
Um es in aller Deutlichkeit ganz zu Anfang zu sagen: Es ist bedauerlich und gleichermaßen bedenklich, dass es in Teilen der deutschen Gesellschaft antimuslimische Ressentiments gibt und dass Diskriminierungen aufgrund der Religion stattfinden; Sie haben es eben beschrieben. Für uns als Union ist völlig klar: Jegliche Diskriminierung und Muslimfeindlichkeit sind zu verurteilen, und sie sind auch aktiv zu bekämpfen. Das ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, das ist die Aufgabe der Wirtschaft, aber vor allen Dingen natürlich zuallererst die Aufgabe der Politik – unsere Aufgabe.
Aber es kann doch niemand behaupten, dass wir uns in dieser Frage wegducken – genau das Gegenteil ist der Fall. Es waren die Innenminister, die schon 2016 beschlossen haben, islamfeindliche Straftaten im Bereich der Hasskriminalität gesondert zu erfassen.
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Es sind Studien über muslimisches Leben in Deutschland in Auftrag gegeben worden. Ich spreche die Antidiskriminierungsgesetzgebung an, aber auch die Beratungs- und Unterstützungsangebote für Opfer antimuslimischer Gewalt. Kurz gefasst: Es wird sehr, sehr viel von der Politik unternommen, um Vorurteile und Diskriminierungen abzubauen und auch um das Verständnis füreinander zu fördern.
Was dabei noch gar nicht berücksichtigt ist, sind die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Bis 2024 wird 1 Milliarde Euro für die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ausgegeben, für Prävention und Unterstützung der Betroffenen.
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Bei diesen 89 Einzelmaßnahmen sind auch viele Maßnahmen dabei, die direkt oder indirekt zum Abbau der Diskriminierung von Muslimen beitragen. Ich nenne nur die Aufstockung bei Modellvorhaben im Rahmen von „Miteinander im Quartier“ oder auch die Forschungsförderung im Bereich der Muslimfeindlichkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen also: Der Kampf gegen Muslimfeindlichkeit ist bei der Koalition in guten Händen und wird sehr ernst genommen, und das ist auch gut so.
({2})
Ich kann Ihnen versichern: Die Bekämpfung aller Formen religiösen oder politischen Extremismus in Deutschland und die Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie sind nirgendwo so gut aufgehoben wie bei der Union; das muss man an dieser Stelle auch einmal ganz klar sagen.
({3})
Wir sind nämlich – da Sie das gerade anmelden – gleich resistent gegen alle Formen des Extremismus in unserem Land, und das unterscheidet uns im Übrigen ganz maßgeblich von Ihnen als Linke, die Sie immer wieder linksextremistische Taten verharmlosen oder mit ganz kruden Erklärungen rechtfertigen, meine Damen und Herren.
({4})
Werfen wir auch einmal einen Blick auf die AfD. Islamfeindlichkeit gehört, genauso wie die generelle Ablehnung von Zuwanderung, zum Standardportfolio der extremen Rechten. Mit Ihrem Einzug in den Bundestag ist hier auch eine Sichtweise aufgekommen, die zwischen Islam einerseits und Islamismus bzw. politischem Islam andererseits nicht unterscheiden will oder kann. Auch diese Haltung weisen wir an dieser Stelle in aller Deutlichkeit zurück.
({5})
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille sind natürlich Entwicklungen in der islamischen Welt, die viel zu lange beschönigt und auch verharmlost worden sind. Das gilt ganz besonders für die politische Linke. Ich spreche hier vom Aufstieg des politischen Islam und seiner Vertreter, die für eine islamische Gesellschafts- und Werteordnung in unserem Land eintreten und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt damit bedrohen.
({6})
Ehrlich gesagt, ganz symptomatisch dafür ist auch der Titel dieser Großen Anfrage, den Sie gewählt haben: „Antimuslimischer Rassismus ... in Deutschland“. Meine Damen und Herren, das ist ein konstruierter Rassismusbegriff, der aus dem postkolonialen Spektrum stammt und quasi Rassismus ohne Rassen kreiert.
({7})
Denselben Begriff führt auch der türkische Präsident Erdogan im Munde, wenn er ganz bewusst immer die Rassismuskeule gegen Deutschland schwingt
({8})
und die Geschichte der hier lebenden türkischstämmigen Menschen als die einer rassistisch diskriminierten Gruppe erzählt, zu deren Beschützer er sich dann regelmäßig aufschwingt.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dem Christentum können Sie traditionell eher wenig abgewinnen, und auch Ihre israelkritische Haltung ist zuweilen nur schwer von Antisemitismus zu unterscheiden. Aber Sie machen manchmal auch, ob bewusst oder unbewusst, gemeinsame Sache mit Herrn Erdogan und anderen autoritären Herrschern.
({10})
Ich finde, Sie sollten das mal überdenken, und Sie sollten sich nicht als williges Werkzeug von Islamisten benutzen lassen,
({11})
deren wiederkehrender Topos immer die – vermeintliche – Islamfeindlichkeit der gesamten deutschen Gesellschaft ist. Ich sage Ihnen: Das gibt es nicht Deutschland. Das ist nicht so, meine Damen und Herren.
({12})
– Lesen Sie mal die eigenen Gastbeiträge der Kollegin Dağdelen, die dazu im Januar im „Spiegel“ einiges geschrieben hat. Sie hat mir da deutlich zugestimmt. Vielleicht sollten Sie das in Ihrer Fraktion erst mal klären, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich aber sagen: Kritik an jeder Religion muss in unserem Land zulässig und möglich sein; denn Religionskritik ist ein zentrales Erbe der Aufklärung, das wir uns als freiheitliche, als offene Gesellschaft auch bewahren müssen. Und wenn totalitäre Ideologien verbreitet werden, dann muss es Widerspruch geben. Das hat im Übrigen nichts mit Islamfeindlichkeit zu tun. Das ist die Verpflichtung eines jeden Demokraten.
Also, wir weisen Muslimfeindlichkeit, Diskriminierung und Vorurteile entschlossen zurück. Aber mit der gleichen Entschlossenheit müssen wir eben auch Fehlentwicklungen entgegentreten, dem politischen Islam die Stirn bieten, und wir dürfen solche Dinge nicht aus falsch verstandener Toleranz ignorieren. Das wäre auch nicht im Sinne der Integration.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Bernd Baumann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke präsentiert heute eine Große Anfrage. Ihr Titel lautet „Antimuslimischer Rassismus“. Schon das ist purer Unsinn. Muslime sind keine Rasse, keine Ethnie, kein Volk. Das ist eine Religion, ein Bekenntnis.
({0})
Meine Damen und Herren, antimuslimischer Rassismus, das ist eine dieser typischen bescheuerten links-grünen Wortverdrehungen, und schlimmer noch: Die Bundesregierung übernimmt diesen linken Kampfbegriff. – Herr de Vries, das müssen Sie sich klarmachen.
({1})
– Es steht in der Anfrage drin.
({2})
Warum machen die Linken das? Sie wollen jede Art von Kritik am Islam unterdrücken und kriminalisieren. In Ihrer Anfrage beschwören Sie auf 151 eng bedruckten Seiten einen angeblichen massenhaften Rassismus. Wer über deutsche Leitkultur nachdenkt – ein Rassist. Wer beobachtet, dass sich Kulturen in ihren Normen und Werten unterscheiden – ein Rassist. Wer sich vor einer Islamisierung seines Stadtteils fürchtet
({3})
und so den Islam als Bedrohung für die eigene Lebensweise wahrnimmt – ein Rassist. So kommt Anklage auf Anklage: überall Nazis, Islamhass, Menschenfeindlichkeit.
({4})
Wäre an solch böswilligen Verleumdungen auch nur annähernd was dran, Millionen Muslime würden doch aus Deutschland fliehen, wenn irgendwas daran stimmen würde. Das Gegenteil ist der Fall:
({5})
Wir sind das Sehnsuchtsland für muslimische Einwanderer aus aller Welt. Millionen kamen zu uns; weitere Millionen wollen zu uns.
({6})
Ihre Große Anfrage ist eine falsche Anklage und eine große Lüge, meine Damen und Herren.
({7})
Sie nehmen auch nicht zur Kenntnis, warum Bürger Ängste haben. Die sehen doch die vielen Mordanschläge radikaler Muslime – Paris, Nizza, Dresden, Wien –, die abgeschnittenen Köpfe.
({8})
Die Bürger leiden auch im Alltag unter hoher Kriminalität von Migranten. Sie fürchten die abgeschotteten Parallel- und Gegengesellschaften bis hin zur Clanherrschaft in ganzen Stadtteilen.
({9})
Überdies weisen wissenschaftliche Studien nach: Zwei Drittel aller Muslime halten ihre islamischen Gesetze, die Scharia, für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Deshalb: Wenn sich heute viele Bürger fürchten, ist das nicht Rassismus, wie uns die Links-Grünen weismachen wollen. Skepsis und Abneigung sind oft logische Folgen Ihrer Politik. Sie alle hier tragen die Schuld für diese verfehlte Politik und die Situation und nicht die Bürger draußen und deren angeblicher Rassismus.
({10})
Und so dokumentiert die heute vorliegende Anfrage keine Islamfeindlichkeit der Deutschen, sondern die tiefsitzende Deutschfeindlichkeit der gesamten politischen Linken bis tief in die CDU hinein, meine Damen und Herren.
({11})
Und nur noch ein Wort zu den Linken: Vor vielen Jahren brachte ein Gelehrter das Grundproblem mit dem Islam aus seiner Sicht so auf den Punkt – wörtlich –:
Der Islam … schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen.
Wissen Sie, wer das war? Das war Ihr Vordenker; das war Karl Marx. Die Linken hatten sich damals noch um die Arbeiterklasse gesorgt; der sollte es mal besser gehen.
Das interessiert heute nicht mehr. Linke Politik will heute nicht mehr deutschen oder europäischen Arbeitern dienen, sondern vorrangig – das sehen wir jetzt wieder – orientalischen und afrikanischen Migranten. Die wahre politische Heimat der Arbeiter ist heute die AfD.
({12})
Vielen Dank, Herr Dr. Baumann. – Nun kommt, von allen erwartet, der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
({0})
– Kollege Strasser, ich werde auf die Redezeit sorgfältig achten.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das nähert sich dem Mobbing an. Aber ich achte drauf.
({0})
Herr Baumann, Sie haben ja gerade bei dem Thema bewiesen, dass Sie nichts verstehen und davon viel und dass Sie der personifizierte Beweis für die Berechtigung der Thematisierung des antimuslimischen Rassismus sind. Insofern war das ein hilfreicher Beitrag.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, jedes Maßnahmenpaket, jede Entscheidung ist daran zu messen, ob es uns endlich gelingt – und das ist bisher nicht der Fall gewesen –, die Frage des antimuslimischen Rassismus – ich benutze diese Begrifflichkeit ganz bewusst, weil es sich darum handelt – emotional und in der Form von Empathie zu begreifen. Das scheint mir nach Hanau und nach dem NSU ausgesprochen wichtig zu sein.
Das bedeutet für die Zukunft, dass wir Fehler klar aussprechen, Versäumnisse benennen, dass wir uns entschuldigen, dass wir ein Zeichen des „Es tut uns leid“, des „Wir entschuldigen uns“ aussenden, dass wir den Rassismus als solchen benennen und – das kann keine einzelne Maßnahme, sondern das wird ein langer Prozess sein – dass wir lernen, zu trauern. Der NSU und auch Hanau haben gezeigt, dass wir dazu nicht imstande sind.
Und wer sich hier im Raum erinnert – Herr Baumann, Sie sollten sich das mal ganz genau ansehen –, dass wir im Fall NSU medial wie politisch eine lange Zeit die Opfer und die Angehörigen zum Täter gemacht haben: Das ist eine zutiefst beschämende Schande, die uns alle hier betrifft und nicht ruhig sein lassen kann.
({2})
Wenn wir von dem Thema sprechen, sind, glaube ich, vier Punkte wichtig. Das Erste: Wir müssen heraus aus einer Kultur der Unterstellung und des Verdachts. Wir sprechen ja hier immer davon, dass wir Sicherheitsbehörden, dass wir Polizisten nicht unter Generalverdacht stellen wollen, zu Recht. Aber Musliminnen und Muslime leben in diesem Land permanent im Rahmen der Islamdebatten unter Generalverdacht.
({3})
Diese Kultur des Generalverdachts und der Unterstellung muss enden. – Das ist das eine.
({4})
Das Zweite: Wir müssen ran an die Frage der Repräsentanz. Es reicht nicht, dass wir Musliminnen und Muslime als Repräsentantinnen und Repräsentanten ihrer Community begreifen, sondern wir müssen auch das Zeichen aussenden, dass sie Repräsentantinnen und Repräsentanten dieses Landes sind – genauso wie Christen und Christinnen, wie Jüdinnen und Juden, sie sind genauso Repräsentanten Deutschlands. – Das ist das Zweite.
Das Dritte ist: Wir müssen raus aus der Barbarei des Verstehens, wie ich es nenne. Wir leben doch in einer humanen Gesellschaft davon, dass wir Dinge nicht verstehen und verstehen wollen und dass wir Dinge nicht gleichmachen sollen, sondern Verschiedenheit akzeptieren. Das macht uns doch aus.
Das Vierte – das scheint mir das Wichtigste zu sein –: Es gibt nicht nur so etwas wie ein Recht, seine Religion zu praktizieren, und ein Recht, sie auch nicht zu praktizieren, sondern auch ein Recht, sich nicht erklären zu müssen, nicht immer als muslimisch identifiziert zu werden, sondern einfach als Individuum anerkannt zu werden. Und dieses Recht haben wir Musliminnen und Muslimen in den letzten Jahrzehnten eben nicht zuteilwerden lassen, und da müssen wir ansetzen.
({5})
Und deshalb wünsche ich mir auch – und das ist vielleicht ein hehrer Wunsch noch für die nächsten Monate dieser Legislatur –, -
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– dass es uns gelingt, in einem großen Angriff für Humanität fraktionsübergreifend dies noch vor Ende der Legislatur gemeinsam zu bekennen. Das würde mich freuen, im Sinne aller Musliminnen und Muslime –
Herr Kollege.
– und als Zeichen des Zurückstellens parteipolitischer Erwägungen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Bevor ich dem Kollegen Strasser das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass die Urnen für die namentliche Abstimmung noch circa zehn Minuten geöffnet sind. Auch diejenigen, die aus Schleswig-Holstein kommen, sollten sich also vielleicht langsam auf den Weg machen, um abzustimmen.
({0})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Strasser, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rassismus ist ein Problem in Deutschland. Tagtäglich werden neben vielen Gruppen auch Muslime, die in Deutschland geboren und aufgewachsen oder zugewandert sind, mit Rassismus konfrontiert. Sie erleben ihn, weil sie ein Kopftuch tragen, einen arabischen Vornamen haben oder weil sie schlicht und einfach Muslime sind.
Zahlen einer Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit aus dem Jahre 2016 belegen das auch: So müssen Kopftuchträgerinnen bei gleicher Qualifikation viermal so viele Bewerbungen schreiben wie Frauen ohne Kopftuch. Jugendliche mit türkischen oder arabischen Namen haben größere Schwierigkeiten, einen Job zu finden, sogar noch viel größere, wenn sie Abitur haben. Bei gleicher Leistung haben Schülerinnen und Schüler mit türkischen Vornamen schlechtere Schulnoten.
Rassismus hat Auswirkungen auf Lebenschancen von Menschen. Er bedeutet, dass die Religion zählt und nicht die Leistung, dass Menschen bestenfalls toleriert, aber keinesfalls akzeptiert werden. Und im schlimmsten Fall tötet Rassismus, wie wir es letztes Jahr in Halle und Hanau erleben mussten. Eine liberale Gesellschaft ohne Rassismus ist deshalb auch das Ziel von uns Freien Demokraten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem Entschließungsantrag sind durchaus Punkte enthalten, denen wir zustimmen können: mehr Präventionsangebote oder eine stärkere Sensibilisierung von Beamtinnen und Beamte für Rassismus. Aber an anderen Stellen Ihres Entschließungsantrags lassen Sie sich auf eine sehr gefährliche Diskussion ein. Sie versuchen, rassistisch motivierten Vorurteilen mit Vorurteilen gegenüber Sicherheitsbehörden zu begegnen. Wenn Sie beispielsweise Razzien gegen die organisierte Clankriminalität, die immer – immer! – im Rahmen eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens durchgeführt werden, allen Ernstes als – Zitat – „anlasslos stigmatisierend“ bezeichnen, dann nehmen Sie Ihrem Antrag nicht nur die Ernsthaftigkeit; Sie delegimitieren auch den Rechtsstaat.
({0})
Der Rechtsstaat urteilt eben ohne Ansehen der Person. Die Herkunft und die Religion allein können niemals ein Grund für eine Verurteilung sein. Sie dürfen aber auch nicht dazu führen, dass der Rechtsstaat bewusst wegschaut. Dieses Prinzip werden wir Freie Demokraten immer verteidigen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Staat allein wird rassistische Einstellungen nicht einfach wegverbieten können. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, und wir werden Rassismus nur mit der Gesellschaft beseitigen können. Deswegen kommt der Zusammenarbeit mit den muslimischen Religionsgemeinschaften in Deutschland bei der Bekämpfung des Rassismus eine zentrale Rolle zu.
Wir sollten uns deshalb intensiver als bisher der Frage stellen, wie wir unser bewährtes Religionsverfassungsrecht so weiterentwickeln, dass eine bessere Repräsentation der Musliminnen und Muslime in Deutschland sichergestellt wird, die bisher keine Stimme haben. Wir brauchen sie bei dieser großen Aufgabe als Partnerinnen und Partner, und wir sind sehr offen, auch hier in die Diskussion, in die Vorschläge zu gehen.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst richte ich einen Dank an die Fraktion Die Linke. Die Große Anfrage ermöglicht uns, umfassend über antimuslimischen Rassismus in diesem Hohen Hause zu debattieren. Umso enttäuschender ist allerdings die sehr träge und doch unambitionierte Antwort der Bundesregierung. Vor allem die notwendigen umfassenden politischen Antworten auf die eindrücklich beschriebene Bedrohungssituation von Musliminnen und Muslimen fehlt, meine Damen und Herren. Herr de Vries, der Kabinettsausschuss wird nicht mit einem Wort erwähnt. Das ist schon bezeichnend für 150 Seiten als Antwort auf eine Große Anfrage, meine Damen und Herren.
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In Deutschland hat es im Jahr 2019 statistisch jeden zweiten Tag islamfeindliche Angriffe auf Moscheen und muslimische Einrichtungen gegeben – jeden zweiten Tag! Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Diskriminierung – laut der Antwort auf die Große Anfrage – erfahren Musliminnen und Muslime in allen Lebensbereichen: im öffentlichen Raum, am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, in Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen und vor allem im Netz. Insbesondere Frauen, so dokumentiert die Antidiskriminierungsstelle, die ein Kopftuch tragen, sind von Mehrfachdiskriminierungen, verbaler und körperlicher Gewalt betroffen, meine Damen und Herren. Das können wir nicht hinnehmen.
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Ministerin Giffey schafft es trotz dieser erschreckenden Zahlen aus dem Bericht der eigenen Antidiskriminierungsstelle nicht, eine dringend notwendige Reform des 15 Jahre alten Antidiskriminierungsgesetzes vorzulegen, meine Damen und Herren. Ein Armutszeugnis, absolut ungenügend! Lassen Sie mich auch sagen: Keine gute Bilanz für eine Kandidatin, die Bürgermeisterin der weltoffenen Stadt Berlin werden möchte.
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Die Bundesregierung hat keinen Überblick über die von Beratungsstellen bearbeiteten Fälle, meine Damen und Herren. Ähnlich geht es den Betroffenen selbst mit Blick auf mögliche Anlaufstellen: 70 Prozent der Betroffenen sagen laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle – so zitiert in der Antwort –, dass sie keine Beratungsangebote für Diskriminierungsvorfälle kennen, meine Damen und Herren. Das ist doch ein katastrophaler Zustand; den gilt es abzustellen.
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Es braucht endlich einen Neustart in der Antidiskriminierungspolitik. Dazu gehören eine Reform des AGG, die Aufwertung der Antidiskriminierungsstelle und eine Kofinanzierung von Beratungsstellen in den Ländern für einen niedrigschwelligen Zugang zum Diskriminierungsschutz. Das sind wir den Betroffenen schuldig, meine Damen und Herren.
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Antimuslimische Vorurteile sind tief verwurzelt in allen gesellschaftlichen Schichten und im Übrigen über alle Parteigrenzen hinweg. Die Muslimfeindlichkeit hat aber eine hohe Bindekraft für rechtsextreme und rechte Parteien. Sie nutzen diese Stimmung in der Bevölkerung, um sich und ihre Politik in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig zu machen. Es ist wirklich fünf vor zwölf. Nehmen Sie die Ängste und Sorgen der Musliminnen und Muslime endlich ernst. Aus persönlichen Berichten weiß ich um die seelischen Verletzungen durch Diffamierung, vor allem im Alltag.
Meine Damen und Herren, Solidarität und Anteilnahme sind das Gebot der Stunde. Es ist an uns allen, tagtäglich gemeinsam gegen jede Form von Rassismus und Menschenfeindlichkeit aufzustehen, damit dem Hass der Nährboden entzogen wird; denn dieser Angriff ist ein Angriff auf uns alle: auf unsere Freiheit, auf unsere Gesellschaften und auf unsere Demokratien. Stellen wir uns dem gemeinsam entgegen, gerne noch in dieser Legislaturperiode mit einem parteiübergreifenden Antrag oder einer Resolution.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Herr Professor Castellucci, Sie müssen noch einen kleinen Moment warten. Wir kommen jetzt noch zu anderen Dingen.
Der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
Bevor ich Herrn Professor Dr. Lars Castellucci das Wort erteile, will ich darauf hinweisen, dass die Zeit für die namentliche Abstimmung gleich vorbei ist. Ich komme deshalb zurück zu Zusatzpunkt 16 und frage in der ersten Runde: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht zu sehen. Ich muss trotzdem noch zwei Minuten oder anderthalb Minuten bis 18.29 Uhr warten.
Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten, Herr Kollege Castellucci:
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Sie fangen Ihre Rede an. – Oh, es kommen noch Leute. – Noch schließen wir nicht, also einen kleinen Moment noch. Herr Castellucci, es ist besser, Sie warten noch die 20 Sekunden
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Und reden dann in einem Stück.
Noch einmal die Frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Es kommt noch jemand; sensationell! Hoffentlich niemand aus Schleswig-Holstein; das würde mich betrüben.
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– Nein, nicht deshalb. Beim letzten Mal waren es Schleswig-Holsteiner, die noch kamen.
Sehr gut. Also, letztmalig der Aufruf: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Ich stelle fest: Das ist nicht der Fall. – Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
So, und nun, Herr Kollege Professor Castellucci, haben Sie als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt 20 das Wort.
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Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Spannung auf meine Rede erhöht haben. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal der antragstellenden Fraktion danken, dass sie uns diese wichtige Debatte ermöglicht, die leider auch notwendig ist, und ich möchte als letzter Redner dieser Debatte sagen, was ich für das eigentliche Thema dieses Abends halte, und das ist: Wie gelingt uns das gute Zusammenleben in Vielfalt in Deutschland?
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Das Erste, was man sehen muss, ist, dass wir ein vielfältiges Land sind, Herr Baumann, ob einem das nun gefällt oder nicht. Wir müssen von gegebenen Tatsachen ausgehen, wenn wir Gutes bewirken wollen. Wir sind ein vielfältiges Land und haben damit nicht nur die Menschen mit Migrationshintergrund angesprochen, die uns vielleicht zuerst einfallen. Das sind übrigens 25 Prozent, also ein Viertel der Menschen in diesem Land. Aber es sind nicht ein Viertel der Menschen hier in diesem Parlament, nicht ein Viertel der Menschen am Kabinettstisch und nicht ein Viertel in unseren Behörden. Das zeigt, dass wir noch viel zu tun haben, um Vielfalt wirklich gut zu gestalten.
Es geht aber nicht nur um Migrationshintergrund, sondern auch darum: Die Menschen haben unterschiedliche sexuelle Orientierung, sie haben unterschiedlichen Glauben, sie haben unterschiedliche Befähigungen. Das alles macht unsere Vielfalt aus. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir gelernt haben – oder die meisten von uns –, uns mehr oder weniger so zu akzeptieren, wie wir eben sind. Das macht uns alle freier. Deswegen sage ich: Diese Vielfalt tut uns gut in Deutschland.
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Aber das geht nicht von selbst, nicht automatisch. Damit uns Vielfalt guttut, dürfen wir nämlich nicht nur die vielen einzelnen Gruppen in diesem Land wahrnehmen, wertschätzen und in ihren Bedürfnissen erkennen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass das Zusammenleben all dieser Gruppen in Vielfalt gelingt. Dazu müssen wir an die Wurzeln für diskriminierendes Verhalten heran. Eine dieser Wurzeln für diskriminierendes Verhalten sehe ich darin, dass Menschen selbst sich zurückgesetzt, nicht ausreichend wahrgenommen, vielleicht nicht vollständig zugehörig fühlen. Deshalb: Die beste Politik gegen Diskriminierung, die beste Antidiskriminierungspolitik ist eine Politik, die sich an alle richtet, die nicht spaltet, Herr Baumann, eine Politik, die niemanden zurücklässt, und auch eine Politik, die Orientierung schafft für die Zukunft, dass die Menschen wissen: Sie haben auch in Zukunft einen Platz in diesem Land.
Mit anderen Worten: Das eigentliche Thema dieser heutigen Debatte, die Herausforderung, die sich uns stellt, ist: der gesellschaftliche Zusammenhalt. An diesem gesellschaftlichen Zusammenhalt müssen und werden wir intensiv weiterarbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Professor Castellucci. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer einmal vor dem Kölner Dom oder auch im Ulmer Münster stand, der wird sich gefragt haben, wie es wohl die Baumeister des Mittelalters vermochten, ohne moderne Technik solche Wunderwerke, so etwas Schönes und Erhabenes zu schaffen. Oft dauerte es bekanntlich viele Jahrzehnte, im Falle des Kölner Doms sogar mehrere Jahrhunderte, bis die Kathedralen des Mittelalters ihre heutige Gestalt erhielten. Ähnlich bewundern wir auch die Naturschönheiten unseres Landes: die Moore, Seen, Berge und Wälder. Einige Eichen im Spessart sind fast so alt wie der Kölner Dom.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt etwas, das ist noch schöner als der Kölner Dom und älter als die ältesten Eichen im Spessart: Das ist unsere gemeinsame deutsche Sprache.
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Wir sollten ihr mehr Aufmerksamkeit schenken, wir sollten sie pflegen und hegen, meine Damen und Herren. Damit meine ich nicht, dass wir unsere Sprache nun konservieren sollten, dass wir sie einfrieren oder gar in ein Museum sperren. Sprachen überleben dann, meine Damen und Herren, wenn sie gesprochen werden. Und natürlich: Ja, sie wandeln sich dabei. Auch das Deutsche hat sich ausgehend vom Althochdeutschen über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis heute gewandelt und wird sich auch weiter wandeln. Aber dieser Wandel, meine Damen und Herren, war stets ein natürlicher. Keine Obrigkeit hat ihn angeordnet, keine Polizei hat ihn überwacht, und das soll auch so bleiben, meine Damen und Herren.
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Gleichwohl gab es immer wieder einmal Versuche, die deutsche Sprache aktiv zu reinigen. Das begann schon im Barock und ging in der Aufklärung so weiter. Fremdwörter sollten zwanghaft durch deutsche ersetzt werden oder gar der Gebrauch bestimmter Wörter ganz vermieden oder sogar verboten werden. Auf die deutsche Sprache selbst hat das alles sich wenig ausgewirkt. Goethe selbst riet zur Gelassenheit. Wörter kommen, einige bleiben, andere gehen wieder.
Aber dieser Tage, meine Damen und Herren, erleben wir etwas anderes: Die Sprachpuristen von heute zielen nicht mehr nur auf einzelne Wörter, die sie zu Unwörtern erklären, sondern sie zielen auf die DNA unserer Sprache selbst, nämlich auf die Grammatik. Ausgerechnet der altehrwürdige Dudenverlag – lange ist es her – hat sich vor einigen Tagen an die Spitze derjenigen gestellt, die das generische Maskulinum abschaffen wollen. „Mieter“ ist jetzt nicht mehr jemand, der etwas gemietet hat, sondern nur noch die männliche Person, die etwas gemietet hat. Ihr zur Seite gestellt ist jetzt eine weibliche Person, die etwas gemietet hat, also eine „Mieterin“.
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Man fragt sich natürlich, wo bei dieser heteronormativen Betrachtungsweise die übrigen biologischen oder sozial konstruierten Geschlechter bleiben. Damit beglückt uns dann womöglich die Dudenredaktion in ihrer nächsten Ausgabe.
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Die Abschaffung des generischen Maskulinums, meine Damen und Herren, betrifft im Online-Duden 12 000 Personen und Berufsgruppen; man war also fleißig. Aber: Die Fachwelt, so lesen wir, ist weniger begeistert. Zum Beispiel die Linguistin Dr. Ewa Trutkowski von der Freien Universität Bozen sagt, dass der Duden – ich zitiere – seine Deutungshoheit über die deutsche Sprache missbrauche, um eine einseitige Sichtweise im Streit um die Geschlechtergerechtigkeit zu propagieren.
Nun könnte man meinen, es handele sich beim Duden um eine einmalige Entgleisung, aber weit gefehlt: Der Wahnsinn hat Methode. Sogar im öffentlichen Rundfunk sind die Nachrichtensprecher neuerdings angehalten, eine vermeintlich gendergerechte Sprache zu verwenden. Mit merkwürdigen gutturalen Lauten und Kunstpausen mitten im Wort soll versucht werden, eine Sprache zu etablieren, die sonst niemand spricht. Man sollte das ernst nehmen, meine Damen und Herren; denn wer es auf die Grammatik einer Sprache abgesehen hat, der will nicht nur die Sprache verändern, sondern der will das Denken verändern, der will einen anderen Menschen schaffen.
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Meine Damen und Herren, das ist autoritär. So etwas gibt es eigentlich nur in Diktaturen. Gegen solche Versuche sollten sich alle demokratischen und freiheitsliebenden Menschen stemmen.
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Eine genau entgegengesetzte, also nicht bevormundende Position hat Martin Luther übrigens eingenommen. Er hat bekanntlich dem Volk aufs Maul geschaut. Er hat nicht in die Grammatik und die Regeln der deutschen Sprache eingegriffen. Deshalb empfehlen wir: Nehmen wir uns Martin Luther zum Vorbild! Rufen wir das Jahr 2021 zum Jahr der deutschen Sprache aus! Pflegen wir sie! Sorgen wir dafür, dass sie auch in der EU gepflegt und gesprochen wird! Jetzt wo Großbritannien ausgetreten ist, wird es ja noch absurder, wenn sich dort alle nur noch im schlechten Englisch unterhalten. Übrigens haben unsere Freunde, die Franzosen, genau den gleichen Vorstoß gemacht.
Kommen Sie zum Schluss, bitte?
Sie werden das Französische in den Mittelpunkt stellen. Wir sollten das mit dem Deutschen genauso machen. Stimmen Sie unseren Anträgen zu!
Ich danke Ihnen.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Frömming. – Ich erteile nun das Wort der Kollegin Melanie Bernstein, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Lektüre Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ist mir wieder einmal das Muster Ihres politischen Handelns aufgefallen. Zunächst einmal geht das ja ganz gut los: Sie loben Luther und seine Verdienste um die moderne deutsche Sprache, schreiben von Diskussionsveranstaltungen und einem Dialog; alles schön und gut. Aber dann liefern Sie ja doch zuverlässig, weil Sie die bürgerliche Maske nicht mal für zwei Seiten aufrechterhalten können. Da ist die Rede von „Deutschtürken“ und deren Smartphone-Nutzungsgewohnheiten. Weil also ein Migrant „ortsanzeigende Präpositionen“ nicht beherrscht, wollen Sie „Festveranstaltungen und Symposien“ durchführen. Von dem Franzosen, der kein „h“ aussprechen kann, und dem Amerikaner, der mit dem „ch“ auch so seine Probleme hat, natürlich kein Wort.
Dann kommt der Rundumschlag auf alles, was der durchschnittliche AfDler so gar nicht leiden kann: der „Hipster“, die Bar, in der die Bedienung Englisch spricht, der Deutschtürke, der Migrant, Fremdsprachen, kulturelle Vielseitigkeit, Weltoffenheit. Was Sie wie immer nicht verstehen, ist, dass diese Erscheinungen nicht von der Bundesregierung verordnet sind. Keiner schreibt vor, welche Sprache in einem Restaurant gesprochen werden muss. Es gibt kein Verbot englischsprachiger Musik. Andersherum zwingt Sie übrigens auch niemand, ein Hipstercafé aufzusuchen. Derzeit gibt es zwar gute Gründe, dass Cafés geschlossen sind, aber die verstehen Sie ja auch nicht.
Ich muss schon sagen: Innerhalb einer Textseite den Bogen von Luthers Bibelübersetzung zu der Art, wie mit türkischem Akzent das Wort „ich“ ausgesprochen wird, zu ziehen, ist eine beachtliche Leistung; das ist ein richtig starkes Stück.
Und da, genau da, liegt der Grund, warum meine Fraktion diesen Antrag ablehnt.
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Ihnen geht es nämlich nicht um die Liebe zur deutschen Sprache. Ihnen geht es um die Ablehnung alles anderen.
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Dabei verstehen Sie nicht, dass hier niemand mit Zwang arbeitet. Wer will denn der Bedienung im Café vorschreiben, wie sie spricht, dem Migranten, wie er mit seinen Freunden schreibt, dem „Hipster“, welche Zeitung er liest? Sie wollen das, wir nicht.
Richard von Weizsäcker hat beim Staatsakt „40 Jahre Grundgesetz“ 1989 gesagt: „Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Haß auf die anderen“.
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Das unterscheidet uns von Ihnen, meine Damen und Herren von der AfD.
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Wir wollen fördern und nicht ausgrenzen. Wir unterstützen das Goethe-Institut, das in fast 100 Ländern unsere Kultur und unsere Sprache vermittelt, allein im Jahr 2020 an über 250 000 Menschen weltweit. Wir unterstützen politische Stiftungen, die auf der ganzen Welt unsere Ideale von Freiheit und Demokratie vertreten, also all das, was Sie gemeinhin „Steuergeldverschwendung“ nennen.
In meinem Wahlkreis setze ich mich seit Langem für den Erhalt der Bibliothek im Kloster Preetz ein. Das sind über 10 500 Bände, die meisten übrigens auf Deutsch, die wir gemeinsam vor dem Verfall retten. Ehrenamtlich gestalte ich das Programm im Kleinen Theater in Wahlstedt, auch auf Deutsch.
So wie ich machen das viele hier von uns. Wir müssen uns also von Ihnen nicht erzählen lassen, wir ließen die deutsche Sprache verkommen. Wir benutzen sie nur nicht, um Zwietracht und Hass in die Gesellschaft zu tragen. Das tun Sie. Und, ehrlich gesagt, noch nicht mal besonders geschickt.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Weltweit kennen wir derzeit circa 200 Sprachfamilien mit insgesamt 6 500 Sprachen. 100 weitere Sprachfamilien sind in der letzten Zeit ausgestorben. Die meisten Sprachen existieren dort, wo Bevölkerungsgruppen weitestgehend isoliert von anderen Menschen leben, so im indopazifischen Raum oder auch in Afrika.
Bei den Ureinwohnern Nordamerikas existierte pro Stamm eine Sprache. Um stammübergreifend kommunizieren zu können, ist eine Zeichensprache entwickelt worden. Dies führte dazu, dass die Ureinwohner der höheren Bildungsschichten oft neben ihrer eigenen Sprache selbst in ihrem eigenen Stamm auch die Zeichensprache angewandt haben.
Zum Glück leben wir nicht mehr isoliert voneinander und damit auch nicht bedroht von den uns umgebenden Stämmen oder Ländern. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges haben wir die Vorteile eines Miteinanders auf Augenhöhe innerhalb Europas kennen- und schätzen gelernt. Unsere gemeinsame Zeichensprache ist das Englische geworden,
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und das ist auch gut so. – Da könnte man eigentlich mal klatschen.
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Nur circa 90 Millionen Menschen sprechen als Muttersprache Deutsch, weitere 80 Millionen als Zweitsprache. Im Vergleich dazu sprechen 370 Millionen Menschen Englisch als Muttersprache und fast 900 Millionen als Zweitsprache, und zwar kultur- und länderübergreifend.
Das Wichtigste in der GASP ist eine europäische Handlungsfähigkeit. Dazu ist zunächst eine gemeinsame, akzeptierte Lingua franca notwendig. Englisch ist die internationale Handelssprache geworden. Daher glauben wir von der FDP, dass eine dritte offizielle Arbeitssprache in der europäischen GASP nicht mehr notwendig ist.
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Das Bewahren und das Fördern, ja das Pflegen der eigenen Sprache hingegen halte ich aber auch für unterstützenswert. Sprachenvielfalt gilt es zu erhalten und nachhaltig zu fördern, keine Frage. Aber die Begründung des Antrages der AfD zum Jahr der deutschen Sprache zeigt uns doch, welch Geistes Kind hier herrscht. Ja, Sprache bleibt nicht stehen; sie entwickelt sich und übernimmt ständig Wörter aus anderen Sprachen. Wie viele Wörter von den französischen Hugenotten sind ins Deutsche übernommen worden, wie viele deutsche Wörter ins Jiddische oder Wörter aus dem Jiddischen ins Deutsche? Sie werfen türkischstämmigen Mitbürgern unter anderem vor, unfähig zu sein, ein „ch“ von einem „sch“ zu unterscheiden. Die überwältigende Mehrheit unserer türkischstämmigen Mitbürgerinnen und ‑bürger spricht ein besseres Hochdeutsch als … – Na gut, das lasse ich jetzt mal, ansonsten kriege ich Ärger mit einigen anderen. – Stellen Sie sich einmal vor, die Engländer würden von uns Deutschen verlangen, das „th“ richtig auszusprechen. Na viel Spaß; da hätten wir hier alle kein Vergnügen mehr.
Übrigens hat Luther aus 20 indogermanischen Sprachen und Dialekten eine neue Sprache entwickelt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Er hat also gerade nicht eine Sprache als privilegiert ausgewählt, sondern eine neue erfunden.
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Ich bin nicht in allen Dingen der Freund von Luther, aber was die Sprache angeht, war er weit fortschrittlicher, als es die AfD heute ist.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ebbing. – Ich bin gespannt, wie die Stenografen das protokollieren, was Sie gerade als Zischlaute von sich gegeben haben.
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Aber die sind ja gut ausgebildet.
Nächster Redner ist der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion.
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Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beiden Anträge, die die AfD vorgelegt hat, sind überflüssig, die Rede war peinlich, und das Prinzip, dem Sie folgen, ist: Jeder blamiert sich so gut, wie er kann. Sie können das gut, verehrte Kollegen von der AfD.
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Denn Sie legen uns hier Anträge vor, die den Überschriften nach ja durchaus berechtigt sein könnten, auch wenn ich, was die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt, die Einschätzung des Kollegen Ebbing teile, dass wir da auf Funktionalität und nicht auf die Frage der Sprachenvielfalt schauen müssen.
Aber Sie legen einen Antrag vor, der datiert ist auf den 24. Januar 2020 – ich habe mich nicht versprochen: 2020 –, und begehren die Vorlage eines Berichtes zum 31. Juli 2020. Aus welcher Mottenkiste haben Sie diesen Antrag denn eigentlich gezogen? Und wenn Sie noch nicht einmal in der Lage sind, das Datum zu korrigieren, dann kann es mit dem Anliegen tatsächlich nicht besonders weit her sein, werte Kollegen von der AfD.
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Bei dem zweiten Antrag ging es mir, ehrlich gesagt, wie Melanie Bernstein. Ich habe ihn gelesen und habe gedacht: Vielleicht geht es der AfD tatsächlich mal darum, einen konstruktiven Beitrag zur Förderung der deutschen Sprache zu leisten.
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– Habe ich nicht wirklich geglaubt.
Ich habe dann weitergelesen; dann war die Sache auch klar. Denn so macht man das natürlich nicht. Ganz im Gegenteil: Wie man die deutsche Sprache fördert, beweist dieser Bundestag in unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen und Zusammensetzungen seit Jahren und Jahrzehnten. Denn es wird gemacht.
Im Inland wird es gemacht. Die dafür zuständige Staatsministerin Monika Grütters ist hier und folgt der Debatte. Aber es gibt ein zweites Ministerium, das ganz intensiv die Förderung der deutschen Sprache betreibt; meine Vorrednerin, Kollegin Bernstein, hat darauf abgestellt.
Wir haben das Goethe-Institut in fast 100 Ländern. Wir haben den DAAD. Wir haben die politischen Stiftungen. Wir haben Auslandsschulen.
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Wir haben das PASCH-Schulnetzwerk. Wir haben fast 1 Milliarde Euro für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, zu einem erheblichen Teil auch zur Förderung der deutschen Sprache.
All das tun wir, und es ist gut. Die AfD ist nicht notwendig, damit die Förderung der deutschen Sprache stattfindet.
Und: Wir sind uns der Bedeutung der deutschen Sprache als Kultur- und Wissenschaftssprache selbstverständlich bewusst. Das, glaube ich, gilt für alle Fraktionen hier in diesem Haus.
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Wir machen das aber ohne Überheblichkeit, und wir machen das ohne Ausgrenzen von anderen. Das ist am Ende des Tages wahrscheinlich der Unterschied.
Aber selbst wenn man das Bedürfnis hat, die deutsche Sprache durch ein Jahr der deutschen Sprache in besonderer Weise zu würdigen – worüber man ja an sich und für sich genommen diskutieren kann –, kann man es eben nicht so machen. Denn ein Jahr, das bereits begonnen hat, ohne vernünftige konzeptionelle Unterfütterung zum Anlass zu nehmen, funktioniert nicht.
Als Beispiel, wie man das macht, sei auf das Müntzer-Jahr verwiesen. Die Koalition hat in den Haushaltsberatungen finanziell Vorsorge getroffen für das Jubiläum des 500. Todestages von Müntzer. Ich weiß nicht, ob Ihnen das im Rahmen der Haushaltsberatungen entgangen ist. Dieser Todestag ist 2025. Das ist vorausschauende und vorsorgende Politik, damit man konzeptionell auch das aufstellen kann, was nötig ist.
Aus den genannten Gründen wird es Sie wenig überraschen, dass die SPD-Fraktion diesen beiden Anträgen aus vollster Überzeugung nicht zustimmt. Die Förderung der deutschen Sprache gibt es seit Jahren und Jahrzehnten durch diesen Deutschen Bundestag, und es wird sie noch geben, wenn die AfD längst Geschichte ist.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Rabanus. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gehört: Mit zwei Anträgen will die AfD die deutsche Sprache retten. Ich will mich mit dem Antrag beschäftigen, der fordert, dass 2021 zum Jahr der deutschen Sprache erklärt wird.
Gefordert werden Symposien und Festveranstaltung. Gefordert wird – ich zitiere aus dem Antrag –, „im Rahmen dieses Programms mit Bürgern und Wissenschaftlern in einen Dialog über Gegenwart und Zukunft der deutschen Sprache einzutreten“.
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Bürger und Wissenschaftler – angedacht sind offenbar reine Männerrunden.
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Anlass soll der Beginn der Bibelübersetzung durch Martin Luther vor 500 Jahren sein. Ist Ihnen irgendwie recht plötzlich eingefallen. Denn um das, was Sie fordern, noch in diesem Jahr zu realisieren, hätte es natürlich Vorlauf gebraucht – wenn es denn ernst gemeint gewesen wäre. Ist es aber nicht; wissen wir. Ihnen geht es nicht um Sprache und Kultur.
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Ihnen geht es um Deutschtümelei.
Worte werden zu Taten – das zeigte sich beim Angriff auf die Synagoge in Halle genauso wie bei den rassistischen Morden in Hanau. Das zeigte sich auf den Stufen des Bundestages im August genauso wie auf den Stufen des Kapitols vor wenigen Tagen. Worte werden zu Taten.
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– Ihre Worte werden zu Taten, und da ist es ganz egal, in welcher Sprache man spricht; entscheidend ist, welche Worte man wählt.
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Victor Klemperer belegte dies eindrücklich in seinem Standardwerk „LTI“, seiner Analyse der, wie er es nennt, Sprache des Dritten Reiches; dort bedienen Sie sich. Victor Klemperer kommt darin zu dem Schluss, dass Menschen weniger durch einzelne Reden beeinflusst werden als durch die ständige stereotype Wiederholung der immer gleichen völkischen Begriffe, und genau das tun Sie.
Das zeigt sich auch, wenn man sich anschaut, welche Begriffe in den letzten Jahren zum Unwort des Jahres gekürt wurden – alles Begriffe, die in Ihrem Vokabular einen Stammplatz haben. Von „Klimahysterie“ bis „Coronadiktatur“, von „Lügenpresse“ bis „Volksverräter“: Sie nutzen Sprache, um zu diffamieren und zu beleidigen. Sie nutzen Sprache für Fake News und Verleumdungen. Sprache ist Ihnen Transportmittel für Hass und Hetze. Ihre Worte werden zu Taten.
Aber zurück zum Antrag und seiner Begründung. Die Gefahr für die deutsche Sprache geht laut AfD – wir hörten es schon – von Hipstern aus, die ihren Kaffee auf Englisch bestellen – that’s a big problem; really –, von Türken, die mit Akzent sprechen – ick weeß ooch nich; Berliner dürfen aber noch berlinern, immerhin –, und – wen wundert’s ? – von geschlechtergerechter Sprache. Geschlechtergerechte Sprache zu nutzen, ist aber nichts anderes als eine Frage von Respekt und Anstand.
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Damit kennen Sie sich nicht aus; das wissen wir auch.
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Um mit einem Zitat von George Eliot zu enden: „Es gibt niemanden, der sich einer Frau gegenüber arroganter, aggressiver oder verächtlicher verhält als ein Mann, der um seine Männlichkeit bangt.“
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Barrientos. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wen wundert’s: Die AfD verkündet wieder einmal den Niedergang der deutschen Sprache.
Das Beispiel: „ich“ oder „isch“. Das komplementär distribuierte Allophon „ch“ im Wort „ich“ steht ganz oben auf der Liste der bedrohten Elemente der deutschen Sprache. Im Gegensatz dazu sei das breit angewandte „sch“, also das „isch“, eine schwere Bedrohung, und diese Bedrohung – Sie ahnen es natürlich schon – geht von den Migranten und Deutschtürken aus, die eben angeblich alle lieber „isch“ statt „ich“ sagen.
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Nun, ich sage Ihnen: Ohne das „isch“ wäre unsere wunderbare gesprochene deutsche Sprache so arm wie Ihre Vorstellungskraft.
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Nehmen Sie bloß mal Hape Kerkeling und seinen Horst Schlämmer und seinen gerade für uns alle immer aktuellen Evergreen „Isch kandidiere!“.
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Hören Sie sich aufmerksam die Bläck Fööss oder die Höhner an. Das ist deutsches Kulturgut. Und wenn Ihnen die Bläck Fööss oder die Höhner zu hip sind, dann versuchen Sie es mit Willy Millowitsch oder Heinz Schenk. Da werden Sie viele „ischs“ finden.
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Und hatten Sie nicht gerade noch Luther zitiert, der bekanntlich dem Volk aufs Maul schaute? Ich sage Ihnen aus vollem Herzen und als Niederbayer: Es lebe das „isch“!
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Und wir werden es mit Verve gegen Ihre Versuche, es auszumerzen, verteidigen.
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Und noch einen Schönheitsmakel machen Sie aus: die gendergerechte Sprache. Da hätte ich tatsächlich einen Kompromissvorschlag: Lassen Sie uns das generische Femininum verwenden – 2 000 Jahre. Dann könnten wir Männer uns immer hübsch mitgedacht fühlen.
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Im zweiten Antrag entdecken die Urheberinnen der Unwörter der letzten Jahre, die Advokatinnen der nationalen Einfalt, die Antieuropäerinnen von rechts außen, da entdecken sie dann anscheinend urplötzlich die Vorzüge der europäischen Vielfalt, wenigstens der Sprachenvielfalt. Und die sieht so aus: dass mehr Deutsch gesprochen werden soll, am besten von allen.
Andererseits wollen die Kolleginnen hier im toten rechten Winkel die deutsche Sprache zu ihrer Rettung paradoxerweise verzwergen. „Klein, aber mein“ ist die Devise.
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Seit 2017 fordern sie nämlich ununterbrochen, der Bundestag solle der Deutschen Welle signifikant Gelder streichen, also ausgerechnet der Institution, die die deutsche Sprache in die Welt trägt.
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Was Sie hier aufführen, ist, freundlich gesagt, verschwurbelt. Einzig und allein Ihr tumber nationalistischer Subtext ist allgegenwärtig und sonnenklar.
Tatsache ist: Deutsch ist eine gefragte Sprache in der Welt, in der Kunst, der Wissenschaft, im Journalismus, in der Politik. 2020 lernten weltweit mehr als 15,4 Millionen Menschen Deutsch. Tatsache ist auch, dass in Wissenschaftsbereichen, etwa der Bildungsforschung, die Zahlen der deutschsprachigen Publikationen konstant sind. Der Anstieg englischsprachiger Publikationen deutscher Autorinnen und Autoren scheint das Resultat des erfolgreichen Bemühens zu sein, in internationalen Zeitschriften zu publizieren, so der Monitoring-Bericht des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung.
Kollege Grundl.
Mit anderen Worten: Junge deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen da an, wo sie hinwollen: in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft – und das ist eine gute Botschaft.
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Dass Sie diese Botschaft nicht hören wollen, ist mir klar.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Bei Ihrer Bagage isch einfach Hopfen und Malz verloren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Grundl. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Groden-Kranich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antragstellerin fordert die Bundesregierung in ihrem Antrag unter Tagesordnungspunkt 21 b auf – ich zitiere sinngemäß –, Deutsch zur gleichberechtigten offiziellen Amtssprache zu erheben, wie es etwa auch in der Kommission der Fall ist. Gemäß Artikel 342 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gibt es in der EU 24 gleichberechtigte Amtssprachen und Arbeitssprachen der EU-Organe. Also fällt Ihr Antrag unter die Kategorie „ein Antrag, den die Welt nicht braucht“.
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Jeglicher Schriftverkehr, der von einem Mitgliedstaat oder einem Bürger an ein EU-Organ gerichtet wird, muss auch in dieser Sprache beantwortet werden. Für Sitzungen der EU-Organe wird überwiegend ein Dreisprachenregime angewendet, also Englisch, Französisch und Deutsch. Dieses Regime ist rechtlich bindend. Deutsch genießt als eine der drei Verfahrenssprachen bereits eine Sonderstellung. Auch das Intranet im Parlament ist dreisprachig. All dies gilt laut Erläuterung Nummer 30 zum Maastrichter Vertrag auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, GASP.
Dass es Ihnen gar nicht um gerechtere Sprachregime innerhalb der EU geht, sieht man auch an Ihrer Antragsbegründung; denn hier heißt es wörtlich:
Im Hinblick auf die erwünschte verstärkte Arbeitsmigration innerhalb der EU wäre diese Sprachpolitik sinnvoll.
Gemeint ist das Erlernen von Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache. Aber mal ehrlich: Was hat das denn mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu tun? Vor einem Monat klang dies noch ganz anders. Damals schrieben Sie in einem Antrag, die Personenfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit sollten einer Zustimmungspflicht der Mitgliedstaaten unterworfen werden.
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Nun frage ich mich: Was wollen Sie eigentlich? Wieso sollen möglichst viele Europäer Deutsch lernen, die dann möglichst doch nicht zu uns kommen sollen? Hier zeigt sich wieder der wahre Kern Ihres Anliegens: Sie möchten weniger Europa
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und das bisschen Europa, das dann noch übrig bliebe, möglichst deutsch.
Die deutsche Bundesregierung und auch der Deutsche Bundestag finden es schon seit Jahren richtig, dass Deutsch als Sprache, als Fremdsprache, als Kulturgut und auch als Sprache in der Politik gefördert wird. Dies ist eine Selbstverständlichkeit. Tatsächlich wünschen wir uns, dass die Sprache Deutsch, auch wenn sie bereits eine Amts- und Arbeitssprache innerhalb der EU-Organe darstellt, auch zu einer Sprache des Alltags wird. Doch sind wir einmal ehrlich: Englisch ist in Europa zur Lingua franca geworden und im Berufsalltag der europäischen Organe oftmals kleinster gemeinsamer Nenner. Aber es gibt auch andere Beispiele, wie wir es in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung erleben, wo parallel Deutsch und Französisch gesprochen wird. Bezogen auf die GASP ist es aber noch eindeutiger. Die enge Bindung mit der NATO, der North Atlantic Treaty Organization, erklärt doch schon, weshalb die englische Sprache gerade auf diesem Themengebiet eine sehr wichtige Stellung hat. Dass Sie also ausgerechnet die GASP für diesen Antrag vorschlagen!
Zur Förderung des Kulturguts deutscher Sprache im In- und Ausland gibt es im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt zwei Staatsministerinnen und im Bundestag gar einen eigenen Ausschuss, den Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Daran nehmen Sie nur sehr selten teil. Die zugehörigen Mittlerorganisationen sehen es als eine ihrer Kernaufgaben, die deutsche Sprache in vielerlei Hinsicht zu fördern. Dass dies schon seit Jahren erfolgreich geschieht, bekamen Sie auch in mehreren Antworten auf Ihre Anfragen mitgeteilt. Sie sollten also hinlänglich informiert sein.
Lassen Sie mich abschließend noch eines feststellen: Sie reden über Sprache, wir reden über Inhalte. Sie sprechen von Sprachenvielfalt, meinen aber Deutsch. Sie sprechen von der Emanzipation der europäischen Volkssprachen vom Latein und meinen Deutsch. Tatsächlich ist Deutsch schon privilegiert gegenüber Spanisch und Italienisch, die den gleichen Anspruch haben könnten. Aber wie sagen Sie es in Ihrem Antrag selbst? Ich zitiere: „Aus sprachlicher Ausdrucksfähigkeit erwächst Kreativität.“ Auf diese Form von Kreativität, die bei Ihnen, übersetzt von Deutsch in AfD-Deutsch, oftmals in Falschnachrichten, kurz: Lügen, mündet, können wir gut und gerne verzichten. Den Hinweis zur Aufklärung und zum technischen Fortschritt verstehen wir als Appell an Sie selbst. Wir lehnen den Antrag deshalb ab.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Wir kommen zum letzten Redner: Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin; ein Märchen aus fernen Zeiten, das geht mir nicht aus dem Sinn.
AfD, oh weh, oh weh.
Euer Deutsch ist tot und dunkelt, und finster trübt der Hass; das Deutsch der Rapper indes funkelt und macht Euch alle nass.
AfD, oh weh, oh weh.
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Die Lasker-Schüler, ja, sie sitzet mit ihren Versen tief im Herz; west-östlich Goethes Divan blitzet, das Völkische schreit auf vor Schmerz.
AfD, oh weh, oh weh.
Deutsche, kauft deutsche Zitronen, so schrillt sie, eure Melodei; das Hirn vorm Denken zu verschonen, da seid ihr stets ganz vorn dabei.
AfD, oh weh, oh weh.
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Der ach so vielgestalt’gen Wahrheit tut täglich ihr gar weh; ihr scheut der grauen Töne Arbeit, kennt Asche nur und Schnee.
AfD, oh weh, oh weh.
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Ich glaube, die Wogen des Hasses verschlingen am Ende nur den eig’nen Wahn; das hat mit ihrer Sirenen Singen die AfD, ihr selbst, getan.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist erlaubt, hier auch in Versform vorzutragen. – Ich beende die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klarer Kurs ist wichtig in der Krise. Ich habe das selbst erlebt, bei der Lufthansa nach dem Terrorattentat 9/11 und bei der Telekom im Zusammenhang mit der Schweinegrippe.
Doch unseren Schulen fehlt in dieser Jahrhundertkrise der klare Kurs. Sie erleben Chaos, Föderalismus von seiner schlechten Seite, Gemeinschaftskundeunterricht der schlechten Art. Fällt der Präsenzunterricht aus, dann leiden Schülerinnen und Schüler am meisten. Es ist schändlich, welchen Schaden sie derzeit nehmen müssen, allen voran die, die zu jung sind für Distanzunterricht, und die finanziell Schwachen. Die soziale Kluft wächst, das Miteinander kommt ins Stocken. Auch die Eltern leiden, die Mütter, Alleinerziehende. Homeoffice, Homecare, Homeschooling, alles drei ist parallel kaum zu steuern. Den Familien müssen wir danken. Auf ihren Schultern ruht sehr viel gesellschaftlicher Zusammenhalt. Von ihnen muss die Regierung Schaden abwenden.
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Das gilt genauso für die Lehrkräfte. Mehr als 500 liegen derzeit im Krankenhaus. Und unter den Erzieherinnen gibt es 2,2-mal mehr positive Coronadiagnosen als im Schnitt. Wer hat versäumt, sie zu schützen? Wer hat versäumt, ihnen das richtige Handwerkszeug zu geben für einen Digitalunterricht, der diesen Namen verdient?
Es fällt uns jetzt bitter auf die Füße, dass die Verantwortlichen von Beginn an nur auf Durchwurschteln gesetzt haben. Gesundheitsschutz steht an erster Stelle, und dann kommt die Unterrichtspflicht des Staates.
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Dieses Land braucht einen Pandemieplan für Schulen, bundesweit einheitliche, verbindliche Inzidenzindikatoren für Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht, damit für alle nachvollziehbar ist, wann Schulen schließen und wann es verantwortbar ist, sie wieder zu öffnen. Staatliche Plattformen, die IT, die Server brechen zusammen. Digitaler Distanzunterricht, eigentlich nur eine Ultima Ratio, ist derzeit leider Standard und ein Fiasko. Und die Ministerin verweigert sich dem Gespräch mit privaten EduTechs, obwohl diese praxiserprobte, seriöse Lösungen parat haben, obwohl diese EduTechs ihr schon im April 2020 einen offenen Brief geschrieben haben. – Runter vom hohen Ross, ran an den runden Tisch, Frau Karliczek!
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Bund und Länder müssen jetzt sicherstellen, dass der Jahrgang 2021 nicht mit dem Stigma „Notabschluss“ leben muss, auch wenn die Linken das geradezu herbeibeten. Pläne für digitale Prüfungen, zumindest für mündliche, sind überfällig.
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Gerade all diejenigen, die in normalen Zeiten so gern den Nannystaat bauen, sollten jetzt zeigen, dass ein starker Staat in der Krise Herr und Frau der Lage ist.
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Setzen Sie die unerträgliche Beantragungsbürokratie beim DigitalPakt aus. Die Gelder müssen fließen: für Onlinelizenzen, IT-Koordinatoren, Luftreiniger, Endgeräte, FFP2-Masken. Die Schule brennt, aber statt zum Löscheimer zu greifen, verteilt das BMBF Kreide. Ran an den Speck, Frau Karliczek! Kopf aus dem Sand! Packen Sie es endlich an!
Recht herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Und täglich grüßt das Murmeltier“! Das ist an dieser Stelle aber ein bisschen verfehlt, lieber Herr Sattelberger. Wenn ich höre, dass die FDP hier so laut nach dem Staat schreit, dann hat das schon eine besondere Bedeutung. Das macht mich nicht nur nachdenklich, sondern auch stutzig.
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Ich komme zu dem, was Die Linke in ihrem Antrag geschrieben hat. Beinahe wöchentlich debattieren wir hier im Plenum – in den Sitzungswochen, selbstverständlich – über die Coronastrategie für Schulen und Kitas.
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Das ist nun wirklich nichts Neues. Offen, geschlossen, teiloffen – alle Arten von Empfehlungen finden sich auch in dem heute vorliegenden Antrag wieder. Daneben ist eine Vielzahl von Vorschlägen vorhanden, wie die Viruslast gesenkt werden kann, wie die Eltern besser eingebunden werden können oder die Ausstattung verbessert werden kann. All das liegt auf dem Tisch.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, davon gibt es schon sehr viel. Ich halte nichts davon, hier wiederholt eine kritische Überprüfung durchzuführen. Ich erinnere an unsere Debatte vor Weihnachten um Luftfilteranlagen. Die Studien, die dazu vorlagen, rechtfertigen aus Sicht des Bundes nun wirklich keine Millionen- und Milliardenausgaben. Ich will damit nicht völlig in Abrede stellen, dass sie nicht notwendig sind; aber es gehört nicht auf unseren Tisch.
Diese Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachte ich nur als schmückendes Beiwerk. Der Antrag der Linken benennt doch seinen wahren Kern in einem Satz. Ich zitiere ihn:
Die Pandemie nimmt keine Rücksicht auf bürokratische und föderale Sonderwünsche oder Kompetenzstreitigkeiten.
Ich übersetze das so: Die Linke fordert, der Bund solle die volle Verantwortung für die Coronastrategie an Schulen übernehmen. – Das ist ja wohl verfehlt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es kann doch nicht Ihr Ernst sein, so etwas hier zum Ausdruck zu bringen, und dann auch noch in Schriftform. Die Verantwortung geht in unserem Land von unten nach oben: Die Pflicht der Kommunen, der Gemeinden, der Landkreise geht über in die Verantwortung der Länder, nämlich der Schulämter und der Ministerien. Auch das ist hier wiederholt nicht nur diskutiert, sondern auch sehr deutlich gemacht worden. Ganz bewusst mischt sich der Bund in diese Angelegenheiten nicht ein oder, wie ich heute sagen muss, begrenzt; denn immer wieder wurde gefordert, der Bund möge sich mit finanziellen Mitteln einbringen, und das haben wir, denke ich, in großem Umfang getan; ich will hier nicht alle Zahlen wiederholen.
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Die Folge wäre nicht, wie von Ihnen so schön dargestellt, eine transparente Schließung und Öffnung der Schulen oder der vielleicht reibungslose Betrieb von Lernplattformen und Cloudsystemen. Das Ergebnis wäre ganz einfach ein ausufernder Streit um Kompetenzen und Zuständigkeiten, von der Kommune bis auf die Bundesebene. Ich denke, wir alle wissen, wie die Praxis aussieht. Das wollen wir nun wirklich keinem zumuten.
Seit der letzten Föderalismusreform wird auf dem Bund in Sachen Bildung nur herumgehackt, weil er sich nicht einmischen soll oder weil er gefälligst sein Geld für die versäumten Aufgaben der Länder hergeben soll. Es ist schon schwierig, einen solchen Spagat zu machen, auch für diejenigen unter uns, die sehr sportlich sind.
Der jüngste Anlass zur Kritik steht auch im Antrag der Linken, der Stufenplan des RKI. Der Bund hat der KMK angeboten, mit dem Wissen des RKI und der nationalen Bildungsinstitute eine länderübergreifende Strategie zu entwickeln. Auch das ist schon zur Sprache gekommen. Das Ergebnis: Die Bildungsminister verbitten sich das Einmischen des Bundes. – Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Tatsachen. Und jetzt sollen wir die Kompetenzen der Länder einfach mal übergehen, und das, obwohl doch pausenlos klargestellt wird, dass wir uns raushalten sollen.
In dieser Situation hat der Bund das einzig Vernünftige gemacht – ich sage das hier noch mal – und auf eine Drei-Säulen-Strategie gesetzt: klare Kommunikation nach außen, Nutzung aller eigenen Kompetenzen zur Bewältigung der Pandemie, Gesprächsbereitschaft bei der Erhöhung von Fördergeldern. Das will wohl keiner von Ihnen in Abrede stellen. Bei uns wussten Schüler, Lehrer und Eltern immer, woran sie sind. Wir haben von Anfang an klargemacht, dass wir den sozialen Ort Schule erhalten wollen. Wir haben klargestellt, welche Regeln und Techniken zur Eindämmung der Infektion für uns Vorrang haben und welche nicht. Und wir haben von Bundesseite drei Zusatzvereinbarungen zum DigitalPakt in wenigen Monaten von der Idee über die Finanzierung bis zur Umsetzung gebracht. Auch das darf man an dieser Stelle wiederholen. Das verstehe ich unter der in Ihrem Antrag geforderten Planungssicherheit.
Unsere Strategie bleibt auch in Zukunft klar: Die Kommunen und die Länder sollen vor Ort im Benehmen mit den Elternvertretern und den Lehrerverbänden entscheiden, ob die Schulen geöffnet oder geschlossen werden. Wir alle haben hier erklärt – auch ich –, dass wir alles daransetzen werden, die Schulen offen zu halten. Aber das, was wir entscheiden, muss Sinn machen und verantwortbar sein. Das gehört nun einmal in die Hände, die vor Ort sind. Die Länder sollen weiterhin den Distanzunterricht organisieren und administrieren. Die Länder sollen feststellen, für wen der Distanzunterricht gilt und wer eine Ausnahme bekommt. Somit wissen alle Beteiligten, woran sie sind. Damit kommen wir, denke ich, gut zurecht und hoffentlich auch durch diese Krise. Aus diesem Grund lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Dr. Götz Frömming.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon zum zweiten Mal sind unsere Schulen in den Lockdown gegangen. Beim ersten Mal, im letzten Jahr – das war kurz vor Ostern – hat unsere Fraktion sogar zugestimmt. Wir waren sogar die Ersten, die gesagt haben: Lasst uns etwas früher in die Osterferien gehen
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oder – je nach Bundesland – die Osterferien um eine Woche verlängern. – Damals wussten wir noch nicht, was an den Schulen wirklich los ist, wie stark Kinder das Virus übertragen oder auch nicht. Wir haben damals gedacht, es handelt sich um eine Schulschließung, die vielleicht wenige Wochen dauert. Aber es wurden mehrere Monate. Es kamen die Sommerferien. In diesen Monaten, auch in den Sommerferien, wurde die Zeit überhaupt nicht genutzt, um die Schulen vorzubereiten, damit wir bei der zweiten Welle besser ausgestattet sind als bei der ersten. Die Zeit ist verplempert worden. Sie ging vorbei. Nun haben wir das gleiche Dilemma. Wir sind im zweiten Lockdown, und wieder wissen Eltern, Lehrer, Schüler, Familien nicht, wann die Kinder wieder in die Schulen gehen können. Wir hangeln uns von einer Ankündigung, von einem Versprechen zum nächsten. Eltern und Schüler sind in einer dramatischen Situation. Und das Schlimme ist: Wir wissen nicht, wie wir da wieder herauskommen.
Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht allein den Ländern zuzuschreiben; es ist auch das Versagen des Bundes, der lange Zeit gehofft hat, das würde sich im Sommer irgendwie auswachsen. Das hat es leider nicht getan, meine Damen und Herren. Das ist Ihr Verschulden – alle miteinander –, die Sie hier Verantwortung tragen.
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Meine Damen und Herren, wenn diese Krise eines zeigt, dann das, wie wichtig geöffnete Schulen sind und wie wichtig leibhaftige Lehrer sind. Sie können durch Homeschooling, durch Onlineunterricht und durch ein paar Laptops nicht das ersetzen, was Schulen und Lehrer im Präsenzunterricht leisten. Das sollte langsam jedem klar geworden sein. Es ist mir deshalb auch unverständlich, liebe Kollegen von der FDP und auch von den Linken, wieso in Ihren Anträgen wieder das Hohelied von der Digitalisierung gesungen wird. Die Realität, meine Damen und Herren, sieht doch ganz anders aus.
Vor zwei Tagen erschien in der „Welt“ ein Interview mit einer Berliner Schulleiterin, die aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Darin wird sie gefragt, welche Rolle denn das digitale Onlinelernen in ihrer Schule spiele. Ich zitiere ihre Antwort mit Erlaubnis des Präsidenten: Nein, digital ist nur ein kleiner Anteil. Es gibt bei uns im Eingangsbereich der Schule einen Windfang mit Körbchen, wo die Eltern Schulaufgaben abholen und sie dann auch zurückbringen. – So sieht die Realität aus, meine Damen und Herren. Die Vorstellung, dass ganze Schulklassen statt im Klassenzimmer stundenlang mit dem Lehrer in einem virtuellen Unterrichtsraum sitzen und dabei genauso viel lernen wie beim Präsenzunterricht, gibt es nur in den Wunschfantasien von FDP-Politikern und von Firmen, die mit solchen Angeboten ihr Geld verdienen.
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Die Coronakrise zeigt doch, wozu die Schulen eigentlich da sind. Es sind mindestens vier Dinge – das konnte man in dieser Phase wie durch ein Brennglas wahrnehmen –: Erstens. Die Schule wird vor allem als außerfamiliärer Aufenthaltsort für junge Menschen benötigt. Zweitens. Schüler brauchen stabile Strukturen, um lernen zu können. Je jünger sie sind, desto mehr brauchen sie diese stabilen Strukturen. Drittens. Bildung funktioniert nur wirklich in einem leiblichen Beziehungssystem. Viertens. Kleinere Klassen sind lern- und diskussionsförderlich. Wir hätten schon längst mehr Lehrer einstellen müssen.
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Meine Damen und Herren, es wird endlich Zeit, dass wir das umsetzen, was Lehrerverbände, was Kinderärzte empfohlen haben – Sie können all das nachlesen; auch wir haben es schon mehrfach vorgetragen –: Wir brauchen endlich tragfähige Hygiene- und Infektionsschutzkonzepte. Die Gebäude müssen saniert werden, Luftreinigungsgeräte angeschafft werden. Es muss mehr Personal gewonnen werden, die Lerngruppen müssen verkleinert werden. Und wir müssen Wechsel- und Rotationsmodelle erproben. Teilweise wird das den Schulen sogar verboten. Wir haben schon vor Monaten vorgeschlagen, wie man durch kluge Wechsel innerhalb eines Tages erreichen kann, dass der Lehrer alle Schüler regelmäßig sieht; denn gerade die Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern geraten unter die Räder. Es wundert mich, dass sich hier nicht mehr darum gekümmert wird. Das ist doch sonst immer Ihre Klientel. Jetzt müssen wir das sagen. Das tun wir gerne.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Ulrike Bahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer der letzten Debatten des vergangenen Jahres haben wir an dieser Stelle über die Schulen diskutiert. Nun debattieren wir in einer unserer ersten bildungspolitischen Runden des noch jungen Jahres erneut darüber.
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Ich gebe zu: Das Thema Schulschließungen ist und bleibt elementar. Aber es ist doch so, dass immer neue Anträge, die sich um das gleiche Thema drehen, der grundsätzlichen Problematik nicht unbedingt weiterhelfen.
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Es ist unumstritten, dass wir mehr Verlässlichkeit für Schülerinnen und Schüler, deren Eltern sowie für Lehrerinnen und Lehrer benötigen; denn sie sind die Leidtragenden. Ihnen muten wir im Moment sehr viel zu, und ihnen haben wir auch im vergangenen Jahr einiges abverlangt. Ich bewundere meine Kolleginnen und Kollegen an den Schulen, die trotz widriger Umstände ihren Lehrauftrag ernst nehmen und lebensnahe Lernangebote täglich umsetzen. Das gilt es anzuerkennen.
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Die eingebrachten Vorschläge der Linken und der FDP verzerren in meinen Augen aber die Realität. Ja, wir brauchen praktikable und flexible Lösungen vor Ort. Vielerorts gibt es sie, woanders noch nicht. Das heißt aber nicht, dass wir einfach von der Bundesseite aus Vorschläge anordnen, als wären wir der Aufsichtsrat der Länder. Es ist doch eine Illusion, wenn Sie mit den Anträgen versprechen, dass wir in Berlin nur mit dem Finger schnipsen müssen und schon wären die Probleme wie die fehlenden Schulserverkapazitäten für die Schul-Clouds, die unzureichende digitale Ausstattung an Schulen oder die mangelnde Kommunikation zwischen Bund und Ländern gelöst.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich bin der Meinung, dass man sich hätte anders vorbereiten können. Dazu hatten wir und die Länder Zeit, wenn auch nicht viel. Hinterher lässt sich das allerdings auch leichter feststellen. Fakt ist aber auch, dass wir bereits vieles auf den Weg gebracht haben, beispielsweise mit den zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule, mit denen wir Laptops für Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer bezahlen sowie die Pflege und Wartung dieser Geräte finanzieren. Es ist nicht so, dass unsere bundesseitigen Unterstützungsleistungen jetzt auslaufen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir helfen weiter und schärfen kontinuierlich bestehende Instrumente nach.
Homeschooling und Homeoffice vertragen sich nicht. Das weiß Ministerin Giffey, und das erleben wir persönlich jeden Tag. Deshalb entlasten wir Familien. Heute haben wir die Ausweitung der Kinderkrankentage beschlossen: von 10 auf 20 Arbeitstage pro Elternteil pro Kind und für Alleinerziehende von 20 auf 40 Tage pro Kind. Das sind passgenaue Hilfsangebote, die in Bundeskompetenz liegen
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und mit denen wir auch Planungssicherheit schaffen.
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Denn der Anspruch gilt neuerdings, wenn Kitas oder Schulen geschlossen oder nur eingeschränkt geöffnet sind und Eltern dadurch ein Betreuungsproblem haben. Selbst wenn Eltern grundsätzlich im Homeoffice arbeiten, besteht künftig der Anspruch auf Kinderkrankentage.
Auf ein weiteres Dilemma finden Ihre Anträge auch keine Antwort: Die Pandemie verläuft nicht linear. Sie ist nicht planbar, weder bei den Fallzahlen noch bei der geografischen Verteilung der Hotspots. Genau das macht es doch so schwierig, passgenau und verlässlich zu kommunizieren, was wann wo wieder möglich sein wird. Trotzdem ist es richtig, auf folgende zwei Punkte zu beharren:
Erstens. Wir brauchen klare und einheitliche Vorgaben für Schulen, die sich nicht ad hoc ändern.
Zweitens. Wir brauchen Notfallszenarien, falls die Inzidenzwerte weiter ansteigen, anstatt zu sinken.
Diese zwei Punkte sind zentral; denn die Krise schafft Bildungsverlierer/-innen. Das ist die bittere Realität. Deshalb kann ich den guten Willen zwar anerkennen, dass die Kulturminister/-innen so lange am Modell des Präsenzunterrichts festhielten bzw. schnell zum ihm zurückkehren wollten. Die beste digitale Ausstattung kann niemals den persönlichen Austausch ersetzen, aber bei steigenden Inzidenzzahlen auf Schulöffnungen zu pochen, geht eben auch nicht.
Wie schwierig es ist, Anspruch und Regierungswirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen, erleben wir mit einer CDU-Bildungsministerin in Baden-Württemberg oder einer FDP-Bildungsministerin in NRW oder – auch selbstkritisch – einer SPD-Bildungssenatorin in Berlin. In Baden-Württemberg pochte Ministerin Eisenmann auf den Präsenzunterricht an Schulen nach den Weihnachtsferien, in Nordrhein-Westfalen verbot Ministerin Gebauer einem Oberbürgermeister, in seinen Klassen das Wechselmodell zuzulassen, und in Berlin, so berichtet „Der Tagesspiegel“, sollte – mit Zustimmung der Grünen und der Linken – ab dieser Woche mit einem Stufenmodell wieder der Unterricht in Präsenz anlaufen, bevor auch das gekippt wurde.
Machen wir uns ehrlich: Es gibt keine einfachen Lösungen, auch wenn Sie das mit Ihren Anträgen suggerieren. Trotzdem müssen wir erwarten können, dass sich die Länder bezüglich des Schulunterrichts künftig besser abstimmen und nach gemeinsamen Maximen handeln.
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Der von uns befürwortete, aber von den Landesregierungen in Bayern und Baden-Württemberg nicht gewollte Nationale Bildungsrat hätte hier gute Arbeit leisten können.
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Nun sollten wir vor allem von der Bundesregierung das einfordern, was ausgemacht war, zum Beispiel den Abschluss von Mobilfunkverträgen für die Tablets der Schülerinnen und Schüler, damit alle einen Zugang zum Internet bekommen.
Glücklicherweise läuft es in anderen Bereichen nach langem Hin und Her endlich deutlich besser.
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Konkret will ich die Unterzeichnung der Verwaltungsvereinbarung für die Investitionsmittel für den Ganztagsausbau loben. Nun stehen 750 Millionen Euro bereit, damit Länder und Kommunen die Planung, den Neubau, den Umbau, die Erweiterung, die Modernisierung und die Sanierung von Ganztagsangeboten finanzieren können.
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Das ist gut so; denn die Coronamonate haben noch einmal besonders deutlich gemacht, wie wichtig eine gute und verlässliche Betreuungsinfrastruktur für Kinder und für Eltern ist – wichtig für die Förderung der Kinder, wichtig für die Familien, wichtig auch für das Arbeitsleben und die Wirtschaft. Nur so kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktionieren,
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nur so können wir weitergehen auf dem Weg zu mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Jetzt kommt die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke die Abgeordnete Dr. Birke Bull-Bischoff.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Intervall, in dem wir über die Situation der Schulen in Coronazeiten debattieren, verkleinert sich. Das finde ich gut so, ganz einfach deshalb, weil das Thema viele Menschen bewegt. Aber je öfter hier auf Grundlage von Anträgen der demokratischen Opposition debattiert wird, desto weniger bewegt sich.
Wir brauchen ein Krisenmanagement – und haben es nicht. Die Debatte über kollektive Nichtzuständigkeit löst nicht nur kein Problem; vielmehr schüttelt ganz Deutschland bereits den Kopf darüber. Ehrlich gesagt, vonseiten der Union habe ich schon deutlich konstruktivere Debattenbeiträge gehört.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schulen sind geschlossen, und das ist auch notwendig. Gravierende Auswirkungen auf den Bildungserfolg sind vorprogrammiert. Vor allem diejenigen jungen Leute haben ein Problem, denen das Schulsystem schon vor Corona einen Misserfolg nach dem anderen aufs Auge gedrückt hat, die immer noch kein eigenes Gerät haben, geschweige denn einen verbindlich geregelten Rechtsanspruch auf eine digitale Grundsicherung – und die Bundesregierung kann nicht einmal Auskunft darüber geben, wie der Stand beim Abfluss der Mittel für den DigitalPakt Schule ist. Server sind ständig überlastet, und die Diskussion über den Lehrkräftemangel ist hier bei uns im Plenum bereits ein Klassiker.
Was brauchen wir jetzt am dringendsten? Erstens. Wir brauchen klare einheitliche, vor allen Dingen aber verbindliche – verbindliche! – Regeln.
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Die Empfehlungen des RKI für Schulen sind aus der Zeit gefallen. Sie müssen überarbeitet werden; zumindest für Inzidenzzahlen jenseits der 50. Aber auch hier müssen die Regeln verbindlich sein, und zwar für alle Länder.
Zweitens. Wir brauchen eine Entlastung für Schülerinnen und Schüler; denn nichts wäre absurder, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Schülerinnen und Schüler in den Präsenzunterricht zurückkommen und von Tests und Klassenarbeiten erschlagen werden. Nicht das Testen ist wichtig, zu lernen ist wichtig.
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Schülerinnen und Schüler müssen die Sicherheit haben, dass sie eben nicht von Tests und Klassenarbeiten erschlagen werden. Sie müssen die Gewissheit haben, dass ihre Abschlussprüfungen verändert werden, und sie müssen die Gewissheit haben, dass sie bundesweit anerkannt werden.
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Um Wechselmodelle in der Zukunft zu sichern, brauchen wir dritte Räume. Wir brauchen Räume in Theatern, in Gemeinderäumen und in Jugendklubs. Natürlich brauchen wir dafür auch mehr Personal. Lehramtsstudierende müssen angesprochen werden, Studis der Sozialen Arbeit und viele andere mehr.
Herr Kollege Sattelberg, Sie reden permanent vom Coronastigma. Ich sage Ihnen: Wer in diesen Zeiten sein Lernen organisiert, Probleme gewälzt und sich mit der Situation auseinandergesetzt hat, hat eine so großartige Lebenskompetenz entwickelt, dass er allemal unsere Wertschätzung verdient.
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Drittens und letztens. Wir brauchen eine Entlastung für Eltern. Unser Vorschlag – weil Homeschooling und Homeoffice zusammen nicht funktionieren –: Es muss die Möglichkeit geben, die Situation über eine Senkung der Arbeitszeit auf 50 Prozent bei gleichzeitigem Lohnausgleich zu meistern. – Sie können als Bundesregierung die Situation von Schulen nicht aussitzen. Erklärte kollektive Nichtzuständigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist kein Krisenmanagement.
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Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! The same procedure: Die FDP legt erneut einen Antrag zur aktuellen Lage an Schulen vor, der sich kaum vom vorhergehenden unterscheidet. Inhaltlich ist keine substanzielle Fortentwicklung zu erkennen.
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Das nährt den Verdacht, dass dieser Antrag lediglich dazu dient, die Bildungsministerin der FDP lobend zu erwähnen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar beschaffte Luftreinigungsgeräte machen noch lange keine gute Bildungspolitik.
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Frau Gebauer wird ihren Aufgaben nicht einmal ansatzweise gerecht. Es fällt schwer, zu beurteilen, wer das chaotischere Krisenmanagement hat: Ministerin Gebauer in Nordrhein-Westfalen oder Ministerin Eisenmann bei uns in Baden-Württemberg. Dieses Versagen können Sie nicht mit einem Antrag kaschieren. Aber ihr Antrag gibt mir Gelegenheit, darzulegen, wie die Pandemie in den Schulen aus unserer Sicht besser bewältigt werden kann.
Wir brauchen zügig eine Basisdigitalisierung aller Schulen, die darauf abzielt, alle Schülerinnen und Schüler schnell zu erreichen. Mit einem Sofortprogramm und flankierenden Maßnahmen vonseiten der Länder, die zum Beispiel mit versierten Lehrkräften die betreffenden Schulen unterstützen, könnte in kurzer Zeit viel erreicht werden. Die von uns beantragte Bundeszentrale für digitale und Medienbildung könnte weitere Hilfe leisten. Das generelle Problem ist damit aber nicht behoben.
Schulen brauchen mehr Flexibilität und mehr Entscheidungshoheit.
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Das fordern wir seit einem halben Jahr; denn es hat sich schon früh gezeigt, dass starre Regelungen in der Krise nichts nützen. Wider besseres Wissen hält die KMK an ihrer Vorgehensweise fest, aber das führt nur dazu, dass die Minister/-innen anschließend doch wieder Sonderwege gehen. Das überfordert Schulen, das überfordert Lehrkräfte und Familien, das zermürbt und untergräbt Vertrauen.
Unsere zentrale Forderung an Ministerin Karliczek und an die KMK ist: Ändern Sie Ihre Strategie, und formulieren Sie Ziele, wie zum Beispiel die Gewährleistung der Erreichbarkeit der Kinder oder eine Erhöhung der Kontaktfrequenz zu den Lehrkräften! Und vor allem: Beziehen Sie die Betroffenen endlich in die Diskussionen mit ein!
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Zwei Bildungsgipfel haben stattgefunden, und immer noch redet niemand mit den Betroffenen. Beteiligen Sie Elternvertretungen, Schüler/-innen, Lehrkräfte und Schulträger an den Diskussionen; denn sie sind es letztendlich, die alle Entscheidungen umsetzen und aushalten müssen. Daher ist es auch logisch und folgerichtig, es den Schulen zu überlassen, wie sie diese Ziele erreichen und die Methoden an die jeweils herrschende Pandemielage anpassen.
Handeln Sie endlich effektiv, und geben Sie Vertrauen und Entscheidungshoheit in die Schulen, die oftmals weiter und kreativer sind als die Kultusminister/-innen!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Rede von Helge Lindh vorhin hat der Abgeordnete Karsten Hilse den Zwischenruf „Haben wir schon Karneval, oder was?“ gemacht. Daraufhin hat die Abgeordnete Simone Barrientos erkennbar ihm zugerufen: „Ruhig, Brauner!“ Frau Barrientos, ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf.
Der nächste und gleichzeitig letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Debatte ist fast schon bizarrer als die Oppositionsanträge selbst. Wenn die Linke hier von kollektiver Unverantwortlichkeit spricht, ist das völliger Quatsch.
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Liebe Frau Kollegin, die Länder sind für Schulbildung verantwortlich. Punkt!
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Wenn man Ihren Antrag liest, dann sieht man, dass Ihnen jeder Realismus fehlt. Sie wollen das Aussetzen von allen Prüfungen wegen Corona. Absurd! Sie wollen ein Recht auf Homeoffice für alle. Reden Sie einmal mit Handwerkern und mit Verkäuferinnen und Verkäufern! Das, was Sie fordern, ist absurd. Ihr nächster Vorschlag lautet: Alle arbeiten wegen Corona 50 Prozent weniger, bekommen aber 100 Prozent Lohn. – Absurd!
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Mit solchen Vorschlägen haben Sie bereits die DDR in den Staatsbankrott geführt. Lesen Sie einmal den Schürer-Bericht, aber verschonen Sie uns mit solchen unrealistischen Vorschlägen, und verkaufen Sie die Menschen nicht für dumm!
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Beim Antrag der FDP, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es leider nicht besser. Hören Sie doch auf, den Menschen zu suggerieren, dass man mit mobilen Luftfiltern und einer Whitelist, also einer Positivliste für datenschutzkonforme Lernangebote, das Schuljahr retten kann.
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Das ist schlichtweg Blödsinn, und so etwas können Sie auch nicht mehr mit Ihrem Kunstbegriff „Serviceopposition“ rechtfertigen.
Es ist auch eine Binsenweisheit, dass die Prüfung, wenn man coronabedingt den Prüfungsstoff nicht schafft, natürlich angepasst werden muss. Darüber entscheidet aber doch nicht der Bundestag oder der Landtag. Das ist eine Entscheidung der Schule vor Ort,
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der Kultusminister nach Abstimmung in der Kultusministerkonferenz.
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Damit habe ich doch das Stichwort. Der eigentliche Grund der heutigen Debatte ist doch die Kultusministerkonferenz, deren Präsidentschaft am heutigen Tage wechselt. Wir alle wissen, dass die für die Schulbildung zuständige KMK zu langsam arbeitet, zerstritten ist und seit Jahrzehnten ineffektiv wirkt. Daher haben wir ja den Nationalen Bildungsrat vorgeschlagen – wir haben das vorhin in der Debatte schon gehört –, aber die Länder haben das abgelehnt.
Hören Sie doch auf, den Menschen zu suggerieren, dass der Bund effektive Einflussmöglichkeiten auf die Bundesländer im Bereich der Schulpolitik hat! Die hat er nicht.
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Wir sind auf Kooperation angewiesen, und wenn die Länder diese Kooperation verweigern, dann können wir nichts tun, außer empfehlen, analysieren und beraten. Mehr nicht!
Anscheinend gibt die Verfassungswirklichkeit des Artikels 20 Absatz 3 – das Bundesstaatsprinzip – zu meinem großen Bedauern einfach nicht mehr her.
Wir haben als Unionsfraktion schon viele gute Vorschläge an die KMK gegeben. Nein, sie setzt sie nicht um. Wir werden immer wieder neu enttäuscht. Auch die jüngste Vereinbarung zu mehr Transparenz, Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit bei Prüfungen ist wieder eine Enttäuschung: keine Verbindlichkeit, keine Sanktionsmöglichkeiten, kein Staatsvertrag. Das ist wieder eine vertane Chance.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Frömming?
Nein; wir machen das gerne als Kurzintervention danach.
Ob das gemacht wird, entscheide ich.
Dabei zeigt uns die Coronakrise besonders die hohen Defizite in der digitalen Schulbildung. Wir sind uns hier im Hohen Hause doch alle einig, dass die Bundesländer in diesem Bereich die Sache anscheinend nicht alleine packen, aber wir ziehen unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus.
Für die Unionsfraktion kann es nicht heißen: „Bund, übernimm du“, sondern für uns heißt es: „Bund, hilf!“ Und der Bund hilft auch. Meine Kollegin hat es vorhin aufgezeigt: DigitalPakt, Zusatzvereinbarung, bundesweite Bildungsplattform, digitale Kompetenzzentren. – Wir haben hier alles debattiert. Eine helfende Hand wird aber müde, wenn der Hilfsbedürftige nicht mitzieht und nicht kooperiert.
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Ich appelliere abermals an die Kultusministerkonferenz und die Ministerpräsidentenkonferenz, hier konstruktiv mitzuwirken und sich nicht in Kleinstaaterei zu verlieren. Die Lage und das Thema sind einfach zu ernst.
Ich weiß noch, wie wir uns im Jahre 2013 unter dem Druck der Aufklärung der NSU-Mordserie hier im Bundestag verständigt haben, gemeinsam mit den Ländern den Sicherheitsföderalismus zu reformieren, und ich denke, unter dem Druck der Coronakrise muss es uns gelingen, auch diesen Bildungsföderalismus zu reformieren. Daher bin ich Anja Karliczek für ihr „Spiegel“-Interview am vergangenen Wochenende sehr dankbar. Ich denke, sie stößt damit eine richtige Debatte an,
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und finde es einfach nur schwach, wie reflexartig mancher Landespolitiker darauf reagiert. Eigentlich heißt es doch in Baden-Württemberg: Nicht gemeckert ist genug gelobt.
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Fast jede Fraktion hier im Deutschen Bundestag trägt auch Verantwortung in den Bundesländern. Dort muss die Einsicht reifen, dass es einen Mehrwert darstellt, wenn sich der Bund bei Einzelthemen einbringt und mitgestaltet. Von daher ist es ein Neujahrswunsch für dieses Jahr, dass wir eine sachliche Diskussion mit klugen Vorschlägen für eine Reform des Bildungsföderalismus in Deutschland führen.
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Das heißt nicht, liebe Opposition, Ihre alten Anträge aus dem Schreibtisch hervorzukramen und unrealistische Vorschläge zu präsentieren. Es geht darum, einen kooperativen Föderalismus sinnvoll weiterzuentwickeln. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten!
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Unternehmer aus meinem Heimatbundesland Niedersachsen hat mir vor wenigen Tagen folgende E-Mail geschrieben: Ich habe den Betrieb von meinem Vater mit fünf Mitarbeitern übernommen. Heute beschäftigen wir über 400 Menschen, sind massiv vom Lockdown betroffen, und die von der Bundesregierung versprochenen Hilfen kommen einfach nicht an. Anstatt dass man sich darum kümmert, wird in der Politik die Wiederauflage der Vermögensteuer diskutiert, die unserem Unternehmen den letzten Stoß versetzen würde. – Und dann weiter: Ich bin fassungslos. – Dem ist wirklich nichts hinzuzufügen.
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Da kämpfen – ich sage das gerade in Richtung der Kollegen von SPD und Grünen – dieser Tage Familienunternehmen um ihre Existenz, und den Grünen im Schlepptau des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz fällt nichts Besseres ein, als ihnen mit einer zusätzlichen Belastung in den Rücken zu fallen. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist ein Schlag ins Gesicht derer, die in Deutschland den Karren ziehen.
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Bei dem, was Sie sagen, Herr Kollege, müssen sie doch einen einzigen Eindruck haben: Was Corona mit unserem Familienbetrieb, bei dem wir persönlich in Haftung sind,
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nicht geschafft hat, das besorgt am Ende die Politik. – Das darf nicht passieren; das darf keine Politik einer Bundesregierung nach dem 26. September 2021 sein.
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Abgesehen von dem erheblichen Aufwand für den Staat zur Erhebung einer Vermögensteuer – das ist hier schon oft diskutiert worden –, ist das doch vor allem eines: Es ist eine Steuer auf Betriebsvermögen.
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Das Ganze geht an die Substanz von Unternehmen. Das kann am Ende so weit führen, dass Unternehmen in Jahren, in denen sie massive Verluste erzielen, dennoch Steuern – nämlich in Form der Vermögensteuer – an den Staat abführen müssen. Das ist ungerecht, das schadet den Arbeitsplätzen, das kostet Arbeitsplätze. Das darf nicht Ihre Bundestagswahlkampagne sein. Das ist gegen die Unternehmer, die in unserem Land ins Risiko gehen.
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Liebe Kollegen von SPD und Grünen, wir haben in dieser Corona-Wirtschaftskrise doch eines gelernt: Die finanzielle Substanz auch von Unternehmen – –
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– Da können Sie gerne lachen, Frau Kollegin. Sie haben auch Zuschriften von Unternehmern bekommen, die die versprochenen Hilfen von Herrn Altmaier nicht erhalten haben. Die bekommen Sie auch; das können Sie mir nicht anders erzählen. Diesen fallen Sie in den Rücken.
Finanzielle Substanz von Unternehmen – das ist doch die allerbeste Krisenprävention. Die können wir doch nicht abschaffen, indem wir zusätzlich Steuern auf dieses Vermögen erheben, liebe Kollegen.
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Für den Staat gilt doch: Wir werden – das ist das, was Olaf Scholz dauernd sagt – aus dieser Krise nicht herauswachsen können, indem wir zusätzliche Belastung schaffen. Wir brauchen wirtschaftlichen Erfolg, meine Damen und Herren. Der ist aber nur dann darstellbar, wenn die Unternehmerinnen und Unternehmer, die Familienunternehmen wirtschaftlich erfolgreich sein können. Und dagegen dürfen Sie nicht mehr kämpfen. Sonst haben Sie aus dieser Krise nichts gelernt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Problem in Deutschland, Herr Kollege – das ist, was die Linke, die SPD und die Grünen total verkennen –, ist doch nicht, dass wir zu viele Vermögende haben. Das Problem ist doch, dass wir zu wenig Menschen haben, die die Chance hatten, Vermögen aufzubauen. Das liegt an Ihrer Steuererhöhungsspirale.
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Die brauchen endlich den Freiraum.
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Genau solche Vorschläge machen wir in unserem Antrag. Da müssen Sie endlich umsteuern. Alles andere ist das Gegenteil von Solidarität.
Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam für Vermögensaufbau kämpfen, für Vermögensaufbau von Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen.
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Das muss doch die Strategie sein, damit Menschen die Möglichkeit haben, Herr Kollege Binding, sich selbstständig zu machen, und nicht nur abhängig beschäftigt sind, meine Damen und Herren. Dafür sind unsere Vorschläge da.
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Beenden Sie also diese Steuererhöhungsdebatte und lassen Sie uns für Arbeitsplätze in Deutschland kämpfen! Das ist die richtige Antwort auf diese Krise.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Abgeordnete Sepp Müller.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer heute hier die Debatten verfolgt, der muss wirklich zu dem Schluss kommen, dass der Wahlkampf eröffnet ist. Die einen fordern „Steuern runter!“, die anderen gleich „Steuern rauf!“;
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aber die Zuschauer fragen sich, ob das der Ernst ist.
Der Otto Normalverbraucher will gerade Antworten auf folgende Fragen: Wie bekommen wir die Todeszahlen runter? Welche Möglichkeiten gibt es kurzfristig, die Krankenhauskapazitäten zu erhöhen? Wie senken wir dauerhaft die Zahl der Neuinfektionen? – Was machen die FDP und die Linken in der vorherigen Debatte? Sie bedienen mit diesem aufgewärmten Menü die Forderungen ihrer Wählerklientel.
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Liebe Kollegen über alle Parteigrenzen hinweg, brauchen wir jetzt nicht einen nationalen Kraftakt? In meinem Heimatwahlkreis, in Wittenberg, regiert ein linker Landrat, in meinem Heimatland die Kenia-Koalition aus Schwarzen, Roten und Grünen. Allen ist eines klar: dass wir jetzt über Parteigrenzen hinweg darum kämpfen müssen, den Menschen das Leben zu retten.
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Liebe Freie Demokraten, glauben Sie ernsthaft, es interessiert irgendeinen vor Ort aktuell, was in Ihrem Antrag steht,
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wie etwa Aktienverluste besser steuerlich abzusetzen sind?
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Schauen Sie, ich bin mit meinem Team seit Weihnachten im Gesundheitsamt in Wittenberg unterwegs. Wir verfolgen die Kontaktketten, weil bei uns die Hütte brennt. Meinen Sie allen Ernstes, ich hätte bei einer Vorbesprechung mit dem linken Landrat ein einziges Mal über die Einführung der Vermögensteuer debattiert?
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Ist das allen Ernstes Ihre Idee, wie wir aus dieser Anstrengung herauskommen? Nein. Wir haben gemeinsam versucht, Lösungen zu finden, damit nächste Woche bei mir im Wahlkreis das Krankenhaus nicht überläuft.
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Unser Ministerpräsident Reiner Haseloff und seine SPD-Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne versuchen gerade, alles Menschenmögliche zu tun, um die Menschen in unserem Land zu impfen und zu schützen. Und noch einmal: Brauchen wir heute nicht einen nationalen Kraftakt über Parteigrenzen hinweg?
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Lasst uns dabei den Wahlkampf hintanstellen.
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Liebe FDP, was nützt es denn, wenn wir den Soli für die Einzelhändler beispielsweise abschaffen?
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Einer davon hat mich gestern tränenüberströmt angerufen, weil er ab Februar kein Geld mehr hat. Was nützt dem die Abschaffung des Soli, wenn er gar kein Einkommen mehr hat, auf das er überhaupt Soli zahlen kann?
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Der Einzelhändler will, der Schuhhändler will, dass wir hier, verdammt noch mal, unsere Arbeit machen,
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dass er wieder seinen Laden aufmachen kann. Das ist unsere Verantwortung. Und da interessiert gerade niemanden, ob jemand eine Vermögensteuer einführen will, ob er besser Aktienverluste verrechnen kann oder ob es einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer gibt. Das interessiert niemanden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Todeszahlen bei mir im Wahlkreis zeigen, dass wir alle eine Verantwortung haben. Deswegen kann ich nur noch einmal an alle appellieren, dass wir einen nationalen Kraftakt brauchen. Wir können auf Ihre Themen eingehen, beispielsweise auf den Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer. Sie wissen, dass müssen wir mit den Ländern machen. Wir müssen uns aber gemeinsam auch darüber unterhalten, wie wir schneller das Geld an die Unternehmen auszahlen können.
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Da haben auch FDP-Wirtschaftsminister Verantwortung, in Rheinland-Pfalz beispielsweise,
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wo die Auszahlung bedauerlicherweise nicht so gut klappt.
Aber es bringt doch nichts, wenn wir in dieser Zeit, in der wir uns befinden, hier vorne anfangen, mit Dreck zu werfen.
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Wir haben die Verantwortung, über Parteigrenzen hinweg darüber zu reden, wie wir diese Pandemie bekämpfen können, wie wir die Infiziertenzahlen nach unten bekommen, wie wir die Krankenhauskapazitäten nach oben bekommen. Das ist unsere Aufgabe.
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Gerne können wir im Sommer, wenn hoffentlich die Impfungen erfolgreich waren, wir viele geimpft haben, über alle unterschiedlichen politischen Ansätze reden, wie wir aus dieser Krise herauskommen. Aber die Menschen interessiert da draußen gerade nicht, was wir hier debattieren. Deswegen, liebe Kollegen, lassen Sie uns zum Ernst der Lage wieder zurückkommen und die wahren Probleme der Menschen lösen.
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Danke.
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Vielen Dank, Kollege Sepp Müller. – Für die AfD macht sich der Abgeordnete Albrecht Glaser bereit. Sie haben das Wort.
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Danke sehr, Herr Vizepräsident. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit allem Respekt, lieber Kollege Müller: Ich denke, beide Realitäten haben ihre Berechtigung. Da kann man nicht sagen: Das eine hat so lange Pause, bis das andere behandelt ist.
In dem vorgelegten Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion wird – das ist in der Tat ein altes und lange währendes Problem – die überfällige Abschaffung der Vermögensteuer gefordert. Darüber hinaus liegt ein Sachantrag der FDP mit sechs zusätzlichen Forderungen vor, die – das muss ich allerdings hinzufügen – nahezu alle von der AfD in früheren Anträgen bereits aufgestellt worden sind.
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Das Thema Vermögensteuer war seit eh und je brisant, weil die dialektischen Materialisten damit ihr großes Projekt der Gesellschaftsveränderung ins Werk setzen wollten – immer schon und auch heute noch. Zudem lassen sich damit stets die niederen Gefühle von Neid und Missgunst anheizen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 steuertheoretisch und verfassungsrechtlich überzeugend begründet, dass die bis dahin geltende Vermögensteuer ab 1996 nicht mehr erhoben werden darf. Was also tun?
Aus dem Besten, was die steuerwissenschaftliche Literatur zu bieten hat, lässt sich wie folgt zitieren: Gegen die Wiedereinführung der periodischen Vermögensteuer spricht bereits die damit unweigerlich verbundene Bewertungsungleichheit, die auch alternative Vermögensteuerentwürfe nicht vermeiden können.
Darüber hinaus setzt das Bundesverfassungsgericht über den Gedanken des Vermögensbestandsschutzes aus Artikel 14 jeglicher Vermögensteuer enge Grenzen. Danach bleibt, schreiben die Autoren, für die Vermögensteuer neben der Einkommensteuer nur noch ein schmaler Anwendungsbereich. Diesen Bereich verenge noch weiter, wer das Betriebsvermögen zugunsten einer auf das Privatvermögen beschränkten Vermögensteuer ausklammern wolle. Die dann eintretende, einseitige Erosion der Bemessungsgrundlage würde das Gleichheitsdefizit noch erhöhen und trüge zur weiteren Chaotisierung des deutschen Steuerrechts bei. Es gebe für die Vermögensteuer keinen überzeugenden Rechtfertigungsgrund. Es entspreche daher nicht nur der Steuergerechtigkeit, sondern auch der ökonomischen Vernunft, die Vermögensteuer nicht zu reaktivieren. Als Zeichen ökonomischer und rechtsstaatlicher Rationalität sollte die Vermögensteuer auch formalrechtlich aufgehoben werden. – Zitat Ende.
({1})
Meine Damen und Herren, zu Recht weist der FDP-Antrag darauf hin – Recht, wem Recht gebührt –, dass von den 36 OECD-Ländern in jüngster Zeit nur noch 4 eine Vermögensteuer erheben.
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Das ist State of the Art, meine sehr verehrten Damen und Herren, und wer sich dagegenstemmt, hat ein paar Probleme und wird viele Probleme erzeugen.
Die AfD hat diese Frage bereits 2016 in ihrem Grundsatzprogramm entschieden. Dort steht die Abschaffung der Vermögensteuer drin, und dazu stehen wir, weil sie als Substanzsteuer Fundamente unserer Eigentumsordnung in diesem Land – und dazu gehört natürlich auch die unternehmerische Welt – untergräbt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Solidaritätszuschlag hat die AfD wiederholt Abschaffungsanträge gestellt, ebenfalls zur Grunderwerbsteuer als Hindernis für persönlich genutztes Eigentum. Wer eine Welt und ein Land von Eigentümern will, muss an dieser Stelle diese Bremse für 85 Prozent der Bevölkerung, die sich nach Wohneigentum sehnen, beseitigen.
Die Dynamisierung des Sparerfreibetrags haben wir früher auch erfolglos beantragt. Dem hatte die FDP seinerzeit nicht zugestimmt.
Das Thema „Wiederherstellung der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei Einkünften aus Kapitalvermögen nach einer Haltefrist“ ist ebenfalls eine AfD-Position. Dabei sind wir für die Regelung, die bis 2009 – also auch unter dem Regime der Großen Koalition – bestand, nämlich ein Jahr, während der FDP-Antrag deutlich anspruchsloser eine Haltefrist von fünf Jahren fordert.
Auch die Forderung nach voller Verlustberücksichtigung bei Wertpapieren, etwa Wertlosigkeit von Optionsscheinen, ist steuersystematisch dringend geboten. Nachdem es in der Euro-Welt keine Zinsen mehr gibt, mit Staatsanleihen ebenfalls kein langfristiger Vermögensaufbau mehr möglich ist –
Kommen Sie bitte zum Ende.
– sofort –, kann man zwar auch die Vermögensbildung über Aktien und Derivate erschweren, man sollte es aber nicht tun.
Es wäre schön – letzter Satz, Herr Präsident –, wenn im weiteren Fortgang der Debatte über die ganze Palette dieser Themen endlich einmal mit Steuersystematik und mit vernünftigen vermögenspolitischen Argumenten gerungen würde. Wir werden als AfD –
Es ist jetzt fertig.
– konstruktiv daran mitwirken, damit an der Stelle steuerpolitisch fundamental etwas geschieht, was in drei Jahren in diesem Bundestag nicht geschehen ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Glaser, Sie können die Zeit, die der Kollege Müller eingespart hat, nicht für sich verbrauchen.
Das ist schade.
Das verstehen Sie, ja? – Gut.
Die Kollegin Cansel Kiziltepe von der SPD-Fraktion macht sich bereit. Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mehr Vermögen aufbauen statt Leistung bestrafen“, so heißt Ihr Antrag, zu dem Sie kein einziges Wort gesagt haben.
({0})
Um diesen Leitsatz in die Tat umzusetzen, will die FDP das Vermögensteuergesetz abschaffen. Was das Bundesverfassungsgericht nicht gemacht hat, und das zu Recht, wollen Sie mit einem Handschlag streichen. Es ist wirklich ein Segen für das Gemeinwohl in unserem Land, dass Sie, Kollege Dürr, kein Verfassungsrichter sind. Ihr Vorschlag zeigt, dass es der FDP wieder nur um ihre Klientel geht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Leistung bringen nach der Lesart der FDP nur die, die bereits Vermögen haben. Die Krankenschwestern, die Assistenzärzte hingegen, die gerade Tag und Nacht irgendwie das Land am Laufen halten, sind aus Sicht der FDP keine Leistungsträger. Das sehen wir als Sozialdemokraten anders.
({2})
Wir wollen ein gut finanziertes Gesundheitssystem, und eine funktionierende Vermögensteuer würde dabei sehr viel helfen. Nicht nur das, es wäre auch ein gerechter Weg. Ein Blick auf die Fakten hilft wie immer – das rate ich Ihnen ja jedes Mal hier –: In kaum einem anderen Land in Europa ist die Vermögensungleichheit so groß wie in Deutschland. 1 Prozent der Bevölkerung besitzt hier knapp 35 Prozent des gesamten Vermögens. Gleichzeitig sind die vermögensbezogenen Steuern in Deutschland so gering wie in keinem anderen Land.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Vermögen erhält man in diesem Land vor allem durch Vererben. Und wer einmal groß geerbt hat, muss es nur noch im Family Office seelenruhig verwalten lassen, und dann ist alles gut.
Wenn aber die belohnt werden sollen, die hart arbeiten, dann müssen wir anders als die FDP an die mittleren Einkommen denken. Hier muss sich Arbeit lohnen, damit das Aufstiegsversprechen nicht Schall und Rauch ist.
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Hier muss auch der Vermögensaufbau stattfinden und nicht auf den Karibikinseln dieser Welt. Dafür kämpfen wir als SPD.
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Damit sich Leistung lohnt, haben wir die geringen und mittleren Einkommen entlastet. Damit Arbeit den nötigen Respekt bekommt, kämpfen wir für höhere Löhne und mehr Tarifbindung. Damit jeder in dieser Gesellschaft aufsteigen kann, wollen wir ein gut finanziertes Bildungs- und Gesundheitssystem.
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Eine gute Vermögensteuer wäre für all das eine Hilfe.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Die Linke erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Liebich.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die FDP packt heute Abend eines der ganz großen Probleme unserer Zeit an: Die Reichen müssen reicher werden. Die reichsten 10 Prozent in unserem Land besitzen jetzt schon zwei Drittel des gesamten Vermögens in Deutschland, und im vergangenen Jahr ist das Geldvermögen auf den deutschen Sparkonten um 393 Milliarden Euro gewachsen. Die meisten Menschen werden sich die Augen reiben, weil sie davon nichts gemerkt haben. Ganz im Gegenteil: Ein Drittel der Menschen hat im letzten Jahr wegen der Pandemie weniger Geld zur Verfügung. Die Reichen wissen nicht mehr wohin mit ihrem Geld, die Armen wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen.
Als wir gestern darüber debattiert haben, wenigstens die Dispozinsen zu deckeln, war die FDP dagegen; aber heute will sie Steuern für die Reichen senken oder ganz abschaffen. Diesem Irrsinn stellen wir uns mit aller Kraft entgegen. Damit kommen Sie nicht durch.
({0})
Sie wollen das Vermögensteuergesetz aufheben, damit nie wieder eine Vermögensteuer eingeführt wird. Wir wollen die Vermögensteuer als Millionärssteuer endlich wieder erheben.
Haben Sie die Dokumentation „Ungleichland“ gesehen? Ich will gleich mal ein Hoch auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausbringen.
({1})
Sie ist in der Mediathek der ARD immer noch zu sehen, und man lernt gleich zu Beginn dieser Dokumentation den Immobilienunternehmer Christoph Gröner kennen. Er sitzt in einem Privatflugzeug und sagt: „Wenn Sie 215 Millionen haben, schmeißen Sie das Geld zum Fenster raus, und dann kommt es zur Tür wieder rein. Sie kriegen es nicht kaputt.“
({2})
Sobald man in Autos, Häuser, Immobilien investiere, steigere sich der Wert; mit Konsum könne man Geld nicht zerstören. Dass dieser Mann im letzten Jahr 800 000 Euro an den Berliner Landesverband der CDU gespendet hat, passt gut ins Bild und auch zu der Debatte, die Friedrich Merz unter der Überschrift „Neidsteuer“ gestartet hat.
({3})
Es ist ja nicht so, dass die Reichen nur Lindners Truppe als einzige Lobby haben. In der Vergangenheit wurde von Rot-Grün, von Schwarz-Gelb und von Schwarz-Rot immer wieder den Reichen geholfen. Mehrmals wurde der Spitzensteuersatz abgesenkt. Mit der sogenannten Abgeltungsteuer werden Aktienverkäufe weniger besteuert als Lohnarbeit, und dank der Erbschaftsteuerregeln werden an Erben leistungslos große Vermögen von zig Milliarden Euro steuerfrei verschenkt.
Was hat diese Politik erreicht? Wer reich geboren wird, bleibt reich. Wer arm geboren wird, bleibt arm.
Die FDP will diese himmelschreiende Ungerechtigkeit heute weitertreiben. Wir wollen und wir werden sie stoppen.
({4})
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Abgeordnete Stefan Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es wurde gerade schon angesprochen, Herr Dürr: Eigentlich haben Sie nicht über den Antrag gesprochen, den Sie hier zur Abstimmung stellen; „Mehr Vermögen aufbauen statt Leistung bestrafen“ heißt der. Nicht das erste Mal täuscht der Titel eines FDP-Antrags vollkommen über den Inhalt hinweg.
({0})
Besser passen würde „Noch mehr Steuergeschenke für Vermögende und Besserverdiener“. Diese Klientelpolitik der FDP machen wir Grüne sicher nicht mit.
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Wir wollen, dass Vermögen gerechter verteilt wird. Nie war die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft so weit gespreizt wie heute: Das reichste Promille der Deutschen verfügt über 20 Prozent des Vermögens – im Gegensatz dazu besitzt die Hälfte der Bevölkerung kein nennenswertes Vermögen. Die Kollegin Kiziltepe, der Kollege Liebich haben bereits ähnlich krasse Beispiele der Ungleichheit benannt.
Warum also sollen wir den Soli vollständig abschaffen und so die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter öffnen? Warum sollen wir durch Steuerfreibeträge dafür sorgen, dass sich Vermögende noch billiger mit Immobilien eindecken können? Ihre Forderungen gehen meilenweit an den Sorgen und Bedürfnissen der Menschen in unserem Land vorbei.
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Das Problem der FDP ist, dass sie unter Gerechtigkeit immer nur Leistungsgerechtigkeit versteht, aber ein völlig falsches Bild von Leistung hat; denn es ist keine Leistung, in einem reichen Haushalt geboren worden zu sein. Es ist auch keine Leistung, Vermögen verwalten zu lassen und Vermögen zu erben. Nein, dieses falsche Bild der FDP zementiert nur die Ungleichheit in unserem Land.
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Zum alten, neoliberalen Schreckgespenst der Vermögensteuer. Einerseits wird sie seit Jahrzehnten gar nicht erhoben, andererseits hat gerade die Pandemie viele Vermögende sogar noch vermögender gemacht. Wäre es da nicht fair und folgerichtig, dass sehr hohe Vermögen auch einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwohls leisten? Starke Schultern können mehr tragen als schwache, und das müssen sie auch.
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Ich bin überzeugt, dass eine Gesellschaft nur dann wohlhabend, nur dann vermögend ist, wenn es gerecht zugeht, wenn jeder Mensch die Chance auf Teilhabe und umfassende Bildung hat, und das geht nur, wenn man versteht, dass Reichtum für wenige nicht die Lösung ist, sondern das Problem.
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Vermögensaufbau beginnt bei denen, die kein Vermögen haben, und das ist die Hälfte der Gesellschaft in unserem Land. Vermögensaufbau beginnt bei der übergroßen Mehrheit derer, die sich keine Gedanken über die Besteuerung von Wertpapieren machen, weil sie schlicht und ergreifend keine Wertpapiere haben.
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Setzen wir also an bei einem höheren Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, von dem Geringverdiener ganz besonders profitieren. Setzen wir an bei einem Bürgerinnen- und Bürgerfonds, damit vor allem finanziell Schwächere fürs Alter vorsorgen können. Setzen wir an bei bezahlbarem Wohnraum für alle!
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Da hätten Sie gute Ideen. Das haben Sie heute leider nicht abgeliefert.
({8})
Es macht sich bereit und läuft sich warm der Abgeordnete Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland wird weltweit beneidet um seine mittelständisch geprägte Struktur und um seine Innovationskraft. Diese mittelständische Struktur und Innovationskraft sind in der aktuellen Lage gefährdet. Deswegen ist es wichtig, wie der Kollege Müller ausgeführt hat, dass wir alle Bemühungen unternehmen, die Probleme der Pandemie einzudämmen und diesem Mittelstand zu helfen.
({0})
Aber es ist auch wichtig, zu sagen: Die Innovationskraft und der Mittelstand sind auch gefährdet, wenn man die Hand an die Substanz dieser Struktur legt,
({1})
und das würde eine Vermögensteuer machen. Deshalb wird es in dieser Legislaturperiode unter Führung der CDU/CSU mit Sicherheit nicht zu einer Wiedereinführung der Vermögensteuer kommen. Deshalb ist auch Ihr Antrag obsolet.
({2})
Was in der kommenden Legislaturperiode sein könnte, bei entsprechenden, anderen Mehrheiten, kann man ahnen, wenn man heute die Debatte verfolgt hat. Es gibt entsprechende Forderungen der SPD. Herr Kollege Schmidt von den Grünen, wir haben die am Montag miteinander diskutiert. Da wurde noch die Vermögensteuer von den Linken gefordert.
Diese Diskussion um die Vermögensteuer ist Gift für Wachstum und Beschäftigung.
({3})
Unsere mittelständisch geprägte Struktur in Deutschland war nur möglich durch das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard.
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Mit dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft geht auch das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit einher.
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Derjenige, der mehr verdient, leistet finanziell auch mehr für die Gemeinschaft, und das ist auch richtig so. Derzeit zahlen Menschen mit einem Einkommen von mehr als 265 000 Euro bzw. 530 000 Euro in der Zusammenveranlagung neben dem Spitzensteuersatz zusätzlich 3 Prozent Reichensteuersatz; das ist auch in Ordnung. 2,3 Prozent der Bestverdienenden in Deutschland zahlen 25 Prozent der gesamten Steuerlast, während 30 Prozent der kleineren und mittleren Einkommen keine Steuern zahlen.
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Mit einer Substanzbesteuerung würde der deutsche Mittelstand, der heute die Hauptlast der Steuern trägt, ins Mark getroffen. Eine Vermögensteuer wäre eine Belastung der Substanz, eine Belastung auch des Betriebsvermögens. Schon einmal versteuertes Geld würde nochmals besteuert.
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Das widerspricht dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Besteuerung der Substanz ist deshalb falsch. Sie vernichtet Innovationskraft, vernichtet Investitionskapital und vernichtet Arbeitsplätze in Deutschland.
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Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen wieder mehr Steuereinnahmen, um aus der Pandemie herauszukommen und die Mittel zur Deckung der Kosten der Pandemie zu erwirtschaften. Aber das funktioniert nicht mit einer Besteuerung der Substanz, sondern es funktioniert nur mit Wachstum. Wachstum schafft man nur dann, wenn investiert wird, und investiert wird nur dann, wenn Geld für Investitionen zur Verfügung steht. Deshalb kann ich nur immer wieder wiederholen: Wir brauchen eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland dergestalt, dass Gewinne, die für Investitionen und für Innovationen im Betrieb gelassen werden, also thesauriert werden, nicht mit dem Spitzensteuersatz, sondern mit maximal 25 Prozent besteuert werden. Denn wenn wir dann Geld in den Firmen haben, dann wird auch mehr investiert, dann kommt es zu Wachstum, dann kommt es zu mehr Beschäftigung und dann kommt es auch mittel- und langfristig zu mehr Steuereinnahmen beim deutschen Staat.
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Übrigens: Wenn wir die Steuern auf thesaurierte Gewinne – nicht auf Gewinne, die entnommen werden – auf 25 Prozent senken würden, käme es nach einer Studie des ifo-Instituts zu 15 Prozent mehr Wachstum; so würde sich diese Reform selbst finanzieren.
Wir können diskutieren über eine moderate Anpassung des Spitzensteuersatzes für sehr hohe Einkommen, wenn wir gleichzeitig den Solidaritätszuschlag abschaffen für alle und keine Substanzbesteuerung mehr vornehmen. Das ist meine persönliche Meinung. Ich habe hier zusammen mit meinem Kollegen Fritz Güntzler ein entsprechendes Papier erarbeitet. Aber das geht nur gleichzeitig mit einer Verschiebung der Steuerkurve nach rechts und einer deutlichen Entlastung für kleinere und mittlere Einkommen zur Entlastung der Krankenschwester, zur Entlastung des Busfahrers, zur Entlastung der jungen Familien. Und es geht auch nur – das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns –, wenn man es in Kombination mit einer notwendigen Reform und einer Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland macht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesamtkonzept ist es möglich, Freiraum zu schaffen für die kleineren und mittleren Einkommen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Vermögen aufzubauen. Deswegen ist es auch richtig, für selbstgenutzten Wohnraum einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer einzurichten. Das steht im Koalitionsvertrag. Wir würden es gerne umsetzen. Allein, derzeit fehlt der Wille beim Koalitionspartner.
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Also, deswegen wollen wir weiter kämpfen: Wir wollen kämpfen für mehr Wachstum, für mehr Beschäftigung, mit einem sinnvollen Konzept: Entlastung der kleineren und mittleren Einkommen, Entlastung derjenigen, die Geld reinvestieren. Und dann können wir auch über moderate Anpassungen reden. Ich glaube, das ist der richtige Weg, um Vermögen zu schaffen. Ich freue mich auf eine Diskussion auch in der kommenden Wahlperiode. Wir werden darüber im Wahlkampf, glaube ich, noch viel miteinander reden.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es irgendwie etwas eigenartig: Während sich Millionen Menschen Sorgen machen um ihre wirtschaftliche Zukunft und wie sie sie eigentlich bestehen können, macht sich die FDP Sorgen um die Zukunft der Reichen und der Millionäre in diesem Land.
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Das ist schon eine eigenartige Geschichte; das muss ich wirklich sagen.
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Und Ihre Häme, Herr Dürr, verstehe ich überhaupt nicht. Denn in der ersten Januarwoche sind im Zusammenhang mit 280 000 Anträgen rund 1,2 Milliarden Euro bewilligt worden. Bei der Dezemberhilfe sind 400 Millionen Euro bewilligt worden.
({2})
Wenn Sie wissen wollen, wie was schiefläuft, dann fragen Sie Herrn Pinkwart! Was soll diese Häme eigentlich? Es ist intellektuell ausgesprochen dürr, was Sie hier anzubieten haben.
({3})
Machen Sie sich im Übrigen keine Sorgen um die Vermögenden. Die Vermögen der Vermögenden schwinden auch in der Coronakrise nicht, ganz im Gegenteil.
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– Jetzt seien Sie mal ruhig!
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– Flegel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beruhigen Sie sich. Es ist schon spät. Ich verstehe das, aber trotzdem bitte ich Sie, sich zu beruhigen.
Genau. – Die „FAZ“ berichtet unter Bezug auf die Credit Suisse, dass in Deutschland die Zahl der Dollarmillionäre im letzten Jahr in der Coronazeit um 58 000 gestiegen ist. Man muss sich da also nicht unbedingt die Sorge machen, die Aufhebung des Vermögensteuergesetzes würde nicht dazu führen, dass sich irgendetwas ändert. Ihr Gesetzentwurf ist schlicht und einfach lächerlich, und nichts anderes.
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Niemand will das – Sebastian Brehm hat es nicht vorgeschlagen, und ich auch nicht. Das wird in dieser Legislaturperiode mithin auch nicht kommen. Ihr Popanz ist völlig unangebracht.
Wenn Sie schon über Ihren eigenen Antrag reden wollen, dann lassen Sie uns das noch mal nach der Abschaffung des Solis machen. Lasst die Leute doch mal einen Blick auf den Soli-Rechner des BMF werfen. Da werden sie sehen: Eine vierköpfige Familie wird bis zu einem zu versteuernden Betrag von 151 000 Euro keinen Soli mehr bezahlen und bis zu einem Betrag von bis zu 211 00 Euro nur noch in der Gleitzone sein. Diejenigen aber, die über dieser Grenze liegen, müssen einen Beitrag leisten. Und wissen Sie, warum? Weil in einer Demokratie Gerechtigkeit und Solidarität in der Krise Produktivfaktoren darstellen. Das haben Sie überhaupt noch nicht begriffen!
({1})
Das ist der entscheidende Punkt!
Dann kommt mal wieder die Grunderwerbsteuer. Sie wollen den Bund dazu verpflichten, dass er Ihre nicht eingelösten Versprechen zur Absenkung der Grunderwerbsteuer in Nordrhein-Westfalen erfüllen und dafür bezahlen soll. Das ist Ihr Trick. Senken Sie doch die Grunderwerbsteuer!
({2})
Sie sind in dieser Frage doch ein Politschwindler und nichts anderes. Das muss man mal klar und deutlich sagen.
({3})
Wir machen sehr viel zur Verbesserung der Vermögensbildung von Menschen, angefangen bei der Abschaffung des Solis für 90 Prozent der Zahler über die Erhöhung des Kindergeldes bis hin zu höheren Freibeträgen, 20 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Deutschland hat nicht das Problem, zu viele Vermögende zu haben, sondern, zu wenig Menschen zu haben, die Vermögen haben. – Ja, richtig, FDP. Aber die Schlussfolgerung daraus darf nicht sein, allein die Vermögenden zu schonen, sondern sollte sein, für mehr Gerechtigkeit in diesem Land zu sorgen.
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In der Sprache des sozialen Liberalismus heißt das: Gerechtigkeit bedeutet gleiche Freiheit für alle, nicht aber Freiheit nur für wenige.
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Das ist der Punkt, und darauf sollten Sie sich besinnen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Lockdown schränkt die Menschen gerade stark ein. Schulen und Kitas sind geschlossen, Restaurants und Theater auch. Die Menschen müssen in Zeiten von Corona auf viel verzichten, insbesondere auf Kontakte und Begegnungen. Die Wirtschaft aber bleibt in großen Teilen unangetastet. An vielen Orten wird gearbeitet, als gäbe es keine Pandemie. Und genau das können viele Menschen einfach nicht mehr verstehen.
({0})
Gleichzeitig sind die Infektionszahlen extrem hoch, die Intensivstationen sind voll, und immer mehr Menschen sterben. Wir müssen also diese Coronawelle endlich brechen, und das geht nur, wenn wir die Kontakte noch mehr reduzieren. Deshalb fordern wir heute eine Arbeitsschutzverordnung, mit der die Arbeitgeber verpflichtet werden, Homeoffice zu ermöglichen.
({1})
Mehr Homeoffice reduziert nicht nur die Kontakte; Homeoffice führt auch dazu, dass die öffentlichen Verkehrsmittel leerer werden. So werden auch diejenigen geschützt, die weiterhin zu ihrem Arbeitsplatz fahren müssen, weil sie eben im Krankenhaus, bei der Polizei oder im Supermarkt arbeiten. Mehr Homeoffice in den Unternehmen und natürlich auch im öffentlichen Dienst schützt uns als Gesellschaft und insbesondere auch solidarisch die Beschäftigten, die eben nicht im Homeoffice arbeiten können.
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Wir wollen die Beschäftigten natürlich nicht verpflichten, im Homeoffice zu arbeiten. Wer nicht will und wegen der Art der Tätigkeit nicht kann, muss stattdessen im Unternehmen den bestmöglichen Infektionsschutz erhalten. Wer aber zu Hause arbeiten kann und will, der soll auch tatsächlich die Möglichkeit bekommen, im Homeoffice zu arbeiten. Genau das ist unsere zentrale Forderung.
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Natürlich wissen wir, dass es viele Unternehmen gibt, die den Infektionsschutz supergut beachten und Homeoffice ganz selbstverständlich anbieten. Aber es gibt auch Unternehmen, die ihren Beschäftigten keine Wahl lassen, und das sind in Zeiten von Corona zu viele. Das Magazin „Zeit Online“ hat gefragt: „Müssen Sie weiterhin ins Büro?“ In kurzer Zeit, in wenigen Stunden, haben mehr als 1 000 Menschen darauf geantwortet, in den meisten Fällen mit Ja. Die Aussagen waren etwa: Wir müssen ins Büro, aber ohne eine Begründung, warum. – Man macht Druck auf uns, dass wir präsent sind. – Ich gehöre zur Risikogruppe und muss trotzdem im Büro arbeiten. – Und – ganz wichtig; Zitat –: „Solange es keine gesetzliche Regelung gibt, wird Homeoffice hier nicht erlaubt werden.“ Genau diese Unternehmen brauchen klare politische Vorgaben, und zwar eine Arbeitsschutzverordnung; denn sie lassen sich von Appellen allein nicht beeindrucken.
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Das ist wichtig; denn Homeoffice kann die Coronainfektionen signifikant reduzieren. Das haben die Ökonomen von der Universität Mannheim gezeigt: 1 Prozent mehr Homeoffice senkt die Infektionsrate um 4 Prozent bis 8 Prozent. Wenn heute genauso viele Beschäftigte zu Hause arbeiten würden wie im ersten Lockdown im März/April letzten Jahres, dann könnte die Infektionsrate halbiert werden. Homeoffice ist also eine Chance, und die sollten wir nutzen.
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Wenn wir mehr Homeoffice fordern, dann stellen wir natürlich nicht alle Unternehmen unter Generalverdacht, und wir wollen auch keinen wirtschaftlichen Lockdown. Im Gegenteil: Wir wollen damit die Zahl der Kontakte reduzieren und gleichzeitig die Wirtschaft am Laufen halten. So kommen wir schneller durch die Pandemie. Das muss doch unser gemeinsames Ziel sein.
({6})
Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz gibt es seit dem 1. Januar 2021, also seit 14 Tagen, eine Rechtsgrundlage, mit der das Arbeitsministerium ohne Bundesregierung und ohne Bundesrat eine solche Verpflichtung zum Homeoffice ganz schnell umsetzen könnte, und zwar bundesweit und damit einheitlich. Also, bitte nutzen Sie diese Möglichkeit! Bitte nutzen Sie Homeoffice zur Bekämpfung der Coronapandemie!
Vielen Dank.
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Auf den weiten Weg von dort hinten im Saal nach hier vorn macht sich jetzt der Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren hier im Saal und draußen an den digitalen Endgeräten! Liebe Grüne, Ihr Antrag ist ganz genau von vorgestern. In der Coronakrise geht ja alles ganz schnell, und da kann es irgendwie schon mal passieren, dass auch ein relativ neuer Antrag vom letzten Dienstag nicht mehr ganz aktuell ist.
Am Dienstag haben Sie ihn formuliert, und schon heute, am Donnerstag, also ganze zwei Tage später, ist die dritte Ihrer drei Forderungen in einem hier verabschiedeten Gesetz aufgegriffen worden. Wir haben hier vor wenigen Stunden darüber diskutiert und es dann verabschiedet: das erhöhte und vereinfachte Kinderkrankengeld. Die Debatten, die wir vorhin dazu geführt haben, müssen wir ja jetzt nicht wiederholen.
Kommen wir deswegen zu Ihrer anderen Forderung. Sie wollen gesetzlich vorschreiben, dass alle Bürotätigkeiten ins Homeoffice wechseln.
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– In Ihrer Rede klang das ein wenig anders. – Wenn die Art der Tätigkeit es zulässt, so schreiben Sie in Ihrem Antrag, dann soll man damit in das Homeoffice wechseln müssen. So ist Ihr Antrag zu verstehen; sonst macht er ja gar keinen Sinn.
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– Sie haben den Antrag vor zwei Tagen geschrieben. Wir haben ihn alle so gelesen. Wenn Sie das so nicht meinen, dann sind wir uns schon mal ein Stück näher.
Ihr Antrag ist aber auch deswegen ein typischer Oppositionsantrag,
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weil er einen wichtigen Faktor erwähnt, aber nicht wirklich aufgreift. Die größten Defizite beim Thema Homeoffice hat nämlich leider der öffentliche Dienst, und zwar auch in den zwölf Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren.
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– Ja, das steht mit einem Satz darin, dass der öffentliche Dienst nicht vorbildlich sei. Punkt. Aber die Frage, wie wir das ändern, kommt da in keinem Satz vor. Und ehrlich gesagt ist meine Auffassung, dass wir Politiker uns immer auch an die eigene Nase fassen müssen.
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Kollege Heilmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir dürfen nicht von anderen etwas verlangen, was wir selber nicht erfüllen können. – Gerne eine Zwischenfrage.
Herr Kollege, ich habe wirklich eine ganz kurze Frage. Wenn es eine Arbeitsschutzverordnung gibt, würden Sie mir zugestehen, dass sie dann für den öffentlichen Dienst und die Behörden genauso gilt wie für alle anderen Arbeitsstätten auch und dass Ihre Argumente von eben deswegen nicht zusammenpassen?
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Ihre Fragestellung ist leicht verwirrend, weil dann, wenn man alle diejenigen ins Homeoffice schickt, wo es geht, wie Sie sagen, im öffentlichen Dienst ja das Problem da entsteht, wo es keine digitale Akte gibt, oder da, wo es wie in Berlin noch nicht mal für 10 Prozent der Leute eine VPN-Leitung gibt. In der Logik Ihres Antrags müsste man dann sagen: Es geht leider nicht. Und dann können alle im öffentlichen Dienst noch weiter in ihren Büros bleiben. Und das führt ja dann in der Logik Ihres Antrags dazu, dass sie eben doch nicht ins Homeoffice müssen. Und das kritisiere ich, dass Sie Missstände im öffentlichen Dienst hinsichtlich der Bestrebungen, wie wir mehr Leute ins Homeoffice kriegen, zwar mit einem Wort erwähnen, im Zweifel aber keinerlei Lösungsperspektive aufzeigen. Und das, ehrlich gesagt, ist für eine Partei, die regieren will, nicht genug.
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Unabhängig von der Frage, wie man mit dem öffentlichen Dienst umgeht, hat Ihr Antrag noch einen zweiten Nachteil; denn er liest sich so – auch bei Ihrer Rede, Frau Müller-Gemmeke, die ich gerade hörte, entstand der Eindruck –, als wenn Sie sagen wollten: Nun, die Privaten haben einen Lockdown, Theater und Kultur haben einen Lockdown, die Schulen haben einen Lockdown, und die Wirtschaft muss jetzt auch einen Lockdown kriegen. – So liest sich das ja, obwohl das nicht genau so da drinsteht.
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– Na ja, wissen Sie, in der Kommunikation ist es immer so, dass Sie nicht das voraussetzen können, was sich der Absender vielleicht gedacht hat, sondern in Rechnung stellen müssen, wie es beim Adressaten ankommt. Und ehrlich gesagt, anders kann man das nicht lesen.
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Frau Müller-Gemmeke, Sie haben gerade gesagt – –
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– Nun quatschen Sie doch nicht die ganze Zeit dazwischen!
Leute, wir wollen doch fertig werden. Jetzt beruhigen Sie sich doch bitte.
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Frau Müller-Gemmeke, Sie haben gerade gesagt, es würde gearbeitet, als wenn es keine Pandemie gäbe. – Ehrlich gesagt, das trifft überhaupt nicht meine Beobachtungen. Ich kenne in Berlin überhaupt keinen Betrieb, der für seinen Bürobetrieb nicht irgendeine Form von Pandemiekonzept hat. Ich kenne gar keinen.
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Ich lese auch in den sozialen Medien oder in irgendwelchen nicht repräsentativen Umfragen wie in der „Zeit“, dass es offensichtlich solche Fälle geben soll,
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und dann müssten wir gegen diese Fälle in der Tat etwas tun. Da brauchen wir aber wirklich keine Arbeitsschutzverordnung.
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Ich glaube, dass das, was der Bundespräsident morgen zusammen mit dem DGB und dem BDA vorhat, der erste richtige Schritt ist, nämlich: Wir führen jetzt in einem Appell allen Beschäftigten und allen Arbeitgebern vor Augen,
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wie wichtig das Thema Homeoffice ist – da sind wir uns ja einig –, und fordern sie auf, dass sie da mehr tun sollen.
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In der Tat brauchen wir mehr Homeoffice. Wir brauchen natürlich auch mehr Schichtdienste, und wir brauchen mehr Testungen.
Ihr Antrag spielt ja ein bisschen auf die Frage an, ob die Mutationen uns nicht noch mal zu weiteren Maßnahmen zwingen werden.
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Das ist heute Abend noch nicht mit Gewissheit zu sagen. Ich glaube, wir hoffen alle, dass das nicht notwendig ist.
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– Aber wenn das so ist, dass Ihr Antrag präventiv ist, dann hätten Sie es reinschreiben sollen. – Wenn dem so wäre, dann gäbe es aus unserer Sicht bessere Maßnahmen.
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Wie wäre es denn mit einer Obergrenze für das gleichzeitige Nutzen von Büros? Das machen ja auch viele. Ich kenne eine Anwältin, die kommt morgens um 5 Uhr und ist um 9 Uhr wieder raus aus ihrem Büro, damit dann eine Angestellte da arbeiten kann.
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Die regeln das halt mit so einer Schichtlösung. Da steht aber in Ihrem Antrag nicht drin.
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Ich persönlich kann mir vorstellen, dass wir sagen: Wir entzerren das weiter, wir entzerren das auch in Produktionsbetrieben. Wie damals beim gestaffelten Schulbeginn wollen wir einen gestaffelten Schichtbeginn.
Nun muss man sagen, dass viele, viele Großbetriebe ja schon sehr gute Konzepte haben und auch noch intensiv Statistik darüber führen. Ein DAX-Konzern rechnet vor, dass nur 5 Prozent derjenigen in der Belegschaft, die mit Corona infiziert sind, sich auch im Betrieb angesteckt haben. Das heißt, das Risiko draußen ist größer als das Risiko drinnen mit Pandemiekonzept.
Wenn es schlecht laufen sollte, dann wäre es aus meiner Sicht richtig, dass wir neben der Obergrenze für das Büro und Homeoffice-Geboten – das ist ja das Thema Ihres Antrags – weitere Pandemiekonzepte erwarten. Ich warne davor, die Wirtschaft in weitem Umfang runterzufahren. Das wird alles noch viel teurer als das vorherige – auch mit unglaublichen sozialen Folgen, nicht nur wirtschaftlichen Folgen.
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Und ich warne davor, dass ein Lockdown auch für Europa schlechte Folgen hat. Der Lockdown der deutschen Wirtschaft führt dazu, dass wir faktisch die Lieferketten für ganz Europa unterbrechen werden.
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Insofern: Ich verstehe die Intention Ihres Antrags, aber ich kann ihm leider nicht zustimmen.
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Als nächster Redner kommt jetzt der Kollege Jürgen Pohl für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Werte Zuschauer an den TV-Geräten und werte zwei Gäste! Der vorliegende Antrag der Grünen „Homeoffice-Gebot … konsequent durchsetzen“ ist schlichtweg abzulehnen. Schon der Titel ist verräterisch und zeigt, in welchen pseudomoralischen Gefilden die Grünen inzwischen mäandern.
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Das elfte Gebot „Du hast Recht auf Homeoffice“ brachte uns nicht Moses, sondern realitätsferne grüne Politiker, die als ideologische Fantasten fern der gesellschaftlichen Praxis unterwegs sind.
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Derartige moralisch verbrämte Universalansprüche kennen wir bereits aus der grünen Klimareligion.
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– Kennen wir.
In dieser besonderen Notsituation, in die die Bundesregierung Wirtschaft und Gesellschaft hineingelenkt hat,
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wirkt die quasi hypermoralische Forderung, im Sinne eines elften Gebotes, nach Homeoffice nicht nur deplatziert, sondern ist vielmehr die Eröffnung des Wahlkampfes seitens der Grünen.
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Werte Kollegen, worum geht es heute eigentlich? Arbeiten im Homeoffice oder Telearbeit bietet, wenn klug organisiert, für eine begrenzte Zahl von Arbeitnehmern für eine begrenzte Zeitspanne die Gelegenheit, menschliche Arbeit flexibler zu gestalten. Jedoch ist Homeoffice in vielen Bereichen der Produktion, des Handwerkes und auch der Dienstleistungsbranche schlichtweg unmöglich.
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Arbeitsabläufe im Rahmen des Homeoffice bedürfen einer besonderen Arbeitsorganisation. Das heißt, sie müssen im Einzelnen aufwendig – und, liebe Grünen, das heißt kostenintensiv – abgestimmt und geplant werden. Folglich sollte die Beurteilung von Homeoffice und dessen Handhabe auch allein den Betriebspartnern überlassen bleiben: den Betriebsräten, den Arbeitgebern.
Selbstverständlich bleibt es den Tarifparteien vorbehalten, im Rahmen der Tarifautonomie entsprechende Regelungen in Rahmenrichtlinien und Tarifverträgen zu vereinbaren. Eine generelle bußgeldbewehrte Verpflichtung jedoch, die den Arbeitgeber zwingt, Arbeitnehmer ins Homeoffice zu schicken, birgt allerdings erhebliche Nachteile für die Beschäftigten selbst. Vorrangig liegt nämlich die Pflicht zur Gesunderhaltung und zu entsprechendem Arbeitsschutz bei der Regierung und bei den Arbeitgebern. Sie haben die Voraussetzung für ein gesundes Arbeiten im Betrieb zu schaffen.
Darüber hinaus gefährden der erzeugte Bürokratieaufwuchs und die geforderte Denunziationshotline das Fortbestehen der eh schon existenzbedrohten Betriebe und damit auch deren Arbeitsplätze. Kurzum: Das grüne Homeoffice-Gebot gefährdet die Arbeitsplätze!
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Man merkt deutlich: Der vorliegende Antrag ist das Machwerk realitätsferner Gesellschaftsplaner,
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die die Bedürfnisse des modernen Arbeitnehmers gänzlich aus den Augen verloren haben. Vielmehr dient die von den Grünen geforderte Homeoffice-Breitenlösung vorwiegend dem Interesse des Arbeitgebers. Es droht die Ausdehnung der Arbeitszeit, die Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit, sodass die Arbeitnehmer massiv in die gesundheitsgefährdende Ausbeutung, nämlich Selbstausbeutung, getrieben werden. Von einem familienfreundlichen Rechtsanspruch auf Nichterreichbarkeit des Arbeitnehmers im Homeoffice steht im Antrag vorsorglich erst gar nichts drin.
Abschließend: Die populistische Forderung der Grünen, die Beamten und Besserverdienenden ins Homeoffice zu senden,
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um deren Work-Life-Balance zu verbessern, dient einzig und allein dem Umgarnen der besserverdienenden Wählerschicht.
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Eins ist gewiss, meine Damen und Herren: Die mühselig beladenen Arbeitnehmer, die unter widrigsten Bedingungen in den Betrieben weiterarbeiten, und natürlich die Besserverdienenden sind bei uns in der AfD als Partei der Arbeitnehmer herzlich willkommen.
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Zum Schutz der deutschen Arbeitnehmerschaft erteilen wir den grünen Sozialexperimenten eine klare Absage!
Ich bedanke mich bei Ihnen. Frohes Aufregen!
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Und schon geht’s weiter. – Die Kollegin Kerstin Tack hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht haben wir in dieser Pandemie mit der Herausforderung an das gemeinsame solidarische Zusammenstehen die größte Herausforderung der letzten Jahrzehnte. Deshalb ist es auch richtig, zur Bewältigung dieser Krise über jede Maßnahme nachzudenken und zu streiten, die es ermöglicht, Kontakte zu reduzieren und auch im Interesse der Wirtschaft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund zu halten oder nicht krank werden zu lassen.
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Deshalb ist es auch richtig, dass wir über Homeoffice diskutieren. Es war auch richtig, dass die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten den Unternehmen den dringenden Rat gegeben hat, in diesem erneuten Lockdown für so viel Homeoffice wie möglich zu sorgen. Und wir machen uns ernste Sorgen darüber,
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dass das häufig nur bedingt genutzt und ermöglicht wird; denn dazu gehören ja beide Seiten. Deshalb ist es auch richtig, dass wir alles dafür tun, dass diese Möglichkeit der Kontaktbeschränkung mehr als heute genutzt wird.
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Wenn die Zahl der Infektionen nicht runtergeht oder vielleicht sogar steigt: Ja, dann werden wir mehr Maßnahmen brauchen, sowohl im Arbeitsleben als auch andere Maßnahmen zum Schutz unserer Bevölkerung.
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Insbesondere – das will ich auch sagen – ist es im Eigeninteresse eines jeden Unternehmens, dafür zu sorgen, dass es auch nach acht Wochen noch die Beschäftigten gibt, die sie heute haben. Deshalb müssen die Unternehmen ein eigenes Interesse daran haben, dass ihre Beschäftigten so wenig Kontakte wie möglich haben. Da eignet es sich, darauf zu achten: Wie kommen meine Beschäftigten in den Betrieb? Was ist im Betrieb an Kontaktarmut möglich? Was kann ich tun, damit meine Beschäftigten, für die ich eine Verantwortung habe, die Chance haben, in den nächsten Wochen möglichst gesund durch diese Krise zu kommen? Wir machen uns für unsere Mitarbeitenden diese Gedanken, und jedes Unternehmen – das können wir erwarten – muss und soll sich diese Gedanken auch machen.
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Da ist Homeoffice eine von mehreren Möglichkeiten, kontaktarm durch die nächsten Wochen zu kommen.
Ich habe den Antrag der Grünen so verstanden, dass es um die nächsten Wochen geht. Ich will gar nicht ausschließen, dass wir in den nächsten Wochen verschärfte Maßnahmen nicht nur im Arbeitsleben brauchen werden. Niemand von uns kann das heute seriös ausschließen, aber wir hoffen sehr, dass das nicht nötig wird.
In diesem Sinnen wollen natürlich auch wir, dass Homeoffice nicht nur irgendwas ist, sondern ein gut abgesicherter Umstand. Ja, wir wollen ein Recht auf Homeoffice.
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Wir wollen gute Mitbestimmung. Wir wollen gute Arbeitsschutzbestimmungen. Wir wollen den Unfallschutz berücksichtigt sehen.
Ihre Redezeit ist beendet.
Jetzt in der Krise aber wollen wir, dass Homeoffice so vielen wie möglich – ich bin fertig – ermöglicht wird. Und bitte, wenn es dazu Verschärfungen bedarf, dann müssen wir diese machen, auch wenn wir das eigentlich nicht wollen. Deshalb der dringende Appell, jetzt die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, damit wir zu weiteren Schritten nicht gezwungen werden.
Herzlichen Dank.
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Der Nächste: der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade im Lockdown sollte mobiles Arbeiten und Homeoffice überall dort ermöglicht werden, wo es irgend geht; das sage ich ganz klar. Ich habe auch kein Verständnis für Arbeitgeber, die sich Homeoffice verweigern, auch wenn es betrieblich möglich wäre. Ich bin auch dankbar, wenn einzelne Journalisten, wenn Menschen auf Twitter auf Einzelfälle hinweisen und damit problematisieren. Wofür ich aber kein Verständnis habe, ist, dass ebenso auf Twitter zum Beispiel Homeoffice mit stumpfem Unternehmer-Bashing verwechselt wird.
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Wir brauchen mehr Homeoffice, aber weniger Kapitalismuskritik.
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Liebe Kollegin Beate Müller-Gemmeke, die Wirtschaft bleibt auch nicht unangetastet. Die Wirtschaft, das sind vielmehr wir alle. Das sind die Selbstständigen, die wir kennen. Das ist die Gastronomin um die Ecke. Das sind die vielen Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und die derzeit um ihre Existenz ringen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ansteckungen und Auswirkungen zu minimieren: Das ist, ehrlich gesagt, unser aller Verantwortung, weil wir uns sonst keine Impfstoffe leisten können, sonst keine Hilfspakete auflegen können und sonst als Gesellschaft auch nicht mit einem guten Gesundheitssystem durch diese Krise kommen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich muss ganz ehrlich sagen: Leider hilft Ihr Antrag hier auch nicht so wirklich weiter; denn außer Bußgeld fällt Ihnen nicht so richtig viel ein.
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Wenn man aus pandemischen Gründen der Meinung ist, man muss beim Homeoffice zu einer Verpflichtung übergehen, dann muss man auch so ehrlich sein und sagen: Das gilt dann nicht nur für die Unternehmen, sondern dann dürfen sich das auch die Beschäftigten bei den Arbeitsplätzen, wo Homeoffice betrieblich möglich ist, natürlich nicht mehr aussuchen können. So ehrlich muss man dann sein. Das trauen Sie sich aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Das lehnt auch der DGB aus guten Gründen ab. Das ist aber eine Frage der politischen Ehrlichkeit, sich hier dann auch so offen zu machen.
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Klar ist: Wir sind mitten in einer gefährlichen Pandemie, und – da stimme ich der Kollegin Kerstin Tack zu – niemand kann verantwortlich irgendeine Maßnahme, die Kontakte reduzieren kann, sicher ausschließen, weil keiner die Entwicklung der nächsten Tage kennt. Vielleicht ist dann aber eine Pflicht, zum Beispiel für diejenigen, die mit dem Fahrrad ins Einzelbüro fahren, gar nicht der entscheidende Hebel. Es lässt einen gewissen Rückschluss zu, dass die Länder, die diesen Weg in den letzten Wochen gegangen sind – Frankreich oder Belgien zum Beispiel –, nach den Daten, die uns vorliegen, gar nicht mehr Homeoffice-Nutzung haben, als das zum Beispiel in den Niederlanden schon im ganzen letzten Sommer der Fall war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, vielleicht ist die Pflicht zum Homeoffice gar nicht die entscheidende Frage, sondern vielleicht ist der entscheidende Punkt für mehr Homeoffice, dass wir in der Politik endlich unsere Hausaufgaben machen. Sie von der Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Ihre Hausaufgaben machen. Denn immer noch drängen Sie Unternehmen in rechtliche Grauzonen, wenn Homeoffice praktiziert wird. Das verunsichert gerade kleine und mittlere Unternehmen. Immer noch haben Sie ein Arbeitszeitgesetz, was gar nicht zur Homeoffice-Realität passt.
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– Das ist so, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Immer noch ist es so, dass Beschäftigte, wenn sie sich zu Hause den Arbeitsplatz erst einrichten müssen, weil sie vielleicht gar keinen richtigen Schreibtisch haben, das komplett selbst finanzieren müssen, weil Sie von der Koalition eine Homeoffice-Steuerpauschale ablehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, machen Sie erst mal diese Hausaufgaben! Das wäre die vordringlichste Aufgabe der Politik. Das können wir von den Niederlanden lernen; und die liegen bei der Nutzung von Homeoffice in Europa ganz vorne. Das wäre die erste Aufgabe, die wir uns jetzt in den nächsten Wochen vornehmen sollten.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Jessica Tatti.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt auf der Hand: Mit Homeoffice können Beschäftigte vor Ansteckungen mit Covid-19 geschützt werden. Im April, also in der ersten Welle der Pandemie, haben fast 30 Prozent der Beschäftigten von zu Hause aus gearbeitet. Im November waren es nicht mal mehr 15 Prozent – und das, obwohl die Bundesregierung mehrfach appelliert hatte, Homeoffice breitflächig anzubieten. Das heißt, die Strategie, auf die Freiwilligkeit der Arbeitgeber zu setzen, ist krachend gescheitert; und das geht so nicht weiter.
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Es ist für niemanden nachvollziehbar, dass allein die privaten Kontakte auf das absolute Minimum beschränkt werden, während Millionen weiterhin in vollen Bussen und Bahnen zur Arbeit fahren. Die Bundesregierung tut gerade so, als ob das Virus am Werkstor haltmacht. Deshalb ist es richtig, dass Arbeitgeber für die Dauer der Pandemie verpflichtet werden, im Interesse ihrer Beschäftigten Homeoffice anzubieten – überall, wo das möglich ist.
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Dafür sind dann auch die Voraussetzungen zu schaffen, etwa durch das Stellen von notwendigen Arbeitsmitteln wie digitalen Endgeräten.
Herr Vogel, ja, neben einer Verpflichtung sind auch Kontrollen und Bußgelder wichtig, wenn die Unternehmen dem nicht nachkommen. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Grünen zu, auch wenn ich ein bisschen Bauchschmerzen habe; denn offen bleibt, wer konkret und nach welchen Kriterien entscheidet, wer von zu Hause aus arbeitet und wer nicht. Eine pauschale Lösung für alle Betriebe und Branchen gibt es nicht. Das Infektionsrisiko ist in einem Großraumbüro anders zu bewerten als in einem sehr kleinen Betrieb, in dem jeder Beschäftigte ein eigenes Büro hat. Und nicht nur Homeoffice, sondern auch versetzte Arbeitszeiten können sinnvoll sein. All das darf nicht einseitig durch die Arbeitgeber bestimmt werden. Damit das funktioniert, braucht es mehr Mitbestimmung in den Betrieben.
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Die Beschäftigten und die Betriebsräte müssen hier eingebunden werden.
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir dürfen diejenigen nicht vergessen, die überhaupt keine Möglichkeit haben, ins Homeoffice zu gehen. Das sind weit mehr als die Hälfte der Beschäftigten. Sie arbeiten in der Pflege, im öffentlichen Nahverkehr, in den Supermärkten, und sie haben mit dieser Homeoffice-Debatte, die wir hier gerade führen, überhaupt nichts am Hut. Ein Gewerkschafter der IG Metall drückte es mir gegenüber so aus – ich zitiere –: Während die Politik über Homeoffice philosophiert, arbeiten die Leute am Band Arsch an Arsch.
Homeoffice hilft hier nicht. Arbeitgeber müssen also auch gezwungen werden, überall die Arbeit in den Betrieben, in den Büros, in den Läden infektionssicher zu machen.
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Denn viele Betriebe haben noch immer kein oder kein ausreichendes Konzept, ihre Beschäftigten vor Ansteckungen zu schützen. Und wenn es Konzepte gibt, wird die Durchsetzung nicht ausreichend kontrolliert. Sanktionsmöglichkeiten fehlen weitgehend. Muss man sich da also wundern, wenn die Infektionszahlen nicht wirklich sinken?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der Leerstellen: Der Antrag geht in die richtige Richtung. Die Ausdehnung von Homeoffice ist im Moment der gebotene Weg, wenn es dem Wunsch der Beschäftigten entspricht.
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Der Kollege Stephan Stracke nähert sich dem Mikrofon. – Sie haben das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Homeoffice überall dort, wo es geht, ist die richtige Strategie, um dem Infektionsgeschehen im beruflichen Alltag letztendlich wirksam zu begegnen. Mehr mobile Arbeit als bisher, das muss der Anspruch sein.
Darüber hinaus muss weiterhin mit größter Sorgfalt auf die Einhaltung der Arbeitsschutzstandards geachtet werden.
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Das ist auch das zentrale Ergebnis des gestrigen Homeoffice-Gipfels von Markus Söder mit den Sozialpartnern in Bayern. Es braucht keine Homeoffice-Pflicht per Gesetz; darin waren sich alle Gesprächspartner einig. Mehr mobile Arbeit im Homeoffice ist vielmehr eine Aufgabe der Wirtschaft, aber nicht nur der Wirtschaft, sondern natürlich auch der öffentlichen Arbeitgeber. Deswegen ist natürlich die Erwartungshaltung, dass auch die öffentliche Hand entsprechend vorangeht und mehr Homeoffice bereitstellt, richtig. Es ist gut, dass Bayern in diesem Bereich tatsächlich auch vorangehen will. Das löst auch einen Digitalisierungsschub aus, der weit über diese Pandemie hinausreichen wird, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Das mobile Arbeiten hat seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 deutlich zugenommen. So hat etwa jeder vierte Betrieb in Deutschland im Zuge der Covid-19-Pandemie die Möglichkeit für Homeoffice und Telearbeit für die Beschäftigten erleichtert, und gut jeder dritte Beschäftigte arbeitet derzeit im Homeoffice. Das zeigt: Die Unternehmen und die Beschäftigten stellen sich den Herausforderungen. In den Betrieben gelten hohe Standards zum Schutz der Beschäftigten vor dem Coronavirus. Die Arbeitsschutzregel konkretisiert letztendlich hier diesen hohen Standard mit insgesamt 17 Punkten, und Homeoffice ist einer von 17. Das heißt: Homeoffice ist kein Allheilmittel, sondern Teil einer Gesamtstrategie, um das Infektionsrisiko für die Beschäftigten zu senken und Neuinfektionen im betrieblichen Alltag zu verhindern.
Die Arbeitsschutzregeln werden insgesamt, finde ich, sehr erfolgreich umgesetzt.
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Vollzugsdefizite und Beanstandungen, die grundlegender Art sind, sind mir nicht bekannt. Das zeigt: Die betrieblichen Schutzmaßnahmen sind insgesamt erfolgreich. So ist die Infektionsgefahr in den Betrieben, Frau Müller-Gemmeke, nachweislich gering.
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Das zeigt, dass die Schutzmaßnahmen in diesem Bereich durchaus wirken. Die Arbeitgeber haben im Übrigen auch ein hohes Eigeninteresse, dass es dabei bleibt. Jeder möchte nämlich, dass sein Betrieb entsprechend läuft, und niemand möchte, dass es letztendlich flächendeckend zu Schließungen kommt, wie wir es im Frühjahr des letzten Jahres erleben mussten.
Allerdings sehen wir natürlich auch, dass die Mutationslage uns Sorgen bereiten wird. Deswegen ist nicht auszuschließen, dass hier die Arbeitsschutzstandards und ‑regeln noch mal angepasst werden, beispielsweise was den Gebrauch von FFP2-Masken angeht oder was Abstände betrifft und vieles mehr. Aber neue gesetzliche Pflichten sind nicht sinnvoll. Sie führen nur zu mehr Unsicherheit, mehr Frustration und mehr Bürokratie.
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Ein Beispiel: Mobile Arbeit hat natürlich faktische Grenzen, etwa in der Produktion, im Handwerk,
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im geöffneten Einzelhandel, in der Gastronomie. In Bayern sind rund 45 Prozent der Betriebe überhaupt nicht für Homeoffice geeignet bzw. da ist es nicht möglich. Soll man jetzt erst mal dokumentieren, wo es überall möglich ist und wo nicht? Dann wird die Pandemie rum sein, bevor man seine Dokumentationspflichten erfüllt hat. Deswegen muss nicht „mehr dokumentieren“, sondern „mehr machen“ die Devise sein. Da fallen die Grünen wieder in alte Reflexe hinein, nämlich zunächst einmal zu verbieten, statt einfach auf Anreize zu setzen.
Genau das ist unser Ansatzpunkt: Anreize statt Verbote. Denn mobiles Arbeiten ist durchaus voraussetzungsstark,
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gerade was die technischen Voraussetzungen angeht. Es geht um mobile Endgeräte, Softwareprogramme, es geht um technologische Rahmenbedingungen, eine funktionierende IT-Infrastruktur, die sicher und stabil sein muss. All das funktioniert nicht per Knopfdruck, sondern kostet natürlich auch noch viel Geld. Dieser Aufgabe stellen sich die Unternehmen. Aber ihnen Anreize zu bieten, sie zu unterstützen bei dieser herausfordernden Aufgabe mit steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, ist extrem wichtig. Und der Ministerpräsident Markus Söder hat ja hierzu auch entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich halte sie für sehr, sehr gut.
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Auch dass beispielsweise Bundesminister Scheuer den Vorschlag gemacht hat, für Haushalte mit schlechter Internetverbindung zusätzliche Zuschüsse für einen Satellitenanschluss zu organisieren, zeigt: Schnelligkeit und Kreativität sind in diesen Bereichen gefragt. Das zeichnet uns aus, weil es uns darum geht, letztendlich diese Pandemie wirkungsvoll zu bekämpfen. Das tun wir zusammen mit der Wirtschaft und dem Staat.
Herzliches Dankeschön.
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Vielen Dank, Stephan Stracke. – Die voraussichtlich letzte Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Martin Rosemann hat vorhin hier – da ging es um das Thema SGB II – das Märchen von Hase und Igel bemüht. Er erzählte von dem grünen Hasen, der sehr viel Wichtiges fordert, und von dem roten Igel Hubertus, der ruft: „Ick bin allhier.“
Ein bisschen ist es jetzt der Teil 2 zum Thema Homeoffice und auch zum Thema Arbeitsschutz; denn Hubertus Heil hat sich das Thema Homeoffice nun wirklich nicht erst seit gestern auf die Fahne geschrieben. Er hat eine Initiative zum Homeoffice auf den Weg gebracht. Auch das Thema „Arbeitsschutz während der Pandemie“ steht bei ihm ganz oben auf der Agenda. Wir haben gemeinsam das Arbeitsschutzkontrollgesetz mit breiter Mehrheit beschlossen. Der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard gilt, und die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel gilt seit August. Da steht extrem viel drin zum Thema „mehr Homeoffice“, aber auch dazu, wie man die Menschen schützen kann, die eben nicht im Homeoffice arbeiten können. Daran sieht man, dass im Arbeitsministerium jemand sitzt, der an der Seite der Beschäftigten steht und versucht, ihre Gesundheit zu schützen.
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Ebenjener Hubertus Heil hat gestern mit Personalern der großen Unternehmen gesprochen und ist einen ganz massiven Appell losgeworden. Denn ja: Wo man Homeoffice machen kann, muss das auch passieren, und die meisten Unternehmen wissen aus eigener Erfahrung: Da bricht nicht alles zusammen. In Wahrheit läuft dann manches sogar besser.
Ein weiteres Zögern und Zaudern werden wir als Deutscher Bundestag hier jedenfalls nicht unkommentiert stehen lassen können; denn das verlängert den Lockdown für uns alle und auch für die deutsche Wirtschaft. Der Spaß bei exponentiellem Wachstum und eben auch Schrumpfung ist, dass schon kleine Änderungen im Exponenten einen großen Ausschlag, also eine stärkere Verlängerung oder Verkürzung, ergeben können.
Also, liebe Wirtschaft: Ich lobe erst mal all diejenigen, die ihre Beschäftigten schon ins Homeoffice geschickt haben. Aber alle anderen, bitte erklärt nicht nur uns, was wir zu tun haben, sondern überlegt mal selber, was ihr tun könnt.
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– Ich sehe, Matthias Zimmer, sehr viele Abgeordnete allein im Büro, und es funktioniert. Ich habe viel gelernt. Es hat einen Digitalisierungsschub bei mir im Büro gegeben. Ich sage allen Arbeitgebern: Probiert es mal aus. Es nützt euch nämlich selbst am meisten, weil eure Beschäftigten gesund bleiben und der Lockdown endlich schneller gelockert werden kann. Es nützt uns als gesamter Gesellschaft.
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Sicher wäre ein Recht auf Homeoffice das probateste Mittel; Hubertus Heil hat es jetzt nicht in der Regierung durchsetzen können. Er hat aber viele Vorschläge gemacht, die auch in der Pandemie Sinn machen, etwa zur Wegefrage, also dazu, den Unfallschutz zu klären, auch dazu, die Rechte von Beschäftigten im Homeoffice zu klären. Ich hoffe, dass wir das hier weiter besprechen werden.
Meine Erfahrung ist jedenfalls: Es funktioniert gut. Es macht Beschäftigte auch glücklich. Aber meine Beschäftigten wären auch sehr glücklich, wenn sie, weil die Inzidenzzahlen nach unten gegangen sind, endlich ihre Mitarbeiterinnen und Kollegen mal mit einem guten Gefühl wiedersehen. Dafür tragen wir alle eine Verantwortung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.