Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/17/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt vor Weihnachten, und wir haben gemeinsam mit dem Koalitionspartner ein Paket geschnürt, aufbauend auf einem Vorschlag für das EEG, für den die Bundesregierung, insbesondere das Haus von Peter Altmaier, eine gute Vorbereitung geliefert hat. Wir haben es im parlamentarischen Verfahren noch besser gemacht. Was machen wir? Wir stärken den Markt und stärken die Ausbauperspektive für die erneuerbaren Energien. Wir verbessern und fördern die Wettbewerbsfähigkeit von Mittelstand und Industrie. Wir treiben die Digitalisierung im Bereich der Energieversorgung voran. Wir stärken die Kommunen. Wir entbürokratisieren das Erneuerbare-Energien-Gesetz. ({0}) Und wir schaffen vor allem auch eine Entfesselung für den Wasserstoff, indem wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass der Wasserstoffmarkt und alle damit verbundenen Dinge so starten können, wie wir uns das wünschen. Was machen wir im Einzelnen? Wir stärken den Markt und stärken die Ausbauperspektiven für die Erneuerbaren, indem wir im Marktdesign die negativen Strompreise reduzieren. Die Blöcke werden von sechs Stunden auf vier Stunden verkürzt. Das ist ein erster Schritt, dem noch weitere folgen müssen. Wir nehmen Ausschreibungen in das System auf, wo bisher Potenziale ungenutzt sind. Zum Beispiel werden die Potenziale großer Dachflächen durch das EEG heute nicht im notwendigen Umfang gehoben und genutzt. Deshalb führen wir zielgerichtet bei einer Größenordnung von 300 Kilowatt bis 750 Kilowatt neben dem EEG eine Wahlmöglichkeit zu Ausschreibungen ein. Es gibt oftmals in Industrie- und Gewerbegebieten große Dachflächen, die zum Beispiel ein Großhändler oder ein Handwerker nicht für den Eigenverbrauch nutzen kann und die deshalb brachliegen. Durch eine Ausschreibung können wir diese Potenziale heben und dann beispielsweise bei den Freiflächen entsprechend einsparen. Ich glaube, wir haben da eine sehr intelligente und gute Lösung gefunden. ({1}) Wir verbessern und fördern die Wettbewerbsfähigkeit von Mittelstand und Industrie, indem wir beispielsweise die Besondere Ausgleichsregelung jetzt krisenfest machen. Beispielsweise kann geschätzt statt gemessen werden, wenn das pandemiebedingt schwierig ist; wir verlängern coronabedingt Fristen, und es gibt viele andere Dinge mehr. Wir treiben die Digitalisierung der Energieversorgung voran, indem wir zukünftig Smart Meter im Verteilnetz als Regel und Pflicht anstreben. Warum tun wir das? Die Digitalisierung im Bereich der Energieversorgung braucht Transparenz. Man muss wissen, welcher Strom im Netz ist. Die Anlagen müssen gesteuert werden, und zwar nicht nur im Industriebereich, auch im privaten Bereich. Wenn Wärmepumpen bei der Sektorkopplung Einzug halten sollen oder wenn beispielsweise auch im privaten Bereich die Elektromobilität durch Ladestationen stark ausgebaut wird, dann müssen diese Dinge zukünftig steuerbar sein, damit sich neue Geschäftsmodelle beim Demand-Side-Management – zeit- und lastvariable Tarife – entsprechend entwickeln können. Wir stärken die Kommunen, indem wir im Bereich der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Interesses die Zielbestimmung des § 1 Absatz 5 EEG in der Entwurfsfassung streichen, weil sie die kommunale Selbstverwaltung einschränkt und weil sie die Planungshoheit der Kommunen beschränkt. Das wollen wir nicht. ({2}) Wir setzen weitere Akzeptanzpunkte, indem wir beispielsweise im Windbereich den Kommunen – 0,2 Cent pro Kilowattstunde bei Neubau und bei Repowering – entsprechende Anreize geben, damit sie sich dieser Dinge annehmen. Auch bei der Gewerbesteuerzerlegung – in der Entschließung ist das enthalten – sind viele Punkte, die wir auch noch abarbeiten und angehen wollen. Wir entbürokratisieren das EEG, indem wir eine One-Stop-Agency schaffen, indem das Marktstammdatenregister weiterentwickelt wird und beispielsweise für den Normalbürger eine vereinfachte Anmeldung möglich ist. Beim Wasserstoff wird dafür gesorgt, dass von Anfang an die Elektrolyse, wenn sie mit Grünem Wasserstoff erfolgt, von der EEG-Umlage befreit wird oder dass die Besondere Ausgleichsregelung alternativ gewählt werden kann. Beim Wasserstoff dürfen wir den Fehler des EEG nicht wiederholen, sondern es gilt, von Anfang an eine Systembetrachtung anzustellen, bei der Transport und Speicherung berücksichtigt werden. Damit gelingt es, den Mengenhochlauf von Wasserstoff zu adressieren. Bei der Eigenversorgung, egal ob PV-Anlagen auf dem Dach für das Einfamilienhaus oder im Industriebereich, schaffen wir Rechtssicherheit bei der Scheibenpacht, beispielsweise für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen und vor Existenzfragen stehen. Wir wollen die Unternehmen nicht, anders als hier vielleicht manch anderer – das werden wir nachher noch hören –, aus dem Land vertreiben. ({3}) Wir brauchen die energieintensiven Unternehmen und Wertschöpfungsketten in diesem Land, ({4}) weil es ohne sie keinen ICE, keine PV-Anlagen und auch kein Windrad gibt. Aber wir sind noch lange nicht fertig. Wir wollen die Komplexität des Systems reduzieren. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Redezeit ist schon abgelaufen.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, war sie noch nicht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, ich lasse nie Zwischenfragen zu, wenn die Redezeit schon abgelaufen ist, und Ihre ist schon abgelaufen. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war sie noch nicht, aber okay. – Dann komme ich zum Schluss. Es gibt noch viel zu tun, um die Komplexität zu reduzieren. Das EEG 2000 hatte fünf Seiten im Bundesgesetzblatt, zwölf Paragrafen. Allein die Formulierungshilfe, die wir gestern im Ausschuss vorliegen hatten, hatte 320 Seiten. Da sieht man: Das EEG muss zurückgeführt werden. Wir wollen die EEG-Umlage ausphasen. Wir wollen das EEG dann auch so beenden, dass sich mit der Beendigung der Kohleverstromung der Markt entsprechend durchsetzt, und wir wollen die Finanzierung entsprechend regeln. Deshalb haben wir hier noch eine große Aufgabe, die wir unmittelbar nach der Weihnachtspause mit dem Koalitionspartner angehen werden und auch noch in dieser Legislaturperiode einer Lösung zuführen wollen und werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mein lieber Mann, das war knapp. – Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kotré, AfD. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schönen guten Morgen! Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Energiewende ist nicht mehr zu retten. ({0}) Was hat die Bundesregierung bisher alles versucht, um diese instabile, unökonomische und ungeeignete Stromerzeugung aus Wind und Sonne zu retten? Verhundertfachung der Netzeingriffe, Abregelung von Windindustrieanlagen, Stromsperren bei Strommangel, verstärkten Stromimport, Netzausbau, Wasserstoff, Mieterstrom, Bürgerenergie und vieles andere mehr. Um die Preise dieser Planwirtschaft zu stabilisieren, werden also auch bald wie zu DDR-Zeiten nicht nur die Stromkunden zur Kasse gebeten, sondern jetzt auch der Steuerzahler, der dann die Subventionen mitbezahlen muss, meine Damen und Herren. ({1}) Die Anzeichen, dass es nicht funktionieren kann, finden sich auch in dem Gesetzesverfahren selbst. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ständig novelliert worden. Der Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und anderer Gesetze der Koalition ist bereits in erster Lesung im Plenum gewesen und wird jetzt trotzdem mit einem 320-seitigen Änderungsantrag ({2}) geändert werden. Das, meine Damen und Herren, ist kein Ausdruck dessen, dass die Opposition hier ihre Gedanken mit einbringen konnte. ({3}) Nein, das ist Ausdruck dessen, dass die Koalition handwerklich nicht gut arbeitet, ({4}) dass aus den Ministerien Gesetzentwürfe kommen, die handwerklich nicht gut gemacht worden sind und die nachgebessert werden müssen. Das passiert immer häufiger, meine Damen und Herren. Aber das ist eben auch kein Wunder bei der Komplexität dieser Planwirtschaft; da muss man eben ständig nachbessern. Ich denke, wir werden hier also kurz- und mittelfristig wieder weitere Änderungen erleben. ({5}) Der Änderungsantrag zum Änderungsantrag, 320 Seiten, ist uns 50, nein, 70 Minuten vor der eigentlichen Ausschusssitzung, in der dieser Änderungsantrag behandelt werden sollte, zugegangen. 70 Minuten! Zu allem Überfluss kamen noch zwei mündliche Änderungsanträge hinzu, auf die wir uns natürlich auch nicht vorbereiten konnten. Das ist keine Sternstunde der Demokratie, meine Damen und Herren. ({6}) Die Stromerzeugung hat früher der Markt geregelt. Die Unternehmen hatten verlässliche Rahmenbedingungen. Es hat funktioniert: geringe Strompreise, hohe Stromversorgung, umweltschonende Energieversorgung. Aber diese Marktwirtschaft haben wir jetzt nicht mehr. Ich kann Ihnen mal gerne den Wust der Gesetze und Verordnungen vorlesen, die jetzt notwendig sind, um diese Planwirtschaft zu regeln. Also, wir haben da Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung, Erneuerbare-Energien-Ausführungsverordnung, ({7}) Besondere Ausgleichsregelung-Gebührenverordnung, EEG- und Ausschreibungsgebührenverordnung, ({8}) Erneuerbare-Energien-Verordnung, Besondere Ausgleichsregelung-Durchschnittsstrompreis-Verordnung, ({9}) Grenzüberschreitende-Erneuerbare-Energien-Verordnung, Herkunfts- und Regionalnachweis-Durchführungsverordnung, ({10}) Herkunfts- und Regionalnachweis-Gebührenverordnung, ({11}) Innovationsausschreibungsverordnung, Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz-Gebührenverordnung, ({12}) Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, ({13}) Kraft-Wärme-Kopplungs-Ausschreibungsverordnung, ({14}) Windenergie-auf-See-Gesetz, Verordnung zur Anrechnung von strombasierten Kraftstoffen und mitverarbeiteten biogenen Ölen auf die Treibhausgasquote, ({15}) Gesetz zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus, Kohleverstromungsbeendigungsgesetz und, und, und. ({16}) Damit haben wir ganz klar auf dem Tisch: Wir haben es hier mit Planwirtschaft zu tun. ({17}) Wir haben es hier mit Bürokratieaufbau zu tun, den wir ohne das alles nicht hätten. ({18}) Damit haben wir hier ein komplexes System, das so bald nicht mehr funktioniert. Deswegen sagen wir: Weg mit dem EEG und Begleitgesetzen! ({19}) Das ist die einfache Richtung, und das ist Marktwirtschaft, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Miersch, SPD. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kotré, das, was wir hier heute Morgen machen, ist Parlamentarismus pur. ({0}) Dass CDU/CSU und SPD die Kraft haben, einen Gesetzentwurf der Regierung massiv zu verbessern, ist Parlamentarismus. Ich bin stolz darauf, dass wir dieses hier heute miteinander beschließen. ({1}) Wir haben in der ersten Lesung an vielen, vielen Stellen die Kritik der Opposition gehört, und all diese Punkte sind jetzt durch diese Veränderung aufgenommen worden. ({2}) Die Sozialdemokratie hat massiv dafür gesorgt – darauf bin ich stolz –, dass wir gerade für ältere Windenergieanlagen Brücken, Perspektiven geschaffen haben, damit diese Anlagen nicht abgeschaltet werden. ({3}) Wir haben den Unsinn aus dem Gesetz gestrichen, dass Bürgerinnen und Bürger, die seit Jahren in Solaranlagen investiert haben, mit Messstellen etc. belastet werden. Wir haben hier entbürokratisiert, und dieses wird weiter gefördert. ({4}) Wir haben für Kommunen Anreize geschaffen, wirklich in Erneuerbare zu investieren und Wertschöpfung, die vor Ort entsteht, vor Ort zu lassen. Damit – da sind wir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen – wird die Akzeptanz von Windkraft weiter steigen. Darüber sind wir froh. ({5}) Und: Für uns ist wichtig, dass das Ganze ein Mitmachprojekt für die Bevölkerung ist, dass jeder die Möglichkeit hat, in erneuerbare Energien zu investieren. Deswegen ist es aus meiner Sicht ein wirklicher Meilenstein, dass wir ein Mieterstrommodell entwickelt haben, an dem alle partizipieren können, nicht nur Eigenheimbesitzer, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wenn hier von „Markt“ gesprochen wird von einer Fraktion, die auf Atomkraft setzt, eine Technologie, die ohne Milliardensubventionen von den Bürgerinnen und Bürgern niemals überlebensfähig wäre, ({7}) dann sage ich: Es ist der Übergang in eine neue Zeit. ({8}) Das muss gefördert werden. Die Erneuerbaren sind die Zukunft und nichts anderes, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Miersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, die gestatte ich nicht, weil ich meine Gedankengänge jetzt fortführen will. ({0}) Ich will sagen, dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben dürfen. Die Sozialdemokratie ist bereit, weitere große Fragen zu klären. Das betrifft natürlich die Finanzierung – Stichwort: EEG-Umlage –, und das betrifft auch die Ausbaupfade, die ohne Zweifel erweitert werden müssen. Deswegen ist uns die Entschließung so wichtig, in der wir bereits sagen: Im ersten Quartal im nächsten Jahr wollen wir diese Fragen klären. ({1}) Nach den konstruktiven Gesprächen mit der CDU/CSU bin ich sicher: Wir werden das schaffen. ({2}) Und weil das Ganze ein Zukunftsprojekt mit allen werden soll und wir kurz vor Weihnachten sind, würde ich mir dazu noch etwas wünschen. Wir haben das große Problem, dass wir die Ziele locker setzen können. Aber das, was wir hier heute machen, ist mindestens genauso wichtig; denn da geht es um die Instrumente. Wir sehen gerade bei der Windkraft, dass wir nicht weiterkommen. Die Grünen, die 11 von 16 Umweltministern in den Ländern stellen, machen gerade die Erfahrung, dass seit über anderthalb Jahren daran herumgedoktert wird, wie man Genehmigungsverfahren im Bereich der Windenergie beschleunigen kann – ohne irgendein Ergebnis. ({3}) Deswegen: Machen Sie mal einen konstruktiven Vorschlag, was die Genehmigungsverfahren betrifft! Das liegt in Ihrer Hoheit. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass nicht, wie in Hessen im letzten Jahr passiert, nur ganze vier Windkraftanlagen genehmigt werden! ({4}) Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen. Ich lade Sie herzlich ein, im nächsten Quartal diese Frage mit uns zusammen zu klären. Dann regeln wir die Ausbaupfade und das Thema Erneuerbare-Energien-Umlage. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Theurer, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! 54 Prozent der installierten Kraftwerksleistung in Deutschland im Jahr 2019 sind erneuerbare Energien. Allerdings trugen sie nur knapp 38 Prozent zur Stromerzeugung bei. Denn Fakt ist, dass Sonne und Wind eben diskontinuierlich zur Verfügung stehen. Man kann sagen: Das EEG, das in diesem Jahr 20-jähriges Jubiläum feiert – Rot-Grün hat es ja eingeführt, und Herr Trittin sagte damals: Es kostet nicht mehr als eine Kugel Eis –, ist ein immens teures Instrument, um erneuerbare Energien hochzufahren. 26 Milliarden Euro Umlage, das sind 323 Euro pro Bürgerin und Bürger in Deutschland. Da kann man einen Haufen Eis kaufen; so viel Eis wollen die Bürger, glaube ich, gar nicht kaufen. ({0}) Wir wollen an der Stelle mal deutlich machen: Diese massive Umverteilungsmaschinerie EEG war am Anfang für die Markteinführungshilfe gut, muss aber jetzt dringend reformiert werden; denn es kommen ja dann noch Milliarden aus dem Bundeshaushalt dazu. Die Bundesregierung rechnet mit Ausgaben im Jahr 2021 von 34 Milliarden Euro. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln hätte man CO2 viel günstiger vermeiden können. Historisch gesehen hat das EEG dazu geführt, dass bei Solarstrom 1 Tonne CO2 für 415 Euro vermieden wurde, während 1 Tonne CO2-Vermeidung im Emissionshandel nur 31 Euro kostet. Wir konzentrieren uns deshalb als FDP darauf, wie man das Klimaschutzziel effizienter erreichen kann. ({1}) Es ist tragisch, dass die Bundesregierung die dringend notwendige Reform des EEG verschiebt – nicht in die nächste Wahlperiode, sondern in die übernächste Wahlperiode. Herr Minister Altmaier, das ist bedauerlich. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Jetzt muss das EEG reformiert werden. Und Herr Kollege Pfeiffer, Sie haben einige vernünftige Vorschläge hier vorgetragen, die die FDP ja unterstützt. Aber Sie machen als CDU/CSU gar nicht das, was Sie hier vorgetragen haben. ({2}) Wir sagen an der Stelle: Wir fordern dringend eine Reform des EEG ein. Meine Damen und Herren, ja, wir brauchen auch in Zukunft den Import von CO2-neutral hergestelltem Wasserstoff und klimaneutralen synthetischen Kraftstoffen. Deutschland wird nie energieautark sein, wenn man nicht will, dass die Industrie in Deutschland praktisch kaputtgemacht wird, sondern wir importieren derzeit Energie – eben Öl und Gas –, und wir als Freie Demokraten wollen den Klimaschutz erreichen mit CO2-neutralen synthetischen Kraftstoffen und Wasserstoff, der dann woanders in der Welt hergestellt wird, weil er da zu geringeren volkswirtschaftlichen Kosten hergestellt werden kann als hier in Deutschland. ({3}) Meine Damen und Herren, die FDP setzt auf den schnelleren Ausstieg aus der EEG-Umlage. ({4}) Wir wollen eine grundlegende Reform von Steuern, Umlagen und Abgaben auf Energie und eine Entbürokratisierung des Energierechts. Sie, Herr Minister Altmaier, setzen stattdessen auf Verteilen, Verwalten und Verschieben. Das ist falsch, meine Damen und Herren. ({5}) Wir haben in der Zeit, als die FDP an der Regierung war – und das waren nur vier Jahre in den vergangenen 20 Jahren –, ({6}) durch marktwirtschaftliche Instrumente dafür gesorgt, dass die EEG-Umlage heute nicht so stark gestiegen ist, ({7}) wie sie bei Ihrem staatsplanwirtschaftlichen Instrument gestiegen wäre. ({8}) Das muss man an der Stelle mal festhalten. Vielen Dank, Herr Präsident. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lorenz Gösta Beutin, Die Linke, erhält jetzt das Wort. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte der erneuerbaren Energien in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. ({0}) Es ist der Erfolg der vielen Menschen in unserem Land, die sich seit den 1990er-Jahren auf den Weg gemacht haben: gegen den Klimawandel, für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Im Jahr 2000 ist mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz der Rahmen geschaffen worden, um den Ausbau der erneuerbaren Energien auf eine rechtliche Basis zu stellen. Entgegen den Vorhersagen aller Schlechtrednerinnen und Schlechtredner, aller Lobbys und aller fossilen Konzerne haben wir mittlerweile 50 Prozent Ökostrom im Netz, und das finde ich großartig. ({1}) Aber in allen guten Geschichten ist es so, dass der Held irgendwann angegriffen wird; dann braucht er unsere Hilfe. Der Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist auch durch die schwarz-gelbe Koalition immer weiter durchlöchert worden: immer weitere Ausnahmen für die Großkonzerne, die zulasten der Stromkundinnen und Stromkunden gehen, immer mehr Ausschreibungsmechanismen, die es Bürgerinnen- und Bürgerenergie und Genossenschaften immer schwerer machen, zum Zuge zu kommen. Dann kommt Anfang des Jahres Wirtschaftsminister Altmaier zur Hilfe und sagt: Wir wollen eine große Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. – Doch wer die Verzögerungstaktik dieses Wirtschaftsministers kennt, etwa beim Kohleausstieg oder bei der Photovoltaik und der Windkraft, weiß: Wenn Herr Altmaier um die Ecke kommt, kann das nichts Gutes bedeuten. ({2}) Aber dass die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes nicht so schlecht geworden ist, wie es sich vielleicht Herr Altmaier und die großen Konzerne gewünscht hätten, das ist dem Druck der Vereine und Verbände, das ist dem Druck der Klimabewegung zu verdanken und, ja, in diesem Fall auch der SPD, die einmal ihren Rücken geradegemacht hat. ({3}) Aber es reicht eben absolut nicht aus, das Schlimmste zu verhindern. Denn wir haben weiter überbordende Ausnahmen für die große Industrie, und das wird mit dieser sogenannten Reform noch einmal ausgeweitet. Wir haben weiterhin wahnsinnige, irre Milliardensubventionen für die fossile Industrie, und Genossenschaften und Bürgerinnen- und Bürgerenergie werden weiter ausgebremst. Diese Bundesregierung lässt sie am langen Arm verhungern. Das ist ein riesiges Problem. ({4}) Es gibt jetzt eine Entschließung, in der steht: Wir verschieben die Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien ins nächste Jahr. – Woher nehmen SPD und CDU/CSU die große Hoffnung, dass sie im nächsten Jahr, im Jahr der Bundestagswahl, das erreichen können, was sie in den ganzen Jahren vorher nicht erreicht haben? Das ist eine wahnsinnige Illusion. Wir werden Ihnen weiter Druck machen, dass doch noch etwas passiert, was passieren muss. ({5}) Anders als den Braun-Blauen nehme ich Ihnen ja ab: Sie haben die Gefahr der Klimakatastrophe begriffen, und Sie wollen handeln. Aber Ihnen fehlt eben der Mut, Ihnen fehlen die Visionen, um sich gegen die Konzerne und gegen die Lobbygruppen zur Wehr zu setzen. Vielleicht nutzen Sie einmal die stillen Tage über Weihnachten, um in sich zu gehen und sich zu überlegen, auf welcher Seite der Geschichte Sie stehen wollen. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, erhält als Nächster das Wort. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Klimaschutzstrategie. Wenn wir Wasserstoff, E-Fuels, Elektromobilität, Wärmepumpen, was auch immer, wollen, dann müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben, dann müssen wir das Ausbautempo in Deutschland vervielfachen. ({0}) Ich sage es mal ganz deutlich: Diese Novelle wird diesem Anspruch nicht im Ansatz gerecht. Das muss hier ganz klar gesagt werden. ({1}) Meine Damen und Herren, das wird am deutlichsten, wenn man in die Entschließung guckt, die Sie mit beschließen wollen. Da dokumentieren Sie, dass Sie sich nicht auf Ziele und Ausbaupfade verständigen konnten. Was ist das für eine Bankrotterklärung, wenn man ein Gesetz verabschiedet, das kein Ziel hat, das keine Ausbaupfade nennt? Das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren. ({2}) Lieber Matthias Miersch, ich finde es, ehrlich gesagt, ein bisschen unverschämt, hier nicht die Grundlage für den Ausbau im Land zu liefern und dann auf die Länder zu zeigen. Man müsste mal darüber reden: Welche Rolle haben eigentlich Sozialdemokraten in diesen Ländern? Da werden wir sehr schnell fündig. Da erkennen wir sehr schnell, wer den Ausbau der erneuerbaren Energien dort bremst. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer, dazu möchte Ihnen ein Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion eine Zwischenfrage stellen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da habe ich sehnsüchtig drauf gewartet. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Oliver Krischer, Sie sind gestern im „Handelsblatt“ zitiert worden. Es ging darum, warum wir die EU-Klimaschutzziele nicht umsetzen. Aber Sie wissen ja – hoffentlich – ebenso wie ich, dass die noch gar nicht fixiert sind. Die Staaten der EU sagen jetzt: Minus 55 Prozent – mit ein paar Schlupflöchern, wie die Kritiker es sagen. Das Europäische Parlament will in den Verhandlungen 60 Prozent erreichen. Das ist noch nicht entschieden. Die Entscheidung kommt erst in den nächsten Wochen. ({0}) Wenn Sie jetzt so tun, als sei die Entscheidung für 55 Prozent schon gefallen, dann fallen Sie damit den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament, die jetzt hart für eine Verschärfung der Ziele streiten, in den Rücken. ({1}) Das müssen Sie auch mal klar sagen. Deswegen wäre es seriös, die Zieldebatte zu verschieben. Mit den Zielen nehmen Sie es ja auch nicht so genau. Gucken wir mal nach Baden-Württemberg: Ein Minus von 25 Prozent ist dort im Klimaschutzgesetz geregelt. Das schaffen Sie nicht. Im Bund sind es minus 40 Prozent. Wenigstens gibt es hier eine Überprüfung. ({2}) In dem Prüfbericht steht drin: Der Bund hat einen guten Job gemacht, was das Klimaschutzgesetz angeht. Warum – das ist jetzt meine Frage an Sie – werden Sie nicht endlich konstruktiv? Warum werden Sie nicht sachlich? Bereiten Sie sich schon auf die Hängematte mit Herrn Altmaier vor, oder was soll das hier? ({3}) Ich kann Ihnen nur eins sagen: Diese Hängematte kann schnell reißen. ({4})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf die Polemik am Schluss muss man gar nicht eingehen. – Lieber Kollege, ich weiß ja nicht, wo Sie im letzten Jahr waren; aber Ursula von der Leyen ist seit einem Jahr Kommissionspräsidentin und sagt: Wir brauchen ein ambitioniertes Klimaschutzziel. – Sie sagt 55 Prozent. Das Parlament sagt 60 Prozent. Es ist seit einem Jahr klar, dass wir das Ziel von 40 auf mindestens 55 oder 60 Prozent erhöhen werden. ({0}) Deshalb frage ich mich: Wenn Sie vorangehen wollen, warum sagen Sie nicht: „Wir machen die 60 Prozent, wir setzen das um, wir Sozialdemokraten reiten endlich mal wieder voraus“? ({1}) Herr Kollege, auf die Frage nach Baden-Württemberg habe ich gewartet. Sie gibt mir die Gelegenheit, die Agentur für Erneuerbare Energien zu zitieren, die Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein – beide Bundesländer haben übrigens grüne Umweltminister – Platz eins beim Ausbau der erneuerbaren Energien 2019 zugesprochen hat. ({2}) Das älteste Klimaschutzgesetz – ein Klimaschutzgesetz, als Sie noch nicht wussten, was das ist –, die Solarpflicht, ein Erneuerbare-Wärme-Gesetz, all das ist in Baden-Württemberg gemacht worden. Dann möchte ich hier mal eines erwähnen: In Baden-Württemberg ist der Ausbau der Windenergie verfünffacht worden. Das reicht bei Weitem noch nicht aus; damit haben Sie völlig recht. Aber woran liegt das denn? Ich weiß, das hören Sie nicht mehr gerne, aber es gab hier mal einen Energieminister Sigmar Gabriel – den erwähnen Sie heute nicht mehr so oft –, der Ausschreibungen gemacht hat, die die südlichen Bundesländer systematisch benachteiligt haben. ({3}) Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz sind danach zurückgeworfen worden, weil Sie den Osten und den Norden an der Stelle gestärkt haben. ({4}) Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Dazu sollten Sie hier auch mal stehen und nicht mit dem Finger auf andere zeigen, meine Damen und Herren. ({5}) Und jetzt – wie absurd! – feiert sich Matthias Miersch für eine Großtat: Was die Sozialdemokratie, was die SPD geschafft habe, das müsse man anerkennen. Sie feiern sich dafür, dass Sie ein paar von den Schikanen, die Peter Altmaier in den Gesetzentwurf eingebaut hat, rausgenommen haben. Aber nur ein paar Schikanen rauszunehmen, das macht aus einem miesen Gesetz kein gutes Gesetz; davon sind wir weit entfernt. ({6}) Und an manchen Stellen – das muss man klar sagen – haben Sie es sogar noch verschlechtert. Warum streichen Sie aus diesem Gesetz heraus, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien im öffentlichen Interesse ist? ({7}) Erneuerbare sollen unsere zukünftige Energieversorgung sein, zu 100 Prozent. Wenn das nicht im öffentlichen Interesse ist, was soll denn bitte schön dann im öffentlichen Interesse sein? ({8}) Meine Damen und Herren, zum Abschluss – das möchte ich in aller Klarheit sagen –: Erneuerbare Energien schaffen Arbeitsplätze. Peter Altmaier hat in seiner Amtszeit allein in der Windindustrie 40 000 Arbeitsplätze vernichtet. Das sind doppelt so viele Arbeitsplätze, wie es in der Kohleindustrie überhaupt gibt; das muss man klar sagen. Zu dem, was Herr Pfeiffer hier gesagt hat, kann man nur sagen: Automobilindustrie, Maschinenbau, Chemie – alle fordern den Ausbau der erneuerbaren Energien, weil das die Zukunft ist. Sie bremsen diesen Ausbau. ({9}) Sie sind längst zum Standortrisiko für die Industrie in Deutschland geworden, wenn es um den Ausbau der erneuerbaren Energien geht. Das dokumentieren Sie mit dieser Novelle. Wir werden diese Novelle ablehnen, meine Damen und Herren. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein gutes Gesetz, das wir heute verabschieden. Die verzweifelten Versuche der Opposition, das Gesetz jetzt schlechtzureden, verdeutlichen das eigentlich nur umso mehr. Wir stehen im Strombereich aktuell bei einem Anteil der erneuerbaren Energien von annähernd 50 Prozent. Das ist immens, das ist eine große Leistung. Das ist vor allem die Leistung derer, die die Energiewende betreiben. Es ist aber auch die Leistung dieser Koalition, um das einmal ganz klar zu sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir werden allen Unkenrufen zum Trotz das Klimaschutzziel 2020 erreichen. Und wir haben es geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln, eben auch durch den Ausbau der erneuerbaren Energien. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Ihnen und uns? Sie von den Grünen machen sich Gedanken über die Ziele. Wir schauen, wie man die Dinge umsetzt, wie sie letztlich zum Fliegen kommen. Sie meckern, wir machen. Das macht letztlich den Unterschied aus, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Übrigens: Sie von der AfD stellen jetzt zum x-ten Mal den Antrag zur Abschaffung des EEG. An Ihren Debattenbeiträgen merkt man eigentlich sehr schnell, dass Sie gar nicht wissen, was Sie hier eigentlich abschaffen wollen. Natürlich ist das EEG komplex, keine Frage; es ist auch zu komplex. Die Frage ist nur, warum das EEG dem einen oder dem anderen zu komplex ist. Übrigens: Wenn Sie beim nächsten Mal zustimmen, wenn wir Änderungsanträge früher einreichen, dann werden wir uns das wirklich gut überlegen. Aber ich glaube, das ist bei Ihnen vergebene Liebesmüh. Lassen Sie mich noch eines ganz klar sagen: Unser Ziel ist es natürlich, dass wir das EEG irgendwann gar nicht mehr brauchen, dass erneuerbare Anlagen auch ohne Einspeisevergütung am Markt wettbewerbsfähig sind. Gerade um Marktfähigkeit, um Wirtschaftlichkeit, um Ambitionen und um Motivation geht es auch in dieser Novelle. Wir entbürokratisieren bei der Photovoltaik. Zukünftig wird es bei der Errichtung von Photovoltaikanlagen einen sogenannten One-Stop-Shop geben. Nur eine Anlaufstelle bei der Beantragung – das ist eine Riesenerleichterung für die Bürgerinnen und Bürger; das wird der Photovoltaik noch mal einen Schub geben. Wir erhöhen die Möglichkeiten beim Eigenverbrauch, nämlich für Anlagen bis zu 30 Kilowatt Peak. Auch hier schaffen wir Anreize. Für uns gilt ganz klar: Eigenverbrauch vor Einspeisung. ({1}) Wir schaffen zudem bei der Photovoltaik ein Segment für die Agro-PV, die insbesondere für Sonderkulturen geeignet ist, mit insgesamt 50 Megawatt im Jahr. Ebenso schaffen wir Ausschreibungsmöglichkeiten, unter anderem ein Ausschreibungssegment für Dachanlagen. Für uns gilt nach wie vor: Dach vor Feld. So werden wir die Anreize auch weiterhin setzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir bringen außerdem den Mieterstrom voran: PV in die Stadt. Der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft hat gestern von einem Paradigmenwechsel im positiven Sinne gesprochen. Wir ermöglichen, dass Ü-20-Anlagen am Netz bleiben können und so das System insgesamt natürlich günstiger machen. Das alles wird bei der PV einen enormen Ausbauschub für ganz Deutschland bringen. Wir halten die Biomasse im Spiel der Erneuerbaren. Sie ist grundlastfähig und flexibel. Die Anlagen, die jetzt am Markt sind, werden bei den Ausschreibungen auch zukünftig eine Chance erhalten, am Markt zu bleiben. Wir wollen die Biomasse im Gegensatz zu vielen anderen hier im Parlament, aber auch in der Gesellschaft eben nicht abschaffen, sondern wir wollen ihre Stärken entsprechend nutzen. ({2}) Wir stärken die Wasserkraft – eine erneuerbare Energie mit Tradition –, und wir stärken auch die Geothermie, die noch viel Zukunftspotenzial hat, das wir gerne heben wollen. Wir wollen, dass die Nutzung von Wasserstoff eine Erfolgsgeschichte wird, und dazu befreien wir Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, von der EEG-Umlage. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die deutsche Wasserstoffstrategie ein Erfolg wird. ({3}) Im Entschließungsantrag widmen wir uns noch einmal den vielen Facetten, beispielsweise auch der Energieeffizienz. Wir wollen, dass gerade auch Energiedienstleister zukünftig mehr Möglichkeiten haben, am Markt zu agieren. Wir wollen, dass der, der einspart, letztlich nicht bestraft wird, sondern dass er belohnt wird. Zum Schluss möchte ich noch betonen, dass wir die Ausbauziele bei den Erneuerbaren im Bereich des Stromes immer übererfüllt haben. Trotzdem werden wir noch einmal über die Ziele sprechen, auch im Lichte der Vereinbarungen, die die EU treffen wird. Wir werden dabei übrigens auch den Ausbau außerhalb des EEG berücksichtigen, der bis dato bereits stattfindet. Wir werden uns auch die Reform der EEG-Umlage insgesamt anschauen. Sie reden – wir handeln; das ist der Unterschied. Man könnte auch sagen: Wir liefern – Sie labern. ({4}) Vielen Dank an dieser Stelle an alle, die intensiv dazu beigetragen haben, dass das Gesetz zu einem Erfolg wurde. Jetzt gilt es, das Gesetz auch entsprechend umzusetzen. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Saathoff, SPD. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben viel Arbeit geleistet in den letzten Wochen und Monaten. Wir haben uns intensiv auseinandergesetzt, und wir haben auch gestritten; das ist gar kein Geheimnis. Aber wir haben auch gute Ergebnisse erzielt, und die kann man heute mit Stolz verkünden. Wir haben zum Beispiel in der Frage der Akzeptanz dafür gesorgt, dass es künftig eine Gemeindebeteiligung geben wird, wenn Windenergieanlagen aufgebaut werden. ({0}) 0,2 Cent pro Kilowattstunde mag vielleicht nicht viel sein, ist aber für eine Gemeinde richtig viel Geld, und vor allen Dingen – diese Botschaft geht an alle Bürgermeisterinnen und Bürgermeister –: Sie ist auch kreisumlagefrei. Das sind wirklich Verdienste in der Gemeinde, die man umsetzen kann. ({1}) Bei Windparks, die an Gemeindegrenzen stehen, haben wir dafür gesorgt, dass beide Gemeinden profitieren und dass man sich nicht im wahrsten Sinne des Wortes gegeneinander abgrenzt. Dieser Profit wird vielmehr miteinander geteilt. Wir haben außerdem dafür gesorgt, dass es eine rechtliche Sicherheit gibt für Bürgermeister und ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker. Ich hätte mir gewünscht, dass eine solche Regelung auch für vorhandene Windenergieanlagen, also für die Gemeinden, in denen die Energiewende schon gelebt worden ist, gefunden worden wäre. Das haben wir jetzt nicht geschafft. Aber man kann jetzt freiwillig auch an Gemeinden straffrei zahlen, und das ist ein großer Erfolg. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Windenergieanlagen, die aus der EEG-Förderung rausfallen, haben wir jetzt drei Möglichkeiten. Erstens haben wir eine Übergangsförderung geregelt. Zweitens besteht die Möglichkeit, an der Direktvermarktung teilzunehmen. Drittens besteht die Möglichkeit, an einer Ausschreibung teilzunehmen. Damit verhindern wir den Rückbau, der sonst angestanden hätte, und damit machen wir die Energiewende ein Stück weit sicherer. ({3}) In der Photovoltaik haben wir neue Modelle eingeführt, die man jetzt erproben kann: Floating-PV und Agri-PV, und wir stärken den Ausbau von PV-Dachanlagen. Wir verbessern auch die Möglichkeiten des Mieterstroms. Das, was hier zigmal gefordert worden ist – der Quartiersansatz –, ist jetzt drin, und das darf man auch mal feiern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Der PV-Eigenverbrauch für Einfamilienhäuser ist künftig EEG-umlagebefreit; auch diese Forderung habe ich hier tausend Mal gehört. Jetzt ist die Forderung erfüllt – und keiner freut sich darüber, ({5}) jedenfalls keiner aus der Opposition. ({6}) Darüber hinaus muss man bei alten PV-Anlagen nicht mehr befürchten, dass für sie teure technische Einrichtungen gebaut werden müssen, die sie unwirtschaftlich machen. Die Menschen, die frühe Pioniere der PV waren, die ganz früh schon Anlagen gebaut haben, können diesen Strom jetzt für ihren Eigenverbrauch nutzen und die Stromerzeugung auch wirtschaftlich betreiben, ohne zusätzliche technische Anlagen. ({7}) Wir haben noch viel mehr Regelungen: Geothermie, Biomasse, Güllekleinanlagen, Altholzanlagen, Wasserkraft. Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir noch eine Küstenmeerregelung geschafft hätten. Das haben wir jetzt nicht erreicht. Außerdem haben wir Rechtssicherheit geschaffen für Industrieunternehmen, die Kraftwerksscheiben gepachtet haben; das ist wichtig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Bereich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch viel zu tun, und in den nächsten Wochen werden wir weiterhin intensiv an dem Thema arbeiten. Wir sind als Sozialdemokraten jedenfalls dazu bereit, das Umfeld dafür besser zu machen. Oder wie man in Ostfriesland sagt: De fegen will, de find ok’n Bessen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! „Wenn sie mich verfolgt haben, so werden sie auch euch verfolgen.“ Was Jesus prophetisch ankündigt, ist längst für über 260 Millionen verfolgte Christen in 50 Staaten weltweit bittere Wirklichkeit geworden. Doch nicht nur in Nigeria oder Pakistan sind Christen Übergriffen ausgesetzt. Auch bei uns mitten in Deutschland macht sich eine erschreckende Christenfeindlichkeit breit. Noch sind wir weit von pakistanischen Zuständen entfernt, ({0}) aber wir sagen als AfD: Wehret den Anfängen! ({1}) Alleine von 2010 bis April 2019 hat es 1 731 Fälle von Angriffen auf Kirchen, auf christliche Friedhöfe und Einrichtungen und Beschädigungen an ihnen gegeben. In fast 90 Prozent aller Fälle konnte der Täter nicht ermittelt werden. Es ist schwer zu sagen, was erschreckender ist: diese Akte der barbarischen Gewalt oder die grassierende Intoleranz gegen Christen, die den Boden für sie bereitet. Nur um ein paar aktuelle Fälle zu nennen: Der Bischof der Armenier hier in Deutschland hat davor gewarnt, dass die armenischen Christen zur Zielscheibe der Grauen Wölfe werden, dieser türkisch-nationalistischen, islamistischen Organisation. Es ist eine Schande für Deutschland, dass so etwas mitten in Deutschland möglich ist. ({2}) In Berlin wurde von der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen vorgeblicher Homophobie gegen eine gläubige Christin, Frau Park, eingeleitet. Grund: Sie hatte in den Schaufenstern ihres Lokals die Bibel zitiert. Zwar wurde mittlerweile dieses Ermittlungsverfahren eingestellt. ({3}) Wenn man allerdings als Christ alleine dadurch, dass man die Heilige Schrift zitiert, in das Visier der Strafverfolgungsbehörden gerät, dann ist einiges faul im Staate Deutschland. ({4}) Das gilt auch und gerade für die christlichen Konvertiten hier bei uns in Deutschland. Viele Asylbewerber, die zum Christentum übertreten, die sich islamkritisch äußern, werden durch rohe Gewalt bedroht, auch in meinem Südthüringer Wahlkreis, wo sich die Erstaufnahmeeinrichtung Suhl befindet. Allzu oft gibt es in Deutschland für die Täter Schutz und für die Opfer Verfolgung. Wir brauchen einen Bundesbeauftragten gegen Christenfeindlichkeit in Deutschland, der in einem jährlichen Bericht die Situation beobachtet, analysiert, aber auch Maßnahmen gegen die Christenfeindlichkeit vorschlägt, ({5}) in Zusammenarbeit mit einem unabhängigen Expertengremium sowie Menschenrechtsorganisationen. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Mit diesen Worten Jesu aus der Bergpredigt wünsche ich allen eine gesegnete und besinnliche Weihnachtszeit. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Religionsfreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht. Dieses fundamentale Menschenrecht wird zunehmend eingeschränkt oder völlig infrage gestellt. Die Entwicklung in der Welt ist leider negativ. Das haben wir, die CDU/CSU, die Koalition, die Bundesregierung, früh erkannt. Darum haben wir das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit geschaffen. Darum gibt es einen Religionsfreiheitsbericht; der letzte wurde am 28. Oktober vom Kabinett beschlossen. ({0}) Und darum haben wir das Thema in dieser Wahlperiode häufig debattiert, zuletzt im November hier im Plenum, im Menschenrechtsausschuss, aber auch im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. ({1}) Christen sind als Angehörige der zahlenmäßig größten Glaubensgemeinschaft weltweit von der Verletzung der Religionsfreiheit besonders betroffen. Das ist ein Zitat von Seiten 5 und 7 des letzten Religionsfreiheitsberichts. Der Absatz geht weiter: „Aber auch Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen leiden unter Diskriminierung und Verfolgung“: Muslime, Bahai, Ahmadiyya, Jesiden, Juden, Atheisten. Hier ist der erste Unterschied zu den vorliegenden Anträgen der AfD: Wir nehmen alle Menschenrechte in den Blick, und wir schauen uns alle Religionen und Weltanschauungen an. ({2}) Im Februar war ich in Nigeria. Schwerpunkt meiner Reise war der Hirten-Bauern-Konflikt im sogenannten Mittelgürtel nördlich von Abuja, der vor allem Christen betrifft und unter dem Christen besonders leiden. Wenige Wochen zuvor war Bundesminister Gerd Müller ganz im Norden, in der Region, wo Boko Haram wütet. Unter Boko Haram leiden alle Menschen, aber natürlich die christliche Minderheit ganz besonders. Diese Woche gab es wieder einen Übergriff auf eine Schule. Die Schülerinnen und Schüler, die Eltern haben ein unsägliches Schicksal. Es ist ein Skandal. Aber Sie sehen: Die Bundesregierung, der Bundestag, die Koalition befassen sich mit der Verfolgung und Benachteiligung von Christen, aber eben auch von allen anderen religiösen Minderheiten. Das ist ein glaubwürdiger Einsatz für Religionsfreiheit. ({3}) Schauen wir auf Pakistan: Pakistan hat menschenrechtswidrige Blasphemiegesetze. Darunter leiden ganz besonders Christen, Hindus und Ahmadiyya. Auch das steht ausführlich in dem letzten Religionsfreiheitsbericht. Ein Blick ins Inland: Auch in Deutschland geht es um ein friedliches Miteinander von Christen, Muslimen und Juden. Deswegen besorgt mich auch die zunehmende Zahl von religiös motivierten Straftaten. Das Bundeskriminalamt spricht von rund 2 000 antisemitischen Straftaten im letzten Jahr, eine Steigerung um 13 Prozent, 950 islamfeindlichen Straftaten, eine Steigerung um 4 Prozent, und erst an dritter Stelle kommen christenfeindliche Straftaten. Jede ist eine zu viel. Aber Ihr Antrag erwähnt die anderen Straftaten, das größere Problem, nicht und wendet sich nur einer Zahl zu, und das ist unglaubwürdig. ({4}) Vor dem Christfest will ich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Erinnerung rufen. Darin werden gerade die frommen Menschen kritisiert, die anderen nur dann beistehen, wenn sie zur gleichen Religion gehören. Christliche Nächstenliebe macht keinen Unterschied. Christliche Nächstenliebe gilt allen Menschen. ({5}) Mir ist auch von den christlichen Kirchen in Deutschland keine Forderung nach einem Christenfeindlichkeitsbeauftragten bekannt. Die Kirchen in Deutschland haben eine starke Stellung und sind gut organisiert. Wir stehen in engem Kontakt. Sie besuchen die ja auch regelmäßig. Wir haben starke Streiter für die verfolgten Christen hier im Bundestag und in der deutschen Politik. Ich nenne einige von der Union: Volker Kauder – er singt „Das hohe C“ in seinem jüngsten Buch –, Heribert Hirte, der Vorsitzende des Stephanuskreises für verfolgte Christen, Hermann Gröhe, unser kirchenpolitischer Sprecher, oder Michael Brand und die weiteren Mitglieder der AG Menschenrechte. Ich kann also zusammenfassen: Christenverfolgung ist eine große Herausforderung. Bundesregierung und Koalition kämpfen für die verfolgten Christen und die Stärkung von Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Deutschland und weltweit. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Peter Heidt, FDP. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin evangelischer Christ. Evangelische Christen werden in Deutschland verfolgt, sind Straftaten ausgesetzt; also brauchen wir einen Beauftragten zum Schutz von evangelischen Christen. Ein Freund von mir ist Anhänger der christlich-orthodoxen Kirche. Orthodoxe Christen sind Opfer von Straftaten in Deutschland; also brauchen wir einen Beauftragten zum Schutz von orthodoxen Christen in Deutschland. Ein anderer Freund von mir ist Moslem. Moslems werden in Deutschland auch verfolgt; also brauchen wir einen Beauftragten für den Schutz von Moslems in Deutschland. Angesichts der Vielzahl von Religionsgemeinschaften in Deutschland ist uns ja klar, wie viele Beauftragte wir insgesamt brauchen. Um das auf die Spitze zu treiben: Wir brauchen auch einen Beauftragten für die Menschen, die gerade keiner Religionsgemeinschaft angehörig sein wollen. An der Stelle wird deutlich, wie absurd, wie falsch der Antrag der AfD ist. ({0}) Ich will die Verfolgung von Christen in dieser Welt überhaupt nicht kleinreden. Es ist eine schmerzliche Tatsache, dass Christen in vielen Ländern dieser Welt verfolgt werden. Sie werden diskriminiert, vertrieben, verfolgt und auch gefoltert und ermordet. Die Schuldigen sind in den Anträgen der AfD schnell ausgemacht. Es heißt dort: „Es ist demnach davon auszugehen, dass die meisten christenfeindlichen Straftaten mutmaßlich durch radikale Muslime verübt werden.“ Sie sehen die Verfolgung von Christen einseitig als ein Problem von islamischen Staaten an. Es ist aber gerade nicht so, dass der Islamismus allein daran schuld ist. ({1}) Weltweit – Herr Kollege Grübel hat es gesagt – gerät das Menschenrecht auf Religionsfreiheit immer mehr unter Druck. Das gilt für alle religiösen Minderheiten, auch in Europa. Ein gutes Beispiel ist Herr Orban in Ungarn, der sich als Retter der Christenheit aufspielt. Die Verfolger von Christen haben viele Gesichter. Beispiel China: Dort sollen die Religionen der sozialistischen Gesellschaft angepasst werden. Besonders den tibetischen Buddhismus, den Islam und das Christentum sieht die kommunistische Führung als Bedrohung für die eigene Machtbasis an. Nordkorea wirft Christen in Gefängnisse und foltert die Menschen. Opfer des „Islamischen Staates“ sind aber vor allem auch Muslime, die der Ideologie des IS nicht folgen. Das zeigt: Die Opfer kommen aus allen Religionen. Sie sind Christen, Juden, Hindus, Muslime, Buddhisten, Atheisten. Die Gründe sind vielfältig. Mit Ihren Anträgen werden Sie dem überhaupt nicht gerecht. Herr Kollege Grübel, Sie haben auf Nigeria hingewiesen, auf den Konflikt vor allen Dingen zwischen Hirten und Bauern. Sie haben auch zu Recht auf das Amt des Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit hingewiesen. Wir begrüßen das, das ist gut und richtig so, wir unterstützen Ihre Arbeit, Kollege Grübel. Wir müssen uns als Menschenrechtler gerade dafür einsetzen, dass die Religionsfreiheit überall geschützt wird und nicht nur in Deutschland. ({2}) Die Einrichtung eines Beauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit in Deutschland wird der Vielfältigkeit von Religionen nicht gerecht. Sie spielen die Religionen gegeneinander aus. Wir brauchen einen interreligiösen Dialog, wir brauchen eine Stärkung der Zivilgesellschaft und nicht die Spaltung der Religionen. Das Thema zu nutzen, um sich als einsame Retter der Christen auf Kosten der Muslime aufzuspielen, ist schäbig, ist absurd, und man tut den Christen damit keinen Gefallen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Helge Lindh, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir sind keine christliche Partei. Wir sind eine deutsche Partei, die sich bemüht, deutsche Interessen wahrzunehmen.“ Das sagte Alexander Gauland in „Christ & Welt“ 2016. Recht hatte er; die AfD ist wahrhaftig keine christliche Partei. ({0}) Angesichts dieser richtigen Feststellung ist die Dreistigkeit, ausgerechnet heute, gezielt kurz vor Weihnachten, einen Bundesbeauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit zu beantragen, die maximal mögliche Verhöhnung und Verspottung von Musliminnen und Muslimen, Jüdinnen und Juden in diesem Land. ({1}) Nicht nur das: Sie ist auch noch eine Verspottung aller Christinnen und Christen, die Sie für Ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen und auf deren Rücken Sie Anschluss aus Verzweiflung über mangelnde Unterstützung suchen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur dies sagte Herr Gauland; 2019 wies er im ARD-Sommerinterview auch noch darauf hin, dass die AfD dagegen wäre, dass die Kirchen – und nach meinem Verständnis haben Kirchen normalerweise etwas mit Christentum zu tun – sich in die Politik einmischen und politische Antworten geben. Jetzt stelle ich Ihnen die Frage: Wieso mischen Sie sich denn in religiöse Fragen ein und behaupten, christliche Antworten geben zu können? Ich sehe da eine gewisse Inkonsistenz. Aber wir sind kurz vor Weihnachten, wir sind geprägt auch von christlichen wie humanistischen Werten, und einer ist die Feindes- und Nächstenliebe. Im Sinne dieser Feindesliebe möchte ich auch der AfD meine Wertschätzung ausdrücken, ({2}) meine Wertschätzung für Ihre Transparenz und Durchschaubarkeit; denn die Motive Ihrer Anträge sind maximal durchschaubar. Sie interessieren sich genau dann für Terror, wenn sich damit Stimmung machen lässt gegen Islam und Musliminnen und Muslime. Sie interessieren sich genau dann – und nur dann – für die Rechte von Frauen, wenn sich damit Stimmung machen lässt gegen Musliminnen und Muslime. Sie interessieren sich genau dann für Antisemitismus, wenn dies zur Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Musliminnen und Muslime geeignet ist. Und nicht nur das; Sie steigern das Ganze auch noch. Wenn es antisemitische Vorfälle und Muster in Ihren eigenen Reihen gibt, schweigen Sie; aber Sie stellen Anträge zur Bekämpfung des Antisemitismus. Wenn in Ihren eigenen Reihen gegen Bischöfe, gegen Repräsentanten der Kirche gewettert wird: kein Wort. Aber Sie stellen Anträge zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit. ({3}) Und – auch das ist heute in Ihren Anträgen wunderbar passend vorgeführt – Sie klagen an, dass dieses Land zu leiden hätte unter Hunderttausenden von Geflüchteten. Und dann paktieren Sie mit Assad, stellen ihn als einen Wahrer von Menschenrechten und Religionsfreiheit dar, obwohl Assad einer der Hauptgründe ist, warum sich Hunderttausende von Syrerinnen und Syrern auf die Flucht begeben haben. ({4}) Um es kurz zu sagen: Sie paktieren mit Fluchtursachen, und Fluchtursachenbekämpfung ist AfD-Bekämpfung. ({5}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir wollen ja über christliche Botschaften reden, daher möchte ich in diesem Moment an ein paar Widersprüche erinnern. Die christliche Botschaft spricht von Nächsten- und Feindesliebe; ich erwähnte das. Was Sie praktizieren, sind Hass und Missgunst. ({6}) Ergo: Die AfD ist eine christenfeindliche, antichristliche Partei. ({7}) Das Christentum – Stichwort „Bergpredigt“ – verbreitet Toleranz. Sie stehen für Intoleranz. Die AfD ist eine antichristliche Partei. ({8}) – Lesen Sie lieber mal die Bergpredigt; ich würde es Ihnen empfehlen. Das Christentum sagt unter anderem: Warum siehst du den Splitter nur im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken in deinem eigenen? – In Ihren Augen sind 500 Balken, und ich würde Ihnen dringend raten, erst mal die Balken zu sehen und nicht immer die Splitter bei den anderen zu suchen. Und auch das ist eine christliche Botschaft. Sie haben sich aber leider nie mit dem Christentum ernsthaft auseinandergesetzt; das ist Ihr Problem. ({9}) Christentum bedeutet – heutzutage erst recht – Anerkennung von Religionsfreiheit. Was Sie tun, ist Missachtung von Religionsfreiheit. Christentum steht für Milde und Gelassenheit. ({10}) Sie stehen – Frau von Storch, Sie haben es eben wieder vorgeführt – für Hysterie, Daueraufgeregtheit und Hetze. ({11}) Die AfD ist eine christenfeindliche und antichristliche Partei. ({12}) Das Christentum steht für Empathie, steht dafür, mit den Schwachen und Verfolgten zu stehen, sie zu unterstützen. Sie leben davon, immer neu Schwache, Verfolgte und Arme auszuweisen und Schwache und Schwächere gegeneinander auszuspielen. Die AfD ist eine antichristliche, christenfeindliche Partei. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Als Weihnachtsgeschenk: Selbstverständlich. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Lindh, danke, dass Sie meine Frage zulassen. – Ich merke gerade, wie ich Puls bekomme. ({0}) Ich liebe Jesus Christus, und ich würde behaupten, dass ich ein liebender Christ bin. Ich bin aber kein Mitglied mehr der Kirche; das mal dazu. Aber ich bin ein Christ, ein liebender Christ, so wie meine ganze Familie. Herr Lindh, erste Frage: Lieben Sie Jesus Christus? Die zweite Frage ist: Wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass der ideologisch geprägte Islamismus die Christen als Feinde beschreibt und auch bekämpfen möchte? Wollen Sie das allen Ernstes in diesem Raum sagen? Wollen Sie allen Ernstes bezweifeln, dass in Afrika Christen getötet werden? Nigeria ist wieder ein Beispiel. Wollen Sie das hier ernsthaft bezweifeln? Das ist meine Frage. Und eines sage ich Ihnen: Wir sind ein christliches Abendland. Das sind unsere Werte, unsere Kultur und unser Glaube. ({1}) Ich stehe dazu. Sie überhaupt nicht; das stelle ich hier fest. ({2})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie Puls haben, zeigt, dass ich was richtig gemacht habe; insofern werte ich das als Kompliment. Die Frage – habe ich das richtig verstanden? –, ob ich Jesus Christus liebe, ist eine sehr merkwürdige politische Frage. Die werde ich selbstverständlich hier nicht beantworten, ({0}) weil das völlig irrelevant ist in diesem Parlament. Ich kann nur eines sagen: ({1}) Ich bin mir immer unsicher; denn zum Glauben – aber Sie haben ja wenig mit Glauben zu tun und sehr viel mit Gottlosigkeit – gehört ja immer der Zweifel. Zweifel ist Ihnen fremd. ({2}) Was ich sagen kann: In Ihrem praktischen Handeln beweisen Sie, dass Sie offensichtlich Jesus Christus nicht lieben. Das kann ich in der Beurteilung nur so wahrnehmen. ({3}) Zu Ihrer Logik. Das ist eigentlich immer wunderbar; denn die AfD hat die Kunst der unfreiwilligen Selbstentlarvung auf die Spitze getrieben. ({4}) Sie weisen ja darauf hin, es gebe islamistische Verfolgung von Christen. Die gibt es, oh ja; wurde auch schon alles hier ausgeführt. Sie weisen aber nie auf die Verfolgung von den Uiguren und den Rohingya hin. Sie weisen nicht darauf hin, dass sich die Herren Gültekin, Özen, Abu El Hosna in Wien schützend vor ihre christlichen Brüder und Schwestern gestellt haben, was Sie, glaube ich, nie tun. Sie schleusen nur rechte Blogger hier in den Bundestag ein. Das ist Ihre Art von Mut, sprich: Feigheit. ({5}) Sie haben sich nie damit auseinandergesetzt, wie sich in Indonesien, in Frankreich, in Kenia, in Jordanien nachweislich viele muslimische Organisationen schützend vor ihre christlichen Schwestern und Brüder gestellt haben. All das erzählen Sie nicht. Auslassen ist auch eine Form des Lügens. ({6}) Da wir heute ja so christlich sind und ich Ihnen auch einen Einstieg ins Christentum gebe, komme ich nun zum Dekalog, den Zehn Geboten: ({7}) „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Was Sie permanent machen, ist falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben die Lüge auf die Spitze getrieben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind per definitionem eine antichristliche, unchristliche Partei. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. Kommen Sie bitte zum Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Fassen wir es zusammen: Ihre Kernkompetenz ist mitnichten Christentum und Kirche. ({0}) Ihre Kernkompetenz ist Hass und Hetze. Lesen Sie bitte in Ihrem eigenen Antrag; da warnen Sie unter anderem auch vor rechtsextremistisch motiviertem Hass gegen Christen. Nehmen Sie sich ein Beispiel.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, ich muss Sie bitten, jetzt Ihre Rede zu beenden. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schaffen Sie diesen Beauftragten an! Als Erstes hat er sich mit Ihnen selbst zu beschäftigen; denn Sie sind das größte Problem der Christenfeindlichkeit in diesem Land. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christine Buchholz, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0}) Moment, Frau Kollegin Buchholz, ich bitte um Entschuldigung. – Ich sollte darauf hinweisen, dass in einer Minute die Urnen für die namentliche Abstimmung geschlossen werden. Am Ende Ihrer Redezeit werde ich sie schließen. – Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für uns als Linke ist klar: Wir wenden uns gegen jede Diskriminierung und Gewalt gegenüber Anhängerinnen und Anhängern, Repräsentanten und Einrichtungen jeglicher Religion und Weltanschauung, seien sie christlich, muslimisch, jüdisch, alevitisch, jesidisch, hinduistisch oder auch atheistisch. Sie tun das nicht! ({0}) Die Anträge der AfD zum Thema Christenverfolgung untergraben den dringenden Kampf für weltweite Religionsfreiheit; denn sie schüren den Hass gegen den Islam und Muslime. Man sieht das exemplarisch an Ihrem Antrag zur Situation in Nigeria und an Ihrem Antrag auf Berufung eines Beauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit in Deutschland. Der Terror von Boko Haram ist schockierend; aber der Umgang der AfD mit den Terroropfern ist abstoßend und instrumentell. ({1}) Sie machen alle Opfer zu Christen. Aber der Terror von Boko Haram und anderen trifft in Nigeria Christen und Muslime gleichermaßen, wie jüngst die 300 entführten Jungen im nordwestlichen Bundesstaat Katsina. Die AfD führt die Gewalt in Nigeria auf die – in Anführungszeichen – Islamisierung zurück. Aber die Konflikte in Nigeria sind keine Religionskonflikte. ({2}) Auch in Nigeria sind es Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen wie Kleinbauern und Nomaden. Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Landraub und Ressourcenkonflikte sind die eigentlichen Verursacher und Verstärker der Konflikte. Mit ihren Thesen entlastet die AfD übrigens die Teile der nigerianischen Eliten, die ihren Anteil am Aufbau von Boko Haram haben, und sie verschweigt – das ist besonders verwerflich –, dass sich christliche und muslimische Akteure in Nigeria gemeinsam um die Aufklärung von Gewalttaten, die Dokumentation gewaltsamer Zwischenfälle, um Versöhnung und gemeinsame Unterstützung von internen Vertriebenen und vieles, vieles mehr kümmern. ({3}) Statt Toleranz und gegenseitigen Respekt zu würdigen, machen Sie von der AfD hier genau das, was Sie immer machen: Sie spielen Christen und Muslime in Nigeria und auch in anderen Regionen der Welt gegeneinander aus. Auch in Ihrem Antrag für einen Beauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit wird Ihr selektives Verständnis für Religionsfreiheit im Speziellen und die Menschenrechte im Allgemeinen deutlich. Seit wann interessieren Sie sich eigentlich für Geflüchtete? Nur, wenn es Christen sind? ({4}) Sie haben hier gehetzt, wenn wir einen besseren Schutz für besonders Schutzbedürftige gefordert haben, übrigens auch für Konvertitinnen und Konvertiten. ({5}) Die AfD will sogar an Grenzen auf Flüchtlinge schießen. Wie wollen Sie denn da die Christen von den Muslimen unterscheiden? ({6}) Sie haben hier gehetzt, wenn wir für eine menschenwürdige Unterbringung und für eine soziale Perspektive für alle Geflüchteten argumentiert haben. Mit Ihrer Bigotterie, Ihrem Rassismus schützen Sie keine Christen. Sie unterminieren den Kampf für die Rechte von verfolgten, unterdrückten und bedrängten Christen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 8 a und frage, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme nicht abgegeben hat. – Das ist nicht der Fall.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was feiert die AfD eigentlich an Weihnachten? ({0}) Die Geburt Jesu kann es ja nicht sein; denn Jesus steht für Werte wie Nächstenliebe, Empathie, Toleranz und friedliches Miteinander. All das lehnt die AfD doch entschieden ab. Schon die Person Jesu ist der AfD ein Dorn im Auge; denn er ist ein Flüchtlingskind. In einem AfD-Regime hätte Maria nicht im Stall gebären dürfen, sondern wäre von Ihnen flugs abgeschoben worden. ({1}) Ihre Anträge sind pure Heuchelei. Sie können nicht für das Christentum streiten, weil der AfD christliche Werte fremd sind. ({2}) Hass schüren – da ist die AfD in ihrem Element. Auch in Ihren heutigen Anträgen: Christen als größte Religionsgruppe der Welt werden verfolgt von bösen Muslimen. Ihre alte Leier, Ihre Islamophobie schreit einfach zum Himmel. ({3}) Der AfD-Antrag zur Christenverfolgung in Nigeria geht an der komplexen Realität vorbei. Wie der Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit hervorhebt, waren im Nordosten Nigerias sowohl christliche als auch muslimische Gotteshäuser Ziele von Terroranschlägen. Bei den meisten Konflikten im Land geht es vorrangig um die Verteilung von Ressourcen, Land und politische Teilhabe, nicht um Religion. ({4}) Aber religiöse und andere Minderheiten außerhalb der beiden großen religiösen Gruppen der Christen und Muslime werden in ihren Rechten massiv eingeschränkt. Davon steht nichts in Ihren Anträgen. Das ist pure Heuchelei. ({5}) Entlarvend ist, dass die AfD in ihren Anträgen zu Pakistan nichts, aber auch gar nichts, zum Leid der Ahmadiyya-Minderheit sagt. Wer die Rechte einer einzigen religiösen Minderheit so überhöht, der ist kein Anwalt für Religionsfreiheit. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt derzeit 39 Bundesbeauftragte, unter anderem für Menschenrechte und für Religionsfreiheit. Diese Ämter befassen sich tagtäglich mit der Diskriminierung aller Religionen. Unter welchem Verfolgungswahn müssen Sie eigentlich leiden, einen Bundesbeauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit in Deutschland zu fordern? Richtig wäre, das Amt der Beauftragten für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe deutlich zu stärken. ({7}) Doch darum geht es der AfD ja gar nicht. Sie instrumentalisieren Christenverfolgung, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit, seit Neuestem auch Antisemitismus, um gegen andere Religionen zu hetzen. Es sind doch Mitglieder Ihrer Fraktion, die die Schließung von Moscheen fordern. Sie machen islamfeindliche Hetze salonfähig und damit Anfeindungen von Gläubigen und Angriffe auf Gotteshäuser. Menschenrechte und Religionsfreiheit sind für die AfD nur ein Deckmantel für ihre Diskriminierung anderer. ({8}) Jesus steht für Frieden, Versöhnung und gesellschaftliches Miteinander. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind mit dem Christentum unvereinbar, die AfD auch. ({9}) Frohe Weihnachten – ohne Ihren Quatsch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frank Heinrich, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatte zum Thema Christenverfolgung – da schlagen jedes Mal zwei Herzen in meiner Brust. Auf der einen Seite habe ich in der Vergangenheit selbst – als Christ, als ehemaliger Pastor und in meinem jetzigen Amt – viele Menschen in verschiedenen Ländern getroffen, habe in ihre Augen gesehen und weiß, dass sich die Situation für Christinnen und Christen in der Welt tatsächlich an vielen Stellen verschlechtert hat. Auf der anderen Seite schmerzt mich – das hat man ja auch in unserer Debatte bis jetzt miterlebt – die Schlagrichtung Ihrer Anträge, die Anwaltschaft, die Sie da scheinbar übernehmen. Mit der einseitigen Beleuchtung – meine Kollegen haben das gerade schon gesagt – dieses Themas tun Sie genau das, was die Religionsfreiheit auch für Christen eher verschlechtert als verbessert, nämlich eine Gruppe herauszuheben. Sie sprechen Pakistan in einem der Anträge an. In Pakistan stellen fundamentalistische Organisationen für einige gesellschaftliche Gruppen tatsächlich eine Bedrohung dar. Die Bedrohung geht aus von sunnitischen Fundamentalisten gegen Christen, aber eben auch gegen Schiiten, gegen Ahmadiyya, die tatsächlich vom Staat als nichtmuslimisch klassifiziert werden, gegen Sikh und auch gegen gemäßigte Sunniten. Ihr Antrag, der differenzierter ist als letztes Mal, ({0}) schreibt aber dann am Schluss doch als Fazit: Kümmert euch um die Christen. ({1}) Im gleichen Tonfall sprechen Sie von Nigeria. Sie führen eine Menge struktureller und komplexer Probleme in Nigeria an und schlussfolgern dann aus mir unbekannten Gründen, die wirkliche Ursache der mannigfaltigen Probleme sei die verheerende Christenverfolgung. Meine Kollegin hat es gerade gesagt: Es ist weit differenzierter, und es geht tatsächlich auf ganz andere Auseinandersetzungen zurück. Selbst christliche Persönlichkeiten instrumentalisieren in diesem Land ihre Religion. Ich war 2014 in dem Land, in der Region, wo Boko Haram wütet, und habe eine Kirche besucht; ich habe das in meiner letzten Rede schon erwähnt. In dieser Kirche gab es sieben Tage vorher einen Überfall, genau während des Gottesdienstes. Ich konnte anhand des Liederbuches noch sehen, an welcher Stelle des Gottesdienstes. Fulani und Boko Haram waren über diese Kirche und dieses Dorf hergezogen. Ich weiß, wir müssen die Christen unterstützen und Christenverfolgung thematisieren. Aber in der gleichen Region haben die Christen mich beauftragt, hier in diesem Haus und an die Christen in der westlichen Welt zu sagen: Bitte vergessen Sie nicht, für Boko Haram zu beten. – Das ist eine vollkommen andere Haltung als das, was ich im Geiste Ihres Antrags fühle. ({2}) Besonders schockierend finde ich Ihre Aufforderung, dass die ungelösten Entführungsfälle christlicher Kinder zum Thema aller bilateralen Gespräche gemacht werden sollen. Als wenn es darauf ankäme, die Religionszugehörigkeit der Kinder festzustellen, um sich dann gegebenenfalls für sie einzusetzen, falls sie denn christlich sind. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Heinrich, eine Kollegin der Fraktion Die Linke würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage oder ‑bemerkung zulassen. Ich möchte an dieser Stelle, weil wir ja auch im Advent sind, folgendes Beispiel aus meinem Wahlkreis berichten. Ich war vor einem Jahr zu einer Adventsfeier eingeladen, die mehr als ungewöhnlich war. Und zwar lud ein muslimischer Kultur- und Bildungsverein, der auch Sprachkurse, Integrationskurse für Geflüchtete anbietet, zu einer Adventsfeier ein. ({0}) Hauptrednerin war eine nigerianische Christin, die in einer eindrucksvollen, ja bedrückenden Präsentation ihre Erfahrungen hinsichtlich der Verfolgung von Christen sowie Bilder von niedergebrannten Kirchen aus ihrer Heimat präsentierte. Sind das nicht Beispiele, wie man miteinander durch einen Dialog der Religionsgemeinschaften, durch ein Aufeinanderzugehen und durch die Suche nach gemeinsamen Werten einen Ansatz für unser Land finden kann? Müsste die Bundesregierung das nicht viel stärker unterstützen und fördern?

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz herzlichen Dank für Ihre Intervention und die bestätigende Frage. – In einem Dorf in dieser Region in Nigeria, von der ich eben sprach, gab es das Ereignis, dass sowohl die Kirche als auch die muslimische Moschee zerstört wurden. Auch die muslimische Moschee war von Muslimen zerstört worden. Da in diesem Fall die besseren Kontakte zu Christen bestanden, haben die Christen geholfen, neben dem Gebäude der Kirche auch die Moschee wiederaufzubauen mit der Folge, dass tatsächlich am Freitag danach der Pastor, der Prediger der Kirche, in der Moschee reden durfte. Das entspricht für mich dem, was Sie gerade geschildert haben, nämlich die Chance zu sehen und die verbindenden Elemente zu fördern. Solche Schritte brauchen wir. ({0}) Solche Schritte werden durch die einseitige Bevorzugung von Christen und Christinnen in solchen Anträgen, wie Sie sie hier vorgelegt haben, erschwert. Wenn ein Kind entführt wird, ist das eine Gräueltat, egal ob es christlich, muslimisch oder atheistisch aufgewachsen ist. Spätestens an dieser Stelle, der Unterscheidung zwischen schützenswerten und nicht schützenwerten bzw. weniger schützenswerten Kindern, wird Ihr angeblicher Einsatz für Menschenrechte ad absurdum geführt. ({1}) Als Christ – Sie haben hineingerufen, ich soll mal in der Bibel lesen – gehe ich bei diesem Thema sogar noch einen ganz kleinen Schritt weiter. Ich erlaube mir, denjenigen zu zitieren, der gerade schon zweimal zitiert wurde, nämlich den Gründer unserer Religion, des Christentums. Im Neuen Testament sagt Jesus: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen ... Und dann sind da die Christen aus Nigeria, die ich im Ohr habe, die sagen: Betet auch für Boko Haram! Dann ist es Open Doors, die Sie in Ihren Anträgen mehrfach zitiert haben, die gestern aus Kamerun geschrieben haben: „Bitte betet für unsere Feinde!“ An einer weiteren Stelle heißt es in der Bibel: Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ganz anders ist der Geist Ihres Antrages. In dem Sinne bitte ich Sie als Antragsteller, auch im weihnachtlichen Sinne Ihren Antrag auf die mehrfach betonten christlichen Werte abzuchecken. Herr Lindh hat das vorhin sehr deutlich gemacht. ({2}) Ich werde mich jedenfalls weiterhin für Verfolgte jeden Glaubens einsetzen und für sie beten. Danke schön. ({3})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon interessant, was hier alles gesagt wurde. ({0}) Es ging im Wesentlichen um ein Ablenken vom Kern des Problems durch die Altparteien. ({1}) Daran ändern auch nichts die teilweise nachdenkenswerten Formulierungen – wie immer – von Herrn Grübel und Herrn Heinrich. Die Christen sind weltweit die am meisten verfolgte Religionsgemeinschaft, weit über 200 Millionen. Wer das leugnet, erzählt Unsinn. Das ist das Erste. ({2}) Das Zweite. Herr Lindh, tja, was soll man zu Ihnen eigentlich noch sagen? Sie weigern sich, sich zum Christentum zu bekennen, sagen aber immer, Sie seien ein ganz toller Christ. ({3}) Ich könnte jetzt auch sagen, die SPD sei eine christenfeindliche Partei. ({4}) Das könnte ich auch sagen – will ich zurückgeben, stimmt auch vermutlich. ({5}) Aber ich sage, Herr Lindh, Sie passen eher in die Scharia-Partei Deutschlands, um das einmal ganz klar zu sagen. Ganz klar: in die Scharia-Partei Deutschlands. ({6}) Boko Haram hat nichts mit dem Islam zu tun, habe ich gerade gehört; denn in Nigeria geht es nicht um den Islam bei den Morden, die da passieren. – Das ist auch interessant. Die SED war schon immer gut im Erfinden von Lügen und Halbwahrheiten. ({7}) Was Christenverfolgung bedeutet, erfahren wir beim aktuellen Blick auf Nigeria. ({8}) 668 Schulkinder sind in dieser Woche nach einem brutalen Angriff auf ihre Schule entführt worden – im Namen des Islam. ({9}) Die islamische Terrorgruppe Boko Haram reklamiert den Anschlag für sich. Nigeria steht seit Jahren für schwerste Verbrechen an Christen – ihres Glaubens wegen. Über 2 Millionen Christen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land durch Gewalt im Namen des Islam. Boko Haram ist nur eine von vielen Terrororganisationen. Drei Anträge gegen die Christenverfolgung weltweit stellen wir von der AfD heute hier im Plenum. Einer benennt die Christenverfolgung in Nigeria. Des Weiteren fordern wir die Benennung eines Beauftragten gegen die Christenfeindlichkeit in Deutschland. Der Dritte gilt Pakistan. Nur wir kämpfen im Deutschen Bundestag gegen die Christenverfolgung. ({10}) Pakistan ist das Land, in dem Christen am stärksten weltweit gewaltsam verfolgt werden durch sunnitische Moslems. Das belegt der aktuelle Weltverfolgungsindex der Menschenrechtsorganisation Open Doors. ({11}) Es sind örtliche Hassprediger, es ist eine Art Zivilgesellschaft, die in Pakistan diese Gewalt ausübt. Pakistan ist die Drehscheibe des radikalen Islam für ganz Asien. Auch der Gründer und Anführer der radikal-islamischen Terroristen in Myanmar, Jununi, stammt aus Pakistan. Die massive Gewalt in Pakistan wird durch menschenrechtswidrige Gesetzgebung gefördert. Die Paragrafen 295a bis 295c des Pakistan Penal Code sehen für die angebliche Beleidigung des Koran und des Propheten Mohammed die Todesstrafe vor. Stichwort: Blasphemie. ({12}) Seit Jahrzehnten wächst die Zahl der Angriffe auf Christen in Pakistan kontinuierlich, und häufig trifft es dabei Frauen. Mord, Entführung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung, Zwangsräumung ihrer Häuser und Vertreibung: All dies müssen Christen in Pakistan jederzeit befürchten. Dabei kann die Anklage wegen Blasphemie schon dazu führen, dass Nachbarn das erfahren und ihrerseits kurzerhand Lynchjustiz üben – so geschehen im Fall des Studenten Mashal Khan im pakistanischen Mardan. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Braun!

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Bundesregierung muss sich dieser Realität in Pakistan und woanders umgehend stellen! ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Braun, ich habe die Debatte aufmerksam verfolgt. Ich habe keinen Einzigen hier erlebt, der die Christenverfolgung in der Welt kleingeredet hat. ({0}) Keinen! Ich glaube, dass die Debatte sehr deutlich markiert hat, wo unsere Unterschiede in der Betrachtung des Phänomens liegen. Ich rede hier nur zu Ihrem Antrag zum Beauftragten zur Bekämpfung von Christenfeindlichkeit in Deutschland. Ich halte diesen Antrag für falsch und auch für gefährlich. Für falsch halte ich ihn deshalb, weil er nicht mit unserem Grundgesetz übereinstimmt. Die Präambel des Grundgesetzes, die sich auf Gott bezieht, bezieht sich nicht auf den Gott der Christenheit. Sie bezieht sich auf den Gott aller Menschen, die ihn als letzte Instanz, als letzten Grund, als letztes Ziel erleben und sehen. ({1}) Alle Gesetze, die sich aus dem Grundgesetz ableiten, tragen die Religionsfreiheit als ein die Identität bestimmendes Merkmal von Menschen in sich. In den harten Kämpfen und Auseinandersetzungen, die wir sogar hier führen, geht es immer – das merken wir – um Identitäten. Woran glaube ich? Was ist in meinem Leben der letzte Sinn? Wenn man das angreift, wenn man einem Menschen das abspricht und wegnimmt, weil es nicht das Eigene ist, weil man vielleicht in seiner eigenen Identität auch ein bisschen unsicher ist, ({2}) dann greift man die Wurzel und die Existenz des Menschen an. Deswegen ist es falsch, einen Christenbeauftragten sozusagen über die anderen zu stellen und zu sagen: Wir halten das Christentum letzten Endes, auch wenn wir für Religionsfreiheit sind, für die beste und richtigste Religion. – Das mag jeder für sich entscheiden. Deswegen halte ich Ihren Antrag für falsch. Zum Zweiten will ich auch die Kirche anführen. Der genetische Code der Christenheit ist eigentlich – das wurde hier vielfach gesagt – die Toleranz, die Duldung des anderen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Patzelt, die Kollegin von Storch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne fertig werden. Ich antworte Ihnen gerne hinterher, Frau von Storch. – In der Enzyklika „Nostra Aetate“ – „In unserer Zeit“ – aus dem Jahre 1965 schreibt die katholische Kirche, die ja nun wirklich in ihrer Lehre, in ihrer Botschaft und in der Bewahrung der Wahrheit relativ restriktiv erscheint – wenn ich zitieren darf, Herr Präsident –: Alle Völker sind … eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ; auch haben sie Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Wenn wir das als Christen so prominent und deutlich sagen, dann ist jeder Versuch, die Christenheit herauszuheben, besonders zu schützen und als besonders darzustellen, ein Irrtum. Ich habe gesagt: Ich halte Ihren Antrag auch für gefährlich. Ich halte ihn für gefährlich, weil eine solche Handlungsweise tatsächlich die alten Gräben – was heißt „alte Gräben“? –, auch die neuen Gräben, die Gräben überall in der Welt weiter vertieft. Wir Menschen, auch wir Christen, haben eine schlimme Vergangenheit. ({0}) Wir schämen uns dafür und sagen: Unsere Vorfahren, unsere Eltern haben es nicht besser verstanden. – Aber sie waren auch immer geführt von Angst und von Vorbehalten. Ich erinnere an die Kreuzzüge. ({1}) Ich erinnere an den Dreißigjährigen Krieg. Ich erinnere mich, dass mir als Kind gesagt wurde, dass es eine Sünde sei, wenn ich in eine evangelische Kirche ginge. Wir Christen haben geglaubt, andere mit unserer Wahrheit und unserer Überzeugung belehren und, wenn nötig, mit Gewalt agieren zu müssen: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“ Ich erinnere auch an die Sachsenmission. Wir haben eine Geschichte, die uns deutlich gemacht hat, wie gefährlich, wirklich gefährlich, es ist, wieder in diese Dimension einzutreten. Jesus Christus hat die Wurzel für eine andere Betrachtung unseres Zusammenseins, unseres Menschseins gelegt. ({2}) „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche“ – ich zitiere erneut – „die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten …“ Wir sollten uns diesem Gedanken wirklich widmen. Es ist bald Weihnachten. ({3}) Herr Braun und alle anderen Abgeordneten der AfD-Fraktion, ich möchte Sie nicht als unchristlich bezeichnen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege!

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte keine neuen Gräben schaffen. Ich glaube an Ihre Lernfähigkeit, ({0}) und ich glaube daran, dass auch in Ihrer heterogenen Gruppe gelernt werden kann, dass die Christenheit viel mehr ist als eine Gruppe, die Rituale pflegt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Patzelt!

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Zeit ist um. – Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Menschenrechtsschutz erlebt seit Jahren weltweit Rückschläge. Konflikte, Vertreibungen, Repressionen, sexuelle Gewalt, Diskriminierung sind die Ursachen dafür. Auch die Covid-19-Pandemie wird mancherorts als Vorwand genutzt, um Menschenrechte noch weitergehend einzuschränken. Umso wichtiger ist es, dass wir den Menschenrechtsschutz als Kernanliegen unserer Politik und damit auch der Außenpolitik verstehen. Das betrifft erstens die Durchsetzung einer wirklich europäischen Menschenrechtspolitik. Deshalb bin ich außerordentlich froh, dass uns vor wenigen Tagen, noch während unserer Ratspräsidentschaft, der Durchbruch zu einem EU-Menschenrechtssanktionsregime gelungen ist; denn es muss endlich Schluss sein damit, dass Täter, die erhebliche Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, unbehelligt über Einkaufsmeilen Europas schlendern und da ihr Geld in der Europäischen Union parken. Damit ist jetzt Schluss. Damit haben wir ein Instrument geschaffen, mit dem wir gegen solche Menschen vorgehen können. Das ist ein gutes Zeichen für die Europäische Union. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als China im Sommer in Hongkong hart gegen die Demokratiebewegung durchgegriffen hat, ({1}) haben wir Europäer, und zwar auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs, geschlossen und koordiniert reagiert, etwa durch gezielte Exportbeschränkungen oder auch die Aussetzung unserer Auslieferungsabkommen mit Hongkong. Auch das ist richtig und notwendig gewesen. Auch die Sanktionen gegen Lukaschenko und andere Verantwortliche für die Menschenrechtsverletzungen in Belarus sprechen eine eindeutige Sprache. Wir sind gerade dabei – wahrscheinlich wird das heute über die Bühne gehen –, in Brüssel das dritte Sanktionspaket zu verabschieden. Auch als Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates, den wir vor wenigen Tagen übernommen haben, werden wir alles daransetzen, eine europäische Menschenrechtspolitik voranzubringen. Wir werden uns für eine bessere Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einsetzen. Etwa gegenüber der Türkei fordern wir zum Beispiel die sofortige Freilassung von Osman Kavala und weiterer politischer Gefangener ({2}) gemäß dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wir widmen uns auch den ganz alltäglichen Herausforderungen für die Menschenrechte, und zwar auch bei uns, in Europa: dem Schutz vor Hass und Hetze im Internet und der Unterstützung von Minderheiten wie den Roma. Der zweite Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrifft den Menschenrechtsschutz weltweit. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir uns in den letzten zwei Jahren immer wieder dafür eingesetzt, Menschenrechtsverletzungen auf die Agenda dieses Gremiums zu setzen. Wir haben uns auch dafür eingesetzt, dass Täter weltweit zur Rechenschaft gezogen werden. Deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften gehören hier weltweit zu den Vorreitern. Ich werde den Besuch von Generalsekretär António Guterres heute und morgen in Berlin auch dazu nutzen, gemeinsam mit ihm darüber zu diskutieren, wie wir diese Arbeit weiter auf der Ebene der Vereinten Nationen intensivieren können. Der dritte und letzte Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrifft diejenigen, die Menschenrechte weltweit mutig verteidigen. Auch sie brauchen unseren Schutz. ({3}) Wenn ich im Ausland unterwegs bin, werde ich oft auf unser Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ angesprochen. Viele von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren in diesem Haus, leisten damit einen manchmal überlebensnotwendigen Beitrag für eine solidarische Menschenrechtspolitik. Es steht uns allen gut zu Gesicht, dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit und Verantwortlichkeit dieses Thema highlightet. Das, was Sie mit diesem Programm auf den Weg gebracht haben, hat vielen Menschen in schwierigen Situationen schon das Leben gerettet, wofür sie Ihnen allen außerordentlich dankbar sind. ({4}) Meine Damen und Herren, auch die Bundesregierung hat dieses Jahr mit der Elisabeth-Selbert-Initiative ein neues Instrument geschaffen, um Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger für eine Zeit aus der Schusslinie zu nehmen. Die ersten Anträge für Schutzaufenthalte in Deutschland sind bereits eingegangen. Die erste Menschenrechtsverteidigerin kann demnächst nach Deutschland ausreisen. Sie wird bedroht, weil sie sich in ihrer Heimat für die Rechte ehemaliger Kindersoldaten eingesetzt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 14. Menschenrechtsbericht macht auf solche Schicksale aufmerksam – auf die großen und die vielen kleinen Plätze weltweit, an denen Menschenrechte Tag für Tag verletzt werden. Solange dies der Fall ist, müssen wir weiter für ihren Schutz kämpfen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Braun, AfD. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Im Bericht der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik fehlt vieles: Von Christenverfolgung in deutschen Asylbewerberunterkünften lesen wir nichts, von den vielen Schändungen von Kirchen landauf, landab in Deutschland – nichts. Auch der neue islamische Antisemitismus fehlt – er wird ignoriert –, stattdessen findet sich ein Wildwuchs des Begriffs „Zivilgesellschaft“. Hundertfach ist davon die Rede, in mancherlei blumiger Umschreibung, in mancherlei Variante. Der Begriff der Zivilgesellschaft dient zur Aushebelung der Demokratie, nicht legitimierten Ausübung von Herrschaft. Auch politische Stiftungen, die nicht legitimiert sind, gehören zur Zivilgesellschaft. ({0}) Das Gender Equality Forum – nicht legitimiert, diverse Foren gegen Rassismus – nicht legitimiert, die „Mut-Macherinnen*“ von DaMigra – nicht legitimiert, Berliner CSR-Konsens zur Unternehmensverantwortung – alles nicht legitimiert. ({1}) Gruppen, die neudeutsch „NGO“ genannt werden: eine Spielwiese der Bundesregierung zur Durchsetzung der Interessen der Regierung. ({2}) Millionen und Abermillionen an Steuergeld fließen, um der nicht legitimierten Zivilgesellschaft zum Erfolg zu verhelfen – undemokratisch par excellence. ({3}) Die Beschlüsse der Weltkonferenz gegen Rassismus von Durban gelobt die Bundesregierung umzusetzen. Dass dort Judenhass gepredigt wurde, scheint gar nicht aufzufallen. ({4}) Aber uns fällt so etwas auf. Die AfD kämpft entschieden gegen jede Form des Antisemitismus. ({5}) Weil die Bundesregierung die Menschenrechte verkommen lässt, ist es Zeit: Die AfD fordert die Einsetzung eines Beauftragten gegen Christenfeindlichkeit. Der Bericht zur Menschenrechtspolitik liest sich, als wenn er von Linksextremisten geschrieben worden wäre. Linksextreme Straftaten kommen nicht vor. ({6}) – Herr Brand, reden Sie sich nicht raus mit Zwischenrufen. – Islamischer Extremismus fehlt komplett. Wir von der AfD stellen uns klar gegen jeden Extremismus, sei er von rechts, von links oder islamisch. ({7}) Die Bundesregierung vermengt Menschenrechte mit Forderungen der Klimahysteriker und von Linksextremisten. Dutzende von Seiten sind mit links-grünen Spinnereien gefüllt; ({8}) um Menschenrechte geht es vielfach gar nicht. So klingt dann eine Kapitelüberschrift – Zitat –: „Klima-, Biodiversitäts-, Umwelt- und Menschenrechtsschutz als gemeinsame Herausforderung angehen“. Oder diese hier: „Frauen, Frieden, Sicherheit“; fehlt nur noch: „Friede, Freude, Eierkuchen“. ({9}) Das alles in einen Topf und gut umrühren. Geht es bei Ihnen eigentlich noch bescheuerter? Geht es noch? ({10}) Bei der Lektüre von Seite 24 bin ich plötzlich erleichtert. Ich sehe das Wort „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ als Überschrift. Doch sofort stellt sich Ernüchterung ein: Die Bundesregierung bejubelt dieses menschenrechtswidrige Gesetz, anstatt es zu verurteilen; schamlose Internetzensur durch das NetzDG. ({11}) Diese deutsche Form der Internetzensur wird von der Kommunistischen Partei Chinas ausdrücklich gelobt und als vorbildlich angesehen. Das sind die Genossen der Bundesregierung bei der Verletzung von Menschenrechten, das sind die neosozialistischen Kumpane. ({12}) Nicht einmal für Infantilismus ist sich die Bundesregierung zu schade. Infantile Bezeichnungen wie das Gute-KiTa-Gesetz und das Starke-Familien-Gesetz müssen zur Lobhudelei herhalten. ({13}) Derlei infantile Initiativen kommen aus dem Hause der Dr. Giffey, aus dem Hause der Falscher-Doktor-Ministerin. Der Menschenrechtsbericht verkommt zum Infantile-Aktionen-Bericht. ({14}) Trotz der seltsamen Coronapolitik dieser Bundesregierung wünsche ich Ihnen allen eine frohe und gesegnete Weihnachtszeit. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Brand, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Menschenrechtsbericht dokumentiert die Veränderung der Weltlage in den letzten Jahren. Er ist auch eine Warnung. Menschenrechte und freiheitliche Gesellschaften stehen trotz einzelner gegenteiliger Beispiele weltweit massiv unter Druck: von der brutalen politischen Führung in Moskau und Peking über Massenmörder in Syrien und Diktatoren von Saudi-Arabien bis hin zu katastrophalen Entwicklungen von Menschenrechten in der Türkei und anderswo. Daher ist es umso wichtiger, dass sich die Europäische Union als eine Union der Menschenrechte und Demokratie die Grundrechte nicht abkaufen lässt. Es ist ein wichtiges Signal, dass Deutschland, der größte Mitgliedstaat, mit diesem profilierten Menschenrechtsbericht weiter vorangeht. Lieber Herr Kollege Braun, wenn es ein Schlechte-Rede-Gesetz geben würde, dann würden Sie hier nicht mehr reden; denn das, was Sie über den Menschenrechtsbericht sagen, ist nun wirklich ein Hohn. ({0}) Es ist glatte Propaganda. Ich bin dafür bekannt, dass ich den Finger in die Wunde lege, auch beim Menschenrechtsbericht, ({1}) aber ich sage ganz deutlich: Der Menschenrechtsbericht 2020 ist klarer als die der vergangenen Jahre. Ich danke Bärbel Kofler ausdrücklich für diese Arbeit. ({2}) Ich muss auch sagen: Am Ende zählt nicht der Buchstabe oder die Überschrift in diesem Papier, sondern die Konsequenz in der Tagespolitik. Die EU hat unter der Führung der deutschen Ratspräsidentschaft – in der Tat, Herr Außenminister – mit dem Magnitskij-Mechanismus eine wichtige Entscheidung getroffen, um dafür zu sorgen, zielgenaue Sanktionen gegen schwere Menschenrechtsverbrecher durchzusetzen. Und deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auch richtig, diesen jetzt zu nutzen, zum Beispiel im Fall Belarus, und zwar nicht nur auf Lukaschenko bezogen, sondern auch auf sein Umfeld. Deswegen: Nicht Papier, sondern Tagespolitik zählt. Ich kann nur sagen: Den Weg werden wir weiter voranschreiten. Dem Außenminister sage ich ein herzliches Dankeschön für seinen Einsatz. ({3}) Das Signal des Menschenrechtsberichts lautet: Die Demokratien in der Welt sind eben nicht auf dem Rückzug. Wir kämpfen jetzt und in Zukunft für Demokratie und Menschenrechte. Dieses Signal gilt weltweit, und darauf können sich die Freunde Deutschlands verlassen, wie übrigens auch die Gegner der Menschenrechte. Es ist international vielfach betont worden: Die größte Bedrohung von Menschenrechten geht von der größten Diktatur der Welt aus – von China. Aktuell, vor zwei Tagen, wurde eine neue entsetzliche Nachricht bekannt. In einer international respektierten Studie wurde aufgedeckt, dass das chinesische Regime die Minderheit der Uiguren nicht nur in Zwangslager steckt, wo sie auf den selbsternannten Führer Xi Jinping schwören muss. Die neue Enthüllung dokumentiert auch, dass zwischen 500 000 und 1 Million Uiguren wie im Mittelalter in Zwangsarbeit geschickt werden, um auf Feldern Baumwolle zu pflücken. Diese Bilder kennen wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dafür gibt es ein Wort: Das, was das Regime dort praktiziert, kennen wir als Sklaverei. Es muss jedem hier im Haus, in Europa und weltweit klar sein: Das chinesische Regime hat mittelalterliche Vorstellungen, und es hat – das macht es so gefährlich – totalitäre globale Ansprüche. China will die Abkehr von Menschenrechten und finanziert dies mit Milliardensummen. In Xinjiang gibt es eine schlimme Fusion von digitaler Repression mit mittelalterlichem Denken. China führt seinen globalen Kampf mit modernster Technik, mit wirtschaftlicher und ideologischer Kriegsführung. Aktuell ist unser Partner Australien Opfer offener chinesischer Aggression. Man will diese Demokratie durch Sanktionen gefügig machen. Auch deutsche Unternehmen sind Opfer. Menschenrechtsorganisationen werden bekämpft. Selbst Abgeordnete dieses Parlaments sollen unter Druck gesetzt werden. Ich wiederhole: Es wird China nicht gelingen, uns den Mund zu verbieten. Das Regime hat uns nur aufgeweckt. ({4}) Allerdings ist auch klar: Wir werden uns dieser globalen Herausforderung zu stellen haben. Gemeinsam mit unseren Partnern in Europa, jetzt auch wieder mit den USA sowie mit Asien werden wir gemeinsame Strategien brauchen, um diese totalitäre Pandemie zu stoppen. Das geht nur, wenn wir nicht kapitulieren und wenn wir keine Opportunisten sind. Das chinesische Regime und die anderen Diktatoren der Erde müssen wissen: Wir bleiben! Und die Freiheit wird bleiben! Und die Menschenrechte auch! Wir werden nämlich nicht kapitulieren, sondern kämpfen. Vielen Dank. ({5})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute sowohl den 14. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung als auch einen Antrag der Freien Demokraten zu den Möglichkeiten, wie wir Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger weltweit, aber vor allen Dingen hier in Deutschland besser schützen können. Ich möchte beim Menschenrechtsbericht anfangen und mit etwas Positivem starten. Es freut uns sehr, dass Sie die Empfehlungen des UPR, des Universal Periodic Review, im Bericht nennen und sich damit kritisch auseinandersetzen. Das schafft Glaubwürdigkeit, um auch mit anderen Ländern kritisch ins Gericht zu gehen. ({0}) Außerdem ist gut, dass Sie angekündigt haben, sich im kommenden Menschenrechtsbericht vor allen Dingen der Digitalisierung zu widmen. Das haben wir Freie Demokraten schon in diesem Jahr mit dem Schwerpunktthema im Menschenrechtsausschuss gemacht. Das ist lange überfällig. Wir freuen uns auf den nächsten Bericht. Vielen Dank auch – wir haben es gestern im Ausschuss angesprochen – für die klaren Worte zu den massiven Menschenrechtsverletzungen der chinesischen kommunistischen Partei in Hongkong und in Xinjiang. Doch wir werden Sie nicht an diesen Worten messen, liebe Bundesregierung, lieber Herr Außenminister. Wir werden Sie daran messen, was Sie tatsächlich für Konsequenzen daraus ableiten. Gestern im Ausschuss hatte man fast den Eindruck, Sie wollten Lob dafür, dass Sie konkret und realitätsgetreu die Fakten aufschreiben, was gerade in China – und zwar nicht nur in diesem Sommer, sondern schon über Monate und Jahre hinweg – passiert. ({1}) Herr Außenminister, ganz ehrlich: Sie bekommen von uns keinen Applaus für etwas, das Sie einfach nur konkret dargestellt haben. Sie bekommen dann Applaus und ein Lob von uns und wir stehen dann an Ihrer Seite, wenn es in Ihrer Außenpolitik erkennbare konkrete Handlungsempfehlungen und Ableitungen gibt, und das können wir momentan noch nicht feststellen. ({2}) Denn seien wir ganz ehrlich: Dieser Bericht erweckt zwar aufgrund seiner Struktur den Eindruck, dass es eine integrierte Menschenrechtsstrategie der Bundesregierung gibt. Aber wenn man dann genauer hinguckt, dann stellt man fest: Wenn Ministerien zusammenarbeiten müssen, dann sieht es nicht danach aus, und dann holpert es ordentlich. Der Sanktionsmechanismus bei der Verletzung von Menschenrechten, der auf EU-Ebene beschlossen wurde, wurde angesprochen. Aber ob der funktionieren wird – das haben Sie, Herr Maas, gestern im Ausschuss selber gesagt –, das wissen Sie noch nicht, weil Einstimmigkeit erforderlich ist, weil gar nicht sicher ist, ob es tatsächlich maßgebliche Erweiterungen der Sanktionslisten geben wird. Wir werden Sie daran messen, ob Sie sich auch über die Ratspräsidentschaft hinaus dafür einsetzen werden, dass das funktioniert. ({3}) Ich möchte gerne die letzten Sekunden darauf verwenden, die in unserem Antrag aufgezeigten Probleme zu beschreiben, die sich auch auf die deutsche Menschenrechtspolitik beziehen lassen. Denn wenn Ministerien wie das Innenministerium und das Auswärtige Amt nicht zusammenarbeiten, dann wird man feststellen können – das hat im Oktober ein Team von Investigativjournalisten getan –, dass beispielsweise Hackergruppen, die der vietnamesischen Regierung nahestehen, vietnamesische Menschenrechtsaktivisten hier in Deutschland bedrohen, hacken und an ihrer Arbeit hindern. Die Behörden haben nicht geholfen. Und der ägyptische Geheimdienst – das steht sogar im Verfassungsschutzbericht der Bundesregierung – späht hier Dissidenten aus. Meine Damen und Herren, was wir fordern, ist, dass Sie einen Gradmesser anlegen, wie es den Menschenrechtsaktivisten in Deutschland geht und wie sie hier ihre wichtige Arbeit machen können. Dazu fordern wir eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene und Behörden beim BKA, das dies dann zusammenführt und eine Warnkaskade für Betroffene aufstellt, so wie es auch beim Warnen im Bereich von Cybersicherheit bei Unternehmen geht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin!

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wir sehen an diesem Menschenrechtsbericht, dass noch viel zu tun ist. Wir freuen uns auf die Debatte auch über die kommenden Berichte und fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass Deutschland für Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger ein sicherer Hafen ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin!

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist momentan noch nicht der Fall. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Zaklin Nastic. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Menschenrechtsbericht heißt es, dass sich Frieden, Sicherheit und die Wahrung der Menschrechte gegenseitig bedingen. Ja, dann dürfen Sie doch nicht weiter Mordwerkzeug an alle möglichen Menschenrechtsverletzer liefern! ({0}) Begonnen mit der Türkei, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, durch die Hintertür weiter über Saudi-Arabien, das einen verheerenden Krieg gegen den Jemen führt, bis nach Syrien und bis zu den Drogenkriegen in Mexiko: Überall wird mit deutschen Waffen gekämpft und gemordet. Vergangene Haushaltswoche haben Sie auch noch einen rekordartigen Rüstungsetat in Höhe von 50 Milliarden Euro beschlossen. Das ist mehr als für Gesundheit und Bildung zusammen. Mit der Wahrung von Menschenrechten hat das nichts zu tun. ({1}) Außenminister Maas, Sie schreiben im Bericht: Eine wesentliche Rolle spielt die Glaubwürdigkeit, mit der wir weltweit auftreten können, weil wir uns auch zu Hause um die Wahrung der Menschenrechte kümmern. – Wie glaubwürdig ist das, Herr Maas, wenn wir gerade feststellen mussten, dass wir in Deutschland, in einem der reichsten Länder der Welt, mit 15,9 Prozent die höchste Armutsquote seit 1990 haben? Herr Maas, Die Linke will Menschenrechte für alle und nicht nur für diejenigen, die sie sich kaufen können. ({2}) Corona trifft eben nicht alle gleichermaßen. Nein, Corona trifft die Ärmsten am härtesten. Das sagt nicht nur die Caritas, sondern auch der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Die Lebens- und Wohnverhältnisse sind dafür entscheidend, ob sich jemand ansteckt, und das individuelle Immunsystem ist auch ein Spiegelbild der Arbeitsverhältnisse. Es ist eben ein Unterschied, ob jemand im Homeoffice arbeiten kann oder bei Tönnies Rinderhälften auseinandernehmen muss. Deswegen sagen wir als Linke, auch gegen das Virus: Wir brauchen gute Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverkürzungen. ({3}) Wer ärmer lebt, ist früher tot! ({4}) Aus dieser schrecklichen Erkenntnis heraus fordert Die Linke ein Menschenrecht, das Menschenrecht auf Gesundheit für alle. ({5}) Während der Pandemiezeit ist Amazon-Chef Jeff Bezos an einem Tag mal eben um 3 Milliarden Dollar reicher geworden, während der Chef des World Food Programme jetzt bei den Reichen auf Betteltour gehen muss, um den Welthunger zurückzudrängen. Auch der Lidl-Chef Dieter Schwarz ist während der Pandemiezeit um 11,1 Milliarden Euro reicher geworden, während gleichzeitig der Lohn der Kassiererinnen und Kassierer um 60 Euro monatlich gesunken ist. Das ist nicht nur ein Skandal. Nein, für sie und für die Pflegekräfte fordert Die Linke endlich gute Löhne. ({6}) Es ist dringend notwendig, das Bündnis der Bundestagsmehrheit mit den Superreichen endlich zu beenden, auch im Sinne unseres Grundgesetzes; denn Eigentum verpflichtet. Es ist Zeit, die Vermögenden und Superreichen mit einer Vermögensabgabe zur Kasse zu bitten, damit Menschenrechte, und zwar für alle, finanziert werden können. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Nastic. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Margarete Bause. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Immer wieder werden Kleinkinder mit Rattenbissen zur Behandlung in unsere Klinik gebracht“ – so die schockierende Schilderung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen vor einigen Tagen. Der Alarmruf kommt nicht aus einem zerbombten Kriegsgebiet in Syrien; er kommt aus einem Flüchtlingslager bei uns in Europa. Rattenbisse bei Kleinkindern sind zu einem so gravierenden Problem geworden, dass auf der Insel Samos eine großangelegte Tetanus-Impfkampagne gestartet werden musste. In den Elendslagern auf den griechischen Inseln ist die medizinische Versorgung nahezu komplett zusammengebrochen. Die Zeltlager versinken in Regen und Schlamm. Es mangelt an Trinkwasser, an Nahrung, an Decken. Die Zustände sind seit Jahren bekannt. Sie werden immer katastrophaler, und sie sind menschenunwürdig. ({0}) Doch von all diesem Elend findet sich in Ihrem Bericht kein einziges Wort. Auf mehr als 300 Seiten schaffen Sie es nicht einmal, die Begriffe „Seenotrettung“ oder „Pushbacks von Frontex“ zu erwähnen oder zu erwähnen, dass das Mittelmeer zur tödlichsten Grenze der Welt geworden ist. Flüchtlingslager gibt es für Sie in Myanmar und im Irak; aber mit der beschämenden Realität der europäischen Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen wollen Sie sich in diesem Bericht nicht beschäftigen. Das geht so nicht, liebe Bundesregierung. ({1}) Wir sind hier in der Verantwortung. Wir dürfen nicht wegschauen, wir dürfen nicht schweigen. Gerade der Menschenrechtsbericht muss den Finger in diese Wunde legen und den menschenverachtenden Zynismus der Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen benennen. ({2}) Wir müssen dringend handeln, um die Kinder, die Frauen und die Männer endlich aus diesem Elend herauszuholen. ({3}) Kolleginnen und Kollegen, dass der Bericht dazu schweigt, ist umso ärgerlicher, weil in diesem Bericht auch viel Richtiges und viel Gutes steht. Dass die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Kofler, die Kritikpunkte des Menschenrechtsausschusses aufgenommen hat, ist ebenso anerkennenswert wie ihre Arbeit und ihr Engagement. Richtig ist auch: Dieser 14. Bericht der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik ist ein Fortschritt gegenüber dem vergangenen Jahr. Aber Sie mogeln sich an den Themen vorbei, bei denen die Koalition versagt oder heillos zerstritten ist, Beispiel Lieferkettengesetz, Beispiel Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt. Hier muss ein Menschenrechtsbericht Position beziehen. ({4}) Noch ein Punkt. Es reicht nicht mehr, vom Klimawandel zu reden. Wir sind schon mittendrin in der Klimakrise, mancherorts auch in der Klimakatastrophe. Dürren, Überschwemmungen, Hungerkatastrophen, Kriege, Flucht, Vertreibung sind schon längst bittere Realität, und das ist eine Bedrohung für die Menschenrechte auf dieser Welt. Sie sind auch Konsequenz des fahrlässigen Nichthandelns auch dieser Bundesregierung. Wenn Sie es mit dem weitreichen Engagement für den Schutz der Menschenrechte ernst meinen, dann handeln Sie endlich, nicht nur mit umfangreichen Problembeschreibungen, nicht nur mit wichtigen Hilfsprogrammen, sondern auch mit konkreten Maßnahmen für den Schutz von Klima und Menschenrechten. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margarete Bause. – Nächste Rednerin: für die Fraktion der CDU/CSU Dr. Katja Leikert. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Menschenrechtsbericht der Bundesregierung macht zwei Dinge ganz deutlich: Erstens ist die Menschenrechtslage in der Welt nicht besser geworden, sondern schlechter, und zweitens wird es Zeit – das ist für mich ganz klar –, Menschenrechtspolitik endlich als Teil der Sicherheitspolitik ernst zu nehmen. Menschen zu schützen, ist nicht nur unsere innere Überzeugung, sondern unsere klare Pflicht als Europäerinnen und Europäer. Und es ist auch in unserem ureigensten Interesse. Es liegt auf der Hand, dass es besser ist, präventiv Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, als anschließend mit massivem Einsatz von Diplomatie, Entwicklungshilfe und Militär die Situation retten zu wollen. Konflikte entstehen ja oft erstmals dort, wo Menschenrechte massiv verletzt werden, von Honkong bis Belarus. Sehr geehrter Herr Minister Maas, ich begrüße ausdrücklich, dass Sie Ihren Bericht mit Frau Tichanowskaja beginnen; denn das Recht, das in Belarus herrscht, das Recht, das dort für Stabilität sorgt, folgt eben nicht unserem menschenrechtsbasierten Verständnis. Es ist gut, dass Sie das in diesem Bericht klar und deutlich sagen. Für uns als Große Koalition gilt: Wir stehen fest an der Seite der Menschen in Belarus. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie verhindern wir Menschenrechtsverletzungen? Für mich ist klar, dass wir den Preis für Menschenrechtsverbrecher hochtreiben müssen. Wer andere versklavt, verschleppt, vergewaltigt, ermordet, der darf auf dieser Welt keinen sicheren Platz mehr finden, nicht für sich und eben auch nicht für sein Geld. ({1}) Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, ist es gut, dass die Bekämpfung von Straflosigkeit jetzt Einzug gehalten hat in den „Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung 2021-2022“ als Bestandteil des Menschenrechtsberichts. Wir wissen auch: Die Stärkung internationaler Strafgerichtsbarkeit allein reicht nicht aus. Sie ist zu lückenhaft, zu schwerfällig, um kurzfristig wirklich einen Unterschied zu machen. Deswegen ist gerade das erweiterte Sanktionsregime der Europäischen Union – auch wenn Sie da Skepsis angemeldet haben, Frau Jensen – ein ganz entscheidender Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft, zu dem ich der Bundesregierung ausdrücklich gratuliere. Dieses Instrument kann in der Tat ein Gamechanger in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden, weil wir jetzt zum ersten Mal schneller und präziser – oft wird kritisiert, dass wir zu langsam sind – genau da ansetzen können, wo es zählt. Wenn wir das im Einklang mit unseren Partnern weltweit tun, mit den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Japan und Kanada, dann machen wir die Welt für die schlimmsten Verbrecher bedeutend kleiner. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dieses Instrument jetzt rasch und mutig einsetzen. Ich denke dabei an Ramzan Kadyrow, den brutalen Machthaber von Tschetschenien, übrigens ein Unterstützer des „lupenreinen Demokraten“, dem Sie von rechts außen sich hier so anbiedern. Ich denke dabei aber auch an Chen Quanguo, der als zuständiger Funktionär der KP für die Internierung von 1 Million Uiguren verantwortlich ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken – Sie setzen sich ja auch immer sehr für die Menschenrechte ein –, ({2}) vielleicht lernen Sie an dieser Stelle dazu, anstatt weiterhin KP-Propagandisten in den Menschenrechtsausschuss einzuladen. Für die Union ist jedenfalls klar: Je mehr China internationale Normen unterläuft und Menschenrechte missachtet, umso lauter werden wir deren Einhaltung fordern. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Vogler von den Linken?

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde jetzt gerne zum Schluss kommen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut, danke schön.

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weil die Minister gerade zusammensitzen und über das Lieferkettengesetz beraten, möchte ich abschließend an dieser Stelle sagen: Ich würde mich freuen, wenn da eine Einigung erzielt wird. ({0}) Das würde Deutschland gut zu Gesicht stehen. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten Ihnen allen! Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Katja Leikert. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Frank Schwabe. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Frau Dr. Leikert gibt mir die Gelegenheit, hier anzuknüpfen; ich hatte gestern bei der Befragung der Bundesregierung ein kleines Tête-à-Tête mit der Bundeskanzlerin zu diesem Thema. Ich will aber zunächst noch einmal unterstützen: Das ist ein guter Menschenrechtsbericht. Ich glaube, es ist gut, wenn wir nach draußen in die Welt schauen; Herr Kollege Brand hat es gesagt. Es ist aber auch gut, wenn wir uns an die eigene Nase packen und überlegen, was wir zur Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen können. Deswegen sage ich noch mal für meine Fraktion und sicherlich auch für einen Großteil der Unionsfraktion: Wir wollen ein Lieferkettengesetz, und zwar eines, das Zähne hat, das am Ende auch wirklich wirksam ist. Es ist an der Bundeskanzlerin und an uns allen, dafür zu sorgen, dass das schnell kommt. ({0}) Zur Menschenrechtspolitik ist viel gesagt worden. Ich glaube, es gab großes Lob – das habe ich jedenfalls rausgehört – für diesen Menschenrechtsbericht. Ich will auch ein bisschen Hoffnung verbreiten. Die Lage der Menschenrechte auf der Welt ist schwierig; aber es gibt auch gute Entwicklungen. Wenn man sich die Wahlen der letzten Monate anschaut, dann sieht man: Es finden harte Auseinandersetzungen um die Frage der Menschenrechte statt. Wir gehen in diese Auseinandersetzung. Deutschland sollte in dieser Frage konsistent sein. Das Außenministerium und andere Ministerien sollten Menschenrechtspolitik zu einem Schwerpunkt machen und als Querschnittsaufgabe begreifen. Wir sollten in der Tat auf unser Handeln schauen, in Deutschland und in Europa. Das bringt mich zum Thema „Umgang mit Geflüchteten“; das Handeln Europas ist nämlich eine Schande. ({1}) Ich erinnere an den Weihnachtsappell; wer will, kann sich noch daran beteiligen. Ich sage es mit den Worten von United4Rescue, die ein Schiff ins Mittelmeer geschickt haben: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ Und es darf auch keine Pushbacks geben. Das ist ein Verstoß gegen internationales Recht. ({2}) Das ist absolut inakzeptabel. Der Herr Außenminister hat den Europarat angesprochen. Auch da ist es gut, wenn wir uns an die eigene Nase packen. Der Europarat hat eine Kommission gegen Rassismus, ECRI, eingesetzt. Die haben uns aufgefordert, einen Bericht zu Racial Profiling bei Sicherheitsbehörden in Deutschland zu erstellen. Ich denke, dem sollten wir schlichtweg nachkommen. ({3}) Wir haben dort auch GRECO, eine Organisation gegen Korruption, die gesagt hat: Wir brauchen ein effektives Lobbyregister, übrigens auch mit exekutivem Fußabdruck in Bezug auf das, was die Ministerien machen. Auch das sollten wir in Deutschland umsetzen. Ansonsten unterstütze ich auch, was Außenminister Maas zum Europäischen Gerichtshof gesagt hat. Ich weiß nicht, ob das Blasphemie ist, aber er ist im Grunde der Heilige Stuhl – so will ich es einmal nennen – des Europarates. Insofern sind die Gerichtsurteile Gesetz und müssen umgesetzt werden, auch von der Türkei, so im Fall Kavala und im Fall Demirtas. ({4}) Wir sind kurz vor Weihnachten. Deswegen darf ich noch einen Wunsch zu Weihnachten äußern. Der Außenminister hat das wichtige Programm des Bundestages, PsP, angesprochen. Meine Patenkinder sind unter anderem Gönül Örs und Hozan Cane, die in der Türkei festsitzen. Ich wünsche mir, dass sie sehr bald wieder in ihrer Heimat Köln sein können. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. Ein schöner Wunsch. – Letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verpflichte mich dazu, die Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben, und für die einzustehen, die Gerechtigkeit fordern – vor allem für die Überlebenden von Gewalt, wo auch immer sie sein mögen. Das ist kein Zitat von mir, sondern von der Jesidin Nadia Murad, die selbst Opfer sexueller Gewalt durch den IS war. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ begann im August 2014 die Offensive auf die jesidischen Dörfer im Irak und in Nordsyrien. Die gefangenen jesidischen Männer wurden getötet, die Frauen verschleppt, verkauft, vergewaltigt und zwangsverheiratet. Die junge Jesidin Nadia Murad war eine von ihnen. Sie erhielt 2018 gemeinsam mit Denis Mukwege den Friedensnobelpreis für ihren Kampf gegen sexualisierte Gewalt und für Rechte der Überlebenden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, konfliktbezogene, sexualisierte Gewalt – und das ist einer der Schwerpunkte des Berichts – ist eine unmenschliche Taktik der Kriegsführung. Dadurch werden Menschen in die Flucht getrieben, psychisch zerstört und die Familien auseinandergerissen. Solange diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit unbestraft bleiben, werden Konflikte immer wieder aufs Neue entfacht. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden. ({0}) Wir begrüßen es daher sehr, dass die Bundesregierung Projekte auch in Südsudan, Mali, Äthiopien, Nigeria, Myanmar, Afghanistan, Laos und El Salvador unterstützt, die für Frauen den Zugang zum Justizsystem verbessern. Ich möchte ein zweites Thema aus dem 14. Bericht der Bundesregierung herausgreifen, und das ist der illegale Organhandel. Seit 2012 ist in China eine sehr negative Entwicklung zu beobachten. Organhandel ist in China zwar seit 2007 verboten. Aber Nichtregierungsorganisationen kritisieren die völlig fehlende Prüfbarkeit der Herkunft von Organen und die fehlende öffentliche Einsehbarkeit in Organregister. Auch das ist ein Punkt, den wir nicht hinnehmen dürfen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Zwangsentnahme von Organen an lebenden Menschen ist ein erschreckend unmenschliches Morden. Niemand auf dieser Welt hat das Recht, das Leben einer Person zu nehmen. Das Recht auf Leben ist universell und muss von uns geschützt werden. ({2}) Der 14. Bericht der Bundesregierung zeigt auf, welch vielfältige und große Arbeit Deutschland auf internationaler Ebene für Menschenrechte geleistet hat. Aber gleichzeitig wird auch deutlich, dass angesichts der schwierigen Menschenrechtslage in vielen Ländern – Corona hat das noch einmal verstärkt – die Herausforderungen in 2021 nicht kleiner, sondern größer werden. Trotz dieser negativen Entwicklungen dürfen wir nicht aufgeben. Im Gegenteil, wir müssen uns noch stärker für die Menschenrechte weltweit einsetzen. Ich komme zum Schluss. Menschenrechtsarbeit ist Friedensarbeit, und Frieden ist die Grundlage für Demokratie und Wohlstand und für eine Reduzierung von Flucht und Vertreibung. Dieses Leid zu lindern, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss Ansporn und Auftrag zugleich sein. Ich wünsche gesegnete Weihnachten. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können stolz sein, dass wir noch in diesem Jahr 400 000 Impfdosen zur Verfügung haben werden. Das ist ein schönes Weihnachtsgeschenk und ein gutes Signal. Und die Aussicht auf 11 Millionen weitere Impfdosen im ersten Quartal nächsten Jahres ist ebenfalls eine sehr gute Nachricht. ({0}) Bei aller verständlichen Euphorie für diesen in Deutschland entwickelten Impfstoff wissen wir aber auch: Am Anfang wird nicht genügend Impfstoff für alle zur Verfügung stehen. Daher muss eine Priorisierung erfolgen. Es muss also eine Reihenfolge geben, nach der zunächst diejenigen geschützt werden, die am meisten gefährdet sind. Ich möchte – mit Ihrer Erlaubnis – an dieser Stelle aus dem gemeinsamen Positionspapier der Leopoldina, des Ethikrates und der Ständigen Impfkommission zitieren: Um verbindlich zu gelten, bedarf eine Priorisierung aus ethischen wie verfassungsrechtlichen Gründen einer hinreichend präzisen gesetzlichen Regelung. ({1}) Wir als FDP-Bundestagsfraktion schließen uns dieser Ansicht vollumfänglich an. ({2}) Deswegen dürfen diese grundlegenden ethischen und verfassungsrechtlichen Fragen nur und ausschließlich hier, vom Deutschen Bundestag, entschieden werden, meine Damen und Herren. ({3}) Der Gesetzgeber ist in der Verantwortung, eine präzise gesetzliche Grundlage zu schaffen. Neben dem zitierten Positionspapier sieht ebenso der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages eine gesetzliche Regelung als dringend notwendig an. Das Gutachten hat übrigens mein geschätzter Kollege Stephan Thomae in Auftrag gegeben. Herzlichen Dank dafür! ({4}) Es ist also nicht nur das Anliegen der FDP-Bundestagsfraktion, die Impfpriorisierung auf ein sicheres rechtliches Fundament zu stellen. Meine Damen und Herren von der Regierung, ich weiß aus Erfahrung, dass Sie unserer Gesetzgebung aus Prinzip nicht folgen wollen. Aber die Leopoldina, den Ethikrat, den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, alle die können Sie nicht einfach so ignorieren und beiseitewischen. ({5}) Lassen Sie mich hier eines ganz deutlich sagen: Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, hier einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. ({6}) Unser Gesetzentwurf zielt darauf ab, ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen besonders zu schützen. Warum? Weil wir schon seit Längerem wissen, dass gerade ältere Menschen, auch in Pflegeeinrichtungen, 90 Prozent der Covid-19-Todesfälle ausmachen. Meine Damen und Herren, es macht uns doch wirklich alle hier im Hause betroffen, wenn wir die Zahlen sehen. Heute sind wieder 698 Todesfälle zu beklagen, gestern 952; das lässt uns doch alle nicht kalt. Deshalb: Menschen in Pflegeeinrichtungen, das Pflegepersonal, die pflegenden Angehörigen und Menschen mit Behinderungen brauchen Schutz und müssen oberste Priorität bei der Impfung haben. ({7}) Ein weiteres Ziel ist es, die Belegung der Intensivbetten zu reduzieren; mit dem Schutz der am meisten Gefährdeten erreichen wir das auch. Durch unseren Gesetzentwurf schaffen wir eine klare gesetzliche Regelung und damit Rechtssicherheit für all diejenigen, die den Impfstoff am dringendsten benötigen. ({8}) Das stärkt auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diese Impfstrategie. Wir haben uns weitgehend an die wissenschaftliche Ausarbeitung der Ständigen Impfkommission gehalten. Wir alle kennen das doch: In letzter Zeit haben wir viel Post von Berufsgruppen bekommen, die meinen, sie müssten ganz oben auf die Priorisierungsliste. Aber: Jeder Beruf ist wichtig. Es geht hier nicht um die Wichtigkeit eines Berufes, sondern es geht darum, Todesfälle und überlastete Intensivstationen zu verhindern. ({9}) Deswegen ist es eben wichtig, dass wir eine gesetzliche Regelung haben, die hier in der Öffentlichkeit des Deutschen Bundestages besprochen wird. Meine Damen und Herren, ein solcher Gesetzgebungsprozess ist doch das Instrument, das Transparenz und Akzeptanz in der Bevölkerung schafft; das wollen wir doch alle. Es gibt kein einziges Argument, warum eine solche wichtige Entscheidung nicht im Parlament getroffen werden könnte. ({10}) Alles, was Sie gestern in der Aktuellen Stunde vorgetragen haben, sind Ausflüchte. Es ist für Sie halt einfacher, hier das Parlament außen vor zu lassen und im Alleingang selbst zu entscheiden. Aber Gott sei Dank gibt es auch bei Ihnen wackere Menschen wie Thorsten Frei, der ebenfalls ein Impfgesetz gefordert hat. ({11}) Sie hätten längst ein Gesetz vorlegen müssen. Und wieder einmal gehen wir als FDP-Bundestagsfraktion in Vorleistung. Wir reden nicht nur. Wir handeln und legen Ihnen hier einen konkreten Gesetzentwurf vor. ({12}) Ich bin jetzt auf die Diskussion gespannt; denn Sie benötigen verdammt gute Argumente gegen das, was die Leopoldina, der Ethikrat und der Wissenschaftliche Dienst sagen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Rudolf Henke. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Aschenberg-Dugnus, wir haben ein Gesetz. ({0}) In dem Infektionsschutzgesetz, das wir durch das Bevölkerungsschutzgesetz geändert haben, haben wir die Ansprüche auf die Durchführung der Schutzimpfung geregelt. ({1}) Wir haben genau die Kriterien, die in der gemeinsamen Empfehlung der Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, und der Ständigen Impfkommission enthalten sind, auf die Sie sich beziehen, in das Gesetz hineingeschrieben. ({2}) Das sind die besonders vulnerablen Gruppen. Es sind diejenigen, die sich um die besonders vulnerablen Gruppen kümmern müssen. Es sind die, die für die Daseinsfürsorgefunktionen in unserem Land verantwortlich sind, und es sind diejenigen, die für die staatliche Funktionsfähigkeit erforderlich sind.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der FDP-Fraktion?

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Henke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Es ist eigentlich mehr eine Bemerkung. Wir haben es mehrfach im Gesundheitsausschuss schon gesagt: Sie beziehen sich auf § 20i SGB V, der eingefügt wurde. Zunächst mal: Allein das Gesetz müsste Ihnen doch schon zeigen, dass das keine Priorisierung ist, sondern nur eine Anspruchsgrundlage. Das SGB V gewährt Ansprüche. Es steht da, dass die Gruppen, die Sie nannten, einen Anspruch haben. Da ist kein Wort darüber, wie zu verfahren ist. Ich verspreche Ihnen – dazu würde ich gern Ihren Kommentar hören –, dass die Gerichte das nicht mitmachen werden. Es wird Menschen geben, die sagen: Ich bin krank, oder ich habe ein großes Problem. Ich passe aber nicht in irgendeine Priorisierung, die Sie jetzt hier gemacht haben. Ich klage mich ein. – Ich verspreche: Es wird Gerichte geben, die per Eilverfahren den Impfzentren dazwischenfunken. ({0}) Sie produzieren auf diese Weise ein Chaos. Warum sehen Sie nicht ein: § 20i SGB V ist eine Anspruchsgrundlage, aber keine Priorisierung. Damit kommen Sie nicht weiter. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für diese Zwischenbemerkung oder Anfrage, Herr Schinnenburg. – Es ist so, dass das Gesetz eine Ermächtigung, eine Befugnis an den Bundesminister für Gesundheit enthält, die Einzelheiten in einer Rechtsverordnung zu klären. Jetzt kann man natürlich sagen: Ansprüche, die dort formuliert werden, gelten im SGB V nur für diejenigen, die auch Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen sind. – Das ist ja eines der Argumente, das Sie nach Lektüre der Bemerkungen aus dem Wissenschaftlichen Dienst auch betont haben. Es ist aber materiell so, dass jeder, der nicht in der gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, den gleichen Anspruch wie derjenige genießt, der in der gesetzlichen Krankenkasse versichert ist. Dafür beteiligt sich die PKV, beteiligen sich andere Finanziers an den Kosten. Aber die Anspruchsgrundlage ist in dem Gesetz unterschiedslos geregelt. Deswegen hat natürlich die Frage einer anschließenden Rechtsverordnung nichts mit einem ungeregelten Bereich oder fehlendem Gesetzesauftrag zu tun. Ich weise das zurück. Ich nehme Sie als Zeugen, weil Sie in Ihrem Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, schon für den Zeitpunkt 14 Tage nach der Anwendung Ihres vorgeschlagenen Gesetzentwurfs eine Verordnungsermächtigung in § 6 formuliert haben: ({0}) Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundestages das Verfahren der Impfstoffzuteilung zu regeln, die Risiko- und Indikationsgruppen nach § 3, auch im Hinblick auf die besonderen Belange von Menschen mit Behinderung sowie pflegender Angehöriger, zu konkretisieren sowie im Falle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ... Dann: diese neuen Erkenntnisse dann zu interpretieren und auszulegen. Wenn Sie das verfassungsrechtlich für möglich halten, dann ist der Streit, den wir jetzt haben, kein prinzipieller verfassungsrechtlicher Streit, sondern das ist ein Streit – ich konzediere, dass ich das nachvollziehen kann, dass das okay ist und dass das auch mit Blick auf parlamentarische Gepflogenheiten normal ist – um Zweckmäßigkeiten. Es geht dann aber nicht um die verfassungsrechtliche Grundlage; ({1}) denn wenn in unserem Fall die verfassungsrechtliche Grundlage für eine Befugnis für den Bundesminister für Gesundheit fehlen sollte, dann müsste sie auch in Ihrem Fall fehlen, und dann müsste auch jede Konkretisierung als Parlamentsgesetz verabschiedet werden. ({2}) Insofern glaube ich, dass wir ein bisschen runterdimmen können. ({3}) In der Sache vermag ich gar keinen zentralen Unterschied zwischen den Regelungsvorschlägen in der Rechtsverordnung des Ministers, in den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission, die sich im Augenblick, formal betrachtet, noch immer in einem zweiten Anhörungsverfahren befinden – ich vermute, dass wir in den nächsten Stunden oder Halbtagen die endgültige Fassung erfahren werden –, und dem, was Sie in dem Gesetzentwurf vorschlagen, erkennen. Es ist genau die gleiche Priorisierung. Insofern: Ich will das nicht einen Streit um des Kaisers Bart nennen, weil es in der Tat um die Rolle des Parlaments geht. Aber der Unterschied ist der, dass wir sagen: Wir vertrauen das dem Bundesminister für Gesundheit an, und dann hat das Parlament jederzeit die Möglichkeit, eine solche Rechtsverordnung durch ein einfaches Gesetz wieder zurückzuholen und außer Kraft zu setzen. Das ist zu jedem Zeitpunkt möglich. Die parlamentarische Beteiligung ist durch die gestrige Aktuelle Stunde, durch die heutige Debatte und durch die Möglichkeit, die Verordnung jederzeit zurückzuholen, immer gewährleistet. Sie sagen aber: Wir möchten zurück zum Anfang. ({4}) – Ja, nicht nur Sie. – Aber die Frage ist, ob das praktisch ist, ob das pragmatisch ist. Ich habe deswegen Zweifel daran, weil es nur unter der Voraussetzung zu Impfungen kommt, dass die EMA und die Europäische Kommission den Impfstoff zulassen. Es ist nicht bewiesen, dass es so sein wird. Denklogisch ist es möglich, dass die EMA und die Europäische Kommission sagen: Das dauert noch etwas. – Dann ist auch noch die Freigabe der Chargen durch das PEI notwendig. Es ist auch noch nicht bewiesen, dass die kommt, und es ist auch nicht bewiesen, dass sie für jede der Chargen kommt. Aber wenn das alles so passiert, wie wir uns das wünschen, dann wird das Impfen am 27. Dezember starten. Deswegen ist gar keine Zeit, um das, was Sie vorschlagen, überhaupt noch zu realisieren. ({5}) Wir haben gestern im Gesundheitsausschuss alle gemeinsam beschlossen, dass es zu Ihrem Gesetzentwurf am 13. Januar eine parlamentarische Anhörung geben wird. ({6}) Danach kann dann erst die Meinungsbildung erfolgen. ({7}) Gesetzt den Fall, Sie würden sich mit dem Entwurf durchsetzen, dann könnte der Bundesrat erst in seiner Sitzung im Februar darüber entscheiden. ({8}) Wem wollen Sie denn erklären, dass wir bis zu diesem Zeitpunkt der Beseitigung Ihrer verfassungsrechtlichen Bedenken warten sollen, bis wir mit der Impfkampagne starten? ({9}) Das ist wirklich eine Art von Verfahrenskultur, die wir nicht mittragen können. Deswegen bitte ich herzlich um Verständnis dafür, ({10}) dass wir auf der Basis des Bevölkerungsschutzgesetzes, des geänderten Infektionsschutzgesetzes und der zu erwartenden Rechtsverordnung des Bundesministers für Gesundheit, die auch extra zurückgestellt worden ist, bis diese Debatte und die von gestern gelaufen sind und bis die STIKO-Empfehlung angepasst ist, agieren wollen. Ich bitte Sie herzlich um Verständnis dafür, dass ich Sie bitte, das dann auch zu unterstützen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Rudolf Henke. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Robby Schlund. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Fernsehzuschauer! Ich möchte vielleicht erst einmal ein paar Worte an die Kollegen richten und nach den Erfahrungen der letzten Wochen einfach bitten, zuzuhören, nicht gleich herumzuschreien und hineinzuquatschen ({0}) oder vielleicht wegen der Emotionen aus Versehen die Einrichtung zu demolieren wie gestern. Ich möchte Ihnen eines zuerst sagen: Ich bin grundsätzlich kein Impfgegner, ich bin aber gegen die Impfinszenierung, die Sie schon seit Wochen betreiben und die schon fast grotesk ist, wenn es nicht so traurig wäre. ({1}) Kritisch ist auch, dass dieser Gesetzentwurf vorsieht, dass vor allem ältere Patienten oder Hochrisikopatienten zuerst geimpft werden sollen. Das halten wir, ehrlich gesagt, für komplett falsch und nicht zielführend, da in dieser Gruppe mit den stärksten Nebenwirkungen des hochexperimentellen mRNA-Impfstoffes zu rechnen ist. ({2}) System- und pandemierelevante Gruppen wie zum Beispiel medizinische Kräfte, Polizei, Rettungskräfte, Bundeswehr und Pflegekräfte sollten natürlich absolut freiwillig zuerst geimpft werden, genauso wie auch unsere Bundesregierung. Die sollten hier mit gesundem und mit gutem Beispiel vorangehen. Wir werden Sie in den nächsten Wochen beobachten. ({3}) Nach unserem AfD-Rastermanagement, welches wir mehrfach auch schon im Februar hier im Plenum vorgestellt hatten, fordern wir immer den Schutz der Risikogruppen mit Maßnahmen wie angemessener Isolierung, Social Distancing und FFP2-Masken. Statt ohne Not die Risikogruppen zu impfen, die wohl am meisten mit den Nebenwirkungen zu kämpfen haben, ({4}) präferieren wir die von uns bereits benannten systemrelevanten Gruppen. Zusätzlich geht in Deutschland die Impfbereitschaft massiv zurück. Aber warum ist das so? ({5}) Das ist hier die entscheidende Frage. ({6}) Weil die Menschen das Vertrauen in die Bundesregierung und ihre Hauruckmaßnahmen verloren haben. ({7}) Statt Rastermanagement proklamieren Sie hier ein sogenanntes Clustermanagement, was nicht nur wahnsinnig teuer ist – 5 Milliarden Euro pro Woche! –, sondern auch unseren kompletten Mittelstand demontiert und letztendlich nichts gebracht hat außer ein riesiges Chaos. ({8}) Lediglich 37 Prozent der Menschen haben noch Vertrauen in die Politik, und dieser Entwurf trägt nicht dazu bei, das Vertrauen zurückzugewinnen. Genauso wenig trägt ein genbasierter mRNA-Impfstoff ({9}) dazu bei, wenn man keine Alternativen anbietet. Was ist zum Beispiel mit den Vektorimpfstoffen oder Totimpfstoffen? Hier liegt eine sehr gute Langzeiterfahrung vor, und in der Welt wurden schon einige zugelassen, zum Beispiel in China ({10}) oder die beiden russischen Impfstoffe ({11}) Sputnik V und EpiVacCorona. ({12}) Wie sieht es hier mit der wissenschaftlichen Zusammenarbeit aus? Leider Fehlanzeige. Irgendwie wird das Ganze den Geruch nicht los, dass es hier einzig und allein um Lobbyismus geht, und da macht auch der FDP-Gesetzentwurf keine Ausnahme. ({13}) Man hat echt das Gefühl, man bekommt hier nur Absinth, obwohl weltweit noch grüner Tee und Glühwein zur Verfügung stehen. Ihnen allen schöne Weihnachten, und denken Sie einfach in der Weihnachtszeit einmal darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe! ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Dittmar. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Aktuellen Stunde gestern befassen wir uns heute erneut mit der Priorisierung der Covid-19-Impfung in Deutschland. In den letzten beiden Sitzungen des Gesundheitsausschusses haben wir sehr ausführlich mit dem Gesundheitsminister, mit dem Robert-Koch-Institut, aber auch mit der Ständigen Impfkommission die aktuellen Empfehlungen rund um die Impfstrategie beraten. Als Parlament haben wir im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz die grundsätzlichen Vorgaben für die Ausrichtung der Impfpriorisierung in der ersten Phase erarbeitet. Im Übrigen, Frau Aschenberg-Dugnus, war die von Ihnen zitierte Forderung der Leopoldina und auch der Ethikkommission Grundlage dieser Formulierung. ({0}) Hier von einer Umgehung des Parlaments, von einem Hauruckverfahren oder von Geheimniskrämerei zu sprechen, verkennt meiner Meinung nach die Realität. ({1}) Zweifellos ist die Frage, wer zuerst geimpft werden kann, elementar und auch grundrechtsrelevant. Ich bin aber davon überzeugt, dass der Weg, den wir hier eingeschlagen haben, nach wie vor der richtige ist. Der vorgelegte Entwurf der FDP zeigt, dass ein weiteres Gesetzgebungsverfahren zu keinem wesentlichen anderen Ergebnis bezüglich der Priorisierung kommt als die Grundsätze, die wir im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz bereits festgelegt haben. ({2}) Diese sind der Schutz der vulnerablen Gruppen, der Schutz derer, die diese pflegen, betreuen und behandeln, und der Schutz von Personen in den besonderen zentralen Dienstleistungsbereichen. Genau das findet sich auch ausdifferenziert im Entwurf der Rechtsverordnung wieder, der auf wissenschaftlichen, epidemiologischen und ethischen Erkenntnissen basiert. ({3}) Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht ja ebenso die Rechtsverordnung für notwendige weitergehende Anpassungen und Ausgestaltung vor. Also scheint das auch in Ihren Augen ein passendes Instrument zu sein, um flexibel und schnell reagieren zu können. ({4}) Meine Damen und Herren, schnelles Handeln ist angesichts der Infektionsdynamik – fast 30 000 Neuinfektionen, gestern fast 1 000 Todesfälle, heute fast 700 Todesfälle – dringend angesagt. Mit dem von der Koalition gewählten Weg können wir noch in diesem Jahr mit den angekündigten und erfreulicherweise bereitgestellten 400 000 Impfdosen beginnen. Mit dem von der FDP vorgeschlagenen Verfahren würden wir mit dem Impfen frühestens im Februar anfangen. ({5}) Ich, meine Damen und Herren, hoffe, dass wir zu diesem Zeitpunkt dann bereits 1,5 Millionen Menschen mit beiden Impfungen versorgt haben werden. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, unter Berücksichtigung der genannten Aspekte – Leitplanken für die Priorisierung sind bereits gesetzgeberisch vorgegeben, ein weiteres gesetzgeberisches Verfahren bringt keine neuen Erkenntnisse, und mit einer Rechtsverordnung ist ein schnelles und flexibles Agieren möglich – ist eine weitere gesetzgeberische Befassung nach meiner Meinung nicht notwendig. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Achim Kessler. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch mit zugelassenen und wirksamen Impfstoffen werden weiterhin Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nötig sein – darüber sind wir uns fast alle einig –; ({0}) denn die Impfstoffe werden noch lange nicht für alle Menschen zur Verfügung stehen. Deshalb ist eine Priorisierung, das heißt die Festlegung einer Reihenfolge bei den Impfungen, unumgänglich, und das ist mit schwierigsten ethischen Fragen verbunden; denn die Festlegung, welche Bevölkerungsgruppen zuerst geimpft werden sollen, kann möglicherweise viele Menschenleben kosten, wenn Impfungen für bestimmte Risikogruppen unterlassen oder erst verspätet ermöglicht werden. Vor diesem ernsten Hintergrund ist es vollkommen unverständlich, dass die Bundesregierung beschlossen hat, diese schwerwiegende ethische Frage alleine zu beantworten und auch zu verantworten. Ich fürchte, dass Herr Spahn das noch bitter bereuen wird. ({1}) Meine Damen und Herren, eine Coronaimpfverordnung reicht keineswegs aus, um schwerwiegende Entscheidungen ausreichend zu legitimieren. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass eine gesetzliche Regelung durch den Bundestag zwingend erforderlich ist. Mit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz haben Sie es zwar dem Bundesgesundheitsministerium ermöglicht, den Anspruch auf Impfungen zu regeln; aber im Gesetz wurde eine Priorisierung nicht genau ausgeführt, sondern nur angedeutet. Deshalb hat vor dem Gesetz auch weiterhin grundsätzlich jeder Bürger und jede Bürgerin denselben Anspruch auf Impfung. Die Bundesregierung riskiert deshalb, dass ihre Rechtsverordnung von den Gerichten gekippt wird. Und das, meine Damen und Herren, ist verantwortungslos, weil es die Impfungen verzögern kann. ({2}) Herr Henke, wenn Sie sich jetzt hierhinstellen und sagen, eine gesetzliche Regelung sei nicht möglich, weil das zu lange dauern würde, dann möchte ich Ihnen einmal sagen: Wir haben allen Fristverkürzungen zugestimmt, und es ist nachgerade eine Unverschämtheit, jetzt hier Zeitgründe anzuführen. ({3}) Sie müssten mindestens das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz nachbessern, um nicht vor dem Verfassungsgericht baden zu gehen; denn Inhalt, Ausmaß und Zweck der erteilten Ermächtigung zur Verordnung müssen im förmlichen Gesetz hinreichend bestimmt sein. ({4}) Die Linke hat deshalb einen Antrag eingebracht, nach dem die Bundesregierung dem Bundestag eine Impfstrategie nebst Priorisierung zur Beratung und Entscheidung vorlegen soll. Wir freuen uns, dass die FDP anstelle der Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf unserem Antrag entspricht. ({5}) Wir erkennen ausdrücklich an, dass die FDP damit versucht, der Bundesregierung auf die Sprünge zu helfen. ({6}) Aber dass Geflüchtete in Massenunterkünften, dass Wohnungslose und Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten, die allesamt ein sehr, sehr hohes Infektionsrisiko haben, bei Ihrer Priorisierung nicht angemessen berücksichtigt sind, kritisieren wir scharf. Deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Kessler. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Covid-19 betrifft uns alle – in diesem Jahr und wahrscheinlich auch im nächsten Jahr. Die Folgen sind verheerend – weltweit und in gesundheitlicher, in sozialer und wahrscheinlich auch in politischer Hinsicht. Deswegen ist die Entwicklung der Impfstoffe so wichtig für den Schutz der Bevölkerung, für die Sicherheit der Bevölkerung. Ich bin mir sicher, dass alle demokratischen Mitglieder dieses Hauses froh sind, dass wir durch gemeinsame, gemeinschaftliche Anstrengung bald mit den Impfungen beginnen können. ({0}) Da anfangs nur wenige Impfstoffe zur Verfügung stehen werden, ist es umso wichtiger, dass wir eine faire und gerechte Verteilung hinbekommen, die nachvollziehbar und einheitlich ist. Nun behauptet Minister Spahn, wir hätten dafür eine Rechtsgrundlage und eine Verordnung der Bundesregierung würde reichen. Aber ich frage Sie: Ist das wirklich so? Ich sage: Nein; ({1}) denn als Rechtfertigung beruft sich Spahn im Kern auf § 20i Absatz 3 des SGB V. Dort geht es nicht etwa um den Zugang zur Impfung, sondern es geht um die Kostenerstattung der Impfung. Damit fehlt die rechtliche Grundlage für die Priorisierung der Impfstoffverteilung. ({2}) Die begrenzte Verfügbarkeit eines Impfstoffes in Verbindung mit einer lebensbedrohlichen Infektion ist aus unserer Sicht grundrechtsrelevant. Das zeigt sich übrigens auch im Ergebnis der Anhörung zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz sowie in den Empfehlungen der Leopoldina, des Ethikrates und der STIKO. Eine klare Rechtsgrundlage ist auch nötig, um die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte und ihrer Teams zu erleichtern, die in den nächsten Tagen in den Impfzentren zu impfen beginnen, und um sie nicht alleinzulassen. Der Gesetzentwurf der FDP ist ein richtiger und wichtiger Vorschlag. Auch wenn wir daran im Detail einiges kritisieren, ist er auf jeden Fall besser als keine Rechtsgrundlage. Deswegen geht mein ausdrücklicher Dank an die Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({3}) Meine Damen und Herren, in einer Krise – die Coronapandemie ist eine Krise – ist der Schutz der Rechte von Bürgerinnen und Bürgern gerade in einer Demokratie zentral. Um ihn sicherzustellen, gibt es die gewählten Parlamente. Lassen Sie uns gemeinsam für eine sichere Rechtsgrundlage sorgen, damit die Priorisierung bei der Impfung tatsächlich auf einer guten Grundlage steht und wir schnell und sicher durch diese Krise kommen. Dies gelingt, indem wir möglichst viele Menschen impfen können und eine gute Immunisierung der Bevölkerung erreichen. Wir sind auf einem guten Weg, aber lassen Sie uns diesen auch rechtssicher gestalten. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Allein in Deutschland sind dem Coronavirus vorgestern über 950 Menschen zum Opfer gefallen – an einem einzigen Tag. Über 4 800 Menschen kämpfen aktuell auf unseren Intensivstationen um ihr Leben. Vielerorts mochte man in den vergangenen Tagen trotzdem nicht auf den geselligen Glühwein inmitten der belebten Einkaufsstraßen verzichten. Auch deshalb infizieren sich aktuell trotz mehrwöchigen Teil-Lockdowns immer mehr Menschen mit dem Virus, leider auch immer mehr ältere Menschen und Menschen aus Risikogruppen. Unsere Kliniken und insbesondere die Intensivstationen stehen heute an ihrer Belastungsgrenze. Viele Häuser mussten in den vergangenen Tagen bereits Patienten abweisen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unser Gesundheitssystem unter der Last der zahlreich schwer erkrankten Coronapatienten zusammenbricht. Genau aus diesem Grund mussten wir die Maßnahmen zu Beginn dieser Woche noch einmal massiv verschärfen. Das strikte Reduzieren von Kontakten und die konsequente Umsetzung der erweiterten AHA-Regeln bleiben auf absehbare Zeit unsere wirksamste Waffe gegen das Virus. Doch es gibt Hoffnung. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht von einem sprichwörtlichen Licht am Ende des Tunnels sprechen – so weit sind wir noch nicht –; aber mit dem ersten bald zur Verfügung stehenden Impfstoff haben wir dem Virus endlich etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen. Bis eine ausreichende Anzahl von Menschen die Impfung erhalten hat, ist es trotzdem noch ein sehr langer Weg. Die gute Nachricht aber ist: Nach den vorliegenden Daten verhindert eine Impfung in der überwiegenden Zahl der Fälle schwere und tödliche Krankheitsverläufe. Deshalb halte ich es auch für wichtig, hier im Deutschen Bundestag noch einmal klar zu sagen: Nehmen Sie das Angebot auch wahr und lassen Sie sich gegen das Virus impfen! ({0}) Die Impfung wurde in den klinischen Studien von allen 43 000 Testpersonen gut vertragen. Schwerwiegende Nebenwirkungen traten nicht auf. Es ist ein historischer Durchbruch, dass Forscher aus Deutschland innerhalb so kurzer Zeit eine Waffe gegen die zerstörerische Pandemie entwickelt haben. Dieser Impfstoff, meine Damen und Herren, wird Leben retten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten der Impfstoff nur auf dem Wege einer Notfallzulassung genehmigt worden ist. Die Zulassung des Impfstoffs durch unsere europäischen Behörden wird damit die erste reguläre Zulassung sein. Das Bundesministerium für Gesundheit hat der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut geboten, gemeinsam mit Experten der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und des Deutschen Ethikrates Kriterien für eine Priorisierung von Covid-19-Impfstoffen vorzuschlagen. Uns wird vonseiten der Opposition immer wieder vorgeworfen, man müsse die Priorisierung in einem Bundesgesetz regeln. Aber – das sage ich Ihnen ganz offen – kein Gesetzgeber kann in einer so sensiblen Fragestellung fundiertere Empfehlungen aussprechen als die Wissenschaft und ein Gremium wie der Ethikrat.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sobald die Impfungen starten, sind die drei Institutionen zudem aufgerufen, die Effekte der ersten Impfphase auf die Pandemie herauszuarbeiten, sowohl in Bezug auf die epidemiologischen als auch in Bezug auf die ethischen Implikationen. Durch diese Maßnahmen schaffen wir die nötigen Voraussetzungen dafür, dass die knappen Impfstoffe sinnvoll und zum Schutz der besonders betroffenen Bürgerinnen und Bürger eingesetzt werden, auch ohne ein entsprechendes Gesetz. Das ist richtig. Deswegen bitte ich darum, die Bundesregierung in ihrem bisher stattgehabten Verfahren zu unterstützen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Hilde Mattheis. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben, glaube ich, in den letzten Debatten alle hier im Haus – von der rechten Seite abgesehen – gezeigt, dass uns die Wahrung von Grundrechten fundamental wichtig ist. Das haben wir in allen Debatten herausgestellt. Deshalb ist jetzt in meinen Augen nicht der entscheidende Punkt, zu beweisen, dass wir weiterhin die Grundrechte wahren, sondern dass wir einen gangbaren Weg wählen, der die Erwartungen der Bevölkerung sehr schnell erfüllt. ({0}) Wir alle sind froh, dass wir nach langen Monaten und aufwendigen Verfahren jetzt Impfstoffe zur Verfügung haben. Ich habe hier die Gutachten dabei: Egal welches es ist – die Priorisierung ist für uns alle klar. Das haben wir in § 20i Absatz 3 SGB V genau so formuliert. Erst kommen diejenigen, die am gefährdetsten sind, und dann schichten wir ab, bis die ganz normale Bevölkerung – so wie Sie, Herr Theurer, und wie ich – ebenfalls an diesen Impfstoff kommt. Das ist richtig so. Warum? Weil wir nämlich eine Knappheit haben und mit den Ressourcen gut umgehen müssen. ({1}) Von daher sage ich: Wir sind uns einig. Wir müssen diesen Impfstoff, der zur Verfügung steht, zunächst einmal an die Bevölkerungsgruppen verimpfen, die am gefährdetsten sind. ({2}) Was jetzt die gesetzliche Verankerung anbelangt, ist das – es wurde schon gesagt – ein Stück weit eine Debatte um des Kaisers Bart. Wir werden in drei Monaten wieder eine andere Situation haben als jetzt. Wir haben immer gesagt: Wir sind in einem lernenden Verfahren. Sogar der Wissenschaftliche Dienst sagt – und da bitte ich Sie, dass Sie, wenn Sie sich schon darauf berufen, auch dies zitieren –: Eine gesetzliche Regelung könnte insofern von kurzer Haltbarkeit sein. ({3}) Wir gehen jetzt sehr direkt und pragmatisch und vor allen Dingen für die Bevölkerung nachvollziehbar transparent in diese neue Phase zur Bewältigung der Pandemie. Das erhöht unsere Glaubwürdigkeit, und das ist doch die Sicherheit, die die Bevölkerung jetzt braucht. ({4}) Ich bin überzeugt, dass wir in ein paar Wochen –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– hier noch mal diskutieren werden müssen, wie denn der Stand –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, Entschuldigung, aber gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– der Erkenntnisse sein wird. Das machen wir in unserer Verantwortung als Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Ich berufe mich jetzt noch mal darauf – das steht übrigens auch so in Ihrer Gesetzesvorlage –, wie die Abschichtung sein soll. Das geschieht alles in Übereinstimmung sowohl mit der Impfstrategie aus dem Haus und der Impfstrategie, die uns die Leopoldina vorschlägt, als auch mit allen anderen Sachverständigen. Da stimmen wir ja völlig überein. ({0}) Also bitte ich Sie: Machen Sie doch das, was jetzt nach der Verordnung notwendig ist: die Umsetzung dessen, was wir alle wollen! In einem Punkt würde ich Sie gerne kritisieren. Das mache ich auch abschließend.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das machen Sie aber nur ganz ratzfatz, schnell.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Gesetz hat zum Ziel, die Impfverteilung so fair wie möglich zu organisieren. Für mich heißt das: Die Impfstrategie muss so solidarisch wie möglich umgesetzt werden. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hilde Mattheis. – Die letzte Rednerin in dieser Aussprache: Dr. Claudia Schmidtke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ein perfider Aspekt dieser Pandemie ist das Unbekannte. Wir, die heute politische Verantwortung tragen, das Gesundheitswesen, die kritische Öffentlichkeit, auch die Medien – wir alle müssen mit einer für uns nie dagewesenen Herausforderung umgehen. ({0}) Täglich wird neu hinzugelernt. Immer wieder müssen Entscheidungen getroffen werden, die nach einer gewissenhaften Abwägung der möglichen Vor- und Nachteile trotzdem umstritten bleiben. Auch bei der ersehnten Impfung müssen wir abwägen; denn wir haben auch hier momentan nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund ist es fast verständlich, dass die Opposition auch diese Gelegenheit für Kritik nutzt. Und man muss ja anerkennen, dass Sie in diesem Fall schon konstruktiver geworden sind. ({1}) – Abwarten! – Während die FDP-Fraktion im Sommer überhaupt keine nationale pandemische Gefahr mehr sah, ({2}) hat sie nun nur noch den Wunsch, dass die Impfreihenfolge nicht über eine Verordnung auf Grundlage des von uns hier verabschiedeten Infektionsschutzgesetzes, sondern mit einem eigenen Gesetz geregelt wird. Wir sind davon überzeugt, dass eine Verordnung der bessere Weg ist, weil sie schneller ist, weil wir bereits ausführlich die gesetzliche Grundlage besprochen und geschaffen haben, aber auch weil sie besser geeignet ist, den Empfehlungen der STIKO, der Leopoldina und des Ethikrates, die ausdrücklich mit weiteren Erkenntnissen über die zugelassenen Impfstoffe weiterentwickelt werden, zu entsprechen. Das erkennen Sie – Herr Henke hat es gesagt – in Ihrem Gesetzentwurf auch an, indem Sie aus diesem Grund weitere Verordnungen zulassen. Im Ergebnis ist das, was Sie heute vorlegen, eine formale Frage, die den realen Problemen, vor denen wir stehen, nicht gerecht wird. Wir sollten heute nicht darüber hadern, welche Überschrift wir über die Impfreihenfolge setzen; wir sollten vielmehr dafür werben, sich auch impfen zu lassen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Rottmann?

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Die Impfung ist keine Pflicht, sie ist ein Recht und eine Chance für uns alle. Mit ihrer Wahrnehmung ist auch ein moralisches Moment verbunden. Der Zuspruch und die Hilfsbereitschaft in den Impfzentren sind in meinem Umfeld sehr groß. Gleichwohl möchte ich die Gelegenheit nutzen, insbesondere die noch skeptischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu motivieren. Die Bundesregierung und die Institute haben ihren Beitrag geleistet, um ein einwandfreies, ein reguläres Zulassungsverfahren zu ermöglichen. Jetzt sollten alle, die gerade im medizinischen Bereich um die Bedeutung wissenschaftlicher Evidenz wissen, diese Gelegenheit auch wahrnehmen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, gerade in diesen düsteren Tagen sehen wir Licht. Wir benötigen jedoch noch Geduld, bevor wir es erreichen. Die nächsten Monate werden schwer. Uns wird weiterhin viel Disziplin im Alltag abverlangt. Den digitalen Schwung müssen wir weiter nutzen. Wir müssen in digitale Bildung investieren, aber auch in die digitale Ertüchtigung der Gesundheitsämter, sodass Nachverfolgungen einfacher und weniger aufwendig werden, beispielsweise mit dem von Helmholtz entwickelten SORMAS-Programm. Denn die Impfungen sind nur eine Säule. Mit der Verordnung des Bundesgesundheitsministers sind sie auf dem besten Weg. Erlauben Sie mir – diese Zeit habe ich noch – ein letztes Wort an die antragstellenden Kolleginnen und Kollegen der FDP. Ich musste es mehrfach lesen, weil ich das gar nicht so richtig glauben konnte. Ich zitiere aus einem Interview eines Mitglieds Ihrer Fraktion: Die Mitarbeiter des Bundesgesundheitsministeriums gehörten – Zitat – „jetzt nicht ins Homeoffice oder in den Urlaub, sondern an ihre Schreibtische“. Meine Damen und Herren, die sprachliche Gleichsetzung von Homeoffice und Urlaub mal beiseite; sie zeugt schon davon, wie wenig Sie tatsächlich von der Lebensrealität der Menschen verstanden haben. Doch ausgerechnet den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesgesundheitsministerium Untätigkeit zu unterstellen, die sich in diesem Jahr Tag und Nacht für die Bekämpfung dieses Virus einsetzen, statt nur schlaue Interviews zu geben – für eine solche Bemerkung sollten Sie sich schämen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Claudia Schmidtke. – Ich gebe jetzt das Wort für eine Kurzintervention Dr. Manuela Rottmann.

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wir sind am Ende eines Jahres, und ich will Ihnen ehrlich sagen: Ich bin etwas erschöpft vom immer gleichen Kampf. Das ist der Kampf gegen die Aussage, dass es hier einen Konflikt zwischen schnell und rechtssicher oder zwischen schnell und verfassungskonform gebe. Diesen Konflikt gibt es nicht, wenn wir den Satz „There is no glory in prevention“ auch mal aufs Recht anwenden und einfach rechtzeitig anfangen, uns Gedanken zu machen. ({0}) Ich will es in einem Punkt zusammenfassen: Auf Ihrer Rechtsgrundlage können Sie keinem der 143 000 Menschen in Deutschland, die keine Krankenversicherung haben, erklären, welchen Zugang er zu diesem Impfstoff hat. Das heißt, es ist ein konkretes rechtliches Problem. Wir haben in den letzten Monaten so viel gearbeitet, um Ihnen bei der Lösung Ihrer rechtlichen Probleme zu helfen. Sie hätten keine Rechtsgrundlage für die Bekämpfung der zweiten Welle der Pandemie, wenn wir Sie nicht immer wieder gebeten hätten, darauf zu achten, dass das Parlament mitarbeiten muss. ({1}) Genauso ist es hier, genauso ist es bei der schlimmen Frage der Triage. Also Schluss mit diesem Konflikt! Den gibt es nicht. Es ist wirklich ein konstruktiver Vorschlag der FDP, über den man streiten kann. Aber zu sagen, die FDP sei daran schuld, dass der jetzt erst reinkommt, das bedeutet nun wirklich, den Finger in die ganz falsche Richtung zu wenden. Das ist nämlich eine Aufgabe, die die Koalition längst hätte erledigen können. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Manuela Rottmann. – Frau Dr. Schmidtke.

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Wir haben ja in der Tat in dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz die Regelungen getroffen. Die Basis ist da, und auf dieser Basis arbeiten wir. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Gewerbemieterinnen und Gewerbemieter und liebe Schuldnerinnen und Schuldner! Die Coronamaßnahmen der Bundesländer, die die Ministerpräsidenten auf der Ministerpräsidentenkonferenz abgesprochen haben, sind unbestritten notwendig. Die Infektionszahlen und vor allem die Zahl der Coronatoten steigen drastisch an. Deswegen war es wichtig – es wäre vielleicht auch schon im November wichtig gewesen –, diese harten Maßnahmen zu treffen, insbesondere dass jetzt auch Geschäfte schließen müssen. Das sind für die betroffenen Firmeninhaber sehr drastische Eingriffe. Aber wir dürfen nicht den Kollaps des Gesundheitssystems riskieren. Vor allem, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir dürfen unsere Seniorinnen und Senioren nicht sterben lassen. Ich sage das in aller Deutlichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Gerade weil die Betriebsschließungen massive Auswirkungen negativer Art auf die Firmen haben, auf die Geschäftsinhaber, auf die Mitarbeiter, dementsprechend die Familien, haben wir sie umfangreich unterstützt. Dazu gehört, dass wir mit der Novemberhilfe, der Dezemberhilfe und auch mit dem Überbrückungsgeld eine wirklich fette Unterstützung – ich sage auch das so deutlich – geleistet haben. Das war richtig, und es war wichtig. ({1}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht der Steuerzahler allein sollte das Risiko der Pandemie finanzieren. Nein, ich finde – und da freue ich mich, dass die Union jetzt gesprungen ist und hier mitmacht –, auch die Vermieter von Gewerbeimmobilien müssen an den finanziellen Risiken der Pandemie beteiligt werden. ({2}) Der Handelsverband des Einzelhandels, der HDE, sagt, dass zwei Drittel der Gewerbemieter keine Einigung mit den Vermietern über reduzierte Mieten erzielen konnten, und vom DEHOGA hören wir Ähnliches. Also, es gibt offensichtlich Handlungsbedarf, und deswegen ist die SPD-Forderung berechtigt gewesen, dass wir mit diesem Gesetz eine gesetzliche Klarstellung treffen, dass Corona eine Störung der Geschäftsgrundlage ist ({3}) und dass Gewerbemieter daraufhin einen Anspruch auf Reduzierung der Gewerbemiete haben. Das ist eine ganz wichtige Unterstützung für den Einzelhandel und für die Gastronomie, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Zum eigentlichen Gesetz, das wir heute beraten, werden gleich der Kollege Brunner und sicherlich auch der Kollege Hirte mit großer Begeisterung und Leidenschaft die Feinheiten des Insolvenzrechts hier vortragen. Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen, weil wir ja gerade in der Coronakrise befürchten müssen, dass Schuldnerinnen und Schuldner in Schwierigkeiten geraten. Da will ich schon ganz klar sagen: Jeder Bürger hat eine zweite Chance verdient. ({5}) Wie schnell ist es passiert, dass man durch Krankheit, durch die Trennung vom Partner, durch Arbeitslosigkeit oder dadurch in finanzielle Not gerät, dass man Opfer eines Betruges, einer Straftat wird! Deswegen ist es gerade jetzt in der Coronakrise wichtig, dass wir in dieser Situation allen Schuldnerinnen und Schuldnern schneller helfen, dass sie nicht mehr sechs Jahre die Schulden mit sich tragen, sondern dass die Wohlverhaltensphase schon nach drei Jahren endet und damit nach drei Jahren ihre Schulden erlassen sind, das Ganze rückwirkend zum 1. Oktober 2020. Also, hier machen wir ein wirklich gutes Gesetz. Stimmen wir dem zu! Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Fechner. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Tobias Peterka. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Möglichkeit, ohne De-facto-Existenzvernichtung aus finanziellen Sackgassen herauszukommen, ist eine Errungenschaft, die man kaum hoch genug hängen kann, sei es nun für Private oder Unternehmer. Das Konkursrecht, die Insolvenzordnung – all das sind über die Zeit gut entwickelte Institute im deutschen Recht. Die EU-Richtlinie 2019/1023 ordnet nun an, dass die Frist für eine Restschuldbefreiung von regulär sechs Jahren auf drei Jahre halbiert zu werden hat. Auch Berufsuntersagungen müssen zwingend nach dieser Frist wieder erlöschen. Daran ist Deutschland leider unionsrechtlich gebunden. ({0}) Es liegt hier nun mal wieder ein Paradebeispiel vor, wie a) Ansätze aus ganz anderen Rechtskreisen sich einfach durchsetzen und b) diese Bundesregierung beim Ausrambolen der ganzen Sache in Brüssel einfach versagt hat. Straßburg lasse ich hier mal weg; das Scheinparlament hatte da wenig zu sagen. Also, wir halten die Möglichkeit, in sechs Jahren bei Zugeständnis einer moderaten Lebensführung seine Schulden erlassen zu bekommen – die sind dann weg –, für völlig ausreichend und fair. Selbst wenn man in den Fällen der Privatinsolvenzen, der Verbraucherinsolvenzen leichtfertiges Konsumverhalten für vernachlässigbar erklärt – was wir explizit nicht tun –, dann ist das deutsche System mit Anreizen zur Gläubigerbefriedigung mit dieser Quotelung gut austariert gewesen, und zwar sind die drei Jahre jetzt noch deutlich besser als das eine Jahr, was man allgemein als Endziel ausmachen kann. Aber es geht ja auch hier schon los: In einem Änderungsantrag wollen die Grünen das Eingehen von Verbindlichkeiten während dieser Zeit quasi freistellen. Erbschaften und Lottogewinne sollen dann nicht mal den Gläubigern zustehen, und die Sperrfrist nach erfolgter Entschuldung für ein weiteres Insolvenzverfahren soll dann nicht mal erhöht werden, was ja ein kleiner Ausgleich für die Halbierung der Insolvenzdauer hätte sein können. Prost Mahlzeit, wenn nächstes Jahr das Tandem Söder/Habeck an den Start geht; denn dann wird das Gleichgewicht zwischen Erlass für den reuigen Schuldner und Geldverzicht der Gläubiger unter Umständen komplett über Bord geworfen. Merkwürdig, dass die FDP hier in ein ähnliches Horn stößt, wobei die Ablehnung der Versagung der Restschuldbefreiung von Amts wegen zu begrüßen ist; den Gläubigern ist dann weiterhin ein Antrag im Verfahren zuzumuten. Bei den kurz vor knapp eingereichten Anträgen der FDP zum Sonderrecht hätte sie sich eher auf den Schadensersatz für die Unternehmen konzentrieren sollen. Meine Damen und Herren, freilich ist die Aussage der Regierung, dieses Gesetz sei eine Coronamaßnahme, an sich Quatsch. Hier wird einfach der Befehl aus Brüssel umgesetzt und ein bisschen Kosmetik drumrumgepackt. Richtig ist, dass Einzelunternehmen und Verbraucher durch die harten Lockdown-Maßnahmen leiden. Die AfD hat Aussetzungen der Insolvenzantragspflicht nur streng befristet begrüßt. Es wird noch eine riesige Konkurswelle auf uns zukommen, und die wird nicht dadurch besser, dass man sie zombifiziert oder hinauszögert. Die Linken stellen hier erneut die üblichen Begleitanträge wie den auf Schuldnerberatung auf Kosten der Gläubiger. Das gibt es anders gelöst bereits in Gemeinden und Kommunen und gehört nicht hierher. Was aber hierhergehört, ist die Feststellung, dass auch das beste und angenehmste Insolvenzverfahren schlussendlich ein Scheitern darstellt, ein Scheitern, das in den nächsten Monaten hunderttausendfach auf Ihre Kappe gehen wird. Durch erratisches Handeln dieser Regierung sind gesunde Geschäftsmodelle massenhaft hinfällig geworden. Wir sind gespannt auf die Medizin. Aber leider wird bis dahin wohl amputiert werden müssen. In diesem Sinn: Einen frohen Weihnachts-Lockdown! Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir alle wissen: Die Coronapandemie hat Unternehmer, aber auch Verbraucher hart getroffen, und zwar trotz der wirklich sehr, sehr umfangreichen Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen, die wir alle miteinander auf den Weg gebracht haben. Deswegen muss man klar sagen: Es wird vermehrt zu Insolvenzen kommen, bei Unternehmern, aber auch bei Verbrauchern. Wir sagen ganz klar: Wir wollen nicht, dass Corona am Ende zu einer jahrelangen Schuldenfalle wird. Deswegen sagen wir: Wir wollen Verbrauchern und kleinen Unternehmen eine echte zweite Chance auf einen wirtschaftlichen Neuanfang geben. Deswegen setzen wir jetzt diese EU-Richtlinie um – für kleine Unternehmer, aber eben auch für Verbraucher. Wir verkürzen die Frist, innerhalb derer man sich seiner Schulden entledigen kann, von sechs auf drei Jahre. Damit geben wir eine echte Perspektive und zeigen ein Licht am Ende des Tunnels. ({0}) Ich finde das sehr richtig. Natürlich gab es auch Kritiker. Natürlich gab es auch Leute, die gesagt haben: Setzen wir damit nicht falsche Anreize? Machen wir jetzt Schuldenmachen zu einem Kavaliersdelikt? – Da muss man ganz klar sagen: Nein, das ist absolut nicht der Fall. – Denn wenn man sich das mal anschaut: Wer sind denn die Personen, die in die Privatinsolvenz gehen? Was sind die Gründe dafür? Es ist ganz oft die Krankheit, die Arbeitslosigkeit, die Trennung oder die Scheidung, die Menschen in wirtschaftliche Not bringt. Deswegen kann man schon sagen: Das Missbrauchspotenzial ist a priori sehr gering. Aber natürlich nehmen wir diese Kritik ernst. Deswegen sagen wir: In dieser Wohlverhaltensphase von drei Jahren wollen wir durchaus auch streng sein. Deswegen sagen wir: Wenn jemand in dieser Wohlverhaltensphase neue, unangemessene Verbindlichkeiten eingeht, dann soll er natürlich von diesen Schulden nicht befreit werden, sondern er muss selbstverständlich alles dafür tun, dass er sich wohlverhält. Das ist, glaube ich, ein Gebot, das man den Gläubigern an der Stelle zubilligen muss. Wichtig war uns, weil das Verfahren sich ein Stück weit verzögert hat, dass das alles rückwirkend in Kraft gesetzt wird. Alle Anträge, die seit dem 1. Oktober gestellt wurden, werden unter die verkürzte Restschuldbefreiungsfrist fallen. Das ist uns wichtig, weil wir Betroffene damit in einer für sie schwierigen Lebensphase vor einer gesellschaftlichen Stigmatisierung schützen und wir ein Licht am Ende des Tunnels anzünden. Wir geben den Betroffenen eine neue Perspektive. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es ein guter Gesetzentwurf, den wir hier vorgelegt haben. ({1}) Es gibt noch weitere Punkte, die wir mit dem Gesetzentwurf mitregeln. Darauf wird vielleicht mein Kollege Volker Ullrich eingehen. So stellen wir zu virtuellen Hauptversammlungen und zu den Aktionärsrechten noch etwas klar; die Aktionäre erhalten wieder ein umfangreicheres Fragerecht. Wir geben auch den ehrenamtlich Tätigen in den Vereinen wieder etwas mehr Rechtssicherheit, wenn sie ihre Mitgliederversammlungen digital durchführen wollen und das in den Satzungen nicht geregelt ist. Das erlauben wir jetzt; das stellen wir jetzt klar. Mir ist aber noch ein Punkt wichtig, den wir in diesem Zusammenhang auch mitregeln, und zwar der gesamte Bereich der Gewerbemieten. Wir sehen, dass im Zuge der Bekämpfung der Coronapandemie viele Gewerbetreibende wirtschaftlich wirklich harte Einschnitte hinnehmen müssen. Restaurants und Hotels dürfen keine Gäste mehr haben. Klubs dürfen ihre Türen nicht mehr zum Tanz öffnen. Die Anzahl von Kunden im Einzelhandel wird limitiert, oder, wie es jetzt im Lockdown der Fall ist, der Einzelhandel wird sogar ganz geschlossen. Das bedeutet natürlich für viele Unternehmen massive Einnahmeausfälle, während die Fixkosten etwa für Miete und Pacht weiterlaufen. Das wird trotz der auch wirtschaftlich sehr umfangreichen Hilfsmaßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, dazu führen, dass viele Gewerbemieter in arge wirtschaftliche Not geraten. Unser Ansinnen ist, dass wir ihnen mit diesem Gesetz, das wir jetzt auf den Weg bringen, den Rücken stärken und vor allen Dingen für mehr Rechtssicherheit sorgen. Wir stellen jetzt klar, dass staatliche Maßnahmen, die etwa zu Schließungen im Einzelhandel führen, eine schwerwiegende Veränderung der Grundlage des Vertrages sein können, wenn die Nutzbarkeit der angemieteten Räume erheblich beeinträchtigt ist. Wir sagen so deutlich, dass wir das klarstellen, weil es in der Vergangenheit Rechtsprechung gab, die besagt hat, möglicherweise gebe es eine Sperrwirkung, sodass der Wegfall der Geschäftsgrundlage, um den es hier geht, möglicherweise gar nicht einschlägig ist. Deswegen sagen wir klar: Es kann – es kann – ein Wegfall der Geschäftsgrundlage sein; es muss aber kein Wegfall der Geschäftsgrundlage sein. Das ist für uns ganz wichtig: Es kommt immer auf den Einzelfall an. Die Vermutung, die wir jetzt im Gesetz niederlegen, betrifft nur eine von drei Tatbestandsvoraussetzungen, die § 313 BGB vorsieht. Wir gehen als Gesetzgeber nicht so weit, dass wir die Rechtsfolge in irgendeiner Weise vorwegnehmen. Deswegen ist auch ganz klar zu sagen: Bei vielen gewerblichen Vermietern, die jetzt auch Wirtschaftshilfen bekommen, wird möglicherweise gar keine Störung der Geschäftsgrundlage vorliegen, weil es am Ende zumutbar ist, am Vertrag festzuhalten. Es gibt auch andere Konstellationen, wo etwa die Parteien von vornherein bestimmte Situationen vorgesehen haben, wo man etwa die Miete am Umsatz festgemacht hat, wo man Sonderkündigungsrechte festgelegt hat, wenn der Umsatz aufgrund bestimmter Ursachen zurückgeht. Das sind alles Konstellationen, wo möglicherweise § 313 BGB gar nicht greifen wird. Das war für uns als Union ganz wichtig: Wir wollten als Gesetzgeber die vertraglich vereinbarte Risikoverteilung nicht aufheben, wir wollten sie nicht umstülpen, wir wollten nicht einseitig einen Teil der Parteien bevorzugen. Denn – auch das zeigt ja die Erfahrung – es ist nicht immer so, dass der Vermieter der Starke ist. Es ist nicht immer so, dass der Mieter der Schwache ist. Wir haben alle noch den Fall Adidas vor Augen, wo ein wirklich milliardenstarker Konzern gesagt hat: Ich muss jetzt meine Miete nicht mehr zahlen. – Das ist nicht angemessen. Deswegen sagen wir auch in diesem Gesetz: Es kommt immer auf den Einzelfall an. – Wenn sich die vertraglichen Parteien im Wege einer individuellen Lösung schon auf etwas geeinigt haben, wie man mit den Folgen der Coronapandemie umgeht, dann – das ist selbstverständlich auch klar – muss das natürlich vorgehen. Dann kann am Ende nicht ein Gericht diesen vertraglichen Willen, der sich in der Einigung manifestiert hat, ersetzen. Wir geben damit Rückenwind für Verhandlungslösungen; das ist unser Ziel. ({2}) Die Parteien sollen sich zusammensetzen, damit am Ende eine gute Lösung für alle Parteien herauskommt. Vielen Dank, dass Sie das unterstützen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Jan-Marco Luczak. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katharina Willkomm. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Lockdown trifft laut HDE knapp 200 000 Handelsunternehmen. 250 000 Jobs könnte der zweite Lockdown vernichten. Diese Unternehmen machen diese Woche buchstäblich den Laden dicht. Das ist für die Betroffenen brutal hart. Die Einnahmen brechen weg, aber die Rechnungen und vor allem die Ladenmiete müssen weiter bezahlt werden. Die Koalition will heute deshalb eine Vermutungsregelung für die Störung der Geschäftsgrundlage beschließen lassen. Diese Regelung ist falsch. Sie ist falsch aus drei Gründen: Sie ist erstens falsch, weil es sie nicht braucht. Die Regierung tut so, als gäbe es keine rechtliche Antwort. Dabei wurde die Störung der Geschäftsgrundlage kurz nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt, als wirklich alles in Schutt und Asche lag. Die Regelung ist zweitens falsch, weil die Regierung genau weiß, was alles zusammenkommen muss, damit ein Gericht die Störung der Geschäftsgrundlage annimmt und eine ausgehandelte Miete reduziert. Bereits seit Beginn der Coronakrise haben die ersten Landgerichte entsprechende Fälle entschieden. Das Problem war nicht, dass sie die Störung der Geschäftsgrundlage nicht geprüft hätten – das Landgericht München etwa hat den § 313 BGB sogar für einschlägig erklärt –, sondern das Problem war meistens, wie Herr Luczak ja schon ausgeführt hatte, dass zum Beispiel der Richter den Vertrag auch dann als zumutbar bewertet hat, wenn der Mieter den Geschäftsraum auch anders hätte nutzen können, als Lager oder auch als Büro zum Beispiel. Das zusammen führt zu dem dritten Grund, warum die Regelung falsch ist: Sie lässt in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen, dass nämlich die Regierung den Gewerbemietern erlaube, in ihrer Not eigenmächtig die Miete zu senken. Und das, meine Damen und Herren, genau das ist nicht der Fall. ({0}) So wecken Sie erst falsche Hoffnungen bei den Gewerbemietern, schüren dann Frust und Wut über die Als-ob-Politik und verunsichern schließlich die Gewerbevermieter. Folgen Sie besser unserem Antrag. Mindern Sie den Kostendruck von Gewerbemietern und ‑vermietern durch eine negative Gewinnsteuer mit einer deutlich erweiterten Verlustrechnung. Helfen Sie den Parteien, sich bei einer Schiedsstelle an einen Tisch zu setzen und einvernehmliche Lösungen zu ermöglichen. Und: Beschleunigen Sie die gerichtlichen Mietverfahren, damit Mieter und Vermieter schnell Klarheit haben. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Willkomm. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute wird der Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens beraten. Wieder einmal muss die EU mit einer Richtlinie einen Impuls setzen, damit der deutsche Gesetzgeber tätig wird. Dabei sollte der Inhalt der Richtlinie längst schon unser ureigenes Anliegen sein, da er insolventen Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern eine Entschuldungsmöglichkeit gibt. Ein Entschuldungsverfahren, das die volle Entschuldung spätestens nach drei Jahren ermöglicht, ist eine kleine Verbesserung gegenüber den derzeit gültigen sechs Jahren. Meine Fraktion und ich werden uns dennoch enthalten, da dieser Entwurf das grundsätzliche Problem nicht wirklich lösen kann. ({0}) Darum nun zu unserer Kritik. Warum gehen Sie im Entwurf nicht auf zwei Jahre Restschuldbefreiung, wie es die Richtlinie ermöglicht und Die Linke klar fordert? Und warum wird das Ganze bis 30. Juni 2025 befristet? Glauben Sie, dass dann die soziale Situation im Land eine andere ist? Wohl kaum. ({1}) Zugleich wollen Sie allen Ernstes bei einem zweiten Restschuldbefreiungsverfahren die Frist von zwei auf fünf Jahre verlängern und die Wartefrist für das zweite Verfahren auf elf Jahre. Sie verkennen damit vollständig die soziale Lage im Land und die finanziellen Nöte der Menschen. Nehmen Sie einfach mal zur Kenntnis, dass viele Menschen überschuldet sind, weil sie arbeitslos werden, weil ihr Lohn zu niedrig ist und weil unter anderem eine Selbstständigkeit gescheitert ist. Es handelt sich um 10 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre, und davon sind übrigens nur 10 Prozent wegen unangemessenen Konsumverhaltens überschuldet. In Ihrem Gesetzentwurf spürt man durchgängig das Vorurteil, der überschuldete Teil der Bevölkerung lebe über seine Verhältnisse. Das stimmt nicht. Nehmen Sie endlich mal die wissenschaftlich erhobenen Tatsachen zur Kenntnis. ({2}) Wir haben seit der verheerenden Agenda-Politik einen steigenden Anteil der prekären und befristeten Arbeitsverhältnisse. Das ist ein wesentlicher Grund für die von mir beschriebene Problemstellung. Folgen Sie uns endlich. Schaffen Sie Leiharbeit und prekäre Beschäftigung ab. Unterstützen Sie die Lohnforderung der Gewerkschaften; dann wird sich auch die Überschuldung der Menschen verringern. ({3}) Zugleich fordern wir einen gesetzlichen Anspruch auf Schuldnerberatung für jeden. Die wertvolle Arbeit der Schuldnerberatungen kann nicht genug wertgeschätzt werden. ({4}) Ergänzend sollten Sie aber auch die Inkassobranche stärker kontrollieren und an die Kette legen. Wer überschuldet ist, wird häufig genug durch diese Unternehmen wie eine Zitrone ausgepresst, ohne dass er über seine ihm zustehenden Rechte ausreichend beraten wird. Das muss sich ändern. ({5}) Es gäbe noch viele Punkte anzusprechen; dazu reicht die Redezeit nicht. Aber in Kürze: In Anbetracht der Coronakrise müsste mehr für Kleingewerbetreibende getan werden, als Sie das beabsichtigen. Ich will bei aller Kritik mit einem Lob enden. Sie haben einige Kritikpunkte der Sachverständigen aus der Anhörung angenommen und grobe Fehler mit Ihrem Änderungsantrag beseitigt. Hier hat das einmal funktioniert. Warum fällt mir das auf? Weil Sie Kritik aus Anhörungen im Ausschuss in aller Regel leider nicht aufgreifen. ({6}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Und: Bleiben Sie gesund! ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Manuela Rottmann. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist Dezember; ich freue mich über ein Antragsfeuerwerk der Kolleginnen aus der Opposition. Ich verweise darauf, dass wir im April 2020 einen Gesetzentwurf zur Verkürzung der Frist für eine Restschuldbefreiung nach Insolvenz eingebracht haben. Denn uns war klar, dass man sich auf das Versprechen von Peter Altmaier – „Wir wollen, dass möglichst kein Unternehmen in Deutschland nur aufgrund der Corona-Epidemie in die Insolvenz gehen muss“ – wahrscheinlich nicht wird verlassen können. Wegen der Einschränkungen für Unternehmen, aber natürlich auch wegen der Kurzarbeit sind Erleichterungen für einen Neustart nach Überschuldung aufgrund der Pandemie dringend nötig. Bei zu vielen kam die versprochene Hilfe im Sommer nicht an, und spätestens im Sommer hätten die vielen Soloselbstständigen, die Sie haben hängen lassen, eine Grundlage für eine Entscheidung gebraucht, wie es weitergehen soll. ({0}) Stattdessen wurden überschuldete Verbraucherinnen und Selbstständige dazu gezwungen, den Antrag auf Privatinsolvenz monatelang hinauszuzögern. Ihr Neustart wurde unnötig verzögert. Die Risiken für Gläubigerinnen wurden erhöht. Die Familien, die sich seit Monaten fragen, wie sie mit Kurzarbeitergeld ihre Kredite bedienen sollen, werden kein Verständnis dafür haben, dass wir erst jetzt, im Dezember, darüber entscheiden. ({1}) Erst heute wird die Frist für die Befreiung von der Restschuld von sechs Jahren auf drei Jahre verkürzt. Dass Sie die Speicherung bei den Auskunfteien nicht angetastet haben, bleibt ein Schwachpunkt. Ich hoffe, dass die Datenschutz-Grundverordnung dieser unseligen Praxis ein Ende setzt. Die Einführung zusätzlicher Obliegenheiten für die Schuldner haben die Sachverständigen als überflüssig und auch als unpraktikabel bewertet. Es ist ein weiteres Signal des Misstrauens gegen Schuldner in einer Situation unverschuldeter Insolvenzen. Das ist einfach falsch. ({2}) In anderen Punkten ist der jetzige Vorschlag verbessert. Die Verkürzung gilt jetzt auch für Verbraucherinnen unbefristet, und die Versagung der Restschuldbefreiung von Amts wegen ist gestrichen. Ich finde es auch gut, dass Sie die Gelegenheit genutzt haben, die Rechte von Aktionärinnen und Aktionären in der virtuellen Hauptversammlung zu stärken. Und – das ist mir ganz wichtig –: Die hart getroffenen Gewerbemieterinnen bekommen nun endlich eine Grundlage für Verhandlungen mit den Verpächtern über die Pachthöhe, wie wir Grüne es im September beantragt haben. ({3}) Erste Urteile haben die coronabedingte Schließung schon als Störung der Geschäftsgrundlage gewertet. Aber, Frau Willkomm, Sie haben es nicht verstanden: Wenn der Verpächter sagt: „Ich verhandle nicht mit dir, weil du keinen Anspruch hast“, dann muss man das klarstellen. Wir haben doch nicht die Zeit, zu warten, bis der BGH den Leuten recht gibt. Deswegen ist es richtig, dass der Gesetzgeber hier die Verantwortung übernimmt. ({4}) Es wäre völlig falsch, mit staatlichen Hilfen – statt Existenzen zu sichern – nur das Immobilienvermögen vor den Folgen dieser Wirtschaftskrise abzusichern, während für diejenigen, die mit ihrer Hände Arbeit die Mieten und Pachten erst erwirtschaften müssen, nichts übrig bleibt. ({5}) Wir haben seit April gekämpft, und wir haben mit beiden Punkten viel erreicht. Deswegen stimmen wir heute zu. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Manuela Rottmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn man die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt heute verfolgt hat, hat man festgestellt – ich nehme die Kollegin Rottmann jetzt davon aus –, dass über das Insolvenzrecht selbst, über die Verkürzung der Restschuldbefreiung als solche relativ wenig gesprochen wurde, sondern viel über das, was in diesem Zusammenhang richtig und gut ist, und über das, was geändert wurde. Ich möchte, weil einer der ersten Redner vom Konkurs der Menschen gesprochen hat, auf Folgendes hinweisen: Eine Marktwirtschaft, eine soziale Marktwirtschaft im Besonderen, lebt davon, dass zwischen Gläubiger und Schuldner ein Gleichgewicht besteht, ein gutes Gleichgewicht, das letztendlich zur wirtschaftlichen Entwicklung und auch zur Restrukturierung von Unternehmen sowie zur Gesundung von Verbraucherinnen und Verbrauchern führt. Genau das war der Grund, am 1. Januar 1999 das alte, auf Zerschlagung angelegte Konkursrecht zu beseitigen und durch ein modernes, immer weiter fortentwickeltes Insolvenzrecht zu ersetzen, ({0}) bei dem das Gleichgewicht der Schuldner und Gläubiger wieder in den Mittelpunkt gesetzt wurde. Heute haben wir uns mit dem Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens zu befassen, nicht nur, weil die EU-Richtlinie 2019/1023 dies zum 17. Juli 2021 einfordert, sondern auch, weil es gut, weil es richtig ist, Schuldnerinnen und Schuldnern, Unternehmerinnen und Unternehmern einen Neustart zu diesem Gleichgewicht in der Gesellschaft zu ermöglichen. ({1}) Deshalb, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich fünf Punkte aus diesem Gesetzesvorhaben ansprechen, die mit dem Restschuldbefreiungsverfahren zusammenhängen: Zum einen der epochale erste große Schritt, auf die europäische Einheit zugehend: die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens von sechs auf drei Jahre. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für die Schuldnerinnen und Schuldner, ein ganz wichtiger Schritt für die Verbraucherinnen und Verbraucher und ein ganz wichtiger Schritt für in Insolvenz geratene Unternehmerinnen und Unternehmer gleichermaßen. Nach nunmehr drei Jahren stehen ihnen als redliche Schuldner der Wirtschaftsverkehr und der Rechtsverkehr wieder offen, wenn sie ihren Pflichten und Obliegenheiten während dieses Verfahrens nachgekommen sind. Schuldnerinnen und Schuldner, Unternehmerinnen und Unternehmer, die in Insolvenz geraten sind, sind keine minderjährigen Kinder, die ständig einer Quästur bedürfen; sie sind voll aktionsfähig. ({2}) Zweitens. Wir haben die Verkürzung für die nach dem 1. Oktober 2020 beantragten Insolvenzverfahren rückwirkend geregelt. Das ist gut und das ist richtig so. Wir haben vor allen Dingen das, was ursprünglich im Gesetzentwurf enthalten war, die Ungleichbehandlung von Verbraucherinnen und Verbrauchern, aufgehoben. Dies war gut, dies war richtig so, und das wird für die Zukunft eine sinnvolle Regelung sein. ({3}) Wir haben darüber hinaus dem Struck’schen Gesetz folgend die bereits temporär zum 30. Juni 2021 geltende Frist zwischen der außergerichtlichen Einigung oder dem Einigungsversuch und dem Antrag eines Verbrauchers auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf zwölf Monate verlängert, um in diesem Zeitraum keine verfallenden Einigungsversuche zu erzeugen und damit den Verbraucherverbänden, den Schuldnerverbänden die Möglichkeit zu geben, dies ordentlich abzuwickeln. Last, but not least. Wir haben dem selbstständigen Schuldner einen Anspruch auf Entscheidung über Freigabe seiner selbstständigen Tätigkeit und damit seiner Existenz ermöglicht, um ihn am Wirtschaftsleben teilhaben lassen zu können. ({4}) Eine Baustelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird aber noch bleiben. Unser Ziel, das Ziel der Sozialdemokraten, die Speicherfrist für Auskunfteien deutlich zu verkürzen, haben wir noch nicht erreicht. Auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung, die nunmehr einer kurzen Frist unterliegt, werden die Daten noch bis zu drei Jahre gespeichert. Dies deckt sich nicht mit unserem Verbraucherbild, dem Verbraucherbild der Sozialdemokraten. Diesen Punkt werden wir deshalb weiter einfordern. Aber, wie gesagt, das Insolvenzrecht ist ein lebendes Recht, und dies wird nicht die letzte Änderung sein. Bleiben wir also dran. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brunner. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir werden zum Ende des Jahres noch drei wesentliche rechtspolitische Fragen klären, die, wie ich meine, wichtig sind in einer schwierigen Zeit. Lassen Sie mich eingangs sagen: Bei einigen Redebeiträgen ist so ein bisschen angeklungen, es gebe hier einen Gegensatz, vor allen Dingen zwischen Gewerbemietern, Vermietern, der wirtschaftlichen Lage des Handelsverbands und unseren Bemühungen, der Coronakrise Herr zu werden. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind in einer Situation, in der wir uns unterhaken müssen. Diese Gemeinschaft und dieser Staat müssen diese Krise zusammen meistern. Das bedeutet Solidarität von jedem. Das bedeutet gegebenenfalls rechtliche Anpassungen. Das bedeutet aber nicht, dass man sich gegeneinander ausspielen darf. Das wäre jetzt die völlig falsche Haltung. ({0}) Wir werden Verbraucherinnen und Verbrauchern den Weg erleichtern, eine zweite Chance zu bekommen; denn jemand, der Insolvenz anmelden muss, muss das oftmals tun, weil er unverschuldet in Not geraten ist. Ich meine, dass die Dauer von drei Jahren Restschuldbefreiungsverfahren bei Selbstständigen auch im Bereich des Privatinsolvenzrechts gelten muss. Das ist ein deutlicher Fortschritt für die Menschen, die ihre Schulden loswerden wollen, die einen Neustart suchen. Wir weisen aber auch darauf hin, dass im Rahmen dieser Wohlverhaltensphase Mitwirkungspflichten bestehen. Klar ist auch, dass Entschuldung durch ein Insolvenzverfahren keine Art von Geschäftsgebaren sein darf. Deswegen sagen wir auch: Bei einer zweiten Insolvenz ist die Phase dann länger, weil wir deutlich machen müssen, dass es zu einem fairen Ausgleich zwischen Verbindlichkeiten und deren Bezahlung kommen muss. Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist, ist die Frage: Wie gehen wir im Aktienrecht vor allen Dingen auch mit den Rechten der Kleinaktionäre weiter um, Stichwort „Fragerecht“? Es hat sich in den letzten Jahren immer gezeigt, dass das Fragerecht vor allen Dingen auch der Kleinaktionäre ein großer und wichtiger Teil der Kapitalmarktkontrolle ist. Das ist fast wie ein kleiner Nadelstich gegenüber größeren Stimmrechtsmehrheiten. Wir haben im März im Zuge der ersten Welle beschlossen, dass in einer virtuellen Hauptversammlung der Vorstand entscheiden kann, ob er eine Frage beantwortet oder nicht. Das ist vor dem Hintergrund einer tauglichen Kapitalmarktkontrolle nicht richtig; das müssen wir wieder ändern. Der Vorstand muss auch die Fragen von Einzelaktionären beantworten. Gerade der Wirecard-Skandal hat gezeigt, dass oftmals auch Aktionärsschützer offene Fragen haben, die man beantworten muss. Das ist auch Teil der Kontrolle. Deswegen regeln wir es jetzt so, dass die Fragen beantwortet werden müssen. Der Vorstand kann sich entscheiden, ob er die Fragen schriftlich beantwortet oder auch mündlich. Aber er kommt um die Beantwortung nicht herum; das ist ein wesentlicher Teil unserer Kapitalmarktkontrolle. Stärkt die Aktionäre! ({1}) Wir werden auch Rechtssicherheit schaffen für unsere Ehrenamtlichen in den Vereinen, die sich die Frage stellen, ob sie jetzt eine Hauptversammlung ihres Vereins durchführen müssen, weil die Satzung eine Hauptversammlung eben nur alle zwei Jahre vorsieht. Nein, wir sagen jetzt: Solange diese Pandemie anhält, haben sie die Möglichkeit, die Hauptversammlung zu verschieben. – Wir machen aber auch deutlich, dass Vereine jetzt ohne Satzungsänderungen durch Videokonferenzen rechtssichere Beschlüsse treffen können. Das ist ein wesentlicher Fortschritt für das Ehrenamt und gibt vielen Ehrenamtlichen auch die Gewissheit, dass es mit ihrem Verein rechtssicher weitergehen kann. Ich glaube, auch das ist ein ganz wichtiges Signal, das wir heute aussenden. ({2}) Der letzte Punkt ist der der Gewerbemieten. Das ist ein sensibles Thema; aber auch hier geht es um einen deutlichen Interessenausgleich. § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches regelt den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Im Recht kann nicht jeder Einzelfall und jede Fallkonstellation geregelt werden. Aber wir schaffen jetzt im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche eine Auslegungsregel – keine Stundungsregel, bei allem Respekt; eine Auslegungsregel –, mit der wir deutlich machen, dass hinsichtlich Restriktionen, die aufgrund der Coronapandemie eintreten, die Vermutung vorliegt, dass hier das Recht besteht, die Gewerbemiete zu mindern. Dann können Vermieter und Mieter in einen Dialog eintreten, aufgrund dessen dieses Problem gelöst werden kann. So wollen wir in der Gesellschaft miteinander umgehen. Wir wollen ins Gespräch kommen, die Themen adressieren und dann auch gemeinsam lösen. Deswegen bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Ich schließe die sehr lehrreiche Aussprache. Wir hier oben haben viel gelernt. Danke schön. ({0}) – Keine Einbildung! Sorry, Herr Kubicki. Das gibt Ärger im Präsidium.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lasten des Lockdowns sind ungleich verteilt. Konzernen wie Amazon lässt die Regierung immer wieder Schlampereien beim Infektionsschutz durchgehen. Wir hören immer wieder, dass es in den Sortierzentren zu Ausbrüchen von Infektionen kommt. Während Amazon gerade das Geschäft seines Lebens macht, leiden die Ärmsten besonders. Doch die Coronapolitik dieser Regierung hat leider blinde Flecken. Sie sehen einfach jene nicht, die sich am Rande des Existenzminimums durchschlagen müssen. Deswegen meinen wir als Linke: Es ist höchste Zeit für sozialen Schutz auch für die Ärmsten! ({0}) Zu einem solidarischen Lockdown gehört erstens die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent; denn für Menschen mit niedrigen Einkommen bedeutet Kurzarbeitergeld, dass sie die laufenden Ausgaben nicht mehr decken können. ({1}) Zweitens. Die Harz-IV-Sätze reichten schon früher nicht. Nun kommen coronabedingte Mehrausgaben hinzu. Höchste Zeit für einen Coronazuschlag oder für Regelsätze, die eben nicht kleingerechnet werden! ({2}) Eine der Tücken von Hartz IV ist die Anrechnung des Partnerinneneinkommens. Das bedeutet in der Praxis zum Beispiel Folgendes: Ein Künstler, dem durch den Lockdown alle Einnahmen wegbrechen, könnte theoretisch Grundsicherung beantragen. Dabei muss er aber das Einkommen seiner Partnerin angeben. Sagen wir mal, sie arbeitet in der Pflege. Je nachdem, wie die Wohnkosten ausfallen, könnte schon bei einem Einkommen der Partnerin von 1 600 Euro netto ihm komplett die Grundsicherung verweigert werden. Das heißt, die gesamten Kosten des Paares müssten dann durch das Gehalt der Pflegerin gedeckt werden, die sich gerade für unser aller Gesundheit einsetzt. Finden Sie das gerecht? Ich meine, die Anrechnung des Partnereinkommens muss sofort ausgesetzt werden; ({3}) denn niemand sollte in der Notlage dafür bestraft werden, dass sein Partner oder seine Partnerin noch einer Arbeit nachgehen kann. ({4}) Armut und Hartz IV – das galt vor Corona vielen als etwas, was nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Hartz IV – das betrifft doch nur die anderen. Nun haben neue Gruppen die Tücken von Hartz IV kennengelernt, und eine Erkenntnis aus dieser schweren Zeit lautet ganz klar: Armut und Hartz IV – das geht uns alle an, das müssen wir überwinden, und zwar dringend. ({5}) Zum Abschluss und angesichts der Adventszeit möchte ich einen grundlegenden Gedanken zitieren: Wenn wir den Armen etwas geben, geben wir nicht etwas von uns, sondern wir geben ihnen zurück, was ihnen gehört. Wir geben ihnen zurück, was ihnen gehört. – Ja, meine Damen und Herren von der CDU, da könnten auch Sie klatschen, zumindest die Katholiken unter Ihnen; denn diese Worte stammen aus einer Enzyklika von Papst Franziskus. ({6}) Wenn wir hier also über sozialen Schutz reden – ich komme zum Schluss –, reden wir eben nicht über eine milde Gabe, die auf einer besonderen Großzügigkeit der Regierung basiert, sondern wir reden über eine Selbstverständlichkeit, die jedem zusteht: nämlich garantierter Schutz vor Armut und garantierte Teilhabe an der Gesellschaft. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping. – Nächster Redner ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Auch wenn ich viel Sympathie für Märchen habe, sage ich Ihnen, liebe Frau Kollegin Kipping: Was Sie hier gerade erzählt haben, war ein Ammenmärchen. ({0}) Und Ammenmärchen sind dazu da, die Leute zu verängstigen, damit man sie dann mit seinen eigenen Rezepten nach Gusto erziehen kann. Aber ich lasse Ihnen diesen Vorwurf, dass wir als Große Koalition nichts für die Schwächsten getan hätten, hier nicht durchgehen. ({1}) Ich sage Ihnen ganz offen: Wir haben den Kinderbonus eingeführt: 300 Euro pro Kind. Wir haben den Entlastungsbeitrag für Alleinerziehende auf 4 008 Euro erhöht ({2}) für die Jahre 2020 und 2021. Wir haben die Lohnfortzahlung für Eltern bei Schul- und Kitaschließungen auf 10 bzw. auf 20 Wochen verlängert. Wir haben das Kurzarbeitergeld verlängert und erhöht auf bis zu 80 Prozent des Nettogehaltes. Wir haben einen vereinfachten Zugang zum SGB II gewährt, insbesondere für die Soloselbstständigen. Wir haben das Elterngeld angepasst, damit die Menschen nach wie vor Elternzeit nehmen können, auch wenn das Gehalt wegbricht. ({3}) Wir haben dafür gesorgt, dass das BAföG weiter ausgezahlt wird, obwohl die Unis geschlossen sind. Wir haben Überbrückungshilfen für gemeinnützige Organisationen gezahlt, damit sie ihre wertvolle Arbeit weitermachen können. Wir haben die Kinder- und Jugendbildungswerke geschützt, damit sie ihre wichtige Arbeit leisten können. Und wir haben den Werkstätten für Behinderte mit Inklusionsbetrieben Hilfen gewährt, damit sie in dieser Krise nicht pleitegehen. ({4}) Ich weiß nicht, wie Sie, Frau Kipping, sich hierhinstellen und sagen können, wir hätten nichts getan. Das ist eine Frechheit! ({5}) Wenn Sie nicht schon rot wären, müssten sie vor Scham rotwerden; das kann ich Ihnen sagen. ({6}) Die Ergebnisse lassen sich sehen. Wir haben in diesem Monat 2,7 Millionen Arbeitslose. Das ist ein Rückgang – zum dritten Mal in Folge. Wir kommen von 3 Millionen. Die Zahl liegt im Jahresvergleich – also im Vergleich zum November des letzten Jahres – eine knappe halbe Million höher. Das ist erstaunlich wenig angesichts der Tatsache, dass wir uns mitten in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. ({7}) Und wir haben die Zahl derjenigen, die von dem probaten Mittel der Kurzarbeit betroffen sind, von anfangs 7 Millionen auf jetzt 2 Millionen absenken können. ({8}) Auch das ein Erfolg unserer Arbeit! Wissen Sie, Frau Kipping, wenn Sie sich hierhinstellen und sagen: „Die Sanktionen müssen wieder weg“, dann ist das genau die gleiche Leier, die Sie hier schon seit Jahren bringen. ({9}) Ich mache mir um etwas anderes Gedanken. Ich mache mir darüber Gedanken, wie die Jobcenter in dieser Pandemie eigentlich den Kontakt zu den Arbeitslosen halten können, damit wir sie nicht verlieren, sondern sie nach wie vor beraten werden können. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der die Jobcenter stehen. Ich mache mir Gedanken, wie wir die Azubis nächstes Jahr in den Job bringen, wenn sie denn nicht von ihrem Betrieb übernommen werden sollten. ({10}) Und zwar nicht deshalb, weil der böse Arbeitgeber sie nicht einstellen will, sondern deshalb, weil der Arbeitgeber gar nicht weiß, ob sein Betrieb nächstes Jahr überhaupt noch existiert. Dafür müssen wir Lösungen finden und nicht wie Sie darüber nachdenken, ob man ein Arbeitslosengeld Plus nachmachen sollte. Wissen Sie, die SPD hatte diese Idee ja auch, ({11}) aber bei denen hätte man wenigstens noch eine Weiterbildung machen müssen. Das sehen Sie sogar noch als eine Zumutung für Ihre Leute an. Sie sagen: Noch nicht mal eine Weiterbildung braucht es. – Das ist doch Blödsinn, was Sie da vorschlagen. ({12}) Und: Ich mache mir Gedanken, wie wir die Prozesse straffen können; denn auch das ist eine Erfahrung, die die Jobcenter zurzeit machen: Das Individualrecht, das wir haben, ist so kompliziert, dass es schwierig ist, es digital zu administrieren. Statt immer weiter Leistungen auszuweiten, wäre es gut, wenn wir die Prozesse straffen könnten. Insofern kann ich nur sagen: Ammenmärchen bekämpft man heute genauso wie damals auch, indem man Aufklärung betreibt. Sie dagegen folgen dem wissenschaftlichen Rat beim Thema Arbeitslosenversicherung nicht. Deshalb kann ich nur sagen: Follow the Science! Wir werden diesen Antrag ablehnen. Danke schön. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Whittaker. – Ist ja richtig Leben in der Linksfraktion ({0}) und das so kurz vor Weihnachten, Mensch! Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion. ({1})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich damals nach dem Studium angefangen habe, in der freien Wirtschaft zu arbeiten, hat mich ein Satz begleitet, und zwar nicht nur mich, sondern auch ganz viele andere, die damals anfingen, zu arbeiten. Dieser Satz hieß: Wir sind hier nicht bei „Wünsch dir was“. – Weil man eben manchmal auch Härten hinnehmen muss, weil man sich viele Dinge hart erarbeiten muss und weil es im Leben nicht immer so läuft, wie man es sich vorstellt und wünscht. ({0}) Wenn man sich aber den Antrag, den Sie von den Linken hier einbringen, anschaut, hat man das Gefühl, Sie denken, Sie wären hier bei „Wünsch dir was“: 1 000 Euro Weihnachtsgeschenk für Asylbewerber, 1 000 Euro Weihnachtsgeschenk für Hartz-IV-Empfänger, 50 Prozent mehr Grundleistungen für Hartz-IV-Empfänger, sämtliche Sanktionsmöglichkeiten an der Stelle abschaffen, ({1}) und Mieter sollen in der Lage sein, einfach mal so ihre Miete um 30 Prozent zu reduzieren. – Das ist absolutes „Wünsch dir was“, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir schon in 2019 über 1 Billion Euro über den Sozialstaat umverteilt haben. ({2}) – Nein, wir müssen uns nicht das Bruttoinlandsprodukt anschauen. ({3}) Wir müssen uns anschauen, wie viele Menschen das Ganze finanzieren. Wir wissen, wir haben circa 15 Millionen Nettosteuerzahler. Wie viele Nettosozialstaatsfinanzierer wir genau haben, wissen wir nicht. Aber selbst wenn man davon ausginge, dass die Zahl bei 30 Millionen liegen würde – da liegt sie nie und nimmer; das ist sehr, sehr großzügig geschätzt – und diese 30 Millionen 1 Billion Euro finanzieren müssten – 1 Billion, das ist 1 Million mal 1 Million; das ist eine Zahl, die so groß ist, dass sie sich kein Mensch da draußen vorstellen kann –, dann müsste jeder von diesen 30 Millionen, die es nie und nimmer sind, 3 000 Euro jeden Monat abgeben. Und das tun die Menschen auch: 3 000 Euro Wertschöpfung gehen weg, die werden einfach umverteilt. ({4}) Das ist ein Riesenproblem, das wir im internationalen Wettbewerb haben; denn das ist in anderen Ländern nicht so. Und das ist die Ursache für die Armut in Deutschland, nämlich dass der Staat wie ein Vampir an den Menschen hängt und ihnen das Geld wegsaugt. Vor ein paar Minuten erschien ein Artikel in der „Welt“, in dem es heißt, dass nicht mal mehr die Menschen in der Mittelschicht in der Lage sind, sich ein Eigenheim zu leisten. Da sind wir inzwischen angekommen. ({5}) Den Menschen wird während des Arbeitslebens so viel Geld weggenommen, dass sie nicht in der Lage sind, für Krisenzeiten vorzusorgen, dass sie nicht in der Lage sind, für das Alter vorzusorgen. ({6}) Wenn die Menschen dann irgendwann nicht mehr können, weil sie krank oder weil sie alt sind, dann sind sie auf den Sozialstaat angewiesen und landen in der Altersarmut. Das ist eine absolut verantwortungslose Politik, meine Damen und Herren. Da wollen wir nicht hin. ({7}) Deswegen können wir hier nicht „Wünsch dir was“ spielen und das Geld mit beiden Händen immer weiter ausgeben. ({8}) Wir haben in Deutschland momentan eine absolut toxische Mischung: Auf der einen Seite die Vernichtung der Wirtschaft durch wahnwitzige europäische Regelungen wie Euro 7 und anderes, aber auch durch diese Lockdown-Politik, die viele Menschen, die eigentlich arbeiten wollen, im Moment beschäftigungslos macht, und auf der anderen Seite wird immer mehr Geld mit beiden Händen ausgegeben. Diese toxische Mischung vernichtet die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, sie vernichtet den Wohlstand in diesem Land, und sie sorgt dafür, dass in Zukunft noch sehr viel mehr Menschen in Armut leben werden. ({9}) Das wollen wir als AfD nicht. Deswegen lehnen wir „Wünsch dir was“-Anträge ab. Wir hoffen, dass man endlich zur Vernunft zurückkehrt. Man muss umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen die Wirtschaft wieder stärken. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Sozialausgaben auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden. 1 Billion Euro Sozialausgaben – das ist langfristig international nicht wettbewerbsfähig. ({10}) Damit können die Menschen nicht selber vorsorgen. Wir wollen, dass die Menschen selber in der Lage sind, durch das, was sie sich erarbeitet haben, für Notzeiten vorzusorgen, und dass sie nicht immer am Tropf des Staates hängen müssen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sichert, das, was Sie eben vorgetragen habe, war ein erneuter Beleg dafür, dass die AfD nicht nur eine nationalistische, sondern im Kern auch eine extrem neoliberale Partei ist, die gegen die Interessen von allen Menschen arbeitet, die wenig im Geldbeutel haben, die Geringverdiener oder die erwerbslos sind. Ich hoffe, dass viele von denen hören, dass Sie gegen diese Menschen arbeiten. ({0}) Ich habe die Anträge der Linken gelesen. Man bekommt sonst wenig Lob von Ihnen für Regierungsarbeit; aber hier habe ich ein bisschen Lob für Hubertus Heil herausgelesen. ({1}) – Doch. ({2}) Sie schreiben an vielen Stellen: Manches sollte man noch mehr machen, oder manches sollte man verlängern. Aber das, was verlängert werden soll, ist doch im Kern nicht schlecht. Von daher erst einmal lieben Dank für das Lob für Hubertus Heil. ({3}) Sie weisen aber auch auf Fehlstellen hin. Ich kann das auch verstehen; denn Sie haben vollkommen recht, das teilen wir: Die Coronakrise betrifft bestimmte Menschen, insbesondere die Erwerbstätigen, die niedrige Einkommen haben, ganz besonders. Das sehen wir auch so, und deswegen handeln wir auch entsprechend. Ich möchte stakkatomäßig aufzählen, was wir alles schon gemacht haben – über Verbesserungen kann man immer streiten –: Wir haben Zuschüsse, beispielsweise die Novemberhilfen, für Kleinselbstständige, aber auch für Künstlerinnen und Künstler auf den Weg gebracht; das hilft ihnen massiv. Wir haben den erwähnten erleichterten Zugang zur Grundsicherung ohne Vermögensprüfung und ohne Prüfung der Kosten der Unterkunft geschaffen; das gilt ja für alle, die gerade einen Antrag stellen. Wir haben für die erwähnte Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld gesorgt. Wir haben für eine Erhöhung und für eine erweiterte Dauer des Bezugs des Kurzarbeitergeldes gesorgt, und zwar für die Beschäftigten, nicht für die Unternehmen. Gleichzeitig fördern wir die Weiterbildung während des Kurzarbeitergeldbezugs. Wir sichern Ausbildungsplätze in der Coronakrise. Wir haben den erwähnten Kinderbonus in Höhe von 300 Euro eingeführt. Wir unterstützen alleinerziehende Erwerbstätige. Wir machen ein Konjunkturpaket, das kleine Einkommen stützt und in Zukunft investiert. Wir haben das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz auf den Weg gebracht, das unsere soziale Infrastruktur stützt, usw. usf. ({4}) Herr Whittaker, ich freue mich, dass Sie sich mit uns über das freuen, was wir alles hinbekommen haben; aber als Sozialdemokratin will ich darauf hinweisen, dass wir uns auch an die Kraft erinnern können, die wir aufbringen mussten, um unseren geschätzten Koalitionspartner von all diesen Maßnahmen zu überzeugen. ({5}) Über das Kurzarbeitergeld haben wir beispielsweise erst im Koalitionsausschuss diskutiert; vorher war das nicht geklärt. Insofern: Danke, dass Sie sich jetzt unseren Maßnahmen anschließen. ({6}) Das waren jetzt auch nur die coronabedingten Maßnahmen. Wir haben ein bisschen mehr gemacht. Wir haben gestern mit Ihrer Unterstützung endllich in der Fleischbranche aufgeräumt. Wir haben trotz Corona die Grundrente und das Arbeit-von-morgen-Gesetz eingeführt. Fazit: Als SPD sehen wir glücklicherweise eine Renaissance des Sozialstaates in Reinkultur, die wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner – nach gewisser Überzeugungsarbeit – ({7}) auf den Weg bringen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sind richtig stolz darauf, dass wir genau das auf den Weg bringen. Und ihr als Linke müsst zugeben – ich weiß, dass euch das wehtut –, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss bitte, Frau Kollegin. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– dass so etwas nicht allein vom Anträgeschreiben kommt, sondern man schon an der Regierung sein muss. ({0}) Und wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz auf das Erreichte. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich meine, man kann die Bilanz der Großen Koalition auch zu Protokoll geben. Der nächste Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, Sie weisen in Ihren beiden Anträgen auf Probleme hin, die tatsächlich von diesem Hohen Haus wahrgenommen und beantwortet werden müssten. Allerdings sind die Lösungen, die Sie vorschlagen, einmal mehr nicht zielführend; und deshalb werden wir Ihren Anträgen leider nicht zustimmen können, wenngleich Sie wichtige Probleme ansprechen. Natürlich wird die Coronapandemie Arbeitsplätze kosten. Aber die Lösung ist doch nicht, vorzuschlagen, wie die Zeit der Arbeitslosigkeit bearbeitet werden soll, sondern die Lösung ist, zu überlegen, wie wir die Zeit der Arbeitslosigkeit verkürzen können. In Ihren Anträgen fehlen aber jegliche Vorschläge hierzu. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schade, weil wir gemeinsam in diesem Hohen Haus schon auch die Menschen, die in dieser Coronapandemie am Rande stehen, im Blick haben müssen. Dazu gehören beispielsweise auch die sogenannten vulnerablen Gruppen innerhalb der Grundsicherung. Es freut mich ausdrücklich, dass Familienministerin Frau Giffey und auch Frau Staatsministerin Müntefering heute hier sind. Denn Sie, Frau Giffey, haben mit Franz Müntefering einen gemeinsamen Appell an die Gesellschaft und die Politik gerichtet, dass die vulnerablen Gruppen in dieser besonderen Situation der Coronapandemie der Solidarität und Unterstützung bedürfen. Aber wenn wir zum Beispiel den älteren Menschen in der Grundsicherung raten, zu Hause zu bleiben und möglichst wenig unter Leute zu gehen, dann ist doch klar, dass sie nicht mehr den günstigsten Supermarkt aufsuchen können, sondern dass sie den nächsten Supermarkt aufsuchen müssen. Wenn Sie, Frau Giffey, empfehlen, dass die Menschen sich Mahlzeiten und Lebensmittel nach Hause liefern lassen sollen, dann müssen natürlich auch die finanziellen Möglichkeiten gegeben sein. ({1}) Hier versagt Ihr Sozialminister Hubertus Heil völlig. Er hat die Menschen in der Grundsicherung im Alter null auf dem Schirm. Ich bitte Sie, liebe Frau Giffey, als Familienministerin: Rufen Sie ihn zur Räson, erinnern Sie ihn an seine Verantwortung, damit hier eine Lösung gefunden werden kann. ({2}) Es ist richtig, lieber Kai Whittaker, dass es eine zusätzliche Leistung für Kinder gegeben hat. Trotzdem haben Sie ein Problem nicht gelöst: Die Arbeitslosigkeit von morgen ist nämlich auch mitbedingt durch den Beschulungsverlust von heute. Die Kinder in der Grundsicherung haben einen Nachteil, weil sie häufig keine digitalen Endgeräte haben. Wir haben schon weit vor der Coronapandemie vorgeschlagen, dass man die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets für Schulmaterialien erhöht. Hätten Sie dem damals zugestimmt, dann wären die Laptops heute schon zur Hälfte abbezahlt. Das wäre die richtige, weitsichtige Lösung gewesen; aber Sie haben da nichts auf den Weg gebracht. ({3}) Lieber Herr Whittaker, ich sage Ihnen eins: Weihnachten ist nicht die Zeit der Märchen, sondern Weihnachten ist die Zeit der Hoffnung, und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Fraktionen SPD und CDU/CSU endlich ein Stück weit bereit sind, auch für die Menschen am Rande dieser Gesellschaft die Verantwortung zu übernehmen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Wochen ruft in meinem Büro eine Rentnerin aus Rostock an, und zwar immer und immer wieder. ({0}) – Ja, wenn ich jetzt lügen würde, hätte ich gesagt: Aus Köln, aus meinem Wahlkreis. – Aber sie ist tatsächlich aus Rostock. – Die ältere Dame stockt mit der Grundsicherung ihre kleine Rente auf. Die Coronakrise macht ihre Sorgen noch größer. Sie berichtet von steigenden Lebensmittelpreisen, von teuren FFP2-Masken ({1}) und von Unterstützungsangeboten, die wegfallen. Sie fragt: Warum gibt es für mich eigentlich keinen einzigen Cent mehr, obwohl doch Lufthansa und andere große Unternehmen Millionen bekommen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, können Sie das dieser Rentnerin erklären? ({2}) Ich kann es nämlich nicht. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Whittaker, CDU/CSU-Fraktion?

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, natürlich.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade eben erneut – was Sie schon häufiger in Ihren Reden gemacht haben – von steigenden Lebensmittelpreisen berichtet. Ich habe mir mal die Zahlen vom Statistischen Bundesamt geben lassen, das jeden Monat die Preise ermittelt, ({0}) und ich habe mir den letzten Preisstand von vor der Coronakrise im Januar dieses Jahres sowie den Preisstand von November dieses Jahres angeschaut. Der Preisindex von Januar dieses Jahres, gemessen an den Preisen von 2015, liegt bei 109,2 und von November bei 108,9. ({1}) Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass 108,9 weniger ist als 109,2 und dementsprechend Ihre Aussage, dass die Lebensmittelpreise gestiegen sind, falsch ist? ({2})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Whittaker, vielen Dank für die Frage, die ich auch sehr eindeutig beantworten kann, nämlich damit, dass ich im März und im April – wie Sie wahrscheinlich auch; nehme ich mal an – in die Supermärkte gegangen bin und eingekauft habe. Ich habe sehr schnell festgestellt, dass, wenn man nicht sofort morgens um 7 oder 8 Uhr dort steht, gerade die Produkte, die günstig sind, bereits vergriffen waren. ({0}) Das heißt: Die besonders günstigen Produkte sind sehr schnell vergriffen gewesen. ({1}) Und wenn Sie sich beispielsweise die Zahlen von Foodwatch – das scheint Ihnen offenbar wehzutun – für diesen Frühling mal genau anschauen, dann stellen Sie fest: Es ist sehr eindeutig, dass gerade die frischen Lebensmittel wie Obst und Gemüse deutlich teurer geworden sind, ({2}) und zwar so teuer wie seit Jahren nicht mehr. Und das sollten Sie akzeptieren. ({3}) Ich komme zurück zu meiner Rede. – Wir Grüne werben deswegen, genau wie die Linken auch, seit Monaten für einen Coronazuschlag auf die Grundsicherung, und zwar Seite an Seite mit einem breiten Bündnis aus Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, aus Familienverbänden, aus Gewerkschaften, aus den Tafeln. Wir werden nicht lockerlassen, bis das dieser Bundestag endlich beschließt, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({4}) Denn es fehlt nicht an Fakten und Informationen. Wir wissen doch, dass die Pandemie Menschen in Armut härter trifft als andere, und zwar gesundheitlich und in ihrer Existenz. Warum lassen Sie also sehenden Auges zu, dass sich aus der Coronakrise eine verschärfte Armutskrise entwickelt? Das darf dieser Bundestag nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({5}) Und jetzt ist dazu in der Koalition auch noch ein Kräftemessen um die richtige Hilfe für Soloselbstständige und Kulturschaffende ausgebrochen. Die Union blockiert einen einfachen Zugang zur Grundsicherung. ({6}) Die SPD blockiert einen Unternehmer/-innenlohn für Selbstständige. Und so blockieren sich eigentlich alle, sodass sich gar nichts ändert. Dieses Trauerspiel auf dem Rücken der Betroffenen muss endlich aufhören, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({7}) Denn gerade in Krisenzeiten brauchen wir einen starken Sozialstaat, der unbürokratisch ist, einen Sozialstaat, der unterstützt, der Halt und Sicherheit gibt, der Perspektiven bietet. Hartz IV leistet all das nicht. Deswegen fordern wir stattdessen einen einfachen Zugang zur Grundsicherung, zu einer würdevollen Garantiesicherung. Lieber Kollege Whittaker, das würde noch einfacher funktionieren, wenn die Union genau das nicht blockieren würde. ({8}) Wir fordern eine deutliche Erhöhung des Regelsatzes, damit jeder Mensch teilhaben kann. Wir fordern eine Überwindung der Bedarfsgemeinschaften; denn jeder Mensch hat aus sich heraus einen Anspruch auf soziale Sicherung. Lieber Kollege Whittaker, auch das blockiert die Union, und diese Blockade muss endlich aufhören! ({9}) Wir fordern einen Verzicht auf die bürokratische und aufwendige Vermögensprüfung, die bloß Zeit und Ressourcen in den Jobcentern kostet. Und da habe ich sehr genau hingehört: Der Minister Heil sieht das genauso. Auch das blockiert die Union. Es geht auf Ihr Konto, dass die Jobcenter hier Zeit mit Sachen verbringen, die einfach nur Zeit fressen und nicht im Sinne der Betroffenen sind. ({10}) – Ja, ich weiß, das tut weh. Und vor allem: Stoppen Sie Stromsperren, und verhängen Sie ein Sanktionsmoratorium, damit niemandem gerade in diesen Monaten das Existenzminimum genommen wird. Auch das ist eine Leerstelle Ihrer Politik. Wir warten bis heute auf die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils. Auch das muss schnellstmöglich im Sinne der Menschen umgesetzt werden. ({11}) Kurzum: Lassen Sie uns unseren Sozialstaat würdevoll und krisenfest machen; denn ein starker Sozialstaat trägt im Wesentlichen dazu bei, dass eine Gesellschaft nicht auseinanderfällt. In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, und bleiben Sie gesund! ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nennen wir es mal beim Namen: Den Linken geht es doch gar nicht um Bedürftige oder um Corona, um die Pandemie. ({0}) Es geht darum, das regelmäßige Ablehnen unserer Sozialstaatsprinzipien ({1}) hier einmal mehr vorzutragen, dem Ganzen ein neues Mäntelchen umzuhängen ({2}) und zu sagen: Wir müssen wegen Corona alles ändern. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt: Unser Sozialstaat ist gut und gerecht aufgebaut. Wir befassen uns in jeder Sitzungswoche mit der Frage: Wie geht es bedürftigen Menschen in diesem Land? Wie können wir ihnen helfen? Wie können wir sie wieder in Arbeit bringen? Das ist doch die ganz entscheidende Frage. Deswegen, meine Damen und Herren: Wir ziehen uns den Schuh, nichts getan zu haben, nicht an. Wir tun seit Jahren nichts anderes, ({4}) als bedürftigen Menschen in diesem Land zu helfen, dieses Land voranzubringen, den Menschen Arbeit zu geben und Unternehmen zu helfen. Das Prinzip des Forderns und Förderns – das möchte ich an dieser Stelle noch einmal sehr, sehr deutlich betonen – ({5}) ist gerade beim Bezug von Hartz IV absolut wichtig, und das werden wir auch nicht aus dem Blick verlieren. Es geht nicht darum, Anreize zu setzen, dass Menschen sich dauerhaft im System der sozialen Hilfen einrichten und dort ausharren, sondern es geht darum, ihnen herauszuhelfen. ({6}) Deswegen müssen wir uns auch immer wieder bei aller Hilfestellung sehr kritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob die Hilfen, die wir leisten, richtig und zielgerichtet sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt verschiedene Vorschläge in den beiden Anträgen, die uns vorliegen. Dazu zählt zum Beispiel, das Arbeitslosengeld I zu verlängern, Hartz IV zu erhöhen. Das Ganze wird in Bezug zum Kurzarbeitergeld gesetzt, das natürlich etwas bessere Regelungen bietet als der Arbeitslosengeldbezug in Deutschland. Das hat auch einen Grund, meine Damen und Herren; denn das Kurzarbeitergeld ist eben keine Fürsorgeleistung. Es ist keine Sozialleistung im engeren Sinne wie Hartz IV. Nein! Es ist eine Versicherungsleistung, und es ist, wenn Sie so wollen, eine Wirtschaftshilfe. ({7}) Das ist der ganz zentrale Unterschied, weswegen wir hier auch unterschiedlich vorgehen und die Leistungen den Menschen in unterschiedlicher Höhe zukommen lassen. Sie fordern darüber hinaus, dass wir beim Bezug von Hartz IV die Sanktionen streichen. Ganz ehrlich: Zunächst einmal sind Sanktionen begrenzt. Das wurde gerichtlich bestätigt; das akzeptieren wir selbstverständlich auch. Es geht aber gerade bei Hartz IV um Steuergelder; das sei an dieser Stelle mal gesagt. Wir verwalten das Geld der Menschen in diesem Land. Unsere Aufgabe und die Aufgabe der Jobvermittler im Jobcenter ist es, mit diesem Geld verantwortungsvoll umzugehen. Selbstverständlich haben wir das Recht, die Menschen auch zu fragen und zu fordern und zu sagen: Wenn du zum wiederholten Mal zum Termin nicht erscheinst, ({8}) wenn du diese oder jene Auflage nicht erfüllst, dann dürfen wir dich selbstverständlich auch sanktionieren. ({9}) Das ist richtig, und dahinter stehe ich auch. ({10}) Soloselbstständige: Diese Diskussion, meine Damen und Herren, wurde zu Recht in diesem Hause geführt, und ich finde, das Problem wurde auch richtig gelöst. Zuerst hieß es: Ihr könnt Hartz IV beantragen. – Wir haben natürlich erkannt, dass man mit Selbstständigen, mit Leistungsträgern dieser Gesellschaft in dieser besonderen Situation, wie wir sie im Moment erleben, so nicht umgehen kann. Deswegen haben wir die Neustarthilfe eingeführt, die sich wahrlich sehen lassen kann; das darf an dieser Stelle auch mal gesagt werden. Bis zu 5 000 Euro können ab Januar bezogen werden. ({11}) Auch da haben wir einmal mehr bewiesen, dass wir in sozialstaatlichen Fragen durchaus beratungsfähig und lernfähig sind, meine Damen und Herren. ({12}) Ich sehe, die Uhr blinkt. – Also: Worauf kommt es an? Es kommt in diesen Tagen auf wirtschaftlichen Sachverstand an, meine Damen und Herren. Wir müssen alles dafür tun, Arbeitslosigkeit in diesem Land zu vermeiden. Wir müssen alles dafür tun, Arbeitsplätze zu erhalten. Und wir müssen vor allen Dingen unseren Unternehmen helfen, damit wir auch morgen noch ({13}) ein gesundes, ein gutes Land sind, das sich mit seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sehen lassen kann. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. – Ich glaube, da blinkt „Präsident“ und nicht die Uhr. Das ist mein heimliches Rufen, um zum Schluss zu kommen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schimke, wissen Sie, was uns, also Die Linke, und die CDU unterscheidet? ({0}) Sie haben den Sozialstaat in den letzten Jahren abgebaut, und wir wollen ihn wiederherstellen. Das ist der Unterschied! ({1}) Meine Damen und Herren, der Arbeitsmarkt erlebt eine schwere Krise. Trotz Kurzarbeit sind eine halbe Million Menschen mehr arbeitslos. Natürlich endet die Krise nicht am 31. Dezember dieses Jahres. Deshalb, meine Damen und Herren der Bundesregierung, haben Sie die Sonderregelungen bei der Kurzarbeit bis 2021 verlängert. Die Linke fordert: Verlängern Sie genauso die Sonderregelung beim Arbeitslosengeld! Das ist dringend notwendig! ({2}) Drei Monate länger Arbeitslosengeld, das macht für viele Menschen einen riesigen Unterschied. Sie sparen hier auf dem Rücken derjenigen, die ihre Arbeitsplätze verlieren. Das ist ungerecht, und das ist unsozial, meine Damen und Herren. Wenn diese Koalition nicht den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt hätte, dann wären die Reserven der Bundesagentur für Arbeit gut gefüllt. Der Wirtschaftsabschwung hat sich doch schon vor Corona angebahnt. Dann muss man doch die Sozialversicherung stärken. Das wäre eine gute Arbeitsmarktpolitik, meine Damen und Herren. ({3}) Zur Zeit von Helmut Schmidt, der gewiss kein Linker war, betrug das Arbeitslosengeld 68 Prozent vom letzten Netto. Das stärkte in der Wirtschaftskrise die Konjunktur. Fast genau vor 17 Jahren, auch in einer Wirtschaftskrise, haben Union und SPD, Grüne und FDP die Agenda 2010 beschlossen. Seitdem bekommen Erwerbslose das Arbeitslosengeld unter erschwerten Bedingungen und müssen dann oft Hartz IV beziehen. Seitdem geht die Angst um, den Arbeitsplatz und auch den Lebensstandard zu verlieren. Damit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Herren! ({4}) Die Linke fordert ab sofort und dauerhaft erstens ein erhöhtes Arbeitslosengeld von 68 Prozent vom letzten Netto, zweitens einen leichteren Zugang, vor allem für Beschäftigte mit kurzen Beitragszeiten, drittens für alle Versicherten eine beitragsfinanzierte Anschlussleistung. Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, niemand verliert freiwillig den Arbeitsplatz. Arbeitslosigkeit ist ein strukturelles Merkmal unseres Wirtschaftssystems mit seinen wiederkehrenden Krisen. Deshalb ist es das Mindeste, den Lebensstandard von erwerbslosen Menschen zu sichern. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Michael Gerdes, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Antrag der Fraktion Die Linke in einem Punkt zu. Da heißt es nämlich in den ersten zwei Eingangssätzen: Seit dem Frühjahr 2020 hat die Corona-Pandemie neben den gesundheitlichen Auswirkungen enorme ökonomische und soziale Verwerfungen verursacht. Es ist dringend erforderlich, die ökonomischen und sozialen Folgen abzufedern und Arbeitsplätze zu sichern. Das stimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Folgen der Pandemie versetzen unser Land, die Welt insgesamt in einen Ausnahmezustand und bringen Ungleichheiten stärker ans Tageslicht. Und genau deshalb haben wir zahlreiche Hilfen für die verschiedensten Zielgruppen auf den Weg gebracht, ein Konjunkturpaket erarbeitet und massiv Geld in die Hand genommen. Der Bundeshaushalt 2021 beinhaltet Rekordausgaben, um die Folgen der Pandemie abzumildern und unsere Gesundheit zu schützen. Und selbstverständlich geht es darum, soziale Härten abzufedern. Soziale Ungleichheit ist nicht nur ein Problem für die Betroffenen selbst; sie blockiert stabile demokratische Strukturen und verhindert wirtschaftliches Wachstum. Deshalb ist uns daran gelegen, niemanden zurückzulassen; deshalb gilt die Regelung zum Kurzarbeitergeld; deshalb haben wir den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung verlängert; deshalb wurde unter anderem der Kindergeldbonus gezahlt oder die Sonderregelung für die Mittagsverpflegung von Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Bildungspakets verlängert. ({0}) Was können wir aber perspektivisch tun, sprich: über die Coronahilfen hinaus? Im Gegensatz zur AfD steht die SPD für einen starken Sozialstaat, der in Strukturen investiert und sich kümmert, ({1}) einen Staat mit guter Kinderbetreuung, guten Schulen, guter Infrastruktur und verlässlichen Sozialversicherungssystemen. ({2}) Wir stehen für einen Staat, der Menschen qualifiziert und alles dafür tut, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst entsteht. Wir setzen auf Leistungsgerechtigkeit und Solidarität. Deshalb haben wir für die Grundrente gekämpft; deshalb stehen wir zum Grundsatz: Je länger man in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, desto länger hat man auch Anspruch auf Arbeitslosengeld I; Ältere brauchen einen längeren Anspruch als Jüngere. ({3}) Ich weiß, Minijobber sind von der Krise besonders betroffen; man denke nur an die vielen Jobs in der Gastronomie und im Einzelhandel. Minijobber profitieren nicht von der Arbeitslosenversicherung. Wir sollten uns aber klarmachen, dass Minijobs auch ohne Pandemie keine wirkliche Perspektive oder Sicherheit bieten. Es hat sich auch nicht die Hoffnung erfüllt, dass Minijobs eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt bauen. Deshalb sagen wir als SPD immer wieder, dass unser erstes Ziel die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Jobs sein muss, am besten mit Tarifbindung. ({4}) Nur gute Löhne verringern Vermögensungleichheit; nur gute Löhne sorgen für eine bessere Rente. Daran arbeiten wir. Wir handeln in der Krise. Glück auf! Frohe Weihnachten Ihnen allen und einen guten Rutsch in ein hoffentlich besseres Jahr 2021! Bleiben Sie gesund! Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gerdes. ({0}) – Aber nur wegen der guten Wünsche. ({1}) Letzter Redner ist der Kollege Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute einen spannenden Antrag vorliegen. Ich bin immer bemüht, dass ich bei allen Anträgen, die ich lese, auch das Positive finde. Hier habe ich mich echt schwergetan – tue es jetzt immer noch –; denn er geht komplett an den Herausforderungen, vor denen wir stehen, vorbei. ({0}) Das Beste, das wir für das Land schaffen – ich weiß nicht, warum wir hier darum ringen müssen –, sind sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Ich hatte gehofft, das wäre eigentlich klar! Das ist unser Ziel. ({1}) In den Debatten in den letzten Tagen habe ich sehr oft erlebt, dass wir in die Nähe von Parteitagsreden kommen. Ich finde das angesichts der Krise und der Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht angemessen; denn wir müssen auch Vertrauen in dieses Parlament, in diese Koalition und in diese Regierung haben. ({2}) Das wird mit Parteitagsreden nicht besser. Aber Wahrheiten muss man aussprechen, und eine Wahrheit ist, dass wir seit 2005, seitdem die Union die Bundesregierung führt, egal mit wem in der Koalition, fast 7 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen haben. Das sind 26 Prozent! ({3}) 26 Prozent mehr Jobs – das ist ein Erfolg! Das kann man nachprüfen, nachlesen. Das hilft, dieses Land weiter nach vorne zu treiben. Und mit den Fähigkeiten, die wir haben, wird das auch gelingen. Deswegen bin ich froh, Frau Kollegin Kolbe, dass wir viele Gesetze, die aus SPD-geführten Häusern kommen, noch mal im Koalitionsausschuss beraten. Wenn Gesetze mittlerweile handwerklich so schlecht gemacht sind, dass sie nicht mal mehr in die Ressortabstimmung kommen, dann wird das dieser Krise und der Situation nicht gerecht. Wir dürfen uns hier nicht parteipolitischem Klamauk hingeben, sondern sollten lieber etwas mehr in die Sacharbeit investieren, damit wir für die Menschen etwas auf den Weg bringen. ({4}) Wenn wir für die Menschen etwas auf den Weg bringen wollen, dann ist es nicht damit getan, hier zu fordern, das Arbeitslosengeld zu erhöhen; dann muss man auch sagen, wer das bezahlt. ({5}) Und zahlen tun es nämlich die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber. Das heißt, das Einzige, was Sie hier fordern, ist eine massive Erhöhung der Sozialabgaben für alle Erwerbstätigen in diesem Land und natürlich für die Arbeitgeber, ({6}) von denen wir fordern, dass sie in den nächsten Monaten wieder Jobs schaffen. – Ich warte, Frau Kipping.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich sehe an Ihrer Haltung, dass Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zulassen wollen. ({0})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen, Herr Präsident.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Kipping, Sie haben das Wort.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Zech, Sie haben hier unterstellt, dass unsere Vorschläge eine Steuerbelastung –

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sozialabgaben.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– für alle Erwerbstätigen bedeuten würden. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Steuerkonzept vorsieht, dass Alleinstehende mit einem Einkommen bis zu 7 000 Euro im Monat bei uns bessergestellt werden, dass wir aber sehr wohl sagen, woher Mehreinnahmen kommen sollen, und zwar indem wir Millionenerbschaften, Millionengewinne und Millionenvermögen stärker besteuern wollen? ({0})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kipping, vielen Dank. – Ich bitte Sie, zur Kenntnis nehmen, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung keine Steuer ist, sondern eine Sozialabgabe. Darüber sprechen wir jetzt. Dazu haben Sie ja auch Ihren Antrag gestellt. ({0}) Wenn Sie einen Steuerantrag stellen wollen, dann stellen Sie einen und bringen ihn zur Debatte, und dann können wir gerne darüber diskutieren. Gegen das, was Sie hier machen, was Sie hier in der Debatte erzählen, war Münchhausen ein Empiriker. ({1}) Was Sie hier machen: Sie fordern, dass die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesem Land mit der Umsetzung Ihres Konzepts mehr zahlen müssen. ({2}) Ich möchte nicht, dass sie mehr zahlen müssen. Ich sage Ihnen, was Sie noch fordern: Sie kartätschen die Arbeitslosenversicherung nieder. Sie fordern einen direkten Anspruch für Einzahlungen in die Arbeitslosenversicherung. ({3}) Das will ich eben nicht. Wir sind hier in einer Solidarversicherung, in einer Versicherung auf Gegenseitigkeit, wo der Starke den Schwachen mitnimmt. Das wollen Sie abschaffen. Das ist die Wahrheit. Sie sagen es halt nicht. Deshalb: Nein, ich gebe Ihnen nicht recht. Wir sprechen hier über Sozialversicherungen und nicht über Steuer. ({4}) Da sind Sie heute in der falschen Debatte, wenn Sie mit mir darüber sprechen wollen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kipping, die Frage ist beantwortet. Es wird kein Dialog jetzt werden.

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe jetzt gerade über das Arbeitslosengeld gesprochen. ({0}) Noch mal: Für mich ist es wichtig – um jetzt zum Ende zu kommen; ich glaube, die Differenzen sind aufgeklärt –, dass wir die Menschen nicht so lange wie möglich in der Arbeitslosigkeit belassen, sondern dass wir wieder sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen, dass wir die Menschen in eine vernünftige, gut bezahlte Arbeit bekommen. Das hat die Union seit 2005 mit 7 Millionen mehr sozialversicherungspflichtigen Jobs bewiesen. Das werden wir auch weiter tun; dann kommen wir auch gut durch die Krise. Bei allen Differenzen: Frohe Weihnachten und einen guten Start ins nächste Jahr! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wie der Name des Gesetzes „Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz“ erwarten lässt, haben wir es hier mit einem spannenden, wichtigen, aber auch zugleich komplizierten Gesetz zu tun, das zur richtigen Zeit kommt; denn wir haben ja leider damit zu rechnen, dass es infolge der Coronapandemie zu zahlreichen Unternehmensinsolvenzen kommen wird. Deshalb ist es gut, dass wir hier mit diesem neuen Restrukturierungsverfahren an den Start gehen. Mit dem neuen Restrukturierungsverfahren kann es Unternehmen nun möglich sein, sich rechtzeitig zu sanieren und weiterhin geschäftstätig zu sein. Unternehmen, die noch zahlungsfähig sind, ist es erlaubt, die Verhandlungen über den Insolvenzplan mit den Gläubigern eigenständig zu führen. Damit schaffen wir ein vorinsolvenzliches Verfahren, das es den Unternehmen ermöglichen wird, sich wieder aufzurappeln. Das nutzt dann insbesondere auch den Arbeitsplätzen, weil dadurch eine Chance besteht, dass die Betriebe fortgeführt werden und damit die Jobs weiter bestehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist es ein ganz wichtiges Gesetz, gerade jetzt in der Coronakrise. ({0}) Die Details werden wir noch vom Kollegen Brunner hören. Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den wir an dieses Gesetz angehängt haben und der für uns als SPD wirklich sehr, sehr wichtig war; ich spreche über die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht auch für den Januar. Denn wenn ein Unternehmen unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und die Betriebe geschlossen werden, was völlige Berechtigung hat aufgrund der momentanen Coronazahlen, dann ist es verfassungsrechtlich geboten, dass diese Unternehmen einen Ausgleich für ihre Betriebsschließung bekommen; denn sie können durch diesen staatlichen Eingriff ja keine Umsätze mehr erwirtschaften. Und wenn dann diese Unternehmen die Hilfen nicht ausbezahlt bekommen, weil EU-Beihilferecht noch zu prüfen ist oder weil es administrativ noch nicht geregelt ist, dann, finde ich, können wir diese Unternehmen nicht in die Insolvenz treiben. Das geht nicht. Die Unternehmen sind unverschuldet in diese Zahlungsproblematik geraten. ({1}) Deswegen ist es gut, dass die SPD hier durchgesetzt hat, dass die Firmen, die antragsberechtigt sind und bei denen durchaus noch eine Überlebenschance besteht, auch noch im Januar tätig sein können, ohne Insolvenz beantragen zu müssen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine ganz wichtige Perspektive für diese Unternehmen; denn es geht hier um die Unternehmen, es geht um die Jobs und auch um die Familien, die dort dranhängen. Das ist uns wichtig. ({3}) So ärgerlich es ist, dass die Auszahlung der Hilfe noch nicht organisiert ist: Da erwarten wir aber, dass das so schnell wie möglich geklärt wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Zum Schluss möchte ich, weil ich davon ausgehe – man weiß zwar nie –, dass es die letzte rechtspolitische Debatte in diesem Jahr hier im Plenum sein wird – – ({5}) – Bitte? ({6}) – Aber für heute. ({7}) Also kurz: Ein herzliches Dankeschön an alle! Ich glaube, wir haben in diesem Jahr in der Rechtspolitik eine Menge auf die Beine gestellt. Ganz vielen Dank an die Justizministerin! Geben Sie den Dank bitte auch an die Mitarbeiter im BMJV weiter, die jetzt, gerade in den letzten Tagen und Wochen, wirklich Großartiges geleistet haben. Aber auch die Fraktionsmitarbeiter und das Sekretariat des Rechtsausschusses möchte ich hier ausdrücklich nennen. Ich glaube, wir haben auch noch viel vor, zum Beispiel heute bei den folgenden Tagesordnungspunkten, und das ist auch gut so. Vielen Dank. Schöne Weihnachten! ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Fechner. – Rechtspolitiker gelten ja allgemein als etwas langsamer als die anderen, weil sie viele Sachen durchdenken müssen. Ich weiß, wovon ich rede. Nächster Redner ist der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind heute hier zusammengekommen, um an diesem letzten Sitzungstag des Jahres noch das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts abzustimmen. Wir tun das in einer gewissen Eile, weil das Gesetz unbedingt bis zum 1. Januar in Kraft treten soll. Man möchte es wohl als Ausweis der Handlungsfähigkeit des Staates verkaufen, als Hilfe für die von den Coronamaßnahmen der Regierung in ihrer Existenz bedrohten Unternehmen. Das ist ein Stück weit Augenwischerei; denn das Gesetz ist nicht zu diesem Zweck entstanden, sondern war ohnehin in der Mache, weil Deutschland durch eine Richtlinie der EU aus dem Jahr 2018 verpflichtet wird, ein solches Gesetz zu schaffen. Insofern ist das Gesetz auch nicht speziell auf die aktuelle Lage zugeschnitten, sondern soll ganz allgemein einen Rahmen für eine Sanierung zur präventiven Vermeidung von Insolvenzen darstellen. In Ansehung der gegenwärtigen Verhältnisse wurden allerdings noch einige Dinge hinzugefügt, so eine erneute Aussetzung der Insolvenzantragspflicht im Monat Januar, und zwar für Unternehmen, die jetzt im November und Dezember staatliche Hilfen beantragt haben. Dabei hatte man allerdings übersehen, dass die zuständigen Stellen bisher nicht in der Lage waren, die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Anträge überhaupt gestellt werden können. Und so musste der Rechtsausschuss, der eigentlich dieses Gesetz am Dienstag in einer Sondersitzung bereits behandelt hatte, noch am gleichen Abend zu einer weiteren Sondersitzung zusammenkommen, um auch noch die Unternehmen einzubeziehen, die einen Antrag stellen dürften, wenn sie es denn könnten. Ob das, was bei dieser mit der ganz heißen Nadel gestrickten Nachbesserung herausgekommen ist, nun das Gelbe vom Ei ist, da habe ich meine Zweifel. Die Kollegin von den Grünen, die ihre Bedenken bereits in der Ausschusssitzung deutlich formuliert hat, wird dazu sicher gleich noch was sagen. Immerhin: Interessant, zu sehen, welche handwerklichen Fehler denen unterlaufen – und dann eben im Hauruckverfahren noch ausgebügelt werden –, die sonst gewohnheitsmäßig anderen vermeintliche handwerkliche Fehler vorzuhalten gewohnt sind! ({0}) Vielleicht führt es ja zu etwas mehr Bescheidenheit auf dieser Seite; wer weiß. Zurück zum Gesetz. Einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, in dem Unternehmen, die von ihren Verbindlichkeiten erdrückt zu werden drohen, in einem geregelten Verfahren unter gerichtlicher Beteiligung zu einem teilweisen Schuldenerlass gelangen können, wenn denn zumindest die Mehrheit der Gläubiger der Überzeugung ist, dass das Unternehmen dadurch eine Zukunft haben kann, ist sicherlich sinnvoll. Die zunächst vorgesehene Möglichkeit, dass sich das Unternehmen zusätzlich auch noch von laufenden Verträgen sollte freimachen können, ist in der Anhörung zu Recht heftig kritisiert und anschließend auch aus dem Entwurf gestrichen worden. Ein so massiver Eingriff muss richtigerweise dem Insolvenzverfahren vorbehalten bleiben. ({1}) Weil das so ist, weil der Grundansatz des Gesetzes nicht verkehrt ist und wenigstens die gröbste Fehlleistung bei seiner Ausgestaltung zuletzt noch beseitigt wurde, werden wir nicht gegen dieses Gesetz stimmen. Wir werden aber auch nicht für dieses Gesetz stimmen; denn es enthält neben den sinnvollen aus unserer Sicht auch schädliche Inhalte. Das betrifft insbesondere die weitere Aufweichung des Insolvenzgrundes der Überschuldung. Hier soll dauerhaft die Pflicht zur Einleitung des Insolvenzverfahrens entfallen, wenn man es nur hinbekommt, darzustellen, dass man auf kurze Sicht nicht auch zahlungsunfähig wird. So sinnvoll es ist, wenn zum Zwecke der Sanierung faule Kredite durch einen Teilerlass aus der Welt geschafft werden, so schädlich ist es, überschuldete Unternehmen unter immer laxeren Bedingungen weiter wirtschaften zu lassen. ({2}) Der Erhalt von Unternehmen und die Vermeidung von Insolvenzen sind anzustreben, aber das muss dann durch tatsächliche Sanierung geschehen und nicht nur dadurch, dass man bloß den Insolvenzantrag immer weiter hinausschiebt. In diesem Sinne: Ich wünsche im Vorgriff schon mal frohe Weihnachten. Und bis nächstes Jahr! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Jacobi. – Nächster Redner dürfte der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion, sein. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „It’s the economy, stupid.“ Mit diesem Satz hat Bill Clinton 1992 nicht nur die Präsidentschaftswahl in den USA gewonnen, sondern er hat damit letztlich auch auf den Punkt gebracht, um was es geht: um die Grundlagen von Wohlstand und Arbeitsplätzen, die Grundlage unseres Gemeinwesens schlechthin. Wenn man sich das mal auf die Verhältnisse übersetzt, in denen wir leben, dann bedeutet das im Klartext, dass eine funktionierende und prosperierende Wirtschaft der Grund dafür ist, dass wir in der Lage sind, jedes Jahr – in diesem Jahr 153,2 Milliarden Euro – soziale Leistungen auszubringen, dass wir in der Lage sind, diese unglaublichen Wirtschaftshilfen im Rahmen der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auszubringen, um nach der Krise auch wieder auf die Füße zu kommen. Ein wesentlicher Bestandteil einer funktionierenden Wirtschaft ist das Vertrauen, ist das Vertrauen in die Marktordnung, ist das Vertrauen in die Marktteilnehmer, ist das Vertrauen darauf, dass die Leistungen erbracht werden, die Werke, die Dienstleistungen bezahlt werden und dass man nicht bei jedem einzelnen Fall davon ausgehen muss, dass man Vorleistungen benötigt, dass man Sicherungen braucht und anderes mehr. Das würde dem Markt die Flexibilität entziehen. Deswegen, glaube ich, darf man nicht dem Trugschluss unterliegen, dass das Insolvenzwesen so etwas wie die Friedhofsordnung der Marktwirtschaft wäre, sondern ganz im Gegenteil: Es ist die Grundvoraussetzung dafür, dass mit Vertrauen agiert werden kann. ({0}) Deswegen ist es so richtig, deswegen ist es so wichtig und deswegen ist es notwendig, dass wir an diesem Thema auch arbeiten. ({1}) Es geht um Vertrauen, um das Funktionieren der Wirtschaft. Es geht – wir haben es vorhin in einer anderen Debatte schon erlebt – auch um die zweite Chance. Es stimmt, sehr geehrter Herr Kollege Jacobi: Das ist in der Tat nichts, was in der Adventszeit vom Himmel gefallen wäre, sondern wir haben eine EU-Richtlinie zur Restrukturierung. Diese ist gut und richtig, weil sie es schafft, zwischen den beiden insolvenzrechtlichen Strängen einen dritten guten Weg zu gehen – zwischen der freien Sanierung auf der einen Seite und der mit dem Insolvenzverwalter auf der anderen Seite, bei der das Unternehmen gezwungen ist, das Heft des Handelns letztlich aus der Hand zu geben. Mit der vorinsolvenzlichen Restrukturierung schaffen wir es, dass auch eine große Mehrheit der Gläubiger in der Lage ist, dem Unternehmer das Vertrauen entgegenzubringen, das Unternehmen im Sinne der Gläubiger selber aus der Krise zu führen. Das ist eine große Chance. Das ist immer richtig, aber das ist in der wirtschaftlichen Situation, in der wir derzeit sind, ganz besonders wichtig und richtig. Deswegen ist es auch gut, dass wir das Verfahren beschleunigt haben, dass wir es dieses Jahr zum Abschluss bringen und dass wir letztlich auch dafür sorgen können, dass es zum 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten kann. Ich will darüber hinaus auch noch etwas zu den wirtschaftlichen Hilfen in der Pandemie und der Frage sagen, dass wir die Insolvenzantragspflicht auch für den sachlichen Grund ausgesetzt haben, dass es im Zusammenhang mit verzögerten staatlichen Leistungen, nicht nur bei November- und Dezemberhilfen, sondern auch bei Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfe III und anderem mehr, erfolgt. Wir machen diese Hilfen, damit wir Wirtschaftsstrukturen in der Krise nicht zerstören und wir aus dieser Krise gestärkt herausgehen können. Das wird letztlich nur dann passieren können, wenn die Hilfen, die wir ausgeben, die Unternehmen auch erreichen, und zwar bevor sie insolvent sind. Deswegen ist es richtig – dafür bedanke ich mich ausdrücklich –, dass der Rechtsausschuss zu diesem Thema lange und ausgiebig getagt hat, um diese Änderung noch zu ermöglichen und heute hier ins Parlament zu bringen. Ich glaube, das ist im Sinne von uns allen. Das ist richtig und gut für die Unternehmen unseres Landes. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Judith Skudelny, FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute 30 Minuten Zeit, ein Gesetz von etwa 199 Seiten zu beraten. Die parlamentarische Beratung heute und hier ist für dieses Gesetz ein bisschen symbolisch, das zwar tatsächlich nicht vom Himmel gefallen ist, sondern lange angekündigt war, aber im parlamentarischen Verfahren doch ein klein wenig mit heißer Nadel gestrickt worden ist. ({0}) Diese Eile im parlamentarischen Verfahren spiegelt sich leider Gottes auch im Gesetz wider. Wir haben von der SPD und von der Union gehört: Wir sind in besonderen Zeiten. Unsere Wirtschaft ist in der Krise. ({1}) Wir brauchen ein Restrukturierungsverfahren, das diesen Coronapatienten gerecht wird. ({2}) Blöderweise haben alle Experten gesagt: Die Anforderungen, die hier gestellt worden sind, erfüllt das Gesetz nicht. Gerade denjenigen, die in der Coronakrise Hilfe brauchen, wird von Ihnen nicht geholfen. Das ist ein Versäumnis; das muss laut und deutlich und klar gesagt werden. ({3}) Das Gesetz ist in seiner Grundidee ganz gut. Das Gesetz sagt: Wir brauchen eine Restrukturierung für Firmen und für Unternehmen, die ein finanzielles Problem haben, die perspektivisch sehen, sie würden ihre Verbindlichkeiten nicht zahlen können. Da brauchen wir ein außergerichtliches Sanierungsverfahren, das hier implementiert wird. – Dummerweise droht den allermeisten Unternehmen, die wir in Deutschland haben, die Zahlungsunfähigkeit nicht erst in zwei Jahren. Sie sind mehr oder minder jetzt schon zahlungsunfähig, und sie brauchen jetzt eine Hilfe. Genau das wird in diesem Gesetz ausgeschlossen. Hätten wir vielleicht die eine oder andere Woche mehr Zeit gehabt, das zu diskutieren, wäre das Gesetz genau in diesem Punkt besser und richtiger und würde den Menschen und Unternehmen da draußen auch richtig helfen können. ({4}) Allerdings ist das nicht der einzige Grund, warum wir das Gesetz heute ablehnen werden. Es ist wenigstens mal ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir hoffen, dass hier im Laufe der Zeit nach einer Evaluierung noch wichtige Verbesserungen vorgenommen werden. Der Grund, warum wir das Gesetz heute ablehnen werden, ist, dass Sie eine weitere Verunsicherung in die Wirtschaft hineinbringen, nämlich eine erneute Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Erst hieß es: 30. September, dann hieß es: 31. Dezember, jetzt heißt es: 31. Januar. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, Sie wollen den 31. März ins Visier nehmen, weil dann nämlich die beiden wichtigen Landtagswahlen vorbei sind. ({5}) Das ist eine Verschleierungstaktik, die eine unheimliche Unsicherheit in die Wirtschaft bringt. Sie haben vorhin von Vertrauen gesprochen. Ja, wo ist denn das Vertrauen, wenn antragspflichtige Firmen keinen Insolvenzantrag stellen müssen? Die Begründung finde ich ganz besonders schön: Warum wird diese Insolvenzantragspflicht jetzt auf dem Rücken der Wirtschaft ausgetanzt? Weil das Bundeswirtschaftsministerium seine Arbeit nicht machen kann! Sie kriegen das Geld, auf das die Firmen ein Anrecht haben, nicht auf die Straße. Sie kriegen nicht mal die Software programmiert. Meine Damen und Herren, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass das Versagen der Regierung auf dem Rücken der Wirtschaft ausgetanzt wird. ({6}) Deswegen können wir heute dem Gesetz leider nicht zustimmen, obwohl ich die Gesetzesberatung sehr genossen habe. Aber ich hoffe trotzdem, dass wir im Laufe der kommenden Zeit noch Verbesserungen in einem nächsten Gesetz hinbekommen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Skudelny. – Als nächster Redner bekommt das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Jurist weiß ich: Die hier zu behandelnde Materie ist trockener Stoff; aber sie ist ein sehr wichtiger Stoff, weil es nämlich um die Sanierung von Unternehmen geht. Anlass ist die EU-Richtlinie 2019/1023 des EU-Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, mit der eben die Anpassungen des Sanierungs- und Insolvenzrechts vorgenommen werden sollen, das gerade auch in dieser Coronakrise Gutes bewirken soll. Bei der Abstimmung zum Entwurf der Koalition werden wir uns als Linke allerdings enthalten. Wir begrüßen zwar grundsätzlich das Konzept zur Einführung von Restrukturierungsplänen zur vorbeugenden Abwendung einer Insolvenz; denn frühzeitige Sanierungen helfen sicherlich auch, Arbeitsplätze zu erhalten, und dieses Ziel findet unsere volle Unterstützung. ({0}) Allerdings wäre es für uns sehr wichtig, dass Arbeitnehmerforderungen von möglichen Vollstreckungs- und Verwertungssperren ausgenommen sind. Es fehlen uns darüber hinaus auch spezifische Beteiligungsrechte von Betriebsräten und Personalräten. Denn es sind die Beschäftigten, die im Falle einer Insolvenz vom Arbeitsplatzverlust in besonderer Weise betroffen sind. Nicht unbedenklich ist daneben, dass im Verfahren der Schuldner übrigens auch die Möglichkeit hat, das Restrukturierungsziel einseitig zu bestimmen, und dass er einzelne Gläubiger bestimmen kann, die er dem Plan unterwirft. Als höchst problematisch sehen wir auch die Frage der Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten; denn das Insolvenzgericht kann in den Fällen, wo der Schuldner einen solchen bestimmt, nur bei offensichtlicher Nichteignung von der Bestimmung der gewählten Person abweichen. Überhaupt ist für uns die zentrale Frage: Wer trägt hier die Kosten? Der Gesetzentwurf sieht eine Privilegierung derjenigen Gläubiger vor, denen eine Kostenübernahmeerklärung zugegangen ist. Das finden wir rechtlich zumindest fragwürdig, da diejenigen, deren Kosten übernommen werden, anders verhandeln als diejenigen, die ihre Kosten selber tragen müssen. Zum Verfahren hinsichtlich des Gesetzentwurfes – es ist schon angesprochen worden; aber ich will das noch einmal betonen –: Es gab aus unserer Sicht keine ausreichende Distanz zur durchgeführten Expertinnen- und Expertenanhörung, um diese in Ruhe auszuwerten. Es gab diese Sondersitzung mit einem fast 200 Seiten umfassenden Änderungsantrag, der dann noch nicht mal ganz korrekt war, sodass da noch eine Sondersitzung erfolgen musste. Verstehen Sie mich nicht falsch: Fehler können passieren, und wir verweigern uns hier der Arbeit und Mitarbeit ganz sicher nicht. Aber wenn die Bundesregierung die Sommerpause nicht für eine strategische Planung nutzt, dann sind solche Fehler und Schlamassel im Grunde vorprogrammiert, und das sollten wir, wenn wir qualitativ gute Gesetze verabschieden wollen, uns eigentlich nicht häufiger leisten. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Das Wort hat nunmehr die Kollegin Dr.  Manuela Rottmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, dass es heute um ein Gesetz geht, das im Kern mit der Bewältigung der Coronapandemie gar nichts zu tun hat. Auf der einen Seite wird ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren geschaffen – das ist grundsätzlich sinnvoll –, auf der anderen Seite werden die Erfahrungen mit dem ESUG ausgewertet, was das Schutzschirmverfahren und die Eigenverwaltung angeht. Jetzt sind wir aber in der Coronakrise, und die Auswertung der Erfahrungen, die wir eigentlich machen wollten, setzen wir jetzt erst mal wieder aus, weil wir ja in der Krise sind. An dem Beispiel sieht man ganz gut, dass dieser Gesetzentwurf eigentlich nicht in diese Zeit passt. ({0}) Für keines dieser Anliegen wäre ein Inkrafttreten zum 1. Januar erforderlich gewesen. Das will ich hier auch mal sagen: Es hätte uns allen gutgetan, die Justiz mit ein bisschen mehr Zeit auszustatten, damit sie sich diesem völlig neuen Rechtsgebiet öffnen kann. Wir reden hier viel über den Pakt für den Rechtsstaat. Der Gesetzgeber wäre mal dran, Respekt vor der Justiz zu zeigen und anzuerkennen, dass diese auch Zeit braucht, um so etwas umzusetzen. Aber es muss unbedingt der 1. Januar sein. Das verstehe ich nicht. ({1}) Kleinen Unternehmen, die jetzt schon wegen der Auswirkungen der Pandemie zahlungsunfähig sind, nützt diese Reform gar nichts. Das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren erfordert Beratung und Begleitung, und das ist zu teuer für diese Unternehmen. Die Bereitstellung von Checklisten und Formularen bis zum Jahresende hilft doch keinem kleinen Unternehmen. Die brauchen jetzt jemanden, der sie unterstützt bei den Gesprächen mit Gläubigern, mit Vermietern, mit Lieferanten. Das hätten wir finanzieren müssen. Das wäre ein Neustart gewesen. ({2}) Die Koalition hat tatsächlich in den letzten Monaten in dem Punkt den falschen Schwerpunkt gesetzt. Wir beschäftigen uns jetzt hier mit Restrukturierungsinstrumenten für Unternehmen, die auf Monate hin durchfinanziert werden müssen, um diese Option überhaupt ziehen zu können. Ich bin diesen Weg trotzdem lange mitgegangen, auch aus Anerkennung für die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen der Koalition. Sie haben tatsächlich wesentliche Einwände gegen den Regierungsentwurf aufgegriffen – ich verstehe, dass das an der Linkspartei vorbeigegangen ist, weil das Gesetzgebungsverfahren wirklich chaotisch war –, zum Beispiel die Änderung, dass die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter auch dann möglich ist, wenn sich das Verfahren einem insolvenzrechtlichen Verfahren annähert. Ich habe das mitbekommen. Ich war sogar bereit, ein letztes Mal die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für einen klar begrenzten Zeitraum zu verlängern. Aber bei dem, was Sie da am Dienstagabend um 21.30 Uhr vorgelegt haben, da gehe ich nicht mehr mit. Es gibt hier ein Missverständnis. Herr Fechner und Frau Skudelny gehen davon aus, dass wir die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis 31. Januar verlängern wollen. Das tun wir nicht. Wir verlängern die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, bis Peter Altmaier so weit ist, dass die Leute Anträge stellen können, also für einen völlig unbegrenzten Zeitraum. ({3}) Und das geht so nicht, nicht im zehnten Monat der Einschränkungen. Ich sage Ihnen eines: Das Insolvenzrecht ist wichtig, und es ist für vieles gut. Aber es ist definitiv der falsche Ort, um die Insolvenzreife von Peter Altmaier zu kaschieren. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr.  Rottmann. – Nächster Redner ist der Kollege Dr.  Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kein Unternehmen dieses Landes und kein Unternehmen in Europa hat es verdient, ins Insolvenzverfahren zu geraten und insolvenzreif zu werden. Deshalb ist es richtig und gut – und durch die Richtlinie der Europäischen Union angemahnt –, Vorinsolvenzsanierung als solche zu ermöglichen. Sanierungen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gab es auch vor diesem Gesetzentwurf in Deutschland und in Europa schon lange. Allerdings waren die Sanierungen von Unternehmen, die sanierungsfähig sind – und darauf kommt es an –, im Wesentlichen darauf gegründet, dass alle Gläubiger sich an dem Verfahren in gleicher Weise beteiligt haben. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts, sperrig SanInsFoG genannt, und dem darin enthaltenen Unternehmensstabilisierungs- und ‑restrukturierungsgesetz, noch sperriger StaRUG genannt, geht der Gesetzgeber nunmehr den richtigen Weg, dieses Insolvenzrecht fortzuentwickeln und es den Unternehmen schneller, besser und rechtlich geregelter zu ermöglichen, sich wieder aufzurappeln. Ich darf an dieser Stelle zuerst meinen herzlichen Dank an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und insbesondere an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, liebe Frau Ministerin, weitergeben, die nicht nur wie die Berichterstatter – das sind der Kollege Heribert Hirte und ich – und die betroffenen Fachpolitiker bis in die Nachtstunden, sondern weit über die Nachstunden hinaus arbeiten mussten, um rechtzeitig zum Inkrafttreten am 31. Dezember diese umfangreichen Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen. Mit der europäischen Restrukturierungs- und Insolvenzrichtlinie wurde ein flexibler Restrukturierungsrahmen ermöglicht und damit die Möglichkeit außergerichtlicher Sanierungen deutlich gestärkt. Nach dem neuen Gesetz können Unternehmen, wenn sie noch zahlungsfähig sind, im Rahmen des Restrukturierungsverfahrens die Verhandlungen über einen Sanierungsplan mit den Gläubigern nunmehr eigenständig führen. Das ist gut, das ist richtig so, und es ist auch gleichzeitig damit sichergestellt, dass das sogenannte Hopping von einem Land der Europäischen Union in andere Länder damit beseitigt wird. Gerade wegen der Folgen der Coronapandemie ist dieses Verfahren besonders in den Fokus geraten; denn durch die Folgen der Coronapandemie geraten immer mehr Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten, und dieses Gesetz schließt die Lücke zwischen dem Bereich der freien, ganz allein auf Konsens beruhenden Sanierung der Unternehmen und einer Sanierung im Insolvenzverfahren; das ist das böse Wort mit „I“. Außerdem erhält das Gesetz weitere Regelungen, die die Folgen der Covid-19-Pandemie abwenden oder besser abfedern werden. So werden wir die Insolvenzantragspflicht erneut aussetzen, und zwar, wie geschrieben, bis zum 31. Januar 2021. Und sollte – da muss ich Frau Kollegin Rottmann recht geben – der Wirtschaftsminister, was ich nicht erwarte, bis zu diesem Zeitpunkt die Antragstellung nicht ermöglichen, vermutlich auch noch über den Termin hinaus, ({0}) und zwar für all die Unternehmen in diesem Land, die berechtigt sind, November- und Dezemberhilfen zu beantragen. Ebenso haben wir bei der Konzentrierung von Insolvenzgerichten den Forderungen des Bundesrats entsprochen und die entsprechende Regelung wieder gestrichen. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Wir haben die einseitigen Vertragsbeendigungen vom Tisch, es wird keine Sondersachwalter geben, eine weitere Gerichtskonzentration erfolgt nicht, die Beratungsleistungen für die kleinen Unternehmen werden verbessert – das war uns Sozialdemokraten ganz besonders wichtig; denn das Gesetz ist im Wesentlichen nicht auf kleine und mittelständische Unternehmen, sondern auf größere zugeschnitten –, die Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Verfahren – auch das war uns sehr wichtig – wird nunmehr gesichert. Und nicht zu vergessen: Die Insolvenzantragspflicht wird erneut verlängert, und die Unternehmen können gesichert die November- und Dezemberhilfen beantragen. Aus meiner Sicht ist dieser Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ein guter Gesetzentwurf; das Gesetz ist ein Quantensprung im Insolvenzrecht. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr.  Brunner. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr.  Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an das anknüpfen, was der Kollege Brunner gerade gesagt hat. Er hat gesagt, kein Unternehmen habe es verdient, in die Insolvenz zu gehen. Das ist so nicht ganz richtig. Wir wünschen keinem Unternehmen, dass es in die Insolvenz gehen muss. Und mit diesem Gesetz wollen wir dazu beitragen, dass dieser Wunsch, dass es nicht zur Insolvenz kommt, in Erfüllung geht. Mit diesem Gesetz schaffen wir ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren. Wir schaffen die Möglichkeit, gerade nicht in die Insolvenz gehen zu müssen, sondern vorher zur Einigung zu kommen. Aus marktwirtschaftlicher Sicht sind freiwillige Einigungen mit den Gläubigern das Beste, dass man also in einem konsensualen Verfahren weiterkommt. Noch besser ist es, wenn das alles antizipiert wird. Leider – das ist der Bezug zur Krise – passiert das nicht immer. Deshalb brauchen wir gewisse Mehrheitsentscheidungen und einen gewissen Druck. Genau dafür sorgen wir mit dem Verfahren, das wir jetzt zusätzlich einführen werden. Der Kollege Frei hat den gesamten volkswirtschaftlichen Zusammenhang schon erörtert. In der Tat geht das zurück auf eine europäische Richtlinie. An der Rechtssetzung dieser Richtlinie – das muss ich betonen – haben wir als Fraktion, haben wir als Bundestag uns im Vorfeld beteiligt. Hier kommt nichts von oben. Nein, das kommt von ganz unten, und es wird von ganz Europa getragen. Das dient im Übrigen indirekt auch der Stabilisierung des Euro. Wir haben im Vergleich zum Regierungsentwurf ein paar wesentliche Punkte geändert. Einige möchte ich ein wenig erläutern: Das Wichtigste ist, glaube ich – das merkt man an den Rückmeldungen in den letzten Tagen –, dass wir in diesem vorinsolvenzlichen Verfahren die Möglichkeit der Vertragsbeendigung gestrichen haben. Wir haben das getan, weil wir in der Anhörung sehr deutlich gesagt bekommen haben, dass die Gläubiger sonst möglicherweise bei ihrer Kreditpolitik auf die Möglichkeit eines vorinsolvenzlichen Verfahrens Rücksicht nehmen müssten, dass sie weniger Kredit ausreichen, weniger Warenkredit gewähren würden, dass letztlich die Schuldner dieses Sanierungsrisiko an die Gläubiger weitergeben könnten und dass deshalb auch kleine und mittelständische Unternehmen betroffen wären. Das ist der erste und wichtigste Punkt. Das heißt nicht, dass man darüber nicht hätte nachdenken können – diese Möglichkeit besteht auch in anderen Ländern –; aber in der jetzigen Phase wäre das, glauben wir, ein falsches Zeichen, ein falscher Schritt gewesen. Wir haben zweitens die Haftungsregelungen für Geschäftsleiter im Vorfeld der Insolvenz in den §§ 2 und 3 des Regierungsentwurfs herausgenommen. Wir haben sie deshalb herausgenommen, weil wir die Sorge hatten, dass sonst zum 1. Januar 2021 viele Geschäftsführer, vor allen Dingen von kleinen und mittelständischen Unternehmen, ihr Amt hätten niederlegen müssen – aus Sorge, dass sie schon in der drohenden Zahlungsunfähigkeit sind. Gerade in der Anhörung wurde uns gesagt: Das betrifft große Teile der Wirtschaft, je nach Bewertung. – Und das ist eines der Probleme. Diese Bewertung ist nicht ganz klar; sie wird im Nachhinein bestätigt. Und wenn Sie ein Unternehmen mit solchen Unsicherheiten belasten, dann ist das ein Risiko. Dieses Risiko haben wir aus dem Gesetzentwurf rausgenommen. Wir hätten uns gewünscht, dass wir die Liquiditätsplanung, die Planung in die Zukunft, die jetzt in § 1 geregelt ist, noch ein bisschen präziser hätten fassen können, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen. Das haben wir in der Tat in der Kürze der Zeit nicht geschafft. Wir werden aber da im Dialog bleiben. – Vielen Dank. ({0}) Und wir haben einen wichtigen Punkt gesetzt. Wir haben nämlich die Vergütung sowohl der Restrukturierungsbeauftragten als auch der Insolvenzverwalter klar offengelegt. Jeder weiß jetzt, was das kostet und was die Verfahren im Vergleich kosten. Das ist viel, gerade auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Sicher – das kann ich mir vorstellen – könnte man noch mehr machen. Aber wir müssen jetzt erst mal einen Schritt weiter kommen, und das tun wir. Frau Kollegin Rottmann, Sie haben recht: Das Verfahren ist am Ende unglücklich gelaufen. Aber ich bin in einem Punkt stolz darauf, dass es so gelaufen ist, wie es gelaufen ist: Wir als Bundestag – und das haben wir im Rechtsausschuss durchgesetzt – führen die Debatte über die Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Wir sind das entscheidende Organ. Stellen Sie sich vor – das war ja anfangs in der Diskussion –, die Ministerin, die hier sitzt, hätte das alleine gemacht. ({1}) Dann hätten wir die Ministerin vielleicht noch kritisieren können, aber wir hätten es nicht mal richtig erfahren. Jetzt diskutieren wir offen darüber. Ich finde es richtig, dass Minister Altmaier sich um Hilfen für kleine und mittelständische Unternehmen bemüht, und ich finde es schade, dass die Grünen dies ablehnen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Das ist ein gutes Gesetz. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Dr.  Hirte. Bevor ich dem letzten Redner das Wort erteile, will ich auf etwas hinweisen: Ich habe mehrfach gesehen, dass Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fraktionen aus dem Plenarsaal heraus mit ihrem Handy telefonieren. Dies ist unzulässig. Ich weise darauf hin, dass dies mit einem Ordnungsruf belegt werden kann und auch wird. Nehmen Sie das wirklich ernst. Letzter Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Praxis im Insolvenzbereich, aber auch für viele Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land gehen wir heute mit diesem Gesetz, wenn wir es in zweiter und dritter Lesung beschließen, einen gewaltigen Schritt nach vorn. Ja, es ist richtig – das ist angeklungen –: Der Gesetzentwurf ist schon weit vor Corona und unabhängig von Corona auf die Gleise gesetzt worden. Aber er beinhaltet eben auch effektive und wirksame Instrumente, die Unternehmen in den nächsten Monaten brauchen werden, um gegen die Folgen der Coronapandemie anzukämpfen. ({0}) Deshalb war es uns so wichtig, dass das Gesetz am 1. Januar 2021 in Kraft tritt. Herzstück des Gesetzentwurfes – auch das ist schon skizziert worden – sind die sogenannten präventiven Restrukturierungsmaßnahmen. Ich will an dem Punkt etwas länger verweilen, um zu zeigen, wie wichtig das für die Praxis ist. Bislang hatten Sie nur die Wahlmöglichkeit zwischen zwei Instrumenten: entweder eine außergerichtliche Sanierung, durch die das Insolvenzverfahren entfiel – doch die musste einstimmig beschlossen werden –, oder die Einleitung eines Insolvenzverfahrens; dann galt das Mehrheitsprinzip. Aber das Insolvenzverfahren musste dafür eingeleitet werden. Jetzt gibt es eine weitere Variante vor dem Insolvenzverfahren. Wir alle wissen natürlich, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens für jedes Unternehmen ein Malus ist, auch auf dem Markt. Zudem wird nun die Möglichkeit eröffnet, dass die Sanierungsmaßnahme unter Umständen vom aktuellen Geschäftsführer vorgenommen werden kann. Dies sind Instrumente, von denen wir glauben, dass wir sie den Unternehmerinnen und Unternehmern unbedingt zum 1. Januar 2021 zur Verfügung stellen müssen. Sie bieten ein hohes Maß an Flexibilität und eine sachgerechte Handhabung im Einzelfall. Zudem ist ausgeschlossen, dass die negative Signalwirkung, die von einem Insolvenzverfahren ausgeht, das Image eines Unternehmens belastet. Es ist angeklungen, dass das Verfahren nicht ohne Probleme war. Es ist richtig: Wir haben im Vorfeld viele Diskussionen darüber geführt. Ich bin Ihnen, Frau Kollegin Rottmann, dankbar – das will ich ganz ehrlich sagen –, weil Sie dem Vorhaben zu jedem Zeitpunkt mit sehr viel Verständnis begegnet sind. Ich kann Sie auch verstehen, wenn Sie sagen, dass Sie spätestens diese zweite Sondersitzung abends um 21.30 Uhr nicht mehr hinnehmen können. Ich will aber auch deutlich machen, dass wir die ganze Zeit – und das zeigt auch der Verlauf des Verfahrens – immer von dem Wunsch beseelt waren, dass diese Instrumentarien am 1. Januar 2021 zur Verfügung stehen. Insoweit kann man das Verfahren auch mit einer anderen Überschrift versehen, nämlich dass der Rechtsausschuss und das Parlament handlungswillig sind, dass sie auch in der Krise handlungsfähig sind und Lösungen schaffen. ({1}) Deshalb bitte ich um Zustimmung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit den vorliegenden Anträgen fordern die Grünen und die Linken bestimmte Maßnahmen eines neuen europäischen Asylsystems. Die Linken fordern unter anderem: Abschaffung der Grenzschutzagentur Frontex; ({0}) keine Übertragung von Prüf- und Entscheidungsaufgaben auf europäische Asylagenturen; keine Prüfungen in beschleunigten Verfahren; keine freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bei Antragstellern, die sich im Rahmen einer Vorprüfung an der EU-Außengrenze aufhalten. Demgegenüber sollen die Wünsche und Interessen der Antragsteller den Ausschlag dafür geben, welches Mitgliedsland zuständig ist. Die Linken sprechen von „free choice“, also freier Auswahl seitens der Antragsteller. Der Antrag der Grünen ist hier schon etwas pragmatischer. Die Grünen erkennen an, dass Registrierungszentren an der EU-Außengrenze sinnvoll sind. Sie sind der Meinung, es müsse eine erkennungsdienstliche Behandlung durchgeführt werden, ebenso eine Sicherheitsüberprüfung und ein Gesundheitscheck. Allerdings sollen diese Registrierungszentren offen sein, das heißt, keine freiheitsbeschränkenden Maßnahmen erlaubt sein. Die wichtigste Tatsache jedoch, die auch einen wesentlichen Beitrag zur Krise des Jahres 2015 geleistet hat, wird in beiden Anträgen vollständig ausgeblendet. ({1}) Beide Anträge sprechen von den Schutzsuchenden, den Flüchtlingen, den Geflüchteten. Fakt ist aber, dass unser europäisches Asylsystem zurzeit von sehr vielen Menschen missbraucht wird. ({2}) Von den in den letzten Jahren EU-weit durchschnittlich 600 000 Antragstellern pro Jahr sind rund 400 000 nicht schutzberechtigt. ({3}) Das sind Daten und Fakten von Eurostat; das ist alles belegt. Wir reden von mehr als 1 Million Menschen in den letzten drei Jahren. Das kann nicht sein, und das darf nicht sein. Bitte nehmen Sie eines zur Kenntnis: Im Ergebnis nehmen wir die Kapazitäten genau den Menschen weg, die sie nötig haben, nämlich den tatsächlich Verfolgten, die unseren Schutzanspruch verdient haben. ({4}) Meine Damen und Herren, warum sollten sich denn die Menschen, die genau wissen, dass sie keinen Anspruch haben, plötzlich an Rechtsvorschriften halten? Registrierungszentren ohne freiheitsbeschränkende Maßnahmen werden nicht funktionieren. Die Menschen werden weiterwandern, und sie werden sich ihr Ziel aussuchen: einen Mitgliedstaat, der ihnen gefällt. ({5}) Diejenigen, die ohne einen Schutzanspruch zu uns kommen, müssen ganz früh wissen, und zwar durch eine konsequente Rechtsanwendung von Anfang an, dass ihr Vorhaben aussichtslos ist. Zurzeit ist das anders. Bei der aktuellen Verfahrens- und Abschiebepraxis besteht trotz des fehlenden Asylanspruchs eine ganz große Bleibeperspektive. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem ist zurzeit eher ein System allgemeiner Migration, verbunden mit etwas Asyl, und das kann nicht unsere Zustimmung finden. Dieses System hat eine ganz andere Zielsetzung. Wichtig sind: Stärkung des Grenz- und Küstenschutzes Frontex; beschleunigte Grenzverfahren mit Freiheitsbeschränkung; klare und dauerhafte Zuständigkeit eines Mitgliedstaates; Ausbau von Partnerschaften mit Herkunftsstaaten und Drittstaaten, die eine konsequente Abschiebung ermöglichen. Die jüngsten Verhandlungen des Innenrates haben gezeigt, dass wir hier noch ganz, ganz dicke Bretter bohren müssen; aber es lohnt sich. Ich bin der Bundesregierung im Allgemeinen, aber auch Stephan Mayer, dem Parlamentarischen Staatssekretär, im Besonderen für die guten Ansätze dankbar, die auch in das Konzeptpapier eingeflossen sind. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber wir gehen ihn gemeinsam. Es lohnt sich für das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Seif. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Ich schließe mich meinem Vorredner an. Die Grünen fordern einen Neuanfang in der Flüchtlingspolitik. Da haben sie absolut recht. Genauer gesagt braucht es überhaupt mal eine Flüchtlingspolitik; denn seit spätestens 2015 kennt der schlingernde Kurs der Bundesregierung und der EU nur eine Konstante, nämlich: Wer die magischen vier Buchstaben „Asyl“ sagt, der ist sakrosankt und wird – nur in Deutschland – vollversorgt. Diese Kritik findet man naturgemäß nicht im Antrag der Grünen, für die ein Leben auf Staatskosten ja sowieso zum Markenkern gehört. Nein, vielmehr findet man in Ihrem Antrag ausreichend Schizophrenie. Da beklagen Sie, dass die europäischen Staaten unterschiedliche Vorstellungen von Asylpolitik haben und diese auch noch umsetzen. Sie listen auf, wie und wo die Europäische Union Ihrer Meinung nach desaströs versagt hat. Und wer soll uns nach Meinung der Grünen jetzt aus dieser Misere retten? – Richtig: die Europäische Union, die in Ihrer Traumwelt dann auf einmal doch effizient, gerecht und vor allem einer Meinung ist. Vielleicht träumen Sie auch versteckt von der starken, eisernen Hand Deutschlands, dem einzigen Land überhaupt, dessen Regierung noch für die offenen Türen Europas plädiert, um die bösen Rechtspopulisten von Kurz bis Orban auf Linie zu bringen. ({0}) Anders lässt sich Ihr wirrer Antrag nicht interpretieren. Der Schutz von Flüchtlingen sei nicht verhandelbar, schreiben die Grünen in ihrem Antrag. Wissen Sie was, da stimmen wir Ihnen zu. Aber – und damit kommen wir auch zu dem Antrag der Linken – was auch nicht verhandelbar ist, ist die resolut geschlossene Tür für jede Form illegaler Einwanderung. ({1}) In Ihrem Antrag beklagen Sie die Notwendigkeit von NGO-Schiffen zur sogenannten Seenotrettung – eine komplett selbstgeschaffene Notwendigkeit; denn nicht ein einziger Migrant würde sich für 1 000 Dollar freiwillig auf überfüllte Nussschalen setzen und an der libyschen Küste ins Meer gehen, ({2}) wenn am Ende nicht das Versprechen des NGO-Fährdienstes nach Europa stünde. NGOs retten nicht; sie schleppen, sie erpressen, sie verdienen am Leid der Menschen, und sie töten. ({3}) Jeder einzelne im Mittelmeer und im Atlantik ertrunkene oder in der Sahara verdurstete Migrant geht auf das Konto dieser Schleuserbanden und auf das Konto der Antragsteller. Sie beklagen das Fehlen legaler Wege für Flüchtlinge. Schauen wir doch mal: Wer aus einem EU-Nachbarland flieht, der hat an einem anderen EU-Grenzübergang nichts zu suchen; er befindet sich schon in einem sicheren Land. Wenn er von diesem sicheren Land weiter nach Deutschland reisen will, ist er nicht Flüchtling, sondern Einwanderer. ({4}) Dafür haben wir Regeln. Was bleibt da an legalen Wegen? Ja, wohl leider nur die allein 227 deutschen Auslandsvertretungen, die Auslandsvertretungen aller anderen EU-Länder, die der EU, die Einrichtungen der UN usw. Meine Damen und Herren, der Lockdown vernichtet Arbeitsplätze und Unternehmen. Spätestens jetzt sollten wir die Steuergelder für die verwenden, die sie erwirtschaftet haben und jetzt in Not geraten. Friedrich Merz hat kürzlich gesagt: Wenn wir die Zuwanderung 2015/2016 nicht gehabt hätten, hätten wir rund 1 Million Hartz-IV-Bezieher weniger. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({5}) – Und er hat recht. Das sind zehn Großstädte Hartz-IV-Bezieher. Jeder Cent der Ausgaben für illegale Migranten ist eine Veruntreuung von Steuergeldern. ({6}) Seien Sie doch wenigstens ehrlich, liebe Linke: Sie wollten früher niemanden rauslassen und wollen heute jeden reinholen. Sie und Ihre grünen Freunde finden in diesem Land nicht genug Wähler für Ihre historisch tausendfach gescheiterte Politik, aber hoffen, die nötigen Stimmen importieren zu können. Auch mit diesem Vorhaben werden Sie scheitern. Das versprechen wir Ihnen. Frohe Weihnachten und Glück auf! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und das ist vielleicht auch eine Gelegenheit, mal eine Zwischenbilanz zu ziehen. In Deutschland werden Ende dieses Jahres absehbar unter 100 000 Antragstellungen – Erst- und Folgeanträge im Bereich Asyl – stattgefunden haben. Sie erinnern sich: Wir haben uns einen Korridor von 180 000 bis 220 000 vorgenommen. Wir engagieren uns als zweitgrößtes Aufnahmeland weltweit. Wir engagieren uns als zweitgrößtes Geberland weltweit. Wir haben die Hälfte der Geflüchteten, die zu uns gekommen sind, in Ausbildung oder in Arbeit. Und ja, von der europäischen Flüchtlingspolitik haben wir uns mehr erhofft – ({0}) vielleicht nicht wirklich mehr erwartet, aber mehr erhofft. Umso wichtiger ist es, dass wir hier nicht nur auf Rechtsakte setzen, sondern darauf, dass wir tatsächlich handeln. Wir haben es immerhin geschafft, eine Koalition der Menschlichkeit zusammenzubekommen, die Griechenland bei der Umsiedlung von Geflüchteten hilft; neun Staaten in Europa engagieren sich aktiv in dieser Koalition; denn globale Probleme kann Deutschland nicht alleine lösen. Das ist für uns eine gute Zwischenbilanz, die wir am Ende dieses Jahres vorlegen können. ({1}) Morgen kommt der Generalsekretär der Vereinten Nationen zu einem hier stattfindenden Festakt – er war zuvor der Hohe Flüchtlingskommissar –, Guterres, und er wird dafür eintreten, dass wir mehr tun müssen. Wir können nicht damit zufrieden sein, dass bei uns die Dinge nun besser geordnet und gesteuert sind, vielmehr haben wir es weltweit mit wachsenden Problemen zu tun, mit Menschenrechtsverletzungen auch an unseren Außengrenzen. Der UNHCR wirbt dafür, dass wir in zehn Jahren weltweit 1 Million Resettlement-Plätze bereitstellen. Wir sind schon der Auffassung, dass Deutschland hier angesichts der globalen Probleme einen noch größeren Beitrag leisten muss. Reguläre Wege, legale Wege, sichere Wege sind allemal besser, als wenn sich Menschen auf unsicheren Pfaden auf den Weg machen müssen und ihr Leben riskieren, und dafür sollten wir uns auch alle einsetzen. ({2}) Ich werde morgen auch schauen, wie das mit dem Applaus ist, den Herr Guterres bekommt; denn auch hier gilt: Klatschen allein reicht nicht. Wir sind weiter aufgerufen, beherzt zu handeln. Es ist viel die Rede davon, dass man dieses Jahr Weihnachten vielleicht nicht so feiern kann, wie man sich das vorgestellt hat. Aber man kann sich erinnern, was Weihnachten ist. Und wer sich in den nächsten Tagen an die Idee von Weihnachten erinnern lässt, der wird sich auch im nächsten Jahr wieder für eine menschenrechtsbasierte und solidarische Flüchtlingspolitik einsetzen. Dazu rufe ich uns alle auf. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Castellucci. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in den letzten Tagen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, und dass wir heute erneut über europäische Flüchtlingspolitik debattieren, zeigt, dass wir hier auch weiterhin von klugen und nachhaltigen Lösungen europäischer Flüchtlingspolitik entfernt sind. Der gordische Knoten, er ist bei Weitem nicht durchschlagend. Trotz der vollmundigen Ankündigungen des Bundesinnenministers und des vermeintlichen Fortschrittsberichts, der eigentlich eine Nullfortschrittsbilanz in der Migrationspolitik zeigt. Da muss man sagen: Erwartungsmanagement geht anders, liebe Bundesregierung. Aber Ausgangspunkt dafür, dass wir heute über dieses Thema debattieren, sind Anträge von Grünen und Linken. Diese lehnen wir aus sachlichen Gründen ab. Es wurde hier mehrfach gesagt: Der Antrag der Linken geht ganz besonders an den Erfordernissen vorbei; der der Grünen ist da schon differenzierter, aber auch nicht ausreichend. Wir Freie Demokraten sind uns mit Ihnen einig darüber, dass wir eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems brauchen, aber nicht darüber, wie diese aussieht. Wir wollen eine Migrationspolitik, die Humanität und Ordnung verbindet. ({0}) Die beiden Worte gehören allerdings nicht nur in Sonntagsreden; sie müssen im Konkreten ausbuchstabiert werden. Das bedeutet, dass wir denjenigen gegenüber, die unseren Schutz wirklich brauchen, unsere humanitären Pflichten erfüllen, dass wir uns allerdings darüber hinaus selbst aussuchen, wen wir einladen, in unser Land einzuwandern, wenn kein Asylanspruch besteht. ({1}) Der zentrale Schlüssel dafür sind einige Punkte, die in diesen Anträgen zu kurz kommen oder sogar abgelehnt werden, nämlich Grenzverfahren und Aufnahmezentren, auch wenn sie gegenüber dem jetzigen Zustand verbesserungswürdig sind. Richtig ist auch, dass Seenotrettung und Migrationspolitik nicht in die Hände privater NGOs gehören, sondern darüber von demokratisch legitimierten Regierungen zu entscheiden ist. Aber dabei ist eben auch zu beachten, dass wir nicht Schleuserkriminalität fördern dürfen, sondern eine rechtsstaatliche Seenotrettung organisieren, die vom Thema Asylverfahren zu trennen ist. ({2}) Die Free-Choice-Verfahren, die die Linken hier fordern, sind das Gegenteil von dem, was wir auf europäischer Ebene erreichen wollen. Sie sind nämlich das Gegenteil von Lastenteilung. Sie würden sogar bedeuten, dass Länder, die in besonderen Situationen einmal großzügig aufnehmen, dadurch automatisch zum Hauptzielland von Migration werden. Das läuft einer sinnvollen Lastenteilung zuwider. ({3}) Wer glaubt, seinen europäischen Nachbarn seine eigene Migrationspolitik, seine Vorstellung ungesteuerter Migration aufzwingen zu können, der gefährdet das Projekt Europa. ({4}) Für diese Naivität gibt es nämlich auch in Paris, Wien, Stockholm und Amsterdam kein Verständnis. ({5}) Wir müssen den Kompromiss mit den Partnern suchen, die eine gemeinsame europäische Migrationspolitik wollen. Und wir dürfen diejenigen, die sich dem verweigern, nicht durch eigene Alleingänge aus der Verantwortung entlassen. Deshalb ist das, was wir brauchen, eher praktische Vorschläge, wie wir Sekundärmigration endlich in den Griff bekommen. Denn wenn wir das Problem nicht lösen, dann wären auch alle sinnvollen Einigungen auf Verteilquoten –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und auf eine sinnvolle Nachfolgeregelung für Dublin Makulatur, wenn wir nicht sicherstellen, dass Schutzsuchende auch in dem Land bleiben, das nach gemeinsamen europäischen Regeln für ihr Asylverfahren zuständig ist. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine Angst, das ist nicht mein Redemanuskript; ich komme später darauf zu sprechen. Noch im November zeigte sich Innenminister Seehofer zuversichtlich, bis Ende des Jahres eine Verständigung über Grundsätze der europäischen Migrationspolitik zu erreichen. Dieses Vorhaben ist krachend gescheitert. Der Versuch, das hier jetzt auch noch schönzureden, ist einfach unerträglich, meine Damen und Herren. ({0}) Seit Jahren sitzen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not geflohen sind, in Lagern der EU und insbesondere auf den griechischen Inseln im Elend fest. ({1}) Wissen Sie, wodurch die häufigsten Verletzungen von Kindern auf Lesbos zustande kommen? Durch Rattenbisse. ({2}) Mitten in Europa werden Kinder nachts von Ratten angefressen. Das ist wirklich eine unbeschreibliche Schande. ({3}) Diese Lager der Inhumanität will die EU nicht etwa auflösen; nein, das Hotspot-Konzept soll ausgeweitet werden. Das bedeutet noch mehr Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, massenhafte Inhaftierungen, unfaire Verfahren und Zurückweisungen ohne inhaltliche Asylprüfungen. ({4}) Über hundert Organisationen aus Deutschland appellieren mit einer Unterschriftensammlung an das Europäische Parlament: Sagen Sie Nein zu einem Europa der Haftlager für Flüchtlinge! – Dem können wir uns nur anschließen. ({5}) Meine Damen und Herren, viele schutzsuchende Menschen können gar nicht erst einen Asylantrag in Europa stellen, weil an den Außengrenzen tagtäglich rechtswidrige Pushbacks, also Zurückweisungen, stattfinden. ({6}) Auch deutsche Frontex-Polizisten sind daran beteiligt. Geflüchtete werden brutal zurückgeprügelt, auf offene See, wo sie in Lebensgefahr sind, zurückgeschleppt oder den Sklavenhändlern von der sogenannten libyschen Küstenwache in die Hände getrieben. Meine Damen und Herren, Die Linke fordert dagegen mit ihrem Antrag faire Asylverfahren für alle Schutzsuchenden und eine solidarische Umverteilung in der EU. Wir wollen sicherstellen, dass Fliehende nicht daran gehindert werden, ihr Asylrecht in Europa wahrzunehmen. Deswegen fordern wir auch eine wirksame Überwachung der Frontex-Maßnahmen an den Außengrenzen durch unabhängige Akteure. ({7}) Zum Schluss möchte ich noch einmal festhalten: Keinem Dokument der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesregierung ist bislang zu entnehmen, dass Menschenrechtsverletzungen überhaupt gesehen werden. Gestern hat Staatssekretär Mayer im Innenausschuss immerhin zugesichert, dass es Aufklärung geben soll.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich ihm heute die Dokumentation von NGOs und von Europaabgeordneten, die in zwei Bänden zusammengefasst sind und akribisch recherchiert wurden, mitgebracht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte ihm diese gerne überreichen. Ich denke, er wird sich freuen; denn die Aufklärung muss endlich dazu führen, dass das Schweigen gebrochen wird und eine andere Politik stattfindet. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Nur fürs Protokoll: Das ist eine Dokumentation, die lautet: „The Black Book of Pushbacks“. Das Hochhalten alleine genügt nicht, damit der Titel ins Protokoll kommt. Deshalb habe ich ihn genannt, damit er im Protokoll vermerkt ist. ({0}) Nächste Rednerin ist die schleswig-holsteinische Abgeordnete Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die griechischen Inseln sind mittlerweile zum Symbol einer gescheiterten europäischen Asylpolitik geworden. Es ist die Situation auf den griechischen Inseln, die uns verpflichtet, auch hier in diesem Haus darüber zu diskutieren, welchen Beitrag die Bundesrepublik leisten muss, um die fortdauernden Menschenrechtsverletzungen an unseren Grenzen endlich zu beenden. ({0}) Es ist jetzt genau ein Jahr her, als ich Bundeskanzlerin Merkel hier im Parlament gefragt habe, ob sie sich für die Aufnahme von 5 000 unbegleiteten Minderjährigen aus Griechenland offen zeigt. Die Antwort war, wenig überraschend, ausweichend: kein Ja, kein Nein. In der Antwort der Kanzlerin zeigt sich das Dilemma, das diese Bundesregierung seither mit sich trägt: kein Ja, kein Nein. Humanität in Trippelschritten, das ständige Verstecken hinter der Untätigkeit anderer EU-Mitgliedstaaten aus Sorge davor, Fakten zu schaffen, die in eine dauerhafte Übernahme von Verantwortung seitens der Bundesrepublik münden könnten. Immer wieder haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und auch vereinzelt von der SPD, uns hier erzählt, dass es nicht ginge, dass Deutschland seinen Weg allein findet, sondern dass es auf die anderen EU-Staaten warten muss. „Kein Alleingang“, hieß es immer; es würde auf europäischer Ebene ja verhandelt werden. Aber dass Sie sich hinter dieser Argumentation jetzt nicht mehr verstecken können, ist, glaube ich, mit dem Ende der deutschen Ratspräsidentschaft völlig klar geworden. ({1}) Denn wie sieht die Situation ein Jahr danach aus? Eine Einigung ist in weite Ferne gerückt, und auch der Innenminister kann uns nicht sagen, wie diese Uneinigkeiten aufgelöst werden können. Und mit Blick auf die griechischen Inseln: Wir haben vor einem Jahr schon Superlative verwenden müssen, um die menschenunwürdigen Zustände beispielsweise in Moria zu beschreiben. Heute, so kann ich nur sagen, gehen einem buchstäblich die Worte aus, wenn man überhaupt nur noch versucht, sie zu beschreiben. Es macht mich sprach- und fassungslos, was viele hier im Hause mittlerweile bereit sind zu ertragen; ich sage das ganz, ganz deutlich. Genau drei Monate ist es her, dass das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos abgebrannt ist. Durch das Feuer sind über 12 000 Menschen obdachlos geworden, darunter nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks 4 000 Kinder mit ihren Familien. Im neu geschaffenen Ersatzlager fehlt es an allem: Wasser, Essen, warme Kleidung für den Winter, Duschen, Toiletten, Öfen. Wir sehen Bilder von überfluteten Zelten und Kindern in durchnässter Kleidung, die im wahrsten Sinne des Wortes im Schlamm versinken. Auf Samos behandeln Ärzte ohne Grenzen derzeit Babys mit Rattenbissen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man darf bei solchen Bildern nicht wegsehen. Dass es diese Umstände gibt, ist der Beweis dafür, dass der bisherige politische Weg falsch war. ({2}) Ja, die Bundesregierung hat Hilfsgüter entsandt, und ja, die Bundesregierung hat Menschen eine Aufnahme in Deutschland ermöglicht. Aber Sie müssen doch selbst sehen, dass diese Unterstützung in keiner Relation zur vorherrschenden Not steht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis, dass wir Bündnisgrünen eine höhere Aufnahmebereitschaft von Deutschland fordern. ({4}) Den Menschen, vor allem Kindern, auf den griechischen Inseln muss jetzt geholfen werden. ({5}) Und unsere Bundesländer stehen dafür bereit. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass unsere aufnahmebereiten Kommunen deutlich mehr freie Kapazitäten haben, als die Bundesregierung in den jeweiligen Kontingenten beschlossen hat. Es ist auch kein Geheimnis, dass wir die Vorschläge der Kommission, so wie sie vorliegen, unterirdisch finden, da sie an dem bestehenden Problem leider überhaupt nichts ändern würden; im Gegenteil. Sie wissen, dass die gleichen Fehler des jetzigen Systems in diesem Vorschlag fortgeschrieben werden. ({6}) Um nur drei davon zu nennen – in aller Tiefe wird man darauf hier nicht eingehen können –: Erstens: die menschenrechtlich äußerst fragwürdige Behandlung von Schutzsuchenden durch eine mögliche Inhaftierung. Zweitens: kein Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren. Und drittens: eine höchst unsolidarische Überbelastung der Ersteinreisestaaten durch Verfahren und Rückführungen direkt an und von der Grenze. Um das auch noch mal deutlich zu machen – die Kollegin Teuteberg hat hier gesagt: es gilt, Sekundärmigration zu hindern –: Wenn man Schutzsuchende direkt von den Inseln aufnehmen und sie auf andere EU-Mitgliedstaaten verteilen würde, dann würde es diese Sekundärmigration überhaupt nicht geben. Ich weiß gar nicht, worüber wir hier reden. ({7}) Es ist wirklich kein Wunder, dass die südlichen Länder damit nicht einverstanden sind und zu Recht eine gerechte Verantwortungsteilung fordern; denn echte Solidarität sieht anders aus. Echte Solidarität wäre eine Verteilung aller Schutzsuchenden nach der Ankunft auf die Mitgliedstaaten. So wären alle Mitgliedstaaten gleichermaßen in der Verantwortung für die Asylverfahren, aber auch für die Rückführungen. Wenn wir ehrlich sind, haben wir uns in all den Jahren – das ist eigentlich das, was man der Bundesregierung vorwerfen muss – nicht einen Schritt nach vorne bewegt. Die Blockadelager sind die gleichen, die Gründe sind die gleichen. Die Verhandlungen auf europäischer Ebene stecken in einer Sackgasse. Deshalb frage ich Sie: Worauf warten Sie noch? ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt: Wir können das besser, wir müssen das besser können. Wir sind es den Menschen auf den griechischen Inseln, aber auch den Ankommenden auf den Kanaren und den frierenden Menschen entlang der Balkanroute schuldig. ({9}) Bitte lassen Sie uns die Grund- und Menschenrechte wieder in das Zentrum unseres politischen Handelns stellen. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Amtsberg, wenn ich Sie nach Ihrem Rundumschlag darauf hinweisen darf: Wir in Deutschland haben 40 Prozent aller Flüchtlinge seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 aufgenommen. Und auch nach dem Brand in Moria haben wir eben nicht weggeguckt, sondern über 1 500 Flüchtlinge hier in Deutschland aufgenommen. ({0}) Wir müssen doch genau hinschauen. Das europäische Asylsystem ist in den letzten Jahren enormen Herausforderungen ausgesetzt gewesen. Es bleibt eine hochkomplexe Thematik; auch das müssen Sie berücksichtigen. Es bleibt aus meiner Sicht die große Bewährungsprobe für die Europäische Union. Wir können gerne hochambitionierte Ziele haben für einen digitalen Binnenmarkt, die Bankenunion oder den Klimaschutz; aber am Ende ist die Frage, ob wir unsere Außengrenzen schützen können, die zentrale Frage, an der sich die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union entscheiden wird. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gern weitermachen, danke schön. – Es ist eben nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Flüchtlingsbewegung auf uns zukommen wird. Dazu reicht natürlich schon ein Blick auf den Nahen Osten oder die Situation in Afghanistan. Genau deshalb wollen wir eine realistische, eine pragmatische und eine für alle in Europa – für die Osteuropäer, für die Südeuropäer und auch für uns in der Mitte – faire Reform des Asylsystems. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der Linken, dass es einen Reformbedarf des europäischen Asylsystems gibt, bestreitet keiner. Aber leider sind die heute hier vorliegenden Anträge kein Teil einer möglichen Lösung. Während andere in Brüssel die Arbeit machen, stellen Sie hier wohlfeile Forderung auf, ({0}) die mit der Realität aus meiner Sicht nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. ({1}) Genau deshalb verhandelt Minister Seehofer intensiv mit seinen Amtskollegen im Rat über Reformen. ({2}) Die vermeintlichen Lösungen, die Sie vorschlagen, sind leider unbrauchbar. Sie fordern, komplett auf Vorprüfungen an den Außengrenzen zu verzichten. Das zeigt, dass Sie nichts aus den Fehlern – das ist das, was mich dabei am meisten verwundert – des bisherigen europäischen Asylsystems dazugelernt haben. Wer das Leid von Flüchtlingen vermindern will, der darf die Bedeutung von Pull-Effekten – ich weiß, dass das keine schöne Vorstellung ist, aber es ist eine Tatsache – eben nicht völlig unterschätzen. Wir haben unsere Gründe dafür, warum wir die Vorprüfung an den Außengrenzen einfordern. Ein solcher Mechanismus ist am Ende des Tages fairer für alle. Vielleicht denken Sie einfach mal darüber nach; liebe Luise Amtsberg, vielleicht auch du. ({3}) Einmal ist es fairer für all diejenigen, die Schutz suchen. Sie haben eine höhere Bleibechance, ohne dass falsche Hoffnungen geweckt werden. Und dann ist es auch fairer für uns selbst, die wir Flüchtlinge aufnehmen wollen. Denn nur, wenn wir zeigen, dass wir in der Lage sind, Schutzberechtigte von Nichtschutzberechtigten klar zu trennen, werden unsere eigene Bevölkerung – auch das ist wichtig – und auch die anderen Mitgliedstaaten wieder mehr Akzeptanz aufbringen. Aber es muss klar geordnet werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der Linken, Ihre Anträge tun darüber hinaus auch so, als bestünde die Europäische Union aus Deutschland und einem Rest, der dann einfach so folgen wird. ({5}) So einfach ist das aber nicht. Sie sehen ja, wie sich der zuständige Minister und die Kanzlerin tagtäglich für Kompromisse einsetzen und für europäische Einigkeit bei diesem Thema kämpfen. ({6}) Ich verstehe nicht, warum Sie die Gefahr einer Überforderung der europäischen Gesellschaften durch unkontrollierten Nachzug von Angehörigen beispielsweise überhaupt nicht ernst nehmen. ({7}) Unser Ziel muss es daher sein, mit den anderen Mitgliedstaaten zusammen eine Lösung zu finden. Wir jedenfalls sind nicht bereit, den Zusammenhalt in Europa zu gefährden. Ihre Anträge sind im Kern sogar uneuropäisch und blind gegenüber den Herausforderungen der Integration für unser eigenes Land. Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Leikert. – Die Fraktion Die Linke hat für die Kollegin Hänsel, wenn ich es richtig zugeordnet habe, um eine Kurzintervention gebeten, die ich zulasse. – Frau Kollegin Hänsel, Sie haben das Wort. Wenn der Kollege Thomae zu mir kommen könnte, bin ich ganz glücklich.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Ich hatte mich gemeldet, weil Frau Dr. Leikert sagte, 1 500 Menschen seien nach dem Brand in Moria, der uns ja alle hier schockiert hat, mittlerweile aufgenommen. Man muss dazu aber sagen: Die Bundesregierung hatte letztendlich zugesagt – auch erst nach Druck aus der Öffentlichkeit und dem Parlament –, 1 700 Menschen aufzunehmen. ({0}) Von diesen zugesagten 1 700 Geflüchteten sind bisher nicht einmal die Hälfe in Deutschland angekommen. Es ist angesichts der Situation in diesen Lagern, die gerade beschrieben wurden und die nicht winterfest sind, ein großer Skandal. Dass es die Bundesregierung in drei Monaten nicht geschafft hat, wenigstens die zugesagte Zahl von Menschen hierherzuholen – das auch noch mit Hinweis auf die Pandemie –, während sie es gestern ermöglicht hat, mitten in einer Pandemie drei Sammelabschiebungen in Kriegsgebiete zu organisieren, ist wirklich skandalös; das muss ich sagen, Frau Leikert. ({1}) Das hat auch nichts mit humaner Flüchtlingspolitik zu tun. Die Zahlen sind nicht erreicht. Wir setzen uns mit vielen in der Zivilgesellschaft dafür ein, dass deutlich mehr Menschen hierherkommen können, gerade angesichts des Winters; denn es gibt aufnahmebereite Kommunen und Städte hier in Deutschland. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Frau Dr. Leikert, wollen Sie antworten?

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hänsel, zu Ihrer Kurzintervention vielleicht nur so viel: Ich weiß nicht, in welche Ecke Sie uns stellen möchten. Wir als Deutschland haben insgesamt über 1,7 Millionen Menschen aufgenommen. Das hat kein Land in Europa in dieser Form geleistet und kann es auch nicht leisten. Von daher lassen wir uns von Ihnen an dieser Stelle nicht vorführen. Wir möchten eine Reform des Asylsystems, die es in Zukunft ermöglicht, der Aufgabe gerecht zu werden, Menschen mit einem gerechtfertigten Schutzbedürfnis hier bei uns aufzunehmen. Dafür brauchen wir die Steuerung von Humanität und Ordnung, und genau dafür stehen wir. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Herren Präsidenten, gerade beim Schichtwechsel! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Umgang mit Grenzen sagt sehr viel darüber, wer wir sind und wie wir uns begreifen. Es scheint mir auch die zentrale Frage in Bezug auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem der Zukunft zu sein. Und da kann eine Antwort gewiss nicht lauten – zudem rassistisch motiviert –, eine komplette Politik der Abschottung zu fahren und zu verfolgen. Aber auch die wesentlich zivileren Varianten – und wir haben es eben live in der Diskussion erleben können – führen uns nicht weiter, weder ein Ansatz, der rein sicherheitspolitisch argumentiert, noch ein sicher gutgemeinter Ansatz, der aber mit einem moralischen Absolutismus Grenzöffnungen verficht und letztlich Dilemmata und Konflikte, die es gibt, einfach ausblendet. Beides erscheint mir nicht sinnvoll. Deshalb rege ich an, dass wir uns sieben mögliche Säulen eines künftigen europäischen Asylsystems angucken: Erstens. Wir müssen Solidarität als etwas begreifen, das alle, die an dem System teilhaben, betrifft, wie es in Sozialsystemen nun mal ist. Zweitens. Wir sollten uns in unserem Auftreten gegenüber Griechenland, Italien, Malta und Spanien möglichst damit zurückhalten, bevormundend, belehrend und paternalistisch aufzutreten. Allein schon die deutsch-griechische Geschichte lehrt uns, da Demut zu üben und pragmatisch zu denken. Drittens. Angesichts der jetzigen, hinreichend beschriebenen Situation auf den griechischen Inseln und auch der ungelösten Frage der Seenotrettung müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten beweisen, dass humanitäre Lager und Aufnahmesituationen möglich sind. Sonst ist jede Idee großer Aufnahmezentren ziemlich zynisch und ziemlich absurd. Viertens. Wir brauchen auch Perspektiven für Drittstaaten, in denen gegenwärtig Hunderttausende, ja Millionen von Geflüchteten sind. Diese Frage ist oft unterbeleuchtet. Fünftens. Wir müssen uns darum kümmern, dass wir mehr auf das Instrument von Resettlement, von Neuansiedlungen, setzen. Kanada gibt ein Beispiel. Sechstens – ein ganz wichtiger Punkt –: die Frage der schnellen Asylverfahren und unserer Lebenslügen. Es muss uns darum gehen, rechtssichere, schnelle Verfahren zu haben. Das bedeutet dann auch, dass es irgendwann einen Entscheid gibt, und er bedeutet in der Konsequenz auch, dass es – und das ist kein angenehmer Punkt – auch Abschiebungen und Rückführungen gibt. Wenn es keinen Unterschied macht, wie der Entscheid ausfällt, brauchen wir kein Asylsystem. Zu den Illusionen gehört aber auch, dass wir die Zahl der Abschiebungen immer maximal steigern können. Wir wissen genau, dass das nicht der Fall ist. Und zu den Lebenslügen gehört auch, dass wir auf Systeme der Ordnung und Steuerung stolz sind, aber ganz viele von uns regelmäßig mit ihren Einzelfällen zum BAMF, zum BMI oder zum AA laufen. – All das ist, glaube ich, kein Weg der Perspektive. Deshalb brauchen wir zusätzliche legale Wege der Migration, wir brauchen Rückführungsabkommen, und wir brauchen da eine pragmatische, rationale, humanitäre Politik. Siebtens. Wir brauchen vielleicht auch mal Fantasie und Kreativität und sollten nicht immer nur, weil die Fronten ja so sind, wie wir sie eben hier auch erlebt haben, auf das Übliche, das ideologisch Verkarstete setzen, sondern gucken, dass wir konstruktive Kräfte einbinden – die Zivilgesellschaft, Kommunen, die handlungsfähig und handlungswillig sind – und nicht diejenigen bestrafen, die nicht mitmachen, sondern diejenigen belohnen, die aufnehmen wollen und unterstützen. Das scheint mir ein sinnvoller Weg zu sein, vor Weihnachten und auch nach Weihnachten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin bei den Linken ja nicht überrascht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich kann Ihnen ein Bild nicht ersparen: Sie verstehen sich als Anhänger einer Friedenspartei, und Sie sind in dieser Frage doch stur wie ein Panzer. ({0}) Es sind in Ihrer Denkweise keinerlei Konsequenzen aus den Erfahrungen erkennbar, ({1}) die wir in den letzten Jahren machen mussten. Sie und wir wissen, wie schwierig und wie verfahren die Lage auf EU-Ebene bei der Reform des GEAS ist. Und Sie wissen und sehen, dass sich die Bundeskanzlerin seit Jahren um eine europäische Lösung für eine Reform des Asylsystems bemüht. Der Bundesinnenminister läuft sich ebenfalls seit nunmehr fast drei Jahren – und noch stärker seit dem Regierungswechsel in Italien – bei den europäischen Partnern die Hacken ab, um in wichtigen Fragen der Flüchtlingspolitik wenigstens einen Minimalkonsens zu erzielen. Deutschland hat dazu stets nicht nur einen wesentlichen humanitären Beitrag geleistet, sondern zeitweise auch notwendige Entscheidungen vorübergehend zurückgestellt, um einen gemeinsamen europäischen Weg nicht zu gefährden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Frage der Zurückweisungen an der Grenze, die wir, wie sie wissen, mit Rücksicht auf den Gipfel im Sommer 2018 erst viel später angegangen sind als ursprünglich geplant. Die Bundesregierung und wir als Koalition wollen eine umfassende Reform des GEAS, und wir tun alles dafür. Liebe Grüne, ich glaube Ihnen, dass Sie das auch wollen. Nur muss ich Ihnen schonungslos sagen, dass Sie nichts dafür tun, ja sogar diesem Ziel mit Ihrer politischen Traumtänzerei zuwiderhandeln. ({2}) Das, liebe Grüne, was nämlich zwischen gutem Willen und guten Ergebnissen liegt, ist der Bereich der Verantwortung. Und diese Verantwortung, auch die Verantwortung für das Ergebnis, zu übernehmen, bitte ich Sie dringend und endlich. Und wenn Herr Habeck wirklich Kanzlerkandidat werden will, ({3}) wäre es mehr als nötig, dass auch er damit beginnt. Regieren zu wollen, liebe Kollegen, heißt, Fakten zur Kenntnis nehmen zu wollen und echte Verantwortung übernehmen zu wollen. ({4}) Der nette Sozialkundelehrer von nebenan reicht hierfür nicht. ({5}) Verantwortung, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt, zu erkennen, dass wir Menschen ohne Bleibeperspektive bei begrenzten Ressourcen in keine bessere Zukunft führen, wenn wir alle Ampeln auf Grün stellen, sondern in Seenot und Lebensgefahr und später in Enttäuschung und Perspektivenlosigkeit. Verantwortung heißt auch, Fehler zu vermeiden, die wir beim Grenzübertritt in Minuten machen und nachher oft jahrelang nicht mehr eingefangen kriegen. Auch aus diesen Fehlern müssen wir lernen und Konsequenzen ziehen. Sie kennen die immensen Schwierigkeiten bei der Aufenthaltsbeendigung. Deshalb sage ich Ihnen: Eine Verteilung in Europa vor Prüfung der Erfolgsaussichten des Asylantrages ist dauerhaft nicht verantwortbar. ({6}) Als Letztes sage ich Ihnen: Verantwortung heißt schließlich auch Realismus. Sie können sich in dieser Frage den Bart abschminken. Es läuft auf europäischer Ebene nicht so, wie Sie sich das erträumen und zusammenreimen. ({7}) Wir kommen auf europäischer Ebene nur weiter, wenn wir uns bei unseren Partnern um echte Reformen bemühen und – jetzt kommt’s – gleichzeitig Vertrauen schaffen, indem wir dabei die unterschiedlichen Perspektiven respektieren, mit denen sich die Mitgliedstaaten dem Thema nähern. Es muss eine gemeinsame Lösung sein, die von Europa getragen wird, und keine deutsche Lösung, die nach Europa getragen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Und deshalb sage ich Ihnen als letzten Satz: Mit dem Alleingang, den Sie hier wieder fordern, würden Sie jedes Vertrauen verspielen, eine europäische Lösung langfristig unmöglich machen ({9}) und damit rein gar nichts erreichen. Vielen Dank. ({10})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das Näschen war weg. Nun ist das Näschen wieder da. ({0}) Meine Damen und Herren, bevor gleich wahrscheinlich wieder einer für alle Blockparteien oder vielleicht auch gar keiner von den Blockparteien hier auf mich erwidern wird, lassen Sie mich für die Opposition in diesem Hause einige Worte dazu sagen. Es geht um die zweite Verlängerung einer Ausnahmeregelung. Der Bundestag soll beschließen, schon dann beschlussfähig zu sein, wenn knapp 180 von 709 Mitgliedern im Hause sind. 75 Prozent der Bundestagsmitglieder schaffen sich damit sozusagen fast selber ab! Jetzt kann man sagen: Gut, wenn 25 Prozent der Bundestagsmitglieder fleißig das ganze Jahr über hier sind, ist die Sache in Ordnung. Aber so ist es ja nicht. Es sind knapp 180 von 709 Bundestagsmitgliedern, die an 21 von 52 Wochen im Jahr in Berlin anwesend sein sollen. Sitzungswochen in Berlin sind aber etwa nicht Wochen mit 7 Tagen, sondern Wochen von Dienstag bis Freitag. ({1}) So war es einmal. Auch da haben sich langsam schon coronabedingte parlamentarische Gepflogenheiten eingeschliffen. Inzwischen haben wir Sitzungswochen wie diese Woche, in denen nur der Mittwoch und Donnerstag Präsenztage sind. Ich halte fest: Der Bundestag hat 709 Abgeordnete. Das Jahr hat 52 Wochen, und die Woche hat 7 Tage. Der Bundestag sagt aber: Es reichen knapp 180 von 709 Abgeordneten. Es reichen 21 von 52 Wochen, und eine Woche hat nicht 7 Tage, sondern nur 2 Tage. Meine Damen und Herren, das hier ist kein Teilzeitparlament. Wir haben alle Diäten in Höhe von über 10 000 Euro im Monat in der Tasche. Und die werden auch nicht etwa gekürzt aufgrund von Corona. Also haben wir auch jeden Tag hier anzutreten und unsere Arbeit zu verrichten und dies nicht nur in einem Bruchteil der Zeit zu tun. ({2}) Wenn wir etwas Positives daraus ziehen wollen, dann können wir das tun: Ein Schuh wird nämlich daraus, wenn wir uns das Stichwort „Parlamentsverkleinerung“ anschauen. Was war es für ein kleinliches und peinliches Geschacher, als es vor einigen Monaten darum ging, einige Mandate bzw. Überhangmandate abzuschaffen und leichte Wahlkreiskorrekturen vorzunehmen! Es hatte ja den Anschein – vor allem bei den Koalitionären –, dass die Welt zusammenbräche, wenn der Bundestag auch nur ein wenig kleiner wäre und nicht mehr auf 709 Abgeordnete käme. Was beweisen wir jetzt? ({3}) Wir beweisen seit einem Dreivierteljahr, in einer Krisenzeit, dass es möglich ist, den Bundestag und seine Ausschüsse mit 180 Abgeordneten in 21 Wochen im Jahr, bei zwei oder drei Tagen pro Woche, am Laufen zu halten. Der Laden läuft, meine Damen und Herren. Es gibt gar kein Argument dafür, diesen Bundestag nicht deutlich zu verkleinern. ({4}) Wir sollten also diese Coronaphase nutzen, um einen Neustart zu machen, auch was die Frage der Parlamentsverkleinerung angeht. Es müssen ja nicht nur 180 Abgeordnete übrigbleiben, aber vielleicht irgendetwas zwischen 180 und 709. Deshalb lehnen wir den Antrag ab, meine Damen und Herren. Wir sind kein Teilzeitparlament.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Ende!

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir haben eine Krisenzeit. Jeder sollte da arbeiten, und zwar so, wie der Wähler es uns aufgetragen hat. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Brandner, Mund und Nase bedecken! Bedecken! ({0}) So viel Zeit muss sein! – Jawohl. ({1}) Jetzt hat der Kollege Professor Dr. Patrick Sensburg um das Wort gebeten. Bitte schön. ({2})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Brandner, ({0}) ich hatte mich ja direkt zu Anfang Ihrer Rede gemeldet, um eine Frage zu stellen. Aber eigentlich habe ich mich gemeldet, um Sie vor einem Irrtum zu schützen. Sie haben ja im Internet schon vor Ihrer Rede gepostet, was Sie heute sagen wollen, nämlich: Corona nicht zur Arbeitsverweigerung im Bundestag missbrauchen. – Das Thema ist aber eigentlich die Verlängerung der Geltungsdauer der Regelung in § 126a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, ({1}) in dem es gerade darum geht, in Zeiten von Corona hier arbeitsfähig zu bleiben. ({2}) Sie haben, glaube ich, gar nicht erkannt, dass wir als Deutscher Bundestag uns hier in vielen Debatten mit Corona, den Bedingungen und den Hilfen für Unternehmen, für Unternehmerinnen und Unternehmer, aber natürlich auch mit unserer Arbeitsfähigkeit ganz intensiv beschäftigen. Es geht um eine Verlängerung der Geltungsdauer der Regelung in § 126a – es ist die zweite Verlängerung – um drei Monate. Sie sehen: Es ist eine moderate Verlängerung. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie zwischen den Zeilen gesagt: Es gibt Corona. – Das ist ja schon mal etwas. ({3}) Wenn es Corona gibt – Sie leugnen das nicht, aber Teile Ihrer Fraktion tun das anscheinend –, dann muss man auch die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen; denn Corona geht an uns als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ja nicht vorüber. ({4}) Auch hier gibt es Fälle – in allen Fraktionen, auch in Ihrer. Von daher ist es wichtig, dass wir uns so organisieren, dass wir auch unter diesen Bedingungen arbeitsfähig sind, dass die Ausschüsse und auch die Untersuchungsausschüsse arbeiten können, alle Ausschüsse, aber auch das Plenum im Deutschen Bundestag. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Herr Brandner hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn ihm das hilft, dann gerne. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kurz und präzise!

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Auf den Punkt gebracht: Ob es mir hilft, weiß ich erst, wenn ich die Antwort höre. ({0}) Herr Kollege Sensburg, Sie haben gesagt, Teile meiner Fraktion würden Corona leugnen. Können Sie das ein bisschen substanziieren? Wer aus meiner Fraktion hat jemals gesagt, dass es Corona, das Coronavirus oder die Erkrankung an Corona, nicht geben würde? ({1})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir erleben es leider in jeder Sitzung des Deutschen Bundestages. Wenn Sie heute länger im Plenum waren, ({0}) dann haben Sie in vielen Debatten gemerkt, ({1}) wie sowohl Corona als solches als auch die Auswirkungen von Corona geleugnet werden. ({2}) Ich will Ihnen ein letztes Beispiel geben: Ich vermute, auch Sie kennen den Kollegen, der leider in den letzten Tagen an Corona verstorben ist, der die „Querdenken“-Demonstrationen mitorganisiert hat, ({3}) der im Internet auch mit Kollegen aus der Bundestagsfraktion abgelichtet worden ist, der zu denen gehörte, die Corona lange geleugnet haben, der auf mehreren „Querdenken“-Demonstrationen am 19. und am 21. November ohne Mund-Nase-Schutz gesichtet worden ist, ({4}) wo man die Gefahr der Coronapandemie völlig ignoriert hat. Wenn ich jetzt noch Ihre Posts sehe wie „Corona nicht zur Arbeitsverweigerung im Deutschen Bundestag missbrauchen“, dann sage ich: Das macht ganz deutlich, dass Sie die Gefahr und die heftigen Auswirkungen dieser Pandemie negieren und sie herunterspielen. ({5}) Auch dass Sie den Mund-Nase-Schutz im Grunde als „Maulkorb“ bezeichnen, zeigt doch sehr deutlich, dass Sie Corona nicht ernst nehmen. Ich gebe Ihnen noch eine Liste von Ihren Kolleginnen und Kollegen – sie zu verlesen, würde wirklich meine Redezeit hier sprengen –, die Corona nicht ernst nehmen. ({6}) Dann können Sie sich mit denen ein bisschen auseinandersetzen. – Danke schön. ({7}) Wir haben in den letzten Tagen leider ständig steigende Coronazahlen in Deutschland, heute allein 26 923 Neuinfizierte und 698 Todesfälle mit Corona. Das können wir als Bundestag nicht einfach ignorieren und müssen uns deswegen so organisieren, dass wir auch in dieser Phase, in dieser Zeit arbeitsfähig sind. Das tun wir mit § 126a. Das machen wir. Jeder von uns, auch wenn er sich beispielsweise in Quarantäne befindet, kann durch audiovisuelles Zuschalten an den Sitzungen teilnehmen. Wir haben die Quote der notwendigen Präsenz für die Beschlussfähigkeit herabgesetzt, was aber nicht bedeutet, dass man nicht arbeitet; Herr Kollege Brandner, auch das haben Sie nicht verstanden. ({8}) Bei den Abstimmungen – das werden Sie im Internet nachvollziehen können – sind die Kolleginnen und Kollegen ja da. Auch die Abstimmungen haben wir so organisiert, dass wir den Abstand einhalten können. Ich würde eher sagen: Dieses Parlament ist arbeitsfähig, organisiert sich so, dass die Demokratie funktioniert, und beteiligt sich an allen wesentlichen Entscheidungen mit intensiven Debatten. Wir machen das möglich. Sie wollen eigentlich eher etwas anderes. Sie würden sich wünschen, dass dieses Parlament nicht arbeitsfähig ist. Aber das machen wir nicht mit. Ihnen gehen wir nicht auf den Leim. Danke schön. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt hat sich noch die Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen zu Wort gemeldet, die Kollegin Britta Haßelmann. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie das Wort wollen, melden Sie sich beim Präsidenten. – Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Da wir dem Eindruck, den der Abgeordnete Brandner hier wieder versucht hat zu vermitteln, entgegentreten müssen, ({0}) will ich ganz deutlich sagen: Die Sachargumente, die der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses eben vorgetragen hat, teilen wir alle gemeinsam. Um nicht den Eindruck zu erwecken, es würde irgendwer für die Opposition sprechen, spreche ich hier auch für die FDP, wenn Sie es mir erlauben, für die Linken und für die Grünen. ({1}) Wir sind sehr einig gemeinsam mit der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion, dass diese Geschäftsordnungsregelung, diese Sonderregelung sachgerecht und angemessen ist. Sie ist auf drei Monate befristet, und der Geschäftsordnungsausschuss ist jederzeit in der Lage, zu sagen: Wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen, dann ändern wir das. Ich bitte Sie: Lassen Sie es nicht zu, dass jemand wie der Brandner die Fakten verdreht und das Parlament verächtlich macht! ({2}) Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass wir in diesem Hause einen Konsens darüber haben, dass wir uns von diesen Typen nicht auf der Nase herumtanzen lassen. ({3}) Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag ist arbeitsfähig. So viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundestagsverwaltung geben alles, ebenso in den Ministerien, in der Bundesregierung und Sie, wir, alle Abgeordneten auch. Was haben wir in den letzten Wochen und Monaten der Coronapandemie, in dieser Krisenzeit, nicht alles versucht und nach Abwägungen schwere Entscheidungen getroffen. Da muss man das Kreuz ganz gerademachen vor diesen Typen, die versuchen, das Parlament verächtlich zu machen. Meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, sich das bieten zu lassen. ({4}) Der Bundestag hat sehr intensiv darüber beraten, wie wir es schaffen können, uns alle in Zeiten der Pandemie arbeitsfähig zu halten. Dafür haben wir diese Sonderregelung in der Geschäftsordnung getroffen, und nur dafür. Wir wussten nämlich genau, dass wir Vorsorge treffen müssen für den Fall, dass auch Abgeordnete betroffen sind. An Ihrer Stelle wäre ich mal ganz still in dieser Woche. Wir hatten in der letzten Woche sieben coronapositiv getestete Abgeordnete in diesem Haus, vier allein aus Ihrer Fraktion. ({5}) Ich würde an Ihrer Stelle ganz ruhig sein und mir überlegen, wie sich der Bundestag und die Fraktionen arbeitsfähig halten können. ({6}) Allein vier der sieben Abgeordneten sind aus der AfD-Fraktion. Das macht deutlich: Wir müssen Vorsorge treffen. Jetzt will ich noch einen Punkt ansprechen: Angesichts der Tatsache, dass heute 698 Tote gemeldet wurden – 698 Tote! – – ({7}) – Können Sie nicht einfach mal schweigen angesichts dieser Zahl toter Menschen und ihrer Angehörigen und Familien? ({8}) Meine Damen und Herren, wir haben heute 30 400 Neuinfizierte und mit Ihnen eine Fraktion, die bis heute die Gefahren dieser Pandemie leugnet. Bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache: Lassen Sie uns als Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen. Wir haben einen guten Weg gefunden, das Parlament arbeitsfähig zu halten; darüber bin ich froh. Das ist in Zeiten der Pandemie auch dringend notwendig. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank für die Wortmeldungen.

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich gönne Ihnen die Atempause. – Meine lieben Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ich habe heute die große Freude, nicht nur für meine Fraktion reden zu dürfen, sondern für alle Fraktionen im Petitionsausschuss, und das ist mir eine besondere Ehre. Vielleicht liegt es daran, weil ich in der Sitzungswoche, Herr Brandner, immer von sonntags bis freitags hier bin, weil ich sonst meine Arbeit nicht schaffe. ({0}) In diesem Jahr haben uns etwa 15 000 Petitionen erreicht, und wir sind uns – da können Sie sicher sein – nicht immer einig, was mit jeder einzelnen Petition passieren soll. Aber bei dieser Petition, von der ich berichten werde, waren sich Koalition und Opposition einig, dass etwas passieren muss. Worum geht es? Eine Petentin aus Bayern wollte sich von einem Onlinehändler telefonisch beraten lassen. Deswegen hat sie seine Telefonnummer gewählt, die mit „032“ beginnt. Sie dachte – wahrscheinlich wäre das jedem von uns passiert –, dass es sich um eine Ortsnetznummer aus dem Großraum Berlin handelt. Tatsächlich war es eine Servicehotline. Das ist ihr allerdings erst aufgefallen, als sie ihre Telefonrechnung bekommen hat. Die war zu ihrem Erstaunen um einiges höher als sonst. Weil sie aber zu Beginn ihres Anrufes nicht über die Kosten pro Minute informiert wurde, hat sie sich an die Bundesnetzagentur gewandt. Dort ist das Problem bekannt; denn es gibt häufig Beschwerden über erhöhte Rechnungen wegen der Telefonnummer „032“. Es handelt sich dabei nicht um eine Festnetznummer, wie man annehmen könnte, sondern es ist eine sogenannte nationale Teilnehmerrufnummer, die früher aus technischen Gründen benötigt wurde. Hier gibt es eine Gesetzeslücke mit der Folge, dass die Regelungen zum Verbraucherschutz im Telekommunikationsgesetz nicht greifen. Die „032“er-Nummern unterliegen bisher leider nicht den Verpflichtungen der Preisangabe gemäß § 66a des Telekommunikationsgesetzes. Der gesamte Petitionsausschuss ist sich einig, dass hier eine Lösung im Sinne des Verbraucherschutzes und der Petentin gefunden werden muss. Wir haben uns deshalb einstimmig dafür ausgesprochen, diese Petition dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zur Erwägung zu überweisen. Damit fordern wir jetzt die Bundesregierung auf, nach Möglichkeiten der Abhilfe im Sinne der Petentin zu suchen. Ein gutes Beispiel der Zusammenarbeit, das Schule machen kann! Vielen Dank. ({1})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Arroganz der Macht der Blockparteien beklagen wir als AfD uns ja häufig von hier vorne, und das auch zu Recht. ({0}) Wie ein Brennglas, was die Arroganz der Macht der Altparteien angeht, wirkt der Vermittlungsausschuss. So auch hier, als der Vermittlungsausschuss über Änderungen zum Adoptionshilfe-Gesetz zu entscheiden hatte. Wie war der Ablauf? Am 3. Dezember 2020 kam die Einladung zum Vermittlungsausschuss, der am 10. Dezember, also eine Woche später, tagen sollte. So weit, so gut. Am 7. Dezember erreichte uns dann aus dem Hause Dr. Giffey ein Schreiben mit dem Inhalt, dass nach politischen Vorgesprächen ein Vermittlungsergebnis bereits skizziert worden sei; der fertig formulierte Antrag war beigefügt. Das war am 7. Dezember, also drei Tage, bevor der Vermittlungsausschuss überhaupt zusammentrat. Wir trafen uns dann im Vermittlungsausschuss am 10. Dezember 2020; das war übrigens der Tag, als die Kollegin Haßelmann – wo ist denn die Gute? hier vorne – Geburtstag hatte. Ich darf Ihnen nach Rücksprache mit dem Kollegen Chrupalla noch herzlich nachträglich zum Geburtstag gratulieren. ({1}) Jedenfalls trat am 10. Dezember der Vermittlungsausschuss zusammen; Gegenstand war das Ergebnis der politischen Vorgespräche. Auf meine Frage, wer denn da was politisch vorbesprochen haben wollte, sollte, durfte oder konnte, betätigte sich die Vorsitzende des Vermittlungsausschusses, Frau Schwesig, als Regierungssprecherin und teilte mir sinngemäß mit, das gehe mich gar nichts an, jeder könne mit jedem reden, wie er will, und was dann dabei rauskomme, sei auch egal. Auf meinen Einwand, aber das sei doch auf dem Briefkopf der Frau Dr. Giffey, also offiziell als ministerielles Schreiben gekommen, wusste Frau Schwesig keine Antwort. Der SPD-Vertreter lief herum und schrie, er wolle nach Hause, er habe Angst um seine Lebenszeit. Herr Grosse-Brömer äußerte sich dahin gehend, die AfD solle sich konstruktiv einbringen. Auf meine Frage: „Wie soll das denn geschehen, Herr Grosse-Brömer, wenn wir von Ihren Hinterzimmeraktivitäten gar nichts wissen?“, kam der Einwand: Ja, da müssen Sie selber sehen, wie Sie zurechtkommen. – Also ein Chaos ohne Ende, eines Vermittlungsausschusses absolut unwürdig. Im Übrigen haben sich die Vertreter des Bundesrates im Vermittlungsausschuss gar nicht dazu geäußert. Erst nachdem der Kollege Frömming von der AfD dazu aufgefordert hatte, kamen überhaupt ein, zwei Sätze aus dieser Richtung. Was für eine Präsenz war da? Der Vermittlungsausschuss ist ein Verfassungsorgan, nicht direkt, hat aber Verfassungsrang, ({2}) wenn Sie in den Artikel 77 des Grundgesetzes hineinschauen. Der Vermittlungsausschuss besteht aus 32 Mitgliedern: 16 des Bundestages, 16 des Bundesrates. Vom Bundesrat waren exakt 10 von 16 da, vom Bundestag waren 11 von 16 da. Interessanterweise war die AfD die einzige Fraktion, die vollzählig anwesend war. ({3}) Bei allen anderen Fraktionen klafften Lücken, mit Ausnahme des Geburtstagskindes der Grünen. Die waren auch vollständig, aber die haben nur ein Mitglied, da geht es schnell, dass man die Reihen auffüllt. Also: Sie selber haben den Vermittlungsausschuss ad absurdum geführt, Sie nehmen ihn selbst nicht ernst. Sie machen Hinterzimmerpolitik. Ich bin hier vorne aufgefordert, noch einmal zu sagen: Beenden Sie die Hinterzimmerpolitik! ({4}) Machen Sie Politik und Prozesse so, wie es im Grundgesetz geschrieben steht, wie es die Bürger draußen wollen, nämlich transparent und demokratisch! Zum Vermittlungsergebnis als solchem enthalten wir uns, weil es keine wesentliche Verbesserung, aber auch keine Verschlechterung dessen ergab, was schon verabschiedet war. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Mund-Nase-Bedeckung! ({0}) – Sehr gut. Gute persönliche Lernkurve. – Der Abgeordnete Grosse-Brömer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bin Mitglied des Vermittlungsausschusses. Ich habe beim letzten Vermittlungsausschuss dem gefundenen Vermittlungsergebnis nach einem geordneten, der Verfassung und der Geschäftsordnung entsprechenden Verfahren zugestimmt. So wurde es von der Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses bestätigt. Wenn ich jetzt Herrn Brandner höre, dann ist das eigentlich immer so: Nach jedem Vermittlungsausschuss grüßt der Stephan als Murmeltier. ({0}) Es ist immer derselbe Text. Aus meiner Sicht gibt es nach Ihrer Rede eigentlich nur zwei Möglichkeiten, Herr Brandner: Entweder Sie sind juristisch ahnungslos, was ich Ihnen nicht unterstellen will, oder Sie haben hier die Absicht, bewusst über die Abläufe zu täuschen und zu tricksen. Es spricht viel für Letzteres. Es beweist im Übrigen auch, dass Ihre Fraktion, insbesondere Ihre Wortmeldungen, immer nur das Ziel haben, diese Verfassung und auch ein Stück weit das Verfahren zu torpedieren, wo es nur geht. Sie haben selbst Artikel 77 des Grundgesetzes genannt, also wissen Sie ja, was Sinn und Zweck des Vermittlungsverfahrens ist, nämlich zu vermitteln und ein Vermittlungsergebnis zu bekommen. Dazu treffen sich Leute. Ich weiß nicht, wie das war, als der kleine Stephan vielleicht nicht immer zu den Geburtstagspartys eingeladen worden ist. ({1}) Es sind nicht immer die schuld, die die Partys veranstalten, manchmal ist auch der schuld, der nicht eingeladen wird, weil er sich nämlich um die ganzen Sachen nicht kümmert. ({2}) Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: „Zweck und Ziel des Vermittlungsverfahrens ist das Erzielen eines politischen Kompromisses“ – daran haben Sie sich nicht beteiligt –, dabei kann sich der Ausschuss – Achtung! – „formeller und informeller Gremien zur Vorbereitung der Beschlussfassung“ bedienen. Wenn das also so gewesen ist, hat sich der Vermittlungsausschuss so verhalten, wie es das Bundesverfassungsgericht nicht nur ermöglicht, sondern sogar vorschlägt, Herr Brandner. Das vielleicht noch einmal zur Verbesserung Ihres juristischen Hintergrundes. Im Übrigen ist es auch gar nicht so kompliziert, das zu verstehen, aber, ich glaube, Sie wollen es auch nicht verstehen, weil Sie sich nämlich selbst an demokratische Spielregeln nicht halten, möglicherweise verachten Sie diese sogar. Wir haben jetzt in der letzten Sitzungswoche zur Kenntnis genommen, dass Ihre Fraktion mit einmonatiger Verspätung den Austritt eines Fraktionsmitglieds mitgeteilt hat. Damit erschleichen Sie sich vier Wochen lang Sitze in Ausschüssen, die Ihnen gar nicht mehr zustehen. ({3}) Das ist natürlich die Sauerei. Sie müssen sich einmal fragen lassen: Sie machen hier den großen Popanz und halten sich selbst nicht an demokratische Spielregeln. Das ist doch der Punkt, um den es hier geht. ({4}) Sie schwadronieren von geordneten Verfahren und bedienen sich selbst der übelsten Tricks. Ich will Ihnen sagen: Jetzt wird natürlich neu nachgerechnet. Sie werden Sitze verlieren in den Ausschüssen. ({5}) Da müssen Sie jetzt aber nicht traurig sein, das ist so. ({6}) Nicht, dass Sie wieder sagen: Oh Gott, oh Gott, ich darf wieder nicht dabei sein. Aber ich möchte Ihnen abschließend eines sagen: Auch der Rechtsausschuss ist betroffen. Sollte es Ihren Sitz treffen, Herr Brandner, und Sie müssen den Rechtsausschuss verlassen, wird die Rechtspolitik in Deutschland keinen großen Schaden nehmen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wissen doch alle: Wenn über Verfahrensfragen diskutiert wird, geht es auch immer um den Inhalt. Darum war Ihre Wortmeldung, Herr Brandner, auch nicht so richtig ehrlich; denn Sie haben ja im Vermittlungsausschuss begründet, was Ihnen daran nicht passt. Ich sage Ihnen, warum wir als Linke zustimmen werden: Wir leben im 21. Jahrhundert, und wir wollen, dass der Vielfalt der Lebensformen endlich auch gesetzlich Rechnung getragen wird, meine Damen und Herren. ({0}) Die Vielfalt der Lebensformen war schon immer groß. Es war schon immer mehr als Vater, Mutter, Kind. Wir wollen die Menschen, die sich für andere Lebensformen entschieden haben, zum Beispiel in diesem Fall lesbische Frauen, unterstützen und sie nicht behindern, wenn sie sich dafür entschieden haben, gemeinsam Kinder großzuziehen. Sie verdienen unsere Unterstützung, unsere Hochachtung, und das muss auch rechtlich abgesichert sein, meine Damen und Herren. ({1}) Dieses Vermittlungsergebnis ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich bin davon überzeugt, dass wir spätestens in der nächsten Legislaturperiode noch an weiteren Verbesserungen dieser Gesetze arbeiten werden. Aber weil es ein richtiger Schritt ist, werden wir zustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besonders begrüßen möchte ich die Kolleginnen und Kollegen bei Haribo in Wilkau-Haßlau! ({0}) Den Ostbeauftragten hätte ich auch gern begrüßt, aber er ist heute leider nicht da. Meine Damen und Herren, viele von Ihnen haben die Berichterstattung verfolgt. Haribo plant, sein einziges Werk in Ostdeutschland in Wilkau-Haßlau zum Jahresende zu schließen. Das hat man den Beschäftigten aus heiterem Himmel im November erklärt, sozusagen als Weihnachtsgeschenk. Dabei hat der Standort Gewinne in Millionenhöhe erwirtschaftet, die aber Jahr für Jahr entsprechend einem Gewinnabführungsvertrag an die westdeutsche Zentrale überwiesen wurden. Eine halbe Million Euro öffentliche Fördermittel sind natürlich auch geflossen. Investiert wurde so gut wie nichts. Nun sagt die Geschäftsführung, das Werk sei marode und Investitionen zu teuer. Die Beschäftigten, die seit Jahrzehnten zu niedrigen Löhnen schuften, werden einfach vor die Tür gesetzt. Das ist unverantwortlich, meine Damen und Herren. ({1}) Haribo macht Kinder und Erwachsene froh. Bei mir in der Region, wo das Werk liegt, macht Haribo seit Wochen niemanden froh. Stattdessen dominieren hier nun Existenzangst und Zukunftssorgen. Ausgerechnet in einer beispiellosen Arbeitsmarktkrise sollen die Beschäftigten ihre Arbeit verlieren. Das ist einfach nur schäbig. ({2}) Ich kritisiere auch die Hinhaltetaktik von Haribo mit Blick auf einen möglichen Werksverkauf; denn das ist für die Beschäftigten natürlich ein Hoffnungsschimmer. Aber Haribo verschweigt in der Öffentlichkeit, dass keinesfalls an andere Fruchtgummihersteller, also an die Konkurrenz, verkauft werden soll. Hier muss Haribo endlich die Karten offenlegen, damit die Kolleginnen und Kollegen wissen, wie ihre Perspektive aussieht. ({3}) Es darf nicht mit ihren Hoffnungen gespielt werden: Es ist unverantwortlich, wenn in der Öffentlichkeit jeden Tag von vermeintlichen Kaufinteressenten geredet wird, die Haribo wegen der Konkurrenz gar nicht will. Sehr geehrte Damen und Herren, leider ist Haribo nur ein Beispiel von vielen im Osten. Als hauptamtliche Gewerkschafterin habe ich gemeinsam mit den Beschäftigten und vielen Betrieben gekämpft. ({4}) Ich will nur einige nennen: Plauener Gardine, Germania in Chemnitz, Foron in Schwarzenberg und jetzt Haribo in Wilkau-Haßlau. Die Liste wäre so lang, dass dafür die Zeit heute gar nicht reichen würde. Es ist immer wieder dieselbe Strategie: billig die Standorte übernommen, Fördermittel abkassiert, kaum investiert und die Gewinne so lange abgeschöpft, wie es ging, und zu niedrige Löhne. So ist der Osten mitsamt seinen Beschäftigten verkauft und ausgepresst worden. Das, meine Damen und Herren, ist unerträglich. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren, im Jahr 2019 gab es in Ostdeutschland immer noch eine halbe Million Beschäftigte weniger als Mitte der 90er-Jahre; das sind fast 10 Prozent unter dem damaligen Stand. Die Entwicklung in Westdeutschland stellt sich hingegen ganz anders dar: Die Anzahl der Beschäftigten nahm im selben Zeitraum um 5,5 Millionen kräftig zu, also um 25 Prozent. Da müssen doch auch Sie erkennen, verehrte Damen und Herren der Bundesregierung, dass hier etwas aus den Fugen geraten ist. Der Niedergang des ostdeutschen Arbeitsmarktes konnte bis heute nicht kompensiert werden. Alle bisherigen Bundesregierungen haben hier kläglich versagt; denn das sind nicht die gleichwertigen Lebensverhältnisse, die Sie damals versprochen haben. ({6}) Ihre verfehlte Arbeitsmarktpolitik haben viele Beschäftigte in Ostdeutschland mit Langzeitarbeitslosigkeit, Abwanderung und Armut bezahlt. Die Krönung ist, dass den Ostdeutschen niedrige Löhne jahrzehntelang als Standortvorteil verkauft wurde. Wenn das so wäre, dann müssten in Mecklenburg-Vorpommern und in Ostsachsen die Arbeitsplätze wie Pilze aus dem Boden schießen. Das tun sie aber nicht. Das ist die Realität, mit der Sie sich endlich mal auseinandersetzen müssten. ({7}) Noch immer pendeln 400 000 Menschen aus Ostdeutschland gen Westen, um dort zu arbeiten. Das zerreißt die Familien. Und was diese Kolleginnen und Kollegen leisten, um einen höheren Lohn als im Osten zu bekommen und der Arbeitslosigkeit zu entfliehen, verdient höchsten Respekt. ({8}) Viele ostdeutsche Betriebe wurden und werden als verlängerte Werkbänke betrieben. Geschäftsführung, Forschung und Entwicklung sitzen im Westen, im Osten wird nur produziert. Deshalb ist es so einfach, die Standorte im Osten zu schließen. In manchen Regionen kann man sogar von einer Deindustrialisierung sprechen, wenn ich an Pasewalk denke, wo ich selber herkomme, oder aber auch an Ostsachsen. Meine Damen und Herren, wir brauchen endlich eine gute Förderpolitik. Wir brauchen gute Arbeits- und Lebensbedingungen in Ost- und in Westdeutschland. Danke. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Carsten Körber. ({0})

Carsten Körber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004332, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wilkau-Haßlau von Haribo! Haribo macht dicht. Ende des Jahres wird das Werk in Wilkau-Haßlau schließen: Diese Nachricht traf Anfang November die Region Zwickau natürlich wie ein Schock. Sehr schnell hatte sich in der gesamten Region in beeindruckender Art und Weise eine Solidarisierung der Menschen ergeben, die den Erhalt des Werkes fordern. Die Mitarbeiter – das habe ich selber bei einem Vor-Ort-Termin in Wilkau-Haßlau erlebt – haben in liebevoller Kleinarbeit Plakate mit der Aufschrift „Haribo muss im Osten bleiben“ gebastelt und haben wirklich mit ihrem Engagement nichts unversucht gelassen. Als Wahlkreisabgeordneter möchte ich hier den Versuch unternehmen, diesen konkreten Fall zu schildern. Dieses Werk in Wilkau-Haßlau ist das kleinste im Konzern. Es ist das einzige im Osten, und es ist für die Stadt Wilkau-Haßlau der größte Gewerbesteuerzahler. Keine Frage: Diese Entscheidung schmerzt in vielerlei Hinsicht. Fakt ist aber auch – zur Wahrheit gehören auch immer zwei Seiten –: Haribo bekennt sich insgesamt zum Standort Deutschland. Haribo schafft in der Summe insgesamt neue Arbeitsplätze. Mir ist natürlich vollkommen klar, dass das für die betroffenen Mitarbeiter vor Ort kein Trost ist. Aber am vergangenen Freitag wurde ein Sozialplan beschlossen, den die Gewerkschaft NGG für die 150 Mitarbeiter sehr gut verhandelt hat. Chapeau! ({0}) Dieser Sozialplan geht weit über das hinaus, was in solchen Fällen üblicherweise gezahlt wird. Ganz klar: Ich hätte mir auch gewünscht, dass Haribo in Wilkau-Haßlau bleibt und an diesem Standort festhält. Aber die unternehmerische Entscheidung ist eine andere. Jetzt hat man in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Entweder man ist beleidigt, schimpft auf Haribo und den Kapitalismus und macht den Mitarbeitern vielleicht unbegründete Hoffnungen. ({1}) Aber der Sozialplan ist unterschrieben. Das weiß die Gewerkschaft; sie hat ihn ja sehr gut verhandelt. Das wissen aber auch alle Beteiligten. Jetzt muss man sich an den Realitäten orientieren. Da zu behaupten, es gäbe ernsthafte Alternativen dazu, ist nicht ehrlich. Erst etwas zu verhandeln und dann über die Folgen meckern, das geht nicht. ({2}) Man darf doch nicht mit den Hoffnungen der Mitarbeiter spielen. Das ist unredlich. ({3}) Ich finde es schade, dass Die Linke diesen Fall Haribo benutzt, um daraus ihr eigenes politisches Süppchen zu kochen. ({4}) Noch schlimmer: Die Linke benutzt den Fall Haribo, um den gesamten Osten schlechtzureden. ({5}) Sie nehmen damit den Menschen ihr Selbstbewusstsein. Sie vertiefen die Spaltung mit so einer Debatte zwischen Ost und West. Kein Wort von Ihnen zu den zahlreichen Neuansiedlungen und Investitionen, gerade in der Region Zwickau. Kein Wort zu der Investition von 1,2 Milliarden Euro von Volkswagen Sachsen in den letzten beiden Jahren. Glauben Sie denn ernsthaft, mit diesem Schlechtreden macht man eine Region attraktiv? ({6}) Dann gibt es, wie so oft im Leben, zum Glück noch eine andere Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Man kann selbstbewusst die Herausforderung annehmen, die Ärmel hochkrempeln und alles daransetzen, die Kuh vom Eis zu holen. Das haben wir getan. Wir, das sind in diesem konkreten Fall der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, der Bürgermeister von Wilkau-Haßlau, Stefan Feustel, und ich. Wir haben in den letzten Wochen intensive Kontakte zur Haribo-Geschäftsführung aufgenommen, stets auf der Suche nach einer guten Lösung. Und es gibt auch jetzt schon ein ganz konkretes Ergebnis: Haribo zahlt für die nächsten beiden Jahre die Summe an die Stadt, die es bisher immer als Gewerbesteuer gezahlt hat. Das ist gut und richtig. Aber was noch viel wichtiger ist: Wir brauchen eine Nachfolgeregelung für die Mitarbeiter und den Standort. Wir haben für das Werk vier Interessenten präsentiert, die Standort und Beschäftigte übernehmen wollen. Erste Gespräche mit Haribo dazu laufen bereits. So bringt man eine Region weiter: indem man in einen konstruktiven Dialog tritt, indem man nach Lösungen sucht, und nicht, indem man alles schlechtredet. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Abgeordnete Jürgen Pohl, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist das, Frau Kollegin von der Linken, was ich Ihnen vorwerfe: ({0}) Ich will mich mit dem Problem von Haribo in Ostdeutschland beschäftigen, und Sie fangen an, Witze zu reißen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Hat die Rede schon begonnen?

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Doch, ich fange an. ({0}) Herr Präsident! Verehrte Kollegen, die zuhören wollen! Werte Zuhörer an den Geräten und zu Hause! ({1}) Der Süßwarenhersteller Haribo schließt sein einziges Werk in Ostdeutschland, weil es angeblich nicht mehr wirtschaftlich ist und über keine moderne Produktionsstruktur verfügt. Damit verlieren die rund 150 Mitarbeiter zum Jahresende überraschend ihre Arbeit – mit herben Folgen für die Familie. Die in der Selbstbeschreibung hochgelobte Wirtschaftskompetenz der sächsischen Regierung konnte den Standort bei Zwickau offensichtlich nicht retten, was bei einem Wirtschaftsminister mit SPD-Parteibuch auch nicht verwunderlich ist. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, was da gerade in Sachsen passiert, ist Ausdruck der Krise durch die wirtschaftliche Inkompetenz der Regierung in Fragen wie zum Beispiel der Automobilwirtschaft, der Energieindustrie und letztendlich der wirren Lockdown-Politik. Über den jahrzehntelangen Fleiß und den hohen Aufbauwillen der mitteldeutschen Beschäftigten wird fern der betroffenen Region mit einem Federstrich im Westen entschieden. Zum Hohn werden den auf die Straße gesetzten ostdeutschen Beschäftigten meist Arbeitsplätze in den alten Bundesländern angeboten. Diese millionenfache Abwanderung qualifizierter Arbeitnehmer von Ost nach West seit der Wende und dem Treuhanddebakel ist der Todesstoß für die Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Das Gegenteil wäre vonseiten der Politik notwendig, nämlich eine Steigerung der Attraktivität des Standortes Ostdeutschland, zum Beispiel durch die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone, wie ich das als Vertreter mitteldeutscher Interessen in unserer Fraktion fordere. ({3}) Meine Damen und Herren Kollegen, Haribo ist überall. Für meinen Wahlkreis in Nordthüringen bedeutet die zerstörerische Politik in Ostdeutschland mit der Schließung der Firma Eaton in Nordhausen den Verlust von 250 Industriearbeitsplätzen. Mühlhausen verliert durch die Schließung der Firma Continental 160 Arbeitsplätze für qualifizierte Arbeitnehmer. Bei der Firma Erko in Beuren fallen weitere 230 Arbeitnehmerstellen weg. Wir haben in Eichsfeld, einer wichtigen Region in meinem Wahlkreis, bereits heute mehr als 30 Prozent mehr Arbeitslose als im Vergleichszeitraum im Vorjahr. Ich sage Ihnen: Haribo ist überall. ({4}) Viele Mütter und Väter werden in der nahenden Weihnachtszeit arbeitslos. Viele Kinder stehen also nicht freudestrahlend vor einem reichgedeckten Gabentisch. Sie spüren schon leise die vielen Einschränkungen und reduzierten Entwicklungsmöglichkeiten, die ihnen ein über die Generationsgrenzen hinweg verschuldetes Land in der Zukunft bereithält. Das ganze Szenario erinnert an ein Land, das von innen her einfriert infolge sozialer Kälte und politischem Starrsinn der Regierenden. ({5}) Schuld an dieser fatalen Entwicklung ist vorrangig eine wirre Politik wider die ökonomische Vernunft und – das wiegt umso schwerer – eine Regierungspolitik ohne soziales Gewissen oder den Blick für das Ganze. ({6}) Ansonsten nichts Neues. ({7}) Wie immer trifft es in der Krise die Arbeiter zuerst und am härtesten. Meine Frage: Welche Rolle spielen in dieser vermeidbaren Tragödie eigentlich die Gewerkschaften als Vertretung lebensnotwendiger Belange der Arbeitnehmer? Kaum ein Wort ist von ihnen zum neuerlichen Niedergang ostdeutscher Produktionsstätten zu hören. Gleichsam wie Opferlämmer im Hochamt des globalen Coronakapitalismus meiden die Gewerkschaften jegliches Aufbäumen für die Interessen der einheimischen Arbeitnehmerschaft und ergeben sich fast kampflos der Abwicklung ganzer Wirtschaftszweige im strukturschwachen Osten. Kurzum: Spätestens mit dem Jahr 2020 wurden die etablierten Gewerkschaften als Sachwalter lebensnotwendiger Arbeitnehmerinteressen durch den Druck der Ereignisse historisiert. ({8}) Dieses traurige Ende von ehemals sinnvollen Organisationen lässt mich in der Folge fordern: Machen Sie Platz für neue Gewerkschaften, Platz für die, die die wirklichen Arbeitnehmerinteressen vertreten, Platz für AVA und ALARM! Die AfD als neue Volkspartei, als Partei der Arbeitnehmer ({9}) und der kleinen Gewerbetreibenden steht für unsere ost- und mitteldeutschen Arbeitnehmer. ({10}) Meine Damen, meine Herren, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen ({11}) – danke schön – und vor allem Ihren Familien besinnliche und frohe Weihnachtsfeiertage. Ich bedanke mich ausdrücklich bei unseren Mitarbeitern, die hier so tapfer durchgehalten haben. Danke schön. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sie können Platz nehmen. Schön Mund und Nase bedecken! (Ulli Nissen [SPD]: Nase auch! Es heißt „Mund-Nasen-Bedeckung“! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nase auch! Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Detlef Müller. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir an dieser Stelle einzelne Unternehmensentscheidungen debattieren, kommt ausgesprochen selten vor. Das zeigt, welche Bedeutung und Tragweite die Entscheidung von Haribo hat, das einzige Werk des Unternehmens in Ostdeutschland zu schließen. Mit der Spätschicht am morgigen Freitag endet vorerst die Produktion. Können Sie sich vorstellen, was das mit den Menschen dort macht, so kurz vor Weihnachten? Seit über 100 Jahren werden in Wilkau-Haßlau Süßwaren produziert, zunächst unter dem Namen des Gründers Oswald Stengel, dann zu DDR-Zeiten als VEB Süßwarenfabrik Wesa – also Westsachsen –, seit 1990 dann als Haribo-Wesa GmbH. Das ist viel Wandel. Vieles ist aber auch gleichgeblieben: die hohe Qualität der Produkte, die Einsatzbereitschaft der zuletzt 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Identifikation mit dem Arbeitgeber und natürlich die Bedeutung des Werkes für die Region, sowohl wirtschaftlich als auch – und vor allem – für das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein. Von 1990 bis jetzt war und ist Haribo in Wilkau-Haßlau eine Erfolgsgeschichte. Es war und ist Aushängeschild für gelungenen wirtschaftlichen Wandel, hat für Arbeit in der Region gesorgt und hat sicher auch den ostdeutschen Markt für Haribo geöffnet. Mit der Produktion wurde zudem auch immer Geld verdient; gut so. Bis zuletzt war der Produktionsstandort Wilkau-Haßlau auch profitabel. Umso nachvollziehbarer ist daher das Unverständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Entscheidung, das Werk nun zu schließen. Zu kritisieren sind vor allem die Art und Weise, wie diese Entscheidung kommuniziert und begründet wurde. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Anfang November in einer kurzen Ansprache zu verkünden, dass sie zum Jahresende ihre Arbeitsplätze verlieren, ist nicht nur nach 30 Jahren vertrauensvoller Zusammenarbeit ein Unding, und – Entschuldigung, Herr Präsident – es ist einfach auch eine Sauerei. ({0}) Wenn ein wirtschaftlich erfolgreiches Unternehmen dies nach 30 Jahren mit der Begründung tut, dass der selbstgeführte Standort für die Anforderungen des Marktes nicht die notwendige Flexibilität aufbringt, muss man sich schon fragen, warum die unternehmerische Verantwortung bei den Investitionsentscheidungen in den letzten Jahren nicht wahrgenommen wurde. Im 30. Jahr der Wiedervereinigung geht die Bedeutung dieser Entscheidung aber auch viel weiter. Ostdeutschland ist leider in vielen Fällen noch immer lediglich die verlängerte Werkbank der alten Bundesländer. Produktionsstandorte sind eben oft noch immer nur Außenstellen oder Filialen. ({1}) Eines, Herr Dehm, ({2}) darf man aber auch nicht verkennen: In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird es immer harte unternehmerische Entscheidungen geben. Betriebsschließungen gibt es auch im Saarland oder in NRW – und eben auch im Osten. Haribo ist nur ein Beispiel. Die geplante Schließung 2021 von Majorel-Standorten, einem der größten Callcenter-Betreiber in Chemnitz, Neubrandenburg, Wismar und Schwerin mit über 1 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und auch von MAN in Plauen sind weitere. Wir müssen aber gerade jetzt aufpassen, dass nicht manches von dem wegbricht, was in den vergangenen Jahrzehnten mühsam aufgebaut wurde. Eines ist aber auch klar, Frau Zimmermann: Wir befinden uns nicht in der Nachwendezeit. Wir sind nicht im Jammertal, ({3}) auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der Linken gerne so tun. Der Osten ist wirtschaftlich stärker geworden. Sachsen hat sich als Industrieregion im wiedervereinten Deutschland etabliert. Die Arbeitslosenzahlen haben sich weit mehr als halbiert, die Wirtschaftsleistung weit mehr als verdoppelt. Das gehört zur Wahrheit dazu. Die sich nun stellenden Herausforderungen werden wir daher nicht damit lösen können, dass wir immer nur auf die Ungerechtigkeiten von damals verweisen, sondern indem wir lösungsorientiert in die Zukunft blicken. Für das Werk in Wilkau-Haßlau bedeutet das, dass es eine klare Perspektive für die Beschäftigten braucht, mit der die Arbeitsplätze erhalten werden. Die sächsische Landesregierung, Gewerkschaften und die Arbeitnehmervertretungen sind hier auf einem guten Weg; aber sie brauchen und haben unsere Unterstützung. ({4}) Dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun eine Beschäftigungsgarantie bis zum 31. März 2021 sowie einen Sozialplan haben, ist dabei ein erster Erfolg. Haribo ist damit aber nicht aus der Verantwortung entlassen. ({5}) Haribo ist in der Pflicht, eine tragfähige Nachfolgelösung und einen seriösen Interessenten und Investor zu finden. Es gibt diese Interessenten. Haribo darf nicht versuchen, sich mit Abfindungen oder Zahlungen an die Stadt von der Verantwortung für den Abbau von Arbeitsplätzen freizukaufen. Haribo muss seine unternehmerische Verantwortung wahrnehmen. Deswegen kann und muss ich hier zum Schluss Thomas Gottschalk zitieren, der im November gegenüber dem Kölner „Express“ sagte – Zitat –: Wenn man sich auf die Fahne geschrieben hat: „Haribo macht Kinder froh, und Erwachsene ebenso“ muss man das auch als Arbeitgeber ernst nehmen. Zitat Ende. ({6}) Ihnen allen hier schöne Feiertage! Passen Sie auf sich auf, und bleiben Sie vor allen Dingen gesund! ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste: für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Jürgen Martens. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schließung eines Werkes, egal wo sie passiert, ist immer ein Einschnitt. Sie bedeutet immer einen Verlust, etwa an Kaufkraft für die örtliche Wirtschaft, an Gewerbesteuereinnahmen, aber auch – und das ist das Wesentliche – einen Verlust an Arbeitsplätzen für die Betroffenen. Und es ist völlig gleichgültig, ob das in Sachsen passiert, in Nordrhein-Westfalen oder in Schleswig-Holstein. Was man erwarten kann, ist, dass der Unternehmer seine Entscheidung transparent macht und sie erklärt. Hier kam als Erklärung das Argument, Zwickau sei von Grafschaft bzw. Bonn 500 Kilometer und damit zu weit entfernt. – Entschuldigung, ein Unternehmen, das stolz darauf ist, in über hundert Länder zu exportieren, nichts dagegen hat, wenn seine Produkte in der Antarktis und im Weltall verzehrt werden, entdeckt auf einmal, nach 30 Jahren Produktion, dass ihm 500 Kilometer von Bonn nach Zwickau zu weit sind? Etwas mehr Ernsthaftigkeit in der Kommunikation hätte man von Haribo wirklich erwarten können, meine Damen und Herren. ({0}) Da überrascht es nicht, wenn sich die Lokalpolitiker und vor allem die Arbeitnehmer ein gutes Stück verschaukelt fühlen. Aber das ist – da bin ich völlig anderer Auffassung als meine Kollegin Zimmermann – nicht das Regelbeispiel, weder für den Osten und erst recht nicht für unsere Region Zwickau. ({1}) Die Region Zwickau ist eine der stärksten und am dichtesten besiedelten Regionen Ostdeutschlands. Es ist eine der wirtschaftlich stärksten Regionen, nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Ostdeutschland. Wir haben eine Arbeitslosenquote von 5,5 Prozent; das ist vergleichbar mit der im Westen. Allein im Kreis Zwickau ist das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe der Wirtschaftsleistung, von insgesamt 3 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf fast 10 Milliarden Euro 2019 angewachsen; es hat sich also mehr als verdreifacht. Das BIP pro Kopf hat sich von knapp 20 000 Euro auf 62 000 Euro ebenfalls verdreifacht. Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse ist gestiegen, von 2005  112 000 auf 2018  126 000. Das ist kein Misserfolg. Darauf kann man stolz sein. Ich wäre froh, wenn Sie auch ein bisschen mehr an diesem Stolz teilhaben könnten. Es geht nämlich um die Gesamtleistung dessen, was in unserer Region erreicht worden ist. Natürlich ist es schlimm, wenn ein Unternehmen geschlossen wird. Ein Unternehmen – das muss man auch sagen – ist mehr als nur eine Produktionsstätte. Ein Unternehmen zu führen, heißt auch, dass der Unternehmer Verantwortung gegenüber seinen Arbeitnehmern hat. Und ob man dieser Verantwortung hier ausreichend nachgekommen ist, da kann man mit Recht unterschiedlicher Meinung sein, meine Damen und Herren. Vor allen Dingen sollten Sie aber auch eines bedenken, Frau Zimmermann: Sie haben hier davon gesprochen, das sei ein Beispiel dafür, dass der Osten verkauft und ausgepresst werde. Haben Sie gemerkt, wo der Zuspruch herkam, welche in diesem Haus sich daraufhin mit Ihnen verbünden? ({2}) Diejenigen, die vom Todesstoß für die mitteldeutsche Wirtschaft, vom Opfern der Arbeitsplätze auf dem Altar eines Coronakapitalismus sprechen. ({3}) Merken Sie, was Sie da tun? ({4}) Ihre Taktik der Spaltung zwischen Ost und West dient nicht Ihnen, sie dient nicht den Betroffenen, ({5}) sie dient höchstens einigen, von denen Sie wahrscheinlich am wenigsten wollen, dass sie davon profitieren. ({6}) Zusammengefasst, meine Damen und Herren. Die Schließung des Haribo-Werkes ist eine Herausforderung für die Politik in der Region. Ich habe mit dem Geschäftsführer telefoniert, und er hat mir versichert, dass ernsthaft verhandelt wird, um eine Nachfolgelösung zu finden, damit die Arbeitsplätze nach Möglichkeit in der gleichen Branche erhalten bleiben. Darum sollten wir uns bemühen. Die Geschichte der ganzen Region zeigt, dass mit solchem Bemühen und ehrlicher Anstrengung sehr, sehr viel erreicht werden kann. Daran sollten wir weiter arbeiten, statt, wie Sie es machen, zu versuchen, das alles herunter- und schlechtzureden. Das war mein Beitrag für jetzt und heute. Ich wünsche uns allen ein friedliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein hoffentlich gesünderes Jahr. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort die Kollegin Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde jetzt schon viel über Haribo gesagt. Vielem kann ich mich anschließen, ebenso wie mein Kollege Wolfgang Wetzel aus Zwickau, der sich vor Ort zu dem Thema einmischt und an der Seite der Betroffenen steht. Die Schließung des Werkes jetzt, zu Coronazeiten – und dann auch noch so kurz vor Weihnachten –, ist außerordentlich kalt und situationsblind. Dass sie auch noch im Jubiläumsjahr – 30 Jahre Wiedervereinigung – stattfindet, macht dieses Signal umso verheerender. Aber ich möchte den Blick an dieser Stelle etwas weiten; denn der Fall Haribo ist leider nur ein weiteres Beispiel für eine Wirtschaftsförderpolitik, die eben leider nicht zum Erfolg führt. Bei Haribo im Speziellen trifft diese Politik zusätzlich noch auf Missmanagement und kurzsichtige Profitgier. Haribo schließt dieses Werk, obwohl das Unternehmen 2019 seinen Umsatz um 3 Prozent steigern konnte. Allerdings konnten die Mitbewerber Storck und Katjes die Umsätze im gleichen Zeitraum deutlich stärker steigern. Das gilt für Katjes ganz besonders: Sie punkten zum Beispiel mit ihren veganen Fruchtgummis und werben mit tierfreier Herstellung. ({0}) Haribo hingegen hat in der Vergangenheit Trends verschlafen. Selbst den Klassiker „Goldbär“ hat man vernachlässigt. Die Leidtragenden dieser Fehlentscheidungen sind jetzt die Mitarbeiterinnen in Sachsen. Vielleicht hätte es geholfen, wenn man die Mitarbeiterinnen bzw. deren Vertretung frühzeitig und auf Augenhöhe mit in Entscheidungsprozesse einbezogen hätte. Vielleicht wären so Konzepte entstanden, die den Standort gerettet und Haribo insgesamt gestärkt hätten. ({1}) Das war übrigens bei anderen Unternehmen in ähnlichen Situationen der Schlüssel zum Erfolg. Aber das ist nur die halbe Geschichte. 1990 kaufte der westdeutsche Spitzenreiter im Fruchtgummisegment den ostdeutschen Konkurrenten auf und erhielt dafür Fördermittel. Nun schließt man dieses Werk aus Effizienzgründen. Man verlegt die Produktion zurück nach Westdeutschland. Gleichzeitig aber baut man ein Werk in den USA auf, in Wisconsin, und erhält dafür übrigens 18 Millionen Euro an Fördermitteln. Man zieht, könnte man gemeinerweise sagen, praktisch dem nächsten Fördertopf hinterher. Dafür ist der Fall Haribo leider exemplarisch. Er zeigt noch mal mit aller Härte: Deutschland braucht eine andere Wirtschaftsförderung, Deutschland braucht eine andere Wirtschaftspolitik; ({2}) denn die Hoffnung, dass große Konzerne für Ostdeutschland die Heilsbringer sein werden, ist schon lange Geschichte. Wir müssen uns ernsthaft fragen: Warum werden die Betriebe im Osten weiterhin nur als die verlängerte Werkbank angesehen, die man dann leicht schließen kann? Diese Betriebe werden als eine variable Erweiterung der Produktion gesehen. Das ist keine langfristige und verlässliche Investition in die Region. Hier brauchen wir ein Umsteuern. Was wir brauchen, ist die Stärkung der ansässigen Unternehmen in diesen strukturschwachen Regionen, sodass sie im Wettbewerb am Markt bestehen können. Das wäre nachhaltiger als ortsfremde Ansiedlung; denn diese ansässigen Unternehmen haben eine örtliche Bindung. Sie kennen ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht nur aus den Personalakten, sondern ganz persönlich. Sie unterstützen Kulturvereine und Sportvereine vor Ort. Die Kinder der Chefin gehen mit den Kindern der Arbeiterinnen gemeinsam zur Schule. Das schweißt zusammen, und dann ist ein solches Handeln, wie wir es jetzt bei Haribo sehen, nicht vorstellbar. Das ist im Übrigen ein Erfolgsrezept, unter anderem in Baden-Württemberg: die kleinen Unternehmen vor Ort zu stärken, damit sie wachsen können; aber sie sind so verankert, dass sie eben nicht jedem Förder-Euro hinterherziehen. ({3}) Das brauchen wir in der Wirtschaftspolitik. Wir als Grüne haben dazu auch schon mehrere Vorschläge gemacht, zum Beispiel Innovationsförderung für kleine Unternehmen, sodass sie ihre Produktion weiterentwickeln und möglicherweise auch umstellen können. Wir brauchen die Stärkung von regionalen Wertschöpfungsketten, damit die Gewinne in den Regionen bleiben. Wir brauchen zudem Unterstützung bei der Markteinführung von Produkten. Die Entwicklung schaffen viele Unternehmen selbst, aber die Markteinführung ist insbesondere für kleine Unternehmen häufig der Knackpunkt. Hilfreich wären auch ein leichterer Zugang zur GRW-Förderung und die Verknüpfung von traditionellen Wirtschaftszweigen in den Regionen mit neuen Technologien und Clusterbildung. All das sind Erfolgsrezepte, wie wir sie schon in verschiedenen Regionen gesehen haben. Hierzu gehört auch eine Unterstützung für Gründerinnen in strukturschwachen Regionen; wir Grünen haben das übrigens mal „Regionalbonus“ genannt. Insgesamt sollten wir einen Blick auf unsere Wirtschaftsförderung richten und nicht mehr so sehr auf Ansiedlungen setzen, sondern das Vorhandene vor Ort stärken und wachsen lassen, Innovationen vor Ort fördern und Clusterbildung unterstützen. Verantwortungsvolle Unternehmen in den Regionen haben es verdient, unterstützt zu werden, gerade jetzt in Zeiten von Corona. Das gilt für die Großen, aber das gilt ganz besonders für die kleinen Unternehmen vor Ort. Mit diesen letzten Sekunden meiner Redezeit möchte ich Ihnen eine besinnliche, gesunde Weihnacht wünschen, in der Hoffnung, dass wir irgendwann im nächsten Jahr wieder zu einer gewissen Normalität übergehen können. Bleiben Sie gesund! Bis nächstes Jahr! ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Wie häufig in diesen Debatten hat bei der Linken der Jammerton den neuen Kammerton definiert. ({0}) Sie nutzen hier eine Werksschließung, wovon es übrigens viele in ganz Deutschland gibt. Sie haben ja keine Werksschließung in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen ausgesucht, sondern Sie nutzen bewusst eine Werksschließung in Sachsen, um diese zu instrumentalisieren. Ich gebe Ihnen auch den Beweis dafür. Das zeigt sich, wenn man sich anschaut, welche Stimmung Sie vor den Toren von Haribo machen und zu was Sie da eigentlich aufrufen. Ich zitiere: Es geht nicht um den Konflikt zwischen Ost und West, sondern zwischen Besitzern der Produktionsmittel und Beschäftigten. ({1}) – Und Sie klatschen auch noch. ({2}) Sie stimmen vor den Konzerntoren ein Lied an: „Stille Nacht, streikende Nacht, wir pfeifen auf die Gnade des Herrn und übernehmen den Haribo-Konzern“. ({3}) Das ist Ihr Niveau als Streit- und als Spaltpilz dieser Gesellschaft. ({4}) Sie sind mitnichten an dem Wohl der Beschäftigten interessiert. Ihnen geht es darum, unsere Gesellschaft, unsere soziale Marktwirtschaft zu überwinden. Das ist Ihr eigentliches Ziel. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie ehrlich gewesen wären in dieser Debatte, ({6}) Frau Zimmermann, dann hätten Sie die Debatte geführt, als Haribo das Werk in Bayern geschlossen hat, und nicht erst dann, als das Werk in Sachsen geschlossen wurde. Das ist die Wahrheit. ({7}) Ihnen geht es also mitnichten um Haribo. Ihnen geht es mitnichten um die Beschäftigten, sondern um die Überwindung unserer sozialen Marktwirtschaft. Und wir sagen als Unionsfraktion ganz klar: Wir stehen gegen Enteignung, wie Sie das hier vorschlagen und beklatschen. Wir wollen Konzernen, Unternehmen, Mittelständlern keine Vorgaben machen, wo sie vielleicht besser wirtschaften können. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive kann man den Schritt von Haribo sogar nachvollziehen; ({8}) denn die verbleibenden vier Werke von Haribo befinden sich alle in einem Radius von 100 Kilometern um den Ort Grafschaft in Nordrhein-Westfalen, um die Logistik des Konzerns besser ausnutzen zu können, um weniger Verkehr auf die Straßen zu bringen und um sich stärker Synergien und wettbewerbstechnische Möglichkeiten zunutze zu machen. ({9}) Wir sehen also, dass Sie mit Ihren Vorschlägen aus der Mottenkiste à la VEB Haribo eher noch die 3 000 weiteren Beschäftigten des Konzerns gefährden würden, als die Zukunft zu sichern. ({10}) Unser Dank gilt hier ganz besonders zum einen dem Wahlkreisabgeordneten Carsten Körber und zum anderen dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer; denn die beiden arbeiten an der Zukunftsperspektive vor Ort und an der Zukunftsperspektive für die Beschäftigten. ({11}) Was ist die Zukunftsperspektive? Erstens: zu schauen, wie Gewerbesteuerausfälle für die Kommune reduziert werden können. Für die nächsten Jahre gibt es eine Lösung, damit Gewerbesteuerausfälle kompensiert werden. Zweitens: eine sozialverträgliche Lösung zu finden, auch im Einvernehmen mit der Gewerkschaft. Die Lösung, die hier präsentiert wurde: ein umfangreiches, millionenschweres soziales Paket, das geschnürt wurde, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch in der Zeit nach Weihnachten eine Möglichkeit zu geben. Drittens: eine Perspektive, wie man mit einem der vier möglichen Interessenten den Standort retten kann. Das ist Konstruktivität, und nicht eine solche Spaltpilzargumentation, wie Sie sie hier in die Debatte einbringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur Ehrlichkeit in der Debatte gehört auch, dass ich von den Linken noch nie Positivbeispiele dazu gehört habe, wo sich gerade im Osten die Wirtschaft in eine ganz andere Richtung entwickelt hat, nämlich in eine positive. ({12}) Kein Wort von Ihnen dazu! Keine Aktuelle Stunde dazu, dass beispielsweise Tesla 12 000 neue Arbeitsplätze schafft mit der größten Batteriefabrik der Welt in Brandenburg. Kein Wort dazu, dass VW den größten Strategiewechsel in der Geschichte eingeleitet hat, indem in Zwickau der Grundstein für die Produktion des VW ID.3 gelegt wurde. Kein Wort dazu, dass in Meerane, woher der Kollege stammt, die Akkuserienproduktion noch mal 1 000 neue Jobs bringt. Kein Wort von Ihnen dazu, dass BASF sein Prestigezentrum für die Batteriekomponenten nicht nach Baden, sondern nach Brandenburg verlagert. Kein Wort von Ihnen, dass BMW die E-Auto-Produktion in Leipzig aufbaut oder das chinesische Batterieunternehmen CATL in Thüringen eine Produktionsstätte aufbaut. ({13}) Kein Wort von Ihnen dazu, dass die Agentur für Sprunginnovationen, bei der es darum geht, neue Geschäftsmodelle der Zukunft zu entwickeln, ebenfalls nach Leipzig geht oder dass es eine Fülle von Regionen gibt, die sich in der sozialen Marktwirtschaft nicht nur bewährt, sondern noch weiter gesteigert haben. Deswegen behalten wir den Kurs der Mitte in der sozialen Marktwirtschaft bei und vertrauen nicht auf die Streitpilzargumentationen der Ränder von Linken und AfD. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die AfD-Fraktion ist der Abgeordnete René Springer. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen: Der Fall Haribo ist nur ein Fall von vielen. Das Ganze muss man im größeren Kontext sehen, und der sieht so aus, dass wir derzeit nicht weniger erleben als die Vernichtung der Grundlagen der deutschen Wirtschaft durch diese Bundesregierung. ({0}) Die Fakten folgen. Wohin man blickt, macht sich – und das wird bei Ihnen im Wahlkreis nicht anders sein – bei Arbeitnehmern und Unternehmen dieses Landes Endzeitstimmung breit. ({1}) – Mit Sicherheit nicht wegen uns, sondern wegen Ihrer Politik. – Dass vor allem wegen Ihrer Politik Unternehmen, Arbeitsplätze und Fachkräfte ins Ausland abwandern, nehmen Sie höchstens noch mit medientauglicher Betroffenheit zur Kenntnis. ({2}) Nun schließt ein großes deutsches Fruchtgummiunternehmen sein Werk in Sachsen und macht zukünftig im US-Bundesstaat Wisconsin die Kinder froh. ({3}) Es ist dasselbe Unternehmen, das sich noch vor wenigen Jahren mit 2,6 Millionen Euro EU-Fördermitteln – und damit auch mit deutschen Steuergeldern – ein Werk in Ungarn bezuschussen ließ. Das ist nur einer von zahlreichen Fällen, in denen der deutsche Steuerzahler über seine Milliardenzahlungen an die Europäische Union die Abwanderung deutscher Arbeitsplätze und damit indirekt auch seine eigene Arbeitslosigkeit mitfinanzieren darf. ({4}) Meine Damen und Herren, Ihre Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist gerade in Ostdeutschland ein Totalversagen. In meiner Heimat Brandenburg plant thyssenkrupp rothe erde – man kann es den Medien entnehmen –, zum Ende kommenden Jahres sein Traditionswerk in Eberswalde zu schließen. Dem sehen Sie tatenlos zu, während Sie nur 50 Kilometer weiter südlich in Grünheide eine Fabrik des US-Konzerns Tesla mit bis zu 280 Millionen Euro subventionieren wollen. Um es klar zu sagen: Ich bin hocherfreut über jeden Industriearbeitsplatz in meiner Heimat. ({5}) Aber an diesem Beispiel ist zu erkennen, welchen Stellenwert heimische Unternehmen und heimische Beschäftigte bei Ihnen haben. ({6}) Bundesregierung und Europäische Union unter Kommissionspräsidentin von der Leyen zerstören in Ost und West aktiv die deutsche Automobilindustrie und damit, so Hans-Werner Sinn – den kennen Sie alle hier –, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Daimler lässt Motoren zukünftig in China bauen, und BMW stellt die Fertigung seiner Verbrennungsmotoren in Deutschland ein; sie werden künftig in Großbritannien gebaut. Auch die Zulieferindustrie hat bereits Zehntausende Menschen entlassen müssen und erwartet eine riesige Pleitewelle, im Westen und im Osten. Im thüringischen Nordhausen etwa verlieren zum Jahresende weitere 250 Menschen ihren Arbeitsplatz. Dort stellt der Autozulieferer Eaton seine Produktion ein und verlagert seine Fertigung nach Polen. Ihr sogenannter Aufbau Ost ist zu einem gigantischen Abbau Ost geworden. ({7}) Und nun gefährdet ein in virtueller Hinterzimmerkungelrunde unter Vorsitz von Merkel beschlossener Lockdown laut Handelsverband auch noch bis zu 250 000 Stellen im innerstädtischen Einzelhandel. Rund die Hälfte aller Gastrobetriebe ist von Insolvenz bedroht. Die Zahl der verdeckt überschuldeten Unternehmen könnte bis März auf bis zu 800 000 ansteigen. Auch die Lufthansa wird wegen Ihres Lockdowns rund 40 000 Menschen entlassen. Diese Katastrophe für die Arbeitnehmer haben Sie dann auch noch vom Steuerzahler mitfinanzieren lassen. Erst im Mai war die Fluglinie durch ein staatliches Hilfspaket von 9 Milliarden Euro gerettet und damit teilverstaatlicht worden. Hinzu kommt, dass schon heute infolge von Digitalisierung und Automatisierung in ganz Deutschland fast 8 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bedroht sind. Auch dazu gibt es von Ihnen kein Wort und schon gar keine vernünftige Politik. ({8}) Meine Damen und Herren, die Kernkompetenz dieser Regierung scheint nur noch darin zu bestehen, die deutschen Arbeitnehmer mittels Infektionsschutzgesetz zu entrechten und durch EU-Freizügigkeit, Coronakahlschlag und Zerstörung der Autoindustrie arbeitslos zu machen. Diese Bundesregierung löst keine Probleme; sie ist mit Abstand das größte Risiko für deutsche Beschäftigte und für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das hatte sich die Haribo-Geschäftsführung so gedacht: So kurz vor Weihnachten, während der Coronapandemie, still und leise, wird sich schon niemand groß darüber aufregen. – Falsch gedacht! Dank einer aktiven Belegschaft, eines wirklich umtriebigen Betriebsrates und der NGG vor Ort wird mittlerweile überall und auch hier darüber gesprochen. ({0}) Das Land Sachsen hat die Werbegeschenke, gefüllt mit Gummibärchen, lieber an Schulen verschenkt, als weiter mit Haribo-Gummibärchen zu werben. ({1}) Und als das ehemalige Werbegesicht, Thomas Gottschalk, sich dazu öffentlich geäußert und das gescholten hat, da war das Knallen dieser Ohrfeige wirklich bundesweit zu vernehmen. ({2}) Liebe Haribo-Geschäftsführung, so macht man das nicht! ({3}) Aber ich will mal einen Schritt zurückgehen, damit man die Aufregung über die Schließung des Kleinstwerkes von Haribo nachvollziehen kann; denn tatsächlich wird bei vielen angesichts der Schließung etlicher ostdeutscher Niederlassungen von westdeutschen Unternehmen doch ein bisschen die Erinnerung an die 90er-Jahre wach. Damals ist sehr vielen Kolleginnen und Kollegen nach jahrzehntelanger Sicherheit und nach einem Leben voller Arbeit und voller Leistung einfach der Stuhl vor die Tür gesetzt worden, und das hat sich für die wie ein Arschtritt angefühlt. ({4}) – Sorry, es lässt sich nicht feiner sagen. ({5}) Das hat vielen den Stolz genommen und auch manchen die Würde. Was ist dann passiert? Statt sich als Beschäftigte gegenseitig unterzuhaken, sich zu wehren, hat damals die Angst gesiegt. Da ist lieber eine Allianz mit dem Chef eingegangen worden. Die nachvollziehbare Denke war: Hauptsache, lieber Chef, mein Arbeitsplatz ist sicher. Dafür bin ich auch still und leise, und dafür fordere ich auch nichts. – Dieses weit verbreitete Phänomen führt mit dazu, dass es im Osten immer noch niedrigere Löhne gibt, schwächere Gewerkschaften, eine niedrigere Tarifbindung und auch eine niedrigere Kaufkraft. ({6}) Aber, liebe Leute, das hat sich geändert, und das sieht man auch an Haribo in Wilkau-Haßlau. Und die SPD steht an der Seite dieser mutigen Beschäftigten; denn es braucht immer noch Mut – gerade im Osten –, sich zu wehren und in der Art und Weise zu kämpfen, wie das die Kolleginnen und Kollegen dort tun. ({7}) Wir versuchen mit Gesetzen – das gestern beschlossene Arbeitsschutzkontrollgesetz ist eins von vielen –, dort zu unterstützen. Ich rufe den Beschäftigten in Ostdeutschland zu: Seid mutig! Das führt zu was! – In dem konkreten Fall führt es zu einem Sozialplan, einem ordentlichen, viel besseren als dem, den Haribo erst vorgelegt hat, immerhin zu einer zeitweisen Beschäftigungssicherung und zu jeder Menge so wichtiger Aufmerksamkeit. An die Adresse der Unternehmen sage ich: So, wie Haribo das gemacht hat, läuft das nicht mehr, liebe Leute. – Martin Dulig hat es auf den Punkt gebracht, als er gesagt hat: Der Osten ist nicht der Reservekanister des Westens. – Wir sind ein geeintes Land. Eure Verantwortung, liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, gilt in Ost wie in West. ({8}) Haribo mag jetzt glauben: Wir haben ja jetzt was gemacht; die Weihnachtsruhe kommt ja jetzt. – Nein, wir schauen da weiter ganz genau hin. Es wäre am besten, den Schließungsbeschluss rückgängig zu machen, keine Frage. Aber selbst wenn das nicht passiert, wollen wir sehen: Wer sind denn diese potenziellen Käufer, die jetzt genannt sind? Und wir werden genauer hinschauen, dass die Beschäftigten in tarifgebundene neue Beschäftigung kommen. ({9}) Es geht nicht um eine Abfindungshöhe. Es geht um gute tarifgebundene Arbeitsplätze. Aber in der Tat: Weihnachten steht vor der Tür, und der Weihnachtsmann ist ein Roter. Wenn der Weihnachtsmann blau ist, ist das für keinen gut. ({10}) Der Weihnachtsmann ist ein Roter, und deswegen haben wir in diesem Jahr viele Gesetze auf den Weg gebracht, um Beschäftigte zu schützen – das verbesserte Kurzarbeitergeld, ein Arbeit-von-morgen-Gesetz, das Arbeitsschutzkontrollgesetz –, und im Geschenkesack ist noch jede Menge Respekt und vor allen Dingen Mut für die Beschäftigten, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in diesem Land einsetzen, und zwar im ganzen Land. ({11}) Die SPD steht an eurer Seite. Frohe Weihnachten und Glück auf! ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt kommt der Abgeordnete Matthias Höhn, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man so spät in einer Debatte das Wort bekommt, dann hat man ja die Gelegenheit, auf das eine oder andere zu reagieren, und das will ich tun. Herr Martens, Sie haben uns vorhin mehr oder weniger mahnend gefragt, ob wir noch merken, was wir bei der Debatte, die wir hier führen, als Linke tun, ({0}) und haben in Richtung AfD gezeigt. Herr Martens, ich würde Sie gerne fragen, ob Sie merken, was Sie unterlassen. Ich würde Ihnen gerne sagen, dass es aus meiner Sicht zutiefst die Aufgabe von demokratischen Parteien ist, soziale Ängste und soziale Missstände zu thematisieren, Herr Martens. ({1}) Wenn wir das nicht mehr tun, dann überlassen wir denen das Feld, Herr Martens, die wir gemeinsam bekämpfen wollen. ({2}) Jetzt komme ich zu den Kollegen der Union. Dort wird in ein ähnliches Horn geblasen: Die Linke spaltet. Die Linke redet den Osten schlecht. ({3}) – Ja, ja. – Liebe Kollegen, Sie reden die Lage schön, und ich würde bezweifeln, dass das gute Politik ist. Wenn Sie sich anschauen, wie das Vertrauen der Menschen in Ostdeutschland in Demokratie ist, wie das Vertrauen in politische Parteien ist, wie das Vertrauen in uns alle in Ostdeutschland ist, dann sollten Sie sich doch mal die Frage stellen, woher dieses massiv geschwundene Vertrauen kommt. Vielleicht, Herr Körber, vielleicht, Herr Hauptmann, hat es damit zu tun, dass den Leuten in den letzten 30 Jahren Dinge erzählt worden sind, die krass an der Realität vorbeigehen, weil die Bundesregierung die Lage einfach schönredet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dann will ich sagen, Herr Müller: Ich kann sehr vielem zustimmen, was Sie gesagt haben. Aber eine Bemerkung will ich in dieser Debatte heute auch machen – ich finde, dass gerade wir aus Ostdeutschland bei dieser Wortwahl auch irgendwann mal besser werden müssen –: Jedes Mal, wenn wir eine Ostdebatte führen, findet sich irgendwer, der als Erster das Wort „jammern“ in den Mund nimmt. Ehrlich gesagt, finde ich das mittlerweile nicht mehr erträglich, ({5}) dass immer dann, wenn über ostdeutsche Probleme geredet wird, das Wort „jammern“ fällt. Ich kenne keine andere Debatte, wo wir über Missstände reden, bei denen wir miteinander etwas verbessern wollen, wo über Jammerei geklagt wird. Nur wenn wir über Ostdeutsche reden, reden wir über die Jammerossis. ({6}) – Herr Lambsdorff, melden Sie sich doch bei Themen, wo Sie Ahnung haben. Die FDP ist mit dem Thema Ostkompetenz bisher nicht aufgefallen. ({7}) Ich finde, dass wir als Ostdeutsche – es ist über Selbstbewusstsein geredet worden – doch insgesamt fragen sollten: Warum fangen wir denn jetzt an, über Jammerei zu reden? Nein, es ist auch Aufgabe dieses Hauses, über Probleme zu reden und sie nicht zu diskreditieren, Herr Müller, bei allem, wo ich Ihnen zustimme. ({8}) Jetzt haben Sie gesagt: Der Osten ist wirtschaftlich stärker geworden. – Na ja, Herr Müller. Schauen wir mal in den letzten Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit: Das wiederholt sich ja mehr oder weniger jährlich. Schauen wir mal auf die Entwicklung des BIP in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland und zum bundesdeutschen Durchschnitt. Was sehen wir denn da, Herr Müller? Wir sehen, dass es von 1990 bis 1995 einen starken Anstieg gab und wir de facto seit 1995 eine Seitwärtsbewegung haben und kein Zusammenwachsen von Ost und West in der Wirtschaftsfrage. Da sind wir an dem Punkt, Herr Körber: Reden wir die Lage schlecht? Sagen, was ist, Herr Körber, das wäre mal eine Sache. Wir haben keinen wirtschaftlichen Aufholprozess des Ostens. Das muss ausgesprochen und das muss geändert werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9}) Die letzte Bemerkung, die ich machen will, betrifft auch das Thema Gewerkschaften. Es ist in der Tat so – ich glaube, das wird hier niemand bestreiten –, dass wir immer noch eine große Lohnlücke zu beklagen haben, und es ist in der Tat so, dass wir in den letzten Jahren ein massives Problem hatten: dass die Gewerkschaften nicht mobilisieren konnten, dass sie vor Ort nicht verankert waren. Den Schlaubergern von der AfD sage ich: Herr Pohl, wenn Sie eine Ahnung von dem hätten, worüber Sie reden, dann wüssten Sie, dass sich genau das geändert hat und dass die reale Lage in Ostdeutschland eine völlig andere ist und dass wir allein im Jahr 2020 mehr Arbeitskämpfe hatten als in den 25 Jahren davor. Alle, die etwas dafür tun wollen, um an der Situation in Ostdeutschland etwas zu verbessern und Löhne zu steigern, sollten Gewerkschaften unterstützen und nicht, wie die AfD es tut, bekämpfen. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Höhn. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gern dort ansetzen, wo Herr Höhn aufgehört hat: sagen, was ist, und einfach mal ein paar Zahlen einführen. Wir hatten im Jahr 2005 in Sachsen – also in dem Bundesland, wo auch Haribo einen Sitz hatte – eine Arbeitslosenquote von 18,3 Prozent. Dazu gab es auch eine ganze Menge ABM-Maßnahmen, von denen wir heute gar nicht mehr alle kennen. Wir sind jetzt bei 6 Prozent. Es gab also einen Rückgang um zwei Drittel bei den Arbeitslosenzahlen. Ich finde, das ist ein riesengroßer Erfolg, der da in den letzten Jahren stattgefunden hat. Ich will auch ganz deutlich sagen: Das hätte niemand gedacht. Wer sich hier 2005 hingestellt und gesagt hätte: „Es wird mal in Ostdeutschland eine Arbeitslosenquote geben, die nahe der Vollbeschäftigung liegt“, der wäre ausgelacht worden. Jetzt haben wir diese Situation. Ich will auch sagen: Das haben wir nicht dem Weihnachtsmann zu verdanken. ({0}) Das haben wir engagierten Arbeitnehmern zu verdanken. Das haben wir engagierten Unternehmern zu verdanken, die hierbei Eigeninitiative entfaltet haben. Aber wir haben es auch der Bundesregierung zu verdanken – der von Helmut Kohl in den 90er-Jahren –, die eine gute Wirtschaftspolitik angegangen ist, die einfach grundlegende Entscheidungen richtig getroffen hat, sodass im Osten Deutschlands blühende Landschaften entstanden sind. ({1}) Jetzt ist es traurig – keine Frage –, dass Haribo geht. Aber schauen wir uns an, wie die Lage ist: Es gibt vier Unternehmen, die Interesse haben, diesen Standort zu übernehmen, weil sie sehen: Das größte Potenzial, das dieser Standort hat, sind die qualifizierten Mitarbeiter. – Das ist doch eine positive Nachricht, die zeigt, was es in den 90er-Jahren eben nicht gab. Da gab es kein oder ganz wenige Unternehmen, die gesagt haben: Ich möchte dort jetzt unbedingt einsteigen. – Die Lage ist vollkommen anders. Diesen fundamentalen Wandel sieht man auch, wenn man sonst mal mit Unternehmern oder mit Arbeitnehmern spricht. Wie war es denn gewesen vor 20 Jahren? Wenn da ein Arbeitnehmer gekommen ist und zum Beispiel gesagt hat: „Ich möchte mehr Lohn haben“, dann hat der Arbeitgeber gesagt: Vor meiner Tür stehen noch 20 andere, die deinen Job machen wollen; du kannst gehen. – Wenn das jetzt ein Unternehmer sagen würde, dann würde da niemand mehr stehen, da gibt es niemanden mehr. Wie ist es denn jetzt bei den Ausbildungsmessen? Da ist es doch so, dass sich nicht ein Lehrling bei einem Unternehmen bewirbt, sondern dass sich dort Unternehmen bei Lehrlingen bewerben. Das ist die Situation, die wir mittlerweile auf dem Arbeitsmarkt haben, und darüber freue ich mich. ({2}) Das heißt nicht, dass alles gut ist, keine Frage; wir liegen bei den Gehältern leider noch zurück. Ich wünsche mir mehr tarifliche Bezahlung, gerade im Osten. Wir brauchen mehr Tarifverträge; das ist ganz, ganz wichtig. Ich wünsche mir natürlich auch mehr Unternehmenszentralen, die im Osten sind. Jetzt muss man sagen: Wir hätten natürlich mehr gehabt. Wir hätten zum Beispiel Audi als Firmensitz bei Zwickau, 5 Kilometer von Wilkau-Haßlau entfernt, wenn Sie nicht alle Unternehmer zu der Zeit, wo Sie regiert haben, außer Landes getrieben hätten. ({3}) Wir haben also – das kann man noch mal sagen – eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Wir können stolz drauf sein, dass das so ist. Es ist nicht so, dass wir keine Probleme haben. Es gibt im Übrigen auch noch ein paar andere Zahlen, die man sich mal anschauen kann, Stichwort „Wanderungsverluste“. Natürlich haben wir die ersten 25 Jahre nach der deutschen Einheit sehr viele Menschen verloren, die in den Westen gegangen sind, um dort zu arbeiten. Das hat uns geschmerzt. Jetzt haben wir seit 2014 den entgegengesetzten Trend. Wir haben den entgegengesetzten Trend: Wir haben mehr Menschen, die von Westen in den Osten gehen. Darüber freue ich mich, dass das so ist: dass wir Wanderungsgewinne haben. Das sind die Zahlen seit 2014. ({4}) – Das mag Ihnen bei den Linken nicht gefallen. Aber das ist die Realität; das besagt die Statistik. Das zeigt, dass auch der Wirtschaftsstandort, der Lebensstandort Ostdeutschland attraktiv ist. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass das so bleibt. Ich will nur ganz deutlich sagen, was Helmut Kohl uns gesagt hat: Es wird „blühende Landschaften“ geben. Jeder, der mit offenen Augen durch Ostdeutschland geht, der sieht bei allen Problemen, die es gibt: Wir haben blühende Landschaften. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Krauß. – Nächster Redner ist der Kollege Frank Junge, SPD-Fraktion. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn noch mal ausdrücklich unterstreichen: Der ostdeutsche Arbeitsmarkt ist nicht im Niedergang begriffen. Ich sage das so ausdrücklich, weil Sie, liebe Fraktion Die Linke, im Titel der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde – „Niedergang des ostdeutschen Arbeitsmarktes stoppen“ – bewusst den Eindruck vermitteln wollen, dass das so sei. Das ist nicht so, ({0}) und das will ich auch noch mal an einigen Zahlen deutlich machen. Die Wirtschaftskraft und das Pro-Kopf-Einkommen haben sich seit der Wende verdoppelt. Das BIP liegt gegenwärtig bei 75 Prozent Westniveau. Die Arbeitslosigkeit lag vor Corona bei 6,4 Prozent, auf einem historischen Tiefststand. Wenn man auch noch mal darauf schaut, dass die Arbeitslosenquote 2005 im Vergleich zum Westen 10 Prozent auseinandergelegen hat, und wenn man sieht, dass das 2020 nur noch 2 Prozent waren, dann kann hier keiner behaupten, im Osten wäre am Arbeitsmarkt der Teufel los. Vielmehr zeigt sich: Hier sind richtige Entscheidungen getroffen worden, und diese Entscheidungen sind in die richtige Richtung entwickelt worden. ({1}) Ich sage das so ausdrücklich deshalb, weil Sie offenbar das Kalkül haben, das Thema „Haribo“ zu benutzen, um den Eindruck zu vermitteln, im Osten sei alles verloren. Dagegen können wir uns zu Recht wehren. ({2}) Dennoch bin ich weit davon entfernt – das will ich hier ebenfalls ausdrücklich sagen –, die Geschehnisse um Haribo schönzureden oder nicht ernst zu nehmen. Ich will damit auch zum Ausdruck bringen, dass wir hier zwar exemplarisch über Haribo reden, aber wir auch über Majorel, über MAN, über Mahle, über Continental und über Stena Line sprechen. ({3}) Das alles sind Beispiele von Unternehmen, die die Gelegenheit nutzen, sich aufgrund fragwürdiger Entscheidungen, wie ich finde, aus dem Osten zu verabschieden, ({4}) obwohl über Jahre hinweg dort Wertschöpfung betrieben worden ist und an Unternehmensgewinnen mitgearbeitet wurde. Das ist aus meiner Sicht verantwortungslos, sozialpolitisch untragbar und gesellschaftspolitisch äußerst fahrlässig. ({5}) Denn es spielt denen in die Hände, die dieses Thema bewusst politisch nutzen wollen, um es gegen die Menschen zu verwenden. ({6}) Es offenbart auch – das will ich ganz klar sagen – eine unternehmerische Rücksichtslosigkeit, auf dem Rücken der Beschäftigten solche Entscheidungen zu treffen und damit auch die Kommunen vor Ort mit den fatalen Kettenreaktionen im Stich zu lassen. Das hat aus meiner Sicht nichts mit verantwortungsbewusstem Unternehmerhandeln zu tun. Gleichzeitig will ich hier aber auch sagen, dass das Einzelfälle sind und dass damit nicht eine Gesamtsituation im Osten belegt werden kann. Diese Einzelfälle sind dennoch stark zu kritisieren. Was können wir tun? Das will ich hier auch ganz klar sagen: Wir können uns – erstens – an die Seite der Beschäftigten stellen, uns mit ihnen solidarisieren und all die Möglichkeiten, die wir als MdBs vor Ort haben, nutzen, um das Problem öffentlich zu machen. ({7}) Diesen öffentlichen Druck dürfen wir nicht unterschätzen; er ist unbedingt nötig. ({8}) Zweitens – das will ich auch ganz klar sagen – müssen wir im Rahmen einer guten Wirtschaftsförderung, einer guten Strukturpolitik alles dafür tun, nach wie vor ähnlich gut zu arbeiten, wie wir das bisher gemacht haben. Aus Kulissen, liebe Claudia Müller, wie dem ERP-Sondervermögen oder der GRW sind seit 1990 fast 100 Milliarden Euro in die Förderung des Ostens geflossen. Ohne diese Mittel wäre der Osten lange nicht dort, wo er jetzt ist. Unser Bemühen muss dahin gehen, diese Mittel weiter zu verstetigen, damit die entsprechenden Strukturschwächen weiter abgebaut werden können. Drittens – das erscheint mir an dieser Stelle mit der wichtigste Punkt –: Das wichtigste Instrument, solchen fragwürdigen Unternehmensentscheidungen wirksam entgegenzutreten und damit auch für die Interessen der Ostdeutschen einzutreten, sind starke Gewerkschaften und Betriebsräte. ({9}) Ich unterstreiche das ausdrücklich. Wo immer solche Arbeitnehmervertretungen den Arbeitskampf führen können, sind die Aussichten auf Erfolg wesentlich höher. Das beste Beispiel ist Görlitz – ich sage auch das ausdrücklich –; denn dort konnte der Schließung des Siemens-Dampfturbinenwerks auch durch den massiven Widerstand der Gewerkschaften Einhalt geboten werden. Das ist ein Punkt, den wir an der Stelle zur Kenntnis nehmen müssen. ({10}) Ich will zum Abschluss sagen: Wo immer wir Möglichkeiten haben, Gewerkschaften zu stärken, fängt das bei uns selbst an. Damit will ich auch einen frommen Wunsch zu Weihnachten verbinden: Neben einem besinnlichen Fest und dem Wunsch, dass Sie alle gesund bleiben, wünsche ich mir, dass Sie alle überprüfen, ob Sie schon in einer Gewerkschaft sind. ({11}) Wenn nicht, überlegen Sie mal, ob das nicht gut wäre. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Junge. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verlust des Arbeitsplatzes ist bitter. Das habe ich in meiner Biografie selbst erfahren dürfen, und ich kann mir zu gut vorstellen, wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Haribo in Wilkau-Haßlau im Moment fühlen. Aber – Entschuldigung, Frau Zimmermann – das, was Sie hier tun, ist, eine politische Debatte vom Zaun zu brechen – auf dem Rücken eines Familienbetriebes ({0}) und auf dem Rücken der Beschäftigten. ({1}) Frau Zimmermann, Sie sind nach meiner Kenntnis – korrigieren Sie mich, wenn es falsch ist – ehemalige hauptamtliche Gewerkschafterin, und Sie sind aktuell die DGB-Vorsitzende in Zwickau. ({2}) Da sollten Sie sich eigentlich auskennen mit der Frage, was Sozialpartnerschaft bedeutet, ({3}) was es bedeutet, wenn Unternehmensleitung und Betriebsrat eine Vereinbarung treffen. ({4}) Nichts anderes ist bei Haribo geschehen. Es gibt einen Sozialplan, einen sehr guten Sozialplan – die Kollegen haben das heute schon sehr eindrucksvoll hier dargelegt – mit großzügiger Unterstützung, der gemeinschaftlich zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat beschlossen und verabredet wurde. ({5}) Warum, liebe Frau Zimmermann, treten Sie hier also auf, führen eine Debatte vor der gesamten Bundesrepublik und führen damit all das ad absurdum, was Ihre Kolleginnen und Kollegen im Betriebsrat mit der Geschäftsleitung vereinbart haben? Liebe Frau Zimmermann, das ist nicht nur unprofessionell, das ist auch menschlich unterirdisch. ({6}) Das darf ich an dieser Stelle mal sagen. So stelle ich mir Sozialpartnerschaft nicht vor. Wenn wir ernst meinen, was wir sagen, nämlich dass wir Tarifbindung fördern wollen, dass wir Unternehmen unterstützen wollen, wenn wir aber auch leidenschaftliche Gewerkschafter sind, dann sollten wir uns auch an die Grundregeln des Alltäglichen halten. Noch etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen sowohl von der Linken als auch von der AfD: Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft und in keiner Planwirtschaft. Das heißt: Scheitern, Arbeitslosigkeit oder wiederum Unternehmensansiedlungen gehören zum Leben leider dazu. ({7}) So ist das. Ich möchte keine volkseigenen Betriebe, die subventioniert werden, die rote Zahlen schreiben und die man irgendwie versucht am Leben zu halten. Ich will eine gesunde Wirtschaft haben. Unsere Aufgabe als Parlament ist nicht nur, den Menschen einerseits die Kraft zu geben, mit solchen Lebenssituationen umzugehen, ihnen soziale Hilfestellung zu geben ({8}) und sie andererseits bei der Jobsuche zu unterstützen, sondern auch, den Unternehmen dahin gehend zu helfen, ihren unternehmerischen Erfolg, wo auch immer, bestmöglich – im besten Fall natürlich in Deutschland – umzusetzen. Das ist unsere Aufgabe. Es ist nicht unsere Aufgabe, eine unternehmerische Entscheidung, die ich persönlich schon nachvollziehen kann – in Zeiten der Globalisierung, der Digitalisierung geht es darum, effiziente Lieferketten herzustellen –, zu kommentieren und gar noch zu bewerten. Liebe Frau Zimmermann, unsere Betriebe brauchen keine Unternehmensberatung durch die Politik. Ich sage das, weil ich der Auffassung bin, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist, meine Damen und Herren. ({9}) Worum geht es, liebe Kolleginnen und Kollegen? Es geht bei diesen Diskussionen – wie wir sie damals schon mit Blick auf Siemens in Sachsen geführt haben – zunächst einmal darum, bei den Fakten zu bleiben: Benennen Sie die guten Ergebnisse des Sozialplans. Sagen Sie, dass das eine gemeinschaftliche Einigung von Geschäftsführung und Betriebsrat ist. Sagen Sie den Menschen, dass das auch eine unumstößliche Entscheidung ist. ({10}) Hier steht nicht zur Diskussion, ob Haribo am Standort in Wilkau-Haßlau bleibt; das steht gar nicht zur Debatte. Machen Sie den Menschen keine falschen Hoffnungen. Das ist das Schlimmste, finde ich, was Verantwortungsträger wie wir tun können. Wir müssen die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren und sie darin unterstützen, in ihrem Leben neue Wege zu finden. ({11}) Die Entscheidung von Haribo ist keine Entscheidung gegen den Osten; das darf an dieser Stelle auch gesagt sein. Natürlich kämpfen wir als ostdeutsche Kolleginnen und Kollegen für unsere Heimat. Wir wollen, dass dort was passiert. Wir wollen, dass Unternehmen dahin kommen. Wir können aber auch die Defizite – geschuldet durch 40 Jahre DDR – eben nicht einfach wegdiskutieren; das ist so. ({12}) Aber es ist unglaublich viel im Osten passiert. Wir haben eine super Identität entwickeln können. Wir haben ein neues Selbstbewusstsein entwickeln können. Bei uns gibt es viele Start-ups. Bei uns gibt es junge Unternehmensgründer. Bei uns gibt es einen Mittelstand, der sich immer mehr stabilisiert. Das, meine Damen und Herren, sollten wir weiterhin unterstützen. ({13}) Last, but not least, liebe Kolleginnen und Kollegen: –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die Entscheidung von Haribo ist nach wie vor eine Entscheidung für Deutschland gewesen. ({0}) In Rheinland-Pfalz entstehen nämlich mehr Arbeitsplätze, als jetzt verloren gehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch das ist unsere Aufgabe: dies als Deutscher Bundestag anzuerkennen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der wahre Charakter der Gesellschaft zeigt sich darin, wie sie ihre Kinder behandelt.“ Meine Damen und Herren, so hat Nelson Mandela es einmal treffend formuliert. Wir wollen, dass Kinder gut behandelt werden, dass Kinderrechte geachtet werden. Darin liegt der Grund für unseren Gesetzentwurf. Jedes Jahr kommen Kinder auf die Welt, meine Damen und Herren, deren biologisches Geschlecht nicht eindeutig weiblich und auch nicht eindeutig männlich ist – Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Um diese Kinder geht es uns. Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht dieser Kinder besser schützen. Noch immer gibt es in unserem Land Operationen an diesen Kindern, die vornehmlich ein Ziel haben: die Geschlechtszuordnung. Ein Kind, das körperlich nicht eindeutig weiblich, nicht eindeutig männlich ist, soll einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden. Diese Eingriffe mögen in bester Absicht erfolgen. Doch sie sind falsch; denn sie verletzen die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes für immer. ({0}) Denn so eine Operation, meine Damen und Herren, ist meistens nicht reversibel. Betroffene und Interessenverbände fordern deshalb zu Recht: Wir müssen die Selbstbestimmung dieser Kinder besser schützen. Genau dies tun wir mit unserem Gesetzentwurf. Für Kinder, die noch nicht selbst entscheiden können, stellen wir klar: Operationen mit dem alleinigen Ziel der Geschlechtsangleichung sind verboten – ohne Wenn und Aber. Darüber hinaus schreiben wir fest: Operative Eingriffe, die möglicherweise eine geschlechtsangleichende Wirkung haben, dürfen nur unter strengen Voraussetzungen vorgenommen werden. Kann der Eingriff aufgeschoben werden, bis das Kind selbst entscheiden kann, dann darf der Eingriff nicht stattfinden, im Interesse der Selbstbestimmung. Stattdessen dürfen solche Eingriffe zudem auch nur dann stattfinden, wenn das Familiengericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Eingriff dem Wohl des betroffenen Kindes am besten entspricht. Was dem Wohl des betroffenen Kindes am besten entspricht, ist in solchen sensiblen Fällen häufig keine einfache Frage, zumal für uns Juristinnen und Juristen. Auch diesem Umstand tragen wir Rechnung: Wir geben den Eltern die Möglichkeit, psychologische, medizinische, pädagogische Expertise heranzuziehen. Befürwortet eine interdisziplinäre, fachkundige Kommission den Eingriff, so wird vermutet, dass der Eingriff dem Wohl des Kindes entspricht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Junge oder Mädchen?“, das ist manchmal einfach die falsche Frage. Unsere Welt ist vielfältig. Das zeigen die Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Kinder haben ein Recht auf Achtung, auf Fürsorge und auf Schutz ihrer Selbstbestimmung. Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren, müssen wir übrigens auch Kinderrechte endlich ausdrücklich im Grundgesetz verankern. ({1}) Und aus diesem Grund, meine Damen und Herren, müssen wir Kinder besser vor geschlechtsangleichenden Eingriffen schützen. ({2}) Genau dies tut unser Gesetzentwurf. Er trägt ebendieser Vielfalt des Lebens Rechnung und sieht ein differenziertes Schutzkonzept vor. Das Signal, das von ihm ausgeht, ist klar: Wir wollen, dass unsere Gesellschaft den Charaktertest besteht, von dem Nelson Mandela – eingangs habe ich ihn zitiert – gesprochen hat. Wir wollen die Selbstbestimmung der Kinder achten. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Es geht um ein sehr privates und sensibles Thema. Wir sprechen hier über kleine und große Kinder, die als intersexuelle Menschen geboren wurden. Die angeborenen Geschlechtsmerkmale sind nicht eindeutig, oder es gibt sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsanteile. Die Frage stellt sich nun: In welchem Geschlecht soll das Kind aufgezogen werden, welche Geschlechtszuweisung ist die beste, und welche hormonellen oder gar chirurgischen Behandlungen sind sinnvoll oder notwendig? Wir alle haben bis zur siebten Woche der Embryonalphase Vorstufen beider Geschlechter, und die äußeren Organe entwickeln sich nun hin zum männlichen oder weiblichen Geschlecht. Doch manchmal macht die Natur einen Strich durch die Rechnung, und das Geschlecht ist eben nicht eindeutig. Dabei gibt es verschiedene Ursachen, wie genetische, Enzym- oder auch Stoffwechselstörungen. Für die Betroffenen allerdings, die Eltern und auch die Gesellschaft ist das eine sehr große Herausforderung. Seit dem 1. November 2018 besteht die Möglichkeit, dass für Intersexuelle im Geburtenregister der Eintrag „divers“ vermerkt werden kann; man bekennt sich quasi zu keinem der beiden Geschlechter. Doch ist das die Lösung? ({0}) Aus ärztlicher Sicht muss man wirklich differenzieren, zum Beispiel, welche Behandlungsmethoden für alle Betroffenen, vorrangig natürlich für das Kind, am besten sind. Es muss nicht in allen Fällen sofort operiert werden; aber offensichtliche Fehlbildungen sollten auch nicht aufgrund gesetzlicher Vorgaben öffentlich zur Schau gestellt werden. ({1}) Kinder und Jugendliche sollen möglichst normal aufwachsen, unabhängig von ihren körperlichen Unterschieden und Besonderheiten. Vor dem Hintergrund der psychologischen Stabilität des Kindes muss gelten: Elternfürsorge statt familiengerichtliche Bevormundung. Es ist hier ein Zusammenspiel aller Parteien und vor allen Dingen natürlich medizinische Aufklärung und Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden nötig. Zusätzlich muss auch mit den Erziehungskräften im Kindergarten oder in der Schule der Dialog geführt werden, um Ausgrenzungen und Benachteiligungen in der Gruppe zu verhindern. Zusammenfassend sage ich: Wir werden das im Ausschuss diskutieren; denn aus medizinischer Sicht kann dieser Gesetzentwurf die rechtlichen Belange nicht eindeutig klären, obwohl darin durchaus positive Aspekte angesprochen werden. Wir halten es zunächst für sinnvoll, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber anzustoßen, ({2}) um noch mehr Kennzahlen und daraus resultierende Ergebnisse zur Intersexualität zu erhalten. Danach sollte abschließend eine sowohl medizinisch als auch juristisch belastbare parlamentarische Entscheidung zu treffen sein. ({3}) Ich wünsche Ihnen allen schöne Weihnachten und besinnliche, aber auch nachdenkliche Stunden und Zeit für sich selbst, um für das nächste Jahr die richtigen Lösungen und Entscheidungen zu planen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schlund. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren heute über einen äußerst sensiblen und vielschichtigen Themenbereich. Der heute in erster Lesung vorliegende Gesetzentwurf soll zukünftig verhindern, dass in Deutschland geborene Kinder, die nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden können, durch Operation der inneren und äußeren Geschlechtsorgane angeglichen werden. Dies war häufig medizinisch nicht notwendig und geschah auf der Grundlage der damaligen medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und leider oft zum Leidwesen der betroffenen Kinder. Diese Praxis – so steht es auch im Koalitionsvertrag – wollen CDU/CSU und SPD nun beenden und feminisierende oder maskulinisierende Operationen nur noch in unaufschiebbaren Fällen, also in einem medizinischen Notfall, erlauben. Die Frage nach dem Geschlecht eines Kindes wird in der Regel, sofern die werdenden Eltern es wissen möchten, bereits während der Schwangerschaft, aber spätestens nach der Geburt augenscheinlich schnell beantwortet – für viele Menschen zweifellos einer der schönsten und emotionalsten Momente ihres Lebens. Doch es gibt Kinder, die gesund auf die Welt kommen, aber anatomisch nicht eindeutig in die Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ passen. Jeder, der das Wunder der Geburt schon einmal erleben durfte, der kann sich sicher sehr gut vorstellen, welche sorgenvollen Gedanken Eltern im ersten Moment durch den Kopf gehen müssen. Eine Betroffene schildert es in einem Zeitungsartikel so – ich darf das mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren –: Als mein Kind auf die Welt kam, wurde alles infrage gestellt, was ich bis dahin über Geschlechtsidentität wusste. Die Geburt meines Kindes hat mich in einen Zustand versetzt, den ich am ehesten mit einem Schock umschreiben würde; nicht weil ich dieses Kind nicht wollte – im Gegenteil –, sondern weil ich kein Denkschema für das hatte, was uns da neu begegnete. Ich konnte und kann ein Sein in dieser Welt ohne die Kategorie männlich-weiblich überhaupt nicht fassen. Für die meisten Eltern gehörte die unerwartete Konfrontation mit dieser Thematik zu einer der größten Herausforderungen überhaupt. Man kann nur erahnen, wie viele schlaflose Nächte und Sorgen damit einhergehen. Auch für uns Parlamentarier ist dies keine einfache Thematik. Wie stellt sich die medizinische bzw. wissenschaftliche Situation dar? Was dürfen Eltern entscheiden, und was müssen wir tun, um eine ungestörte Persönlichkeitsentwicklung in einer binär – männlich/weiblich – geprägten Gesellschaft zu gewährleisten? Betrachtet man die reinen Fallzahlen, ergibt sich leider kein einheitliches Bild. Das Bundesverfassungsgericht hat sich beispielsweise 2017 auf einen Fall auf 500 Neugeborene festgelegt. Die Fachliteratur nennt hier eine deutlich geringere Häufigkeit bei Neugeborenen von 1 : 5 500. Gelesen habe ich auch von 300 Geburten im Jahr, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können. Doch ganz egal, wie oft dies tatsächlich vorkommt, eines gilt: Intergeschlechtlichkeit als unnormal zu betrachten und auf operativer Basis zu ändern, damit will die Große Koalition mit diesem Gesetzentwurf Schluss machen. ({0}) Wir wollen die körperliche Integrität der Kinder und ihr Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung schützen. Ich hatte es eingangs bereits gesagt: Wir müssen dabei auch auf die Eltern schauen. Der Gesetzentwurf zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung schränkt die Rechte und Möglichkeiten der Eltern, in deren Obhut dieser kleine Mensch für die nächsten Jahre entlassen wird, ein. Herr Staatssekretär hat bereits darauf hingewiesen: Es gilt hier dasselbe – – ({1}) – Langsam, ich bin noch nicht so weit, Frau Rawert. Ganz ruhig! Ich bin noch nicht fertig. ({2}) Es gilt hier dasselbe wie in vielen Bereichen mit Kinderbezug: Auch hier muss das Kindeswohl – das, was für das Kind eben notwendig ist – im Mittelpunkt stehen. ({3}) Bei dieser jetzt anstehenden Diskussion, Herr Staatssekretär, sehe ich die Chance, dass wir im Dreiecksverhältnis zwischen den Ärzten, dem Familiengericht und dem Erziehungsrecht der Eltern in Form von Beratung durch das Familiengericht und die Medizin das Kindeswohl am ehesten ermitteln. Im Dialog zwischen den drei Beteiligten ist am ehesten zu eruieren, was dem Kindeswohl dient. Ich freue mich auf die Sachverständigenanhörung am 13. Januar 2021. Da werden wir genau diese Fragen und genau diese Problematik im Spannungsverhältnis dieser drei eruieren, ausloten und hoffentlich eine gute Regelung auf den Weg bringen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. Das war ja phänomenal; damit haben Sie alle Überziehungen aufgeholt. – Als nächster Redner wird der Kollege Dr. Jens Brandenburg, FDP-Fraktion, zu uns sprechen. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“, werden künftige Eltern oft schon vor der Geburt gefragt. Für beide Varianten suchen sie sich dann oftmals passende Vornamen aus. Wenn das Kind bei der Geburt dann eben doch nicht eindeutig männliche oder weibliche Geschlechtsmerkmale hat, ist die Überraschung groß: Wie konnte das passieren? Was erzählen wir unseren Freunden und Nachbarn? Kann mein Kind so ein glückliches Leben führen? Auch für viele Ärzte ist das keine Routine. Allzu oft raten sie dann zu operativen Eingriffen, nur um das äußere Erscheinungsbild der Genitalien an die gesellschaftliche Erwartungshaltung anzupassen. Die Unsicherheit ist groß, der gefühlte Zeitdruck ebenso. Selten gibt es eine ausgewogene Beratung, und am liebsten will man wohl nie wieder darüber sprechen. Das Kind hat dabei keine Mitsprache. Mit irreversiblen Operationen wird es vor vollendete Tatsachen gestellt. Körperlich wie psychisch leiden Betroffene oft ein Leben lang. Die Operationen verletzen ihre körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung im intimsten Bereich. Sie sollten später selbst entscheiden. Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit und keine Störung, und Menschen sind vielfältig. Kein Kind soll operiert werden, nur um es in eine männliche oder weibliche Schublade zu stecken! ({0}) Fast 2 000 solcher Operationen gibt es ja in Deutschland jedes Jahr – oft ohne medizinische Notwendigkeit. Die medizinischen Leitlinien – auch der Deutsche Ethikrat – fordern seit vielen Jahren, dass sie zur medizinisch indizierten Ausnahme werden, solange die Betroffenen nicht selbst entscheiden können, ({1}) und trotzdem geht die Zahl der Operationen nicht zurück. Wir brauchen endlich ein gesetzliches Verbot dieser menschenrechtswidrigen Eingriffe! ({2}) Nach dem Gesetzentwurf der Koalition dürfen die Eltern nur noch in genitalverändernde Operationen ihrer Kinder einwilligen, wenn sie nicht aufschiebbar sind und nach Einschätzung des Familiengerichts dem Wohl des Kindes am besten entsprechen. Um Letzteres nachzuweisen, sollen sie auf eigene Kosten die Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission einholen können. Viele Fragen bleiben dabei aber offen: Erstens. Viele Eltern, Ärzte und Familienrichter sind nicht allzu oft mit Fragen der geschlechtlichen Vielfalt konfrontiert. Sie sollten eine qualifizierte Beratung erhalten. Zweitens. Auch die Auswahlkriterien der Kommissionsmitglieder und auch das Thema der Kostenübernahmen müssen auf den Prüfstand. Drittens. Auch Folgeschäden und fragwürdige Behandlungen, wie die schmerzhafte Vaginaldehnung im Kindesalter, müssen in den Fokus dieser Debatte. ({3}) Der heutige Gesetzentwurf lässt viel Luft nach oben, aber das gemeinsame Anliegen ist doch richtig. Dass in Deutschland immer noch Kinder operiert werden, nur um ihre Geschlechtsteile in eine vermeintliche Norm zu pressen, ist beschämend. ({4}) Stärken wir die Selbstbestimmung der Betroffenen! Dafür werben wir Freie Demokraten. Ich freue mich auf die Debatte und wünsche Ihnen allen eine schöne Weihnachtszeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandenburg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! In diesen Zeiten ist es wichtig, zu würdigen, wenn Gutes passiert. Ein Schutzgesetz für intergeschlechtliche Neugeborene und Kinder ist etwas Gutes, weil es Menschen, denen erst mal nichts Wesentliches fehlt außer Akzeptanz, davor bewahrt, ohne Einwilligung körperlich verändert und angepasst zu werden. ({0}) Seit den 50er-Jahren gilt in vielen Ländern die medizinische Praxis, Kinder an den Genitalien zu operieren, wenn diese nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Normvorstellungen entsprechen. Eine Gesundheits- oder lebensbedrohliche Indikation besteht für diese Eingriffe meistens nicht. Wir sprechen hier von kosmetischen OPs, denen die Annahme zugrunde liegt, dass das betroffene Kind dem angepassten Geschlecht schon wird folgen können und damit dann vermeintlich besser lebt. Und wir sprechen davon, dass diese Prozeduren absolut nicht harmlos und auch nicht in Ordnung sind, sondern persönlichkeitsverletzende Grundrechtseingriffe. Schluss damit! ({1}) Die Konsequenzen dieser Praxis wurden lange Zeit schwer unterschätzt, weil die Betroffenen ja nicht gefragt wurden, sich oft gar nicht zu den Folgen der früheren körperlichen Fremdbestimmung verhalten konnten, mit der Erfahrung lebten, irgendwie nicht kommunizierbar zu sein. Die Ignoranz allgemein war wirklich beträchtlich. Unter anderem Traumata, Verlust geschlechtlicher Empfindungsfähigkeit, unnötige Hormonbehandlungen waren und sind bis heute der Preis, den die Geschädigten zahlen – heimlich und oft ohne Hilfe. Die Selbstvertretungen intergeschlechtlicher Menschen leisten hier seit vielen Jahren Aufklärung und treiben Ansprüche und Forderungen voran. Dank insbesondere an den Verein Intersexuelle Menschen, die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen, den Bundesverband Trans*, an dgti und viele, viele mehr, darunter Christian Schenk, der erstmals 2001 in diesem Haus mit der damaligen PDS-Fraktion parlamentarische Initiativen zu diesem Thema angeschoben hat. ({2}) Dass die Bundesregierung jetzt ein Schutzgesetz vorlegt, wird Zeit. Es gibt zwar eine Behandlungsleitlinie von 2016, die Abhilfe schaffen sollte, aber diese Selbstregulierung des Gesundheitssystems hat nicht funktioniert. Wir haben es gehört: Die OPs gingen in einer Größenordnung von etwa 2 000 pro Jahr weiter. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat nun zum Ziel, dass diese nicht nötigen Zwangs-OPs an Inter-Kindern fortan unterlassen werden. Das ist sehr klar und sehr gut. Wenn Entscheidungen über doch notwendige Eingriffe zu treffen sind, dann nicht mehr allein zwischen den Eltern und den Medizinerinnen und Medizinern. Künftig sollen auch weitere Instanzen über Ausnahmen entscheiden. Um Fehler zu vermeiden und spätere Recherchen von Betroffenen zu gewährleisten, wollen wir, dass alle Behandlungen in einem zentralen Register dokumentiert werden. Die Verlängerung der Aufbewahrungsfristen für Akten von Patientinnen und Patienten, wie wir sie als Linke schon mehrfach in unseren Anträgen gefordert haben, ist nötig für Aufklärung und Nachsorge. All das werden wir in den Ausschüssen noch weiter bereden. Für die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen werden wir als Linke weiter kämpfen, unter anderem mit unserem laufenden Antrag zur Entschädigung der Betroffenen von Inter-OPs und Transsexuellengesetz, der aktuell die Beratung zur Abschaffung des TSG begleitet. Ich freue mich auf die weitere Auseinandersetzung und wünsche allen frohe Festtage und ein schönes Wochenende. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, kaum etwas auf dieser Welt ist so starr wie die Aufteilung der Menschheit in männlich und weiblich. ({0}) Das beginnt in der Tat, wie Jens Brandenburg das richtig beschrieben hat, schon vor der Geburt mit der Frage: Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Eltern stehen dann unter großem Druck, wenn sie ein Kind bekommen, das nicht eindeutig in diese Kategorien passt. Dabei ist da ein kleiner, schutzbedürftiger Mensch, der ein Recht darauf hat, anerkannt zu werden, und zwar ganz genau so, wie er auf diese Welt gekommen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind. Ja. Sie entscheiden sich für eine Operation an ihrem intergeschlechtlichen Kind, weil sie es schützen wollen vor Ausgrenzung, weil sie alleingelassen und überfordert sind in einer für sie neuen Situation. Aber: Das ist eben nicht immer die beste Entscheidung für das Kind und für sein Leben. So wie zum Beispiel bei Lynn. Für das zweijährige Kind begann ein Operationsmarathon: Eierstöcke und Hoden wurden entfernt, der Penis amputiert, künstliche Schamlippen angebracht; sieben Operation innerhalb von zwei Jahren. Lynn wuchs als Mädchen auf und versuchte verzweifelt, in die für sie vorgesehene Schublade zu passen. Aber Lynn fühlte sich weder den Mädchen noch den Jungs zugehörig. Das Resultat war eine von Unsicherheiten und Selbstzweifeln geprägte Kindheit und Jugend. Lynn sagt heute: Ich hatte das Gefühl, ich bin ein Freak, ein Alien, irgendwie wurde ich hier abgeworfen über dieser Welt, und ich pass hier nicht rein. Mir ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute Lynn und allen intergeschlechtlichen Menschen zu sagen: Doch, du passt hier rein, du bist richtig, ganz genau so, wie du bist! ({2}) Knapp 2 000 dieser Operationen gibt es jedes Jahr in Deutschland. Dieses Leid ist vermeidbar. Nicht die Kinder müssen verändert werden, wir müssen uns ändern, ({3}) wir müssen lernen, mit der Realität einer Geschlechtervielfalt umzugehen. Wir Grüne fordern schon sehr lange ein Verbot von medizinisch nicht notwendigen geschlechtszuweisenden Operationen, um diese schweren Menschenrechtsverletzungen endlich zu beseitigen. Dieses Gesetz darf aber keine Schutzlücken haben. Warum schützt der Entwurf der Regierung nur Kinder mit einer sogenannten Variante der Geschlechtsentwicklung? Warum gibt es dann weitere Einschränkungen dieses Verbotes? Das könnte erneut dazu führen, dass das Verbot ausgehöhlt wird, wenn zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte behaupten, es läge überhaupt keine solche Variante vor. Wir brauchen ein Schutzgesetz, dass alle Kinder rechtssicher schützt, ({4}) ein Gesetz, das Eltern eine fundierte Beratung ermöglicht. Und wir brauchen zusätzlich einen Fonds zur Entschädigung von Inter und Trans, die bis heute unter den Folgen von medizinisch nicht notwendigen Operationen leiden. Lassen Sie uns bitte beides mit einer sehr breiten Mehrheit in diesem Bundestag auf den Weg bringen! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Und bleiben Sie gesund über die Feiertage! Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Vorletzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise hilft ein Blick ins Grundgesetz. Wir könnten uns dabei den Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 ansehen, in dem es da heißt: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. „Jeder?“, will ich hier die Frage stellen. In Deutschland, vor der Einbringung dieses Gesetzes und bis zum heutigen Tag, nicht jeder: nicht Kinder, die mit unterschiedlichen Ausbildungen der Geschlechtlichkeit geboren sind, nicht Kinder, die nicht dem Traum vieler Eltern und der Gesellschaft entsprechen, männlich oder weiblich zu sein – Kinder, die vielleicht das Glück haben, beide Geschlechter zu haben; Kinder, die in ihrer Entwicklung stehen und erst mit der Pubertät feststellen, welche Geschlechtlichkeit sie in sich haben. Aber sie sind geboren mit dem, was in Deutschland und weltweit das Unausgesprochene ist. Man spricht nicht darüber; man schämt sich als Eltern vor den Nachbarn, vor den Verwandten, weil man nicht in Blau oder in Rosa in Freude über die Geburt des Kindes sprechen will und kann und weil die Gesellschaft diese Frage nicht anerkennt. Die Vereinten Nationen haben in einer Statistik wiedergegeben, dass rund 1,7 Prozent der Bevölkerung mehrgeschlechtlich oder mit unterschiedlichen Geschlechtsvarianten geboren werden. Ich überlasse es Ihnen, die Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland auf die 1,7 Prozent herunterzurechnen, und dann nehmen wir die 2 000 Operationen, die immer noch durchgeführt werden. ({0}) Ich freue mich ganz außerordentlich, dass die körperliche Unversehrtheit und das Recht der Kinder mit dem Gesetz zum Operationsverbot nunmehr auf einem guten und richtigen Weg ist, bedanke mich ganz herzlich bei dieser Gelegenheit bei unserer Bundesjustizministerin und darf mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär, bedanken, dass Sie auch den weiteren Schritt, der notwendig ist, nämlich, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, hier so deutlich angesprochen haben. ({1}) Das ist notwendig, um Kindern das Recht in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, das ihnen zusteht. Kinder können sich in dieser Gesellschaft aber nur dann entwickeln, wenn sie in ihren Familien, in den Schulen, in den Kindergärten, in dieser Gesellschaft auch ihren Platz gefunden haben. Dazu ist es erforderlich, dass wir neben einem Gesetz, das, wie ich es umschreiben würde, feststellt, dass ein Nein ein Nein sein muss bei der Operation, auch ein gutes Beratungsangebot machen. Dazu muss auch gehören, dass in den Schulen beim Sexualkundeunterricht die Kinder bereits lernen, dass es neben dem Männlich und Weiblich auch andere Ausbildungen der Geschlechtlichkeit gibt. ({2}) Dazu müssen wir auch die Bundesärztekammer überzeugen, dass sie nicht Götter in Weiß sind, die alles machen können, ({3}) sondern dazu da sind, den Menschen in ihren Nöten zu helfen. Ich sage dies nicht nur wegen des Blutspendeverbots, sondern auch wegen der Stellungnahme, die die Bundesärztekammer zum Operationsverbot abgegeben hat. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich hoffe, dass wir im Rahmen der öffentlichen Anhörung noch gute Anregungen bekommen, das hervorragende Gesetz zu verbessern, sodass wir am Ende des Gesetzgebungsverfahrens so wie bei sexuellem Missbrauch sagen können: Nein heißt Nein, auch bei Operationen an Kindern. Vielen Dank. Einen schönen vierten Advent! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr.  Brunner. – Und nun zu guter Letzt der Kollege Alexander Krauß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gern mit Fakten beginnen: Wie groß ist die Gruppe eigentlich, über die wir jetzt sprechen? ({0}) Seit einigen Jahren, seit 2016, ist es ja möglich, dass in der Geburtsstatistik erfasst wird, wenn es nicht deutlich wird: Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Dann wird in der Geburtsurkunde „divers“ eingetragen. Insofern kann man die Zahlen ganz gut auch bei den Statistischen Landesämtern oder beim Statistischen Bundesamt erfragen. Wir hatten 2016  10 Geburten in dieser Kategorie gehabt, also nicht pro Tag oder pro Monat, sondern im ganzen Jahr 10 – bei knapp 800 000 Geborenen. Wir hatten 2017  17 Geburten, wir hatten 2018  15 Geburten, wir hatten 2019  11 Geburten, bei denen das Kriterium „divers“ eingetragen wurde. Das ist die ganz saubere Statistik des Statistischen Bundesamtes, die Sie nachlesen können. ({1}) Das heißt, wir reden über 0,003 Prozent aller Geburten. ({2}) Was man in der Statistik auch nachlesen kann, das ist etwas Trauriges: ({3}) Von diesen 53 lebend Geborenen in diesen vier Jahren, von denen ich jetzt gerade gesprochen habe, sind 9 im Säuglingsalter gestorben. Das sind also sehr schwierige Schicksale, über die wir hier reden – zum Glück Einzelfälle. Und zum Glück betrifft es nur wenige Kinder, die diese vielen Operationen – wenn man das einmal zusammenrechnet, sind es ja meistens über 20 Operationen – über sich ergehen lassen müssen. ({4}) Dennoch haben diese Kinder unsere volle Achtung und unsere volle Hilfe verdient. Jedes Schicksal ist anders. Die Bundesärztekammer verweist in ihrer Stellungnahme richtig darauf – ich zitiere –, dass es medizinisch-wissenschaftlich betrachtet nicht „die Intersexualität“ gibt, sondern eine erhebliche Bandbreite an Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung mit sehr unterschiedlichem Behandlungsbedarf. ({5}) Ich finde, wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Vorstellung, dass keine Operationen das Beste sei, ist nicht meine. Es kommt darauf an, was das Beste für das Kind ist. Das kann eine Operation sein; es muss keine Operation sein. Meine sehr geehrten Damen und Herren, vom Referentenentwurf zum Gesetzentwurf gab es aus meiner Sicht deutliche Verbesserungen. Ich denke an die interdisziplinäre Kommission, die dazugekommen ist. Das ist sehr gut und macht mich zuversichtlich, dass das Gesetz weiter verbessert werden kann. In den weiteren Beratungen sollte, finde ich, die Expertise der Bundesärztekammer und der medizinischen Fachgesellschaften weiter genutzt werden. Es handelt sich um ganz wichtige Hinweise, die uns von dort gegeben werden. Und ich kann nur die Anregung meines Kollegen Lehrieder unterstützen, dass man auch sehr stark den Austausch mit den Eltern suchen muss; denn die Eltern sind die geborenen Anwälte der Kinder und wollen das Beste für ihr Kind. Deswegen kann man das sehr gut mit den Eltern zusammen machen. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Grünen haben den Antrag „Entschädigungsfonds für trans- und intergeschlechtliche Menschen“ gestellt. Der Grundgedanke bzw. die Grundphilosophie, die dahintersteht, ist nicht meine; das will ich ganz deutlich sagen. Ich persönlich halte nichts davon, dass man sich selbst aussuchen kann, ob man Mann, Frau oder jemand anderes sein möchte. ({7}) Wenn Sie hier wie auch bei Gesetzentwürfen von Ihnen vorschlagen, dass jeder 14-jährige pubertierende Jugendliche selbst entscheiden soll, ob er Junge oder Mädchen ist, ohne dass seine Eltern mitreden dürfen, dann halte ich das für einen absurden Vorschlag. ({8}) Das entspricht nicht meiner Vorstellung. Das teile ich nicht. ({9}) Wir sind als Mann und Frau geschaffen. Das kann man sich nicht aussuchen. Das ist vorgegeben. Ich finde im Übrigen auch, dass das gut so ist. Insofern werde ich dem Antrag, den Sie gestellt haben, nicht zustimmen. ({10}) Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auch Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest! ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Krauß. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Hier stock ich schon“, möchte ich sagen. Denn darf ich Sie wirklich als Damen und Herren ansprechen? Aus Sicht der Genderideologie, über die wir heute reden, ist diese Grußformel in ihrer kruden Polarität eigentlich beleidigend für die wahlweise 30 bis über 60 Geschlechter, die damit übergangen werden. ({0}) Und wenn es nach der Universität Leipzig geht, dann hätte ich eigentlich Herr Präsidentin sagen müssen; ({1}) denn dort werden alle Professoren, ob Mann oder Frau, mittlerweile offiziell als Professorin angesprochen – kein Witz! Sprache als radikalfeministisches Herrschaftsinstrument, das darf der Staat nicht fördern. Er muss es unterbinden, meine Damen und Herren! ({2}) Und dieser Irrsinn hat nicht nur die akademische Welt voll im Griff. Er hat auf die Gesellschaft, die Medien, das staatliche Handeln massiv übergegriffen. Die Autorin J. K. Rowling, bekannt durch die Harry-Potter-Romane, hat es kürzlich gewagt, den politisch korrekten Ausdruck „Menschen, die menstruieren“ auf Twitter einfach mit „Frauen“ zu übersetzen. Daraufhin wurde sie als „transphob“, als „Bitch“, als „Feminazi“ beschimpft. Wenn dagegen die französische Feministin Pauline Harmange ein Buch schreibt mit dem Titel „Ich hasse Männer“, dann nimmt niemand daran Anstoß. Das deutsche Feuilleton sinniert über das Befreiungspotenzial von Hass. Oder Männer als Auslaufmodell der Evolution zu bezeichnen, Frauen und mehr noch Androgynität als die Zukunft, wie das Autorinnenduo Welpe und Welpe es tut, das ist völlig normal geworden. ({3}) Aufschrei gegen Hassrede? Fehlanzeige! ({4}) Meine Damen und Herren, dieses verhetzte und vergiftete Klima, dieser Geschlechterkampf, und zwar nicht so sehr zwischen Männern und Frauen, sondern mehr noch gegen Männer und Frauen, fällt nicht vom Himmel. Er geht auf Ideen zurück, die zuerst an Universitäten ausgebrütet wurden, ({5}) und zwar im Rahmen der sogenannten Gender Studies, und deshalb ist es hoch an der Zeit, dass der Staat seine massive Förderung für diese unwissenschaftliche Ideologie einstellt. ({6}) Und da Herr Röspel, SPD, an dieser Stelle kürzlich behauptet hat, die AfD wolle die Genderforschung verbieten: Das war eine Falschbehauptung wider besseres Wissen, sprich eine Lüge. Wir wollen alle staatlichen Fehlanreize beseitigen, ({7}) wie etwa das Professorinnenprogramm, damit die Universitäten wieder zu einer rationalen Erwägung zurückkehren, wie viel Raum sie dieser Ideologie wirklich geben wollen. Das ist unser Antrag. Weit über 200 Gender-Professuren gibt es bereits in Deutschland, ({8}) gegenüber 190 für Pharmazie oder 120 für alte Sprachen. Das zeigt schon, von welcher Fehlallokation von Forschungsmitteln wir hier reden. Und wo sollen die vielen Tausend Absolventen dieser Studienrichtungen eigentlich Arbeit finden? Doch nur als Gleichstellungsbeauftragte in Universitäten, Behörden und großen Unternehmen. ({9}) Sie decken dort einen Bedarf, der rein künstlich erzeugt wurde, auf Druck aggressiver Lobbygruppen, von einer willfährigen Verwaltung in vorauseilendem Gehorsam implementiert. ({10}) Zu jeder Wissenschaft, meine Damen und Herren, gehören Neugier gegenüber ihrem Forschungsgegenstand und eine prinzipielle Ergebnisoffenheit, also die Bereitschaft, Irrtümer zu korrigieren und Theorien von der Realität falsifizieren zu lassen. Das Gegenteil ist der Fall in der Genderforschung: Wer das Dogma nicht akzeptiert, dass das Geschlecht, dass Gender eine soziale Konstruktion sei, völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht, der wird als „Biologist“ mundtot gemacht oder als „Angreifer“ diffamiert. Und die Genderforschung will auch gar keine neutrale objektive Wissenschaft sein. Sie versteht sich explizit als akademischer Arm der LGBTQ-Lobby, also der sexuellen Minderheiten. ({11}) Sie will die angeblich patriarchale Wissenschaft sowie heteronormative Einstellungen dekonstruieren, also heterosexuelle Normalbeziehungen zwischen Männern und Frauen in den Bereich des Unterdrückerischen und Abseitigen rücken, für das man sich eigentlich schämen sollte. ({12}) Schon die Kleinsten im Kindergarten sollen an ihrer geschlechtlichen Identität irre gemacht werden. Ein rigides Sprachsystem soll das Sprechen und Denken der Menschen gendergerecht machen. Ich möchte mitnichten der Intoleranz gegenüber Lebensweisen das Wort reden, die von der traditionellen Familie abweichen. ({13}) Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Aber darum geht es längst nicht mehr. Die feministische Juristin Susanne Baer, 2011 auf Vorschlag von SPD und Grünen zur Bundesverfassungsrichterin berufen, ({14}) formulierte 2003 mit Blick auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – ich zitiere –: Für die Rechtspolitik bedeutet das, Wahlfreiheit zu ermöglichen und Entscheidungen mit diskriminierender Wirkung, die frei getroffen werden, zu verbieten. Ich komme zum Schluss. Man ist also so lange frei, wie man mit der Genderdoktrin konform geht. Wenn nicht, begegnet man der härtesten Intoleranz. Diese Mentalität, die mittlerweile an oberster Stelle Recht spricht in Deutschland, darf nicht länger an den Universitäten gefördert werden. Machen wir die Genderforschung zum Auslaufmodell! Vielen Dank. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich den Antrag der AfD, den wir heute Abend beraten, durchliest, könnte man durchaus meinen, die Genderforschung sei aus Langeweile entstanden, weil man nicht gewusst hat, was man noch machen soll. So ist es natürlich nicht. Es gehört schon dazu, dass wir uns auch kritisch mit der Entstehungsgeschichte dieser Forschungsrichtung auseinandersetzen. Da müssen wir einfach in die Historie blicken, nämlich in die Geschichte einer langen Zeit von Diskriminierung oder Unterdrückung, und uns auch das Thema „Machtverhältnisse und sich wandelnde Wertvorstellungen in der Gesellschaft“ anschauen. Berücksichtigt man diesen historischen Kontext, dann kommt man einfach zu einem anderen, zu einem differenzierteren Urteil als Sie in Ihrem Antrag; denn dieser ist wie immer undifferenziert und pauschal. ({0}) Selbstverständlich darf man einen Diskurs führen. Ganz selbstverständlich kann man auch Thesen der Genderforschung kritisieren; das ist möglich. Das ist im Übrigen genauso in diesem Bereich möglich, wie es in vielen anderen Forschungsbereichen möglich ist, dass man kritisieren kann. Und wissen Sie, warum es möglich ist? Weil wir nämlich in Deutschland Meinungsfreiheit und auch Wissenschaftsfreiheit haben. ({1}) Deshalb ist es ja geradezu lächerlich, wenn sich hier die AfD-Fraktion dazu aufschwingt, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, oder gar fordert, die Wissenschaftsfreiheit wiederherzustellen. ({2}) Gerade Sie sollten nämlich den Begriff der Freiheit schon noch mal überprüfen. ({3}) Denn was heißt denn „Freiheit“ bei der AfD? „Freiheit“ heißt bei der AfD nämlich, frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu bedrängen; so schaut nämlich bei Ihnen die Freiheit aus. ({4}) Oder „Freiheit“ bedeutet bei der AfD darüber hinaus, Fake News zu verbreiten, wie aktuell wieder geschehen. ({5}) Da werden Bilder gepostet vom letzten Jahr, wo unsere Ministerpräsidenten zusammenstehen beim Glühwein, und es wird behauptet, es sei dieses Jahr gewesen, ({6}) und es wird behauptet, die Ministerpräsidenten würden ihre eigenen Beschlüsse nicht einhalten. Das hat mit Freiheit nichts zu tun, sondern das ist eine Frechheit, die Sie hier abliefern. ({7}) „Freiheit“ bedeutet bei Ihnen nämlich außerdem, die freie Presse als „Lügenpresse“ zu bezeichnen, wenn über Fakten berichtet wird, die Ihnen halt nicht in den Kram passen. Sie und Ihre Anhänger behaupten regelmäßig, man dürfe in Deutschland ja nicht mehr alles sagen. Ich sage Ihnen eines: Doch, man darf in Deutschland alles sagen! Und wissen Sie, warum? Weil wir nämlich Meinungsfreiheit haben! Sie können sich als Abgeordnete hier an dieses Rednerpult hinstellen und jeglichen Blödsinn erzählen, was Sie ja regelmäßig tun. Und was passiert Ihnen? Nichts! Jeder kann sich in Deutschland auf die Straße stellen, kann demonstrieren, kann seine Meinung sagen und sogar laut brüllen. Wird er dafür eingesperrt? Nein! Gott sei Dank wird er das nicht, weil wir Meinungsfreiheit in Deutschland haben. ({8}) Deswegen ist es wirklich eine Ironie, dass ausgerechnet Sie von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sprechen und beides auch verteidigen wollen. ({9}) Ich darf mal an die ganzen Debatten erinnern, die wir hier im Hause führen, zum Thema Corona beispielsweise. Es nimmt Ihnen doch keiner ab, dass Sie die Wissenschaftsfreiheit verteidigen wollen, ({10}) wenn Sie gleichzeitig die Wissenschaftler diskreditieren, die andere Beschlüsse oder Erkenntnisse haben als Sie und als die, die Ihnen in den Kram passen. ({11}) Sie wollen keine freie Wissenschaft; Sie wollen eine Wissenschaft, die Ihrer Ideologie nützt. Das ist alles, was Sie wollen. ({12}) Und wenn Sie hier anfangen, mit Belegen und Zahlen zu operieren: 213 Lehrstühle für den Bereich Gender – viel zu viel! –; nur 195 für Pharmazie und 147 für Zahnmedizin. Ja haben Sie nicht noch ein paar Bereiche gefunden, wo wir vielleicht weniger gehabt hätten? Dann komme ich nämlich mal mit Vergleichszahlen: 5 850 Lehrstühle im Bereich Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften, 5 575 in Mathematik und Naturwissenschaften, 3 447 im Bereich der Medizin. Merken Sie was? Ihr Vergleich ist echt lächerlich! ({13}) Und dann gendern Sie selber noch Ihren Antrag; das ist ja das Aberwitzigste! Das muss man auch mal dazusagen. ({14}) Aber, Herr Präsident, weil Weihnachten kommt, möchte ich versöhnlich schließen: Wissen Sie, Meinungsfreiheit und auch Wissenschaftsfreiheit heißt, auch andere Meinungen auszuhalten. Ja, man darf widersprechen; das gehört zur Meinungsfreiheit nämlich dazu; das ist sogar der Grundgedanke der Meinungsfreiheit. Aber man muss auch anerkennen, dass, wenn die eigene Meinung nicht umgesetzt wird, dann die Mehrheit wohl eine andere Meinung hatte. ({15}) Das ist in einer Demokratie so, und das ist auch gut so. Frohe Weihnachten! ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die AfD ist Genderforschung keine Wissenschaft. Ich möchte den Antragstellern erläutern, warum sie irren. 1935 hat der Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck die Entstehung einer Disziplin skizziert: Die Uridee entwickelt sich zum Gedankenbrei, der sich evolutionär zur Wissenschaft präzisiert. Im Umkehrschluss: Irriges ist der Zwilling von Uridee. Wer Skurriles, unsinnig Erscheinendes von vorneherein ausschließt, negiert vor allem sich evolutionär entwickelnde Forschung. Bei Geistes- wie bei Naturwissenschaften mendelt sich Irriges und Absurdes heraus, auch bei der Genderforschung. Dummes verschwindet – wie ein identitätspolitischer Privilegiencheck oder Männer und Frauen als optische Täuschung. Präziser als Deutsch ist manchmal das Englische. „Sex“ steht hier für das biologische Geschlecht, „Gender“ für das soziale. ({0}) „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ – Simone de Beauvoir, 1949. ({1}) Aus dieser spannenden These entstand eine Wissenschaft. Gut so! ({2}) Viele Fragen sind offen: Wie wirkt sich Geschlecht auf Privilegien und auf Diskriminierung aus? Wie viel Impact haben „Sex“ und „Gender“ bei klinischen Studien, bei Crashtests, bei künstlicher Intelligenz? Welchen Einfluss hat die Religion auf die Rollen von Frauen und von Männern? Welche Rolle spielt Mixed Leadership bei unternehmerischem Erfolg und bei Innovation? Hochgradig politikrelevant für die Frage, wie Deutschland Vielfalt fördert und Barrieren beseitigt! Spiegelbildlich auch bei der Beseitigung von Benachteiligung von Männern. Ist es zum Beispiel richtig, wenn Familiengerichte im Streitfall das Sorgerecht viermal häufiger den Müttern zusprechen? Herr Jongen, Ihr Doktorvater Peter Sloterdijk ({3}) billigt Ihnen ja eine gewisse philosophische Bildung zu – allerdings mit falschen Zitaten, wie er sagt. Diese Bildung endet offenkundig bei Erkenntnissen über Wissenschaftsevolution. „Ich bitte um keine Gefälligkeiten für mein Geschlecht“, hat die jüngst verstorbene US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg 1973 gesagt. Und: „Alles, was ich von unseren Brüdern verlange, ist, dass sie ihre Stiefel aus unseren Nacken nehmen.“ ({4}) Herr Jongen, möge die AfD mit ihren Stiefeln nicht nur der Genderforschung, sondern keiner einzigen Wissenschaft jemals zu nahe treten können. Frohe Weihnacht! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Sattelberger. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es mag vielleicht Zufall sein, dass in der Debatte über Geschlechterforschung, die wir gerade führen, erst an vierter Stelle die erste Frau redet. Dass in den Reihen der AfD nicht eine einzige Frau derzeit zu finden ist, ({0}) ist, glaube ich, kein Zufall, sondern auch schon der erste Offenbarungseid über das Problem, das die AfD mit Frauen hat. ({1}) Der Antrag, der uns heute vorliegt, ist aber, wenn man ihn genau liest, ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Ich will da gerne meinen Kollegen René Röspel, der das in einer der vorherigen Debatten bereits ausgeführt hat, noch mal konkretisieren. Denn Sie legen die Axt an die Wissenschaftsfreiheit, indem Sie die Genderforschung abschaffen wollen. Der erste Schritt, den Sie hier ganz präzise beschreiben, ist der Schritt, dass Sie die finanzielle Förderung abschaffen wollen. Aber der Blick in die anderen europäischen Länder und auf das, was Ihre Brüder im Geiste, andere rechtsextreme Parteien, dort durchführen, lässt offenbar werden, was das einzige Ziel ist, nämlich mittelfristig die Geschlechterforschung ganz zu verbieten. ({2}) Der Blick dazu nach Ungarn zeigt ganz konkret, wie die Regierung Einfluss genommen hat auf Wissenschaftsfreiheit und alle Studiengänge zur Geschlechterforschung verboten hat. Die Folgen für Ungarn sind verheerend, weil viele junge, gut ausgebildete Ungarinnen und Ungarn deswegen das Land verlassen, aber vor allem, weil viele junge Menschen oder auch Menschen jeden Alters enorm in der Ausgestaltung ihres Lebens eingeschränkt werden. Ihre Forderung hat zum Ziel, Frauen zu missbrauchen, sie an den Herd zu drängen, sie auf die Rolle der Frau und Mutter zu reduzieren. Für uns als SPD ist ganz klar: Das ist mit uns nicht zu machen. Wir stehen für die Gleichberechtigung aller Lebensentwürfe. ({3}) Warum ist Geschlechterforschung wichtig? Die Geschlechterforschung hilft, zu erkennen, dass die zentralen Unterscheidungsmerkmale der Menschen beweglich sind, dass wir keine hormongesteuerten Wesen sind, so wie Sie zu behaupten versuchen, indem Sie in der scheinbar wissenschaftlichen Abhandlung in der Einleitung Ihres Antrags biologistisch argumentieren. ({4}) Meine Damen und Herren, ich dachte, die Zeiten biologistischer Argumentationen hätten wir mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte überwunden. ({5}) Es geht in der Geschlechterforschung nämlich eben nicht darum, dass wir hormongesteuerte Wesen sind, ({6}) dass sich anhand von Körperorganen oder Hormonen ableiten lässt, was wir sind, dass wir so determiniert sind, sondern es geht darum, dass wir soziale Wesen sind, ({7}) dass wir durch die Erfahrungen, durch die Umwelt, die Umgebung, in der wir leben, geprägt werden und dass es darum auch entscheidend ist, in welcher sozialen Umwelt wir aufwachsen. ({8}) Warum verdienen denn Frauen europaweit immer noch 16 Prozent weniger als Männer, obwohl sie gleiche Berufe ausüben? ({9}) Wie kann der Staat besser vor häuslicher Gewalt, unter der vor allem Frauen leiden, schützen? Die Geschlechterforschung stellt diese Fragen und findet darauf die richtigen Antworten. Die Geschlechterforschung kann auch Leben retten, indem sie aufzeigt, dass bei medizinischen Untersuchungen nicht vernachlässigt werden darf, dass beispielsweise bei Schlaganfällen oder bei Herzinfarkten die Symptome bei Frauen anders sind. In der medizinischen Forschung besteht weiterhin eine Benachteiligung von Frauen, ({10}) weil diese Phänomene in Studien nicht intensiv untersucht werden. ({11}) Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Wer so wie Sie die Geschlechterforschung abschaffen will, der stellt damit die Geistes- und die Sozialwissenschaften in Gänze infrage. ({12}) Und das, meine Damen und Herren, ist mit der SPD nicht zu machen. ({13}) Darum freue ich mich, dass wir den Förderschwerpunkt „Innovative Frauen im Fokus“ in den nächsten sechs Jahren mit 41 Millionen Euro unterstützen ({14}) und damit bis zu 90 Forschungsvorhaben fördern, die zum Ziel haben, Frauen in den Fokus zu stellen, Wissenschaftlerinnen, deren wissenschaftliche Leistung, deren Innovationen immer noch weniger sichtbar sind als das, was von Männern erforscht und geleistet wird. Das fördern wir als Große Koalition explizit und holen damit Frauen aus dem Schatten heraus und machen sichtbarer, welchen Beitrag sie leisten. ({15}) Ich freue mich auch ganz allgemein, dass an so vielen Standorten – Sie haben ja die Zahlen rausgesucht – Gender Studies zu studieren sind, so wie bei mir zu Hause an der Universität Bielefeld, dass es dort Forschungsinstitute gibt wie beispielsweise das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung und dass all diese Menschen, die das studieren und daran forschen, morgen den Wissenschaftstag Geschlechterforschung begehen. Unter #4genderstudies werden Sie verfolgen können, was dort erarbeitet wird. Ich wünsche allen Akteurinnen und Akteuren morgen ein gutes Gelingen, einen erfolgreichen Tag. Und: Sie können sich gewiss sein: Wir lassen Sie in aller Freiheit forschen und lehren; aber wenn es um die politische Interpretation Ihrer Ergebnisse geht, dann haben Sie die SPD an Ihrer Seite. Danke schön. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr.  Esdar. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die AfD legt uns einen Antrag vor mit dem Ziel, die Geschlechterforschung in der Wissenschaft, die Gender Studies, finanziell auszutrocknen und so zum Erliegen zu bringen. ({0}) Inmitten der vielen zähen Kämpfe um Gleichberechtigung, für gleiche Rechte von Frauen, ({1}) will die AfD das Rad der Zeit wieder zurückdrehen und verhindern, dass Wissenschaft sich im Dienst von Pluralität und Gleichberechtigung versteht. ({2}) Das ist angesichts des ergrauten und durchweg männlichen Bildes, das die AfD-Fraktion da abgibt, natürlich auch wenig verwunderlich. Die Wahrheit ist aber, dass der Antifeminismus, mit dem Sie heute daherkommen – es geht nämlich hier um Antifeminismus –, ({3}) genauso wie Ihr Rassismus, das einzig wirklich Verbindende ist in Ihrer extrem rechten Seilschaft. ({4}) Immer dann, wirklich immer dann, wenn ansonsten gar nichts mehr zusammengeht bei Ihnen, weil Sie sich intern mal wieder völlig zerlegen, wie Sie es ja gerade wieder vor drei Wochen auf Ihrem Parteitag getan haben, weil die AfD nämlich bei den wirklich wichtigen Fragen unserer Gesellschaft, bei Fragen wie steigenden Mieten, sinkenden Renten ({5}) gar keine Antworten hat, muss der Hass auf andere oder auf Minderheiten herhalten ({6}) als inszeniertes Zusammengehörigkeitsgefühl und Bindemittel Ihrer Partei. Das ist einfach nur billig und absolut erbärmlich. ({7}) Der Antifeminismus gehört wie der Rassismus zur DNA der extremen Rechten. Entstanden ist er als Reaktion auf die politische Idee von gleichen Rechten und als Abwehr der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, und er ist der Bruder im Geiste von Nationalismus, Antisemitismus und Faschismus. Von Deutschnationalen wurde damals gehetzt, dass Frauenbewegung, Sozialdemokratie und Judentum miteinander verwandt seien. Die Nationalsozialisten behaupteten, Frauenemanzipation sei nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort; deutsche Frauen bräuchten sich nicht zu emanzipieren. Von diesem menschenverachtenden Mist, von diesem Mist hat sich die AfD keinen Millimeter entfernt. ({8}) Das ist die Wahrheit, und das stellen Sie hier gerade wieder unter Beweis. ({9}) Und Sie reihen sich im Übrigen nicht nur ein in die Frauenverachtung dieser alten Nazis. Sie sind auch Stichwortgeber der rechtsterroristischen Attentäter von heute. Breivik zum Beispiel, der Attentäter von Oslo, fantasierte von einer Kriegsführung gegen den europäischen Mann. Das ist die Gesellschaft, in der Sie sich befinden; dafür sollten Sie sich schämen. ({10}) Dann tun Sie auch noch so, als würde es Ihnen hier um Wissenschaft gehen. Ganz ehrlich: Das ist wirklich lachhaft, wenn Sie damit daherkommen – eine Fraktion, die jeden Tag in der Coronakrise beweist, dass sie weder auf dem Boden der Aufklärung noch dem der Wissenschaft steht, sondern dass sie sich gemeinmacht mit Verschwörungsmythen und Fake News. ({11}) Niemand nimmt Ihnen das Anliegen einer ernstzunehmenden Wissenschaftskritik ab. Sie sitzen im Glashaus. ({12}) Wenn Sie davon reden, die Wissenschaft – angeblich – von Ideologie befreien zu wollen, dann geht es Ihnen in Wahrheit um die Abwehr und das Mundtotmachen anderer Standpunkte als Ihres eigenen. ({13}) Was Sie hier aufführen, ist die pure Demagogie; aber das durchschauen wir. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Gohlke. – Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welt durchleidet eine Jahrhundertpandemie. Alle blicken auf Wissenschaft und ihre Erkenntnisse. Und was hat die AfD beizutragen? Nichts! Nichts, außer Zerstörerisches. ({0}) Ihr Antrag ist ein Generalangriff auf Forschungsfreiheit. Wir schützen die Wissenschaft vor Ihren Attacken. ({1}) Sie haben Angst vor Wissenschaftsfreiheit; denn Forscherinnen und Forscher und Denkerinnen und Denker dekonstruieren die AfD als das, was Sie sind: Wissenschaftsfeinde und Antifeministen. Darum haben Sie Angst vor kritischem Denken. ({2}) Darum will die AfD die Klimaforschung auf null zusammenstreichen. Darum wollen Sie Geisteswissenschaften zertrümmern. Darum verklagen Sie Forschungsinstitute, deren Erkenntnisse Ihnen nicht passen. Jetzt soll die Axt mal wieder an die Genderforschung gelegt werden. Damit folgt die AfD – Trump spielt ja keine Rolle mehr – ihrem großen Vorbild Viktor Orban, ({3}) der mit seiner Missachtung der Grundrechte die EU lahmlegte. Wir sagen: So nicht! ({4}) Sie behaupten, es gebe über 200 Professuren der Geschlechterforschung in Deutschland. Ich sage nur: Schön wär’s! Die allermeisten dieser Professuren tragen „Geschlecht“ im Titel. In Wahrheit sind es Lehrstühle für Literaturwissenschaft, Medizin oder Rechtswissenschaft. Viele dieser Professuren sind in Wahrheit befristet oder gerade unbesetzt. Einige der von Ihnen attackierten deutschen Lehrstühle befinden sich in Wahrheit in Wien, Salzburg oder Basel. Kaufen Sie sich mal eine aktuelle Deutschlandkarte! Hören sie auf, das Plenum mit so einem Kokolores zu belasten! ({5}) Ihre Mission würde unserer exzellenten Forschungslandschaft massiv schaden. Mitten in der Pandemie wollen Sie Gesundheitsforschung stoppen, wenn diese Geschlechteraspekte untersucht. ({6}) Geht’s noch? Die Menschheit weiß, dass Krankheitssymptome und Nebenwirkungen von Medikamenten bei den Geschlechtern sehr unterschiedlich ausfallen können. Gute Wissenschaft muss hier biologische und soziale Faktoren untersuchen. Die AfD-Fraktion wäre ein super Forschungsobjekt: Warum verharmlosen rechte Männerbünde die Coronapandemie? – Das beschäftigt uns doch alle. ({7}) Wir debattieren verstärkt, wer Sorgearbeit, Kinder- und Altenbetreuung leistet. Das sind vor allem Frauen, während Männer in der Chefetage unter sich bleiben. Genderforschung untersucht solche Themen und setzt sie auf die Agenda. Ihre Erkenntnisse machen Geschlechtergerechtigkeit besser möglich. Morgen mehr dazu unter #4genderstudies. Danke Gender Studies! ({8}) Wer ernsthaft über Geschlechterforschung sprechen mag, mit uns Grünen immer gerne! Unsere Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank hat beim Wissenschaftsrat angeregt, eine Strukturbegutachtung der Gender Studies durchzuführen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich auf die Ergebnisse und Impulse für nachhaltige Stärkung dieser Forschung. Letzter Satz an die Wissenschaftsfeinde und Genderfeinde rechts außen: Kommen Sie klar, dass es mehr gibt als Mann, Mann, Mann und Frau. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Sybille Benning, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere in dieser Zeit der Pandemie wird uns immer wieder vor Augen geführt, warum der wissenschaftliche Blick auf die Rolle der Geschlechter wichtig ist. Krisen verstärken alle existierenden Ungleichheiten. UN Women beschreibt die Coronakrise daher auch bewusst als eine Krise der Frauen. In allen Gesellschaften – Deutschland und Europa eingeschlossen – zählen Frauen zu den Menschen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rollen besonders hart von den Folgen dieser Pandemie betroffen sind. Weltweit sind 70 Prozent des Personals in Sozial- und Pflegeberufen Frauen. Unbezahlte Care-Arbeit leisten Frauen durchschnittlich dreimal so viel wie Männer. Die Sektoren, in denen vermehrt Frauen arbeiten, kämpfen in dieser Zeit mit enormen wirtschaftlichen Herausforderungen. Es sind vor allen Dingen der Einzelhandel, das Gastgewerbe und der Tourismus. Gleichzeitig sind es in der Überzahl Frauen – Kassiererinnen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen –, die in den so oft gelobten systemrelevanten Berufen tätig sind. Ohne sie würde in der gegenwärtigen Krise nichts laufen. Sie sind diejenigen, die den Laden zusammenhalten und sich dafür tagtäglich den Infektionsgefahren aussetzen. Krisen treffen eben nicht alle gleich. Sie treffen Industrienationen anders als sogenannte Entwicklungsländer. Sie treffen internetbasierte Unternehmen anders als den traditionellen, stationären Einzelhandel. Und: Krisen treffen eben auch Männer und Frauen unterschiedlich und sind daher nicht geschlechtsneutral. Um diesen auf Gender basierten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten politisch entgegenzuwirken, bedarf es einer Forschung, die sich datenbasiert auf die soziale und gesellschaftliche Dimension von Geschlecht konzentriert. Geschlechterspezifische Forschung bezieht sich also nicht nur auf das biologische, sondern auch auf das soziale und gesellschaftliche Geschlecht, wovon eines gerade in diesen Zeiten, statistisch belegbar, besonders von der Krise betroffen ist. Und auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Unterscheidung im biologischen Geschlecht scheinen mir im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig. Denn der wesentliche Einfluss des biologischen Geschlechts auf die Gesundheit ist mittlerweile gut untersucht und belegt. Wir wissen, dass sich Symptome bei einzelnen Erkrankungen nach Geschlechtern unterscheiden – die Kollegen haben es eben angesprochen –, zum Beispiel bei einem Schlaganfall. ({0}) Wenn wir also einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgungsqualität, der Versorgungseffizienz, der Patientensicherheit und der Patientenorientierung leisten wollen, dann müssen wir geschlechtssensible Forschung, wie beispielsweise in der Medizin, fördern. ({1}) Wir brauchen mehr Erkenntnisse zu frauenspezifischen und männerspezifischen Krankheiten, um die Versorgungspraktiken entsprechend anzupassen und zu stärken. ({2}) Meine Damen und Herren, trotz all der politischen Forderungen, die wir haben mögen, möchte ich deutlich betonen, dass Artikel 5 unseres Grundgesetzes die Freiheit der Wissenschaft und Forschung gewährleistet. Einen Eingriff durch den sogenannten Stopp des Genderwahns, wie ihn die AfD oft und gerne propagiert, halte ich für eine unnötige, wenn nicht sogar gefährliche Untersagung der Wissenschaftsfreiheit. ({3}) Wir hingegen können dank belegbarer Erkenntnisse mit den bereits vorhandenen Förderprogrammen des Bundes eine Grundlage schaffen, damit geschlechtsspezifische Unterschiede in der Forschung, der Versorgung, der Prävention, der Gesundheitsförderung und in den Curricula besser berücksichtigt werden. Wenn das Geschlecht also als eine Dimension von Forschung berücksichtigt wird, können Forschungsergebnisse in ihrer Aussagekraft, Anwendbarkeit und Nachhaltigkeit präzisiert werden. – Verstanden? ({4}) Dieses hilft auch den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in diesem Land, Lebensrealitäten, Bedürfnisse und Interessen von Bürgerinnen und Bürgern genauer analysieren und nachvollziehen zu können, um Entscheidungen so zu treffen, dass sie der gesamten Gesellschaft, unabhängig vom Geschlecht, den besten Nutzen bringen. Daher fördert das BMBF zu Recht gendersensible Studien in der Präventions- und Versorgungsforschung. ({5}) Liebe interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer, mit dem Professorinnenprogramm wollen Bund und Länder die Anzahl von Professorinnen an Hochschulen insgesamt weiter erhöhen. Eine Einschränkung der Fächergruppen wird daher nicht vorgenommen. Das Ziel bleibt ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in der Gesamtheit der Professorinnen und Professoren. Das Professorinnenprogramm hat bedeutende Impulse für die Chancengerechtigkeit von Frauen sowohl im Wissenschaftssystem als auch für die gendersensible Fachforschung in unterschiedlichen Disziplinen gegeben, was entsprechende Evaluationen nachgewiesen haben. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. – In den Fördermaßnahmen des BMBF zu „Globale Ernährungssicherung“ sowie zu „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“ werden in einer Vielzahl von sozioökonomischen Fragen explizit Genderaspekte bearbeitet, um die zu oft vernachlässigte Berücksichtigung der Dimension des Geschlechts zu gewährleisten. Die bewusste Auseinandersetzung mit diesem Thema hat auch zu Programmgestaltungen geführt, mit denen insbesondere der Anteil von Frauen in den MINT-Fächern gesteigert werden soll. Und: Zielgenaue Ansprachen, wie bei dem Förderschwerpunkt „Innovative Frauen im Fokus“ – das wurde gerade schon genannt – ermöglichen es, Leistungen und Potenziale von Frauen in Wissenschaft, Forschung und Innovation sichtbar zu machen und strukturell zu verankern. Vielfältige Perspektiven – eben alle Geschlechter – helfen dabei, bessere Lösungen für die Gesellschaft zu finden. Nicht zu vergessen sind die Digitalisierungsprozesse. Wenn KI-Systeme künftig geschlechtergerecht agieren sollen, dann müssen wir heute alles dafür tun, dass diese künftig mit Daten trainiert werden, die eben keine Ungleichbehandlung oder Stereotypen abbilden. ({0}) Sie sehen, Geschlechterforschung umfasst viele unterschiedliche Facetten und sollte als überfakultäre und interdisziplinäre Forschung verstanden werden. Sie findet sich sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften als auch in den Naturwissenschaften wieder. Das wird sich auf wissenschaftlicher Ebene nicht ändern, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– egal wie oft die AfD die Relevanz dieser Forschung ideologisch verneinen mag. Ich sage herzlichen Dank und wünsche Ihnen auch frohe Weihnachten. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Benning. – Sie haben wahrscheinlich gleich noch Gelegenheit zur Erwiderung; denn die AfD hat eine Kurzintervention beantragt. Ich erteile dem Kollegen Dr. Götz Frömming das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass die Kurzintervention zugelassen wurde. – Sehr geehrte Frau Kollegin Benning, schade, dass ich die Zwischenfrage eben nicht stellen konnte. Jetzt muss ich die Stelle in Erinnerung rufen, auf die ich mich beziehen wollte. ({0}) – Zuhören ist auch eine demokratische Tugend, meine Damen und Herren. Sie haben zu Recht abgehoben auf die Forschungslinie des BMBF und ausgeführt, dass das BMBF im Bereich der Genderforschung einige Gelder investiert. Ich möchte Sie an dieser Stelle fragen: Ist es nicht eine zulässige politische Haltung in diesem Bereich, zum Beispiel eine Erhöhung der Unterstützung zu fordern oder zu fordern, dass sie gleich bleibt, oder auch der Meinung zu sein, dass sie abnehmen sollte oder vielleicht gestrichen werden sollte, weil wir andere Prioritäten setzen wollen? ({1}) Was wir wollen, ist nicht, Wissenschaft zu verbieten, sondern die Forderungen, die wir erheben, sind meiner Meinung nach politische Forderungen, die durchaus zulässig sind. Und das hat nichts mit dem Verbot von Wissenschaften zu tun, so wie Sie es vorhin insinuiert haben. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Benning, wollen Sie darauf antworten? ({0})

Sybille Benning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Frömming, ich bin sehr froh, in diesem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat leben zu können. ({0}) Ich bin dankbar dafür, dass wir mit demokratischen Mehrheiten hier die Beschlüsse fassen, um Forschung zu ermöglichen, um der Wissenschaftsfreiheit Ausdruck zu gebieten. Ich hoffe, dass das immer so bleibt. ({1})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge: einen Antrag der Fraktion Die Linke und einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der eine lautet: „Keine Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen“, der andere lautet: „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr“. Wenn der Hintergrund dieser Anträge nicht so schäbig wäre, könnte man witzeln: Wenigstens der Satzbau wurde individuell gestaltet. Im Kern aber lehnen beide Anträge die Bewaffnung von Drohnen ab. ({0}) Sie gefährden damit Leib und Leben der Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten. ({1}) Da möchte ich mal sehen, wie die betroffenen Familien auf Sie reagieren. Grüne wie Linke lehnen beide aus linksideologischer Arroganz die Einführung dieser Schutzdrohnen ab. ({2}) Meine Damen und Herren, Drohnen sind nichts anderes als ferngesteuerte Fluggeräte; ferngesteuert von ausgebildeten Bundeswehrsoldaten. Sie antizipieren von Anfang an einen unsachgemäßen Gebrauch, und Sie misstrauen unseren Soldatinnen und Soldaten. Sie entziehen ihnen damit das Vertrauen. ({3}) Das ist unsachgemäß, und das ist schäbig, meine Damen und Herren. ({4}) Sie von der Linken müssen sich zu diesem Thema überhaupt nicht melden: Sie lehnen die Bundeswehr ja von Grund auf ab. Aber auch die Grünen zeigen jetzt ihr wahres Gesicht. Sie steuern ja vermeintlich auf dem politischen Mittelstreifen und biegen, ohne zu blinken, mit diesem Antrag scharf nach links ab. Aber, meine Damen und Herren – das besorgt mich sehr –: Ich halte das Verhalten der SPD-Spitze auch für schäbig. Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir nach einer Anhörung die Bewaffnung von Drohnen ermöglichen. Wir sind jetzt acht Jahre dabei, zu diskutieren. Im Sommer 2017 war es ja der Mister-100-Prozent Schulz, der gesagt hat: Es ist verboten, im Verteidigungsausschuss zuzustimmen. – 2020 war es Herr Walter-Borjans, der verboten hat, zuzustimmen – gegen die Einstellung der roten Verteidigungspolitiker, was zum Rücktritt des verteidigungspolitischen Sprechers, von Fritz Felgentreu, geführt hat. Das bedauere ich sehr, aber ich bedanke mich persönlich bei dir, Fritz, für die gute Zusammenarbeit. ({5}) Die SPD aus Partei, Fraktion und Kabinett lässt die Bundeswehr hiermit im Stich. Die SPD bricht auch das Wort in der Koalition. Es geht hier um Leben und um Tod: ({6}) Leben, wenn man sich gegen einen Beschuss mit bewaffneten Drohnen wehren kann; Tod, wenn man sich gegen diesen Beschuss nicht wehren kann. ({7}) In Kunduz war die Situation, dass die Soldaten mit einer Beobachtungsdrohne eine Gefahrenquelle gesehen hatten. Sie mussten sich auf den Boden legen und auf Glück hoffen, dass sie nicht getroffen werden. Hätte man eine bewaffnete Drohne gehabt, dann hätte man sich wehren können. ({8}) Es geht lediglich um die Beschaffung von fünf Luftfahrzeugen. Ich stelle hier die Frage: Dürfen wir als Parlamentarier unsere Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze entsenden und ihnen gleichzeitig die technisch notwendigen und vorhandenen Möglichkeiten entziehen, sich zu wehren? Nein, das dürfen wir nicht, meine Damen und Herren. Deswegen brauchen wir eine bewaffnete Drohne. ({9}) Die SPD behauptet ja, sie wolle jetzt Zeit zum Diskutieren haben. Wir verlieren wertvolle Zeit für die Ausbildung der Piloten, für die Beratung der Verträge und auch für die Beschaffung. Es wäre Pflicht des Bundesfinanzministers gewesen, der sich als Vizekanzler bezeichnet und Kanzlerkandidat der SPD ist, unserem Land zu dienen, die Finanzierbarkeit zu ermöglichen, die Vorlage durchzugeben und damit Schaden von unseren Soldaten abzuwenden. Aber die Beschaffung von Drohnen gibt die Möglichkeit, den übergeordneten Sinn einer Debatte zu verstehen. Wie stehe ich denn als Bundestagsabgeordneter und als Partei zu unseren Soldaten, zu unserer Bundeswehr und zu unserem Land? Ich hätte erwartet, dass der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, hier ist. Er ist Abgeordneter vom größten Bundeswehrstandort, nämlich Munster. Lars stellt sich in Munster hin und verabschiedet wort- und blumenreich die Soldaten in den Einsatz. Aber er hat nicht den Mumm und den Schneid, als Generalsekretär gegen die Parteispitze aufzustehen und das zu fordern, was man braucht: Schutzkomponenten für unsere Soldaten. ({10}) Hier zeigt sich, meine Damen und Herren, ein gemeinsamer Kniefall von SPD, Linken und Grünen vor der sozialistisch-pazifistischen Ideologie. ({11}) Das ist ein Verrat an der Bundeswehr. ({12}) Dieses Gefecht, dieses Manöver ist so was von offensichtlich: Die SPD dreht scharf nach links ab und sucht die Option im rot-grünen-linken Glück. Aber dieses Glück wäre bei den sicherheitspolitischen Herausforderungen ein Unglück für unser Land. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege – –

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen kommt es auf die Union an. Wir als CDU/CSU stehen weiter zu unserer NATO-Verpflichtung. Wir stehen zu unserer Truppe. ({0}) Wir sind bereit, 46,9 Milliarden Euro auszugeben. Wir werden weiter in die Modernisierung investieren müssen, in die Einsatzbereitschaft, damit wir auch mit einem guten Gewissen sagen können: Ja, wir entsenden Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze. Ja, wir geben ihnen aber auch die möglichen Schutzsysteme mit an die Hand.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege – –

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht darum, Frieden und Freiheit zu bewahren, Sicherheit zu bewahren. Deswegen lehnen wir diesen Antrag, meine sehr verehrten Damen und Herren, ab.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion? Ich versuche die ganze Zeit, dazwischenzukommen, aber Sie haben ja nicht mal Luft geholt. ({0}) Erlauben Sie also noch eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion?

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin jetzt am Schluss meiner Rede und möchte noch einmal sagen: ({0}) Wir hoffen und setzen auf die Einsicht der SPD. Wir als Union stehen zu unserer Truppe. Wir lehnen den Antrag ab. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Gut. Die Antwort war Nein. – Nächster Redner ist der Kollege Gerold Otten, AfD-Fraktion. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade eine emotionale Rede gehört. In den vergangenen Monaten und Jahren wurde in mehreren Foren über die Notwendigkeit von bewaffneten Drohnen diskutiert. Den Abschluss bildete, wie schon gehört, eine Anhörung im Bundestag. Vor wenigen Tagen fiel dann aber der SPD auf, dass die bisherige Debatte zu sehr auf den Schutz unserer Soldaten verengt wäre. Der Krieg in Bergkarabach zeigt aber nun, dass bewaffnete Drohnen auch als Angriffswaffe genutzt werden können, so die Kollegin Heinrich von der SPD. Meine Damen und Herren, das ist doch der sicherheitspolitische Offenbarungseid der SPD, was Sie da abliefern. Mit dieser Argumentation könnten Sie genauso Panzer, Korvetten und Kampfflugzeuge ablehnen; denn das sind auch Angriffswaffen, wenn Sie so wollen. Dennoch enthält diese Erkenntnis zwei bemerkenswerte Aspekte: Erstens. Der Union fällt nun ihre Argumentation voll auf die Füße, diese Waffensysteme dienten nur dem Schutz unserer Soldaten im Einsatz. ({0}) Zweitens. Die SPD-Führung offenbart hier ein erschreckendes Maß an Ignoranz. Oder ist es kaltes politisches Kalkül? Ich weiß nicht, was verachtenswerter ist. ({1}) Vor einem Jahr habe ich hier an dieser Stelle bereits in der Theorie das vorhergesagt, was in Bergkarabach eingetreten ist. Bewaffnete Drohnen sind Wirkmittel zur Aufklärung, Überwachung und Bekämpfung gegnerischer Kräfte. Die Aserbaidschaner verdanken ihren Sieg der Fähigkeit, feindliche Stellungen und Kriegsgerät aufzuklären und punktgenau zu bekämpfen, besser als es eben Artillerie oder Kampfflugzeuge können, vorausgesetzt eine wirksame Luftabwehr fehlt. Ich fasste dies damals so zusammen – das gilt auch heute noch –: Schutz für unsere Soldaten entsteht einzig durch Aufklärung und Wirkungsmöglichkeit auf dem Gefechtsfeld. Und natürlich sind bewaffnete Drohnen dazu das geeignete Luftkriegsmittel. Das alles aber zeigt: In der SPD-Fraktion fehlt es nicht nur an Sachverstand, sondern jeglicher Bezug zur Realität ist verloren gegangen, und das in der Partei, die mit Helmut Schmidt oder Georg Leber renommierte Verteidigungsminister in diesem Land stellte. Schämen sollten Sie sich! Man kann das Lavieren der SPD nur als schizophren bezeichnen. Vorgestern sprechen Sie sich gegen eine Bewaffnung von Drohnen aus. Gestern stimmen Sie im Verteidigungsausschuss gegen einen gleichlautenden Antrag der Linkspartei. Das ist doch eine sicherheitspolitische Geisterfahrt, was Sie hier veranstalten. Das erklären Sie doch bitte mal unseren Soldaten, die Sie leichtfertig mit Ihren Stimmen in gefährliche Auslandseinsätze nach Afghanistan oder Mali schicken, denen Sie dann aber aus parteitaktischen Erwägungen die Mittel zum Schutz vor feindlichen Angriffen verweigern. ({2}) Meine Damen und Herren, die Beschaffung bewaffneter Drohnen ist ein hochbrisantes gesellschaftliches Thema. Allein das widerspricht schon der These von einer mangelnden öffentlichen Debatte. Fakt ist: Es gibt seit mehr als einem Jahrzehnt eine breitangelegte Kampagne gegen bewaffnete Drohnen, vorangetrieben von links und Grün und ihren Gesinnungsgenossen an den Schalthebeln der veröffentlichten Meinung. Union und FDP wussten schon vor mehr als zehn Jahren, was nötig ist; doch bei der selbsternannten politischen Mitte regierte hier die Furcht: die Furcht, für einen Teil der medial fehlinformierten und parteipolitisch instrumentalisierten Gesellschaft nicht mehr wählbar zu sein. Darum wurde diese Entscheidung über mehr als ein Jahrzehnt verschleppt. In der SPD bricht sich nun aber wieder die linke Haltung Bahn. Die Furcht von Mützenich und Borjans ist groß, von der linken Wählerklientel abgestraft zu werden, würde man einer Beschaffung von Drohnen zustimmen. Ähnlich so bei den Grünen: Auch Sie sind Opfer Ihrer eigenen linken und weltfremden Propaganda. Und viel Spaß, meine Damen und Herren von der Union, mit Ihrem kommenden Koalitionspartner. ({3}) Wie fühlt man sich eigentlich, nachdem die SPD Ihnen Ihr Herzensprojekt der Verteidigung versenkt hat? Und das alles vor dem Hintergrund, dass Sie der SPD in dieser Legislaturperiode jeden Wunsch erfüllt haben, bis hin zur Grundrente. ({4}) All das geschah aber zum Leidwesen der Bundeswehr, ihrer Soldaten und der Sicherheit unseres Landes. Während nun viele unserer verbündeten Streitkräfte über diese Waffensysteme verfügen, ist die Bundeswehr auf dem Weg, eine drittklassige Armee zu werden: technisch veraltet, materiell gebeutelt, personell ausgehöhlt, ({5}) ohne Befähigung zum Kampf, nicht in der Lage, unsere Heimat zu verteidigen. Dafür sind Sie mitverantwortlich. ({6}) Wir fordern daher die SPD auf, zurückzukehren auf den Kurs der Realpolitik, einen Kurs, den ein Helmut Schmidt gefahren hätte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Otten. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Siemtje Möller, SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der beiden Anträge der Opposition, die uns hier zur Abstimmung vorgelegt wurden, könnte ich es mir sehr leicht machen und meine Rede nun mit „Wir lehnen ab“ abschließen. ({0}) Aber angesichts der hochkochenden Debatte in den analogen und sozialen Medien und der Überemotionalisierung von allen Seiten möchte ich die Gelegenheit nutzen und mich vor allen Dingen an Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, wenden. ({1}) Ich möchte Ihnen deutlich sagen, dass ich mich für die Beschaffung der Bewaffnung ausspreche und damit die vorgelegten Anträge auch inhaltlich ablehne. ({2}) Ich tue das, weil mir Ihr Schutz in den Einsätzen wichtig ist. ({3}) Dieser Grundsatz gilt ebenso für alle meine Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion, unabhängig davon, ob sie sich für oder gegen die Bewaffnung aussprechen. Uns sind Ihr Schutz und Ihre Ausrüstung wichtig. ({4}) Deswegen stehen wir als Bundestagsfraktion seit 2014, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, zu dem Aufwuchs im Einzelplan 14. Auch in 2021 stellen wir Ihnen gemeinsam mit dem Koalitionspartner erneut mehr Mittel – satte 1,5 Milliarden Euro – zur Verfügung, ({5}) trotz Corona, trotz vieler anderer Bedarfe und Forderungen, die an uns herangetragen werden: weil wir wissen, dass es massiver Investitionen bei der Bundeswehr bedarf, weil wir wissen, dass viel Gerät in die Jahre gekommen ist ({6}) oder sich, besser gesagt, im Greisenalter befindet, weil wir wissen, dass am Ende verfügbares, funktionierendes Material sowie die Ausbildung an diesem Ihre Lebensversicherung sind, wenn Sie sich für uns im Einsatz befinden. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Strack-Zimmermann?

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne meine Rede zu Ende halten. Danke. Ich halte auch fest: Klar, auch die Heron TP kann eine solche Lebensversicherung sein. Ich bin mir sehr bewusst, welche Fragen unsere Debatte in der Fraktion hervorgerufen hat. Lassen Sie mich deshalb kurz einige der Gedankengänge skizzieren. Ganz grundsätzlich ist es doch so: Das Waffensystem Heron TP läuft per Leasing ab nächstem Jahr zu, dann gehen die Soldatinnen und Soldaten in die Ausbildung, und frühestens in 2022 wird die Heron TP sich in einem Einsatzszenario befinden. Damit ist es doch mitnichten so, Herr Kollege Otte, dass der erhöhte Gesprächsbedarf in der SPD-Bundestagsfraktion nun dazu führt, dass unmittelbar Leben von Soldatinnen und Soldaten aufs Spiel gesetzt wird. ({0}) Denn frühestens in 2022 könnte Heron TP seine Schutzwirkung entfalten. ({1}) Klar ist angesichts der Turbulenzen in der internationalen Politik doch auch, dass heute niemand voraussagen kann, in welchen Szenarien sich die Bundeswehr dann befinden wird ({2}) und inwiefern Force Protection, insbesondere mobile Force Protection, beispielsweise für Patrouillen, überhaupt benötigt wird. Natürlich: Heron TP kann Force Protection mobil, aber auch stationär gewähren. Für den stationären Schutz von Lagern eignen sich aber auch andere Waffensysteme wie beispielsweise das Nächstverteidigungssystem MANTIS, ein wirksames Verteidigungssystem für den Nahbereich. ({3}) Leider hat die Bundeswehr nur ein System dieser Art, ein einziges für alle Einsatzgebiete. Das befindet sich in Mali. Ein Antrag der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion wurde vom Ministerium zwar zur Kenntnis genommen; aber dennoch wurden keine weiteren Mittel zur Verfügung gestellt, um beispielsweise für das von der Ministerin in ihrer Rede erwähnte Lager in Kunduz einen wirksamen Schutz zur Verfügung zu stellen, der noch dazu von der Stange erhältlich wäre. Ich finde, dieser Kritik müssen Sie sich stellen, ({4}) wenn Sie uns vorwerfen – ich zitiere –, uns an den Soldatinnen und Soldaten zu versündigen. Richtig ist doch, dass es neben den Drohnen noch weitere Möglichkeiten für den Schutz von Lagern und Soldatinnen und Soldaten gibt, Schutzeinrichtungen, für die sich der Verteidigungsausschuss mit den Stimmen der SPD und auch der CDU/CSU ausgesprochen hat, Schutzeinrichtungen, die Sie zu beschaffen nicht in der Lage sind. ({5}) Ich finde, hier kann und muss das Ministerium mehr tun, wenn Ihnen so wie uns das Leben der Soldatinnen und Soldaten und deren Schutz und Sicherheit am Herzen liegen. ({6}) In 2018 haben wir gemeinsam im Koalitionsvertrag festgehalten – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident –: „Über die Beschaffung von Bewaffnung wird der Deutsche Bundestag nach ausführlicher völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher und ethischer Würdigung gesondert entscheiden.“ ({7}) Wir haben das so festgehalten, eben weil das ein Thema mit großem gesellschaftlichem Verhetzungspotenzial ist, ein Thema, das man in großen Teilen der Gesellschaft erklären muss. ({8}) Für diese Erklärung braucht man eine Grundlage, und zwar eine Grundlage, die die wesentlichen Fragen erläutert: Was sind die geplanten Einsatzszenarien? Was sind sie mit Blick auf Drohneneinsätze anderer Nationen eben auch gerade nicht? ({9}) Wo sitzt der Operator? Wer gibt einen Befehl? Wie viele Augen sind beteiligt? Muss der Einsatz der Drohne Teil des Mandats sein, oder kann die Bundeswehr selbst entscheiden, wie und wo sie die Drohne einsetzt? Spätestens seit 2018, verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit dem Abschluss des Koalitionsvertrages ist doch klar, dass die SPD-Fraktion diese Fragen beantwortet sehen will und sie diskutieren will. Sie sind nicht neu. Aber ich muss konstatieren, dass das Ministerium sich erst jetzt ernsthaft dem Abarbeiten dieser Passagen ({10}) und diesem im Koalitionsvertrag festgelegten Verfahren gestellt hat. ({11}) Es liegt in der Natur der Sache, dass Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker tief in der Materie stecken und eine Haltung dazu entwickelt haben. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen konnten das bisher nicht, eben weil die Entscheidungsgrundlage fehlte. ({12}) Und sie konnten es vor allen Dingen auch zu Hause nicht in den Wahlkreisen mit der Zivilgesellschaft diskutieren. Aber das ist auch unser Job und Teil der repräsentativen Demokratie. ({13}) Es geht auch momentan nicht, weil nun die weltweite Pandemie Zusammenkünfte schlicht und ergreifend unmöglich macht. Moltke hat einmal gesagt: „Erst wägen, dann wagen!“ – Wir lehnen den Antrag ab. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Möller. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marcus Faber, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist leider eher die Regel als die Ausnahme, dass wir uns in der besinnlichen Weihnachtszeit – wie passend – mit bewaffneten Drohnen beschäftigen. In diesem Jahr proudly presented by Die Linke. – Vielen Dank dafür. ({0}) Was mich allerdings wirklich wütend macht, ist die SPD. Liebe Genossinnen und Genossen, seit knapp zehn Jahren beschäftigen wir uns damit, ob wir unsere Drohnen bewaffnen, um unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zu schützen. Alle Argumente sind mehrfach ausgetauscht worden. Sie haben mehrfach mit Ihrem Koalitionspartner entschieden, dass das eine sinnvolle Sache ist, und wir Freien Demokraten unterstützen das. Aber immer, wenn es zur Entscheidung kommt – jedes einzelne Mal –, schlagen Sie sich in die Büsche und sind auf einmal nicht mehr ansprechbar. Das regt mich auf. ({1}) Das regt aber nicht nur mich auf. Das regt auch diejenigen auf, die Ihre Politik umsetzen müssen. Vizeadmiral Stawitzki ist Abteilungsleiter im BMVg. Ihn regt das auch auf. Er schreibt in den sozialen Medien öffentlich – ich zitiere –: Mir fehlen die Worte. 23 unserer Kameraden habe ich in meiner Zeit als Adjutant von drei Ministern zu Grabe getragen. Wie viele könnten heute noch leben? – Zitat Ende. Dieses Zitat macht, glaube ich, deutlich, dass Ihre Verweigerungshaltung, dass Ihre Weigerung, eine Entscheidung zu treffen, Menschenleben kostet. Das ist das Fatale. ({2}) Dass Sie diese Entscheidung verweigern, weil Sie sich bei Menschen, die völlig realitätsfern argumentieren, aufplustern wollen, widert mich an. Das widert glücklicherweise nicht nur mich an. Es wurde eben schon angesprochen: Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Herr Felgentreu, ist diese Woche von ebendiesem Amt zurückgetreten, weil auch er das nicht mittragen kann. Dafür mein höchster Respekt! ({3}) Es geht darum, unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zu schützen. Das sind wir ihnen schuldig, das sind wir aber auch ihren Angehörigen schuldig. Frau Mattheis von der SPD spricht in diesem Zusammenhang vom automatisierten Töten; ({4}) sie ist heute leider nicht anwesend, wenn ich das richtig sehe. Ich frage mich, welchen Teil der zehnjährigen Debatte sie nicht mitbekommen hat; denn es gibt keinen Unterschied. Nach ihrer Argumentation dürften wir heute auch keine Artillerie einsetzen. Es macht keinen Unterschied. Wenn Frau Mattheis mal im Gefechtsstand war, dann weiß sie, dass man da in einem Container mit Bildschirmen sitzt; der Drohnenpilot sitzt auch in einem Container mit Bildschirmen. Nach unserem Vorschlag sitzt er übrigens im Einsatzland, und das ist gut. Deswegen müssen Sie auch keine Angst vor sich selbst haben; denn auch wenn wir irgendwann bewaffnete Drohnen hätten, würden alle, die in diesem Saal sitzen, bei jedem Bundeswehreinsatz darüber entscheiden, ob wir sie mit den Soldaten in den Einsatz schicken oder nicht. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte schön.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Dr. Faber, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. – Mich würde jetzt doch mal interessieren, ob wir von diesem doch mythenumwobenen Vortrag mal zu Daten, zu Fakten, zu Zahlen kommen können. Können Sie bitte diesem Haus erklären, wie viele Soldaten der deutschen Bundeswehr in den letzten fünf Jahren im Auslandseinsatz nicht hätten sterben müssen, hätte die FDP damals, als sie in Regierungsverantwortung war, diese Entscheidung, die Sie heute wollen, bereits durchgesetzt? Können Sie da eine Zahl sagen? ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Werte Kollegin, vielen Dank für Ihre Frage. – Die FDP hat ihren Bildungsurlaub gemacht. ({0}) Und wir sind aus der außerparlamentarischen Zeit schlauer zurückgekommen, als wir hineingegangen sind. Ich wünsche Ihnen das auch. ({1}) Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, hinzuzulernen. Ich sage Ihnen: Wenn wir bewaffnete Drohnen zum Schutz von Patrouillen hätten, dann würden wir vielleicht in den Einsatzländern häufiger auf Patrouille gehen. ({2}) Dann hätten wir vielleicht die Chance, den Terror in diesen Ländern zu bekämpfen und der Zivilbevölkerung dort besser zu helfen. So könnten wir vielleicht dafür sorgen, dass Entwicklungshelfer dort ihre Arbeit tun können; sie können das derzeit im Norden von Afghanistan nämlich nicht. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Dr. Faber, einen kleinen Moment. Sie haben gleich Gelegenheit, zu antworten, solange Sie wollen. Der Kollege Dr. Brecht, SPD-Fraktion, möchte auch gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ach, nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die lassen Sie nicht mehr zu?

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Dr. Brecht, tut mir leid.

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Brecht, wir kommen ja beide aus Sachsen-Anhalt, wir können das gerne bilateral fortsetzen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das kann Herr Kollege Dr. Faber entscheiden, wie er möchte. – Dann ist Ihre Redezeit fast zu Ende.

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Genau. – Ich komme zum Ende. Ich möchte Sie persönlich fragen, ob Sie wissen, wie man „Verantwortung“ schreibt. ({0}) Das wäre nämlich wichtig. Mir wäre wichtig, dass Sie sich einen Ruck geben, dass Sie nach zehn Jahren Debatte zu einer Entscheidung kommen. Uns Freien Demokraten ist das wichtig. Ich stehe auch gerne Ihrem Parteivorsitzenden zur Verfügung, der offensichtlich noch Informations- und Diskussionsbedarf hat. Ich sage Ihnen: Mein Handy ist für Sie immer an, auch über Weihnachten. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Faber. – Nächster Redner ist der Kollege Tobias Pflüger, Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst einmal will ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass vonseiten der SPD die Entscheidung über die Bewaffnung von Drohnen geschoben wurde. So kommt es diese Legislaturperiode nicht mehr zu einer Beschaffung der Bewaffnung für die Drohne Heron TP. Das begrüßen wir als Linke ausdrücklich. ({0}) Bedanken möchte ich mich bei den Akteuren aus der Zivilgesellschaft, der Friedensbewegung, der Wissenschaft, bei der SPD, den Grünen und den Linken, die dieses möglich gemacht haben. Wir werden später hören, dass diese Debatte über die Bewaffnung von Drohnen ausführlich geführt worden sei. Na ja, wir wissen aber auch: Das Verteidigungsministerium hat eine im Wesentlichen gelenkte Debatte geführt. Eine ausführliche, breite gesellschaftliche Debatte sieht völlig anders aus. ({1}) Dazu gehören auch viele andere Akteure, zum Beispiel aus dem Bereich der Gewerkschaften und der Religionsgemeinschaften. Das zur Ehrenrettung von Norbert Walter-Borjans und Rolf Mützenich. Immer wieder wird von den Befürwortern der Bewaffnung vorgebracht, Drohnen würden nur und ausschließlich zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten sowie von Lagern und Konvois eingesetzt. Jeder, der sich mit Drohnen auskennt, weiß: Das ist, freundlich formuliert, nur ein Teil der Wahrheit. Für Kampfdrohnen gibt es breite Einsatzszenarien. Schauen Sie zum Beispiel in das Thesenpapier „Rüstung digitalisierter Landstreitkräfte“ vom Kommando Heer. Da sind solche Szenarien konkret beschrieben. Da ist von UAV-Wirkmitteln gegen Gegner die Rede. Ich zitiere mal einen Soldaten. Er sagt: Unehrlich ist es, diese militärischen Einsatzszenarien hinter dem Begriff „Schutz“ zu verstecken. „Schutz“ heißt beim Militär eben auch, dass wir anderen Menschen das Leben nehmen werden. Das gehört dazu. Er sagt weiter: Wir müssen aufhören, nur vom Schutz für Soldatinnen und Soldaten zu reden. Im besten Falle schießen sie nie, die Drohnen. Wenn wir sie aber nutzen, dann meist mit dem Ziel, Menschen zu töten. ({2}) Da nur „Schutz“ zu sagen, ist unehrlich. ({3}) Das ist der zentrale Punkt: Sie erzählen quasi nur einen Teil der Szenarien. Es gibt breite Szenarien für diese bewaffneten Drohnen; deshalb sollen sie angeschafft werden. Das sind Kampfdrohnen. Das sind auch Angriffswaffen. Deshalb lehnen wir diese Anschaffung der Drohnen ab. ({4}) Der beste Schutz für die Soldatinnen und Soldaten ist nicht die Anschaffung von Kampfdrohen, sondern dass man sie gar nicht erst in den Auslandseinsatz schickt. ({5}) Das wäre der beste Schutz. ({6}) Anja Dahlmann von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat darauf hingewiesen: Bewaffnete, ferngesteuerte Drohnen können in bestimmten Szenarien operative Vorteile bieten, sind aber grundsätzlich auch geeignet, rechtlich fragwürdige Einsätze zu begünstigen und zu Pfadabhängigkeiten zu führen, die auf Autonomie hinauslaufen. Insbesondere könnten bewaffnete Drohnen der erste Schritt sein in Richtung autonomer Waffensysteme. – Und genau das ist geplant. ({7}) Gucken Sie sich das Future Combat Air System an. Dort ist von autonomen Waffensystemen die Rede, von Drohnenschwärmen. Genau das ist die Entwicklung, die wir nicht wollen. Wir wollen nicht, dass dieser Pfad geöffnet wird. Deshalb lehnen wir die Bewaffnung der Drohnen ab. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht ein kleiner Tipp an diejenigen innerhalb der SPD, die jetzt dafür gesorgt haben, dass es zu dieser guten Entscheidung gekommen ist. Für die Eurodrohne sind trotzdem noch 232 Millionen Euro im jetzigen Haushalt enthalten. Auch diese Drohne ist bewaffnet geplant, und deshalb muss auch sie aus dem Haushalt gestrichen werden. Auch das ist eine bewaffnete Drohne, die wir ablehnen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schon interessant, mit welcher Aufregung diese Debatte geführt wird. Es handelt sich um ein Waffensystem, das eine grundsätzliche Veränderung der Kriegsführung bedeutet, und das ist der Grund, warum wir es ablehnen. Ihre Formulierungen, die Sie vorhin gebracht haben – unter anderem Sie, Herr Otte –, fand ich schon sehr problematisch. Ich halte es für notwendig, dass wir die Debatte ganz ruhig und sachlich führen. Dieses Waffensystem ist problematisch, und deshalb sollten wir es nicht einführen. Vielen Dank. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Katja Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, auch wir Grüne haben uns nach zehnjähriger Debatte eine Meinung gebildet und sind gegen die Bewaffnung der Drohnen. ({0}) Liebe SPD, ich finde es langsam etwas albern, zu behaupten, es sei noch nicht genug diskutiert worden. Sagt doch einfach, wo die Bedenken liegen, und entscheidet euch. ({1}) An die Union gerichtet muss ich sagen: Eine Debatte vereinbart man wegen des Erkenntnisgewinns, und nicht, weil man eine bereits getroffene Entscheidung im Nachhinein legitimieren will. ({2}) Akzeptieren Sie endlich, dass die Debatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hat. ({3}) Trotzdem haben meine Kolleginnen und ich uns die neuerliche Präsentation der Argumente noch einmal gründlich angesehen. Wenn Sie uns nämlich davon überzeugen könnten, dass der konkrete Vorteil einer bewaffneten Drohne gegenüber der herkömmlichen Luftunterstützung so groß ist, dass er die Nachteile aufwiegt, dann hätten wir unsere Entscheidung durchaus überdacht; ({4}) denn der Schutz der Soldatinnen und Soldaten ist für uns ein entscheidendes Kriterium. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Frau Abgeordnete?

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde gerne vortragen. – Die vorgetragenen Fallbeispiele waren allerdings erschreckend ungeeignet, um den Vorteil bewaffneter Drohnen darzulegen. Ich hätte erwartet, dass Sie es uns schwerer machen. Durch Drohnen hätte weder die dargestellte Hinrichtung durch Terroristen verhindert noch ein unübersichtliches Kampfgeschehen beim Angriff auf eine Patrouille beendet werden können. Bewaffnete Drohnen sind eben keine sauberen Wunderwaffen, die nur die Bösen treffen und die Guten schonen. Von den zehn bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr im Ausland wird derzeit keiner mit einem Einsatzszenario für bewaffnete Drohnen gefahren, und das ist auch gut so. ({0}) – Der Abzug aus Kunduz war ohnehin notwendig, und daran hätten auch die bewaffneten Drohnen nichts geändert, Herr Otte. Ich habe bei der Bundesregierung trotzdem noch einmal schriftlich nachgefragt, wie oft die Bundeswehr in Afghanistan auf den Schutz durch bewaffnete Drohnen der Bündnispartner angewiesen war; denn das wäre ja durchaus relevant gewesen. Die Antwort der Bundesregierung war allen Ernstes, dass sie darüber keine Kenntnis hat. ({1}) Also, bitte: Wenn Sie uns von der Notwendigkeit dieser Waffensysteme überzeugen wollen, dann sollten Sie solche Kenntnisse besser haben. ({2}) Ich bitte die Soldatinnen und Soldaten um Verständnis, aber wir müssen bei der Abwägung nicht nur das aktuelle Einsatzszenario ansehen, sondern auch mit einbeziehen, dass die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnen das Einsatzszenario künftig verändern wird. Falls die Union insgeheim vorhat, die Bundeswehr künftig auch an bilateralen Antiterrormissionen zu beteiligen, dann soll sie das offen sagen. Ich sage Ihnen: Diese Form des Antiterrorkampfes hat sich weder bei den Amerikanern in Afghanistan noch bei den Franzosen in Mali als hilfreich und nachhaltig erwiesen. ({3}) Wir halten es für richtig, dass die Bundeswehr die UNO-Mission in Mali unterstützt. Für dieses aktuelle Einsatzszenario brauchen wir die Bewaffnung der Drohnen nicht. Ein anderes Szenario würde das Leben der Soldatinnen und Soldaten mehr gefährden als schützen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir mit der Redezeit jetzt etwas strenger umgehen müssen und auch Kurzinterventionen und Zwischenbemerkungen nicht mehr zulassen werden. ({0}) Als Nächstes hat das Wort Florian Hahn, um fünf Minuten für die Fraktion der CDU/CSU zu reden. ({1})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, schön, dass man jetzt beim letzten Redner darauf achtet, aber gut. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegen zwei Anträge vor – von der Linken und von den Grünen –, die inhaltlich auf das Gleiche hinauswollen, nämlich dass die Bundeswehr nicht mit bewaffnungsfähigen Drohnen ausgerüstet werden soll. Beim Antrag der Linken ist es so, dass sich sechs Zeilen mit der Beschlussfassung beschäftigen und acht Zeilen mit der Begründung. Das ist relativ dünn, und das ist ungefähr genauso dünn wie das, was der Herr Pflüger hier abgezogen hat. Er hat Argumente angeführt – die in dem Antrag der Linken gänzlich fehlen –, die Sie im Grunde für jede andere Waffe, die die Bundeswehr einsetzt, auch ins Feld führen können. ({0}) Daran zeigt sich einmal mehr: Dogmatisch konsequent und ideologisch treu – so ist Die Linke, und deswegen wollen wir uns damit gar nicht länger befassen. ({1}) Ich komme zu dem Antrag der Grünen. Richtig an dem Antrag ist – und das hat die Kollegin Keul auch gesagt –: Die Debatte wird jetzt seit fast zehn Jahren geführt, und es sind tatsächlich alle Pros und Kontras auf den Tisch gelegt, abgewogen und diskutiert worden. Falsch ist allerdings der Schluss, den Sie ziehen, liebe Kollegin Keul. Es ist falsch, diese bewaffnungsfähige Drohne nicht anschaffen zu wollen, und ich sage Ihnen auch als Antwort auf Ihre Argumente, warum. Sie sagen unter anderem, das BMVg hätte nicht ausreichend Einsatzszenarien geliefert, um den Unterschied zwischen Drohnen und herkömmlicher Luftunterstützung aufzuzeigen und deutlich zu machen, warum das notwendig ist. Ich kann nur sagen: Bei den vielen Veranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe, bei den Debatten, bei der Anhörung im Bundestag, bei den Äußerungen des Bundeswehrverbands sind überall Soldaten zu Wort gekommen. ({2}) – Frau Präsidentin? – Viele Soldaten sind befragt worden, die genau diese Szenarien beschrieben haben, und das aus voller Überzeugung, aus eigener Erfahrung. Wenn das nicht genug ist, was braucht es denn dann noch mehr?

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich wiederhole mich ungern, aber ich möchte gerne, dass die Debatten jetzt zügig zu Ende geführt werden. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. Ich würde sie genehmigen, aber ich muss jetzt leider weiterreden. Frau Strack-Zimmermann, ich hätte den Genuss Ihrer Zwischenfrage gerne gehabt. ({0}) Mit Blick auf die zehn Jahre, die ich im Deutschen Bundestag bin, fallen mir spontan drei Situationen ein, bei denen ich glaube, dass dort eine bewaffnungsfähige Drohne den Unterschied gemacht hätte: Das ist Kunduz, das ist das Karfreitagsgefecht, und das ist der Beschuss des deutschen Lagers letztes Jahr in Afghanistan. Das sollte man nicht übersehen. ({1}) Als weiteres Argument hatten Sie gesagt, bewaffnete Drohnen würden aktuell überwiegend völkerrechtswidrig zum Einsatz kommen. Da kann ich nur fragen: Was ist denn das für ein großer Unsinn? Das entspricht überhaupt nicht der Realität. Und selbst die Völkerrechtsexperten, die Grüne und Linke in der Anhörung aufgefahren haben, haben klar gesagt, dass Drohnen in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht eingesetzt werden können und dass es keinen rechtlichen Unterschied zu anderen Waffensystemen, beispielsweise zu Kampfflugzeugen, gibt. ({2}) Ihr drittes Argument war, dass bewaffnete Drohnen dazu führen, dass die Hemmschwelle für militärische Einsätze sinkt. Da kann ich nur sagen: Diese Frage hat mit Drohnen nichts zu tun; ({3}) denn jede neue Fähigkeit verändert selbstverständlich die Einsatzszenarien. Ein Beispiel: Vor zehn Jahren haben wir Schutzkomponenten für den Dingo angeschafft. Warum? Weil unsere Soldatinnen und Soldaten einfach nicht sicher genug ausgerüstet waren, als sie in Afghanistan Patrouille gefahren sind. Was ist dann passiert? Wir haben die Dingos ausgestattet, das Fahrzeug war sicherer, und selbstverständlich sind dann mehr Patrouillen gefahren worden. Das ist doch ganz klar. Ein zweites Beispiel: September 2020, Beschaffung eines schweren Bombenkörpers, der GBU-48, für den Eurofighter. Selbstverständlich haben wir hier zugestimmt, weil das eine wichtige Fähigkeit ist. Im Übrigen haben Sie, liebe Frau Keul, und die Grünen zugestimmt. Wozu führt die GBU-48? Zu ganz anderen Möglichkeiten, den Eurofighter in den Einsatz zu bringen. Das hat mit der Frage „Drohne – ja oder nein?“ nichts zu tun. Neue Fähigkeiten bedeuten im Zweifel auch neue Einsatzszenarien. Ich richte einen Appell an Olaf Scholz, den Finanzminister. Er hat die Vorlage bei sich liegen. Er soll jetzt seines Amtes walten und soll – das Geld ist hinterlegt – die Vorlage in den Deutschen Bundestag einbringen. ({4}) An die SPD habe ich jetzt noch den dringenden Rat: Liebe Frau Möller, Sie haben das hier tapfer gemacht. Es ist übrigens bezeichnend, dass Sie als die Einzige, die dafür ist, hier reden, während sich offensichtlich die Mehrheit in Ihrer Partei aktuell drückt. Aber, liebe SPD, hören Sie auf Ihre Fachpolitiker, hören Sie auf die Wehrbeauftragte Eva Högl, auf den ehemaligen Wehrbeauftragten Herrn Bartels! Lassen Sie die Bundeswehr, lassen Sie unsere Soldatinnen und Soldaten nicht im Stich! Sie werden einen massiven, schweren politischen Schaden davontragen, wenn Sie diese Entscheidung tatsächlich so treffen, und Sie treiben treue Wähler, die Sie hatten, nicht zuletzt auch in die Arme der AfD. Herzlichen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Hahn.

Uwe Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004888, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weihnachtsstimmung im Parlament. – So langsam kommt der Ausbau des 5-G-Netzes in Deutschland in Fahrt, und das ist auch gut so. Meine Fraktion sieht 5 G als wichtige Zukunftstechnologie für Stadt und Land. Wir haben als AfD hier an dieser Stelle immer auch Rechts- und Planungssicherheit eingefordert, wenn es darum geht, ob staatsnahe Unternehmen aus Fernost Netzkomponenten für 5 G liefern dürfen oder nicht. Die Bundesregierung hat die Chance, hierzu im aktuellen Entwurf des IT-Sicherheitsgesetzes Klarheit zu schaffen. Aber leider drückt sie sich wieder um eine Lösung. – Aber das nur am Rande; darüber reden wir dann im nächsten Jahr. Heute geht es auch um 5 G, aber in einem anderen Zusammenhang. Liebe Kollegen, 5 G ist eine Revolution für den mobilen Datentransport, aber viele Mitbürger haben Bedenken. Die Angst vor Strahlung ist gerade beim Mobilfunk groß. Die Diskussion begann schon Mitte der 90er-Jahre bei den frühen Mobilfunkgenerationen. Unzählige Bürgerinitiativen wurden gegründet, um Antennenstandorte zu verhindern. Die Gerichte haben auch heute noch viel damit zu tun. Bei 5 G nehmen die Streitigkeiten jedoch inhaltlich neue Dimensionen an. Mittlerweile fordern auch viele Experten, Ärzte und wissenschaftliche Organisationen Aufklärung über eventuelle Gefahren, und sie fragen, wie die Auswirkungen elektromagnetischer Strahlung zu bewerten sind. Auch der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlamentes – den gibt es auch dort – mahnt umfangreiche Untersuchungen zur realen oder vermuteten Gefährlichkeit von 5 G an. Die Bandbreite der Vorbehalte ist bei 5 G besonders groß und nicht immer seriös. Die Bedenken reichen von fundierten wissenschaftlichen Argumenten bis hin zum Auflisten angeblicher Geschehnisse. Von Vögeln, die wegen 5-G-Strahlung vom Himmel fallen, ist die Rede und von absterbenden Bäumen. Es werden 5-G-Apokalypsen heraufbeschworen; 5 G wird als Strahlenwaffe bezeichnet und als Instrument für den Völkermord. Auf der anderen Seite befinden sich Interessengruppen, die jede negative Auswirkung von 5 G direkt ins Reich der Märchen verweisen. Insgesamt sind die Fronten zwischen den Lagern verhärtet. Die Diskussion um 5 G stellt alle Vorbehalte in den Schatten, die wir bereits zu 3 G und 4 G hörten. Aber Tatsache ist: Es gibt keine anerkannten Belege dafür, dass 5 G das Wohlergehen von Mensch, Tier und Natur schädigt. Tatsache ist aber auch: Es gibt keine unabhängigen Studien, die die Gefahrlosigkeit von 5 G beweisen, ({0}) und es gibt vor allem keine Studien, die auf eine Langzeitbetrachtung fokussiert sind. Uns allen muss bewusst sein: Die 5-G-Technologie kann das digitale Nervenzentrum unserer Wirtschaft und Infrastruktur werden. Aber es ist logisch, dass sich das enorme Innovationspotenzial erst dann entfaltet, wenn 5 G von den Bürgern angenommen und akzeptiert wird. Und wie erzeugt man Akzeptanz? Indem man Klarheit schafft und den Menschen die Angst nimmt. ({1}) Daher brauchen wir eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Studie, die uns eine größtmögliche Transparenz über vielleicht doch vorhandene Tücken und Gesundheitsgefahren liefert. ({2}) Die Ergebnisse und Ableitungen aus der Studie, meine Damen und Herren, müssen für ein breites Publikum verständlich sein. Denn sehr viele Bürger aus allen Gesellschaftsbereichen wollen wirklich verstehen, um was es hier geht. Nur so wird es gelingen, gerade den unseriösen selbsternannten „Experten“ den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und sollte sich am Ende des Tages herausstellen, dass wirkliche gesundheitliche Probleme mit der Anwendung von 5 G verbunden sein können, dann hat die Bundesregierung auch gleich eine Argumentationsgrundlage für die notwendigen Entscheidungen und Schritte. Meine Damen und Herren, es ist an uns hier im Deutschen Bundestag, Klarheit für unsere Bürger zu schaffen. Wir müssen das gegenseitige Misstrauen auflösen, das zwischen 5-G-Befürwortern und 5-G-Gegnern besteht. Wenn wir die Digitalisierung wirklich weiterbringen wollen, brauchen wir sichere Datenautobahnen, die auch genutzt und akzeptiert werden. Und wir müssen gewährleisten, dass die 5-G-Infrastruktur zügig wachsen kann – überall in unserem Land, und zwar ohne Gutachtern, Anwälten und Gerichten ständig Futter zu geben. Ich bitte Sie, unterstützen Sie unseren Antrag, und beweisen Sie damit, dass Sie die Nöte der Menschen wirklich ernst nehmen, ({3}) und zeigen Sie gleichzeitig, dass der Deutsche Bundestag dem Ausbau der digitalen Infrastruktur nicht im Wege steht. Ihnen ein schönes Weihnachtsfest! Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Schulz. – Gleich geht das Wort an Karsten Möring von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben von der AfD die Begründung ihres Antrags gehört, ({0}) und ich sage mal: Hinter der scheinsachlichen Begründung steckt in Wirklichkeit ein ganz anderes Motiv. Das Motiv haben wir im letzten Jahr schon kennengelernt, als es darum ging, bei einem 5-G-Experimentierfeld in Sachsen Unruhe in der Bevölkerung mit der Behauptung zu schüren, es sei unsicher, ob es gesundheitliche Gefährdungen gebe. Auch bei diesem Antrag wird unterschwellig suggeriert: Wir müssen so eine Untersuchung machen, weil es gesundheitliche Gefährdungen gibt, die es aufzuklären gilt. – Hinter dieser Attitüde des Aufklärers verbirgt sich in Wirklichkeit ein Unruhestifter, der argumentieren möchte: Solange so etwas nicht ganz klar ist, so lange sollten wir die Finger davon lassen. ({1}) Das ist genau der falsche Weg. ({2}) Selbstverständlich müssen wir uns mit den Konsequenzen einer 5-G-Einführung und der Auswirkung auf menschliche Gesundheit intensiv beschäftigen. Aber nicht erst in jüngster Zeit, Herr Kollege, ist das so, sondern das machen wir schon seit sehr langer Zeit. Ich darf nur mal an ein paar Daten erinnern: Anfrage der AfD vom 10. Mai 2019 zu diesem Thema, Antwort der Bundesregierung vom 29. Mai 2019: elf Seiten; Emissionsminderungsbericht der Bundesregierung vom Dezember 2018 mit, ich weiß nicht, 30 Seiten; Debatte dazu im Februar im Ausschuss für Umwelt; Stellungnahme des Bundesamts für Strahlenschutz zu dem so genannten NTP-Thema, das dort angesprochen wurde; Anfrage der Grünen, 13. März dieses Jahres, Antwort: 26 Seiten; NRW-Debatte vor zwei Monaten zu diesem Thema: mehrere Stunden lang. Wenn Sie behaupten, das sei bisher nicht ausreichend Thema gewesen, dann kann ich nur sagen: Dass Sie so einen Antrag schreiben, der sich auf sage und schreibe fünf Pressemeldungen als Quelle dafür konzentriert, dass es einige Wissenschaftler gibt – ob sie es sind oder nicht, lasse ich mal dahingestellt –, die sagen, man solle ein Moratorium zu 5 G machen, ist die absolut unseriöseste Weise, mit diesem Thema umzugehen, die ich mir überhaupt vorstellen kann. ({3}) Wie sind wir in Deutschland in diesem Bereich unterwegs? Wir haben das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm. Wir haben die Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, die uns bei der Frage von Grenzwerten berät, an die wir uns halten. Wir haben die Strahlenschutzkommission. Wir haben seit Anfang dieses Jahres das Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder. Wir haben Organisationen bei der WHO und bei der UN, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Wenn Sie sagen, wir hätten noch nicht ausreichend geforscht und könnten nicht ausschließen, dass es gesundheitliche Folgen gibt, dann kann ich nur sagen: Sie hätten damit nicht unrecht, wenn Sie akzeptieren würden, wie solche Untersuchungen stattfinden. Alle empirischen Untersuchungen haben, solange sie nicht falsifiziert sind, ein Ergebnis: Es gibt keine Gefährdung. Wenn man das potenzielle Risiko, dass man irgendwann doch noch etwas findet, für die praktische Anwendung ausschließen will, hat man dafür ein Instrument: Man hat Grenzwerte, die man so festsetzt, dass die Differenz zu dem, was wir an Erkenntnissen haben, genügend groß ist. Die Grenzwerte, die wir für die Mobilfunktelefone, aber auch für die Sendemasten festgesetzt haben, orientieren sich schlicht und einfach daran, wo oder bei welchen Werten man biologische oder thermische Reaktionen hat feststellen können. Dann fügt man einen Sicherheitszuschlag hinzu, der zwischen dem Zehn- und dem Hundertfachen liegt. Auf diese Weise betreibt man Risikominimierung. Dann kann man seriös abwägen und sagen, welches Risiko wir in Kauf nehmen können und welche Vorteile die Anwendung von 5 G hat. Wenn wir 5-G-Grenzwerte von bis zu 300 Gigahertz haben, die Geräte in Wirklichkeit aber im einstelligen Gigahertzbereich arbeiten, dann kann man mit Fug und Recht sagen, dass wir alles getan haben, um die Risiken, die vielleicht in der Technologie stecken, so weit minimiert zu haben, dass wir es verantworten können. Dann sagen Sie: Es soll transparent zugehen. – Transparent geht es zu. Vielleicht haben Sie mal zur Kenntnis genommen, dass wir seit Anfang Dezember den Internetauftritt www.deutschland-spricht-ueber-5g.de haben. Da haben Bürger, die interessiert sind, nicht nur die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen. In diesem Portal stehen auch alle nennenswerten Forschungsergebnisse mit Quellenangaben, in denen man nachgucken und sich informieren kann, und zwar in einer Sprache, die, wie Sie fordern, allgemein verständlich ist. Dazu dient dieses Portal. Nutzen Sie es! Vielleicht können Sie beim nächsten Mal daraus einen Nutzen ziehen und einen Antrag formulieren, der ein bisschen seriöser und ein bisschen fundierter ist als das, was Sie heute abgeliefert haben. Ein letzter Punkt. Wenn Sie alles das nicht glauben und sagen: „Das ist mir viel zu unsicher“, dann habe ich einen ganz einfachen Rat: Wer sich auf 5 G nicht einlassen will, der holt sich kein 5-G-Handy; denn 95 Prozent der Strahlungseinwirkung kommt über das Handy und nicht über die Sendemasten. Niemand ist gezwungen, das zu nutzen. Er kann die Finger davon lassen. Das gilt für alle Aluhutträger genauso wie für den normalen besorgten Bürger, der sagt: Das Risiko ist mir zu groß. Aber wir lassen uns die Vorteile von 5 G dadurch nicht vermiesen! Die brauchen wir. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Möring. – Jetzt geht das Wort an Judith Skudelny von der Fraktion der FDP. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich könnte es mir mit diesem Antrag vergleichsweise einfach machen. Ich könnte darauf hinweisen, dass das Büro für Technikfolgen-Abschätzung gerade zu dem Thema „elektromagnetische Strahlungen“ einen Auftrag dieses Hauses angenommen hat und kurz vor dem Abschluss eines Berichtes genau über dieses Thema steht. Ich könnte darauf hinweisen, dass das Bundesamt für Strahlenschutz in der Lausitz ein Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder eingerichtet hat und dass dieses Haus, das Parlament, jetzt erst 1,75 Millionen Euro für Forschung über 5 G zur Verfügung gestellt hat. Das wäre die einfache Antwort auf Ihren Antrag. ({0}) Allerdings möchte ich meine restliche Redezeit doch für etwas nutzen, das ein bisschen anders ist. Ihr Antrag beruht darauf, dass Sie verwirrt darüber sind, dass unterschiedliche Zeitungen ganz unterschiedlich über 5 G berichten. Sie sind verwirrt darüber, dass dann, wenn man nach Gefahren von 5 G googelt, unterschiedliche Antworten kommen. Aber, meine Damen und Herren, das ist das Wesen einer westlichen Demokratie. Wir haben freie Wissenschaft, wir haben freien Journalismus, und wir haben die freie Meinungsäußerung. Wenn Sie nicht wollen, dass unterschiedliche Menschen Ergebnisse und Sachen unterschiedlich werten, dann müssen Sie in ein anderes Regime gehen, wo es nur eine Meinung gibt. ({1}) Hier haben wir viele Meinungen, und es ist gut, dass man diese vielen Meinungen abwägen kann. Interessant ist, dass gerade Sie so staatsgläubig sind, dass Sie sagen: Der Staat muss die eine Wahrheit bringen. Der Staat muss die Studie bringen, die uns erklärt, was richtig oder falsch ist. – Meine Damen und Herren, es ist nicht am Staat, etwas für richtig oder falsch zu erklären. Die Bürgerinnen und Bürgern haben ihr Vertrauen in die Hand dieses Parlamentes gelegt. Unsere Verantwortung ist es, die Informationen, die wir aus der Wissenschaft bekommen, zu gewichten und – das gilt für jeden individuell – seine Entscheidung auf der Basis dieser Erkenntnisse zu treffen. Das nennt man Demokratie, und darauf bin ich hier in Deutschland stolz. ({2}) Deswegen fand ich die Begründung, die Sie genannt haben: „Wir brauchen eine Weisheit, eine Heilsbringung, eine Wissenschaft“, tatsächlich das, was ich an diesem Antrag so bedenklich fand; denn was wir brauchen, ist die Pluralität. Wissenschaftler sind auch nur Menschen, die Fakten auswerten und unterschiedlich bewerten. Sie sind keine Religionsstifter und keine Heilsbringer. Deswegen ist es gut, dass wir viele Wissenschaftler haben und dass wir diese fördern. Dieses Parlament hat das Geld in die Hand genommen, die Wissenschaft zu fördern und 5 G auszubauen, damit wir, weil Wissenschaft auch keine abschließende Erkenntnis bedeutet, die Erkenntnisse fortentwickeln können und mit unseren Gesetzen und unseren Verordnungen uns dem Stand der Technik anpassen können. Das ist die Aufgabe, die wir hier im Parlament haben, und das ist das, was wir mit unseren Erkenntnissen, die wir von dem Bundesamt für Strahlenschutz bekommen, sehr gut mit Leben füllen können. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Frau Skudelny. – Als nächsten Redner erwarten wir Falko Mohrs von der SPD-Fraktion. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 5 G, also die fünfte Mobilfunkgeneration, erlaubt es uns, schneller und mehr Daten zu übertragen. Das ist das Neue. Es gibt Anwendungsfelder im Bereich der Landwirtschaft, in der Industrie, in der Mobilität, in der Gesundheit: viele Anwendungsfelder, von denen wir als Gesellschaft uns einen Fortschritt versprechen. Das, meine Damen und Herren, ist das Neue. Wir haben Modellregionen in Deutschland, in Wolfsburg zum Beispiel im Bereich Mobilität – ich hoffe, in Helmstedt und Wolfenbüttel bald im Bereich Landwirtschaft und Umweltschutz –, wo genau Standards und Anwendungsfälle erforscht werden. Was nicht neu ist, meine Damen und Herren, sind die Frequenzen, die bei 5 G genutzt werden. Wir nutzen beispielsweise bei 5 G Frequenzen, die jeder WLAN-Router zu Hause im Haushalt heute eben auch nutzt. Wir haben perspektivisch im Bereich von 20 Gigahertz vor, auch zusätzliche und neue Frequenzen zu nutzen. In der Tat muss man hier bei der Studienlage wahrscheinlich ein klein wenig unterscheiden. Aber ich glaube, trotzdem hilft es, sich einige Fakten noch mal sehr genau anzuschauen. Elektromagnetische Felder haben ungefähr ab dem Bereich eine krebserregende Wirkung, in dem auch UV-Strahlen eine solche haben. Wir reden hier aber zum Beispiel über einen Energiegehalt von 3,1 Elektronenvolt. Um das mal ins Verhältnis zu setzen: Beim Mobilfunk sind wir im Mikroelektronenvoltbereich. Also, meine Damen und Herren, wir haben hier nun tatsächlich alleine schon beim Energiegehalt, wenn man sich diese Fakten anschaut, einen massiven Unterschied gegenüber den Frequenzen und der Strahlung, die im Bereich von Mobilfunk genutzt werden. Der Kollege Möring hat es ja gesagt: Über 90 Prozent der Strahlung gehen beim Mobilfunk von Endgeräten und nicht von den Antennen aus. Übrigens war die Strahlung vor allem bei GSM, also auch bei 3 G und 4 G, höher als das, was wir bei 5 G erwarten. Insofern ist das, was von der AfD hier vorgelegt wird, aus meiner Sicht eher der Versuch, Sorgen zu schüren, Ängste ins Spiel zu bringen und den Eiertanz zwischen den Polen, die Sie gerne zusammenführen wollen, irgendwie hinzubekommen. Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, das misslingt der AfD hier grundsätzlich. ({0}) Wenn Sie als AfD sich in Ihrem Antrag um Missinformation und den Verlust von Fakten Sorgen zu machen scheinen, dann würde ich das eher als etwas putzig abtun. Denn: Ja, wir brauchen Fakten, wir brauchen Transparenz; aber das setzt voraus, dass alle Beteiligten auch bereit sind, Fakten anzunehmen, meine Damen und Herren. ({1}) Wir haben eine Studienlage mit rund 28 000 Studien, die im Archiv der RWTH Aachen hinterlegt sind. Diese Studienlage sagt klar, dass von der Strahlung von 5 G keine Gefahr ausgeht. Demgegenüber stehen 400 Studien, die von den Gegnern von 5 G immer wieder herangezogen werden, wovon übrigens bei Wiederholungsstudien, was in der Wissenschaft ein gängiges Mittel ist, keine genau zu dem Ergebnis kommt, dass eine Gefahr davon ausgeht. Also, meine Damen und Herren, die Studienlage bei 5 G ist sehr klar. Apropos Fakten: Vielleicht hätte es der AfD geholfen, sich einmal genau mit den Fakten, mit der Realität auseinanderzusetzen, bevor man diesen Antrag schreibt. ({2}) – Ich habe immer noch Hoffnung, dass es der AfD hilft, auch wenn sie vielleicht gering ist, Frau Kollegin; das stimmt. – Sie hätten vielleicht zur Kenntnis nehmen können, dass die Bundesregierung vor wenigen Tagen, im Dezember, eine Dialoginitiative gestartet hat – der Kollege hat es angesprochen –: „Deutschland spricht über 5 G“. Dazu gibt es eine Internetseite mit sehr guten Links, sehr guten Informationen, einem sehr guten Verweis zu vorhandenen Studien, sodass sich jeder genau, transparent und umfangreich informieren kann. Auch das ist eines der Dinge, die Sie hätten zur Kenntnis nehmen können. Seit Februar dieses Jahres gibt es übrigens ein neues Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder. Auch hier kann man sich umfangreich informieren. Es gibt das Bundesamt für Strahlenschutz. Auch hier gibt es eine sehr übersichtlich gestaltete Seite mit Blick auf die Frage von Strahlung und Gefahren. Also, meine Damen und Herren, es gibt eine sehr gute Studienlage für die Frequenzen, die wir heute sehr gut kennen. ({3}) Jetzt habe ich vorhin angesprochen, dass es im 20-Gigahertz-Bereich durchaus Frequenzen gibt, die wir noch nicht so gut kennen. Da kann man vielleicht über Grundlagenforschung aus dem Ministerium für Bildung und Forschung oder aus der Wissenschaft nachdenken. Es liegt beim BMBF, hier im Bereich der Grundlagenforschung aktiv zu werden. Das Umweltministerium macht im Bereich der Ressortforschung einiges. Grundlagenforschung ist Aufgabe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ich glaube, hier haben wir in der Tat noch ein klein wenig Bedarf. ({4}) Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wir haben mit 5 G eine Technologie vor uns, die Neues ermöglicht, die uns als Gesellschaft Fortschritte bringt. Wir haben eine Technik, die wir gut kennen, die gut erforscht ist, über die wir uns keine Sorgen machen müssen. Deswegen hoffe ich, dass wir mit 5 G gut und verantwortungsvoll umgehen, dass wir es in der gesamten Fläche ausbauen, in den Städten und auf dem Land, und uns nicht von solchen Anträgen aufhalten lassen. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Mohrs. – Das Wort geht an Anke Domscheit-Berg von der Fraktion Die Linke. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Antrag überrascht die AfD mit bahnbrechenden Erkenntnissen, nämlich dass man im Internet widersprüchliche Aussagen zu 5 G findet. Donnerwetter! Ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten: Das ist bei anderen Themen auch so. Die AfD fordert im Antrag eine Studie zum Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Schäden und Mobilfunk, insbesondere 5 G, sowie einfach verständliche Erklärungen. Das haben schon viele vor ihr gefordert, auch meine Fraktion, die Linksfraktion. Und selbst die Bundesregierung ist darauf schon gekommen. Beim Bundesamt für Strahlenschutz findet man elf laufende Forschungsvorhaben zum Mobilfunk. Mehr als die Hälfte davon ist bereits zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und Mobilfunk, einige sogar explizit zu 5 G. Aber Recherche ist nicht so das Ding der AfD. Die interessiert sich nicht für Fakten, die möchte anschlussfähig bleiben an Angstbotschaften. Bisher allerdings konnte es der AfD gar nicht schnell genug gehen mit dem 5-G-Ausbau. Ich zitiere mal Ihren Kollegen Matthias Büttner – hier an dieser Stelle hat er das gesagt –: Lassen Sie uns bei der 5G-Technologie nicht die alten Fehler wiederholen. Lassen Sie uns stark beginnen, lassen Sie uns zur Abwechslung den Technologiesprung aber einmal vollständig vollziehen, sodass das Potenzial des neuen Standards vollumfänglich ausgeschöpft werden kann … – Das klang jetzt wirklich nicht ängstlich. ({0}) Die AfD ist durch widersprüchliche Informationen im Internet verwirrt. Auch ich empfehle ihr die Informationsplattform der Bundesregierung als Orientierungshilfe. Sie heißt „Deutschland spricht über 5 G“. Das Logo in Schwarz-Rot-Gold dürfte Ihnen besonders zusagen. Und es ist auch in einfach verständlicher Sprache. ({1}) Da finden sich Rubriken zum Mobilfunk und zu Zusammenhängen zu Krebs, Fruchtbarkeit, Immunsystem oder DNA. Studien werden erklärt, die Wirkungen von Strahlungen durch Mobilfunk ebenso. Da lernt man zum Beispiel, dass die höchste Strahlungsquelle im Zusammenhang mit Mobilfunk in der Tat das eigene Handy ist. Und man erfährt: 5 G ist gar keine Mikrowelle, sondern ein neues Übertragungsprotokoll, das höhere Frequenzen nutzen kann, aber gar nicht muss. Die Deutsche Telekom, Vodafone und Telefónica schalten gerade nach und nach 3 G ab und nutzen dafür – man höre und staune – die gleichen Frequenzen für 5 G. 5 G auf sehr hohen Frequenzen hat eine superkurze Reichweite und macht deshalb nicht mal Sinn in Stadt und Land, sondern in Industrieanlagen. Nach hohen wissenschaftlichen Standards durchgeführte Studien – viele davon – geben bisher keinerlei Anlass zur Sorge. Dennoch ist es richtig, dass hier weiter geforscht wird; denn mehr Forschung bedeutet mehr Fakten, und die sollten Grundlage staatlichen Handelns sein. ({2}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafrecht verloren haben. § 219a gehört abgeschafft! Ich gebe die Hoffnung für 2021 nicht auf, dass wir das schaffen. Ansonsten möchte auch ich Ihnen frohe Feiertage wünschen, möglichst in sehr kleinem Rahmen in diesem Jahr. Verabschieden wir gemeinsam dieses unerträgliche 2020, und kommen wir alle – hoffentlich gut – in ein besseres neues Jahr. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Frau Domscheit-Berg. – Jetzt hat Margit Stumpp von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hatte schon darauf gewartet. Spätestens seit Verschwörungstheorien die Verbreitung des Coronavirus mit 5 G in Verbindung gebracht haben, war damit zu rechnen, dass die AfD das Thema aufgreift. ({0}) Die Theorie ist zwar absurd – vor zehn Monaten gab es so gut wie keine 5-G-Sendeanlagen in Deutschland –; aber der AfD ist keine Gelegenheit zu schade, die Ängste und Unsicherheiten von Menschen aufzugreifen und zu verstärken. ({1}) Jetzt also 5 G. ({2}) In Bezug auf diese Technologie spielen aus unserer Sicht zwei Aspekte eine wichtige Rolle: der Ausbau von Infrastruktur für Zukunftstechnologien auf der einen Seite und der Schutz der Gesundheit und der Umwelt auf der anderen Seite. – Als Grüne sehen wir uns in der Verantwortung, die Potenziale neuer Technologien genauso in den Blick zu nehmen wie mögliche Gesundheitsgefahren. Tatsächlich sind die jetzt genutzten Frequenzen 2 und 3,4 Gigahertz und 700 Megahertz sehr gut untersucht und nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft gesundheitlich unbedenklich. Schließlich nutzen wir diese Frequenzen schon seit 70 und seit 100 Jahren für Fernsehen und für Radio. Wären Langzeitfolgen aufgetreten, wären sie bekannt. ({3}) Anders verhält es sich bei hohen Frequenzen über 20 Gigahertz. Auf unsere Kleine Anfrage zu Beginn dieses Jahres hat die Bundesregierung bestätigt, dass es hier noch Forschungsbedarf gibt. Sie hat aber auch dargelegt, dass es dazu bereits laufende Forschungsvorhaben – sie wurden genannt – vonseiten der Regierung gibt. Es ist bezeichnend für die parlamentarische Arbeit der AfD, dass ihr offenbar sowohl unsere Anfrage als auch die Antwort entgangen ist. Im Regierungsauftrag – so die Aussage – laufen bereits sechs Studien, dazu kommen etliche externe. Daher haben wir Grünen darauf verzichtet, noch eine weitere Studie vonseiten der Bundesregierung anzustoßen. Wichtiger ist es doch, Frau Skudelny, unterschiedliche Studien unterschiedlicher Auftraggeber und unterschiedlicher wissenschaftlicher Einrichtungen zu haben, um Evidenz zu generieren. ({4}) Jetzt, viele Monate später, will die AfD, die jegliche wissenschaftliche Erkenntnis, die die Bundesregierung anführt – zum Beispiel beim Thema Klimaschutz –, in Abrede stellt, also noch eine weitere Studie zu 5 G initiieren. Wozu? Es sind schon etliche Studien unterwegs, und die Ergebnisse, weil von der Regierung beauftragt, wird diese AfD anschließend ohnehin in Zweifel ziehen. Ich denke, jede und jeder hier im Plenum kennt die wahren Motive: Die AfD wartet nur darauf, die Ergebnisse zu instrumentalisieren und die beteiligten Institutionen zu diffamieren. – Dafür ist dieses und jedes andere Thema zu wichtig und jegliche Zeit und übrigens auch jegliches Steuergeld zu schade. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Kollegin Stumpp. – Das Wort hat Thomas Jarzombek von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte hier hat für mich heute doch einen sehr erfreulichen Punkt: Ich bin der zweite Redner unserer Fraktion nach meinem Kölner Kollegen Karsten Möring, und es freut den Düsseldorfer doch, dass er sagen kann: Mein Kollege aus Köln hat es perfekt auf den Punkt gebracht. ({0}) – Ich gucke genau, wer jetzt hier applaudiert. ({1}) Meine Damen und Herren, das ist vielleicht noch die interessanteste Note in dieser Diskussion; denn am Ende macht es eigentlich wenig Freude, mit der AfD zu diskutieren. Ich habe mich gar nicht darum gerissen, hier zu reden. Das Problem liegt nämlich immer darin, dass Sie ja gar nicht mit uns diskutieren, sondern hier für Ihr Programm reden. Sie injizieren das in Ihre Blase, und Sie haben überhaupt nicht den Mut – einen stärkeren Ausdruck will ich nicht verwenden –, Argumente anderer in Ihre Blase hineinzulassen. ({2}) Wenn Sie den Mut hätten, würden Sie die Rede vom Kollegen Möring mal in Ihre Blase hineinbringen. Aber Sie können uns ja hier heute Abend auch mal ein bisschen Klarheit darüber verschaffen, was Sie als AfD eigentlich selber glauben. Sie haben ja in Ihrem Antrag geschrieben, es gebe „so genannte Verschwörungstheorien“. Das wissen wir ja alle. Im Internet wird geschrieben, dass Corona aus 5-G-Sendern kommt, dass Fledermäuse damit aufgeladen werden. ({3}) Meine Frage an Sie: Glauben Sie das? – Sie sind so ruhig. ({4}) Sagen Sie doch mal was: Glauben Sie das? ({5}) – Ich habe jetzt hier kein Dementi gehört, meine Damen und Herren. ({6}) Sie können das stark dementieren. Ich habe den Eindruck: Sie nehmen solche Verschwörungstheorien ganz gerne billigend in Kauf. Sie zahlen mit diesem Antrag hier heute auf genau dieses Konto ein, um all diejenigen einzusammeln, die in diesem Land wirklich die krudesten Dinge glauben. Insofern macht es auch gar keinen Sinn, sich in der Sache damit auseinanderzusetzen. Ich könnte Ihnen jetzt sagen, was die WHO sagt. Ich kann es zitieren: Berücksichtigt man die sehr niedrigen Feldstärken und die bisher vorhandenen Forschungsergebnisse, lässt sich kein überzeugender wissenschaftlicher Beleg dafür finden, dass sich die schwachen HF-Signale von Basisstationen und drahtlosen Netzwerken nachteilig auf die menschliche Gesundheit auswirken. Aber es gibt natürlich Menschen, die davor Angst haben. Das ist nichts Neues. Ich weiß nicht, wie lange ich schon diese Diskussion führe. Als man damals den digitalen Mobilfunk eingeführt hat, da gab es die Angst vor Strahlung. Dann kam die gepulste Strahlung; davor hatte man Angst. Dann kam 3 G; davor hatte man Angst. Jetzt ist es eben so, dass man am Ende – und das haben Sie ja sogar noch in Ihrer Ansprache hier beschrieben – Langzeitstudien braucht. Logischerweise kann man vor der Einführung einer Technologie keine Langzeitstudie mit Messergebnissen aus 20 Jahren veröffentlichen. ({7}) Aber es ist ganz interessant, vielleicht mal zu gucken, was die Langzeitstudien zu den Dingen ergeben haben, von denen man vor 20 Jahren dachte, sie wären gefährlich. Sie haben ergeben: Es gibt keine Auffälligkeiten, keine erhöhten Krebszahlen. Und so wird es hier eben auch sein. Meine Damen und Herren, die größte Gefahr, die uns droht, ist, dass wir mit solchen Debatten, wie hier heute Abend von der AfD angestoßen, die Technikfeindlichkeit in diesem Lande stärken. Ich glaube, dass wir nicht das Land sein sollten, das darauf wartet, bis überall anders auf der Welt neue Technologien eingeführt werden, sodass man unser Land als ein Technikmuseum ansieht. Vor 100 Jahren hatten wir einen unglaublichen Entdeckergeist. Da sind diese ganzen großen Konzerne entstanden, von denen wir heute noch leben. Als das Auto eingeführt wurde, da hat keiner gesagt: Mensch, das Pferd ist aber vielleicht doch besser, und vielleicht finden wir noch stärkeres Kraftfutter. ({8}) – Das Zitat ist übrigens ein Gerücht; ich finde es aber lustig. – Jedenfalls hat sich da keiner an die Entwicklung von Kraftfutter gemacht. Da waren wir doch sehr viel euphorischer, was neue Technologien betrifft. Und diese ganze Angst, die Sie vor dem Elektroauto haben! Lassen Sie die Leute doch mal entscheiden. (Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie lassen die Leute doch nicht entscheiden! Ich habe nur Angst davor, dass wir die Zukunft – – ({9}) – Wollen Sie auf die Frage mit den Fledermäusen antworten? ({10}) Bitte, Sie kriegen sofort das Wort.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Das Wort erteilt immer noch die Präsidentin.

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich, Frau Präsidentin. Ich verbeuge mich mit Respekt. Natürlich kann das nur die Präsidentin entscheiden. Nichtsdestotrotz habe ich heute Abend gelernt: Die AfD distanziert sich nicht von den Verschwörungstheorien rund um die Fledermäuse, die AfD ist technikfeindlich, und die AfD möchte gerne, dass wir 5 G erst dann einführen, wenn es 20 Jahre lang in China und sonst wo erprobt worden ist. Das ist jedenfalls nicht meine Philosophie und, wie ich heute lerne, auch nicht die Philosophie der anderen Fraktionen in diesem Hause. Das stimmt mich wiederum optimistisch. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Jarzombek. – Ich schließe die Aussprache.

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat ihren Antrag damit begründet, dass es um Fairness und Solidität in der gesetzlichen Rentenversicherung ginge. ({0}) Das sehen wir auch so. Nur, wir sind völlig anderer Meinung als Sie, wie man dahin kommt und welche Konsequenzen man da zieht. Worum geht es bei Ihrem Vorschlag konkret? Die Renten folgen den Löhnen. Durch die sogenannte Rentengarantie kommt es bei sinkenden Löhnen in der Krise nicht zu Rentenkürzungen. Das soll durch geringere Rentensteigerungen in der Zeit danach aufgefangen werden. Das ist Kern des Nachholfaktors. Es bedeutet aber, dass Sie Rentnerinnen und Rentner für die Krise mehrfach zahlen lassen wollen. ({1}) Denn durch die nächstes Jahr anstehende Nullrunde und auch als Steuerzahler zahlen sie ohnehin schon. ({2}) Und Sie setzen noch einen drauf und wollen die künftigen Rentenerhöhungen kürzen. Das machen wir nicht mit. ({3}) Sie verbrämen das in Ihrem Antrag mit dem Deckmantel vermeintlicher Generationengerechtigkeit. ({4}) Sie reden von „Generationengerechtigkeit“; im Grunde meinen Sie „Beitragsstabilität“. Was das mit Gerechtigkeit zu tun hat, ist mir schleierhaft. ({5}) – Hören Sie doch einfach mal zu. – Sie tun so, als seien höhere Beiträge per se ungerecht. Das ist eine reichlich schlichte Argumentation. ({6}) Das sehen auch Jüngere so: Es ist doch längst bekannt, dass Jüngere durchaus bereit sind, höhere Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen – ({7}) dann, wenn sie einigermaßen sicher sein können, dass sie auch eine ordentliche Rente bekommen. ({8}) Deshalb haben wir das Vertrauen in die gesetzliche Rente gestärkt, ({9}) deshalb haben wir eine Haltelinie bei Niveau und Beiträgen eingeführt. Diese gilt bis 2025, und wenn es nach uns geht, gilt sie auch länger. Und der Nachholfaktor ist ausgesetzt, weil sonst das Niveau nachträglich relativiert würde. So schafft man Vertrauen in die gesetzliche Rente und damit in den Sozialstaat. ({10}) Sie sagen, wie immer: Wer soll das bezahlen? – Das ist die alte Leier. ({11}) Nur noch mal zur Erinnerung: Der Anteil der Rentenausgaben am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen Jahren gesunken, ({12}) trotz steigender Zahl an Rentnerinnen und Rentnern. Insofern ist es eine politische Entscheidung, was wir uns die Rente kosten lassen wollen und was wir uns leisten wollen. Es ist eine politische Entscheidung und kein Naturgesetz. ({13}) Ihre Vorstellungen bedeuten, dass langfristig das Rentenniveau und die ausgezahlten Renten für alle dauerhaft niedriger wären als nach geltendem Recht. ({14}) Wie diese Einbußen ausgeglichen werden sollen, lassen Sie offen, nach dem Motto: Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt. – Aber so läuft das nicht, und das wissen Sie ganz genau. ({15}) Das bedeutet, Sie wollen in der Krise die belasten, die eh schon wenig haben. Gleichzeitig spielen Sie immer noch mit dem Gedanken einer Abschaffung des Soli für die obersten Einkommen. Das ist der Unterschied; und das wollen wir nicht. ({16}) Wir wollen solidarische Sicherungssysteme, auf die man sich gerade in der Krise verlassen kann. Wir wollen, dass Rentnerinnen und Rentner einen ordentlichen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand erhalten, und da gibt es an manchen Stellen eher Nachholbedarf als die Notwendigkeit, den Nachholfaktor wieder in Kraft zu setzen; ({17}) denn die verfügbaren Löhne sind seit Beginn der 2000er-Jahre um rund 41,6 Prozent gestiegen, die Renten um 13 Prozent weniger. Voraussetzungen für gute Renten sind gute Löhne, Tarifbindung und faire Arbeitsbedingungen. ({18}) Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten! ({19}) Gestern haben Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, allerdings eine große Chance vertan, als Sie das Arbeitsschutzkontrollgesetz abgelehnt haben. ({20}) Der Nachholfaktor ist ausgesetzt, weil wir eine doppelte Haltelinie bei Niveau und Beitrag festgelegt haben. Das bleibt so. ({21}) Das war es dann – fast! – Wenn man so kurz vor Weihnachten diesen Antrag diskutiert, dann muss man sich die Frage stellen, was Weihnachtsmann und Christkind mit diesem Thema zu tun haben. ({22}) Ich finde, eine ganze Menge; denn die beiden sind ja zurzeit schwer beschäftigt. Aber sind Weihnachtsmann und Christkind selbstständig, oder sind sie abhängig beschäftigt? Ist das eine Art Plattformökonomie, in der beide aktiv sind? ({23}) Sind die beiden vielleicht soloselbstständig? Dann würden sie vermutlich von der geplanten Einbeziehung von Selbstständigen in die Rentenversicherung profitieren. ({24}) Das ist übrigens ein zusätzliches Argument für diese Idee. Das heißt aber, sie wären auch vom Nachholfaktor betroffen. – Oder sind Weihnachtsmann und Christkind abhängig beschäftigt, befristet beschäftigt, unständig beschäftigt? Auch dann berührt sie der Nachholfaktor. – Fragen über Fragen! Vermutlich muss die Rentenversicherung mit dem bewährten Statusfeststellungsverfahren Licht ins Dunkel bringen ({25}) und die Frage klären, ob Weihnachtsmann und Christkind selbstständig oder abhängig beschäftigt sind. Diese zentralen Fragen haben Sie in Ihrem Antrag nicht mal angetippt. ({26}) Vermutlich haben Sie sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht. ({27}) Auch deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({28})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Kapschack. – Nun hat Norbert Kleinwächter von der AfD das Wort. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP will den Nachholfaktor in der Rentenversicherung wieder einführen, um die Rentenversicherung wieder generationengerecht zu machen. Um eine Sache mal vorauszuschicken: Bei der Bundesregierung wird gar nichts mehr generationengerecht. Nach diesem Generalangriff auf den Mittelstand, nach diesem Generalangriff auf unsere fleißigen Leute, nach diesen Betriebsschließungen ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz im Rahmen Ihrer gesamten Corona-Lockdown-Politik wird das nicht mehr generationengerecht. ({0}) Für diesen Super-GAU von Bundesregierung werden noch unsere Enkel und unsere Urenkel zu bezahlen haben. Deswegen: Generationengerechtigkeit ist nichts, worüber man hier wirklich nachhaltig reden kann. ({1}) Allerdings ist es natürlich so, dass die Große Koalition 2018 im Rentenversicherungsleistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz im System herumgepfuscht und diesen Nachholfaktor ausgesetzt hat. Da hat man letztendlich erkannt, dass diese Riester/Rürup-Konstruktion von Rot-Grün komplett an die Wand fährt, man hat sich deswegen Haltelinien und irgendeine Möglichkeit überlegt, wie man das Rentenniveau einigermaßen stabilisieren kann, und dann wurde eben dieser Nachholfaktor ausgesetzt. Noch mal ganz kurz zur Erklärung. Normalerweise ist es ja so, dass die Renten ein Jahr, nachdem die Löhne gestiegen sind, im gleichen Umfang steigen. Wenn die Löhne aber sinken, bleiben die Renten eigentlich gleich, und wenn die Löhne dann wieder steigen, dann steigen die Renten nicht gleich mit, sondern das dauert dann eine Weile. Das ist dieser Nachholfaktor, und der wurde ausgesetzt, um eben diese Haltelinien zu halten und auch eine Rentenangleichung Ost hinzukriegen. Es ist zwar systemisch richtig gedacht, ihn wieder einzusetzen, aber ein anderes volkswirtschaftliches Argument spricht dagegen – und das hat wieder mit Corona und der Lockdown-Politik der Bundesregierung zu tun –: Die EZB druckt gerade massiv Geld. Und wenn Sie den Weihnachtsvortrag von Hans-Werner Sinn gehört haben, dann wissen Sie, dass er eine relativ starke Inflation aufgrund Ihrer Politik befürchtet. ({2}) – Der liegt nicht falsch; der liegt sehr, sehr richtig, Herr Kollege. ({3}) Und das Problem dabei ist Folgendes: Wenn wir nächstes, übernächstes und überübernächstes Jahr eine starke Inflation haben und die Renten nicht anpassen, wenn also der Nachholfaktor noch bleibt und die Renten nicht steigen, dann haben die Rentner ein großes Problem, und ich glaube, wir haben eine Verantwortung den Rentnern gegenüber, dass sie ihr Alter tatsächlich auch in Wohlstand verbringen können. ({4}) Das ist bei aller Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit auch Aufgabe der Politik. Ach ja, wenn ich schon bei der Generationengerechtigkeit bin, muss ich doch noch mal ein Wort über die FDP verlieren. ({5}) Die FDP sollte sich mal gut überlegen, wofür sie hier eintritt. Sie waren es doch – bzw. Ihre Vorgängerfraktion in der 17. Wahlperiode –, die nicht in der Lage waren, Ihre Beiträge zur Rheinischen Zusatzversorgungskasse zu bezahlen. ({6}) 5,8 Millionen Euro haben Sie da geprellt, hat die Zusatzversorgungskasse eben nicht einnehmen können, weil Sie schlecht gewirtschaftet hatten und diese Beiträge letztendlich nicht bezahlt haben. ({7}) Da haben Sie ein Umlagesystem im Stich gelassen, was Sie jetzt zu verteidigen suchen. Herr Vogel, Sie waren selber Mitglied dieser Fraktion, und ich finde es ganz einfach nicht gerade angebracht, so aufzutreten. Nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten müsst ihr sie messen! Hier von Generationengerechtigkeit zu schwadronieren und tatsächlich was komplett anderes zu tun, ist schon nicht gerade angemessen. ({8}) Die einzige Lösung besteht tatsächlich aus drei Schritten: Erstens. Diese Regierung Merkel muss weg. Zweitens. Wir brauchen eine Rentenreform. Drittens. Wir brauchen eine Steuerreform. ({9}) Die Rentenreform haben wir Ihnen auf dem Sozialparteitag in Kalkar vorgestellt. ({10}) Da haben wir eine generationengerechte Rente entworfen, die darauf zielt, dass wir tatsächlich den generativen Beitrag berücksichtigen, mit einem Beitragsbonus, um damit die Rentenversicherung dauerhaft zu stabilisieren. Ja, wir brauchen auch eine Steuerreform. Wir müssen runter mit den Steuern und Abgaben. Wir müssen runter mit den Ausgaben. ({11}) Das heißt, wir müssen runter mit den Ausgaben für Brüssel, runter mit den Ausgaben für illegale Migration und runter mit den Ausgaben für diese irrsinnigen Coronamaßnahmen. ({12}) Dann haben wir auch Geld, um die Rentenversicherung dauerhaft zu stabilisieren und die Beiträge auf erträglichem Niveau zu halten. Haben Sie herzlichen Dank. ({13})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an den Abgeordneten Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zum zweiten Mal den Antrag der FDP, den Nachholfaktor wieder in Kraft zu setzen; denn er ist ja nicht abgeschafft, sondern nur bis 2025 außer Kraft gesetzt. Das haben wir als Koalition auch unter dem Gesichtspunkt vereinbart, dass sich die Menschen in unserem Land auf die Rente und auf die gesetzliche Rentenversicherung verlassen können. Ich glaube, dass wir hier sehr klug gehandelt haben, auf der einen Seite den Rentnern in unserem Lande Sicherheit zu geben, aber gleichzeitig auch die jungen Beitragszahler nicht zu überfordern. Der Kollege Kapschack hat gerade zur doppelten Haltelinie ausgeführt, dass es uns auf der einen Seite wichtig war, das Rentenniveau bei 48 Prozent zu halten, aber gleichzeitig auch, die Beitragszahler nicht zu überfordern. Deswegen wird der Beitragssatz bis 2025 nicht über 20 Prozent steigen. Jetzt wissen alle, die sich schon lange mit der Rentenpolitik in unserem Land beschäftigen und auseinandersetzen, dass nicht nur ein Faktor bestimmend sein kann für eine verlässliche Rente für die Bürgerinnen und Bürger im Land, dass nicht nur ein Faktor entscheidend ist, ob wir das als gerecht oder als weniger gerecht empfinden. Diese Gerechtigkeitsfrage wird, glaube ich, in keinster Weise in dem Antrag der FDP gelöst. ({0}) Denn es konnte ja nirgendwo begründet werden, wo die Gerechtigkeit tatsächlich liegt. Wir hatten schon Jahre mit Beitragssätzen von 19,8 Prozent, ja, von 20 Prozent, einmal, glaube ich, sogar von 20,2 Prozent in unserem Land. Ich glaube nicht, dass jemand sagen kann: „Das war völlig ungerecht“, oder: Der jetzige Beitragssatz von 18,6 Prozent ist vollends gerecht. – Also, das wird sich nie ganz manifestieren lassen. Deshalb haben wir zu diesem Antrag der FDP eine Anhörung durchgeführt. Ich persönlich konnte an der Anhörung nicht teilnehmen ob eines anderen Termins; aber ich habe sie mir heute einmal ein bisschen zu Gemüte geführt, indem ich das Protokoll gelesen habe. Und ich musste feststellen, dass eigentlich niemand von den geladenen Sachverständigen beziffern konnte, ({1}) wie sich die Belastung auf die Jungen auswirken wird, wenn wir den Nachholfaktor bis 2025 nicht in Kraft setzen. Selbst die geladene Sachverständige der FDP, Frau Kochskämper, konnte dies in der Anhörung nicht mit Zahlen manifestieren. ({2}) Die Zahlen, die Sie in den schriftlichen Unterlagen genannt haben, wurden von vielen anderen Rentenwissenschaftlern zerpflückt. Von daher: Die Feststellung, es gäbe eine große Ungerechtigkeit im Handeln der Regierungsfraktionen, lieber Johannes Vogel, haben die Sachverständigen hier nicht untermauert. ({3}) Selbst die Arbeitgeberseite, vertreten durch Herrn Gunkel, die ja sicherlich danach trachtet, es unter den Gesichtspunkten der Wirtschaftsbetriebe, die sie besonders vertreten, zu sehen, ({4}) hat die Konfliktsituation dargelegt – nämlich den Nachholfaktor auszusetzen bzw. die Haltelinie von 48 Prozent beizubehalten – und auf das Primat der Politik verwiesen. Er hat gesagt: Auch in der Frage „Renten und Haltelinien“ gilt das Primat der Politik. ({5}) Somit fühlen wir uns in unserem Handeln bestätigt. ({6}) Ich glaube, dass hiermit dargelegt ist: Es ist weiterhin generationengerecht, den Nachholfaktor auszusetzen und – vor allen Dingen – an den doppelten Haltelinien festzuhalten, nämlich zum einen das Rentenniveau bei 48 Prozent festzuschreiben – wenn es geht, natürlich auch darüber liegend –, aber gleichzeitig den Beitragssatz weiterhin bei unter 20 Prozent zu halten, damit die junge Generation, die beitragszahlende Generation nicht überfordert wird. ({7}) Deshalb, glaube ich, lohnt es sich, Herr Kollege Vogel, wesentlich stärker über den großen Rahmen der Rentenversicherung zu diskutieren als nur über einen kleinen Faktor, ({8}) der jetzt Grund Ihres Antrags ist. Es geht um die große Linie: Wie sorgen wir dafür, dass die Generation nach 2025 eine gute Rente hat? ({9}) Ich sage es ganz offen: Die SPD steht hier immer mehr auf der Verteilungsseite und sagt, hohe Beiträge und hohe Löhne seien der Garant dafür. Aber lieber Kollege Kapschack, da kommt zuerst das Wirtschaften! Wir brauchen genügend Arbeitsplätze und eine hohe Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse; das ist letztendlich die Grundlage. ({10}) Wir stellen schon auch die Wirtschaft mit in den Vordergrund. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ist letztendlich mit eine Grundlage dafür, dass wir sichere Renten in unserem Land und einen sicheren Sozialstaat haben. Die Union steht in besonderem Maße dafür; das hat sie über die Jahrzehnte bewiesen. Wir lehnen aus guten Gründen und auch mit gutem Gewissen, selbst wenn wir in der Weihnachtszeit sind, den Antrag der FDP ab. ({11}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Und schon spricht die FDP-Fraktion mit Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der Lehren dieses Jahres ist doch: Absehbare Versäumnisse holen einen ein, früher oder später. Und dass die Stabilität der Rentenfinanzen in dem Jahrzehnt, das wir begonnen haben, in den nächsten Jahren eine extrem schwierige politische Herausforderung sein wird, das ist heute schon absehbar. Deswegen ist es erschreckend, dass Sie sich weigern, sich darüber Gedanken zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Lieber Kollege Kapschack, Sie zitieren uns korrekt, wenn Sie sagen: Ja, die FDP stellt dann immer die Frage „Wie soll das bezahlt werden?“. Das dann aber als „alte Leier“ zu bezeichnen, finde ich schon bemerkenswert. ({1}) Ja, wir machen uns Gedanken darüber, wie Stabilität, Solidität und Fairness in der Rente gewährleistet werden können. Ehrlich gesagt, sind das genau die Anforderungen, die man als Bürgerin und Bürger an die Politik in diesem Haus auch stellen kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Worum geht es? Es geht ganz konkret darum, dass es richtig ist, dass wir die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land nächstes Jahr vor einer Rentenkürzung bewahren. Dieses Jahr haben wir eine schwere Wirtschaftskrise und nach den ursprünglichen Regeln der Rente müssten nächstes Jahr die Renten gekürzt werden. Im Konsens wurde hier politisch entschieden, dass so etwas nicht zumutbar ist. Und das ist richtig. Lieber Kollege Kapschack, ich weise daher die Behauptung scharf zurück – weil das schlicht Fake News sind –, dass wir für Rentenkürzungen wären. Das sind wir nicht. ({3}) Worum es beim Nachholfaktor geht, ist, dass in den Folgejahren die Rentensteigerungen, die kommen werden, so verrechnet werden, dass langfristig die Renten nicht stärker steigen als die Löhne. ({4}) Das wäre unfair, weil die Generationen dann auseinanderlaufen; wir müssen sie aber zusammenhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Und so, wie die SPD dagegen vorgeht, muss ich mich schon fragen, lieber Kollege Kapschack, ob das nicht ein bisschen schizophren ist. Denn was wir als Freie Demokraten hier beantragen, ist nicht mehr und nicht weniger, als exakt die Rentenformel zurückhaben zu wollen, die ein gewisser Olaf Scholz als Sozialminister einmal eingeführt hat. ({6}) Hier zu beantragen, die gute Rentenformel von Olaf Scholz zurückhaben zu wollen, das halte ich für vernünftige Politik. ({7}) Erschreckend ist, dass die Sozialdemokraten hier nicht zu den Überzeugungen ihres Kanzlerkandidaten stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Dass die SPD und auch die Grünen sich in der Rentenpolitik von Jahr zu Jahr immer etwas mehr so anhören wie Matthias Birkwald von der Linkspartei, daran haben wir uns schon gewöhnt. ({9}) Wenn die Wählerinnen und Wähler der Grünen wüssten, wie links Sie in der Sozialpolitik sind, ich glaube, die Hälfte würde weglaufen. ({10}) Das können Sie noch ein halbes Jahr kaschieren. Aber ich will schon die Kolleginnen und Kollegen von der Union fragen, ob sie das eigentlich für verantwortbar halten. Denn, lieber Kollege Straubinger, schauen wir doch einmal auf die Sachverständigen in der Anhörung, die wir in der Tat gehört haben. Der alternierende Verwaltungsratsvorsitzende der Deutschen Rentenversicherung – also nicht irgendwer – hat klar dargelegt, dass, wenn Sie vor Ende dieser Legislaturperiode den Nachholfaktor nicht wieder einführen, mit hoher Wahrscheinlichkeit im nächsten Herbst Folgendes passieren wird: Sie müssen schon im nächsten Herbst eine Rentenbeitragssatzsteigerung beschließen, die so hoch sein wird, dass das 40-Prozent-Ziel bei den Sozialversicherungsbeiträgen nicht zu halten sein wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass das den Sozialpolitikern egal sein mag, nehmen wir zur Kenntnis. Aber wie der sogenannte Wirtschaftsflügel der Union so etwas mitmachen kann, das fragen wir uns schon. Ist er schon in Weihnachtsferien? Wir halten jedenfalls die Finanzierung der Rente und auch finanzierbare Sozialbeiträge für eine wesentliche Frage der Gerechtigkeit, nämlich der Generationengerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({11}) Ich höre immer wieder, dass auch Sie angeblich Fairness für alle Generationen betonen, dass man die Generationen, lieber Kai Whittaker, zusammenhalten und die Lasten bei der Rente fair verteilen müsse. Es geht hier allerdings nicht um Worte, sondern man muss irgendwann auch Taten folgen lassen und an irgendeiner Stelle auch einmal Verantwortung für eine generationengerechte Rente übernehmen. Darauf warten wir noch heute, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Vogel. – Als Nächstes hat Matthias W. Birkwald das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP will den Nachholfaktor in der Rentenanpassungsformel wieder in Kraft setzen. Das bedeutet nicht – ich betone: nicht –, dass der ausgezahlte Betrag einer Rente abgesenkt werden soll. Aber es bedeutet, dass die FDP die Rentenformel manipulieren will, um die Renten künftig zu kürzen. Und das lehnt Die Linke ohne Wenn und Aber ab. ({0}) Meine Damen und Herren, eigentlich heißt das Prinzip: Die Renten folgen den Löhnen – eigentlich. Aber seit knapp 20 Jahren sorgen die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel dafür, dass die Renten nicht mehr den Löhnen folgen. Sie werden verharmlosend Dämpfungsfaktoren genannt. Sie heißen Beitragssatzfaktor, Riester-Faktor, Nachhaltigkeitsfaktor, und ohne sie wären die aktuellen Renten und vor allem die Renten der heute jungen und mittelalten Menschen in Zukunft deutlich höher. Die durchschnittlich ausgezahlte Rente aller rund 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner liegt derzeit bei nur 1 048 Euro. Das ist viel zu wenig, und darum, liebe FDP, verbietet sich jede weitere Manipulation der Rentenanpassungsformel. ({1}) Was will denn die FDP rentenpolitisch in, während und nach der Coronakrise? Vor der Coronakrise fand die FDP es spitze, dass die Rentenerhöhungen Jahr für Jahr hinter der Lohnentwicklung zurückblieben. Das ist schlecht. Während der Coronakrise findet es die FDP okay, dass die Renten dieses Jahr um 3,45 Prozent im Westen und um 4,2 Prozent im Osten steigen. Das ist gut. Aber nächstes Jahr droht aufgrund der Lohnentwicklung eine Nullrunde bei den Renten. Das findet die FDP gut. Die Linke hingegen fordert deshalb, nun endlich das Rentenniveau schrittweise wieder von 48 auf 53 Prozent anzuheben; denn dann stiegen die Renten auch im kommenden Jahr. ({2}) Und nach der Coronakrise sagt die FDP: So, liebe Rentnerinnen und Rentner, jetzt ist mal Schluss. – Denn dann sollen nach dem Willen der Liberalen die Renten noch weiter hinter der Lohnentwicklung zurückbleiben. Und das ist bei diesen Durchschnittsrenten, die Millionen von Rentnerinnen noch nicht einmal erreichen, unverantwortlich. ({3}) Meine Damen und Herren, den Nachholfaktor vor 2025 wieder einzuführen, lehnt nicht nur Die Linke ab. Alle Sozialverbände und alle Gewerkschaften lehnten das in der Anhörung strikt ab. ({4}) Wir müssen verhindern, dass die Rentnerinnen und Rentner nach der Nullrunde im kommenden Jahr noch mehr verzichten müssen, als sie es in diesen harten Zeiten eh schon tun müssen. Sie, liebe FDP, wollen aber, dass das Rentenniveau, also das Verhältnis der Standardrente zum Durchschnittslohn, noch weiter unter 48 Prozent absinkt. ({5}) Ihnen reicht es nicht, dass der Manipulationsfaktor Nummer eins, der Nachhaltigkeitsfaktor, nach Angaben der Bundesregierung ab 2021 bis auf eine Ausnahme Jahr für Jahr die Rentenanpassung kürzen wird. Lieber Johannes Vogel, in den dunklen Jahren nach 2005 hatten wir Nullrunden, Nachholfaktoren, Ausgleichsbedarf und hohe Inflation. Wollt ihr das 20 Jahre später und nach dieser schlimmen Krise den Menschen ernsthaft noch einmal zumuten? Wenn ihr diese Kürzungsfaktoren streichen wolltet, dann könnten wir darüber reden, ob der Nachholfaktor gerechtfertigt ist, aber erst dann; denn dann würden die Renten wirklich den Löhnen folgen und die Rentnerinnen und Rentner am Wohlstand teilhaben. ({6}) Wir Linken sagen: Wir brauchen gute Löhne und eine gute Rente, gerade auch für die Krankenschwestern, Paketzusteller und Altenpflegerinnen; denn die Rente muss zum Leben reichen. Herzlichen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Markus Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eines muss man der FDP allerdings lassen: Sie hat einen gewissen Sinn für antizyklische politische Kommunikation. ({0}) Wir stehen eine Woche vor dem Weihnachtsfest, einem Weihnachtsfest, das leider für viele Rentnerinnen und Rentner ein stilles und zu oft auch ein einsames Weihnachtsfest sein wird. Die Rentnerinnen und Rentner im Westen jedenfalls wissen schon, dass im Jahr 2021 eine Nullrunde bei der Rente kommt. In dieser Situation – gleichzeitig die größte gesundheits- und wirtschaftspolitische Krise unseres Landes seit Langem – fällt der FDP nichts Besseres ein, als an genau diese Personengruppe die Botschaft zu senden, dass 2022 wohlmöglich eine weitere Nullrunde gewünscht ist. Das verstehe, wer will. Ein sehr eigenwilliger Sinn für das politische Timing! ({1}) Ich will aber zum politischen Hauptargument der FDP kommen, dass die Aussetzung des Nachholfaktors mit dem Prinzip der lohnbezogenen Rente bricht. Das ist richtig. Aber das ist – das ist auch in der Anhörung sehr deutlich geworden – in der Geschichte rentenpolitischer Entscheidungen überhaupt nichts Neues. Manche Brüche dieser Art sind sinnvoll. Das sind jeweils politische Entscheidungen, wie der Kollege Kapschack zu Recht gesagt hat. Manche stellen sich im Nachhinein als nicht so sinnvoll heraus. Da möchte ich insbesondere die Absenkung des Rentenniveaus nennen, die durch die Riester-Treppe passiert ist. ({2}) Das ist das Entscheidende. Kollege Birkwald, den Nachhaltigkeitsfaktor will ich an dieser Stelle nur kurz als Fußnote nennen; denn er hat bislang rentensteigernd und nicht rentensenkend gewirkt. ({3}) Aber der Riester-Faktor, der inzwischen ausgelaufen ist, hat das Niveau der gesetzlichen Rente um 13 Prozent abgesenkt. Das heißt, es wurde mit dem Prinzip der lohnbezogenen Rente gebrochen, in der Hoffnung darauf, dass möglichst alle Leute privat vorsorgen, dass die Verzinsung dauerhaft bei 4 Prozent liegt und dass der Anteil der Verwaltungskosten nur 10 Prozent beträgt. Heute, nach ungefähr 20 Jahren, sind wir etwas schlauer und sehen, dass nur 6,4 Millionen Riester-Verträge voll bespart werden, dass also dieses Koppelgeschäft nicht wirklich aufgegangen ist. In dieser Lage kann man durchaus argumentieren – ich tue das –, dass das Aussetzen des Nachholfaktors – er ist ja gar nicht abgeschafft – ein klitzekleiner Ausgleich für das Abweichen vom Prinzip der lohnbezogenen Rente in den Jahren zuvor ist. So kann man sich die ganze Sache durchaus einmal ansehen. Die Vertreter der gesetzlichen Rentenversicherung haben bei der Anhörung sehr deutlich gesagt, dass sie die finanziellen Konsequenzen für absolut überschaubar halten. Sie, meine Damen und Herren von der FDP, machen hier aus einer Mücke einen Elefanten, und das zu einem Zeitpunkt, wo Rentnerinnen und Rentner tatsächlich Stabilität und Vertrauen und nicht zusätzliche Verunsicherung brauchen. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Herr Kurth. – Das Wort geht an Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist als letzter Redner schon spannend, vorab die Debatte zu verfolgen und zu schauen, ob man auf das eine oder andere reagieren will, und zu hören, was wir über die Rentenpolitik des jeweils anderen wissen und darüber sagen. Allein dadurch kann man ganz viel lernen. Wir haben diese Debatte schon vor einem halben Jahr, im Sommer, geführt. Ich habe mich damals am Ende meiner Rede bei Ihnen für die Einbringung dieses Themas bedankt. Das mache ich jetzt nicht ganz so laut. Aber dafür, dass wir darüber diskutieren, sind Sie verantwortlich. Zusammenfassend – das ist es, was man als letzter Redner machen kann – will ich sagen: Wir haben heute all die verschiedenen Positionen gehört, was unter Rentengerechtigkeit verstanden wird. Gerechtigkeit ist Ihr großes Thema, das Sie mit der Rente verbinden. Sie bemühen sich in dem Antrag vor allem um Generationengerechtigkeit; so überschreiben Sie zumindest den Antrag. Allseits bekannt ist, dass die jährlichen Zuschüsse schon heute 100 Milliarden Euro ausmachen. Niemand möchte, dass das noch mehr Milliarden werden; das will hier keiner. Dieses Grundanliegen unterstützen wir. ({0}) Sie haben gerade gesagt, Herr Vogel: An Stabilität, Solidität und Fairness bemisst sich die Verantwortung. Die Art und Weise des Weges macht aber möglicherweise den Unterschied. ({1}) Wir lehnen die drei Themen nicht ab. Für uns ist in dem Kontext die Rentengarantie das oberste Gebot, das Versprechen, das wir gegeben haben. Zugunsten dieser haben wir – das möchte ich kurz nebeneinanderstellen – den Nachholfaktor ausgesetzt. Mit dem Rentenpaket sind zwei Ziele, zwei Gedanken, zwei Garantien verbunden, die doppelte Haltelinie; so haben Sie, Herr Kapschack, das vorhin genannt. Bis 2025 darf das Rentenniveau 48 Prozent nicht unterschreiten und der Beitragssatz 20 Prozent nicht überschreiten. ({2}) Die Rentenstabilität ist unser Hauptanliegen. Gleichzeitig hat, als wir das 2018 gemacht haben, keiner von uns erwartet, dass wir in so kurzer Zeit in eine solche Krise kommen würden, wie wir sie gerade erleben. Sie schlagen nun in Ihrem Antrag vor, den Nachholfaktor doch bitte wieder zu aktivieren, um das Rentenniveau auch in schlechteren Zeiten an die Entwicklung der Löhne zu koppeln. Das könnte dazu führen, dass es krisenbedingte Rentenkürzungen gibt, die auch durch spätere gedämpfte Rentenanpassungen wirksam werden; so viel zum Stichwort „Nachholfaktor“. Das Rentenniveau insgesamt könnte sich dadurch verschlechtern. Das will die Koalition mit aller Anstrengung verhindern, und deshalb werden wir das, was Sie vorschlagen, nicht machen. ({3}) Wir sind gegen diese kurzfristige Reaktion. Den Rentnerinnen und Rentnern trotz der Rentengarantie schon jetzt potenzielle Einbußen abzuverlangen, geht uns einfach zu schnell. Wir haben diesen Blick im Moment noch nicht. Gerade in der jetzigen Situation muss das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt werden. Wie in der bereits zitierten Anhörung gesagt, lassen sich nach den Angaben der Deutschen Rentenversicherung die genauen Minderausgaben, die bei Umsetzung des FDP-Antrages zu erwarten wären, gar nicht abschätzen. ({4}) Wir als Koalition möchten die tatsächlichen Auswirkungen der Krise in validen Zahlen vorliegen haben, bevor über mögliche notwendige Anpassungen bei der Rentenformel entschieden wird. Wir wollen wachsam bleiben. Falls es theoretisch über mehrere Jahre nach dem Verhältnis „Lohnentwicklung zu Rentenanpassung“ zu einer Negativanpassung kommen müsste, was ich für ein vernünftiges System halte, dies aber durch die Aussetzung des Nachholfaktors nicht passiert und auch später nicht ausgeglichen werden kann, läuft es am Ende auf die Frage hinaus, wie viel Geld der Bund dann perspektivisch für die Rente aufbringen muss. Für die eingangs angesprochene Generationengerechtigkeit müssen wir da sehr, sehr gut aufpassen. Letztlich bliebe auch noch Zeit, den Nachholfaktor vor möglichen stärkeren Rentenerhöhungen gegebenenfalls in Zukunft wieder einzuführen. Deshalb: Danke für Ihren Antrag, dafür, dass wir das hier so klarmachen können. ({5}) Ich kann jetzt nur noch sagen: Ich wünsche eine gesegnete Restadventszeit sowie ein der Uridee angemessenes Weihnachten. Ich habe am Schluss keine weitere Sekunde zu verschenken. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herzlichen Dank an den letzten Redner der Debatte. – Ich schließe die Aussprache.

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern befindet sich unser Land im zweiten bundesweiten Shutdown. Angesichts der immer weiter steigenden Zahl von Coronainfizierten und leider auch ‑toten ist diese Notbremse nachvollziehbar. Auch unser Bildungswesen befindet sich seit gestern im Shutdown. Schulen und Kitas sind geschlossen. Das jedoch wäre vermeidbar gewesen. Frau Ministerin Karliczek, Sie haben eben nicht alles dafür getan, die Schulen auch während eines Shutdowns im Präsenzbetrieb offen zu halten, und das rächt sich bitter. ({0}) Jetzt droht ein zweites Unterrichtschaos. Lehrkräfte verschicken wieder Arbeitsblätter mit der Post. Die drei Geschwister teilen sich wieder den einen Familienlaptop, um die Hausaufgaben zu erledigen. Und schon wieder bringen wir alleinerziehende Eltern – und das sind überwiegend Frauen – erneut über ihre Belastungsgrenze. Das ist vollkommen inakzeptabel, meine Damen und Herren. ({1}) Die bundesweite Aussetzung des Präsenzunterrichts ist erst ein paar Stunden alt, und schon bricht das digitale Schulsystem vielerorts völlig zusammen. Bereits am Dienstag war die vom Bund finanzierte HPI Schul-Cloud überlastet, und in Bayern ist die Bildungsplattform Mebis gar so instabil, dass der dortige Kultusminister den Schulen fast vollständig vom Distanzunterricht abraten musste. Dass Bildungsministerin Karliczek – und die ist offenbar bereits in den Weihnachtsferien – noch Ende November davon sprach, dass die Schulen heute besser für digitales Lernen gerüstet seien als im Frühjahr, kann angesichts dieser Zustände wirklich nur ein schlechter Scherz gewesen sein. ({2}) Liebe Frau Karliczek, was haben Sie im Sommer eigentlich konkret getan, um Schülern und Lehrkräften heute digitalen Unterricht von zu Hause zu ermöglichen? Haben Sie den Abfluss der Digitalmittel beschleunigt? Fehlanzeige! Noch immer kommt nur ein Bruchteil der Mittel bei den Schulen an. ({3}) Haben Sie den Lehrkräften endlich flächendeckend Laptops zur Verfügung gestellt? Auch hier: Fehlanzeige! Die ersten Geräte kommen frühestens im neuen Jahr an. Haben Sie Kindern aus benachteiligten Familien digitale Endgeräte besorgt, damit sie nicht wieder die größten Verlierer der geschlossenen Schulen sind? Auch hier: Fehlanzeige! Nur 14 Prozent der Schüler hätten bisher einen Laptop aus Bundesmitteln erhalten, berichtet das „Handelsblatt“ im November. Und für diese digitale Misere trägt die Ministerin die volle Verantwortung. Sie hat den Sommer verschlafen, und das ist eine politische Bankrotterklärung, meine Damen und Herren. ({4}) Wir müssen jetzt jeden einzelnen Tag nutzen und eine tragfähige Langzeitstrategie für den Bildungssektor entwickeln. Schüler, Eltern und Lehrkräfte wollen wissen, wie es ab dem 11. Januar weitergeht. Für uns ist klar, dass wir schnellstmöglich flächendeckend zum Präsenzbetrieb unter Hygienebedingungen zurückkehren sollten. ({5}) Um aber für lokale Schulschließungen und Distanzunterricht besser gewappnet zu sein, braucht es jetzt endlich einen Digitalturbo für die Schulen. Nur so kann jeder Schüler sein Recht auf Bildung wahrnehmen, in Präsenz und digital. ({6}) Dafür schlagen wir drei Akutmaßnahmen vor: Erstens. Beschleunigen wir die Beantragung aus dem DigitalPakt und seinem Zusatzprogramm durch die Schaffung einer zentralen Antragsplattform! Zweitens. Geben wir Schulen mit einer Whitelist zu datenschutzrechtlich unbedenklicher Bildungssoftware die nötige Rechtsicherheit! Drittens. Beschleunigen wir endlich den Breitbandausbau an den Schulen! Die Unionsfraktion hat die Dringlichkeit dieser Maßnahmen anscheinend sogar verstanden und macht ihrer müden Ministerin nun Druck mit einer digitalen Bildungsoffensive. Es ist erfreulich, dass Sie vieles daraus aus unserem Antrag zum Digitalpakt 2.0 abgeschrieben haben. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Union: Korrigieren wir doch heute gemeinsam die Versäumnisse und die Strategielosigkeit von Frau Karliczek! Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit die Ministerin über die Weihnachtszeit endlich aktiv wird, um ein erneutes Unterrichtschaos zu vermeiden! Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank, Frau Suding. – Das Wort geht an Frau Dr. Dietlind Tiemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Suding! „Und täglich grüßt das Murmeltier“! ({0}) Es ist wunderschön, zu erleben – deswegen darf ich Sie noch einmal ganz kurz daran erinnern –, dass wir uns hier in diesem Hohen Hause alle darüber einig sind, wie wichtig Bildung ist, wie wichtig Digitalisierung ist. ({1}) Aber indem wir es dauernd formelhaft wiederholen, wird es nicht besser. ({2}) Sie haben die Eckdaten des laufenden DigitalPakts zusammengefasst, vielen Dank. Die Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell; aber man kann sie nachvollziehen. Bei den Schlussfolgerungen finden sich einige Forderungen, mit denen wir sogar übereinstimmen; das ist gar nichts Neues. Ich nenne hier zum Beispiel die Forderung nach kürzeren Berichtspflichten für den DigitalPakt Schule – was wird mit dem Geld, das wir hier beschlossen haben, wirklich umgesetzt, wie wird es umgesetzt, ({3}) kommt es dort an, wofür wir es beschlossen haben? – oder auch die Forderung nach einer Positivliste für Plattformen und Anbieter digitaler Programme. ({4}) Das finden wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch richtig; das ist gar nichts Neues. Wir haben deshalb bereits am 24. November – Sie können sich vielleicht erinnern – zu den genannten Punkten und darüber hinaus ein Positionspapier verabschiedet; darin kann man das nachlesen. ({5}) Ihr Antrag liest sich in Teilen wie Stücke unseres Beschlusses. Für uns ist ganz wichtig – ich will es hier noch einmal sehr deutlich machen –, das Thema „Digitalisierung und Schule“ auf zwei Säulen zu stellen – das ist unverzichtbar –: die pädagogische Säule und die infrastrukturelle Säule. ({6}) „Pädagogisch“ bedeutet für uns nicht nur, den analogen Unterricht durch digitalen Unterricht zu ersetzen. – Wenn Sie einfach einmal ganz ruhig zuhören, könnten Sie den Schülern ein Vorbild sein. ({7}) Für uns geht es darum – das haben wir festgeschrieben –, dass Lehrkräfte und Schüler mit allen Aspekten der Digitalisierung bekannt und vertraut gemacht werden. Das bedeutet sowohl, wie gelernt wird, als auch, was gelernt wird. Ganz einfach. Wichtig ist aber auch hier, das Rad nicht neu zu erfinden; auch darüber sind wir uns in diesem Haus, glaube ich, einig. Was und wie die Digitalisierung in die Schulen getragen wird, hat die KMK bereits im Dezember 2016 festgeschrieben. Hier unterstützen wir im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten zum Beispiel durch die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“. Damit ist der Spielraum für uns als Bundespolitiker ausgereizt, wenn wir die föderalen Strukturen respektieren, und das tun wir. ({8}) Infrastrukturell finde ich in Ihrem Antrag vieles wieder, das ich teile und das sich bereits auch in der Umsetzung befindet. Im Mittelpunkt dieser Infrastruktur steht natürlich der DigitalPakt Schule. Sie sprechen die Nachreichung der Medienkonzepte an, die wir im DigitalPakt beschlossen haben. Auch darüber waren wir uns einig. Leider lagen die Medienkonzepte nicht vor; deshalb haben wir gemeinsam entschieden, wir lassen sie nachreichen. Das ist sicher eine zentrale Beschleunigungsmaßnahme; da werden Sie mir zustimmen. ({9}) Sie sprechen den Breitbandausbau an. Dafür hat der Bund schon Ende 2018 durch das BMVI die nötigen Gelder bereitgestellt. Das sind alles richtige Vorschläge, sie sind alle auch schon in der Umsetzung! ({10}) Bei Ihren Forderungen zum Umbau des DigitalPakts gehe ich nicht mit. Man kann kritisieren, dass die Antragstellung analog und nicht über eine digitale Plattform funktioniert. ({11}) Aber innerhalb des Antragsprozesses dürfen wir die Plattform nicht wechseln. Das sorgt nur für Verwirrung bei Schulen und Kommunen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Das Gleiche gilt für die drei Zusatzvereinbarungen: zu den Schülerendgeräten, zu den Lehrerlaptops und zu den IT-Administratoren. Hier sollten Sie einfach einmal registrieren, dass es mit den Zusatzvereinbarungen drei große Verbesserungen – von Forderung über Finanzierung bis zur Verabschiedung durch die Bund-Länder-Vereinbarung – innerhalb weniger Monate in die Praxis geschafft haben, und das, obwohl der Bund immer noch nicht federführend für dieses Thema zuständig ist. Sie haben sicherlich die Zeit, sich Herrn Meidinger vom Deutschen Lehrerverband zu Gemüte zu führen. Er kritisiert, die Hü-und-hott-Politik der Länder sei unsäglich und demotivierend. Vielleicht lesen Sie das einfach nach, um zu sehen, wo die Verantwortung wirklich liegt. Ein Sprichwort sagt: Mitten im Fluss wechselt man nicht die Pferde. – Zu diesem Grundgedanken sollten wir weiter stehen; denn auch wenn die Umsetzung des DigitalPakts vielleicht verbesserungswürdig ist, bleibt die Strategie die richtige. Wir müssen den Weg jetzt weiter konsequent beschreiten. Wir müssen Unsicherheit bei der Beantragung vermeiden, um erfolgreiche Ergebnisse gewährleisten zu können. ({12}) Das Gleiche gilt für Ihre Dauerforderung eines DigitalPakts 2.0. Erst einmal müssen die Mittel des DigitalPakts I bis 2024 abgerufen werden; auch das ist nichts Neues. Grundsätzlich gilt immer noch: Die Länder müssen ihren Aufgaben nachkommen. ({13}) Ein DigitalPakt des Bundes als Dauereinrichtung würde doch wohl den Föderalismus buchstäblich über den Haufen werfen. Das gilt auch für Ihre Forderung, der Bund solle die Durchführung von Abschlussklausuren gewährleisten – alles ureigene Aufgaben der Länder. Wir stehen deshalb, ob am Jahresanfang oder am Jahresende, dafür ein, Aufgabenverteilung im föderalen System zu beachten, die Digitalisierung nach den erwähnten Säulen umzusetzen und den DigitalPakt Schule in seiner Form zu erhalten. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, können wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke schön. – Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Man kommt sich beinahe vor wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Abermals beschäftigen wir uns mit dem Steckenpferd der FDP-Fraktion, der Digitalisierung von Schulen und Unterricht. Auch die AfD-Fraktion setzt sich für eine maßvolle Einbindung digitaler Lehr- und Lernmittel im Unterricht ein und befürwortet den Ausbau digitaler Infrastruktur; dazu liegen Anträge von uns vor. ({0}) Das ändert aber nichts an unserer grundsätzlichen Kritik am DigitalPakt Schule. Er greift zu stark in den Hoheitsbereich der Länder ein und beschäftigt sich mit Problemfeldern, die weit weg sind vom tatsächlichen Bedarf der Schulen unseres Landes. Dass die Fördermittel nicht abgerufen werden, ist doch der beste Beweis für die Untauglichkeit dieses Paktes. ({1}) Zur Erinnerung: Es handelt sich hier um zweckgebundenes, aber geschenktes Geld, das anscheinend niemand haben möchte. ({2}) Das stellen sogar die Antragsteller selbst fest. Sie kommen aber leider nicht auf die naheliegende Einsicht, dass das mit der Gießkanne verschüttete Geld unter anderem deshalb niemand annimmt, weil der damit verbundene Zweck an der Lebensrealität der Schulen vorbeigeht. ({3}) Die Lehrer wollen einfach keine durchtechnologisierte Digitalschule mit toll klingenden Unnötigkeiten wie Smart Spaces. Lehrer wollen eine sinnvolle und unterstützende Einbindung digitaler Elemente in den Unterricht und keinen Tech-Start-up-Verschnitt, wie Sie ihn den Klassenzimmern dieser Republik gerne aufzwingen würden. ({4}) Lehrer wollen die Kinder bilden, nicht programmieren; ({5}) sie wollen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren statt Wischen und Klicken. Hören Sie doch mal auf das pädagogische Fachpersonal, statt Politik an diesem vorbei zu machen! Die haben nämlich weiß Gott andere Probleme. ({6}) Auch die Coronamaßnahmenkrise, die Sie als Vehikel für Ihre Digitalisierungsträume nutzen wollen, wird daran nichts ändern, meine Damen und Herren. Die Rezepte für eine pandemiekrisensichere Schule sind alt: Wir brauchen kleinere Klassen, mehr Lehrer und sanierte Schulen. Mit diesen Maßnahmen könnten wir einen möglichst normalen Präsenzunterricht weitestgehend gewährleisten. ({7}) Eltern müssten nicht erneut zusätzlich zu ihren oftmals aushäusigen Erwerbstätigkeiten auch noch für die Bildung ihrer Kinder sorgen. Ich appelliere an Sie: Stellen Sie ein, bilden Sie aus, fort und weiter, bauen und renovieren Sie die Schulen, verkleinern Sie die Schulklassen dort, wo Sie mitregieren. Da, wo die Länderhoheit für die Bildung liegt, sind Sie doch in Regierungsverantwortung. ({8}) Entwickeln, erproben und evaluieren Sie unter Hochdruck, den Sie hier fordern, mit den Lehrern dort gangbare digitale Konzepte zur Ergänzung von Präsenzunterricht. Beschleunigen Bund und Länder dann auch noch den Breitbandausbau an Schulen, dann, ja dann ist unser Bildungssystem nicht nur für Krisenzeiten gewappnet, sondern auch wieder bereit, einen Platz an der Weltspitze einzunehmen, meine Damen und Herren. ({9}) Schließlich möchte ich noch allen Menschen draußen frohe Weihnachten wünschen. An diesem sehr speziellen Weihnachten sei vor allem auch an diejenigen gedacht, die ängstlich, einsam, deprimiert und verzweifelt sind. Bitte erinnern Sie sich stets daran, dass unser Glaube, unsere Liebe zu unseren Familien und unserem Land größer und stärker ist als die Angst. Liebe, Freiheit, Demokratie und Zusammenhalt sind die Gebote der Stunde. Ihr Licht brennt hell und warm in dieser dunklen Zeit und spiegelt sich in den seelenvollen Augen unserer Kinder. ({10}) Wir halten stand. Selten war die weihnachtliche Botschaft so wichtig: Fürchtet euch nicht! Schöne Weihnachten! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Marja-Liisa Völlers für die SPD-Fraktion. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in einer Situation, in der Bund und Länder die Notbremse ziehen mussten. Leider betrifft das auch unser Bildungssystem. Die Zahl der Infektionen steigt nach wie vor, und gleichzeitig sinkt die Anzahl freier Intensivbetten – eine tödliche Kombination. Als Bildungspolitikerin und Lehrerin habe ich in dieser schwierigen Situation vor allem die Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen im Blick. Wir wissen mittlerweile aus internationalen Studien, dass die Lernverluste im Frühjahr und Sommer sehr groß waren und vor allem immer noch ungleich verteilt sind. ({0}) Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien sind deutlich stärker betroffen. Die Bildungsschere geht also weiter auseinander. Es wird deshalb im nächsten Jahr stärker denn je darauf ankommen, diese vorhandenen Lernrückstände auszugleichen. ({1}) Natürlich spielt dabei die Digitalisierung eine entscheidende Rolle. Ich glaube an das Potenzial des digital unterstützten Unterrichts, gerade im Hinblick auf individuelle Förderung und Inklusion. Digitale Elemente müssen ergänzend fester Bestandteil des Schulalltags werden. Wenn uns das gelingt, haben wir eine gute Chance, dass jene Bildungsschere wieder zusammengeführt wird. ({2}) Schade nur, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie zu den gleichen Startvoraussetzungen oder zur Inklusion in Ihrem Antrag wieder kein Wort verloren haben. ({3}) Frau Suding, Sie haben in Ihrer Rede ein paar Punkte genannt, im Antrag selbst findet man dazu gar nichts. Manchmal habe ich leider den Eindruck – Frau Kollegin Tiemann hat das gerade in ihrer Analyse der Anträge wunderbar seziert –, dass Sie immer wieder dieselben Anträge mit minimalen Veränderungen einbringen und es Ihnen im Prinzip gar nicht um die Kinder geht, sondern nur darum, sich gut darzustellen. ({4}) Was die technische Ausstattung betrifft, haben wir als SPD bereits einiges mit unserem Koalitionspartner erreicht. Wir haben Tablets und Laptops für Lehrkräfte besorgt. ({5}) Wir sorgen dafür, dass bedürftige Schülerinnen und Schüler auch Laptops bekommen können. Wir bauen IT-Beratungsstrukturen in unseren Schulen weiter aus. ({6}) Doch wir sehen immer noch: Ausgerechnet dort, wo Schülerinnen und Schüler zu Hause nicht die notwendige Unterstützung bekommen, sind die Schulen leider schlechter aufgestellt. Deswegen brauchen wir so dringend das Programm „Schule macht stark“. Ich hoffe sehr, liebes Bildungsministerium, Staatssekretär Rachel, dass es im nächsten Jahr pünktlich startet. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie es Ihnen allen am Sonntag ging, aber mein Handy klingelte fast die ganze Zeit. Eltern, Lehrerkolleginnen und Lehrerkollegen, Freunde aus mehreren Bundesländern meldeten sich. Viele Fragen waren noch offen. ({8}) – Nein, nein, nein. – Wir brauchen also eine klare und gut verständliche Kommunikation. Das ist so wichtig. Dazu gehört auch, klarzumachen, dass wir heute noch nicht mit Sicherheit sagen können, ob die Schulen und Kitas nach dem 10. Januar wieder in einen normalen Betrieb gehen können. Aber wir müssen vorbereitet sein. Das niedersächsische Kultusministerium ist bislang das einzige, das einen entsprechenden Pandemieplan für die Zeit ab dem 10. Januar vorgelegt hat. Daran sollten sich alle anderen Bundesländer ein Beispiel nehmen. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten! Bitte bleiben Sie alle gesund und insbesondere ein Dank an die Lehrkräfte und das Kitapersonal, die sich so stark um unsere Kinder kümmern. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Birke Bull-Bischoff hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wirklich wenig, was noch nicht gesagt ist, und das vielfach. Aber es gibt immer etwas, was immer wieder gesagt werden muss, und zwar deshalb, weil es sich endlich ändern muss. Ja, eine der größten Bildungsbremsen für einen sinnvollen Wechsel zwischen Lernen in Distanz und in Präsenz ist der fehlende Zugang zu leistungsfähigem Internet und zu angemessenen Geräten, und zwar nicht nur in allgemeinbildenden Schulen, sondern ebenso in beruflichen Schulen. Auch hier zeigt sich im Übrigen: In den sogenannten Brennpunktschulen, wo junge Leute unterwegs sind, denen es nicht so gut geht, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, gibt es den größten Mangel. Auch – über den Tellerrand hinausgeblickt – in der außerbetrieblichen Ausbildung, in der Jugendsozialarbeit, im Übergangssystem, in der beruflichen Bildung oder in der Grundbildung ist der Mangel am größten. Aber Lernen mit und über digitale Mittel und Medien ist kein Notnagel für Krisenzeiten. Es ist eine Zukunftsfrage für alle Kinder. ({0}) Deshalb ist es eine Zukunftsfrage für die Politik. Und: Es muss jetzt gehandelt werden. ({1}) Die Öffnung des Grundgesetzes muss man nun für grundsätzliche Lösungen nutzen, aber nicht wieder für kleinteilige Förderprogramme, die mit Sicherheit nur bis zur nächsten Ecke reichen. Das heißt, es muss dauerhaft und mehr digitale Infrastruktur finanziert werden. Es bedarf der Förderung von mindestens technischem Personal, und, meine Damen und Herren – das ist uns besonders wichtig –, es muss sozial gerecht zugehen. ({2}) Das heißt: Dort, wo die größten Herausforderungen sind, wo am meisten gebraucht wird, muss das meiste Geld hinfließen. Dafür brauchen wir individuelle Rechte auf eine digitale Grundsicherung: auf Laptop und Drucker für alle, mindestens aber für die jungen Menschen, denen das Bildungssystem hierzulande schon jetzt eine Niederlage nach der anderen präsentiert. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch oder gerade in digitaler Gesellschaft gilt: Es geht immer noch um Bildung. Das hat viel mit Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zu tun. ({4}) Deshalb sind uns die Standards offener Bildung wichtig: quellcodeoffene digitale Bildungsmaterialien, eine Kultur des Tauschens und des Teilens. ({5}) Es geht um Datenschutz, und dafür muss jetzt Vorsorge geschaffen werden, ({6}) und zwar schnell und verbindlich. Das Problem ist, dass viele Schulen ausgehungert sind und Beurteilungskompetenz fehlt. Schulen nehmen, was sie kriegen können. Das hat nicht in jedem Fall etwas mit freier Bildung zu tun. Was wir nicht brauchen, sind Lock-in-Effekte. Das gefährdet digitale Mündigkeit, und das beschränkt Bildung auf Anwenderkompetenzen. Gern darf mit Bildung Geld verdient werden, aber die Schulen dienen in erster Linie den Interessen von jungen Menschen, der Freiheit und der Selbstbestimmung. Kurz gesagt: Es geht um die Bildung junger Menschen – Punkt, aus, Ende. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Margit Stumpp das Wort. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Empfehlung der Leopoldina, die Schulpflicht auszusetzen, war ein Schock. Warum? Weil dies faktisch die Preisgabe des Grundrechts auf Bildung bedeutet. Das käme einem Offenbarungseid unserer liberalen Demokratie gleich; das darf uns nicht passieren. ({0}) Motivation war vermutlich die dringend notwendige Kontaktreduzierung. Dem wird jetzt mit der Aufhebung der Präsenzpflicht und dem Vorziehen von Ferien nachgekommen. Aber am 11. Januar ist die Pandemie nicht vorbei. Was kommt danach? Seit fast zehn Monaten müssen Schulen auf kurzfristige Pauschalentscheidungen reagieren. Sie brauchen einen Plan A, einen Plan B und einen Plan C. Das kann so nicht weitergehen. ({1}) Viel zu viele Schulen können die digitalen Mittel für hybriden Unterricht immer noch nicht nutzen. Diesen Punkt greift die FDP völlig zu Recht auf. Die, die es konnten, durften die digitalen Mittel nicht nutzen. Wahr ist aber auch: Grund- und Förderschulen helfen digitale Mittel nur bedingt, weil die Kinder damit überfordert sind. Allen Schulen ist gemeinsam, dass die bestehenden Möglichkeiten, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten, zu starr sind und nicht ausreichen. Sie brauchen weitere Instrumente und mehr Flexibilität: ({2}) Luftreinigungsgeräte, größere Räume, mehr Personal wie studentische Hilfskräfte oder Lernbegleitungen. Kurz: Schulen brauchen keine starren Vorgaben, sondern verbindliche und klare Ziele zur Erreichbarkeit von Kindern und zu Kontakten zu Lehrkräften. Prüfungen, Lernlücken, es gibt viele Herausforderungen, denen wir nicht allein mit einem Weiße-Flecken-Programm für schulische Breitbandanschlüsse beikommen werden, auch nicht nur mit einem Programm für Basisdigitalisierung. Wir brauchen für Schulen eine viel weiter gehende Strategie: Wir brauchen ein Weiße-Flecken-Programm für Bildung. ({3}) Liebe KMK, liebe Ministerin Karliczek, setzen Sie sich endlich zusammen, und erarbeiten Sie eine tragfähige Strategie! Und: Beziehen Sie die Betroffenen mit ein! Beteiligen Sie Elternvertretungen, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulträger in diesen Diskussionen! Sie sind diejenigen, die alle Entscheidungen umsetzen und aushalten müssen; das ist das Mindeste. Zum Schluss möchte ich mich bei all jenen bedanken, die in diesem Jahr Schulen am Laufen gehalten haben und mit all ihren Kräften das Recht auf Bildung verteidigt haben: Lehrkräfte, Eltern, Schulträger und nicht zuletzt Schülerinnen und Schüler. Vielen Dank für Ihr Engagement und eure Geduld. Ich hoffe, Sie können die nächsten Wochen zur Erholung nutzen. Bleiben Sie zuversichtlich und gesund! Das wünsche ich uns allen und viele Lichtblicke und Erleichterungen im kommenden Jahr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Michael von Abercron hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Michael Abercron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gab einen allseits bekannten Werbespruch eines großen Kaufhauses, der, insbesondere beim Schlussverkauf, besagte: Das Beste zum Schluss. – Ob man den vorliegenden Antrag der FDP zum Thema Digitalisierung zum Ende unserer Sitzung damit bewerben kann, das will ich an ein paar Beispielen überprüfen. Ich kann Ihnen auch sagen: Sie müssen sich nicht fürchten. ({0}) Gleich der Punkt 1 dieses Antrages zeigt eine gewisse Realitätsferne. So soll innerhalb der nächsten dreieinhalb Wochen – die Festtage natürlich mit eingeschlossen – eine bundesweite Whitelist von sämtlichen schulischen Plattformanbietern in Abstimmung mit allen Bundesländern vom Bund erstellt werden. Diese soll auch noch den datenschutzrechtlichen Anforderungen für eine öffentliche Nutzung genügen. Ganz abgesehen davon, dass eine Durchführung dieser Forderung zeitlich gar nicht möglich ist, gibt es doch erhebliche Unwägbarkeiten hinsichtlich der vergaberechtlichen Fragen, die es zu klären gilt. ({1}) Es besteht nämlich das Risiko, dass Bund und Länder massiv angreifbar sein könnten, wenn bei der Erstellung der Whitelist zum Beispiel ein Anbieter entweder vergessen worden ist oder möglicherweise nicht berücksichtigt wurde. ({2}) Ist er zu Unrecht von der Liste verschwunden, könnte das in der Tat millionenschwere Schadensersatzforderungen zur Folge haben. Einen Untersuchungsausschuss würden Sie mit Sicherheit sofort fordern, wenn das alles nicht klappt. ({3}) Die FDP fordert weiter mit willkürlich gegriffenen Terminsetzungen, die Mittelabflüsse zur Beschaffung von technischem Equipment zu beschleunigen. ({4}) Abgesehen davon, dass mich das eher an planwirtschaftliche Vorgaben erinnert, blendet die FDP mehr oder weniger gekonnt aus, dass auch hier Vergabeverfahren eingehalten werden müssen. ({5}) – Doch, doch, das hat schon etwas damit zu tun. ({6}) Ich will aber nicht verhehlen, dass die Forderung auch einen wichtigen Aspekt hat – hören Sie zu! –, bei dem wir Ihnen an dieser Stelle entgegenkommen. Es ist nämlich die Frage, ob staatliche Prozesse und die Ausschreibung nicht auch ein wenig entbürokratisiert werden können. Leider scheinen die Verfechter einer Entbürokratisierung von Berlin bis Brüssel trotz aller öffentlicher Bekundungen immer weniger gehört zu werden. Das sage ich auch ganz selbstkritisch, wenn ich daran denke, was wir heute Morgen mit dem notwendigen, aber doch in dieser Hinsicht nicht gerade vorbildlichen EEG beschlossen haben, das kein Beispiel für Entbürokratisierung ist. In Punkt 5 des Antrages wird gefordert, dass alle Schulen zum 30. Juni über einen schnellen Internetzugang verfügen sollen. Jeder wird diese Forderung sofort unterstützen. Aber auch hier holt uns doch die Realität ein: Gehen Sie mal vor Ort hin, und beauftragen Sie einen Unternehmer, der möglicherweise gar nicht da ist. Wir können uns noch so laut und immer wieder über die Frage unterhalten, warum das nicht schnell zu machen ist, wenn vor Ort nicht die Kabel gelegt werden. Automatisch werden sie eben auch nicht aufgerollt. Also, insofern ist die Frage sehr wichtig: Wie bekommt man das vor Ort gelöst? Darauf gehen Sie nicht ein. Was jedoch überhaupt keine Erwähnung in Ihrem Antrag findet, ist die Tatsache, dass nicht nur Schulen besser ausgestattet werden müssen, sondern natürlich auch die Haushalte der Eltern. Ich selber habe das Problem, dass ich im ländlichen Raum wohne und mit LTE so gerade versorgt werde. Ich kann Ihnen berichten, dass unser Hausanschluss manchmal zu eng ist. Meine kleine schulpflichtige Tochter hat Schwierigkeiten, ihre Aufgaben vollständig mit dem System IServ zu empfangen, die ältere Tochter muss darum bangen, dass das Programm itslearning vollständig auf ihrem Laptop erscheint. Das bedeutet doch am Ende, dass wir dringend dafür sorgen müssen, dass der ländliche Raum komplett mit Internet versorgt wird, und zwar egal mit welchen technischen Lösungen, sonst wird der ländliche Raum schulisch abgehängt. Das müssen wir verhindern, meine Damen und Herren. ({7}) Ein anderer Punkt macht mir bei Ihnen große Sorgen – den finde ich auch besonders kritisch –, nämlich der Punkt 8. Sie fordern, mit den Ländern sofort über eine Nachfolgeregelung des DigitalPakts zu verhandeln. ({8}) Wenn dieser Antrag für eines gut ist, dann ist es doch die Erkenntnis der Notwendigkeit einer genauen Evaluation des DigitalPakts und seiner Erweiterung. Nur so können wir in Zukunft überhaupt Fehler vermeiden. Aber das Problem ist: Solange wir ein föderales Bildungssystem haben – ich gebe zu, ich bin selbst nicht immer ein großer Fan davon –, darf die Devise doch nicht sein: Die Länder entscheiden, die Länder verkünden, die Länder wählen aus, und der Bund zahlt. – Das kann es doch nicht sein. ({9}) Wir sind doch nicht dazu da, uns hier im Bundestag als Zahlmeister für die Schulbildung in den Ländern anzuempfehlen. Das machen Sie mit diesem Antrag, meine Damen und Herren. ({10}) Gut. Sollte in der letzten Sitzung des Jahres 2020 dieser Antrag „das Beste zum Schluss“ sein, so sehe ich auch bei diesem Schlussverkaufsartikel doch noch einigen Optimierungsbedarf, ({11}) wie auch insgesamt – das gebe ich zu – bei der Digitalisierung unserer Schulen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Abercron, die gute Nachricht: Ihre Kollegin hat die Redezeit eingehalten. Die schlechte: Sie müssen zum Punkt kommen.

Dr. Michael Abercron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Ich wünsche Ihnen – das war gerade mein Wunsch – nicht nur digital, sondern auch von Herzen alles Gute zu Weihnachten, ein frohes Weihnachtsfest und ein gesegnetes und gesundes 2021! Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sosehr ich mich über bildungspolitische Debatten hier im Plenum freue, so muss ich mich langsam über die Anträge der FDP wundern, die so tun, als würden sie das Rad neu erfinden. Wir haben in den vergangenen Monaten die Thematik der digitalen Bildung an dieser Stelle hoch- und runterdiskutiert. Für mich sieht das so aus, als müssten Sie vor Weihnachten noch einmal versuchen, im Gespräch zu bleiben. Es ist ja nicht so, dass Ihre Vorschläge in der bundespolitischen Debatte verfangen; denn die Koalition hat bereits geliefert; Sie schreiben es selbst in Ihrem Antrag. Wir haben ad hoc dreimal eine halbe Milliarde Euro den Ländern zur Verfügung gestellt, um den digitalen Unterricht, der ja hoffentlich im kommenden Jahr nicht mehr in so großem Umfang nötig sein wird, besser zu ermöglichen. Es gab 500 Millionen Euro für Laptops und Tablets für Schülerinnen und Schüler, die kein eigenes Gerät haben, ({0}) 500 Millionen Euro für Techniker und Systemadministratoren, um die angeschaffte Technik zu warten, sowie 500 Millionen Euro für Lehrerinnen- und Lehrerlaptops, damit sie endlich nicht mehr mit ihren Privatgeräten arbeiten müssen. ({1}) Der DigitalPakt gilt dazu unvermindert weiter. Länder können weiterhin mit Bundesgeldern in ihre digitale Bildungsinfrastruktur investieren. Wenn Ihnen der Mittelabfluss nicht schnell genug geht, dann klopfen Sie doch mal an die Tür Ihrer FDP-Landesministerin für Bildung in Nordrhein-Westfalen und machen Frau Gebauer Dampf unterm Kessel. ({2}) Natürlich will auch meine Fraktion, dass Schulen für den digitalen Wandel gewappnet sind – nicht nur in Zeiten der Pandemie –, und wir wollen auch, dass die Verzahnung von digitalem und Präsenzunterricht möglichst reibungslos klappt. Wie das aussehen kann, hat die SPD-Fraktion in einem Positionspapier bereits vor Monaten skizziert. Wir wollen die digitale Lernmittelfreiheit für alle. ({3}) Dazu braucht es beispielsweise ein neues Förderprogramm, das Schülerinnen und Schüler unterstützt, den verpassten Stoff nachzuholen. Bei allem digitalen Ausbau ist daher wichtig festzuhalten, dass Digitales den eigentlichen Präsenzunterricht immer nur ergänzen kann und nicht ersetzen darf. Die unmittelbare Teilhabe der Schülerinnen und Schüler und der direkte Kontakt sind essenziell. Das kann kein Gerät ersetzen. ({4}) Daher ist es auch so wichtig, dass wir den Rechtsanspruch für eine Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter schnellstmöglich umsetzen. Denn wer von Anfang an dabei ist und die Chancen zum gemeinsamen Aufwachsen und zum Von-und-miteinander-Lernen hat – analog und digital –, der hat es später auch leichter, sich zurechtzufinden. Deswegen müssen wir neben den Finanzen auch die Qualität des Ganztags im Blick behalten. Dieser muss mit außerschulischen Bildungsangeboten eng verzahnt werden, zum Beispiel mit dem MINT-Bereich oder mit Angeboten zur politischen Kinderbildung. Davon steht nichts im Antrag, obwohl es dazugehören müsste. Wir können dem Antrag von daher nicht zustimmen. ({5}) Herzlichen Dank und schöne Weihnachten. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. Das Beste, sagt Markus Kurth, und das Wichtigste kommt zum Schluss. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Vielleicht haben Sie es mitbekommen: Familie Lechleuthner ist der Kragen geplatzt. Für diejenigen, die es nicht mitbekommen haben, will ich einmal erläutern, was der Hintergrund ist: Die Lechleuthners leben mit ihren vier Kindern in Bayern. Korbinian – so heißt das jüngste Kind – ist dreieinhalb Jahre alt. Seine Muskeln sind anders als bei anderen Kindern; aber das ist sicher nicht das Problem. Aber damit Korbinian das bekommt, was er braucht, müssen seine Eltern ständig gegen Behörden kämpfen. Zurzeit geht es zum Beispiel unter anderem um einen speziellen Stuhl, den das Kind in der Kita braucht, um seine kleinen Freundinnen und Freunde zu sehen. Das ist technisch eigentlich überhaupt kein Problem. Die Krankenkasse sollte das finanzieren, tut sie aber nicht. So müssen die Eltern wertvolle Zeit damit verplempern – die würden auch gerne mit ihren Kindern spielen und Zeit mit ihnen verbringen –, sich mit der Kasse herumzuschlagen, damit ihr Sohn das bekommt, was er braucht. Als neulich wieder eine Ablehnung im Briefkasten landete, startete Frau Lechleuthner eine Petition mit dem Ziel, die Blockade der Krankenkassen endlich zu stoppen. Sie kämpft damit nicht nur für sich und vor allen Dingen ihren Sohn, sondern sie kämpft für ganz viele Menschen in diesem Land, die vergleichbare Probleme haben. ({0}) Ich habe vor einiger Zeit eine Umfrage gemacht, um herauszufinden, wie es denn ist mit dem Zugang zu Teilhabeleistungen und wo im Einzelnen die Probleme liegen. Ich habe innerhalb weniger Wochen tatsächlich Tausende von Rückmeldungen bekommen; nicht ein paar, sondern Tausende. Die Menschen berichteten mir, dass sie sich als Bittsteller fühlen, dass sie schlecht beraten würden und vor allem nicht auf Augenhöhe, dass sie müde seien und kaum noch Kraft hätten, jeden Tag aufs Neue gegen Behörden und ebendiese vermaledeite Bürokratie anzukämpfen. Es waren viele Eltern von Kindern mit Behinderung darunter. Sie schreiben davon – es ist wie bei den Lechleuthners –, dass sie, anstatt die Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können, Aktenordner mit Anträgen, Widersprüchen und all dem, was an Papierkram so anfällt, füllen. Blinde Menschen berichteten, dass sie Unterlagen handschriftlich ausfüllen sollten. Gehörlosen ist ihr Recht verwehrt worden, Gebärdendolmetscher mit zu Behörden zu nehmen, um ihre Rechte in Anspruch zu nehmen. Es gab auch viele Fälle, bei denen es darum ging, Leistungen zu verlängern, die sie ja schon seit langer Zeit bekommen. Als ob jemand, der zum Beispiel auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen ist, diese ein Jahr später nicht mehr braucht! Eine Behinderung verschwindet doch nicht einfach so. Deswegen macht es überhaupt keinen Sinn, dass man immer und immer wieder die gleichen Fragen beantworten muss und die gleichen Unterlagen auszufüllen hat. Das ist totaler Unsinn. ({1}) Wir schlagen vor, endlich damit Schluss zu machen und diesen Zustand zu beenden. Wir wollen einen Sozialstaat, der den Menschen auf Augenhöhe begegnet, einen Servicestaat und keinen Kafka-Staat. Verfahren müssen spürbar beschleunigt werden, damit die Menschen nicht monatelang auf die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen. Ich habe die Geschichte einer alten Frau im Kopf, die zwei Jahre lang auf die Genehmigung ihrer orthopädischen Schuhe warten musste und in dieser Zeit faktisch ihre Wohnung kaum noch verlassen konnte. Das sind unhaltbare Zustände. Es müssen Konsequenzen gezogen werden. Die Menschen haben keine Kraft, vor Gerichte zu ziehen. Wir müssen ihnen unter die Arme greifen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter unserem Antrag – das ist, glaube ich, offensichtlich – steckt ein enormes Problem. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich diese Menschen frustriert abwenden, weil sie irgendwann nur noch das Gefühl haben, gegängelt zu werden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wieder Vertrauen entsteht in einen Staat –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Rüffer.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– letzter Satz –, der für sie da ist, wenn sie ihn brauchen. Lassen Sie uns das gemeinsam tun. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten! Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Wilfried Oellers das Wort. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer an den Endgeräten! Frau Rüffer, als ich den Antrag gelesen habe, wusste ich zunächst nicht, ob er einen roten Faden hat. Sie haben viele Punkte aufgeführt, die selbst in den elf Minuten meiner Redezeit – das sage ich ganz ehrlich – schwer zu erfassen sind. Um die Geschichte der vielen betroffenen Menschen, die Sie gerade erzählt haben, vielleicht als Erstes aufzugreifen: Diese Fälle werden mir auch geschildert, und ich muss sagen, in einigen Fällen bin ich fassungslos, wenn ich sehe, wie die Verfahren laufen. Dennoch muss man natürlich sagen, dass selbst diese Ansprüche zunächst mal zu beantragen sind und ein Verfahren durchzuführen ist. Auch ich würde mir da mehr Beschleunigung wünschen; das sage ich ganz ehrlich. Sie sprechen von einem „Sozialstaat auf Augenhöhe“. Was heißt das eigentlich? Ich will betonen, dass das Sozialleistungsverhältnis ein Leistungs-, Pflichten- und Obliegenheitsverhältnis ist. Die Bürger müssen einen Antrag stellen. Dieser sollte zügig bearbeitet werden; da bin ich voll bei Ihnen. Dann geht es aber darum, vonseiten des Staates solche Ansprüche – das verstehe ich unter einem „Sozialstaat auf Augenhöhe“, und ich bin der Meinung, dass wir diese Augenhöhe haben – kontinuierlich zu begleiten. Ich gebe zu: Das kann zum Teil sehr mühsam sein, ja. Aber ich glaube schon, dass wir in den letzten Jahren als Bundesregierung da vieles getan haben, insbesondere durch das BTHG. Das bringt natürlich viele Umstellungen und Neuerungen mit sich, auf die sich die Behörden bzw. Leistungsträger einstellen müssen. Ich greife mal als ersten Punkt das Leistungsrecht heraus. Was haben wir nicht alles eingeführt! Das Wunsch- und Wahlrecht nach SGB IX wurde mit dem Bundesteilhabegesetz eingebracht. Die angemessenen Wünsche der Leistungsberechtigten werden im Rahmen der persönlichen, familiären und örtlichen Umstände, gerade was die gewünschte Wohnform betrifft, berücksichtigt. Selbst unangemessenen Wünschen ist zu entsprechen, wenn ansonsten der Bedarf nicht oder nicht umfassend gedeckt werden kann oder alternative Leistungen nicht zumutbar sind. Dem Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen ist immer der Vorzug zu geben, wenn der Leistungsberechtigte dies wünscht. Und damit einhergehende Assistenzleistungen im Bereich der Gestaltung sozialer Beziehungen und persönlicher Lebensplanungen sind ebenfalls zu berücksichtigen. Den Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz haben wir im BTHG verankert. Gerade die persönlichen Assistenzleistungen dürfen nicht gemeinsam erbracht werden – Stichwort „Poolen“ –, wenn Leistungsberechtigte dies nicht ausdrücklich wünschen. Also, an der Stelle haben wir, denke ich, rechtlich alles getan. Auch die in Ihrem Antrag enthaltene Forderung nach Einrichtung einer Clearingstelle haben wir mit der Einrichtung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, denke ich, eigentlich schon erledigt. Da werden Menschen an die Hand genommen und durch den zugegebenermaßen bestehenden Dschungel von Leistungsanträgen geführt. ({0}) Das Bemerkenswerte an den EUTBs ist, dass die Beratung gerade durch selbst betroffene Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen einbringen können, geleistet werden kann und so eine gute Beratung erfolgen kann. Wir haben mittlerweile 500 Beratungsstellen mit 1 800 Beschäftigten in Deutschland. Ja, bei den EUTBs gab es in jüngster Vergangenheit Schwierigkeiten mit den Förderungen. Da haben wir jetzt aber noch mal nachgelegt. Dieses Problem sollte jetzt behoben sein, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass wir die finanzielle Unterstützung der EUTBs entfristet haben. Damit haben wir letztlich diesen Einrichtungen Planungssicherheit gegeben, was ich für besonders wichtig halte. Ich denke, das muss man an der Stelle besonders betonen. Aber nicht nur das Sozialrecht ist hier zu berücksichtigen. Ich denke, man sollte auch die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts besonders hervorheben. Wir waren in dieser Woche ja gemeinsam in der öffentlichen Anhörung. In diesem Zusammenhang will ich besonders das Instrument der „erweiterten Unterstützung“ hervorheben. Es soll eingeführt werden, um statt der Anordnung einer Betreuung auch andere sozialrechtliche Hilfen zu vermitteln. Insgesamt werden mit dieser Reform auch der Erforderlichkeitsgrundsatz und das Prinzip der unterstützenden Entscheidungsfindung nach der UN-Behindertenrechtskonvention gestärkt. Der zweite Punkt: verfahrensrechtliche Verbesserungen. Um die in Ihrem Antrag geforderte bessere Koordinierung von Sozialleistungen zu erreichen, ist ja auch gerade im Bundesteilhabegesetz das Teilhabeplanverfahren eingeführt worden. Dieses Verfahren sorgt dafür, dass bei mehreren Kostenträgern Leistungen aus einer Hand erbracht werden können. Für dieses Verfahren haben wir Fristen vorgesehen, damit man das nicht unendlich in die Länge ziehen kann, zum Beispiel, was die Zuständigkeit und Weiterleitung eines Antrags betrifft. Zu knapp dürfen diese Fristen natürlich nicht bemessen sein. Sie müssen im Teilhabeplanverfahren hinterlegt werden; denn sie müssen die ganze Komplexität, die solche Fälle mit sich bringen, mit berücksichtigen, gerade auch im Hinblick darauf, wer der zuständige Rehaträger ist. An dieser Stelle haben wir, denke ich, vieles verbessert. Verbesserungspotenzial besteht sicherlich immer noch. ({1}) Aber ich will den Blick auch noch mal darauf lenken, dass wir mit dem geplanten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz den geforderten Verfahrenslotsen, den Sie angesprochen haben, einführen, damit Eltern von behinderten Kindern und Jugendlichen an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe unterstützt werden. Damit möchten wir eine verbindliche Zusammenarbeit der beteiligten Leistungsträger und eine verbindliche Beratung betroffener Kinder, Jugendlicher und ihrer Eltern erreichen. Auch wenn es bis dahin noch ein längerer Prozess ist, haben wir diese inklusive Lösung fest im Blick. Als dritten Punkt will ich hier das von Ihnen angesprochene Thema der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in politische Prozesse aufgreifen. Das liegt mir ganz besonders am Herzen. Wir haben trotz Corona – zumindest war es bei mir so – viele Gespräche mit behinderten Menschen geführt. Dank digitaler Techniken war das alles möglich, und auf diese Weise konnten die Interessen von behinderten Menschen trotzdem platziert werden. Ich denke dabei an Veranstaltungen, die wir in unserer Fraktion durchgeführt haben, zum Beispiel an den Festakt „100 Jahre Schwerbehindertenvertretung“, eine digitale Werkstatträtekonferenz und viele andere Veranstaltungen, die wir durchgeführt haben. Dort haben Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit gehabt, ihre Anliegen direkt zu platzieren und Impulse zu geben. Daraus sind Dinge erwachsen, die letztlich auch umgesetzt worden sind. Ich darf hier an die Finanzierung der Werkstatträte Deutschland erinnern, die ihr Finanzierungsproblem dargelegt hatten – sie waren ja auch zwischen den Trägern etwas hin- und hergetrieben; das konnte gelöst werden –, ({2}) und insbesondere an den Behinderten-Pauschbetrag im Steuerrecht, der seit 1975, nach so vielen Jahren, erstmals wieder angehoben worden ist. Ich gebe zu: Das ist viel zu spät; das hätte man viel früher lösen können. ({3}) Aber trotzdem: Es ist jetzt mal geschehen; da haben wir sicherlich einiges bewirkt. Im Rahmen der Coronapandemie hat sich auch gezeigt, wie wandelbar und schnell leistungsfähig ein Sozialstaat ist. Was haben wir nicht alles für Programme auf den Weg gebracht: Mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, mit KfW-Programmen und Überbrückungshilfen haben wir die ganzen Einrichtungen gestützt, und das wollen wir natürlich auch weiterhin machen. ({4}) Da wird es ganz wichtig sein, nicht nur die Zeit der Coronapandemie zu betrachten, sondern auch darüber hinauszublicken. In dem Zusammenhang möchte ich einen ganz herzlichen Dank an alle Behindertenverbände aussprechen, die während der ganzen Zeit nicht müde geworden sind, ihre Belange, die Belange der Einrichtungen und die Belange der behinderten Menschen vorzutragen, damit wir hier in der Politik genau wussten, wo wir ansetzen mussten. Diese Hinweisgeber brauchen wir weiterhin. Ich darf alle ermuntern, weiterhin den direkten Weg zu den Abgeordneten, zur Politik zu suchen. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, um zum Anfang der Rede zurückzukommen: Sozialstaat auf Augenhöhe – was bedeutet das? Unser Sozialstaat hat sich, wie ich gesagt habe, im Rahmen der Coronapandemie in kürzester Zeit handlungsfähig und wandlungsfähig gezeigt. Aber auch darüber hinaus müssen wir schauen, dass wir die Situation der Menschen mit Behinderungen verbessern und dass insbesondere die Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes, also die Hinführung von Menschen mit einer Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt, geleistet wird. Da stelle ich mir vor, dass man noch eine trägerübergreifende, unabhängige Lotsenstelle für Arbeitgeber einrichtet, damit auch diese durch das Dickicht der Förderleistungen geführt werden, und dass im Rahmen der Werkstätten für behinderte Menschen auch das Werkstattentgelt so finanziert wird, dass das Arbeitsförderungsgeld an das Ausbildungsförderungsgeld gekoppelt wird. Nächster großer Punkt: die Barrierefreiheit. Da muss sicherlich viel mehr Tempo auf die Bahn, ({6}) aber da ist man schon dran.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Oellers, Sie haben zwar beklagt, dass elf Minuten wenig Redezeit sind, aber das ist mit Abstand die längste heute gewährte Redezeit, und Sie müssen jetzt einen Punkt setzen.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin auch dabei. Ich wollte gerade zum Abschluss kommen. ({0}) Ich wünsche allen ein frohes Weihnachtsfest und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. – Mehr wollte ich gar nicht mehr sagen, Frau Präsidentin. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Auch wenn das der letzte Tagesordnungspunkt ist: Ich bitte, alle Wünsche, Danksagungen usw. gleich in den Redebeiträgen entsprechend einzuplanen. – Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bemühe mich, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über einen verbesserten Zugang zu Teilhabeleistungen. Das sind Leistungen, die Menschen mit Behinderungen dabei helfen, ihr Leben zu meistern. So wichtig es ist, über bessere Regelungen in der Teilhabe zu reden, so wichtig ist es, dabei fair und gerecht zu bleiben. Menschen mit Behinderungen haben es verdient, dass sie nicht zum Spielball von Ideologie werden, sondern dass die Politik ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Und darum geht es Ihnen von den Grünen leider nicht. Frau Rüffer, was Sie vorgetragen haben, ist unglaubwürdig, wenn man das mit dem Antrag vergleicht, den Sie gestellt haben. ({0}) Der Antrag bringt keine echten Lösungen; er fabuliert an verschiedenen Stellen, dass etwas verbessert werden soll, sagt aber nicht, wie. Vieles von dem, was Sie vorschlagen, existiert schon. Was ich Ihnen wirklich vorwerfe, ist die Tatsache, dass es keinen einzigen Antrag der Grünen zu geben scheint, in dem nicht irgendwo Politik für Migranten versteckt ist. ({1}) In diesem spezifischen Antrag fabulieren Sie sogar Menschenrechte herbei, die es nicht gibt, um Politik gegen Deutschland zu begründen. Das ist in der Behindertenpolitik besonders verwerflich, meine Damen und Herren! ({2}) Und darauf will ich eingehen: Auf Seite 8 ersinnen Sie, das Recht auf Teilhabe sei ein universelles Menschenrecht, um dann gleich hinzuzufügen, dass es nicht vom aufenthaltsrechtlichen Status abhängig gemacht werden darf. ({3}) Damit begründen Sie ein unbegrenztes Leistungs-, Wunsch- und Wahlrecht. Die Gemeinschaft hat alles zu bezahlen für alle aus aller Welt. Die Wahrheit ist aber – um das jetzt ein für alle Mal zu klären –: Ein universelles Menschenrecht auf Teilhabe gibt es nicht, übrigens genauso wenig wie auf Sozialleistungen oder Migration, ({4}) nicht in der Europäischen Menschenrechtskonvention und auch nicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN. Dort gibt es aber eine gegenseitige Verantwortlichkeit zwischen Gemeinschaft und Individuum. Lesen Sie mal Artikel 22: Als Mitglied der Gesellschaft hat jeder unter Berücksichtigung der Mittel des Staates Anspruch darauf, in den Genuss der Rechte zu gelangen, die für seine Würde unentbehrlich sind. – Auf der anderen Seite gibt es Artikel 29: „Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft.“ – Ja, schreiben Sie sich das mal hinter die grünen Ohren! ({5}) Und in der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es auch keine entsprechenden Regelungen. In Artikel 19 haben die Vertragsstaaten deklariert, dass sie Maßnahmen treffen, um Menschen mit Behinderungen ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern. Das steht aber unter dem Progressionsvorbehalt des Artikels 4, nämlich der verfügbaren Mittel und der Verwirklichung nach und nach. Der Anspruch auf Leistungen ist also kein universelles Menschenrecht. Der Staat hat die Pflicht, im Rahmen seiner Mittel für jedes Mitglied der Gesellschaft auf Teilhabe hinzuwirken. Ihre Prämisse, die Sie in den Antrag geschrieben haben, ist einfach falsch, wie in vielen anderen Anträge auch. Und das werfe ich Ihnen vor: dass Sie die Behindertenpolitik zu dieser Art von Forderungen missbrauchen. ({6}) Die anderen wohlfeilen Forderungen, die Sie stellen, fallen ganz schnell auseinander, wenn man sich intensiver damit beschäftigt. Ich mache mal einen kurzen Durchlauf. Erstens. Das Wunsch- und Wahlrecht wollen Sie ausweiten, insbesondere bezüglich der Leistungen und des Wohnorts und des Pflegetyps. Nach der geltenden Rechtslage gibt es bereits jetzt einen Ausschluss deutlich teurerer Leistungen nur nach einer Abwägung der Situation, nach einer Prüfung der Zumutbarkeit. Das steht in § 104 SGB IX; den muss man halt lesen. ({7}) Zweitens. Sie wollen neue Berichtspflichten und neue Fristen einführen. Sie haben selber festgestellt, dass die Behörden schon überlastet sind; Sie wollen sie aber noch weiter überfordern, obwohl es solche Fristen schon längst gibt. Bei Überschreitungen gibt es die sogenannte Genehmigungsfiktion; das heißt, die Leistungsberechtigten könnten sich die Leistungen einfach selber einkaufen. Das stört Sie aber wieder. Sie sagen, das könnten die nicht finanzieren, haben aber offensichtlich überlesen, dass diese Leute Anspruch auf Abschlagszahlungen haben, und zwar nach § 18 Absatz 4 SGB IX. ({8}) Ganz wichtig sind Ihnen natürlich die Leistungen für Asylbewerber. Sie fordern Eingliederungshilfen vom ersten Tag an. Wollen wir wirklich den eingliedern, der geduldet ist oder direkt vor der Abschiebung steht? – Das ist ganz bestimmt nicht das Ziel von Behindertenrechtspolitik. Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie gestellt haben, dient nicht den Menschen mit Behinderungen. Er dient dazu, die Tür zu öffnen für Eingliederung und Extraleistungen für Menschen aus der ganzen Welt. Teilhabe wird so erweitert zu einer Art Nachteilsausgleich für illegale Migranten. Wenn Sie so die Menschen mit Behinderungen für Ihre One-World-Ideologie –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kleinwächter, achten Sie bitte auf die Zeit.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– instrumentalisieren, ist das wirklich moralisch inakzeptabel. ({0}) Meine Damen und Herren, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kleinwächter, Sie müssen zum Schluss kommen.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– ich komme zum Schluss – die Adventszeit ist eine Zeit der Besinnung und der Umkehr. Die wünsche ich Ihnen, und Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Haben Sie herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vielen Dank. – Das Wort hat die Kollegin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir hier im Deutschen Bundestag Gesetze beschließen, dann machen wir das, weil wir damit bei den Menschen etwas bewirken wollen. Das gilt für alle Gesetze, aber insbesondere dann, wenn es um die Belange von Menschen mit Behinderungen geht. Das gehört für mich und meine Fraktion, die SPD, zum Selbstverständnis. Sie haben den vorliegenden Antrag gestellt, werte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, und Sie machen darin geltend, dass die Hilfe nun doch nicht vor Ort ankommt. Das gibt uns die Gelegenheit, noch mal darüber zu reden, dass das für uns ein wichtiges Thema ist, das wir hier aufgegriffen haben, und dass wir deswegen mit dem BTHG ein umfassendes Regelwerk verfasst und Instrumente entwickelt haben, damit die Hilfe vor Ort bei den Menschen ankommt, und zwar viel mehr, als es bisher der Fall war. Ich will das noch mal an einigen wenigen Beispielen benennen. Genannt wurde bereits die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, die geschaffen wurde, damit Menschen eine erste Anlaufstelle haben und eben nicht – wie Sie in Ihrem Antrag befürchten – durch einen Behördendschungel gehen müssen und nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Darum war uns das so wichtig. Wir haben die Teilhabeplanverfahren verbindlich etabliert und geregelt, damit es gerade dann, wenn mehrere Träger involviert sind, möglich ist, die Zuständigkeiten abzugrenzen, und die Menschen nicht von Pontius zu Pilatus laufen müssen. Das war uns ganz wichtig. Wo es möglich und von den Leistungsberechtigten gewollt ist – so kann man das Verfahren transparent machen; da können sich alle an einen runden Tisch setzen –, gibt es diese Form der Mitwirkung; man kann auch eine Vertrauensperson mitnehmen. Das alles sind Ansätze, mit denen wir genau dem, was Sie in Ihrem Antrag beschreiben, in positiver Art und Weise entgegenwirken wollen. ({0}) Wir haben auch versucht, die personenzentrierte Hilfe auf den Weg zu bringen, damit es eben nicht mehr darum geht, welche Leistungen ein Mensch bekommt oder ob er in der Wohnform A oder B ist, sondern welchen Bedarf er ganz individuell hat. Das alles sind wichtige Akzente, die wir gesetzt haben. Das, was wir hier auf den Weg bringen, muss sich in den Behörden aber auch einüben. Das sind andere Arbeitsgänge und andere Arbeitsweisen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Aspekt vor Ort. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Das Ganze hat auch etwas mit Qualitätsfragen und mit Finanzierungsfragen zu tun. Es geht – abgesehen von den SGB-V-Leistungen bei den Krankenkassen – bei dem, was Sie angesprochen haben, teilweise oder sogar überwiegend um Leistungen der Länder, und da braucht es auch die finanziellen Mittel. Sie haben auch darauf abgezielt, dass die Eingliederungshilfen ausgeweitet werden. Das ist immer auch eine Frage, ob die Länder dazu bereit sind und ob sie das mitfinanzieren können und wollen. Auch da, wo Sie in den Regierungen sitzen oder mitregieren, wissen Sie, dass das nicht so einfach umzusetzen ist. Das ist doch ein Punkt, mit dem man hier einfach umgehen muss. Das können wir nicht alleine in Berlin bestimmen. Ich will auch noch sagen: Wir haben das Bundesteilhabegesetz auf das Gleis gesetzt. Ich finde, das Bundesteilhabegesetz ist ein gutes Gesetz, eine Errungenschaft. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, sodass es sukzessive verbessert wird. Das BMAS begleitet die Umsetzung wissenschaftlich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Glöckner, Sie können weitersprechen, tun es aber jetzt auf Kosten Ihres Kollegen.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mach ich gerne, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich glaube, Ihr Kollege findet das nicht so gut.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Ich finde, es ist ein guter Ansatz, und an der Stelle können wir weitermachen. Vielen Dank und schöne Weihnachten auch von meiner Seite. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens Beeck das Wort. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst mal ganz herzlichen Dank, dass wir heute die Gelegenheit haben, sozusagen zum Abschluss des Plenarjahres noch mal über die Situation von Menschen mit Behinderungen zu sprechen. ({0}) Das ist ein gutes Signal. Aber es ist auf der anderen Seite auch so ein bisschen beispielhaft: Wir sprechen wieder als Letztes über die Menschen mit Behinderungen, und das ist, Herr Kollege Oellers, bei all den wichtigen Dingen, die Sie genannt haben, leider auch in der aktuellen Krise so gewesen. Während schon lange Hilfen in den Einrichtungen des SGB XI angekommen sind, war für die Einrichtungen der Eingliederungshilfe zunächst gar nichts vorgesehen. Das SodEG ist an den Bedürfnissen der Werkstätten, der besonderen Wohnformen und der verschiedenen Einrichtungen der Eingliederungshilfe noch voll vorbeigegangen. Die verschiedenen Hilfsprogramme haben die Werkstätten zunächst nicht erreicht und haben die Bedürfnisse der Inklusionsfirmen nicht erfüllt. Das war schade. ({1}) Sie haben dann Hinweise von der Fraktion der Freien Demokraten und auch von der Fraktion der Grünen und der Linken bekommen. Die haben Sie wie immer – das ist das parlamentarische Spiel – zunächst abgelehnt. Dann haben Sie gemerkt: Da ist doch was dran. Und deswegen haben Sie am Ende nachgebessert. Das ist das Versöhnliche in der Adventszeit: dass viele Dinge in der aktuellen Krise tatsächlich gut gelöst worden sind, jedenfalls so, dass man damit jetzt leben kann. Aber es zeigt auf: Die Komplexität des Bundesteilhabegesetzes – das ist auch der Gegenstand des Antrags der Grünen – ist nach wie vor so hoch, dass das, was alle in Bundestag und Bundesrat – das unterstelle ich – mit dem Bundesteilhabegesetz erreichen wollten, eben nicht erreicht wird. – Herr Kleinwächter, an der Stelle merkt man eben: Sie reden über Dinge, von denen Sie, mit Verlaub, überhaupt keine Ahnung haben. ({2}) – Doch, das ist so. Da brauchen Sie den Kopf nicht zu schütteln. – Sie haben ein Gesetz gelesen, und Sie haben eine Vielzahl von Ansprüchen da herausgelesen, die aber – da können Sie jeden Sozialrechtler, jeden Verband und jeden betroffenen Menschen fragen – so nicht gewährt werden. Worum wir uns hier zu kümmern haben, ist, die Lebenswirklichkeit von Menschen zu verbessern, und nicht, dicke Bücher zu füllen. ({3}) Das ist übrigens auch ein Unterschied zu Ihnen, Frau Kollegin Glöckner. Ich stimme Ihnen zu: Wir machen wissenschaftliche Begleitung, und es sind immer schnell 200 Seiten, die dabei zusammenkommen. Schöner wäre es, es kämen nur noch 20 Seiten zusammen, weil die Lösungsansätze tatsächlich bei den Menschen ankommen. Ich will ausdrücklich sagen: Entbürokratisierung – ich dachte immer, dieses Thema wäre eher bei uns als bei den Grünen angesiedelt –, da erkenne ich ein paar Ansätze, liebe Corinna Rüffer, über die wir im Ausschuss sehr gerne sprechen können. Es sind auch ein paar andere Sachen drin: neue Berichtspflichten, neue Formen der Betreuung. Man muss darüber reden, ob das die Dinge nicht eher noch komplexer macht, als sie ohnehin sind. Dann wäre es nicht hilfreich. Aber in meinen letzten 20 Sekunden darf ich sagen: Wir hatten am Anfang dieser Krise eine sehr schwierige Situation, als Eltern ihre behinderten Kinder nicht besuchen konnten. Wir kommen jetzt mit täglich mehr als 30 000 Coronaneuinfektionen – es ist wie eine gebrochene Schallmauer – in eine Situation, die es notwendig macht, dass wir wieder in diese Richtung gehen. Wir bekommen Triagediskussionen, und wir bekommen Diskussionen darüber, wer eigentlich zuerst geimpft wird. Meine Fraktion hat dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Bei diesem guten Miteinander, das wir haben, und bei aller kritischen Auseinandersetzung äußere ich die herzliche Bitte: Lassen Sie uns gemeinsam sowohl bei der Priorisierung hinsichtlich der Impfung als auch in der Triagediskussion für die Menschen mit Behinderungen eintreten. In diesem Sinne für uns alle ein wesentlich schöneres Jahr 2021! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzter Tagesordnungspunkt im Jahr 2020 im Deutschen Bundestag, Thema: Menschen mit Behinderungen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Große Koalition diesen Tagesordnungspunkt als Weihnachtsbotschaft aufsetzt. Leider ist das nicht der Fall gewesen. Deswegen, liebe Grüne, vielen Dank, dass ihr das möglich gemacht habt. ({0}) Kurz vor dem Jahresende ist es ja üblich, dass man Jahresrückblicke anstellt. Es ist noch ein bisschen Zeit, aber ich will zumindest heute schon mal anfangen. Seit dem Frühjahr dieses Jahres, 2020, hat uns alle die Pandemie Corona voll im Griff. Nach einer sommerlichen Unterbrechung ist das öffentliche Leben nunmehr wieder fast zum Stillstand gekommen. Die Bundesregierung hat nach meiner und nach Auffassung meiner Fraktion deutlich zu lange mit Maßnahmen gewartet. Diese wurden nur teil- und stückchenweise in sogenannter Salamitaktik vorgenommen. Warum hat die Bundesregierung die Sommerzeit nicht genutzt, um aktiv zu werden? Bereits am Beginn der Pandemie waren Menschen mit Behinderungen eben nicht im Bewusstsein der Bundesregierung. Wer bekam denn von der Bundesregierung den Vorrang, als es um die Staatshilfen ging? Großkonzerne bekamen trotz milliardenschwerer Dividenden staatliche Hilfe in Milliardenhöhe. Das ist genau der falsche Weg. ({1}) Wie sah es denn in Betrieben aus, welche vornehmlich Menschen mit Behinderungen beschäftigen? Inklusionsbetriebe wurden, wenn ich zurückblicke, in den ersten Hilfspaketen vollständig vergessen. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen spielten kaum eine Rolle. Bei der Versorgung mit Schutzausrüstungen schauten sich Betroffene bereits im Frühjahr ratlos an. Hat die Bundesregierung aus diesen Fehlern eigentlich gelernt? Mittlerweile, fast ein Jahr nach Beginn der pandemischen Situation, werden FFP2-Masken an Personen über 60 Jahre verteilt, auch an Menschen mit Behinderungen. Das ist eine richtige Maßnahme, kommt aber nach Auffassung der Linken deutlich zu spät. ({2}) Wie sieht es denn nun bei Menschen mit Behinderungen, bei chronisch Kranken aus, die nicht in Einrichtungen leben und ihre Assistenzkräfte zum Beispiel selbst beschäftigen? Diese Gruppe fällt völlig raus. Hier muss dringend nachgesteuert werden. ({3}) Die Linke fordert für diese Menschen, erstens, kostenfreie und bedarfsgerechte Schutzausrüstungen, zweitens, kostenfreie und präventive Testmaßnahmen und, drittens, kostenfreie und schnelle Impfungen. ({4}) In ihrem Antrag fordern Bündnis 90/Die Grünen einen besseren Zugang zu barrierefreien Teilhabeleistungen und verweisen hier auf zahlreiche Berichte von Betroffenen und Angehörigen. Liebe Große Koalition – das richte ich auch an die Herren von der AfD –, das sind eben keine Fake News, wie es Herr Kleinwächter hier dargestellt hat. ({5}) Das sind Berichte, sie sind echt, und sie beschreiben die tatsächlichen Verhältnisse. Ich könnte diese Berichte auch noch deutlich erweitern und mehr davon vorlegen. Auch wenn Weihnachten 2020 mit Hoffnung verbunden ist: Ich hoffe darauf, dass Sie als Koalition ein Einsehen haben. Aber ich glaube nicht, dass Sie dazu bereit sind. An dieser Stelle will ich nur an unsere zehn Anträge zur Barrierefreiheit – Herr Oellers, Sie haben das Thema angesprochen – erinnern: keine Unterstützung durch Sie und auch kein Problembewusstsein bei Ihnen. 2021 muss deutlich besser werden. Ich will abschließen – – ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pellmann, wir haben jetzt weder Zeit für die zehn Anträge noch für anderes.

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte mit einem Zitat des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung schließen: Für Deutschland biete sich die Chance, jetzt in Sachen Barrierefreiheit im privaten Bereich aktiv zu werden. Dazu lägen vielversprechende Beispiele aus Österreich und Schweden vor. Wir sollten Fehler nicht wiederholen. Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pellmann, nun ist gut. Ich wollte nicht das Zitat des Behindertenbeauftragten unterbrechen.

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– ich wünsche Ihnen noch frohe Weihnachten und alles Gute. Bleiben Sie gesund! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu Herrn Beeck finde ich es sehr schön, dass wir hier in dieser letzten Debatte in diesem besonderen Jahr die Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt stellen. Das hat hoffentlich Nachhall; denn das Jahr 2020 war für uns alle eine Herausforderung. Aber für Menschen mit Behinderungen waren die Herausforderungen und auch die Bedrohung in der Pandemie stärker als für andere. Deshalb ist es richtig, dass wir hier und heute noch einmal ganz genau auf ihre Situation schauen. Menschen mit geistiger Behinderung verstehen zum Beispiel häufig überhaupt nicht, warum sie plötzlich nicht mehr in ihre geliebte Werkstatt dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den ersten schwierigen Pandemiemonaten im Frühjahr haben wir zum Glück viele Maßnahmen beschlossen, um zu helfen, zu retten und vor allem zu schützen. Wir helfen Werkstätten, die im Lockdown ihre Rücklagen aufgebraucht haben. Der Bund hat dafür auf einen Teil der Ausgleichsabgabe verzichtet. Dieser Teil soll an die Werkstätten gehen, und zwar direkt an die Beschäftigten dort. ({0}) Aber dafür müssten die Länder den Werkstätten das Geld schnell und unbürokratisch zur Verfügung stellen. Daher mein Appell an die Länder: Bringen Sie das Geld zu den Werkstätten und dort zu deren Beschäftigten! ({1}) Wir retten Inklusionsbetriebe. Der neue Corona-Teilhabe-Fonds wird Anfang Januar freigeschaltet. Damit helfen wir Inklusionsbetrieben und retten Arbeitsplätze für Beschäftigte mit Behinderung. ({2}) Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes haben wir festgelegt, dass alle Verordnungen ihre sozialen Auswirkungen im Blick haben müssen. Die Schutzmaßnahmen dürfen nicht zur Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen führen. Und: Wir schützen Menschen mit der nun sehr bald verfügbaren Impfung. Es ist jetzt klar, dass Menschen mit Behinderung zum Glück früh geimpft werden und eine hohe Priorität bei der Impfstrategie haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein starker Sozialstaat hilft, rettet und schützt. Der Sozialstaat ist Partner der Bürger. Die Bürgerinnen und Bürger sind Träger von sozialen Rechten und keine Bittsteller vor den Behörden; Frau Rüffer, darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. ({3}) Daher, Frau Rüffer, am Ende noch eine Anmerkung zu Ihrem Antrag: Ich finde, er ist wahrlich von Sachkenntnis geprägt. Viele Dinge, die Sie fordern, fordern Sie zu Recht. Natürlich ist die Inklusion in unserem Land noch lange nicht umgesetzt. Schon im Titel Ihres Antrages fordern Sie einen „Sozialstaat auf Augenhöhe“. Das passt sehr zum Sozialstaatskonzept der deutschen Sozialdemokratie, das genau dieses Konzept einfordert. Liebe Frau Rüffer, liebe Grüne, Weihnachten steht vor der Tür. Die weihnachtliche Botschaft heute ist doch: In der Behindertenpolitik gibt es sicher einiges, was uns trennt. Aber Ihr Antrag zeigt uns: Es gibt viel mehr, was uns verbindet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war die letzte Plenarrede dieses Jahr in diesem Hohen Hause. Es bleibt mir, Ihnen frohe Festtage und ein schönes Jahr 2021 zu wünschen. Uns allen wünsche ich, dass es ein besseres Jahr wird. Den Menschen mit Behinderung wünsche ich das ganz besonders. Frohe Weihnachten! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.