Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/16/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident, ich würde gerne einige Worte sagen. Die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union nähert sich ja jetzt dem Ende; dazu würde ich gerne einige Bemerkungen machen. Es war ein Jahr – das hat auch die deutsche Ratspräsidentschaft geprägt –, in dem die Europäische Union vor der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderung – man kann das, glaube ich, so sagen – seit ihrer Gründung steht. Deshalb haben die Entscheidungen und die Fragen, die wir in unserer Präsidentschaft behandelt haben, natürlich weitreichende Bedeutung, auch wenn wir unser Programm in vielen Punkten natürlich nicht so umsetzen konnten, wie wir uns das vorher vorgestellt haben. Ich glaube, wir können sagen, dass der letzte Europäische Rat am letzten Donnerstag und Freitag – ich habe Ihnen ja noch am Donnerstag gesagt, dass ich an einigen Stellen nicht weiß, wie es ausgeht – noch mal wichtige Entscheidungen mit sich gebracht hat. Wir haben uns auf den Finanzrahmen für die nächsten sieben Jahre geeinigt und auf die Einrichtung eines Aufbaufonds für die Bekämpfung der Folgen der Pandemie sowie auf einen Konditionalitätsmechanismus zum Schutz des Haushalts; bei Letzterem geht es um Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Zur jetzigen Stunde, seit 12.45 Uhr, stimmt das Europäische Parlament über genau diese Dinge ab. Wir haben heute Morgen im Kabinett auch dem Eigenmittelbeschluss zugestimmt, der nun dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung zugeleitet wird. Ich freue mich auf die Debatten darüber. Der Weg dorthin war steinig. Wir mussten sehr viele Gespräche führen, zum Schluss auch noch einmal mit Ungarn und Polen. Aber die Europäische Union hat bewiesen, dass sie handlungsfähig ist, auch interinstitutionell handlungsfähig ist. Die Gespräche zwischen dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Parlament waren immer sehr konstruktiv. Ich möchte allen Beteiligten danken. Wir haben heute im Kabinett im Übrigen auch unseren Entwurf für den deutschen Anteil am Aufbau- und Resilienzplan verabschiedet. Wir haben dabei darauf geachtet, dass wir die Vorgaben einhalten, die von uns im Zusammenhang mit diesem Zukunfts- und Aufbaufonds eingefordert werden. Wir haben dort nicht nur nationale Projekte vorgesehen, sondern wir haben auch darauf hingewiesen, dass wir in unserem nationalen Haushalt Mittel bereitgestellt haben, um deutsch-französische Projekte zu realisieren, und dass wir auch offen sind für Projekte anderer Mitgliedstaaten, die in die Zukunft weisen; denn die gesamteuropäischen Gelder, die bei der Aufteilung dieses Aufbau- und Resilienzfonds übrig blieben, fielen kleiner aus, als wir uns das gewünscht hätten, weil vieles in die nationalen Komponenten fließt. So suchen wir dann wieder einen Weg, um auch weitere Gemeinschaftsprojekte realisieren zu können. Wir haben uns des Weiteren auf dem Europäischen Rat auf ein Gesamtziel für die Treibhausgasreduktion bis 2030 geeinigt. Diese liegt bei mindestens 55 Prozent. Bisher lag diese Zielmarke bei 40 Prozent. Diese Einigung war sehr wichtig, weil am Tag darauf eine Sonder-VN-Konferenz stattgefunden hat, auf der die Europäische Union dieses Ziel nennen konnte. Wir haben sehr lange über die Beziehungen zur Türkei gesprochen. Neben den gewünschten positiven Dingen, bei denen wir mit der Türkei zusammenarbeiten wollen, zum Beispiel bei Fragen der regulären Migration oder bei der Unterstützung der Türkei in diesen Bereichen, mussten wir leider auch feststellen, dass es eine Reihe von provokativen Akten der Türkei im südlichen Mittelmeer gibt, von denen insbesondere Griechenland und Zypern betroffen sind. Deshalb haben wir zusätzliche Listungen beschlossen. Wir haben uns auch über unsere strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika unterhalten. Wir werden den Vereinigten Staaten nach dem Wechsel der Administration ein Angebot vorlegen. Einiges von dem, was wir uns vorgenommen hatten, konnten wir naturgemäß nicht realisieren, so auch nicht das EU-China-Treffen. Wir haben dennoch am Investitionsabkommen weitergearbeitet und tun dies auch in diesen Tagen noch. Ein letztes Wort zu dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die Kommission verhandelt mit unser aller Einverständnis auch in diesen Stunden, in diesen Tagen noch einmal bis zum Ende dieser Woche, um zu gucken, ob es hier noch eine Lösung geben kann. Es gab Fortschritte, aber noch keinen Durchbruch. Ich glaube, wir bleiben bei unserer Meinung: Ein Abkommen wäre besser als kein Abkommen. – Aber auch auf letzteren Fall sind wir vorbereitet. Wir übergeben den Staffelstab zum Ende des Jahres an unsere portugiesischen Freunde und wünschen ihnen natürlich von Herzen eine gute Ratspräsidentschaft. Wir arbeiten ja mit Portugal und Slowenien in einer Trio-Präsidentschaft zusammen und werden deshalb auch weiterhin mit Verantwortung übernehmen. Das waren meine einführenden Worte, Herr Präsident. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dann beginnen wir jetzt mit der Befragung. Das erste Fragerecht geht an den Kollegen Tino Chrupalla, AfD.

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, in der letzten Woche reiste ich mit einer Delegation nach Moskau und traf mich da unter anderem mit dem Außenminister Lawrow. Dort wurde sehr deutlich, dass wir weitere konstruktive Gespräche zur Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen zum Wohle unserer beiden Staaten benötigen und diese auch erwünscht sind. Übrigens – das ist in der Öffentlichkeit bislang vollkommen unbeachtet – befinden wir uns gerade nicht nur im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, sondern auch im Deutsch-Russischen Jahr; auch das hat die Bundesregierung bislang mehr oder weniger verschwiegen. Anknüpfend an die Gespräche habe ich zwei Schwerpunktfragen: Wie lautet eigentlich Ihre Strategie inklusive Zeitplan für einen Neustart der deutsch-russischen Beziehung? Die deutsche Ratspräsidentschaft hat hierzu relativ wenig beigetragen. Und welche strukturellen Rahmenbedingungen schafft die Bundesregierung, damit das regional und energiepolitisch bedeutsame internationale Wirtschaftsprojekt Nord Stream 2 auch fertiggestellt werden kann?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube nicht, dass es eines Neustarts der Beziehungen bedarf. Wir haben da ein hohes Maß an Kontinuität. Und was Nord Stream 2 anbelangt, ist die Position der Bundesregierung gegenüber den letzten Jahren vollkommen unverändert. Wir haben im Rahmen des Deutsch-Russischen Jahres sehr viele Initiativen ergriffen; die sind den Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktionen hier auch bekannt. Wir können aber nicht darüber hinwegsehen – es wäre bedauerlich, wenn Sie mit dem russischen Außenminister darüber nicht gesprochen hätten –, dass der Fall Nawalny ein schwerwiegendes Ereignis war, dass es Vorgänge im Kleinen Tiergarten in Berlin gab, die im Augenblick vom Generalbundesanwalt aufgeklärt werden, dass wir wenig Fortschritte beim Minsker Prozess sehen, weshalb die Russland-Sanktionen auf dem letzten Europäischen Rat noch einmal verlängert wurden. Ich glaube, man muss auf der einen Seite sehen, dass es unser Wunsch ist, gute strategische Beziehungen mit Russland zu haben; das habe ich immer und immer wieder gesagt. Das darf uns aber nicht die Augen vor den Realitäten verschließen lassen. In der Kombination aus Ambition und angemessener Betrachtung der Realitäten haben wir eine sehr kontinuierliche Russland-Politik. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Chrupalla.

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Merkel, im Prinzip bestätigen Sie ja doch meine Frage – und das ist ja eigentlich auch die der russischen Seite –, dass es sehr wohl einen Neustart der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern braucht. Welchen Platz nimmt denn für Sie oder auch für die Bundesregierung Russland im strategisch autonomen Europa aktuell ein? Und unterstützt die Bundesregierung das unter anderem von Präsident Putin und der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer vorgeschlagene – das haben wir in Gesprächen mitgeteilt bekommen – Konzept eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich bin immer sehr dafür gewesen, auch gerade in den Handelsbeziehungen, einen solchen gemeinsamen Wirtschaftsraum ins Auge zu fassen. Ich bin allerdings bei den Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union schon nicht besonders weit gekommen, weil die russische Seite wenig Bewegung gezeigt hat, die notwendigen Zollfragen zu klären und der russische Präsident immer für seine eigenen Wirtschaftsräume ein Prä gegeben hat; darauf werden Sie ihn sicherlich bei Ihren Gesprächen auch aufmerksam gemacht haben. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich hatte schon gesagt, dass ich heute mit Nachfragen sehr restriktiv sein werde. Es haben sich auch tatsächlich von den Fraktionen sehr viele Kollegen gemeldet. – Jetzt ist der Kollege Frank Schwabe, SPD, der Nächste, der eine Frage stellt.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, „Ausbeutung #Made in Germany“ ist eine Kampagne der Zivilgesellschaft in Deutschland rund um die Initiative Lieferkettengesetz. Wir haben gemeinsam im Koalitionsvertrag verabredet, dass ein Lieferkettengesetz kommen soll. Ich kann jedenfalls für meine Fraktion als Koalitionspartner sagen, dass diese Fraktion geschlossen für ein solches Lieferkettengesetz ist. ({0}) Menschenrechte sind ein umfassendes Thema. Es geht natürlich darum, dass Menschen nicht getötet, nicht gefoltert werden dürfen. Es geht aber auch um die Würde von Arbeit, darum, dass Menschen nicht krank gemacht werden dürfen und keine unwürdige Arbeit verrichten dürfen. In der CDU/CSU-Fraktion scheint mir die Position ungeklärt zu sein. In Ihrer Regierung sind Herr Müller und Herr Heil dafür, und Herr Altmaier hat mit diesem Gesetz Probleme. Ich würde gerne wissen, wie Sie das persönlich handhaben. Wie ist Ihre Position zum Lieferkettengesetz? Wird es das Lieferkettengesetz in dieser Legislaturperiode geben, und sind Sie persönlich dafür, dass es kommt? ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, das finde ich auch: eine sehr gute Frage. – Ich bin für das Lieferkettengesetz, und es ist auch gut, dass es hier zur Sprache kommt. Wir haben das im Koalitionsvertrag verabredet, und wir haben es jetzt auch in Angriff genommen. Ich erkundige mich eigentlich täglich nach dem Stand der Gespräche. Wenn drei Minister in engem Kontakt sind – und das sind sie wirklich –, dann kann nicht die Position von zwei Ministern als die einzig richtige gesetzt sein und die Position eines anderen Ministers als die falsche. ({0}) Alles, was im Koalitionsvertrag verabredet ist, ist die Union bereit umzusetzen, und auch ich persönlich. Dort ist von einer zusätzlichen zivilrechtlichen Haftung nicht die Rede, wir haben auch keine Größe der Unternehmen vereinbart, und deshalb gibt es darüber Diskussionen. Das können Sie vielleicht auch verstehen. Denn im Hinblick auf die Frage, ob und inwieweit man ein kleines mittelständisches Unternehmen in Haftung nimmt für Dinge, die irgendwo auf der Welt passieren, muss man schon aufpassen, dass man hier nicht zu weitgehende Verpflichtungen eingeht; denn es muss für ein mittelständisches Unternehmen auch noch nachvollziehbar sein, was irgendwo anders auf der Welt passiert. Und wenn jemand irgendwo Kupfer verarbeitet, dann kann man nicht sozusagen die dritte Reihe dafür zur Verantwortung ziehen. ({1}) Nun sind da große Fortschritte erzielt worden; aber es gibt immer noch einige ungeklärte Fragen. Ich hoffe nach wie vor – auch wenn Frau Esken neulich schon ganz deprimiert gesprochen hat –, dass wir ein Lieferkettengesetz zustande bringen; denn wir würden damit einen wichtigen Schritt tun. Wenn man mit einem Schritt aber alles erreichen will, was man so als Ideal hat, dann wird es eben schwieriger. Aber ich arbeite daran, dass wir noch vorankommen. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege?

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, Sie wissen, dass es gar nicht um ganz kleine mittelständische Unternehmen geht, ({0}) sondern wir reden hier über bestimmte Größenordnungen. Sie können ganz beruhigt sein –

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich bin total beruhigt. Da machen Sie sich keine Sorgen. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– ich sage das, weil Sie Frau Esken adressiert haben –: Die SPD ist geschlossen und sehr engagiert für dieses Gesetz. Wenn Sie das umsetzen wollen, bekommen Sie von uns die volle Unterstützung. Die Menschen, die in bestimmten Ländern entrechtet sind und keine Möglichkeit haben, auf den nationalen Ebenen zu klagen, brauchen ein Klagerecht; das ist klar. Dieses Gesetz darf nicht unverbindlich bleiben, sondern muss auch Zähne haben. ({0}) Deswegen frage ich Sie noch mal: Sind Sie persönlich dafür, dass zum Beispiel die Näherin in Bangladesch die Möglichkeit bekommt, wenn ihre Menschenrechte durch deutsche Unternehmen massiv verletzt werden, dagegen zivilrechtlich vorzugehen? ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das hängt von der Konstellation ab – das muss ich Ihnen ganz offen sagen –, wer für wen verantwortlich ist. Die Näherin kann ja heute schon nach den jeweiligen nationalen Gesetzen das Unternehmen verklagen. Die Frage ist, ob irgendwo auf der Welt ein deutsches Unternehmen nach deutschem Recht verklagt werden kann. Dabei geht es sehr wohl um die Frage, ob das für Unternehmen mit bis zu 500 Beschäftigten gilt oder ob wir bei einer größeren Anzahl ansetzen. Es geht um Zeitschienen; es geht um die zivilrechtliche Haftung nach deutschem Recht. All diese Punkte müssen wir besprechen. ({0}) Wenn man zum Beispiel sagt: „Bußgelder scheiden aus“, dann ist das nicht gut. Ich möchte durch meine Einlassung die Verhandlungen aber nicht verkomplizieren. Die Kolleginnen und Kollegen sitzen nämlich viele Stunden zusammen und bemühen sich um eine Einigung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, wie bewerten Sie die Kommunikation, aber vor allen Dingen die Vorgehensweise bei der kostenlosen Abgabe der FFP2-Masken an über 60-Jährige, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich sowohl bereits vor dem offiziellen Termin als auch seit gestern sehr, sehr lange Schlangen vor den Apotheken gebildet haben und wir ja eigentlich wollen, dass gerade die Gruppe der über 60-Jährigen nicht rausgeht, sondern besser zu Hause bleibt? Wäre es nicht besser gewesen, die FFP2-Masken an diese Gruppe zu versenden?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

In einem zweiten Schritt wird er über Zertifikate gehen. Wir wollten aber jetzt ein Angebot machen; das übrigens sehr, sehr gut angenommen wird, wie man an den Wartenden sieht. Das hat gestern im Großen und Ganzen – mit einigen Ausnahmen; das gebe ich zu – gut geklappt. Ich glaube, dass gerade Menschen über 60 immer wieder Besorgungen im Einzelhandel machen und im Zuge dessen vielleicht auch die Apotheke aufsuchen. Dass so viele gekommen sind, zeigt, dass dieses Angebot angenommen wird. Ich finde, dass das ein sehr guter und wichtiger Schritt ist. Der Rest der Masken wird anderweitig verteilt werden. Aber als ersten Schritt unterstütze ich die derzeitige Verteilung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Bitte, Frau Kollegin.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir unterstützen den Schritt auch. Aber, ich wiederhole: Apotheker berichten mir von chaotischen Verhältnissen. Es bilden sich wirklich sehr, sehr lange Schlangen. Auch das Apotheken-Hopping kann nicht dadurch verhindert werden, weil der Ausweis vorgelegt wird. Wir versuchen doch, der Bevölkerung nahezulegen, möglichst zu Hause zu bleiben. Es gehen jetzt viele in die Apotheke, und zwar nicht, um dort einzukaufen, sondern ausschließlich, um sich diese Masken abzuholen. Deswegen noch mal die Frage: Hätte man nicht darüber nachdenken sollen, sich gerade in der jetzigen Zeit eher für eine Versendung zu entscheiden?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir standen vor der Frage, vor Weihnachten nichts zu tun oder dies zu tun, und haben uns für das Letztere entschieden. Alle, die jetzt sagen: „Ich bleibe lieber zu Hause; ich möchte die Masken jetzt nicht haben“, werden im Januar Masken auf einem anderen Wege, mit der Vorlage von Zertifikate-Dokumenten verbunden, bekommen, sodass da kein Missbrauch betrieben werden kann. Wir haben uns jetzt für dieses Angebot entschieden, weil es das war, was machbar ist. Ich würde sagen: Wenn so viele Menschen dieses Angebot wahrnehmen wollen, war es vielleicht auch nicht ganz so falsch. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Katrin Staffler, CDU/CSU, hat als Nächste das Fragerecht.

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht beschrieben, dass die Einigung beim mehrjährigen Finanzrahmen ja durchaus eine Mammutaufgabe war. Sie ist im Vorfeld auch als solche bezeichnet worden. Deswegen ist es, glaube ich, ein großer Erfolg, dass es jetzt gelungen ist, die Einigung herbeizuführen. Im Übrigen möchte ich an der Stelle auch mal ein Dankeschön für die Durchhaltefähigkeit und das Verhandlungsgeschick aussprechen. ({0}) – Ich habe nur eine Minute. Mit der Einigung ist der Weg jetzt frei zu einer innovativen, digitalen und nachhaltigen Europäischen Union. Uns als Fraktion war es bei den Verhandlungen immer wichtig, dass wir die Europäische Union fit für die Zukunft machen. Das heißt für mich: Investitionen in Forschung, in Innovationsfähigkeit und natürlich auch in eine widerstandsfähige und nachhaltige Wirtschaft. Deswegen würde mich interessieren, inwieweit Sie jetzt mit der finanziellen Hinterlegung dieser Bereiche zufrieden sind.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich bin, jetzt mal von unserem deutschen Vorschlag ausgehend, der sicherlich auch zu den ersten in der Europäischen Union gehört, sehr froh, dass wir einen großen Teil für Klimafinanzierung ausgeben. Es waren, glaube ich, 37 Prozent gefordert; jetzt sind wir bei über 40 Prozent. Wir haben für die Digitalisierung einen höheren Betrag zur Verfügung, als erwartet wurde. Wir haben auch für soziale Folgen der Pandemiebekämpfung einen Posten und für die Verbesserung unseres Gesundheitswesens. Ich glaube, alles in allem setzen wir die richtigen Schwerpunkte. Was mir ganz besonders wichtig ist: Wir haben auch finanzielle Beträge bereitgestellt, um deutsch-französische Projekte voranzubringen. Ich habe mit dem französischen Präsidenten verabredet, dass wir in den Bereichen künstliche Intelligenz, Mikroelektronik und anderen, wie Cloud-Computing und Wasserstoffstrategie, gemeinsame Vorhaben entwickeln und diese dann aber auch als europäische Projekte von großer Bedeutung – Stichwort: IPCEIs – anbieten, sodass sie auch für andere Länder offen sind. Wir werden anschließend an die Agenda „Zukunft für Fessenheim“ hier auch Ansiedlungen haben, die gerade dieser Region, der deutsch-französischen Region, helfen. Andi Jung und andere haben dafür gearbeitet. Insofern freue ich mich, dass es uns mit Frankreich gemeinsam gelungen ist, über unseren eigenen Beitrag noch Gelder im Haushalt zu reservieren, die deutsch-französischer und damit europäischer Zusammenarbeit dienen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.- Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, in der vergangenen Woche, am Freitag, wurde ja hier ein Rekordhaushalt beschlossen und die Schuldenbremse ausgesetzt; sie soll ab 2022 wieder gelten. Nun stellt sich spätestens dann folgende Frage ganz deutlich: Wer soll die Pandemierechnung bezahlen? Soll es Ihrer Meinung nach Einschnitte im sozialen Bereich geben? Oder wollen Sie dafür sorgen oder sorgen lassen, dass es eine Einnahmeerhöhung gibt, zum Beispiel, indem man die Vermögenden, die Multimillionäre und Milliardäre, stärker heranzieht? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, die Hauptaufgabe, um wieder in eine gute Situation zu kommen, also zuerst innerhalb der Schuldenbremse zu bleiben und dann eines Tages wieder zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen, heißt: Wie schaffen wir Wachstum? Denn über Wachstum können wir auch mehr Einnahmen generieren. Das wird die Strategie sein, der ich mich verpflichtet fühle. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, meine Nachfrage lautet: Wir haben heute gehört, dass der Sozialverband VdK, den wir alle kennen, unterstützen und schätzen, den Vorschlag einer Vermögensabgabe unterbreitet hat. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich will meiner letzten Antwort noch hinzufügen, dass wir keine Einschnitte bei sozialen Ausgaben planen – damit das klar ist und hier keine Legenden gestrickt werden, weil ich das nicht gesagt habe. Zweitens. An eine Vermögensabgabe denke ich und denkt auch meine Fraktion nicht. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir wollen keine Vermögensabgabe – falls Sie es so besser in Erinnerung behalten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wenn Die Linke erlaubt, würde ich jetzt trotzdem das Fragerecht an die Kollegin Hajduk geben.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Unternehmen, die ab heute, dem 16. Dezember, coronabedingt von dem Zwang zur Betriebsschließung betroffen sind, erhalten keine Dezemberhilfen, die sich am Umsatz orientieren, wie die Unternehmen, die seit November vom, ich nenne es jetzt einmal, „Lockdown light“ betroffen sind; denn Erstere können nur eine Fixkostenhilfe beantragen. ({0}) Damit bekommen Unternehmen wie zum Beispiel Friseure für die gleiche Maßnahme, die coronabedingte Schließung, ganz andere finanzielle Hilfen als zum Beispiel Gastronomen. Wie rechtfertigen Sie diese Ungleichbehandlung im Zeitraum von heute bis zum Ende des Jahres? Und führt diese Ungleichbehandlung von an sich Gleichem nicht zu großen Ungerechtigkeiten und gegebenenfalls auch Rechtsstreitigkeiten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Um es vorweg zu sagen: Rechtsstreitigkeiten kann man ja in Deutschland nie ausschließen. – Wir haben uns das natürlich überlegt. Die Unternehmen, die von der Schließung im November und Dezember betroffen sind, sind das über einen sehr langen Zeitraum. Es sind auch Unternehmen mit einer bestimmten Charakteristik. Aber Sie haben recht: Es kann auch analoge Gegebenheiten für Unternehmen geben, die im jetzigen Zeitraum für eine sehr kurze Zeit – der halbe Dezember, und nicht November und Dezember ganz – betroffen sind. Ab Januar gilt für alle – für alle, auch für diejenigen, die die November- und Dezemberhilfe beantragt haben – die Überbrückungshilfe III. Wer jetzt durch die Einschnitte im Dezember einen Umsatzeinbruch von mehr als 40 Prozent haben sollte – es kann ja ganz spezifische Situationen geben –, hat nach der Überbrückungshilfe III noch einmal Anspruch auf den Mechanismus der November- und Dezemberhilfe. In dieser Kombination und im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Betroffenen glauben wir, dass wir ein Instrument geschaffen haben, das nachhaltig ist und trotzdem gerecht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Frau Hajduk.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich würde gern noch eine Nachfrage stellen. Ist es richtig – so haben wir es im Wirtschaftsausschuss gehört –, dass die neuen Hilfen, die ab heute greifen für die Maßnahmen, die ab Dezember wirksam werden, erst ab März 2021 bearbeitet werden? Und können Sie wenigstens hier heute sicherstellen, dass die Abschläge der neuen Hilfen noch im Dezember an die sehr stark betroffenen Unternehmen ausgezahlt werden können?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ehe ich hier irgendetwas Falsches sage oder den Ausführungen der Bundesregierung im Wirtschaftsausschuss widerspreche, würde ich Ihnen das, ehrlich gesagt, gerne schriftlich nachreichen. Ich denke, dass die Bundesregierung im Wirtschaftsausschuss die Wahrheit gesagt hat, das, was Sie zur Stunde wissen. Ich merke mir Ihre Frage, nämlich ob es erstens im Dezember noch einen Abschlag gibt für die Hilfen im Januar ({0}) – also für die Hilfen für die Zeit ab heute bis zum Ende des Jahres – und zweitens, ob die dafür vorgesehenen Hilfen erst im März ausgezahlt werden. Ich liefere Ihnen das noch einmal präzise nach und gucke, was sonst dazu gesagt wurde. Ich will nur deutlich machen: Es wird ja viel diskutiert und oft gefragt: „Warum dauert das alles so lange?“ usw. Wenn Sie zum Beispiel Kurzarbeit im November anmelden, dann gibt es erst im Dezember die Information darüber, wer wie viel Kurzarbeit gehabt hat. Für Kurzarbeit im Dezember kann die Information erst im Januar gegeben werden. Also: Eine spitze, präzise Abrechnung im laufenden Monat ist nicht so einfach möglich, einmal abgesehen davon, dass für die November- und Dezemberhilfen auch Auskünfte zu den genauen Umsätzen im Jahr davor gegeben werden müssen, was auch eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt. Das ist aber keine Antwort auf Ihre Frage, sondern nur eine Nebenbemerkung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege Uwe Witt, AfD.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Sie beabsichtigen, um eine Immunisierung der Bevölkerung zu erreichen, alle Einwohner unseres Vaterlandes zu impfen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Um eine Immunisierung zu erreichen?

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wie bitte?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Eine Immunisierung?

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Okay.

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das Bundesministerium für Gesundheit hat bislang drei verschiedene Arten von Impfstoffen geordert. Es handelt sich zum einen um den von BioNTech und Pfizer entwickelten mRNA-basierten Impfstoff, der gentechnisch manipuliert ist. Er schützt bekanntlich nicht vor einer Infektion mit SARS-CoV-2, sondern soll nur den Schweregrad einer möglichen Erkrankung reduzieren. Das bedeutet, Sie müssen weiterhin eine Mund-Nase-Abdeckung tragen. Die anderen beiden Impfstoffe sind klassisch, das heißt entweder als Totimpfstoff oder als Vektorimpfstoff hergestellt, um so eine körpereigene Immunisierung hervorzurufen. Das Tragen einer Maske wird dadurch bei ausreichender Durchimmunisierung der Bevölkerung hinfällig. Nun zu meiner Frage: Plant die Bundesregierung, unsere Bürger ausreichend über die unterschiedlichen Wirkungsarten der Impfungen zu informieren, und werden unsere Bürger darüber in Kenntnis gesetzt, welchen Impfstoff sie da verabreicht bekommen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir werden natürlich jede Transparenz anwenden, zumal die Hersteller schon bei der Zulassung dazu verpflichtet sind, vielerlei Angaben zu machen. Was ist der Sachverhalt? Die Bundesregierung hat über die Bestellung der Europäischen Kommission bei sechs Herstellern Impfstoffe sozusagen gebucht, falls sie fertig werden und zugelassen werden. Das sind drei mRNA-Impfstoffe von Moderna, CureVac sowie BioNTech und Pfizer, wobei BioNTech und Pfizer wahrscheinlich am schnellsten die Zulassung bekommt. Dann gibt es drei andere Sorten von Impfstoffen: Johnson & Johnson, Sanofi und AstraZeneca; bei AstraZeneca mit der Aussicht, dass man relativ bald eventuell eine Zulassung bekommt. Über das Wesen dieser Impfstoffe kann sich jeder Bürger informieren. Die Bundesregierung stellt diese Informationen natürlich auch bereit. Gleichzeitig hängen wir natürlich davon ab, was die Zulassungsbehörden dann sagen, für welche Gruppen diese Impfstoffe jeweils geeignet sind. Deshalb kann man eine Impfstrategie auch nicht einmal als Gesetz festlegen, sondern muss immer wieder schauen. Wir haben noch keine Daten über Kinder und Ähnliches. Warum Masken tragen? Masken tragen deshalb, weil man weiß, dass der Krankheitsverlauf bei dem, der geimpft ist, vielleicht gar nicht oder etwas leichter stattfindet, man weiß aber nicht, ob das Virus noch an andere weitergegeben werden kann. Das muss weiter erforscht werden. Deshalb ist das Maskentragen schon allein aus diesem Grunde notwendig. Wir streben eine Herdenimmunität an. Sie muss allerdings, damit eines Tages die Pandemie verschwunden ist, weltweit gelten. Uns sagen die Wissenschaftler, dass dazu 65 bis 70 Prozent der zu Impfenden geimpft werden müssen. Dann kann immer noch jemand individuell erkranken, aber das Virus wird sich nicht mehr so ausbreiten, wie es das zurzeit tut.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Nachfrage, Herr Kollege?

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, bitte. – Sie räumen also jetzt ein – das habe ich jetzt richtig verstanden? –, dass es sein kann, dass die Bevölkerung wahrscheinlich das ganze Jahr weiterhin Atemschutzmasken tragen muss. ({0}) Die Frage: Haben unsere Bürger die Wahl, sich den Impfstoff, mit dem sie geimpft werden, auszusuchen? Also, tragen sie das Risiko, mit einem genmanipulierten Impfstoff geimpft zu werden, ({1}) was Sie gerade eingeräumt haben, über den keine – bitte, Kollegen! – Langzeitergebnisse und ‑studien erfolgt sind? Oder können sie sagen: „Okay, nein, ich möchte jetzt in der ersten Stufe nicht mit dem genmanipulierten Impfstoff geimpft werden, sondern ich möchte gerne warten, bis die traditionellen Impfstoffe hergestellt sind, die eine gewisse Sicherheit und auch Grundimmunisierung bieten“? ({2})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, erstens, ich erahne aus Ihrer Frage, dass Sie kein besonderer Freund des Impfens sein könnten. ({0}) Aber wenn Sie ansonsten alle Impfstoffe akzeptieren, nur nicht die mRNA-Impfstoffe, dann kommt sicherlich auch für Sie als jemand, der gerne einen anderen Impfstoff hätte, die Zeit, wo Sie einen anderen Impfstoff auswählen können. Ich glaube schon, dass das so ist. Es soll auch Menschen geben – das sage ich vollkommen neutral, wir wollen nämlich keine Impfpflicht einführen –, die sich nicht gern impfen lassen. Wenn das mehr als 40, 50, 60 Prozent der Bevölkerung sein sollten, dann werden wir noch sehr lange eine Maske tragen müssen, und zwar sehr viel länger, weil wir dann die Herdenimmunität nicht erreichen oder das in anderen Ländern der Welt nicht passiert. Das liegt in der Natur der Sache. ({1}) Sie können sich zu diesem späteren Zeitpunkt impfen lassen. Wir haben eine Priorisierung. Wenn aber nachher alle Impfstoffe in ausreichender Menge da sind, dann wird sicherlich auch die Möglichkeit bestehen, zu sagen, man möchte diesen Impfstoff und nicht den anderen. Wir werden allerdings auch sagen, welche Impfstoffe für welche Gruppe vielleicht am besten geeignet sind. Das wissen wir heute noch nicht. Dann möchte ich Sie bitten, dem Sachverhalt entsprechend nicht von irgendwelchen „genmanipulierten“ Dingen zu sprechen. Das ist ein Impfstoff, der genetische Komponenten enthält und damit sehr präzise funktionieren könnte, so jedenfalls die jetzigen Versuchsergebnisse der Phase-III-Studien. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Susann Rüthrich, SPD.

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam vereinbart, dass wir die Kinderrechte als Grundrechte in das Grundgesetz aufnehmen. Eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern, damit bekanntermaßen auch unter CDU/CSU-Beteiligung, hat Vorschläge erarbeitet, auf deren Basis die Justizministerin Christine Lambrecht bereits 2019 einen Formulierungsvorschlag gemacht hat. Wir in der SPD-Bundestagsfraktion halten diesen für eine geeignete Grundlage für die parlamentarische Befassung, allerdings erreichte uns bisher kein geeinter Regierungsentwurf, dem auch die Unionshäuser zugestimmt hätten. Frau Bundeskanzlerin, wie wollen Sie in Ihrer Richtlinienkompetenz mit dafür sorgen, dass es noch in dieser Legislatur zu einem Kinderrecht im Grundgesetz kommt, das die Beachtung des Kindeswohls – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Da haben Sie die Koalitionsvereinbarung.

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was habe ich gesagt?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, nein, Herr Schäuble hat sich über meine Richtlinienkompetenz, glaube ich, etwas gefreut. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also: Wie wollen wir dafür sorgen, wie möchten Sie dafür sorgen, dass wir noch in dieser Legislatur Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen und die Beachtung des Kindeswohls zum Grundrecht machen, und dies natürlich unter dem hoffentlich geteilten Anspruch, dass die drei Bereiche der Kinderrechtskonvention, nämlich Schutz, Förderung und Beteiligung, und die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht abgeschwächt werden? – Vielen Dank. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, wegen des Koalitionsfriedens ist die Richtlinienkompetenz sozusagen begrenzt, weil wir kooperativ arbeiten und gemeinsame Ergebnisse erzielen wollen zum Wohle aller Koalitionspartner. Ich bin informiert, dass heute Nachmittag, glaube ich, eine Besprechung der Ministerin Lambrecht mit dem Minister Seehofer, Herrn Wiese und Herrn Frei stattfindet, wo man sich genau diesem Thema wieder widmet. Wir sind fest entschlossen, einen Kompromiss zu finden. Zuzüglich zu den von Ihnen genannten Komponenten, die ich alle für wichtig halte, spielen in unseren Überlegungen auch die Eltern noch eine Rolle. Wenn wir diese Dinge gut zusammenbekommen, finden wir auch eine Lösung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Rüthrich, möchten Sie noch eine Nachfrage stellen? Es muss nicht sein. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es muss nicht sein. – Die Elternrechte sind in keiner Weise angegriffen, da die Eltern in der Regel diejenigen sind, die für ihre Kinder die Rechte umsetzen und demzufolge höchstes Interesse daran haben. Deswegen kann ich Ihnen an dieser Stelle Zustimmung signalisieren, dass wir sowohl die Kinderrechte wie die Elternrechte im Blick haben.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, also aus meiner Erfahrung heraus scheint das Interesse in den Koalitionsfraktionen größer zu sein als bei den Oppositionsfraktionen. Aber zur Frage selbst. Soforthilfe, Wirtschaftsstabilisierungsfonds, Überbrückungshilfe I, Überbrückungshilfe II, Novemberhilfe, Dezemberhilfe, Überbrückungshilfe III: Wir haben seit Krisenbeginn eine ganze Menge Unterstützungsmaßnahmen bekommen. Eigentlich jedes Mal hat es Probleme bei der Umsetzung gegeben, weil jedes Mal die Bedingungen geändert wurden. Inwieweit können wir davon ausgehen, dass jetzt die Maßstäbe der Überbrückungshilfe III der Weisheit letzter Schluss sind? Und: Warum sind eigentlich auf der einen Seite die Fixkosten und auf der anderen Seite der Umsatz die entsprechenden Kenngrößen für die Hilfen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich würde an dieser Stelle gern sagen, dass wir alle mit einer neuartigen Herausforderung konfrontiert sind, mit der wir noch nicht allzu lange Erfahrung haben. Wir haben im Grunde zwei Sorten von Maßnahmen gehabt: Das Erste waren die sehr umfassenden Schließungen im Frühjahr, und das Zweite waren dann die sehr sektoralen Schließungen bei Hotels und Gaststätten im November und Dezember. Das Dritte sind wieder sehr viel umfassendere Schließungen, wie wir sie zurzeit, ab Mitte Dezember, haben. Deshalb liegt es in der Natur der Sache, dass die Maßnahmen des Frühjahrs und die Maßnahmen, die jetzt gelten, von der Philosophie her, sich an den Fixkosten zu orientieren, sehr ähnlich sind. Dazwischen haben wir zwei Wirtschaftsbereiche herausgegriffen, die in einem sehr viel höheren Maße, inklusive der Kultur übrigens, beitragen mussten, damit wir alle besser durch diese Pandemie kommen. Wir müssen in dieser Pandemie flexibel sein. Ich glaube, wenn nach der Langzeitstrategie gefragt wird, dann heißt es immer wieder: Flexibilität zeigen – mit dem Virus kann man nicht verhandeln, sondern man muss schauen, wie es sich verhält, und darauf reagieren – und diese Flexibilität dann auch anwenden. Wir haben aus Schwächen der Überbrückungshilfe I gelernt, und wir haben die Überbrückungshilfe III daraus konzipiert; das wird immer wieder so vorkommen. Aber von der Grundlage ist sie der des Frühjahrs ähnlicher als der November- und Dezemberhilfe, weil hier, wie ich schon sagte, zwei Bereiche der Wirtschaft sektoral herausgegriffen wurden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege?

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vor diesem Hintergrund, Frau Merkel, die Frage: Minister Altmaier hat am 28. Oktober hier an dieser Stelle gesagt: Es ist zunächst einmal eine gute Nachricht, dass weniger Geld abgeflossen ist, als von vielen befürchtet. – Er bezog das auf die Überbrückungshilfe II. Darf ich Ihre Ausführungen dann so interpretieren, dass es eine gewisse Schönrederei war, dass ausgerechnet die Überbrückungshilfe II offensichtlich nicht richtig angekommen ist?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Die Überbrückungshilfe II war ja der erste Versuch, auch größeren Unternehmen nicht nur Kredite und Darlehen, sondern auch Geld, also wirklich Zuschüsse, zu geben. Da hat es in der Tat eine ganze Reihe von Anlaufschwierigkeiten mit sehr viel Bürokratie gegeben. Da ist dann im Oktober, wenn ich mich recht erinnere, nachgebessert worden. Deshalb war es für mich, sagen wir mal, eine gute Nachricht, dass nicht ganz so viel abgeflossen ist, wie man vielleicht gefürchtet hat, weil sich die Wirtschaft im dritten Quartal wieder ganz gut entwickelt hatte. Aber ich sage auch: Es gab da bürokratische Schwierigkeiten, die jetzt durch die Verbesserung beseitigt wurden; so meine Erinnerung jedenfalls.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Gunther Krichbaum, CDU/CSU.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, die deutsche Ratspräsidentschaft war und ist ein Erfolg dank Ihres persönlichen Einsatzes und auch des ganzen Teams. Das gilt allen voran auch für Herrn Dr. Corsepius, den ich hier wirklich namentlich nennen möchte. Es ist der Durchbruch an gleich vielen Ecken und Enden gelungen, vor allem bei den Themen Finanzen, Haushalt und Klima, aber besonders auch beim Thema Rechtsstaatsmechanismus. Da bekommen wir aber zunehmend ein Argumentationsproblem dahin gehend, dass wir von Beitrittskandidaten die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien einfordern, es aber eben hier innerhalb der Europäischen Union nicht immer zum Besten damit bestellt ist. Jetzt ist es gelungen. Deswegen meine Frage: Wie denken Sie, dass dieser Rechtsstaatsmechanismus dann in der Praxis wirkt?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erstens. Ich glaube, dass wir beim Europäischen Rat Erfolge erzielen konnten. Aber auch viele der Kollegen im Kabinett haben Durchbrüche erreichen können. Ich will hier vielleicht den Finanzminister nennen, der auch die ESM-Reform auf den Weg gebracht hat. Es gab also viele Facetten; ich könnte auch andere Kollegen nennen. Zweitens. Wir diskutieren das Thema der Rechtsstaatlichkeit immer wieder und in einem Maße, wie wir es uns vielleicht vor zehn oder 15 Jahren nicht haben vorstellen können. Normalerweise haben die Verträge mit dem Artikel 7 eigentlich die Reaktion auf Verletzung der Rechtsstaatlichkeit als Thema. Der Mechanismus ist aber so, dass die Artikel-7-Prozeduren im Grunde entweder bis jetzt nicht zu Ende geführt wurden, oder sie können nicht erfolgreich sein, weil die Abstimmungsmodalitäten halt so sind, dass man selten zum Erfolg kommt. Das Thema Rechtsstaatlichkeit ist ganz besonders im Zusammenhang mit dem Budget noch einmal aufgekommen; denn gute Verwendung von Geldern bedeutet auch, dass man ein gutes rechtsstaatliches Umfeld hat. Das kann aber nur begrenzt sein. Das kann kein Ersatz für einen Vertragsartikel sein, sondern fällt dann in die Sekundärrechtsebene. Da haben wir jetzt, glaube ich, einen guten Weg gefunden, der dahin gehend wirken kann, dass, wenn bestimmte Bedingungen in einem Mitgliedstaat verletzt sind, die Kommission das Recht hat, zu sagen, dass die Freigabe bestimmter Gelder nicht stattfinden kann, solange die Umstände nicht verbessert wurden. Es muss aber schon einen erkennbaren Zusammenhang zum Budget geben. Deshalb haben wir jetzt auch den Namen „Konditionalitätsmechanismus“ entwickelt. Es ist vereinbart, dass das Mitgliedsland, das es betrifft, zum Europäischen Rat gehen kann, der Europäische Rat dann darüber eine ausführliche Diskussion führt, aber keine unendlich lange Diskussion, sondern dass es dafür einen bestimmten Zeitrahmen gibt und die Kommission dann entscheidet. Da es Zweifel von Polen und Ungarn gibt, ob dieser Konditionalitätsmechanismus nicht doch dem Artikel 7 widerspricht – der Rechtsdienst des Europäischen Rates hat das verneint –, steht es diesen Ländern offen, zum Europäischen Gerichtshof zu gehen. ({0}) – Ich weiß, dass ich mit meiner Antwort über die Zeit bin; ich spare es bei der nächsten Frage ein. – Falls ein Staat der Meinung ist, er muss zum Europäischen Gerichtshof gehen, wird die Kommission die Maßnahme nicht vollziehen. Sie hat sie ausgesprochen, aber wird sie nicht vollziehen, bis der Europäische Gerichtshof gesagt hat, ob der Mechanismus den Verträgen entspricht. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich unterstelle, Herr Kollege Krichbaum, dass die Ausführlichkeit der Antwort eine Nachfrage entbehrlich macht.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, es ist nur eine kurze Nachfrage. ({0}) Wir haben nicht überall einen Durchbruch erzielen können, auch nicht beim Thema der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen bzw. der Beitrittskonferenz mit Nordmazedonien. Das ist schade. Wir erleben leider immer wieder, dass EU-Mitgliedsländer ihre Stellung gegenüber den Kandidatenländern missbrauchen, um bilaterale Forderungen durchzusetzen, um sie also – das muss man im Klartext sagen – zu erpressen. Wie beurteilen Sie denn die Chancen, dass wir in naher Zukunft die Blockadehaltung Bulgariens überwinden können?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich hoffe – ich habe mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow noch mal gesprochen –, dass diese Fragen auch in naher Zukunft beigelegt werden können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Fabio De Masi, Die Linke.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, der Wirecard-Skandal ist der größte Finanz- und Bilanzskandal der Nachkriegsgeschichte. 20 Milliarden Euro Börsenwert wurden vernichtet. Viele Kleinanlegerinnen und Kleinanleger haben häufig ihre kompletten Lebensersparnisse verloren. Über die Machenschaften des Wirecard-Managements, das mutmaßlich mit hoher krimineller Energie vorgegangen ist, gab es bereits früh internationale Presseberichte, zum Beispiel der „Financial Times“. Ein fleißiger Beamter aus dem Kanzleramt, Herr Papageorgiou, hat Ihnen aufgrund dieser Medienberichte davon abgeraten, sich mit dem damaligen CEO von Wirecard, damals ein DAX-Konzern, zu treffen. Sie haben sich aber kurze Zeit später in China, mutmaßlich beim mächtigsten Mann Chinas, für dieses Unternehmen engagiert. Wie kann es denn sein, dass Sie dem damaligen Vorsitzenden von Wirecard, Markus Braun, aufgrund dieser Presseberichte ein Treffen verweigert haben, sich aber gleichzeitig in China für dieses Unternehmen eingesetzt haben? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr De Masi, ich werde noch ausführlich Gelegenheit haben, glaube ich, im Untersuchungsausschuss zu allen Einzelfragen zu berichten. Ich kann jetzt an dieser Stelle nur sagen, dass es bei mir sehr, sehr häufig vorkommt, dass mir aus den unterschiedlichsten Gründen abgeraten wird, mich mit allen zu treffen, die bei mir nachfragen, sich zu treffen. Das war also kein außergewöhnliches Ereignis. Genauso kommt es vor, dass Unternehmen mich bitten, sie zu unterstützen; da geht es dann um bestimmte Aktivitäten. Also: Beides schließt sich nicht aus. Den Rest machen wir im Untersuchungsausschuss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr gerne. – Nun, es ist ja etwas anderes, wenn Ihnen ein eigener Mitarbeiter abrät, sich mit der Unternehmensspitze zu treffen, und dann lobbyiert man auf höchster Ebene in China. Aber dennoch: Wir wissen, dass sich der flüchtige Manager Jan Marsalek einen Tag, bevor er geflohen ist, ganz entspannt mit einem ehemaligen hochrangigen Mitarbeiter des österreichischen Verfassungsschutzes beim Italiener in München getroffen hat. Dass er engste Verbindungen zum österreichischen Verfassungsschutz unterhielt, das wissen wir auch aus einem Ausschuss in Österreich. Ich frage Sie: Haben Sie denn mal zum Hörer gegriffen und sich bei Herrn Kurz erkundigt, was die Österreicher bei uns in Deutschland so treiben? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein. Also, ich habe schon mit Herrn Kurz gesprochen, aber nicht darüber.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Margarete Bause, Bündnis 90/Die Grünen.

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! – Frau Bundeskanzlerin, während wir alle mit der Bekämpfung der Coronapandemie beschäftigt sind, droht ein für die Zukunft sehr relevantes Thema in der Debatte unterzugehen: das EU-China-Investitionsschutzabkommen, bei dem insbesondere Sie darauf hinarbeiten, dass es noch in diesem Jahr während Ihrer Ratspräsidentschaft verabschiedet wird. Jetzt hat das Europäische Parlament gefordert, dass Produkte aus uigurischer Zwangsarbeit in China nicht auf den europäischen Markt gelangen dürfen. Die Brisanz dieses Themas wurde erst in den letzten Tagen durch Berichte über die Zwangsarbeit bei der Baumwollernte in Xinjiang deutlich; ich gehe davon aus, dass Ihnen die schweren Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren in Xinjiang in vollem Umfang bewusst sind. Die Volksrepublik China hat die ILO-Kernnormen gegen Zwangsarbeit bisher nicht ratifiziert. Kann die EU, kann Deutschland aus Ihrer Sicht einem Investitionsschutzabkommen zustimmen, wenn China die zentralen ILO-Kernnormen nicht ratifiziert? Halten Sie unter diesen Umständen eine Verabschiedung des Investitionsschutzabkommens aus menschenrechtlicher Sicht für vertretbar?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich finde es erstmal sehr gut, dass die Europäische Union, wann immer sie solche Investitionsschutzabkommen oder Freihandelsabkommen abschließt, auf solche Fragen wie die Einhaltung der ILO-Normen Wert legt. Deshalb spielt das auch in Gesprächen mit China eine Rolle. Ich will jetzt – da bitte ich um Verständnis, weil wir mitten in den Verhandlungen sind – keine Wenn-dann-Fragen beantworten. Ich darf Ihnen nur sagen, dass wir die ILO-Normen sehr ernst nehmen und eine gute Abwägung vornehmen werden. Im Übrigen sind mir die Vorwürfe mit Blick auf die Uiguren sehr wohl bewusst.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Frau Bause?

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Frau Bundeskanzlerin, wir sehen gerade in Hongkong, dass China noch nicht einmal völkerrechtliche Verträge achtet. Ist es nicht nötig, dass China zunächst in Hongkong ein Zeichen der Rückkehr zum Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ setzt, bevor die EU mit China ein solches Abkommen abschließt?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, das sind immer sehr schwierige Abwägungen. Wir sehen mit großer Besorgnis, dass das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ in Hongkong im Augenblick sehr brüchig ist; um es vorsichtig zu sagen. Aber wir müssen immer versuchen, im Gespräch zu bleiben und die verschiedenen Institutionen, die wir haben, um zum Beispiel über Rechtsstaatsdialog zu reden, und auch meine Gespräche mit den Verantwortlichen zu nutzen, um für die Menschen, die dort betroffen sind, das Beste zu erreichen. Es gibt einen Widerspruch zwischen den Werten, die wir teilen – die auch ich teile –, und den Interessen, die wir haben. Die Frage ist aber immer auch, ob ein Gespräch mehr bringt, als nicht zu sprechen. Das ist ein Punkt, an dem wir sicherlich immer wieder politische Abwägungsentscheidungen treffen müssen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt geht das Fragerecht an Martin Sichert, AfD.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Gastronomiebetriebe bekommen bis zu 75 Prozent des Vorjahresumsatzes als Lockdown-Hilfen. Während internationale Großkonzerne, die hier in Deutschland kaum Steuern zahlen und gezahlt haben, wie McDonald’s und Starbucks, davon massiv profitieren, gehen mittelständische steuerzahlende Mischbetriebe wie die Brauereigaststätten leer aus. Diese gehören aber eigentlich elementar zu unserer Kultur, werden seit Jahrhunderten hier in Deutschland in familiärer Atmosphäre betrieben und sind mit viel Fleiß aufgebaut worden. Was ist Ihre Botschaft an die Mitarbeiter und an die Inhaber der Brauereigaststätten, die diese Betriebe aufgebaut haben? Warum bekommen Brauereigaststätten im Gegensatz zu McDonald’s keine Förderung? Hält die Bundesregierung amerikanisches industriell gefertigtes Junkfood für wichtiger als selbst hergestellten zarten Sauerbraten und selbst hergestelltes Bier?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Definitiv nicht. Deshalb haben wir gestern zum Beispiel in unserer Fraktionssitzung sehr ausführlich über dieses Thema diskutiert und suchen Möglichkeiten, wie hier Gerechtigkeit und an die Situation angepasste Hilfen für November und Dezember realisiert werden können. Ein Beitrag dazu ist, dass, wenn Umsatzeinbußen im November oder Dezember von bis zu 40 Prozent vorliegen – früher war das sehr viel höher angesetzt –, Hilfen geleistet werden können. Der Bundeswirtschaftsminister hat gestern in diesem Kontext gesagt, dass er sich die Dinge noch mal anschaut. Es gibt ein hohes Interesse daran, dass traditionsreiche Unternehmen die Überbrückungshilfen genauso bekommen wie Unternehmen, die noch nicht so lange existieren.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Sichert?

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, Nachfrage. – Sie haben es gerade sehr schön ausgeführt. Ganz konkret gefragt: Können sich die Brauereigaststätten darauf verlassen, dass sie im Nachhinein noch eine entsprechende Förderung für die Umsatzausfälle von November und Dezember bekommen? Können Sie das hier so zusagen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich kann das so freihändig nicht zusagen. Ich kann nur sagen, dass wir uns das genau anschauen und dass mir die Argumente, die gestern genannt wurden, sehr seriös erschienen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Katja Mast, SPD.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, Herr Minister Heil hat auf Grundlage der durchgeführten Evaluierung klargemacht, dass der Mindestlohn eine Erfolgsgeschichte ist, weil er dafür sorgt, dass Millionen von Menschen mehr Geld in der Tasche haben, wenn sie arbeiten gehen. Der Mindestlohn schützt damit Wert und Würde der Arbeit. Nach fünf Jahren ist es aber notwendig, ihn noch besser zu machen. Minister Heil schlägt dafür aufgrund der Evaluierung und aufgrund des Richtwerts der EU-Kommission vor, ihn gesetzlich stärker an der allgemeinen Lohnentwicklung und dem Median zu orientieren. So landen wir bei ungefähr 12 Euro Mindestlohn. Sind Sie bereit, dafür das Mindestlohngesetz zu ändern?

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich halte die – – ({0}) – Der Beifall galt, glaube ich, nicht meinem Nein, sondern der Fragerin. ({1}) Ich muss sagen: Sosehr ich immer bedauert habe, dass es zu einem Mindestlohn kommen musste, weil die Tarifautonomie nicht mehr stark genug ausgeprägt war, so sehr habe ich es jetzt begrüßt, dass wir Anpassungen bis in das Jahr 2022 oder sogar 2023 vornehmen konnten, weil sich die Mindestlohnkommission für die nächsten Jahre schon geeinigt hat. Das ist eine Ankopplung an die allgemeine Lohnentwicklung; das ist der Mechanismus, den die Mindestlohnkommission unabhängig gewählt hat. Jetzt kommt durch die europäischen Vorschläge der Europäischen Kommission das Medianeinkommen als Grundlage hinzu. Ich habe Bedenken, das einfach so zu machen, weil wir schon abwägen müssen, welche Verdrängungseffekte das hat, was das für andere Lohngruppen bedeutet und wie viele Arbeitsplätze gegebenenfalls verloren gehen könnten. Ich kann Ihnen da also nicht in dem Maße zustimmen, wie Sie schon überzeugt sind. ({2}) – Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Frau Mast?

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde gerne noch einmal nachfragen. – Frau Bundeskanzlerin, die Einführung des Mindestlohns hat keine Jobs vernichtet. Das ist, glaube ich, im Nachhinein eine wichtige Erkenntnis; denn viele Volkswirtschaftler hatten von Millionen von Arbeitsplätzen gesprochen, die verloren gehen. Wir landen bei einem Mindestlohn von ungefähr 50 Prozent des Medianlohnes, während die Europäische Kommission den Richtwert von 60 Prozent vorschlägt. Wir landen damit als stärkste Volkswirtschaft in der Europäischen Union auf den ganz hinteren Rängen im Vergleich zu unseren Nachbarländern. Daher ist meine Frage, ob das nicht ein Grund wäre, Ihre Haltung vielleicht noch einmal zu überdenken.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, das sind Dinge, über die eine Bundeskanzlerin verpflichtet ist immer nachzudenken. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung damals entschieden, die Einführung des Mindestlohns zu unterstützen. Ich glaube, wir haben eine sehr gute Höhe gefunden, die eben nicht zu den vorausgesagten Effekten führt. Ich bin weit davon entfernt, allen Kassandrarufen an dieser Stelle sofort nachzugeben; aber den Sprung von dem, was wir für die nächste Zeit vereinbart haben, auf 12 Euro würde ich nicht unterschätzen. Ich bin da problembewusster oder sehe das kritischer als Sie.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Florian Toncar, FDP, stellt die nächste Frage.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, der Kollege De Masi hat Sie schon auf Ihr Engagement in China für das Unternehmen Wirecard angesprochen. Ich will das noch einmal etwas einordnen. Für Wirecard war über Jahre hinweg entscheidend, dass man Tochtergesellschaften im Ausland zugekauft hat; das haben die in großer Zahl gemacht, weil sich dahinter Scheinumsätze haben verstecken lassen und weil man den Investoren diese Zukäufe immer als Erfolgsgeschichte verkaufen konnte. So geschah es auch nach dem von Ihnen mitvermittelten Zukauf von AllScore in China. Diese Zukäufe hatten also eine Relevanz für das Aufrechterhalten des Betrugsmodells. Nun ist es so, dass es nicht nur speziell bei dem Fall AllScore in China im Kanzleramt Bedenken gegenüber Wirecard gab, die auch aktenkundig sind, sondern dass zusätzlich zwei Tage vor Ihrer Abreise nach China einer Ihrer früheren Minister, Karl-Theodor zu Guttenberg, ein persönliches Gespräch, das er mit Ihnen führen durfte, genutzt hat, um am Rande dieses Gesprächs seinen geschäftlichen Tätigkeiten für Wirecard nachzugehen. Ich glaube, dass das ein Unterschied zu dem Routinevorgang ist, den Sie sich gegenüber Herrn De Masi bemüht haben darzustellen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie das eigentlich korrekt fanden, auf die Bitte von Herrn zu Guttenberg in der Weise einzugehen, wie Sie das getan haben, und ob das aus Ihrer Sicht nicht ein Anlass wäre, an dieser Stelle Selbstkritik bezüglich Ihres Engagements in China für dieses Unternehmen zu üben. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nur noch einmal zur Information: Wir haben heute den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität im Kabinett behandelt, weil wir aufgrund verschiedener Punkte im Zusammenhang mit Aufsichtsfragen, die bei Wirecard natürlich nicht gut gelaufen sind, als Bundesregierung Konsequenzen gezogen haben; das haben der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister gemacht. Zweitens. Der Besuch von Herrn zu Guttenberg als ehemaliger Minister meines Kabinetts war ein Vorgang, der sehr häufig vorkommt. Es kommt sehr häufig vor, dass Menschen zu mir kommen und mir etwas vortragen. Das gebe ich dann sachgemäß zu den Fachleuten und frage: Was sagt ihr dazu? Ich mache solche Dinge also aktenkundig – deshalb haben Sie das ja auch gut nachlesen können –, und dann bekomme ich eine Empfehlung. Und wenn ich keine schwerwiegenden Bedenken habe, dann folge ich dem. Das ist ein ganz allgemeiner Vorgang. Ansonsten bitte ich wirklich um Verständnis. Der Vorgang ist so tiefgreifend, dass man sich zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses entschieden hat. Alle speziellen Fragen – auf diese kann ich mich dann sehr gut vorbereiten – werden wir noch mal in aller Tiefe bewerten, und ich werde sie natürlich auch so beantworten, wie ich das tue. Aber dies war der Vorgang: Ein Besucher schlägt etwas vor, das wird aktenkundig gemacht, von der Fachseite begutachtet. Und dann gibt es eine Empfehlung an mich, der ich oft folge, manchmal vielleicht auch nicht. Jedenfalls war die Bewertung da, die ich für meine Entscheidung brauche.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. – Frau Bundeskanzlerin, ich erlaube mir die Bewertung, dass es angesichts des zeitlichen Vorlaufs von zwei Tagen gar nicht möglich war, das fundiert nachzuprüfen, und dass Sie dieses Risiko, das Sie eingegangen sind, auch politisch verantworten müssen. Aber dass es gewissermaßen keine Selbstkritik gibt, ist ja nicht nur bei Ihnen so, sondern auch bei Ihrem Finanzminister und Ihrem Wirtschaftsminister. Es wird immer nur über die Verantwortung anderer gesprochen. Ich möchte Sie jetzt einfach mal konkret fragen: Wer trägt denn in der Bundesregierung, deren Chefin Sie sind, politisch Verantwortung für die Prozesse, die zur Aufdeckung dieses Betrugs hätten führen müssen? Wer ist der Verantwortliche? An wen kann sich die Öffentlichkeit, an wen kann sich das Parlament aus Ihrer Sicht wenden?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Die Bundesregierung als Ganzes hat Ihre Schlussfolgerungen aus den Vorgängen gezogen und heute den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität verabschiedet und an das Parlament überwiesen. Dann können die Vorgänge umfassend, nicht nur retrospektiv – das muss sein –, sondern auch hinsichtlich der Lehren für die Zukunft, diskutiert werden. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Rudolf Henke, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundeskanzlerin, die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat sich dafür starkgemacht, das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten, ECDC, hinsichtlich seiner Kompetenzen und seiner Leistungskraft zu stärken. Wie bewerten Sie die Entwicklung in dieser Frage, und wie wirkt sich das auf die Bekämpfung der Pandemie in Europa aus?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass sich gezeigt hat, dass eine so globale Pandemie nicht von jedem Mitgliedsland allein bekämpft werden kann. Angesichts der Tatsache, dass durch die europäischen Verträge die Kompetenz für Gesundheitspolitik bei der Kommission sehr schwach ausgeprägt ist, war es richtig, eine Vielzahl von Koordinierungsprozessen unter Führung der Kommissionspräsidentin und der EU-Gesundheitskommissarin voranzubringen. Dazu gehört die Agentur ECDC, die heute sehr viel besser informiert, auch einheitlicher informiert. Am Anfang hatten wir zum Beispiel bei den Inzidenzbewertungen, bei der Ausweisung von Risikogebieten und bei vielen anderen Punkten ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Das wird jetzt vereinheitlicht. Im Übrigen hat Deutschland, hat insbesondere dieses Haus durch die Anbindung an die Inzidenz von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen maßgeblich dazu beigetragen. Ich glaube, wir sollten ECDC weiter stärken und sie zu einer Präventivagentur machen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Herr Henke, sind Sie zufrieden? – Ich möchte keine weiteren Nachfragen zulassen; wir haben so viele Fragen. – Herr Birkwald, Die Linke, hat als Nächster das Fragerecht.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zur Altersvorsorge an Sie. In der vergangenen Sitzungswoche wurde eine Studie der Bürgerbewegung Finanzwende veröffentlicht. Nach dieser Studie wird nahezu jeder vierte in einen Riester-Vertrag eingezahlte Euro zur Deckung der Kosten aufgewendet, fließt also in die Kassen der Versicherungsunternehmen und eben nicht in die eigene Altersvorsorge. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Welchen Altersvorsorgemix würden Sie denn angesichts von fast 25 Prozent Kosten einer durchschnittlich verdienenden 30-jährigen Frau heute empfehlen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass wir nach wie vor eine Pflicht haben, diese Riester-Vorsorge noch weiter zu reformieren. Ich halte sie aber nicht für falsch. Es ist richtig, dass wir als Staat steuerliche Unterstützung geben. Ich weiß nicht, ob steuerliche Unterstützung allein ausreicht; es gibt eine Menge Menschen, die keine Steuern zahlen. Deshalb muss hier sicherlich der Zuschussgedanke gestärkt werden. Aber die Säule der privaten Vorsorge halte ich für richtig und wichtig. Die Garantie, die die Riester-Rente gibt – dass man das, was man einzahlt, auch wieder herausbekommt –, ist sicherlich kein Effizienzförderer. Sie ist aber eine Sicherheit für Menschen. Deshalb möchte ich das Instrument nicht verwerfen, aber weiterentwickeln. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. – Also, Frau Bundeskanzlerin, das überzeugt mich nicht. Ich würde sagen, Ihre Bundesregierung vergeudet ungeachtet der Ineffizienz der Riester-Rente weiterhin Ressourcen ohne Ende, um das gescheiterte Projekt „Riester-Rente“, ({0}) von dem fast ausschließlich die Versicherungswirtschaft profitiert, um jeden Preis am Leben zu erhalten. Das hörte sich gerade – mit Verlaub – ein bisschen so an. Meine Frage: Wäre es nicht viel besser, dass alle Versicherten freiwillige Zusatzbeiträge auf ihr persönliches Konto bei der gesetzlichen Rentenversicherung einzahlen könnten? Denn bei der gesetzlichen Rentenversicherung ist das Geld der Bürgerinnen und Bürger ja sicher, sehr kostenarm und gut aufgehoben. ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das kann ich jetzt, wo Sie das so vorschlagen, nicht sofort berechnen. Ich meine, die Deutsche Rentenversicherung ist jetzt auch kein Ein-Mann-Betrieb. Deshalb müsste ich mir die Kosten angucken. ({0}) Es geht um die Frage – da gebe ich Ihnen recht –, wie wir effizient und mit einem hohen Maß an Sicherheit für die Einzahlenden einen zusätzlichen privaten Vorsorgemechanismus implementieren. – Haben Sie Ihr Modell mit der gesetzlichen Rentenversicherung, bei der man einzahlt, schriftlich niedergelegt? Dann würde mich das interessieren.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, es gibt mehrere Möglichkeiten im SGB VI: § 187a SGB VI, § 207 SGB VI und § 7 SGB VI. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Na, dann ist doch schon alles gut.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, es muss da gefördert werden und eben nicht über Riester, weil das ineffizient ist.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also Sie möchten, dass bestehende Artikel in der gesetzlichen Rentenversicherung durch staatliche Förderung attraktiver gemacht werden.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Mit der Sache werde ich mich beschäftigen.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächster das Fragerecht und vermutlich als Letzter.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, es ist sehr erfreulich, dass die Koalition die Vorschläge aus der Zivilgesellschaft, aber auch von uns Grünen aufgreifen will, in Artikel 3 des Grundgesetzes den Begriff „Rasse“ zu ersetzen. Der Rassebegriff von 1949 passt nicht mehr in die heutige Zeit; das ist weitgehend Konsens – zum Glück. Aber es muss aus unserer Sicht mehr getan werden. Genauso wenig passt in das Jahr 2020, dass die Bevölkerungsgruppe der Lesben und Schwulen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen immer noch nicht im speziellen Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes erwähnt ist. Dabei haben sie in der Nazizeit schwerste Verfolgung erlitten und sind auch heute noch von Anfeindungen bedroht. Ihr Ausschluss 1949 erfolgte aus den Vorurteilen der damaligen Zeit heraus, die wir, glaube ich, zum heutigen Tag – hoffentlich – alle längst überwunden haben. Deswegen die Frage, Frau Bundeskanzlerin: Wie stehen Sie dazu, bei der Neuformulierung des Artikel 3 Grundgesetz nicht allein eine sprachliche Änderung vorzunehmen, sondern auch ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität aufzunehmen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube erst mal, dass der Umgang mit Lesben und Schwulen in der Tat über viele, viele Jahre dem Artikel 1 des Grundgesetzes – Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen – nicht entsprochen hat. Ich war zum Beispiel sehr froh, als die Bundesverteidigungsministerin eine Wiedergutmachung des Unrechts an Soldaten, die aufgrund ihres Schwulseins diskriminiert wurden, auf den Weg gebracht hat, dass da etwas passiert ist. Wir haben uns jetzt in der Koalition auf die Frage des Rassismus konzentriert. Die Frage, die Sie aufwerfen, hat in unseren Diskussionen noch keine zentrale Bedeutung eingenommen. Ich verstehe diese Frage, verweise aber darauf, dass Artikel 1 eigentlich die Dinge auch schon ordentlich abdeckt. Deshalb sehe ich im Augenblick keinen Anlass für die Regierung, daran zu arbeiten. Aber ich denke, dass die Diskussion nicht vorbei sein wird; so viel vermute ich. Ich habe mit Artikel 3, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, meine politische Arbeit begonnen. Damals, 1990, hat man das ja auch verändert. Das Grundgesetz ist ein lebendes Projekt. Aber konkrete Arbeiten gibt es nicht seitens der Bundesregierung.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gut.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich darf doch keine falschen Hoffnungen wecken.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, nein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber ich darf Sie doch bestärken im Nachdenken: Wenn Artikel 1 das alles abdecken würde, dann bräuchten wir überhaupt keine Aufzählung. Die Diskussion über die Aufnahme der sexuellen Identität in den speziellen Gleichbehandlungskatalog gibt es seit vier Jahrzehnten. In vielen Landesverfassungen, dort, wo Grundrechtskataloge explizit genannt werden, ist die sexuelle Identität aufgenommen worden, zuletzt in Sachsen-Anhalt. Deswegen: Was gut ist für die Landesverfassungen, kann ja auch nicht schlecht für das Grundgesetz sein. Ich bestärke Sie im Nachdenken und dann vor allen Dingen im Handeln, diesen wichtigen Punkt in Artikel 3 aufzunehmen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Gut. – Ich möchte mich nicht gegen die Landesverfassungen aussprechen – das würde mir nicht zustehen –; trotzdem gibt es manchmal Bund-Länder-Meinungsunterschiede; aber das hat jetzt mit den Verfassungen nichts zu tun.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke schön. – Zur Hierarchie der Verfassungen muss ich allerdings Wert darauf legen, dass das Grundgesetz der Maßstab, zur Not auch für Landesverfassungen, ist und nicht umgekehrt. – Dabei wollen wir es belassen. ({0}) Darüber hinaus, Frau Bundeskanzlerin, sind wir am Ende der Regierungsbefragung. Ich danke Ihnen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich danke auch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich versichere Ihnen: Das war die letzte Regierungsbefragung im Jahr 2020. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute! ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Danke.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir alle haben uns in den letzten harten Wochen ja nach einem Impfstoff gesehnt, und wenn der von BioNTech/Pfizer voraussichtlich noch vor Weihnachten die europäische Zulassung erhält, dann stimmt mich das endlich etwas zuversichtlicher. Es vermittelt uns allen Hoffnung, und wir können so viel Leid mit diesem Impfstoff verhindern. Es wäre schlicht ein wunderbares Weihnachtsgeschenk. ({0}) Es wäre auch keine Notzulassung, so wie in den USA oder in Großbritannien; es wäre die weltweit erste ordentliche Zulassung, und ich finde es, ehrlich gesagt, geradezu absurd, in einem derart sensiblen Umfeld wie dem Impfen einen Wettbewerb um die schnellste Zulassung zu starten. ({1}) Wir brauchen doch zuallererst das Vertrauen der Menschen in das Impfen und in die Impfstoffe. Deutschland ist bekanntermaßen auch Teil der europäischen Gemeinschaft. Was deshalb beispielsweise gar nicht geht, ist doch, die kleineren europäischen Partner – Länder ohne eigene Möglichkeiten und nationale Impfstoffzulassungen – abzuhängen und geradezu im Regen stehen zu lassen. Und – das sage ich auch – ich bin trotzdem stolz darauf – auch als Europäerin –, dass dieser mRNA-Impfstoff, der erstmals auch die industrielle Fertigung von Impfstoffen ermöglicht, maßgeblich in Deutschland entwickelt wurde. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden noch im Dezember in einer ersten Phase 400 000 Dosen Impfstoff zur Verfügung haben, ab Januar dann 3 Millionen. Mit der Zulassung der weiteren Impfstoffe und den weiteren Lieferungen erwarten wir einen Aufwuchs im ersten Quartal nächsten Jahres auf 11 bis 13 Millionen Dosen. Das ist viel, aber für eine flächendeckende Versorgung reicht es noch nicht aus, und deswegen muss priorisiert und festgelegt werden, wer zuerst geimpft werden kann. Die STIKO, die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut, hat dazu, wie übrigens bei allen Impfungen, ihre fachliche und wissenschaftliche Expertise ebenso eingebracht wie der Ethikrat und die Leopoldina. Kurz gesagt, es geht darum, den Impfstoff so effektiv wie möglich einzusetzen, sodass Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe so weit wie möglich verhindert und die Ausbreitung und das Übertragungsrisiko maximal gemindert werden. Wenn man das Ganze konkret macht, dann heißt das, zuerst den Menschen im Alter über 80 Jahren, den Menschen in den stationären Einrichtungen, die dort behandelt, gepflegt und betreut werden, oder aber auch denen, die dort tätig sind, diese Impfung anzubieten. Zum vorrangig zu impfenden Personenkreis würden dann natürlich auch Beschäftigte gehören, die einem hohen Ansteckungsrisiko auf Intensivstationen, in Notaufnahmen oder im Rettungsdienst ausgesetzt sind. Mittelfristig ist das Ziel der Impfstrategie, allen Menschen Zugang zum Impfstoff anzubieten – ich betone: anzubieten –; es gibt keine Impfpflicht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt die Frage der Umsetzung. Wir haben als Gesetzgeber im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz genau für diese Mangelfälle die gesetzliche Grundlage gelegt und den Gesundheitsminister – und nicht, wie üblich, den Gemeinsamen Bundesausschuss – in § 20i SGB V beauftragt, auf der Basis dieser gesetzlichen Grundlage für die Covid-Fälle Regelungen mittels einer Rechtsverordnung zu bestimmen. Wir haben dort auch ganz bewusst die Kriterien für die möglicherweise notwendige Priorisierung vorgegeben. Ich zitiere aus der Begründung: In Satz 1 Nummer 1 … werden in Bezug auf Schutzimpfungen gegen das Coronavirus … besonders in Betracht kommende Personengruppen genannt, nämlich wenn sie aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben, wenn sie solche Personen behandeln, betreuen oder pflegen oder wenn sie in zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge und für die Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen eine Schlüsselstellung besitzen. Das mag nun der eine oder andere nicht ganz verstanden haben. Aber ich frage mich: Welchen weiteren Sinn sollte eine solche gesetzliche Hervorhebung von Personen denn sonst in diesem Zusammenhang haben? Wir brauchen überdies in den nächsten Monaten auch aus ethischen Gründen flexible Maßnahmen, und nur über Rechtsverordnungen können sie flexibel angepasst werden, nämlich dann, wenn die Impfvorschläge aufgrund weiterer oder besserer Evidenz oder weil andersartige Impfstoffe zugelassen werden, in den nächsten Wochen immer wieder angepasst werden müssen. Mit Rechtsverordnungen wird das möglich sein. Sie werden, liebe Kollegen von der FDP, Herr Thomae, morgen einen Gesetzentwurf einbringen. ({4}) Kurz gesagt, heißt das: Morgen Überweisung in den Ausschuss, dann Anhörung, Abstimmung. ({5}) Selbst wenn man unterstellt, es würde sich eine Mehrheit finden: Die nächste erreichbare Sitzung des Bundesrats wäre im Februar. Das hieße also: Impfstoff im Dezember verfügbar, Impfen frühestens im Februar – na ja!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir starten jedenfalls am 18. Dezember. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karin Maag. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Paul Podolay. ({0}) – Herr Podolay, würden Sie bitte die Maske aufsetzen. – Ach so, Sie haben einen anderen Schutz. Eigentlich wollten wir ja andere Masken für die Wege. ({1}) – Jetzt ist Herr Podolay da. Das klären wir. ({2})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist erlaubt, ja. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Geehrte Bürger! Heute wurde Deutschland erneut auf das wirtschaftliche Abstellgleis gestellt. Während China im November einen Exportboom mit einem Plus von 21 Prozent verzeichnet und das Leben zur Normalität zurückgekehrt ist, ist man in Deutschland immer noch dabei, die eigene Gesellschaft zu zerstören. Die heute thematisierte Impfstrategie zeugt ebenfalls von mangelnder Weitsicht. Trotzdem: Sobald der BioNTech-Impfstoff von der Europäischen Arzneimittel-Agentur zugelassen wird, angeblich am 21. Dezember, geht das große Stechen los. Die deutschen Impfzentren sind jedenfalls laut Bundesminister Spahn einsatzbereit. Konträr dazu bestätigt die Ständige Impfkommission, dass die Impfbereitschaft der Deutschen kontinuierlich sinkt. Besonders bei Ärzten und Pflegekräften, also denjenigen, die an der Covid-Front kämpfen, scheint sie am geringsten zu sein, was das Narrativ der sicheren Impfung und der ungewöhnlich tödlichen Erkrankung absolut infrage stellt. ({0}) Kanzlerin Merkel sagte im November, dass man die Maßnahmen erst aufheben könne, wenn rund 60, 80 Prozent der Bevölkerung immun seien. So stellt sich unweigerlich die Frage, wie diese enorme Zahl erreicht und überprüft werden soll. ({1}) – Schreien Sie nicht. – Es wurde schließlich immer wieder betont, dass es keine Impfpflicht geben soll. Was passiert also, wenn die Impfbereitschaft niedrig bleibt oder sogar noch weiter zurückgeht? Bleiben wir dann für immer im Lockdown? ({2}) Oder wird man dann doch versuchen, die Menschen zur Impfung zu drängen? Die Bundeswehr prüft schon die Impfpflicht für alle Soldaten. ({3}) Der Entwurf der Ständigen Impfkommission zur Priorisierung stößt auch auf Widerstand. Er sieht vor, Menschen mit sehr hohem Risiko zuerst zu impfen, etwa Bewohner von Pflegeheimen. ({4}) Während Personen in Asylunterkünften zur dritten Impfgruppe gehören und somit vor Lehrern und Erziehern geimpft werden sollen, werden Polizei und Feuerwehr sogar in der letzten Gruppe mit gering erhöhter Priorität genannt. ({5}) Aber nicht nur die Priorisierung wirft Fragen auf. Wie werden die Menschen in den Impfzentren umfänglich über die Risiken und Nebenwirkungen dieses neuartigen Impfstoffes aufgeklärt sowie über die Haftung im Falle eines Impfschadens? Zudem muss bei dem BioNTech-Impfstoff ein Mindestabstand zwischen den Impfdosen von 21 Tagen liegen. Die Ständige Impfkommission empfiehlt, die zweite Impfdosis nicht zu verabreichen, falls ein Impfling sich in diesen drei Wochen mit Covid angesteckt hat. Wie also wird sichergestellt, dass diese Menschen sich nicht anstecken? Soll eine Selbstisolation für diese 21 Tage verordnet werden? Wie soll das in einem Pflegeheim überhaupt geschafft werden? Und wird dann ein PCR-Test vor der Verabreichung der zweiten Impfdosis durchgeführt? Das Vorgehen der Regierung ist so starr, dass sie alles auf die Impfung setzt, ohne zu beachten, dass eine effiziente Therapie und Prophylaxe eine Impfung obsolet machen würden. ({6}) Das Forschen an neuen Covid-Therapeutika oder das Umfunktionieren altbewährter Wirkstoffe wie Fluoxetin und Ivermectin, wie es andere Staaten tun, scheinen für die Regierung überhaupt keine Option oder gänzlich unbekannt zu sein. Schon jetzt ist bekannt, dass die Impfung starke Reaktionen auslösen kann, wie in England gesehen. Die Bundesregierung arbeitet im Rahmen der Impfstrategie bereits an der Einführung einer App, die es Impflingen erlaubt, Nebenwirkungen der Impfung an die Behörden zu übermitteln, ({7}) um zu klären, wie verträglich der Impfstoff wirklich ist und ob es Langzeitwirkungen gibt. ({8}) Wie praktisch: Man dreht einfach den Spieß um und lässt die Versuchskaninchen nun selbst ihre Daten erbringen. Meine Damen und Herren, Covid-19 ist eine Erkrankung, die uns nun seit fast einem Jahr auf Trab hält und auch noch die nächsten Generationen beschäftigen wird, die diesen sozialen und wirtschaftlichen Super-GAU ausbaden müssen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wäre es nicht sinnvoll und vorbildlich, wenn sich alle Regierungsmitglieder vor dem Start der Massenimpfung öffentlich als Erste impfen ließen? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das wäre doch ein starkes Signal für die Bevölkerung. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aufhören mit der Randaliererei! – Er ist wirklich nicht der Erste. Kein Grund zum Lachen! Ich habe das auch schon gemacht. Also, die Maske, die Herr Podolay trägt, ist genehmigt. ({0}) Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Dittmar. ({1})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ab heute gilt für uns der harte Lockdown: Schulen, Kitas, Geschäfte und Restaurants, das gesamte Leben wird wieder heruntergefahren, um Corona in den Griff zu kriegen. Der Lockdown trifft uns alle hart in dieser Zeit, wahrscheinlich sogar härter als im Frühjahr. Er ist aber zwingend notwendig, um das sehr dynamische Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. Und deshalb, Herr Podolay, ist Deutschland heute nicht aufs Abstellgleis gestellt worden, vielmehr haben wir heute Maßnahmen ergriffen, um in Zukunft solche Zahlen wie eben heute – 952 Coronatodesfälle, fast 28 000 Neuinfektionen – nicht länger hören und zur Kenntnis nehmen zu müssen. ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren, die europäische Zulassung des ersten Impfstoffes gegen Covid-19 von BioNTech/Pfizer steht unmittelbar bevor, und damit werden wir in der Bekämpfung der Coronapandemie einen wichtigen Schritt vorankommen. Ich freue mich, dass die Europäische Arzneimittel-Agentur die Prüfung des Impfstoffes am 21. Dezember 2020 abschließen wird. Damit wird – bereits ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie – die weltweit erste reguläre Zulassung eines Coronaimpfstoffes noch vor Weihnachten möglich. Und das, meine Damen und Herren, ist auch ein großer Erfolg für unseren Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland. ({1}) Meine Damen und Herren, viele Menschen haben in diesen Tagen auf eine Notzulassung und einen schnelleren Impfstart in Deutschland gedrängt. Aber gerade weil so viel vom Vertrauen in die Impfung abhängt, war und ist es wichtig, die klinischen Daten intensiv und in Gänze zu prüfen und ein reguläres Zulassungsverfahren zu durchlaufen. Das dauert seine Zeit; aber Sicherheit geht vor Schnelligkeit. ({2}) Das Abwarten der europäischen Zulassung ist allerdings nicht alleine eine Frage der Arzneimittelsicherheit. Es ist auch eine Frage der europäischen Zusammenarbeit. Dass der Impfstoff in einem Netzwerk entwickelt wurde, durch die EU-Kommission zentral beschafft und verteilt wird, ist ein großartiger Beweis für die europäische Solidarität. ({3}) Deutschland wird im Januar zunächst 3 Millionen Impfdosen und dann im Laufe des ersten Quartals 11 Millionen Impfdosen – so Stand heute – zur Verfügung haben. Damit können wir, meine Damen und Herren, gut in die Impfstrategie starten. Klar ist aber auch, dass der Impfstoffbedarf in der ersten Phase natürlich wesentlich höher sein wird als die tatsächlich sofort verfügbaren Impfstoffmengen. Aus diesem Grund muss zu Beginn des Impfens entschieden werden, welche Bevölkerungsgruppen als Erstes zu berücksichtigen sind. Ich bin der Meinung: Wir brauchen dazu kein weiteres Gesetzgebungsverfahren. Das Parlament hat im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz grundsätzliche Vorgaben für die Priorisierung der Impfberechtigten gemacht. Wir haben gesetzlich festgelegt, dass der Anspruch auf die Coronaschutzimpfung insbesondere dann besteht, wenn Personen aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen ein wesentlich höheres Risiko für einen schweren oder einen tödlichen Krankheitsverlauf haben. Gleiches gilt für diejenigen, die Coronapatienten behandeln, betreuen oder pflegen, also Ärzte, medizinisches und vor allem pflegerisches Personal, und Personengruppen, die für die öffentliche Daseinsvorsorge von zentraler Bedeutung sind. Die differenzierte Ausgestaltung der Priorisierungsregelungen werden wir dem Verordnungsgeber überlassen. Und wichtig und zu berücksichtigen ist doch, dass der Verordnungsgeber hier nicht nach Gutdünken entscheidet. Wesentliche Vorarbeiten für die Coronaimpfverordnung sind und werden mit hoher wissenschaftlicher Expertise erarbeitet. In einem sehr transparenten Prozess erstellt die Ständige Impfkommission die Impfempfehlungen für die Schutzimpfung gegen Covid-19. Die Ergebnisse des europäischen Zulassungsverfahrens werden ausgewertet und berücksichtigt, der Ethikrat, die Leopoldina und zahlreiche wissenschaftliche Fachgesellschaften beteiligt. Die Impfempfehlungen werden also wissenschaftlich, epidemiologisch und ethisch begründet und bilden deshalb eine gute Grundlage für die Rechtsverordnung. ({4}) Der Verordnungsweg gibt die nötige Flexibilität und Schnelligkeit, die bei notwendigen Anpassungen erforderlich ist. Neue Impfstofftypen mit anderen Eigenschaften oder neue Erkenntnisse über vorhandene Impfstoffe erfordern gegebenenfalls eine neue Prioritätensetzung. Insofern ist es hier hilfreich, durch zügige Anpassung der Rechtsverordnung zu agieren, anstatt ein neues Gesetzgebungsverfahren anzuleiern. ({5}) Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass wir in wenigen Tagen beginnen. Schon jetzt möchte ich all denjenigen danken, die in den Impfzentren und in den mobilen Teams tätig sind. Im Sommer werden wir dann hoffentlich in die regelmäßige Impfversorgung durch die niedergelassenen Ärzte kommen. Dass sie leistungsfähig sind, stellen sie Jahr für Jahr bei den Zigmillionen Grippeimpfungen unter Beweis, sodass wir hier zu einer sehr schnellen Durchimpfung kommen können. Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, das sind doch gute Perspektiven, die uns hoffnungsvoll ins Jahr 2021 schauen lassen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Passen Sie auf sich auf, und bleiben Sie gesund! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Monaten warnt die Regierung vor der zweiten Welle, vor dem zweiten Lockdown, stellt uns aber auch jetzt zum Jahresende – und das ist eine sehr gute Nachricht – den Beginn der Coronaimpfungen in Aussicht. In der Tat eine entscheidende Wegmarke in der Pandemiebekämpfung; denn den Menschen werden jetzt wichtige Grundrechte in vollem Umfang zurückgegeben werden können: Bewegungsfreiheit und Reisefreiheit, Berufsfreiheit, Gewerbefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht auf die freie Ausübung der Religion. Nicht zuletzt aber kann die Frage, wer wann geimpft wird, auch eine Frage von Leben und Tod sein. Deshalb ist die Frage der Impfstrategie für uns Freie Demokraten eine Grundrechtsfrage, meine Damen und Herren. ({0}) Da verwundert es doch sehr, dass die Regierung offenbar plant, die Impfstrategie im Hauruckverfahren auf dem Verordnungsweg zu erlassen: ohne Beratung im Parlament, ohne öffentliche Debatte, ohne förmliches Gesetz. ({1}) Eine solche Übergehung des Parlaments halten wir politisch für inakzeptabel und verfassungsrechtlich für höchst bedenklich, meine Damen und Herren! ({2}) Die Impfstrategie ist ja nicht nur eine technische Frage. Es geht dabei nicht nur um Verfahrensfragen, um Fragen der Zuständigkeit oder um die Kostenübernahme. Es geht um die Festlegung der Reihenfolge, in der Menschen geimpft werden. Das ist eine wesentliche Entscheidung über Grundrechte von Menschen, wie ich soeben ausgeführt habe. Und das Grundgesetz sagt sehr, sehr klar: Über wesentliche Fragen von Grundrechtsrang muss das Parlament entscheiden. – Das steckt hinter dem Parlamentsvorbehalt. ({3}) Die Festlegung der Impfstrategie ist eine wesentliche, grundrechtsempfindliche Entscheidung. Deshalb sagen wir Freie Demokraten: Hier greift der Wesentlichkeitsgrundsatz. Hier greift der Parlamentsvorbehalt. Solche Fragen gehören ins Parlament, meine Damen und Herren! ({4}) Sie sahen sich heute genötigt, diese Aktuelle Stunde zu beantragen, weil die FDP ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst eingeholt hat ({5}) und morgen – vorgetragen von Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus – ein Impfgesetz in den Deutschen Bundestag einbringen wird, was eigentlich, Frau Kollegin Maag und Herr Kollege Dobrindt, die Aufgabe Ihrer Regierung gewesen wäre. ({6}) Ganz grundsätzlich täten die Regierungsfraktionen besser daran, die vielen weitreichenden Entscheidungen der Pandemiebekämpfung in dieses Parlament hineinzutragen. ({7}) Dass Koalitionsfraktionen ein Grundvertrauen in das Regierungshandeln haben, das hat etwas mit der funktionellen Rollenverteilung im Bundestag zu tun. Aber bei dieser Rollenverteilung kommen auch der Opposition und der Öffentlichkeit eine nicht zu unterschätzende Aufgabe und Rolle zu; ({8}) denn hier kreuzen Meinung und Gegenmeinung die Klingen, hier prallen Argument und Gegenargument aufeinander. ({9}) Und viele Unsicherheiten in der Bevölkerung und Gerüchte über Impfpflicht und Impfzwang, über die Sie, Frau Kollegin, schon gesprochen haben, entstehen gar nicht aus sachlichen Gründen. Sie entstehen, weil Aushandlungsprozesse für die Menschen undurchsichtig und intransparent sind. Wenn Menschen auch nur das Gefühl haben, etwas wird in Hinterzimmern entschieden, in Selbstgesprächen der Regierung oder in einer Art Nebenregierung namens Ministerpräsidentenkonferenz, dann ist für die Menschen nicht mehr erkennbar, an welcher Stelle ihre Interessen eigentlich vorkommen und in den Aushandlungsprozess einbezogen werden. Deshalb sollten auch Sie ein ureigenes Interesse daran haben, die Geländegängigkeit ihrer Argumente hier auf offener Bühne in der parlamentarischen Beratung zu erproben, meine Damen und Herren. ({10}) Eine Richtigkeitsgarantie haben auch Parlamentsgesetze nicht. Der Fortschritt der Wissenschaft schreitet voran, aber Änderungen im Gesetz, Frau Kollegin Maag, können wir hier genauso vornehmen wie die Regierung Änderungen in der Verordnung. Da gibt es keinen Unterschied. Wir sind es doch, die vor Ort verantworten müssen, was in Gesetzen steht. Wir als Abgeordnete bekommen doch die Briefe aus dem Wahlkreis von Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmern und Arbeitnehmern. Die Regierung ist manchmal ganz weit weg. Wir Abgeordnete werden vor Ort angesprochen, angerufen und angeschrieben. Wir sitzen dann im Wahlkampf auf dem Podium. Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehören diese Debatten in dieses Parlament. Ich danke Ihnen. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Gesine Lötzsch. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Impfen ist Vertrauenssache, und in einer solchen Krise ist Vertrauen die härteste Währung. Aber Vertrauen schafft man nur mit Transparenz und demokratischer Willensbildung in Parlamenten, also vor den Augen der Öffentlichkeit. Und das fordern wir ein! ({0}) Die Bundesregierung will uns mit einer Coronaimpfverordnung wieder vor vollendete Tatsachen stellen. So schaffen Sie nicht mehr Vertrauen. ({1}) Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat doch ganz klar gesagt: Eine solche Regelung ist Aufgabe des Parlamentes und nicht der Bundesregierung. Und wir haben doch schon so oft bewiesen in diesem Parlament, wie schnell es möglich ist, Gesetze zu beschließen. Das sollten wir auch in diesem Fall tun, meine Damen und Herren! ({2}) Denn ein demokratisches Gemeinwesen verträgt keine Geheimnistuerei. Wir brauchen jetzt mehr Transparenz und mehr offene Diskussionen, die auch Widersprüche zulassen. ({3}) Es werden ja auch Widersprüche aufgemacht und Stimmung gemacht. Die „Bild“-Zeitung zum Beispiel hat Stimmung gemacht und fordert eine schnelle Notzulassung des Impfstoffes. Davor können wir nur warnen. Wir sagen: Sicherheit geht vor Schnelligkeit, meine Damen und Herren! ({4}) Wir dürfen auch nicht übersehen, dass es Impfskepsis in unserem Land gibt. Ich gehöre ausdrücklich nicht zu den Skeptikern, aber ich möchte möglichst viele Menschen überzeugen. Ansonsten ist die Impfung ja für viele wirkungslos. Wir brauchen viele, die sich impfen lassen wollen, meine Damen und Herren! ({5}) Wir dürfen auch in dieser Diskussion nicht übersehen, dass die Hauptlast der Pandemie die Menschen tragen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Sie sehen vor Ort, wie das Gesundheitswesen in den letzten Jahren kaputtgespart worden ist, wie vieles auf Profit ausgerichtet wurde. Das muss sich jetzt endlich ändern, meine Damen und Herren! ({6}) Die Hauptlast im Gesundheitswesen tragen die Krankenschwestern und Pflegerinnen und Pfleger. Es sind in der Mehrheit Frauen, die sich besonders häufig wegen ihrer Arbeit anstecken und hart von der Krankheit getroffen werden. Sie müssen wir schützen. Umfassend, schnell und nachhaltig, meine Damen und Herren! ({7}) Und: Wir wissen doch alle, die Pharmaindustrie handelt nicht uneigennützig. Es ist ein Markt, nicht nur von Millionen, sondern von Milliarden Euro. Darum brauchen wir eine Bundesregierung und vor allen Dingen auch eine EU-Kommission, die entschieden die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertritt. ({8}) Aber was erleben wir? Die EU-Kommission will die Verträge mit Pharmaunternehmen mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis nicht offenlegen. Ich denke, wir dürfen niemals hinnehmen, dass Geschäftsgeheimnisse von Konzernen schwerer wiegen als das berechtigte Informationsinteresse der Bevölkerung. ({9}) Es kann doch nicht sein, dass Hunderte Millionen öffentlicher Mittel in die Entwicklung und Produktion von Impfstoff investiert werden und wir dann mit dem Schlagwort „Geschäftsgeheimnisse“ abgespeist werden sollen. Das werden wir niemals hinnehmen, meine Damen und Herren! ({10}) Die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, fordert, die Priorisierung, also die Reihenfolge der Impfungen, medizinischen, ethischen und rechtlichen Prinzipien folgen zu lassen. Das ist richtig. Aber ich möchte noch ein Kriterium hinzufügen, nämlich das soziale. ({11}) – Selbstverständlich, natürlich. Das ist richtig. – Eine Studie des Universitätsklinikums Düsseldorf zeigt: Ärmere Menschen sind besonders stark von Covid-19 betroffen, und Menschen, die Hartz IV beziehen, hatten ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko, mit der Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden zu müssen. Wenn also jetzt die Frage gestellt wird, wer zuerst geimpft werden muss, dann sagen wir: Wir müssen auch die Menschen schützen, die in prekären Verhältnissen wohnen und arbeiten. Das muss unstrittig sein, meine Damen und Herren! ({12}) Und unstrittig ist doch auch: Wer jeden Tag im Homeoffice wichtige Coronaverordnungen schreibt, ist nicht an erster Stelle gefährdet, sich anzustecken. Viel gefährlicher ist es für Menschen, deren Beruf es erfordert, täglich andere zu treffen, wie Busfahrerinnen, Verkäufer, Paketboten. Auch geflüchtete Menschen, die sich in Massenunterkünften befinden, sind besonders gefährdet. Diese müssen wir schützen, und zwar in unser aller Interesse, meine Damen und Herren! ({13}) Und, meine Damen und Herren, wir wollen eine solidarische Globalisierung. Es kann nicht die Idee sein, dass Impfdosen, die in Deutschland und in der EU nicht gebraucht werden, armen Staaten zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen einen ethischen und einen sinnvollen Weg; denn allein die Kühllogistik, die man für den Impfstoff, der jetzt in Rede steht, braucht, ist in vielen ärmeren Ländern überhaupt nicht möglich. Darum müssen wir die Entwicklung von Impfstoffen fördern, die auch bei 30 Grad in der Sonne funktionieren. Eine Voraussetzung dafür ist, dass endlich der Patentschutz aufgehoben wird, damit auch ärmere Länder den Impfstoff kostengünstig herstellen können. So geht solidarische Globalisierung. Dafür steht Die Linke. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Gesine Lötzsch. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Janosch Dahmen. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die rasante Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs gegen das SARS-CoV-2-Virus ist ein beeindruckender Erfolg der Wissenschaft und ein Zeichen für eine funktionierende internationale Forschungszusammenarbeit. Zum ersten Mal wurde in so kurzer Zeit ein sicherer und wirksamer Impfstoff gegen ein neuartiges Virus entwickelt. Als Arzt kann ich Ihnen versichern, dass die Impfung das effektivste Mittel zum Schutz der Menschen vor einem Virus ist. ({0}) Deshalb möchte ich zuallererst den Forscherinnen und Forschern meine große Anerkennung aussprechen. Danke für diese herausragende wissenschaftliche und medizinische Leistung! ({1}) Der Impfstoff ist auf lange Sicht gewiss der zentralste Baustein im Kampf gegen die Coronapandemie. Daran besteht kein Zweifel. Aber ich warne ausdrücklich davor, den Beginn der Impfung zum Sieg über das Virus zu verklären. ({2}) Nur weil der Impfstoff da ist, ist das Coronavirus nicht plötzlich weg. Die Verfügbarkeit von Impfstoff zeigt ein Licht am Ende des Tunnels; aber wir sind eben noch nicht am Ende des Tunnels. Wir haben noch eine ziemlich lange Durststrecke vor uns, und für diese Zeit brauchen wir ein realistisches Erwartungsmanagement. ({3}) Es wird Monate dauern, bis eine Mehrheit der Impfwilligen tatsächlich geimpft ist. Das heißt eben auch: Wir brauchen eine mittelfristige Strategie für die Phase zwischen Verfügbarkeit und Verimpfung der Impfstoffe bis zum Erreichen einer adäquaten Impfquote. ({4}) Diese Übergangsstrategie sollte meiner Meinung nach aus drei Bausteinen bestehen: Erstens: Testen. Wir müssen Schnelltests großflächig, aber zielgerichtet einsetzen. Zweitens: Nachverfolgung. Wir müssen die Gesundheitsämter endlich durch eine Zwischenebene im Krisenmanagement entlasten, damit sie die Kontaktnachverfolgung auch bei hohen Zahlen besser bewältigen können. ({5}) Hier sollten wir auch dringend längst überfällige Nachbesserungen bei der Corona-Warn-App vornehmen, um eine wirkliche Nachfolgerung möglich zu machen. ({6}) Drittens: Schutzmaßnahmen. Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern jetzt eine ehrliche und mittelfristige Perspektive durch klare Risikostufen geben, welche Maßnahmen ab welchem Risikoniveau wo in Deutschland greifen. ({7}) Also, liebe Kolleginnen und Kollegen: Testen, Tracing und Schützen – das sind die wichtigsten Bausteine für die Zeit zwischen Shutdown und Impfschutz. Der Impfstoff ist ein enormer Fortschritt, aber er ist eben leider auch kein Zauberstab. ({8}) Deswegen brauchen wir so dringend eine systematische nationale Strategie für die kommenden Monate mit klaren Risikostufen. „Einheitlichkeit ohne Gleichzeitigkeit“ lautet hier die Losung. ({9}) Ich warne ausdrücklich davor, die Impfung nur als logistisches Problem zu sehen. Nein, Impfen ist in allererster Linie eine kommunikative Herausforderung. Eine Umfrage von heute zeigt, dass sich aktuell weniger als 50 Prozent der Bevölkerung impfen lassen wollen. Im Frühjahr waren es noch fast 80 Prozent. Das heißt, nicht nur die Bundesregierung, sondern wir alle hier im parlamentarischen Prozess, als Multiplikatoren in die Gesellschaft, müssen sagen: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger von der Wichtigkeit dieser Impfung gemeinsam überzeugen. ({10}) Die hohe Anzahl an Impfzentren nützt wenig, wenn die Impfbereitschaft der Menschen niedrig ist. Wir werden nur dann viele Menschen mit dem Impfstoff immunisieren können, wenn wir den Impfstoff selbst gegen Misstrauen immunisieren. ({11}) Ich muss als jemand, der bis vor wenigen Wochen mit der Beatmung, mit der Versorgung von Notfall- und Intensivpatienten zu tun hatte, ganz ehrlich sagen: Es ärgert mich nicht nur, sondern macht mich fassungslos, wenn hier mit Halbwahrheiten und Schreckensgeschichten der Impfstoff in den Dreck gezogen werden soll und es letztlich mehr darum geht, Verschwörungstheorien in Telegram-Gruppen zu bedienen, als Aufklärung zu betreiben, als Verantwortung zu übernehmen. Ich muss ehrlicherweise sagen: Solch einer Haltung sollten wir uns entgegenstellen. Sie setzen Menschenleben in diesem Land aufs Spiel. Angesichts von 1 000 Toten heute kann ich das nicht mehr verstehen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur gemeinsam und mit einem transparenten und vertrauensvollen Umgang mit diesem Impfstoff erreichen wir wirklich das Ziel. Wir müssen auch über Nebenwirkungen sprechen, die zwar selten und auch nicht schwer sind, die aber vorkommen. Wir sollten hier ehrlich bleiben und die Menschen mitnehmen. Ich sage Ihnen: Nur durch Ehrlichkeit, Transparenz und Aufklärung werden wir weiterkommen. ({13}) Neben einer vertrauenschaffenden Kommunikation und funktionierenden Logistik brauchen wir für die Impfstrategie noch weitere Komponenten, und zwar ein Monitoring, das funktionieren muss. Die Impfung findet ja nicht wie gewohnt in Hausarztpraxen statt, sondern in Impfzentren. Damit fallen die eingeübten Erfassungssysteme aus. Diese sind aber notwendig, um zu überprüfen, ob wir die anvisierte Impfquote erreichen oder nicht. Zum Monitoring gehört außerdem, dass wir mit den Geimpften in Kontakt bleiben. Jeder und jede Geimpfte muss wissen, an wen er oder sie sich wenden kann, wenn er oder sie eine Unverträglichkeit oder ein Problem hat. Auch das sind vertrauensbildende Maßnahmen. Hier müssen wir konsequent sein; denn Vertrauen der Menschen ist bei dieser großangelegten Impfkampagne unsere allerwichtigste Ressource. Das sollten und dürfen wir nicht durch Fehler in der Vorbereitung aufs Spiel setzen. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Janosch Dahmen. – Jetzt hat das Wort für die Bundesregierung Minister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind gerade harte, schwierige Zeiten für viele Menschen in Deutschland. 952 Tote, die binnen 24 Stunden aufgrund von Corona gemeldet worden sind: Als wollte uns dieses Virus am Tag der zusätzlichen Einschränkungen, des verstärkten Lockdowns, des Herunterfahrens unserer Gesellschaft daran erinnern, wie wichtig es ist, was wir jetzt tun, nämlich dass es darum geht, Kontakte zu reduzieren und die Infektionsdynamik zu brechen, es diesem Virus im Alltag so schwer zu machen, wie es eben geht, um Gesundheit zu schützen und Leben zu retten. Es sind schwierige Tage und gleichzeitig Tage, die auch Anlass für Zuversicht geben, für Hoffnung, weil Licht am Ende des Tunnels ist. Das ist nicht nur Pfeifen im Walde, sondern begründete Hoffnung mit Blick auf den Impfstoff – ein Impfstoff, der so schnell da war wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte bei einem neuen Virus. Impfen ist Fortschritt; das sehen wir bei diesem Impfstoff. Und es ist auch eine deutsche Erfolgsgeschichte, dieser erste Impfstoff aus Mainz. Auch das darf uns hier im Deutschen Bundestag ein Stück stolz machen: dass dieser Impfstoff aus Deutschland für die Welt zusätzlich Gesundheit und Sicherheit gibt. ({0}) Da wundere ich mich schon über manche Debatte dieser Tage, zum einen über die Frage der Zulassung. Wir haben uns sehr bewusst, übrigens schon vor längerer Zeit, gegen eine Notzulassung und für den Weg einer ordentlichen Zulassung entschieden. Nichts ist wichtiger, gerade beim Impfen, als Vertrauen. Der Weg zur Zulassung, der Weg, wie geprüft wird, dass ordentlich und gründlich geprüft wird, dass es weltweit die erste ordentliche Zulassung für diesen Impfstoff gibt, ist das Ergebnis einer sehr bewussten Entscheidung. Es ist zweitens eine gemeinsame Entscheidung, diesen Weg europäisch zu gehen. Denn ja: Frankreich, Deutschland, die Niederlande, jedes Land hätte ohne Zweifel auch alleine den Impfstoff beschaffen können, fördern können, zulassen können. Aber wir haben uns sehr bewusst entschieden, diesen Weg europäisch gemeinsam zu gehen. Das Wir ist stärker als das Ich: Das gilt in dieser Pandemie im Alltag, beim Aufeinanderachtgeben; das gilt aber eben auch in der europäischen Solidarität. Wir beschaffen diesen Impfstoff zusammen, damit alle 27 ihn zum gleichen Zeitpunkt zur Verfügung haben. Wir fördern gemeinsam die Entwicklung, und wir sorgen auch für eine gemeinsame Zulassung im besten europäischen Geist. ({1}) Die Impfstrategie, die Ihnen vorliegt, die Nationale Impfstrategie der Bundesregierung, die wir dem Bundestag schon vor einiger Zeit zur Verfügung gestellt haben und die immer weiterentwickelt wird, legt klar dar, wer für was zuständig ist: Der Bund beschafft, organisiert den Rahmen, setzt auch den rechtlichen Rahmen; die Länder und die Kommunen organisieren im föderalen Miteinander die Impfzentren, die mobilen Teams, die konkrete Impfung zusammen mit vielen unterstützenden Händen vor Ort. Sie sind im Übrigen jetzt auch für die Erstimpfung zuständig, für die Terminvergabe – all das in einem föderalen Miteinander mit Unterschieden zwischen den Ländern, immer auch angepasst an die jeweilige geografische und demografische Situation. Es ist also klar, wer was macht. Es ist auch wichtig, Klarheit darüber zu schaffen, wer zuerst geimpft wird. Denn ja: Wir werden am Anfang nicht ausreichend Impfstoff für alle haben, die geimpft werden wollen. Herr Kollege, der Deutsche Bundestag hat eine gesetzliche Grundlage mit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz gelegt; sonst könnten wir als Bundesregierung gar nicht agieren. Und er hat dabei auch priorisiert, nämlich insbesondere besonders Verwundbare, insbesondere die Älteren, insbesondere diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten, insbesondere diejenigen, die für das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung zuständig sind. Diese vier Kriterien, diese vier Gesichtspunkte, diese vier Gruppen hat der Deutsche Bundestag ins Gesetz geschrieben und gleichzeitig gesagt: Für die weitere Ausgestaltung gibt es ein transparentes Verfahren. – Ich meine, während wir die Debatte führen, beklagen Sie sich, dass wir die Debatte nicht führen. ({2}) Es handelt sich also um ein transparentes Verfahren – auch klar beschrieben – mit Stellungnahmen der STIKO, der Ständigen Impfkommission, die wir – ich war selbst in der Sondersitzung des Ausschusses für Gesundheit nur zu diesem Thema dabei – gemeinsam diskutiert und erörtert haben, wie auch heute Morgen noch einmal. Ich habe mich übrigens sehr bewusst entschieden, die Rechtsverordnung erst nach den Bundestagsdebatten heute und morgen zu unterzeichnen, weil ich es wichtig finde, auch die Debatte mit einfließen zu lassen. Aber bei allem Verständnis für die Frage nach der Grundlage habe ich den Eindruck, dass es eine sehr, sehr große Mehrheit hier im Deutschen Bundestag und in der Gesellschaft dafür gibt, wie es auch wissenschaftlich hergeleitet ist, ({3}) die besonders Verwundbaren, die Älteren, die Menschen in den Pflegeheimen, die über 80-Jährigen, diejenigen, die sie pflegen und unterstützen, zuerst zu impfen. ({4}) Da gibt es in dieser Frage einen großen Konsens in Deutschland, und das ist auch gut. Das alles ist auch transparent hergeleitet. Die Experten der Ständigen Impfkommission haben uns dargelegt, welchen Unterschied es macht, diese Gruppe oder jene Gruppe zuerst zu impfen im Hinblick auf die Zahl von Hospitalisierungen, auf die Belastungsgrenze der Intensivmedizin, auf die Frage, wie viele Todesfälle aus Infektionszahlen bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe entstehen können. Und deswegen ist das genau der richtige Ansatz: eine gesetzliche Grundlage, ein transparenter Prozess auf wissenschaftlicher Basis – übrigens auch gesetzlich beschrieben mit Stellungnahmen, die dann einfließen – und am Ende eine Entscheidung, legitimiert durch den Bundestag, durch die Bundesregierung, die dann auch an die jeweilige Lage angepasst wird. Das heißt also, in diesen schweren Tagen, in denen uns das Virus noch einmal sehr klar vor Augen führt, wie hart es zuschlagen kann, gerade in den Alten- und Pflegeheimen, wie gefährlich es gerade für die Älteren ist, gibt es gleichzeitig auch Anlass zur Zuversicht. Impfen ist der Weg raus aus dieser Pandemie, und wir sind auf diesen Weg gut vorbereitet. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kotré von der AfD-Fraktion. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Spahn, die von Ihnen eben zitierte öffentliche Ordnung, die stören Sie ja. Sie erlassen Gewerbeverbote, und Sie schränken die bürgerlichen Freiheiten ein, obwohl Sie selber ja noch gesagt haben: Das nutzt gar nichts, das wird nichts bringen. – Sie selber haben gesagt: „Nein, es war völlig kontraproduktiv, Friseursalons und den Einzelhandel zu schließen“, machen aber jetzt genau das Gegenteil, genau wie die Bundesregierung und die Länder auch. Da frage ich mich schon, was hier vorgeht. ({0}) Kommen wir zum Impfstoff. Ja, es wäre sehr schön, wenn wir einen guten Impfstoff hätten. Allein, wir haben Zweifel daran. Bei einer herkömmlichen Impfung werden geschwächte Erreger initiiert, ({1}) und der Körper lernt, Abwehrmechanismen aufzubauen. Die Testphase dauert so sechs bis zehn Jahre, meine Damen und Herren. Das ist der notwendige Standard, der jetzt aber nicht eingehalten wird. ({2}) Nebenwirkungen können eben aus meiner Sicht bis heute aktuell noch nicht ausgeschlossen werden, und die Wirksamkeit ist für uns noch nicht ganz klar ersichtlich. Dieses Verfahren ist eben auch ein Verfahren, das in die Gene eingreift, also ein gentechnisches Verfahren. Wir haben es also eher mit einem Experiment zu tun denn mit einer Impfung. ({3}) Den Menschen da draußen müssen Sie mal erklären, warum ihre Angst unbegründet ist. Für mich ist klar: Diese Angst besteht, und zwar aus den genannten Gründen. Weil wir diesen Impfstoff im Prinzip nicht ausgereift vorliegen haben, sollten wir ihn aus meiner Sicht nicht so schnell anwenden. Bitte überzeugen Sie mich vom Gegenteil. ({4}) Ich würde mich gern vom Gegenteil überzeugen lassen. ({5}) Die Impfschäden sind ja leider Realität. Die haben wir in der Vergangenheit auch gehabt; das kommt ja nicht vom Himmel geflogen. Das Robert-Koch-Institut hat ja schon vor zehn Jahren bei der Schweinegrippe maßlos übertrieben, hysterisch übertrieben, und genau die gleiche Hysterie gibt es nun im Zusammenhang mit Corona. Ja, Corona ist schwerwiegend, schwerwiegender als eine normale Grippe. Aber wir kommen mit Hysterie hier nicht weiter. ({6}) Wenn gerade die Menschen im Gesundheitssystem sich überproportional nicht impfen lassen wollen, dann spricht das doch Bände. Die müssen das doch wissen. Gibt Ihnen das nicht zu denken? An dieser Stelle warne ich auch vor einem Impfzwang. ({7}) Gut, heute wurde gesagt: Der kommt nicht. ({8}) Aber es droht ein faktischer Impfzwang, nämlich von Unternehmen, die Menschen nicht bedienen wollen, die nicht geimpft sind. Da fordere ich den Gesetzgeber auf, hier durchzugreifen. Unternehmen dürfen hier keinen faktischen Impfzwang verhängen, meine Damen und Herren. ({9}) Am Jahresende werden es 20 000 bis 30 000 Menschen sein, die mit oder an Corona – wir wissen es nicht – gestorben sind. Das RKI hat ja gesagt, man will die Todesfälle nicht weiter untersuchen. Schade eigentlich, sonst würden wir hier mehr wissen. Wir haben pro Jahr circa 10 000 bis 20 000 Tote aufgrund von multiresistenten Krankenhauskeimen. Hier geht es aber eben auch ohne Hysterie ab, und wir lösen das Problem ohne Hysterie. Oder nehmen Sie die Grippetoten in den Jahren 2017/2018. Das war etwa die gleiche Anzahl. Da ging es auch ohne Hysterie. Wir sagen an dieser Stelle: Wir wollen das Ganze eben ohne Hysterie begleitet sehen. Wir kennen die Risikogruppen. Wir wissen aber mittlerweile aus der Studie der Ludwig-Maximilians-Universität, dass eben in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen eine Untersterblichkeit besteht. Wo hören wir das denn schon mal? So was hören wir eben nicht. Es wird eine Hysterie geschürt, die wir ablehnen. Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass wir differenzieren, meine Damen und Herren, je nach Situation, je nach Bedürfnissen. ({10}) Die Coronamaßnahmen müssen ebenso differenziert sein: Die Risikogruppen schützen – ja –, dem Rest der Bevölkerung aber nicht die Freiheit nehmen. Das Gewerbeverbot ist völlig sinnlos und hat keinen Einfluss auf Corona. Wir sehen das am Beispiel von Schweden. Schweden steht sogar besser da, was die Anzahl der Coronatoten anbelangt, ({11}) und hat eben keine Gewerbeverbote, meine Damen und Herren. ({12}) Man steckt sich zu Hause an, bei den Familien und am Arbeitsplatz, aber nicht beim Friseur und auch nicht bei kulturellen Veranstaltungen, zumal dort ja auch Hygienekonzepte greifen. In diesem Zusammenhang können wir diese schwerwiegenden Eingriffe, die die persönliche Freiheit und die Gewerbefreiheit durch eine vom Grundgesetz nicht legitimierte Kungelrunde der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin einschränken, durchaus als Coronadiktatur bewerten, meine Damen und Herren. ({13}) Was sehen wir? Wir sehen, dass wir massenhaft Unternehmen in die Pleite treiben werden. Wir sehen, dass wir massenhaft mehr Arbeitslose haben werden und wir das Bruttoinlandsprodukt um 6 bis 10 Prozent senken. Die EZB rechnet damit, dass Kredite im Umfang von bis zu 1,4 Billionen Euro platzen werden. Das sind alles Dinge, die wir gar nicht haben müssten, wenn man differenzieren und vor allen Dingen ideologiefrei agieren würde. ({14}) Das ist aber leider mit dieser Bundesregierung und mit den Ländern nicht zu machen. Diese Maßnahmen schädigen die Wirtschaft weiter. Es gibt zwar Geld vom Staat. Das wird aber einfach gedruckt. ({15}) Wir werden Inflation haben. Wir werden Zombieunternehmen sehen, und wir werden schrittweise gegenüber anderen Regionen in der Welt wirtschaftlich zurückfallen. Unser Wohlstand wird weiter massiv geschädigt, mehr noch, als wir das bisher auch gesehen haben.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Kommen Sie bitte zum Ende. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir sagen Nein zum Impfzwang, Nein zu Gewerbeverboten und Einschränkungen der persönlichen Freiheit, aber Ja zum wirksamen Schutz der Risikogruppen. Danke schön. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an die Bundesministerin Anja Karliczek. ({0})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass es sich bei Covid-19 nicht um eine schlichte Grippe handelt, kann man, glaube ich, in den Krankenhäusern sehen. Das, finde ich, ist hier viel zu wenig gewürdigt worden. Wir haben es heute mit einer Situation zu tun, wie wir sie noch nicht erlebt haben. Ich glaube, über diese Dimension muss man sich langsam im Klaren sein. ({0}) Bei aller Diskussion, die wir hier um die nationale Impfstrategie führen, sollten wir an allererster Stelle einmal dankbar und erleichtert sein, dass wir demnächst wahrscheinlich impfen können und dass die Entwicklung von Impfstoffen mit massiver Unterstützung der Bundesregierung so schnell erfolgreich war. In diesem Land haben sich Firmen und Wissenschaftler mit all ihrem Können, mit all ihrer Kraft der Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 gewidmet, und sie sind sichtbar erfolgreich. Noch nie waren Unternehmen so schnell bei der Entwicklung von Impfstoffen. Und dass jetzt ein deutsches Unternehmen zusammen mit einem amerikanischen einen der ersten Impfstoffe der Welt auf den Markt gebracht hat, darf uns als Land auch ein klein wenig stolz machen. ({1}) Einigen geht die Zulassung des Impfstoffes nicht schnell genug. Es geht aber nicht um nationale Wettläufe. Für die Bekämpfung der Pandemie ist es wichtig, dass der Impfstoff Vertrauen genießt; Herr Kollege Spahn hat das eben auch schon klargemacht. Er muss sicher sein, er muss wirksam sein, und genau darauf muss Verlass sein. Deswegen ist das Prüfniveau qualitativ so, wie es eben auch sonst üblich ist bei der Zulassung von Impfstoffen. Erst wenn zweifelsfrei Sicherheit und Wirksamkeit geklärt sind, wird ein Impfstoff zugelassen. Das ist die Voraussetzung für das Vertrauen der Menschen und die Voraussetzung dafür, dass sich ausreichend viele Menschen impfen lassen wollen. Darauf kommt es an, wenn wir die Pandemie überwinden wollen. ({2}) Nach der Zulassung des Impfstoffs werden weiter Sicherheit und Wirksamkeit kontinuierlich überprüft, und weitere Probandengruppen wie Kinder und Schwangere werden in die Prüfungen eingeschlossen. Fragen werden gestellt: Wie lange wirkt die Impfung? Schützt sie auch gegen die Weitergabe des Virus an Dritte? All das wird in den nächsten Monaten weiter ganz genau erforscht. Dabei geht es auch nicht nur um einen Impfstoff. Um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, brauchen wir mehrere Impfstoffe. Der Bedarf ist weltweit groß. Es kann Unterschiede geben bei Verträglichkeit und Wirksamkeit für bestimmte Personengruppen. Vielleicht ist einer besonders gut für ältere Menschen geeignet, ein anderer für eine bestimmte andere Risikogruppe. Darum: Je breiter das Angebot ist, desto besser. Wir haben von Beginn an als Bundesregierung auf verschiedene Impfstoffkandidaten gesetzt. Drei deutsche Unternehmen haben davon profitiert. Neben BioNTech sind das CureVac und IDT Biologika. Auch von CureVac gibt es in diesen Tagen vielversprechende Nachrichten. CureVac plant in den nächsten Tagen den Start einer großen klinischen Phase-III-Prüfung. Das Paul-Ehrlich-Institut hat sie schon genehmigt. 36 000 Probanden sollen daran teilnehmen, und zwar in elf verschiedenen Ländern. Wir hoffen, dass alle drei deutschen Firmen ihre Impfstoffkandidaten bis zur Zulassung bringen. Denn man kann mit Fug und Recht sagen: Impfen zu können, gehört zu den größten Errungenschaften der Gesundheitsforschung. ({3}) Und trotzdem ist auch mit einem Impfstoff nicht alles gut. Wir werden noch eine Weile mit der Pandemie leben müssen, und das heißt auch mit Patienten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen. Für sie brauchen wir Medikamente. Die Forschung hat in den vergangenen Monaten überprüft, ob vorhandene Arzneimittel gegen Covid-19 wirken. Die Ergebnisse waren überwiegend ernüchternd. Parallel haben Forscher daran gearbeitet, neue Medikamente zu entwickeln. Die Entwicklung dieser Medikamente werden wir kurzfristig nochmals fördern, so wie wir es bei der Impfstoffentwicklung getan haben; denn Medikamente sind ein wichtiger Bestandteil einer Therapie. Behandlungsdaten zu erheben, schafft ebenfalls spürbaren Fortschritt für die Patienten. In einem Projekt des Netzwerks Universitätsmedizin werden Behandlungsdaten von 36 000 Patienten erhoben und zusammengeführt. Damit bekommen wir weitere Erkenntnisse zum Verlauf der Krankheit und ihrer Behandlung: Best-practice-Wissen, damit die Menschen in Deutschland, in München wie in Dresden, in Flensburg wie in Aachen, die gleichen Chancen auf gute Behandlung haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, 2020 hat uns sehr bewusst gemacht, dass wir als Land und in Europa für die Zukunft eine bessere Präventionsstrategie benötigen. Dazu gehört aus meiner Sicht der Aufbau eines schlagkräftigen europäischen Förderregimes in der Gesundheitsforschung. Konkret brauchen wir eine europäische Agentur für die Medikamenten- und Impfstoffentwicklung – nach dem Vorbild einer BARDA in den USA. Herzlichen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Heike Baehrens von der SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorrang für die Pflege – das ist die klare Botschaft der Ständigen Impfkommission. Nicht Bevorzugung ist das, auch nicht Privilegierung, nein: Vorrang. Wohl begründet, im öffentlichen Diskurs und transparent ist die STIKO zu dem klaren Ergebnis gekommen, dass die Älteren in unserem Land und alle, die in der Pflege arbeiten – in Krankenhäusern, in stationären oder ambulanten Pflegeeinrichtungen –, als Erste die Möglichkeit erhalten sollen, sich impfen zu lassen. Das ist richtig so. ({0}) Denn sie sind seit Monaten einer extremen Belastung ausgesetzt und leisten ihre wichtige Arbeit ständig in der Sorge, womöglich selbst das Virus zu verbreiten oder die eigene Gesundheit zu gefährden. Das klare Votum der STIKO unterstreicht den hohen Stellenwert der Beschäftigten in der Pflege und ihre Schlüsselrolle im Gesundheits- und Infektionsschutz. Während die meisten von uns sich nun langsam auf die Weihnachtsfeiertage einstimmen, wird das Personal in Pflegeheimen, in den Krankenhäusern und in den ambulanten Diensten weiter unter Stress stehen. Tag und Nacht, auch an den Feiertagen, werden sie weiter zuverlässig Menschen versorgen und auch um das Leben von Menschen ringen. Voller Sorge blicke ich auf die nächsten Wochen; denn die Zahl der schwer Erkrankten steigt stark. In Pflegeeinrichtungen nimmt die Virusbelastung zu, und Personalengpässe werden sich weiter verschärfen. Erst heute Morgen hat die Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, im „Morgenmagazin“ angesichts dieser Lage in einem dringenden Appell ehemalige Kolleginnen und Kollegen dazu aufgerufen, sich zur Verfügung zu stellen und das Gesundheitssystem zu unterstützen. ({1}) Da erhält das Wort „Notbetreuung“ eine vertiefte Bedeutung; denn es wird vor allem darauf ankommen, Fachkräfte zu schützen und zu unterstützen. Es muss klar sein: Diejenigen, die Kinder haben, müssen sich darauf verlassen können, dass diese gut aufgehoben sind, auch dann, wenn dies in der Familie gerade in dieser Zeit und über die Feiertage womöglich nicht gestemmt werden kann. Darum appelliere ich ausdrücklich und nachdrücklich an die Länder und Kommunen: Sorgen Sie vor! Überlegen Sie gemeinsam mit Ihren Krankenhäusern und Pflegeanbietern, was gebraucht wird. Entwickeln Sie Betreuungsangebote ohne große Hürden, aber in guter Qualität. Denn in vielen Regionen zeichnet sich ab, dass wirklich jede Kraft gebraucht wird. Es ist ein sehr gutes Signal, dass nun bald geimpft werden kann. Ich denke, es macht uns allen Hoffnung. Ich wünsche mir sehr, dass diejenigen, die in der Pflege arbeiten, diese Chance nutzen und unsere Impfzentren so schnell wie möglich aufsuchen und sich impfen lassen. Wenn die mobilen Impfteams zum Einsatz kommen – was mit Sicherheit eine große logistische Herausforderung darstellt –, dann, denke ich, wird es weiter vorangehen. Ich hoffe, dass es gelingt, möglichst vielen Menschen diese Impfung zeitnah zukommen zu lassen. ({2}) Christine Vogler hat übrigens an uns alle einen Appell gerichtet und klargemacht, wie jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, kranke und alte Menschen, seine Familie und vor allem das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu schützen, nämlich indem wir uns an die Regeln halten: indem wir Maske tragen, Hände waschen und zu Hause bleiben, wo immer das möglich ist. Das sind doch ganz einfache Dinge, die wir alle beherzigen können. Die Pflege schützt uns – lassen Sie uns gemeinsam die Pflege schützen. Der Vorrang der Pflege bei der Impfstrategie ist richtig und klug. Ich denke, Pflege braucht auch in Zukunft Vorrang in der Politik. Vielen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Danke schön. – Das Wort geht an den Ministerpräsidenten Michael Kretschmer als Vertreter des Bundesrates. ({0})

Michael Kretschmer (Gast)

Politiker ID: 11003572

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland als Rechtsstaat und Demokratie hat zu Recht versucht, zunächst einmal mit milderen Mitteln diese große Pandemie, mit der wir wenig Erfahrung hatten und die uns alle extrem fordert, zu bekämpfen: mit Kontaktbeschränkungen, mit Ermahnungen an die Bevölkerung und mit dem Schließen von einzelnen Wirtschaftsbereichen. Aber es hat nicht gereicht. Das große Ziel, dass Kindergärten und Schulen offen bleiben sollten, weil sie so wichtig für die Bildung und die Entwicklung sind, haben wir nicht erreicht. Das zweite Ziel – und das ist eben nicht verhandelbar – ist die Gewährleistung der medizinischen Versorgung. Dass zu jedem Zeitpunkt jeder, der in diesem Land in Not geraten ist – sei es wegen Covid-19, eines Verkehrsunfalls, eines Schlaganfalls oder anderer Dinge –, medizinisch versorgt werden kann, muss gewährleistet sein. ({0}) Die Bundesregierung und die Bundesländer haben deshalb gemeinsam vereinbart, dieses Land mit dem heutigen Tag zur Ruhe zu bringen und dafür zu sorgen, dass es nur noch ganz wenige und wirklich absolut notwendige Kontakte gibt. Das ist uns nicht leichtgefallen; aber wir haben mit Blick auf die Krankenhäuser gesehen, wie dramatisch die Situation ist. Wir brauchen gerade jetzt, in den kommenden Wochen über Weihnachten und über den Jahreswechsel, einen großen Schulterschluss. Sie haben es gesagt: Viele Menschen sind aufgerufen, in den Krankenhäusern und in den Pflegeheimen freiwillig mitzuhelfen. – Wir brauchen dieses Engagement. Wir brauchen das Engagement der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die in diesem Jahr mehr gefordert sind als in anderen Zeiten, damit eben nicht so viele Menschen ins Krankenhaus kommen. Und wir sind dankbar für die große Unterstützung der deutschen Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Jahr Übermenschliches geleistet haben. Einen herzlichen Dank an die Bundeswehr! ({1}) Was die Kameradinnen und Kameraden alles gemacht haben für ihr Land, das kann man in so einer Rede gar nicht ausdrücken. Meine Damen und Herren, so viele Menschen wachsen in dieser Zeit über sich hinaus, in den Pflegeheimen, in den Krankenhäusern. Wir sind dabei, die Impfzentren aufzubauen. Die Bundesländer arbeiten engagiert daran. In jedem Landkreis soll es ein Impfzentrum geben. Die Kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammern engagieren sich, auch die ganzen Freiwilligenorganisationen, vom DRK über die Malteser bis hin zum Technischen Hilfswerk. Es sind schwierige Entscheidungen gewesen, die wir alle in diesem Jahr miteinander treffen mussten, die auch Sie als Volksvertreter hier im Deutschen Bundestag getroffen haben. Ich bin auch deswegen hierhergekommen, um das einmal zu würdigen; denn die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und auf der kommunalen Ebene – über Parteigrenzen hinweg – ist etwas Beeindruckendes für mich. Das hat dieses Land durch diese schwere Zeit gebracht. Wir stehen zusammen über Parteigrenzen hinweg. Wer diese Debatte heute verfolgt hat, der weiß nicht nur, wer intelligent ist, sondern auch, wer es gut mit diesem Land meint und wer nicht. – Ihnen einen herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({2}) Die Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung sind kein Klüngelkreis, sondern sie sind Ausdruck der Verantwortung, die Menschen über Parteigrenzen hinweg in diesem Land für ihr Land, für die Menschen haben. Jede der Vereinbarungen, die in diesem Kreis getroffen worden sind, bedurfte einer parlamentarischen Legitimation, hier bei Ihnen oder in den Landtagen. Aber dass es in Deutschland möglich ist, so zusammenzusitzen, unterscheidet uns von anderen Ländern, beispielsweise auch von unserem polnischen Nachbarn, und das macht uns stark. Sie, meine Damen und Herren, haben durch Ihre Entscheidungen geholfen, dass dieser Impfstoff jetzt unmittelbar zur Verfügung steht. Sie haben dafür gesorgt, dass vielen Unternehmern und Selbstständigen geholfen werden kann. Sie haben dazu beigetragen, dass die Kultur in diesem Land nicht vor die Hunde geht, sondern eine Chance hat, dass es weitergeht. Und dafür gebührt Ihnen und Ihren Kollegen in den Landtagen ein großer Dank. Wir dürfen uns das von niemandem, von wirklich niemandem zerreden lassen – von keinem Dummredner, von keinem Querredner, von niemandem. Dieses Land ist stark wegen seiner parlamentarischen Demokratie. Herzlichen Dank. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort hat Martina Stamm-Fibich von der SPD-Fraktion. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als wir im März dieses Jahres zum ersten Mal über die Coronapandemie diskutiert haben, konnten wir nicht absehen und auch nicht ahnen, dass wir am Ende des Jahres über einen zugelassenen Impfstoff gegen das Coronavirus verfügen würden. Jetzt ist es so gekommen. Ich persönlich kann sagen: Für mich ist das wie ein Weihnachtsgeschenk. Ich habe es nicht zu hoffen gewagt. Dass wir heute an dem Punkt stehen, bedeutet Freude für uns alle. ({0}) Dieser Erfolg war nur möglich, weil sich Unternehmen, Forschungseinrichtungen und die öffentlichen Partner in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus verschrieben haben. In diesem Zusammenhang haben wir das ganze Jahr immer und immer wieder betont, dass bei der Zulassung Sicherheit vor Schnelligkeit geht. Die EU hat sich deshalb mit unserer Zustimmung ganz bewusst gegen eine Notzulassung und für eine bedingte Zulassung entschieden. Der Erfolg dieser Impfung – wir haben es schon ein paarmal gehört – steht und fällt aber mit dem Vertrauen in die Sicherheit der Impfstoffe. Deswegen macht es mich so ärgerlich, was man da zu hören bekommt. Es ist einfach so unterirdisch und so unwissenschaftlich, was Sie hier gesagt haben, dass es beinahe schmerzt. ({1}) Das Vertrauen darf nicht durch Kurswechsel beschädigt werden; denn wir wissen ganz genau, dass das Abweichen von unserer Strategie all denen Wasser auf die Mühlen gibt, die gegen diese Impfung wettern. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir jetzt nicht Großbritannien und den USA nacheifern. Wir haben eine solide Datengrundlage. Jetzt den Kurs zu ändern, wäre grundfalsch. Sollte am 21. Dezember tatsächlich die Zulassung des ersten Impfstoffes erfolgen, stehen wir vor weiteren gesellschaftlichen Herkulesaufgaben. Die Herausforderung besteht darin, den Impfstoff für Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in kürzester Zeit zugänglich zu machen. Die dafür notwendigen Vorbereitungen haben wir mit dem Aufbau von Impfzentren überall im Land bereits getroffen, und an vielen Stellen sind die Impfzentren am Start. Klar ist aber jetzt schon, dass nicht alle sofort geimpft werden können, weil zu Beginn einfach nicht genug Impfstoff da ist. Deshalb sind wir gezwungen, eine Priorisierung vorzunehmen. Der Verordnungsentwurf gibt die Richtung hier ganz klar vor: Menschen, die ein besonders hohes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe einer Covid-19-Erkrankung haben, müssen zuerst geimpft werden. Das Gleiche gilt für diejenigen, die beruflich besonders exponiert sind oder sehr engen Kontakt zu besonders gefährdeten Personen haben. Uns ist sehr wohl bewusst, dass sich manche Hochrisikopatientinnen und ‑patienten durch die Priorisierung in der Verordnung übergangen fühlen. Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, entsprechende Schreiben sind auch bei Ihnen angekommen, diese Zuschriften haben auch Sie in Ihren E-Mail-Accounts. Ich bitte dabei jedoch immer zu bedenken, dass wir als Erstes dort helfen müssen, wo die Situation aktuell am schlimmsten ist. Ich spreche hier – Frau Kollegin Baehrens hat es auch angesprochen – über die Altenpflege, die an manchen Orten kurz vor dem Zusammenbruch steht, aber auch von Krankenhäusern, deren Mitarbeiter aktuell über die Belastungsgrenzen hinaus arbeiten. Die nun verfügbare Impfung wird dazu beitragen, die Situation peu à peu zu entschärfen. Aber ich warne: Es ist noch ein ganz weiter Weg, um wieder alles in Ordnung zu bekommen. Die desaströse Situation, in der wir uns befinden, zeigt wieder einmal den eklatanten Personalmangel, den wir nun mal in der Alten- und Krankenpflege haben. Dieses Problem müssen wir alle miteinander langfristig lösen. Das Gleiche gilt auch für die Vielzahl von anderen Baustellen im System, die diese Pandemie uns schonungslos offengelegt hat. Ich hoffe, dass wir uns in einem Jahr – dann in anderer Zusammensetzung; wie auch immer – daran erinnern, was in einer solchen Lage wirklich zu tun ist, woraus wir Lehren ziehen konnten. Ich hoffe deshalb zum Wohl von uns allen, dass wir im neuen Jahr die richtigen Lehren aus der Pandemie ziehen und gestärkt in die Zukunft gehen können. Ich darf Ihnen von dieser Stelle aus sagen: Ich bin froh, dass wir jetzt in die Pause gehen; denn auch für uns ist es nicht immer ganz leicht, unter den jetzigen Gegebenheiten hier unsere Arbeit zu verrichten. Deshalb ist mein innigster Wunsch, dass wir uns nächstes Jahr alle hier gesund wiedersehen. Schöne Weihnachten! ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Herrn Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Katharina die Große hat sich im Jahr 1768 gegen Pocken impfen lassen und damit die erste große Impfkampagne angestoßen. Ich glaube, wenn man hört, was hier von interessierter Seite vorgetragen wird, dann brauchen wir auch eine Impfkampagne. Herr Kotré, es reicht schon, wenn man ein bisschen historisch bewandert ist – da muss man kein Virologe sein –, um zu merken, dass Impfen ein Segen für die Menschheit ist. Von den Pocken damals über Polio bis zu den Masern heute haben wir Meilensteine in Bezug auf die Gesundung der Menschen erlebt. ({0}) Es wäre schön, wenn Sie hier keinen Beitrag zur Verunsicherung der Menschen leisten würden, gar noch mit pseudowissenschaftlichen Beiträgen. Sie wissen ganz genau, dass man hier keinen Vortag über RNA und Spaltproteine halten kann. Sie haben nämlich hier ganz gezielt in den fünf Minuten Ihrer Rede ein paar Schilder hochgehalten, von wegen genmanipuliert, und keiner weiß so genau, was gemeint ist. Es geht Ihnen doch nur darum, die Menschen tief zu verunsichern und Ihr politisches Geschäft an dieser Stelle zu machen, und das ist schändlich, ({1}) ganz schändlich; denn hier geht es nicht um irgendwas, sondern es geht um Menschen, die sterben; die Zahlen wurden heute genannt. Immerhin haben Sie jetzt ein bisschen vorsichtig angedeutet: Na ja, es könnte ein bisschen mehr sein als die Grippe. – Auch dazu sage ich: Wie lange dauert es eigentlich, bis das bei Ihnen da oben ankommt? ({2}) Wir reden von Priorisierung, darüber, dass wir uns Gedanken machen müssen, wen wir zuerst impfen. Und Sie wagen es, gleichzeitig von einer Impfpflicht zu fabulieren. Das passt doch nicht zusammen! ({3}) – Sie tun zumindest so, als ob es so etwas gäbe. Das ist ganz gezielt der Versuch, die Leute zu verunsichern, nichts anderes. ({4}) Priorisierung ist doch das Gegenteil einer Impfpflicht, nämlich das Anerkenntnis, dass wir uns jetzt Gedanken darüber machen, wer zuerst dran ist. Diese Gedanken hat sich der Bundestag schon vor einer ganzen Weile gemacht. Wir haben nämlich eine Verordnungsermächtigung erwirkt, in der wir ganz präzise gesagt haben – das ist heute schon ein paar Mal zitiert worden, darum will ich es nicht noch mal tun –, wer Vorrang hat. Und genau diese Vorrangliste wird jetzt in dieser Verordnung durch den Bundesgesundheitsminister umgesetzt. Die Verordnung kommt zur rechten Zeit. Denn Jens Spahn hat einen Beitrag dazu geleistet, dass jetzt früher geimpft werden kann, weil er auf die EMA rechtzeitig und massiv eingewirkt hat; auch das sollten wir einmal anerkennen, dafür sollten wir ihm einmal unseren Respekt zollen! ({5}) Das, was Sie vorhin gesagt haben, hat nichts mit Respekt gegenüber denen zu tun, die, wissenschaftlich hoch qualifiziert, diesen Impfstoff entwickelt haben. ({6}) Wenn ein Signal von dieser Debatte ausgehen muss, dann muss es doch das sein, dass wir sagen: Wir erkennen das an, wir sprechen unseren Respekt und unseren Dank den Wissenschaftlern aus, die bei BioNTech und Pfizer dafür gesorgt haben, dass wir jetzt relativ schnell impfen können. Das gilt natürlich auch für die Anbieter, die jetzt nachkommen; ich hoffe, dass es demnächst etliche sind. Was das Verfahren angeht, so verstehe ich Herrn Thomae, dass er schimpft, dass die Opposition bei der ganzen Geschichte nicht ganz so viel zu melden hat. Sie dürfen aber sicher sein, dass wir als Regierungskoalition bei der Gestaltung dieser Verordnung letztendlich mitwirken werden. Ich sage das auch, weil die Grünen gelegentlich ein Gesetz an dieser Stelle fordern. Das passt nicht hundertprozentig damit zusammen, dass Sie immer – auch bei der Gelegenheit wieder – von unabhängigen Räten, die man aufstellen müsse, fabulieren. Da müssen Sie sich schon entscheiden, wer es am Schluss machen soll: ein unabhängiges Gremium oder der Deutsche Bundestag? Ich glaube, das Verfahren, das wir haben, ist ganz gut. ({7}) Der Bundestag legt die Grundsätze fest. Die Details legt der Bundesgesundheitsminister fest, und er macht das so flexibel, dass wir das in dem Prozess, der übrigens eine ganze Weile dauern wird, auch entsprechend beeinflussen können. Meine Vorredner haben ja richtigerweise betont, dass das Impfen nicht von jetzt auf gleich geht, sondern dass man vermutlich auch bei der Priorisierung noch ein bisschen wird nachsteuern müssen. Allein die Gruppe mit der höchsten Priorität – das wurde heute schon mehrfach angesprochen – umfasst 8,6 Millionen Menschen, und wir haben momentan Impfstoffdosen für das erste Quartal in der Größenordnung von 1,1 bis 1,3 Millionen. Ich bin übrigens guter Dinge, dass das noch ein Stück mehr werden wird. Da setze ich auf unsere Unternehmen; sie werden dafür sorgen, dass das entsprechend mehr wird. Wir und insbesondere die Länder werden dafür sorgen, dass das alles schnell umgesetzt wird, sodass man mit einer solchen frohen Botschaft in die Weihnachtsferien gehen kann. Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und – das kann man dieses Jahr ja sagen – ein ruhiges Fest. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an den letzten Redner in der Debatte, an Rudolf Henke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sind in einer aufgeregten Zeit, sind in einer Zeit voller Alarm, und selbst Redner, die bisher immer so getan haben, als hätten wir es mit einer ganz normalen grippalen Infektion zu tun, müssen zugeben, dass die Gefahrenlage weit darüber hinausgeht. Wenn man sich die heutigen Zahlen vergegenwärtigt, dann sieht man, dass unter den 1 391 086 nachgewiesenen Infektionsfällen 23 544 Todesfälle sind; das sind 1,7 Prozent. Nun gibt es wohl keine Dunkelziffer bei den Toten, aber es gibt eine wahrscheinlich relativ hohe Dunkelziffer bei den Infektionsfällen. Deswegen will ich nicht sagen: „Diese 1,7 Prozent sind das feststehende Faktum“, aber es zeigt schon eine Entwicklung. Die hat mit dem Eintrag in die besonderen Risikogruppen zu tun, die hat etwas damit zu tun, dass sich das Virus, dessen Verbreitung im Sommer begrenzt war auf die vielleicht 20- bis 60-Jährigen, jetzt vorwiegend und mit der größten Anstiegsgeschwindigkeit bei den Menschen über 60 verbreitet. Damit haben wir einen Hauptgrund dafür, warum es in diesen Altersgruppen – ab 60, ab 70, über 80 – zu diesen hohen Zahlen kommt, die vorhin von verschiedenen Rednern genannt worden sind und nahezu an tausend Todesfälle am Tag heranreichen. Empfehlungen wie „Lasst es einfach laufen!“, „Macht doch gar nichts“, „Es muss nichts geschlossen werden“, „Es kann alles offen bleiben“, „Keiner muss eingeschränkt werden in der Frage, mit wem er sich trifft“, „Keiner muss irgendwelchen Mundschutz tragen“, „Macht doch nicht so eine Panik!“ ({0}) verstärken die Voraussetzungen dafür, dass die Zahl der Todesfälle noch zunimmt. Ich glaube nicht, dass Sie das wollen; ich glaube das nicht. Aber was ich glaube, was Sie wollen, ist, dass eine Frontstellung in der Bevölkerung entsteht zwischen denen, die auch gern hätten, dass es einfach laufen gelassen wird, und denen, die sehen, dass es notwendig ist, mit solchen Maßnahmen wie jetzt gegenzuagieren. Dass dieser Weg richtig ist, können wir erkennen, wenn wir zurückschauen auf die Zeit im vergangenen Frühjahr; da ist es uns mit dem Lockdown innerhalb von sechs Wochen gelungen, von seinerzeit 50 Infektionen pro 100 000 Menschen pro Woche in Deutschland auf unter 5 zu kommen. ({1}) Deswegen ist die Entscheidung für diese Batterie an harten Maßnahmen notwendig. Und jetzt zu den Fragen: Was ist denn mit dem Impfen? Ist das Impfen denn nicht gefährlich? Die messenger RNA dieser RNA-Impfstoffe wird nach kurzer Zeit von den Zellen abgebaut; sie wird nicht in DNA umgeschrieben, und sie hat auch keinen Einfluss auf die menschliche DNA, weder in Körperzellen noch in Keimbahnzellen. ({2}) Und nach dem Abbau der mRNA findet auch keine weitere Produktion des Antigens statt. Deswegen ist das, was Sie eben angedeutet haben und was auch heute Morgen schon einmal in einer Debatte angedeutet worden ist, eine Fehlführung der Bevölkerung. ({3}) Das ist wissenschaftlich nicht belegt. Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Impfstoffe haben sogar den Vorteil, dass sie keine Adjuvanzien, Impfstoffverstärker, beinhalten – was Sie doch sonst bei anderen Impfstoffen immer kritisieren. Das ist bei den mRNA-Impfstoffen gar nicht nötig. Deswegen sind sie ein großer wissenschaftlicher Fortschritt und eine große wissenschaftliche Hoffnung, und Sie sollten sie nicht madig reden. ({4}) – Ja, Langzeitstudien. – Es ist eben gesagt worden: Die Entwicklung eines Impfstoffes dauert acht bis zehn Jahre. Und warum dauert es so lange? Weil Zika-Infektionen selten sind, weil HIV selten ist. Wir haben doch nur deswegen die verkürzte Dauer der klinischen Studien, weil es eine so hohe Zahl von Infizierten gibt. Deswegen, wegen der hohen Zahl an Infizierten, können Sie die Zahl von 40 000 Personen schneller erreichen, ({5}) die Sie bei der Entwicklung von anderen Impfstoffen, wo die Ausbreitung der Infektion langsamer ist, erst über einen Zeitraum von acht bis zehn Jahren erreichen können. Das ist der Schlüssel dafür, dass es diesmal so schnell gegangen ist. ({6}) Ich komme zum Schluss. Strategisch steht sicher die Frage im Vordergrund: Wie erreichen wir die bestmögliche Schadenprävention? Dazu gehört das Impfen, und zwar in einer priorisierten Reihenfolge. Die Reihenfolge muss sich nach der Verhinderung von Todesfällen, nach der Verhinderung von schwerer Krankheit und Hospitalisierung richten und nach nichts anderem. ({7}) Als Bundestagsabgeordneter bin ich gerne damit einverstanden, genau an der gleichen Stelle in der Impffolge zu stehen wie beispielsweise die Verkäuferin im Supermarkt. ({8}) Das finde ich dann nur richtig, weil das Risiko bei uns nicht höher ist als bei denen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Damit ist die Aussprache zur Aktuellen Stunde beendet.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ ({0}) Mit Blick auf die Debatte, die wir geführt haben, sage ich: Dazu gehören auch das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheitsschutz, und deshalb hat der Schutz der Gesundheit von Menschen in dieser Zeit absolute Priorität. ({1}) Dazu gehört auch der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Das Thema Arbeitsschutz war vor der Pandemie bei vielen fast schon in Vergessenheit geraten. Es wurde als Bürokratiethema abgetan. Da wurde über die Größe von Teeküchen philosophiert und über die Frage, ob man Paternoster benutzen darf. In dieser Pandemie hat sich gezeigt, wie gut es ist, dass wir in Deutschland Gesetze zum Arbeitsschutz haben. Mit dem Covid-19-Arbeitsschutzstandard, den wir zu Beginn der Pandemie eingeführt haben, haben wir massenhafte Infektionen am Arbeitsplatz verhindert. Ich bin den Unternehmen, den Gewerkschaften, den Sozialpartnern und den Berufsgenossenschaften außerordentlich dankbar, dass das in vorbildlicher Art und Weise passiert ist. ({2}) Aber wir haben im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres auch erlebt, wo es nicht funktioniert hat, und das war in den Fleischfabriken der Fall. Das betraf nicht nur die eine Fabrik in Nordrhein-Westfalen, sondern auch Fabriken in Baden-Württemberg, in der Nähe von Pforzheim, in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, in Sachsen-Anhalt, in Nordrhein-Westfalen – an zahlreichen Orten. Und wie in einem Brennglas hat sich gezeigt, dass da Arbeitsverhältnisse herrschen, die auch schon vor der Pandemie ein Skandal waren, meine Damen und Herren. ({3}) In der Vergangenheit hat zum Beispiel meine Amtsvorgängerin Andrea Nahles versucht, mit diesen Verhältnissen aufzuräumen, und ein entsprechendes Gesetz vorgelegt. Im Laufe des Verfahrens haben dann immer wieder Lobbyisten versucht, das Ganze abzuschleifen, oder sie haben, wenn wie im Jahr 2017 ein scharfes Gesetz gekommen ist, mit neuen trickreichen Konstruktionen von Sub-Sub-Subunternehmerei versucht, die Gesetze zu umgehen und auszutricksen. Damit ist jetzt Schluss! Deshalb beschließen wir heute das Arbeitsschutzkontrollgesetz. ({4}) Ich habe schon in der Debatte im Sommer gesagt, dass wir mit den Verhältnissen aufräumen werden, und ich bin dem Deutschen Bundestag für seine Unterstützung sehr dankbar und sicher, dass wir das auch schaffen werden. Erstens. Wir machen Schluss mit den Gammelunterkünften. Wir werden zukünftig für alle Sammelunterkünfte – nicht nur in der Fleischindustrie, sondern auch für Saisonarbeitskräfte, beispielsweise in der Landwirtschaft – klar definieren, was menschenwürdige, hygienische und vernünftige Unterbringung ausmacht. Und das wird auch kontrolliert. ({5}) Zweitens. Wir sorgen für scharfe Kontrollen der Einhaltung der Arbeitsschutzstandards – nicht nur in der Fleischindustrie. Die Arbeitsschutzbehörden in vielen Bundesländern sind systematisch kaputtgespart worden. Das werden wir beenden. Es wird verpflichtende Prüfquoten für den Arbeitsschutz in Deutschland geben. ({6}) Drittens. Wir beenden den Lohnbetrug in der Fleischindustrie. Mit einer verpflichtenden digitalen Arbeitszeitaufzeichnung machen wir Schluss damit, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und das sind, reden wir offen darüber, oft Kräfte aus Mittel- und Osteuropa – um ihren Lohn betrogen werden. Last, but not least: viertens. Wir beenden die organisierte Verantwortungslosigkeit, die sich über Werkverträge und Leiharbeit in dieser Branche breitgemacht hat. Ab 1. Januar nächsten Jahres werden die Werkverträge in der Fleischindustrie verboten sein, ab 1. April auch die Leiharbeit im Bereich der Schlachtung und Zerlegung. Auch im Bereich der Fleischverarbeitung ist Leiharbeit dem Grunde nach untersagt. Sie ist nur über einen Tarifvertrag möglich. Das heißt, die Gewerkschaften haben dort den Fuß in der Tür. Die Leiharbeit wird auf drei Monate begrenzt, und nach drei Jahren ist auch damit Schluss. ({7}) Deshalb sage ich: Wir räumen gründlich auf in der Fleischindustrie, weil es um die Menschenwürde von Beschäftigten geht. Es geht auch um den Wert und die Würde der Arbeit. Deshalb bitte ich um Zustimmung für das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Herzlichen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Uwe Witt von der AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Verbote, Verbote, Verbote – mit diesem Motto möchte Herr Heil die selbstgemachte Misere in der Fleischindustrie vom Tisch wischen. Das erinnert ein wenig an die Fraktion der Grünen, die den Bürgern schon vor Jahren das tägliche Stück Fleisch verbieten wollte. Doch so einfach ist es nicht. Verbot von Werkverträgen, Verbot von Leiharbeit, Verbot von Produktionsverbünden – all das wird das unternehmerische Aus für etliche mittelständische Unternehmen zur Folge haben. Ihr Hauptproblem, Minister Heil – übrigens auch das Problem etlicher Kollegen aus Ihrem Kabinett –, besteht darin, dass Sie die Arbeits- und Prozessabläufe in der freien Wirtschaft nur vom Hörensagen kennen; denn Sie sind niemals aus Ihrer Politikerblase herausgekommen. ({0}) Bei gewissen Produktionsabläufen gibt es nun mal saisonale Schwankungen, wie zum Beispiel in der Fleischindustrie, die zur Grillzeit im Sommer einer höheren Nachfrage der Bürger – auch bei Ihnen, liebe Kollegen – Rechnung tragen muss. ({1}) Diese saisonalen Schwankungen gilt es abzufedern, in diesem Fall durch eine begrenzte Anzahl von Leiharbeitnehmern und Werkverträgen. ({2}) Aber lassen Sie uns doch einmal überlegen, warum Sie überhaupt reagiert haben, Minister Heil. Nehmen wir das Beispiel Tönnies in NRW. Wir erinnern uns alle an den Auftritt von Minister Laumann aus NRW hier im Plenum, wie er Krokodilstränen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie vergossen hat und sich dann hier im Hohen Hause als der Entdecker dieser Missstände und als Retter der Geknechteten gerierte. Bei seinen Ausführungen hat der werte Herr Laumann völlig vergessen, dass es die Politik von SPD und CDU war, die diese Missstände erst möglich gemacht hat. Ihre jahrzehntelange verfehlte Politik war es, die den schwarzen Schafen der Branche erst Tür und Tor geöffnet hat. ({3}) Sie haben die Strukturen zur Kontrolle bestehender Vorschriften quasi außer Kraft gesetzt mit dem jahrelangen systematischen Kaputtsparen. Durch Personalabbau der öffentlichen Arbeitgeber gerade im Bereich der Arbeitsschutzkontrolle bei Gewerbeaufsichtsämtern, Gesundheitsämtern und Veterinärämtern ermöglichten Sie überhaupt erst die Zustände, die Sie jetzt mit eiserner Hand beseitigen wollen. Dabei müsste, wie bereits gesagt, nicht wirklich etwas geändert werden, sondern die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten müssen konsequent umgesetzt werden. ({4}) Einig sind wir uns alle, dass die Bezahlung der Leih- oder Werkvertragsarbeitnehmer in der Fleischindustrie häufig prekär ist. Die Methoden der Unternehmen mit Sub-Sub-Sub-Verhältnissen dienen ausschließlich der Vertuschung mangelhafter Entlohnung, der Verschleierung von Arbeitszeitverstößen und der Umgehung arbeitsschutzrechtlicher Bestimmungen. ({5}) Hier einen Riegel vorzuschieben, ist ganz im Sinne unseres Antrages. Wir fordern, den Einsatz von Fremdpersonal in der Fleischwirtschaft durch Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassung auf 15 Prozent der im jeweiligen Betrieb Beschäftigten zu begrenzen. Wir fordern ab dem ersten Arbeitstag gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das bedeutet auf der einen Seite eine deutliche Verbesserung der Bezahlung der Mitarbeiter, auch für ausländische Werkvertragsmitarbeiter, und auf der anderen Seite ermöglicht unser Entwurf den Unternehmen ein Mindestmaß an Flexibilität bei der Personalplanung. ({6}) Ihre Änderung, die nur auf Druck der letzten der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten MdBs der CDU Einzug gefunden hat, in Ausnahmefällen 8 Prozent Leiharbeitskräfte zuzulassen, ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, ist aber leider in der Praxis für viele Unternehmen nicht ausreichend. Doch was bleibt vielen Unternehmen der fleischverarbeitenden Industrie letztendlich bei Ihrem Gesetzesvorschlag, um konkurrenzfähig zu bleiben? Richtig, die Verlagerung der Produktion ins Ausland. Ich komme zum Ende: ({7}) Über die daraus entstehenden Folgen für deutsche Landwirte denken Sie, Herr Heil, natürlich nicht nach. Allein jetzt schon gibt es einen Schlachtstau von 650 000 Schweinen in Deutschland. ({8}) Unser Votum zu Ihrem Gesetz zur weiteren Deindustrialisierung Deutschlands und zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze ist daher eindeutig: Ablehnung! ({9}) Trotz allem, liebe Kollegen, möchte ich Ihnen und allen Zuschauern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest wünschen. Danke schön. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Hermann Gröhe von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn wir heute das Arbeitsschutzkontrollgesetz hier im Plenum beschließen, dann ist das ein guter Tag für faire Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und für die Stärkung unternehmerischer Verantwortung. ({0}) Wir räumen in einem Bereich des Arbeitsmarktes auf, der immer wieder wegen unhaltbarer, ja in nicht unerheblichem Umfang skandalöser Arbeitsbedingungen schlecht von sich reden machte. Wir haben das auch in der Vergangenheit schon angepackt. Es ist erwähnt worden: 2017 wurde das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft beschlossen. Ich erinnere an den früheren Kollegen Karl Schiewerling, der dies vorangetrieben hat, ({1}) und – da hätten Sie aufpassen können, Herr Witt – auch an die Kontrollaktionen, die gerade Karl-Josef Laumann in Nordrhein-Westfalen hat durchführen lassen. Dort wurden die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie im Rahmen einer Kontrollaktion umfassend in den Blick genommen. Dabei hat man dann bei 30 größeren Verarbeitungs- und Schlachtbetrieben über 5 800 Verstöße bei der Arbeitszeiterfassung festgestellt. Das ist nicht hinnehmbar. ({2}) Deswegen ist es gut, dass jetzt die Zettelwirtschaft, hinter der man sich verstecken kann, ein Ende hat, dass die auch damals von Herrn Laumann geforderte digitale Arbeitszeiterfassung kommt. Wir haben das im parlamentarischen Verfahren noch einmal ein Stück nachgeschärft, und das ist ein wichtiger Schritt. Ja, und es geht um die strikte Reduzierung, den fast vollständigen Ausschluss des Fremdpersonaleinsatzes. Lassen Sie es mich ganz offen sagen: In einer arbeitsteiligen Wirtschaft haben Werkverträge ihren Platz: für viele Bereiche der Wartung, der Unterstützung und für besondere Dienstleistungen. Aber hier wurde gezielt missbraucht, um unternehmerische Verantwortung zu verweigern. Deswegen muss dieser Missbrauch von Werkverträgen in diesem Bereich gestoppt werden, muss er ein Ende finden. ({3}) Wir haben im Sommer zugesagt, dass das Gesetz zum 1. Januar kommt. Es kommt, und das ist entscheidend. ({4}) Und wir sagen: Auch andere Umgehungstatbestände müssen durch das Inhaberprinzip verhindert werden. So ist keine künstliche Zerlegung vorgegebener einheitlicher Produktionsabläufe mehr möglich, aber natürlich eine Kooperation selbstständiger Unternehmen. Diese Flucht aus der Verantwortung muss unterbunden werden. Die Zeitarbeit ist völlig ausgeschlossen in der Schlachtung und Zerlegung. ({5}) Sie wird bei der Fleischverarbeitung für saisonale Spitzen – auch das war ein Auftrag des Kabinetts für das parlamentarische Verfahren – in geringem Umfang möglich: bei gleicher Bezahlung, selbstverständlich bei gleicher Geltung der Regelungen des Arbeitsschutzes und des Gesundheitsschutzes und nur eingebunden in Tarifverträge. Das ist ein Turbo für mehr Tarifbindung in einem Bereich, der dringend mehr Tarifbindung braucht, meine Damen, meine Herren. ({6}) Wir wissen schließlich: Das alles darf nicht nur auf dem Papier stehen. Die Regelungen sowohl für den Arbeits- und Gesundheitsschutz als auch für die Unterbringung – zum Teil sind es wirklich empörende Wohnverhältnisse – müssen strikt kontrolliert werden. Nun ist dem Redner von der AfD offensichtlich unser Staatsaufbau völlig egal – die Verfassung ja auch –; ansonsten wüssten Sie, dass das in die Zuständigkeit der Kommunen und der Länder fällt. ({7}) Hier will ich schon einmal bemerken: Es ist originell, dass die Länderminister sich einstimmig für eine Erhöhung der Mindestbesichtigungsquote ausgesprochen und dann den Bund um eine gesetzgeberische Pflicht gebeten haben. Vorweihnachtlich möchte ich das mal „ermutigenden Föderalismus“ nennen. Wenn es jetzt noch ein bisschen Wettbewerb unter den Ländern gibt, wer schon vor 2025 hier seine Hausaufgaben macht, dann freuen wir uns: ein gutes Gesetz, eine starke Kontrolle. Das bedeutet fairen Wettbewerb und faire Arbeit in der Fleischindustrie. Herzlichen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Als Nächstes hat der Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die skandalösen Zustände in der Schlacht- und Zerlegeindustrie sind seit Jahren bekannt. Die Kontrollen in NRW – Hermann Gröhe hat darauf hingewiesen – haben diesen beschämenden Befund bestätigt. Daraufhin hat der Bundesrat auf Initiative von FDP-Sozialminister Heiner Garg die Bundesregierung zum dringenden Handeln aufgerufen. ({0}) Das Ziel besserer Arbeitsbedingungen war und ist seitdem unumstritten, genau wie die Umsetzung heute enttäuschend ist: zu wenig bei den Kontrollen, zu viel bei der Zeitarbeit, zu viel Verbote. ({1}) Wenn es schon so lange dauern musste, dann hätten Tausende von Beschäftigten in der Fleischindustrie Besseres verdient. Herr Minister, Sie haben oft von organisierter Verantwortungslosigkeit gesprochen, und dies da zu Recht, wo undurchsichtige Subunternehmerketten dazu dienen, Rechtsverstöße zu vertuschen. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass der Staat jahrelang weggeschaut hat und damit Teil der organisierten Verantwortungslosigkeit geworden ist. ({2}) Wir haben zuallererst keinen Mangel an Regulierung, sondern einen Mangel an Rechtsdurchsetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Überschreitung der Höchstarbeitszeit pro Tag – verboten. Unterschreitung des Mindestlohns – verboten; Wuchermieten in Sammelunterkünften – verboten. Das alles ging doch nur deshalb durch, weil ein staatliches Zuständigkeitswirrwarr herrscht. Genau hier greift das Gesetz aber zu kurz. ({3}) Wenn in den großen Schlachthöfen jede Minute ein Veterinär auf die Einhaltung der Hygienevorschriften achtet, warum nicht den Arbeitsschutz danebenstellen? Das würde die Beschäftigten aus Bulgarien wirklich schützen. Die Menschen sind genauso viel wert wie die Einhaltung der Hygienevorschriften. ({4}) Wenn Arbeitgeber Unterkünfte zur Verfügung stellen, gilt die Arbeitsstättenrichtlinie schon heute. Was aber, wenn Beschäftigte bei privaten Vermietern Wuchermieten zahlen müssen? Das überfordert die kommunalen Ordnungsämter schon heute. Warum nicht über eine ergänzende Ermittlungszuständigkeit des Zolls nachdenken? Das schreckt wirklich ab. Deshalb brauchen wir mehr als einen runden Tisch in Berlin. Deshalb fordern wir diese Taskforce Fleisch, lieber Hermann Gröhe, damit die unterschiedlichen Ebenen besser zusammenarbeiten. Genau das fehlt leider im Gesetz. ({5}) Keine Verbesserung für Beschäftigte bringt hingegen das Verbot von Zeitarbeit. Zeitarbeit ist stark reguliert. Es gelten betrieblicher Arbeitsschutz, betriebliche Mitbestimmung und Equal Pay. Trotz kleinteiliger Miniöffnung bleibt das Verbot verfassungs- und europarechtlich höchst bedenklich. Das wird vor Gericht landen und jahrelang bleiben. Das bringt nicht mehr als Rechtsunsicherheit. ({6}) Im Übrigen: Da, wo die skandalösen Missbräuche festgestellt wurden, spielt Zeitarbeit überhaupt keine Rolle. Aber da, wo Zeitarbeit eine wichtige Rolle zum Ausgleich von Auftragsschwankungen spielt, gibt es keine großen Missstände. ({7}) Sie stellen personalersetzende Fremdarbeit und personalergänzende Fremdarbeit auf eine Stufe. Das ist unfair. Ich habe mit den mittelständischen Fleischverarbeitern gesprochen, von Holstein bis ins Allgäu, auch bei uns im Sauerland; da wird die „Dicke Sauerländer“ gemacht. Das sind verantwortungsvolle Unternehmer. Werkverträge im Kernbereich gibt es bei denen überhaupt nicht. Mit dem Verbot von Zeitarbeit treffen wir empfindlich die anständigen Betriebe im Mittelstand, ohne an dieser Stelle Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern. Deshalb lehnen wir ab. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Jutta Krellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fleischindustrie, Tönnies und Co, hat einen schlechten Ruf, und das nicht erst seit Corona. Als Gewerkschaftssekretärin aus Niedersachsen bin ich froh, dass der Bundestag heute das Arbeitsschutzkontrollgesetz zum Abschluss bringt und dem ganzen Schmierentheater ein Ende macht. ({0}) Am Anfang dachte ich, dass die Bundesregierung nun endlich auf Werkverträge und Leiharbeit komplett verzichtet. Doch wenn es um knallharte Profitinteressen geht, haben die Lobbyisten der Fleischindustrie das bisher jedes Mal verhindert. Diesmal fanden sie bei der CDU/CSU ein offenes Ohr. ({1}) „Täglich grüßt das Murmeltier“, sage ich nur. Ich zitiere den Verband der Fleischindustrie: Die zahlreichen Gespräche, Stellungnahmen und Argumente des Verbandes gegenüber Bundes- und Landtagsabgeordneten haben somit Wirkung gezeigt. Der Wirtschaftsrat der CDU hat sich gestern ebenfalls in unsere Richtung ausgesprochen. Die Fleischindustrie hat erreicht, was sie wollte. ({2}) Leiharbeit bleibt, wenn auch mit Einschränkungen, per Tarifvertrag für weitere drei Jahre erlaubt. Unverschämt ist das! ({3}) Jetzt liegt der Ball im Feld der Gewerkschaft NGG. Sie muss regeln, was die Bundesregierung nicht hinbekommen hat. ({4}) Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen viel Erfolg bei ihrer jetzigen Arbeit. ({5}) Nur starke Gewerkschaften und aktive Betriebsräte sind die Garantie dafür, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb umgesetzt wird. Meine Damen und Herren, Werkverträge und Leiharbeit haben in der Fleischwirtschaft nichts zu suchen. ({6}) Es ist Unsinn, dass die Grillsaison nur so gerettet werden kann. Das Argument, dass die Fleischereien um die Ecke nur überleben, wenn die Fleischwirtschaft Leiharbeit und Werkverträge einsetzt, ist Quatsch. ({7}) Es geht um Millionen und Milliarden Euro an Gewinnen, die auf dem Rücken von osteuropäischen Beschäftigten realisiert werden. Ich stimme der Union zu, wenn sie sagt: Das Fleischerhandwerk in Deutschland ist gefährdet. – Ja, aber nicht, weil sie keine Leiharbeiter und Werkvertragsbeschäftigte mehr einsetzen dürfen. Es ist gefährdet durch die Massen von billigem Fleisch von Tieren, die in Deutschland gezüchtet wurden, und durch deutsche Großbetriebe, die den Markt überschwemmen. Damit, Kolleginnen und Kollegen, muss endlich Schluss sein. ({8}) Meine Damen und Herren der CDU/CSU, lernen Sie endlich dazu! Lassen Sie sich von der Fleischlobby nicht Ihre Gesetze diktieren! Die Linke stimmt dem Gesetz trotzdem zu, weil ({9}) es ein erster Schritt in die richtige Richtung ist. ({10}) Vielen Dank, schöne Weihnachten und einen guten Rutsch. ({11})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Beate Müller-Gemmeke von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zuerst ganz herzlich bei den Menschen bedanken, die beharrlich gegen Arbeitsausbeutung und für Menschenwürde gekämpft haben, beispielsweise Pfarrer Peter Kossen, das Projekt „Faire Mobilität“, ({0}) Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Menschen, die einfach nicht weggesehen haben. Sie alle haben geholfen, dass heute mit diesem Gesetz die Arbeitsausbeutung in der Fleischindustrie endlich gestoppt wird. Ihr Engagement war extrem wichtig. ({1}) Denn die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind ja uns allen schon viele Jahre bekannt; passiert ist aber wenig. Erst als es die Coronahotspots gab, beispielsweise bei Tönnies, ist die Bundesregierung aktiv geworden. Es gab die Eckpunkte für ein Gesetz. Die erste Lesung war im September. Dann hat die Union das Gesetz nochmals drei Monate lang blockiert, weil sie wieder einmal vor der Fleischlobby in die Knie gegangen ist, ({2}) und das kritisieren wir. So gibt Politik kein gutes Bild ab. ({3}) Die Blockade der Union gab es wegen der Leiharbeit. Die wird es jetzt zumindest bei der Fleischverarbeitung auch weiterhin geben. Auch wenn die Voraussetzungen – Tarifvertrag, Equal Pay – anspruchsvoll sind, entstehen so doch wieder Schlupflöcher und Abgrenzungsprobleme. Ich bin mir sicher: Die Kontrollen werden dadurch wieder schwerer. Deshalb wollten wir Grünen nicht nur ein klares Signal, sondern auch ein klares Gesetz. ({4}) Aber wir werden natürlich heute zustimmen; denn das Gesetz ist die Antwort auf die Arbeitsausbeutung per Werkvertrag. Bei diesen Werkverträgen geht es eben nicht um Belastungsspitzen. Diese Werkverträge sind nichts anderes als Missbrauch, mit dem sich die großen Schlachthöfe schon viele Jahre lang beim Arbeitsschutz und auch beim Lohn aus der Verantwortung stehlen. Genau das darf es nicht mehr geben. ({5}) Wichtig ist aber jetzt, dass lückenlos kontrolliert wird, ob die Leute auch wirklich angestellt sind, ob die Beschäftigten fair bezahlt werden, ob die Leiharbeit an dieser Stelle tatsächlich erlaubt ist, und natürlich, ob der Arbeitsschutz tatsächlich eingehalten wird. Diese Kontrollen müssen garantiert werden; denn das Arbeitsschutzkontrollgesetz darf natürlich nicht ins Leere laufen. ({6}) Zum Schluss noch ein Aspekt, der mich wirklich umtreibt. Heute geht es um die Fleischindustrie. Den Missbrauch von Werkverträgen gibt es aber auch in anderen Branchen. Ein Beispiel ist die Saisonarbeit in der Landwirtschaft; wir haben das in unserem Antrag ausgeführt. Wir müssen jetzt auch die anderen Branchen kritisch in den Blick nehmen; denn den Missbrauch von Werkverträgen darf es in keiner Branche geben. Vielen Dank. ({7})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Als Nächstes hat das Wort Katja Mast von der SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Politik der SPD folgt immer dem Ziel, die Würde und den Wert der Arbeit zu stärken. ({0}) Gute Arbeitsbedingungen sind uns, mal salopp gesagt, nicht wurst. Deshalb will die SPD auch ein Lieferkettengesetz, das den Namen verdient, und einen Mindestlohn von mindestens 12 Euro. ({1}) Doch nun geht es um das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Ohne dieses Gesetz würden Beschäftigte in den Fleischfabriken weiter ausgebeutet. Wir haben Kurs gehalten. Die Lobbyinteressen der Fleischkonzerne konnten uns nicht vom Kurs abbringen. ({2}) Mein Dank gilt an dieser Stelle unserem durchsetzungsstarken Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ({3}) und meinen Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion, allen voran unserem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, unserer Sprecherin Kerstin Tack und unseren beiden hervorragenden Berichterstattern Bernd Rützel und Michael Gerdes. Vielen Dank! ({4}) Die beschämende Situation in deutschen Schlachthöfen, in Schlachtfabriken und den Sammelunterkünften hat durch Corona einen weiteren Tiefpunkt erreicht. Tausende wurden krank. Arbeit darf aber nicht krankmachen; das ist der Tenor der Debatte vorhin. Unternehmen haben dafür die Verantwortung. Ich weiß, wovon ich rede; denn der erste Infektionsfall mit gut 400 Coronainfizierten war bei Müller Fleisch in meinem Wahlkreis Pforzheim. Nicht nur deshalb war es mir persönliche Pflicht, ab der ersten öffentlichen Meldung nicht mehr lockerzulassen, bis dieses Gesetz hier im Deutschen Bundestag verabschiedet wird. ({5}) Dieses Gesetz ist eine Teamleistung. Zum Beispiel bei mir im Wahlkreis, in Pforzheim und im Enzkreis, gab es durch die Unterstützung von Tausenden von Bürgerinnen und Bürgern, der Gewerkschaften, des Landratsamts, der Parteigliederungen massiven Rückenwind für dieses Gesetz heute. Dafür sage ich stellvertretend für meinen Wahlkreis Danke. Ich weiß: In der ganzen Bundesrepublik Deutschland waren Tausende und Millionen von Menschen bei diesem Gesetz unterwegs. Wohlgemerkt: Mein Wahlkreis ist Pforzheim in Baden-Württemberg. In Baden-Württemberg gab es keine Unterstützung durch die grün-schwarze Landesregierung für dieses Gesetz. ({6}) Sie hat nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen, dass dieses Gesetz positiv begleitet wird. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann duckte sich die ganze Zeit weg, und der CDU-Landwirtschaftsminister Peter Hauk hat sich bei diesem Gesetz an die Seite der Lobby gestellt. Deshalb sage ich an dieser Stelle klar und deutlich: Es macht einen Unterschied, wer mit welcher Haltung regiert. ({7}) Dieses Gesetz gibt es so nur und ausschließlich, weil die SPD in dieser Bundesregierung ist. Vielen Dank. ({8})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Union und SPD räumen gemeinsam auf mit den Missständen in der Fleischindustrie. Wir schaffen einen klaren Rechtsrahmen und sagen, was auf dem Arbeitsmarkt in der Fleischindustrie in Zukunft geht und was nicht geht. Verantwortungslosigkeit in den Betrieben geht nicht mehr. Eine Werkvertragspraxis geht nicht mehr, die den Arbeitsschutz bislang so zerlegt hat, dass er faktisch nicht mehr stattfindet. Wir sorgen nun für klare Verhältnisse und Verantwortlichkeiten im Arbeitsschutz und im Arbeitsrecht. Zukünftig dürfen im Wesentlichen nur noch eigene Beschäftigte im Unternehmen tätig sein. Wir legen die Verantwortlichkeit für die Einhaltung der Regeln in eine Hand, nämlich in die des Betriebsinhabers. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein scharfes Schwert, das wir gemeinsam als Union und SPD auf den Weg gebracht haben. Diese Schärfe ist auch erforderlich, um der Branche endlich strukturelle Verbesserungen abzuringen, und genau das wollen wir gemeinsam erzielen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Die Metzgerei um die Ecke ist nicht mit der Fließbandarbeit in den Fleischfabriken und mit den dortigen Missständen gleichzusetzen; denn der Metzger gibt seine selbst hergestellte Ware unmittelbar an den Kunden ab. Deswegen sorgen wir dafür, dass die Metzgereien vom Anwendungsbereich dieses Gesetzes ausgenommen sind. Wir wollen, dass die Metzgereibetriebe ihre wichtige Versorgungsfunktion, gerade im ländlichen Raum, auch weiterhin sicherstellen können. Filialbetriebe wollen wir befördern und ihnen die Arbeit nicht erschweren. Das ist unser Verständnis von Wertschätzung und Förderung des Handwerks. ({1}) Deshalb nehmen wir das Verkaufspersonal und Auszubildende beim Schwellenwert von 49 Mitarbeitern aus. Das stärkt das Fleischerhandwerk, und das war uns als Union in den Verhandlungen besonders wichtig. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Gegensatz zu den Schlachthöfen gibt es in den fleischverarbeitenden Betrieben Auftragsspitzen und saisonale Schwankungen. Die Ausschläge in der Produktion sind da besonders hoch, und deswegen gibt es auch ein hohes Flexibilitätsbedürfnis. Klassisches Instrument, um diesem Flexibilitätsbedürfnis Rechnung zu tragen, ist die Zeitarbeit. Deswegen erhalten wir für die Betriebe der Fleischverarbeitung dieses Instrument, wenn auch in engen Grenzen. Die betriebliche Praxis zeigt: Andere sinnvolle Flexibilitätsinstrumente gibt es nicht. ({3}) Weder die Befristung noch Arbeitszeitkonten bei der Stammbelegschaft schaffen es, die Absatzschwankungen der Unternehmen betriebswirtschaftlich abzubilden. ({4}) Es ist doch verblüffend, dass einige jetzt die Befristung als Heilmittel herausstellen. Es gibt nämlich schon einen Unterschied: Befristungen kann man doch nicht als das sozialpolitische Zukunftsmodell in diesem Bereich ansehen. Zeitarbeiter sind nämlich beim Verleiher angestellt; sie bekommen ein Entgelt dafür. Derjenige, der befristet tätig ist, muss in die Arbeitslosigkeit nach seiner Befristung; das ist der Unterschied. Deswegen ist die Befristung nicht das bevorzugte Mittel, und deswegen machen wir das in diesem Bereich auch nicht. ({5}) Der Einsatz von Zeitarbeit ist natürlich voraussetzungsstark: Equal Pay vom ersten Tag an, Tarifvorbehalt. Das zeigt: Wir wollen gerade Flexibilitäten erhalten und damit zum Schutz von Arbeitsplätzen beitragen. Denn wir wissen: Der Markt ist stark umkämpft. Der Lebensmitteleinzelhandel hat eine große Marktmacht und arbeitet auch unter einem hohen Preisdruck. Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir in dem Bereich Arbeitsplätze schützen. Das tun wir in diesem Sinne. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Gesetz ist keine Blaupause für andere Branchen. Es hat aber auch auf andere Bereiche große Strahlkraft; denn wir machen deutlich: Dort, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen sind, dort tun wir es mit großer Entschlossenheit. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetz. ({6})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Als letzter Redner in der Debatte hat Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollen gleich namentlich über dieses Gesetz – ich finde, es ist ein gutes Gesetz – abstimmen. Ich wundere mich ein bisschen über die Debatte, die wir jetzt führen. Grüne und Linke haben angekündigt, sie wollen dem Gesetz zustimmen, halten hier aber Reden, in denen sie sagen, angeblich habe sich die Fleischlobby durchgesetzt; das passt irgendwie nicht zusammen. Herr Cronenberg, die FDP beklagt die Missstände, die es gibt, lehnt aber das Gesetz anschließend ab. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Beratungen zu diesem Gesetz haben die notwendige Zeit in Anspruch genommen, die wir gebraucht haben, um einen guten Gesetzentwurf hinzubekommen. Wir haben doch nicht blockiert, sondern wir haben über viele Details geredet, und wir haben, wie ich finde, ein detailgenaues, gutes und präzises Gesetz gemacht, um Missstände in der Fleischindustrie abzustellen. Es sind erfolgreiche Verhandlungen gewesen. ({0}) Als Union haben wir uns gar nichts vorzuwerfen. Es war mein Freund Karl Schiewerling, der in der letzten Legislaturperiode das GSA Fleisch durchgesetzt hat; er zuallererst. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Tat: Wir machen strenge Regeln für die Fleischindustrie. Aber wir ermöglichen auch, dass Tarifverträge abgeschlossen werden, in denen in einem begrenzten Maße andere Regelungen getroffen werden können. Und dass eine linke Gewerkschaftssekretärin die Möglichkeit zum Abschluss von Tarifverträgen kritisiert, das ist schon ein toller Erfolg der Linken. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage vom Abgeordneten Ernst zu?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Ernst, Sie haben das Wort.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Weiß, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Es ist jetzt das zweite Mal in dieser Debatte, dass Herr Schiewerling in diesem Zusammenhang so gelobt wird. Was halten Sie denn von folgender Aussage von Herrn Schiewerling? Es ging in der Debatte damals genau um denselben Tatbestand, den wir heute diskutieren, genau um dasselbe: um die unerklärlichen und unhaltbaren Zustände in der Fleischindustrie. Er sagte: Was wir erleben und was beschrieben ist, fußt nicht auf mangelnden Gesetzen, sondern ist schlicht und einfach ein Verstoß gegen bestehende Gesetze. Ja, warum ändern Sie denn dann das Gesetz? Warum stimmen Sie denn dann jetzt zu? Würden Sie mir zustimmen, dass Karl Schiewerling offensichtlich eine klassische Fehleinschätzung über die Zustände in der Fleischindustrie hatte? Würden Sie mir zustimmen, dass aufgrund dieser Tatsache und unter dem Druck der Verhältnisse jetzt auch die CDU/CSU bereit ist, endlich ein Gesetz zu machen, das die Linken und die Grünen schon lange fordern und das Sie in Ihrer Regierungszeit zusammen mit der FDP, auch auf Druck der FDP, verhindert haben? Sie haben gesagt: Es gibt keinen Handlungsbedarf. – Sie haben fast zehn Jahre gebraucht, bis Sie endlich einen Handlungsbedarf festgestellt haben; das ist die Wahrheit. Und jetzt bin ich froh, dass wir nun ein Gesetz haben werden, das wenigstens in die richtige Richtung geht, auch wenn es noch nicht ausreichend ist. Deshalb stimmen auch wir zu, Herr Weiß. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Weiß, bitte.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Ernst, ich will jetzt nichts zu Ihnen persönlich sagen, sondern etwas zu Karl Schiewerling. Ich kenne kaum einen Abgeordneten oder ehemaligen Abgeordneten, der sich in der Fleischthematik so gut auskennt wie er. ({0}) Das hat er hier im Deutschen Bundestag mehrmals unter Beweis gestellt. Er hat damals mit dem GSA Fleisch eine bemerkenswerte Gesetzesinitiative gestartet, die hier beschlossen worden ist. Wir haben gleichzeitig erlebt, dass die Fleischindustrie eine bemerkenswerte Selbstverpflichtung vorgelegt hat. ({1}) Ich will klar sagen: Hätte die Fleischindustrie diese Selbstverpflichtung umgesetzt, worauf wir damals vertraut haben, würden wir dieses Gesetz heute überhaupt nicht diskutieren. – Es ist schon bemerkenswert, dass uns periodisch eine Selbstverpflichtung präsentiert worden ist, die mit keinem Jota eingehalten wurde. Deswegen reagieren wir jetzt, und zwar zu Recht. ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Weiß, es gibt noch weiteren Gesprächsbedarf mit Ihnen, und zwar von Frau Krellmann von den Linken und von Hubertus Heil von der SPD-Fraktion. Mögen Sie?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Weiß, Sie haben was zu mir gesagt.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin Gewerkschafterin. Ich weiß, wie Tarifverträge zustande kommen, und ich weiß, wie schwer das ist. ({0}) Mir vorzuwerfen, dass ich an der Stelle Tarifverträge kritisiert habe, ist nicht wahr. Sie haben nicht richtig zugehört! ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe gesagt: Der Ball liegt bei der Gewerkschaft NGG, weil Sie nicht in der Lage waren, Gesetze zu machen, die bis zum Ende durchdacht sind. ({0}) Im Grunde war das, was Sie als Erstes gemacht haben, nämlich Leiharbeit und Werkverträge komplett zu verbieten, richtig. ({1}) Dass die Gewerkschaften das jetzt korrigieren müssen, was Sie nicht hinbekommen haben, ist das Problem. Aber das ist nicht die Aufgabe von Tarifverträgen. ({2}) Das macht die Gewerkschaft NGG jetzt, und das finde ich toll. Deswegen habe ich gesagt: Ich gratuliere den Kolleginnen und drücke ihnen die Daumen, dass sie das hinkriegen. Ich weiß, wie schwer es heute ist, Tarifverträge abzuschließen, und ich weiß, wie die Arbeitsbeziehungen gerade in der Fleischwirtschaft, auch in Niedersachen, über Jahre zerstört wurden. Sie wurden an vielen Punkten zerstört, und niemand hat richtig hingeschaut. Sie alle haben das zugelassen, ({3}) haben mit offenen Augen hingeguckt und nichts gesehen und nichts gemacht. Ich stehe nach wie vor zu Tarifverträgen und finde, dass die Tarifbindung gestärkt werden muss, statt sie immer weiter zu schwächen. Das ist nicht in Ordnung! ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Weiß, bitte.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Krellmann, Entschuldigung, dann haben Sie entweder das Gesetz nicht richtig gelesen und verstanden oder vorhin was Falsches vorgetragen. ({0}) Denn dieses Gesetz ist eindeutig und klar: In den Kernbereichen des Schlachtens, Zerlegens und Verarbeitens ist ab dem 1. Januar 2021 jeder Werkvertrag verboten und ab dem 1. April 2021 jedes Zeitarbeitsverhältnis verboten. Es gibt eine einzige Möglichkeit – zunächst befristet auf drei Jahre –, nämlich dass durch einen Tarifvertrag die Tarifvertragspartner festlegen können, dass sie im Bereich der Verarbeitung, wo es Produktionsspitzen gibt, zur Abdeckung dieser Produktionsspitzen einen bestimmten Prozentsatz – maximal 8 Prozent gemessen an der gesamten Belegschaft – an Zeitarbeit zulassen. Das heißt, die Arbeitgeber müssen doch erst mal auf die Gewerkschaft zugehen und sagen: „Wir hätten das gerne“, und dann muss die Gewerkschaft sagen: Ja, dafür gibt es aber auf unserer Seite Forderungen und Bedingungen, ({1}) zum Beispiel gute Löhne, gute Urlaubsregelungen, gute betriebliche Altersvorsorge. – Ich finde, wir machen ein Gesetz, mit dem wir der Gewerkschaft NGG ein Arbeitsinstrument in die Hand geben, mit dem sie endlich gute Bedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen kann. Das ist doch Sinn dieser gesetzlichen Regelungen! ({2})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Und der Abgeordnete Hubertus Heil hat das Wort. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin auch Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Herr Kollege. – Frau Präsidentin! Lieber Kollege Weiß, ich habe mich gemeldet, weil über Karl Schiewerling gesprochen wurde. Karl Schiewerling ist nicht Mitglied meiner Partei, sondern Ihrer. Ich will an die Kolleginnen und Kollegen der Linken sagen: Karl Schiewerling hat damals mit Andrea Nahles zusammen nicht allein auf Selbstverpflichtung gesetzt, sondern auf Gesetzesänderung. Ich bin mir sicher: Wenn der Kollege Schiewerling in diesem Haus wäre, dann hätte er an meiner Seite für dieses Gesetz gekämpft – das will ich mal sagen –, weil er jemand ist, der den Mut hatte, sich mit dieser Fleischlobby anzulegen, als es sich noch nicht bei allen rumgesprochen hat. Das sei mal ganz klar gesagt! ({0}) Ich will aber Jutta Krellmann und Peter Weiß – nicht nur der vorweihnachtlichen Stimmung wegen – eine Brücke bauen. Sie stimmen bei dem Gesetz zu – aus unterschiedlichen Gründen –, und ich bin dafür zutiefst dankbar. Denn eines machen wir als Deutscher Bundestag auch deutlich: Im Gegensatz zu dem, was Rechtspopulisten verbreiten, regieren in diesem Parlament keine Lobbyisten, sondern es gilt der Vorrang demokratischer Politik. Wir haben uns eben nicht beeindrucken lassen, als Lobbyisten versucht haben, nicht nur Einzelheiten des Gesetzes, sondern das gesamte Gesetz zu kippen. Deshalb, Kollege Weiß, bin ich sehr dankbar, dass wir das hinbekommen haben. Die NGG und der DGB und Anja Piel als DGB-Vorstandsmitglied haben das begrüßt. Ich wollte das nur mal klarstellen im Sinne einer Zwischenbemerkung, um diese Brücke zu bauen. Also Danke an CDU/CSU, an Linke und an Grüne, dass Sie das alles mitmachen, was ich vorgeschlagen habe. Das wollte ich noch mal loswerden. ({1})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Herr Weiß, Sie haben das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke dem Abgeordnetenkollegen Bundesminister Heil für seine Bemerkung, ({0}) vor allen Dingen zu Karl Schiewerling. Ich darf Ihnen sagen: Karl Schiewerling, der bei der letzten Bundestagswahl auf seinen eigenen Wunsch aus dem Parlament ausgeschieden ist, hat uns auch als Nichtparlamentarier nachdrücklich darin unterstützt, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, und er freut sich mit uns, wenn wir es heute mit großer Mehrheit beschließen. ({1}) Mit diesem Gesetz zeigen wir der Fleischindustrie klare Kante. Mir ist wichtig, noch mal zu betonen, dass wir in Deutschland einen bemerkenswerten Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, in dem die Bedeutung der handwerklichen Fleischer- und Metzgerbetriebe abgenommen hat. Mit diesem Gesetz machen wir deutlich: Betroffen von diesem Gesetz ist nicht das traditionelle, handwerkliche Metzger- und Fleischerhandwerk; vielmehr machen wir jetzt eine Regelung hinsichtlich einer Grenzzahl, die die Verkäuferinnen und Verkäufer nicht mitzählt. Das ist eine klare Ansage: Bitte lieber noch mehr Verkaufsfilialen des traditionellen Handwerks in unseren Städten und Gemeinden, die dafür sorgen, dass regional produziert und geschlachtet wird und regional verarbeitete gute Fleisch- und Wurstwaren für uns als Verbraucherinnen und Verbraucher zur Verfügung stehen. ({2}) Ich wünsche mir, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger das auch verstehen und dass dieses Gesetz vielleicht der Ausgangspunkt für eine Renaissance des klassischen Metzger- und Fleischerhandwerks in Deutschland ist. Das wäre ein Vorteil für uns alle, auch in der Fleischverarbeitung. ({3}) Klar, wir brauchen auch mehr Informationen für diejenigen, die in der Fleischverarbeitung tätig sind, gerade wenn sie aus den europäischen Mitgliedstaaten kommen. Deswegen – das möchte ich betonen – haben wir das Projekt „Faire Mobilität“, das der DGB durchführt, bereits gesetzlich verankert und finanziell gestärkt. Wir wollen für faire, ordentliche Arbeitsverhältnisse in Deutschland sorgen. Wir wollen die Tarifautonomie stärken. Wir wollen das traditionelle Metzger- und Fleischerhandwerk stärken. Und wir wollen, dass unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über ihre Rechte Bescheid wissen und sie auch in Anspruch nehmen können. Vielen Dank. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Ich schließe die Aussprache.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Soforthilfe, Novemberhilfe, Neustarthilfe, Überbrückungshilfe I, Überbrückungshilfe II und jetzt also die sogenannte verbesserte Überbrückungshilfe III: Die Flickschusterei der Bundesregierung bei ihren Coronawirtschaftshilfen mit ihren ständig wechselnden Anspruchsvoraussetzungen ist leider genauso irrlichternd wie ihre gesamte Politik bei der Bekämpfung der Pandemie. ({0}) Kein Wunder, dass mich und meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss immer wieder Zuschriften von zumeist kleinen Unternehmen erreichen, die sich bitterlich über komplizierte und ständig wechselnde Antragsverfahren beschweren oder sich jetzt hilfesuchend an uns wenden, weil Hilfeleistungen, die für November zugesagt wurden, erst ab Januar fließen sollen. Ich finde, das sind Zustände, mit denen wir uns in diesem Hause nicht abfinden dürfen; ({1}) denn es geht dabei vielfach um nicht weniger als um die nackte wirtschaftliche Existenz. Das gilt natürlich ganz besonders für die Beschäftigten in diesen Unternehmen. Nachdem in dieser Krise zunächst vor allem Minijobber, befristet Beschäftigte und Leiharbeiter ihren Job verloren haben, nimmt nach allem, was mir berichtet wird, aktuell auch die Zahl der Entlassungen regulär Beschäftigter spürbar zu – und das trotz staatlicher Wirtschaftshilfen und trotz Kurzarbeitergeld. Die Betroffenen erwarten zu Recht, dass dort, wo tatsächlich Steuermittel an Unternehmen fließen, davon auch die Beschäftigten profitieren und dass ihnen nicht die Kündigung droht, wenn ihr Arbeitgeber von staatlichen Hilfen profitiert. Auch dem Bundesarbeitsminister war es ja wichtig, am vergangenen Freitag hier in der Haushaltsdebatte zu betonen, dass die Bundesregierung um jeden Arbeitsplatz kämpfe. Aber wenn Sie das ernst meinen, warum sorgen Sie dann nicht endlich dafür, dass staatliche Wirtschaftshilfen an ein Verbot betriebsbedingter Kündigungen gebunden werden, ({2}) wie wir es als Linke mit unserem vorliegenden Antrag vorschlagen? Bei der November- bzw. Dezemberhilfe der Bundesregierung ist aktuell ja leider sogar das Gegenteil der Fall. So, wie Sie dieses Hilfsprogramm mit heißer Nadel gestrickt haben, werden am Ende im schlechtesten Fall diejenigen belohnt, die ihre Leute entlassen, statt sie in Kurzarbeit zu schicken. Warum? Ganz einfach: Weil ein Unternehmen die vollen 75 Prozent des Umsatzes nur dann ersetzt bekommt, wenn es für seine Beschäftigten nicht zugleich Kurzarbeitergeld erhält. Was zunächst plausibel erscheint, wird für die Beschäftigten zum Bumerang, wenn die staatlichen Hilfen nicht an ein Kündigungsverbot gekoppelt sind. Ich empfehle Ihnen sehr, sehr dringend, sich dazu einmal mit Gewerkschaftern aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe zu unterhalten. Natürlich gibt es viele Unternehmer, die in dieser Krise ein hohes Maß an Verantwortung zeigen. Aber genau die sind es, die durch solchermaßen schlecht gemachte Hilfsprogramme benachteiligt werden. Und leider ist auch in den am Sonntag veröffentlichten Eckpunkten zur verbesserten Überbrückungshilfe III weiterhin keinerlei Rede von einem Kündigungsverbot. Warum, verdammt noch mal, sind Sie hier so zaghaft? Das ist und bleibt mir wirklich ein großes Rätsel. ({3}) Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick über die Grenze. In Italien hat die Regierung bereits im März ein weitgehendes Kündigungsverbot ausgesprochen, das im Herbst noch mal verlängert wurde. Oder nehmen Sie das Beispiel Österreich! Hier existiert seit dem November-Lockdown ein neues Hilfsprogramm, der sogenannte Lockdown-Umsatzersatz. Aber anders als in Deutschland dürfen die Empfänger dieser Hilfen in Österreich für die Dauer der Hilfen keine Kündigungen aussprechen. Wir als Linke sagen: Richtig so! Warum nicht auch bei uns so? ({4}) Meine Damen und Herren von der Koalition, ich appelliere an Sie: Stellen Sie auch hierzulande endlich sicher, dass staatliche Wirtschaftshilfen immer auch den Beschäftigten zugutekommen und dass dies nicht vom Goodwill der Unternehmensführung abhängt! Das gilt bei milliardenschweren Beteiligungen, wie bei der Lufthansa, aber das gilt auch für die vielen Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben, über die viel zu wenig gesprochen wird. Darum: Schließen Sie sich unserem Vorschlag an, und koppeln Sie die pandemiebedingten Wirtschaftshilfen an ein Verbot betriebsbedingter Kündigungen! Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum wir hier weiter hinter unseren österreichischen Nachbarn zurückstehen sollten. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Mark Helfrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie hat Deutschland fest im Griff. Trotz des Lockdowns light von Anfang November gehen die Ansteckungszahlen nicht zurück, sondern verharren auf hohem Niveau. Schlimmer noch: Seit zwei Wochen steigen die Zahlen wieder, und das trotz der beschlossenen Einschränkungen. Deshalb ist es notwendig und auch unausweichlich, dass heute noch strengere Regeln in Deutschland in Kraft treten. Deutschland geht in den kompletten Lockdown. Zum Schutz vor den Einschränkungen des Lockdowns light haben wir die außerordentlichen Wirtschaftshilfen auf den Weg gebracht. Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb im November und Dezember aufgrund der Coronaeinschränkungen einstellen mussten, werden großzügig durch den Bund entschädigt. Erstattet werden immerhin 75 Prozent des Vorjahresumsatzes. Mit ihrem Antrag fordert Die Linke heute, die außerordentlichen Wirtschaftshilfen an ein Kündigungsverbot zu koppeln. Damit bedienen Sie, wie so oft, das klassische Feindbild der Linken: der Unternehmer als böser Kapitalist, ({0}) der jede Möglichkeit nutzt, durch Entlassungen Ausgaben einzusparen und noch mehr Profit einzustreichen. Das ist reiner Populismus. ({1}) Damit verkennen Sie, meine Damen und Herren der Linksfraktion, im Übrigen auch die Realität. Schauen wir uns doch mal die Fakten an ({2}) – die werden auch nicht durch Lautstärke ersetzt –: Obwohl seit Anfang November viele Betriebe und Unternehmen wieder geschlossen sind, bleibt eine Entlassungswelle aus. Vielmehr wurde für mehr als eine halbe Million Beschäftigte zusätzlich Kurzarbeit angemeldet. Die Unternehmen handeln also völlig anders, als Sie von der Linksfraktion das ihnen unterstellen. Auch im Frühjahr, als die Wirtschaft durch den ersten Lockdown einbrach, kam es keinesfalls zu Massenentlassungen. Vielmehr stieg die Zahl der Kurzarbeiter auch hier sprunghaft auf 6 Millionen an. Seitdem ist sie bis September auf gut 2 Millionen zurückgegangen. Arbeitnehmer, die nicht mehr in Kurzarbeit sind, kehrten also größtenteils wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Meine verehrten Damen und Herren, wir wollen die Belastungen der Coronapandemie für Arbeitnehmer und Arbeitgeber auch weiterhin abfedern. Deshalb haben wir im letzten Monat erstens die Verlängerung des erleichterten Zugangs zum Kurzarbeitergeld, zweitens die Verlängerung der Bezugsdauer sowie drittens die Verlängerung der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes beschlossen. Damit geben wir den Betrieben und Unternehmen auch im nächsten Jahr ein Instrument an die Hand, um trotz schlechter Auftragslage Entlassungen zu vermeiden. Das wollen die Unternehmen auch; denn es gibt auch ein Leben und Wirtschaften nach dem Lockdown und nach der Pandemie. Dann wollen die Betriebe und Unternehmen wieder voll durchstarten. Dafür brauchen sie gute und verlässliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und diese sind in Zeiten des Fachkräftemangels, an dem sich trotz Corona rein gar nichts geändert hat, nicht so einfach zu bekommen. Ein weiterer Punkt, den Sie übersehen: Arbeitnehmer sind in Deutschland nach dem Kündigungsschutzgesetz vor Kündigungen gut geschützt. Zudem ist eine arbeitgeberseitige ordentliche Kündigung in Deutschland sowieso nur unter Einhaltung der entsprechenden Kündigungsfristen zulässig. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, sind trotz der Krise Kündigungen für Unternehmen nicht das erste Mittel der Wahl, um durch die Krise zu kommen. Zweifellos hat die Coronapandemie aber massive Auswirkungen auf den Geschäftsbetrieb und den wirtschaftlichen Erfolg vieler Unternehmen. Diese müssen sich in einem geänderten Marktumfeld der Nach-Corona-Zeit auch durch strukturelle Maßnahmen bereits jetzt anpassen dürfen. Zur Umstrukturierung gehören manchmal leider auch betriebsbedingte Kündigungen. Diese zu verbieten, wäre kontraproduktiv und würde das Überleben der Unternehmen in der Nach-Corona-Zeit aufs Spiel setzen. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab. Zum Antrag der FDP, für Selbstständige Coronahilfen zu schaffen, nur ganz kurz. Die außerordentlichen Wirtschaftshilfen stehen natürlich auch Soloselbstständigen offen. Zudem umfasst die neue Überbrückungshilfe III ab Januar nächsten Jahres auch die sogenannte Neustarthilfe für Soloselbstständige. Mit dieser wollen wir Soloselbstständigen und insbesondere Künstlern und Kulturschaffenden helfen, die häufig nur geringe Fixkosten haben. Die Neustarthilfe beträgt einmalig maximal 5 000 Euro. Außerdem planen wir einen Sonderfonds für Kulturveranstaltungen. Sie sehen also: Wir unterstützen Soloselbstständige und Künstlerinnen und Künstler in dieser schwierigen Zeit. Deshalb ist nach meiner Auffassung der Antrag der FDP bereits erledigt. ({3}) Meine Damen und Herren, in dieser Krise geht es darum, solidarisch zusammenzustehen, aufeinander aufzupassen und gegenseitig Rücksicht zu nehmen. Dann werden wir weiter vergleichsweise glimpflich durch diese Pandemie kommen. Und da das meine letzte Rede in diesem Jahr ist, wünsche ich trotz allem eine schöne und besinnliche Weihnachtszeit. Und vor allem: Bitte bleiben Sie gesund. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Enrico Komning von der AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Linke will durch die Lockdown-Krise notwendig gewordene außerordentliche Wirtschaftshilfen an einen Kündigungsschutz koppeln. Das heißt also im Klartext, Sie wollen entweder den kleinen Mittelstand von den Hilfen ausnehmen, was sein endgültiges Todesurteil wäre, oder ein neues bürokratisches Monster erschaffen mit neuen Dokumentationspflichten, mit neuen Kontrollen, mit zusätzlichen horrenden Kosten, was dann am Ende auch den Tod des kleinen Mittelstandes bedeutet. Also, meine Damen und Herren Kollegen, Linke und Mittelstand, das funktioniert nicht. ({0}) Der gesetzliche Kündigungsschutz gilt schon heute in allen Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeitern. Sie wollen aber mehr. Sie wollen einen absoluten Kündigungsschutz – für alle und ohne die Möglichkeit einer sozialen Rechtfertigung. Kurzum: Sie beten mit Ihrem Antrag die alte sozialistische Litanei herunter, die letztlich Kollektivierung im großen Maßstab herbeisehnt und privates Unternehmertum verhindert. Sie wollen schlicht Arbeitnehmer und mittelständische Unternehmer gegeneinander ausspielen. ({1}) Corona ist dafür ein willkommener Anlass. Auch wenn wir schweren Zeiten entgegensehen, meine Damen und Herren: Sozialismus ist mit Sicherheit das falsche Rezept. ({2}) Er funktioniert – das hat die Vergangenheit sehr deutlich gezeigt – weder in seiner roten noch in seiner braunen Ausprägung. ({3}) Kündigungsschutz soll den Arbeitnehmer vor der Willkür des Arbeitgebers schützen, und das hat auch seinen Sinn, gerade in Zeiten, wo Gewerkschaften und Gewerkschaftsbosse sich mehr um die große Politik kümmern als um ihre Mitglieder. ({4}) Der besondere Schutz des Kündigungsschutzgesetzes gilt aber gerade nicht für Kleinstbetriebe. Das ist auch sinnvoll; denn gerade hier besteht ein wechselseitiges Abhängigkeits- und Solidaritätsverhältnis, was Willkür in aller Regel ausschließt. Meine Damen und Herren, der Mittelstand in Deutschland, gerade auch der kleine Mittelstand und das Handwerk, steht vor den Trümmern seiner Existenz. Viele Branchen werden die Coronapolitik dieser Bundesregierung nicht überleben. Nicht nur für die Kulturwirtschaft, auch für den stationären Handel hat das Endspiel längst begonnen. Für die ländlichen Räume, die strukturschwachen Gebiete, gerade auch in meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern, bedeuten die Entscheidungen der Bundeskanzlerin und ihres Ministerpräsidenten-Kronrates zumindest mal ein verlorenes Jahrzehnt, wenn nicht mehr. Schon vor der Coronakrise waren die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der Bundesregierung auf eine weitgehende, wenn nicht Abschaffung, so doch Behinderung des Mittelstandes ausgerichtet. Die Lockdown-Politik hat das Ganze beschleunigt. Um es juristisch auszudrücken: Die Maßnahmen der Bundesregierung sind kausal zur gegenwärtigen Megakrise. Meine Damen und Herren, Coronahilfen sind daher keine sozialen Wohltaten für die Betriebe, sondern vor allem eines: Schadensersatz. Und dieser Schadensersatz, meine Damen und Herren von den Linken, ist bedingungsfeindlich. Er kann insbesondere bei Kleinstbetrieben mit einer hohen Ungewissheit, was die Zukunft bringt, nicht an die Festschreibung von Arbeitsverhältnissen gebunden werden. Wir werden uns daher im Ausschuss vehement gegen Ihren Antrag aussprechen. Mit dem Antrag der FDP werden wir uns im Rahmen der Ausschussarbeit wohlwollend befassen. Vielen Dank. ({5})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Johann Saathoff von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD9

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Achteran kakeln Hauner, sagt man in Ostfriesland, wenn man nachher immer noch etwas zu kritisieren hat. Kritik an den Coronahilfen gibt es im Moment von allen Seiten: zu viel, zu wenig, zu langsam, zu unstrategisch – was muss ich da nicht alles lesen. Ja, auch ich hätte mir die Ausgestaltung in einigen Bereichen unbürokratischer gewünscht. Aber wir müssen einfach einsehen: Hier wurde Großartiges geleistet, vor allen Dingen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz! ({0}) – Schön, dass ich die Unterstützung der FDP habe, Herr Houben. – Die Situation, in der wir gerade sind, ist historisch einmalig. Ich glaube, auch sagen zu dürfen: Ich hoffe, dass es auch einmalig bleibt. Vor allem die FDP ist immer ganz vorne dabei, die Hilfsprogramme zu kritisieren. Immerhin sind Sie konsequent: Sie wollten ja lieber nicht als falsch regieren. Es ist zu viel. – Sie können den Menschen, die um ihre Arbeitsplätze bangen, die nicht wissen, wie sie ihre Familie durch diese Zeit bringen sollen, gerne erklären, dass die Wirtschaftshilfen zu hoch sind und dass keine Angemessenheit besteht. Ich würde sagen: Es wurde angemessen reagiert. Dort, wo Not bestand, wurde auch geholfen. Wir haben den Menschen zugehört. Und vor allen Dingen haben wir die Hilfen parlamentarisch beschließen können. Ich glaube, darauf dürfen wir alle in diesem Hause stolz sein. Es ist zu wenig. – Kein anderes Land der EU hat Unterstützung in so großem Umfang geleistet. Unser Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Europäischen Union beträgt etwa 16 Prozent, und wir haben über 50 Prozent der Hilfen ausgeschüttet. November- und Dezemberhilfen sichern die Unterstützung, und die Überbrückungshilfen für die Monate November und Dezember werden erneut verbessert und ausgeweitet. Allein 11 Milliarden Euro pro Monat gehen an den Einzelhandel und die Gastronomie. Wie viel sind eigentlich 1 Milliarde Euro? Wie kann man sich das vorstellen? Eigentlich fehlt uns an dieser Stelle Lothar Binding, der mit seinem Zollstock zeigt, wie viel etwas ist. Als ehemaliger Kommunalpolitiker kann ich Ihnen sagen: Stellen Sie sich eine Straße vor und auf jeder Seite alle 25 Meter ein Neubau im Wert von 250 000 Euro. Dann kommen Sie mit 1 Milliarde Euro ungefähr 50 Kilometer weit. Dann stehen auf beiden Seiten neue Häuser im Wert von 250 000 Euro. ({1}) Für diejenigen, die sich 50 Kilometer nicht vorstellen können: Stellen Sie sich vor, Sie stapeln 50-Euro-Scheine. Dann kommen Sie bei 1 Milliarde Euro auf eine Höhe von 2,0 Kilometern. Ist das zu viel? Es ist auf jeden Fall angemessen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschlands zweiter Lockdown war notwendig. Zum Lockdown hat Olaf Scholz angekündigt, dass es auch für neu geschlossene Unternehmen finanzielle Hilfen geben wird: Zuschüsse zu den Fixkosten, also zu den Mieten, Pachten und Finanzierungskosten. Die Wirtschaft wird sich auf uns verlassen können. ({2}) Die FDP spricht von einer fehlenden Strategie. An dieser Stelle will ich Ihnen sagen: Niemand auf der Welt hat eine Strategie, wie dieser Pandemie tatsächlich begegnet werden soll. Für den Antrag der Linken habe ich durchaus Sympathien. Ich finde auch, dass man bei öffentlichen Hilfen öffentliche Kontrolle braucht und dass man auch erwarten kann, dass die Wirtschaft diese Regeln anschließend einhält. ({3}) Liebe Frau Präsidentin, ich möchte mich abschließend bei den Menschen, die kommunalpolitisch verantwortlich sind, bedanken: bei den Landräten und Bürgermeistern, bei den Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen. Wir können stolz sein, dass wir diese Krise miteinander bewältigen. Die parlamentarische Demokratie funktioniert! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Hartmut Ebbing von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartmut Ebbing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004706, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Idee der Linken ist echt charmant. Und da es die Österreicher vormachen, kann man fast gar nichts dagegen sagen. ({0}) Aber, aber, aber. Die Unternehmen haben jedoch seit März 2020 weit höhere wirtschaftliche Einbußen, als die Hilfen kompensieren könnten. Bei vielen Unternehmen sind die Rücklagen aufgebraucht, und die Insolvenz droht. Die Entscheidungsmöglichkeit der Unternehmer, auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kündigen zu können, muss daher erhalten bleiben. Deshalb muss die FDP Ihren Antrag leider ablehnen. ({1}) Wir nehmen aber gerne die Gelegenheit wahr, mit unserem Antrag erneut auf die Probleme von Selbstständigen ohne Angestellte hinzuweisen. ({2}) Diese sind bisher nicht nur durch alle Raster der Hilfsprogramme gefallen, sondern sollten, obwohl ungewollt im Zwangserlaub, auch Grundsicherung beantragen. Da verstehe ich den Kollegen aus der CDU nicht. Ist das eine Hilfsmaßnahme, die den Menschen wirklich hilft? ({3}) In der Theorie sollten für diese Gruppe vereinfachte Zugangswege zur Grundsicherung geschaffen werden. In der Praxis hat dies aber nicht funktioniert, weil entsprechende Arbeitsanweisungen weder auf Landesebene noch in den Jobcentern umgesetzt worden sind. ({4}) Wir alle kennen entsprechende Beschwerden. Auch ist die Bevorzugung von Angestellten gegenüber Selbstständigen mit dem Kurzarbeitergeld nicht nachvollziehbar. Das Argument „Angestellte zahlen in die Arbeitslosenversicherung ein“ zieht nicht; denn die Beiträge hierfür reichen bei Weitem nicht aus, die jetzige Kurzarbeitergeldlösung zu finanzieren. ({5}) Die November- und Dezemberhilfe wird vielleicht im Januar ausgezahlt. Die Neustarthilfe für Soloselbstständige beträgt maximal ein paar Hundert Euro; davon kann keiner leben. ({6}) Wir fordern daher endlich ein verlässliches und unbürokratisches Hilfsprogramm für Selbstständige ohne Angestellte. Darin muss Unternehmerlohn enthalten sein, damit auch Lebenshaltungskosten bestritten werden können. ({7}) Diese wirtschaftliche Hilfe muss deutlich über der Neustarthilfe und jenseits von Arbeitslosengeld II liegen. Die Finanzierung kann unseres Erachtens aus den bereits verabschiedeten Haushaltstiteln aus 2020 und 2021 bestritten werden und sollte so lange erfolgen, wie eine staatlich verordnete Maßnahme eine Tätigkeit erheblich einschränkt oder verbietet. ({8}) Wichtig für uns wäre eine sofortige und unkomplizierte Antragstellung ohne Branchenausnahme. Genauso wichtig ist eine schnelle Auszahlung. Hier schlagen wir vor, die zuständigen Finanzämter in die Pflicht zu nehmen. Natürlich sollten wir jetzt schon darüber nachdenken und den Selbstständigen eine Perspektive aufzeigen, in welcher Form der Geschäftsbetrieb nach dem harten Lockdown unter Berücksichtigung von Hygienemaßnahmen wieder aufgenommen werden kann. ({9}) Das parlamentarische Jahr neigt sich dem Ende zu. Ich möchte daher, wie auch andere Kollegen, die Gelegenheit nutzen, Ihnen allen für die kollegiale Zusammenarbeit zu danken, und wünsche allen, auch den Soloselbstständigen und allen Bürgerinnen und Bürgern, eine frohe Weihnachtszeit und ein erfolgreiches und gesünderes neues Jahr. Vielen Dank. ({10})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11004191

Vielen Dank. – Das Wort geht an Claudia Müller von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken! Ihren Vorschlag, Kündigungen auszuschließen, wenn Unternehmen November- und Dezemberhilfen beziehen, sehen wir mit großer Sympathie; denn wer staatliche Hilfe erhält, muss auch Verantwortung übernehmen. ({0}) Sie verweisen auf das österreichische Modell und dort ganz besonders auf die Einbeziehung der Sozialpartnerinnen in die Ausgestaltung der Hilfen. Wenn man das liest, muss man sich wirklich fragen: Wer wurde denn in Deutschland bei der Ausgestaltung der Hilfen mit einbezogen? Ich befürchte, es bleibt ein frommer Wunsch, dass die Bundesregierung Hilfen dieser Art in ordentlichen Verfahren unter Beteiligung der Betroffenen ausgestaltet. Das wäre ein echter Fortschritt; denn dann hätten Sie wahrscheinlich auch die vielen Menschen in selbstständiger Tätigkeit oder in hybriden Arbeitsformen mit in den Blick genommen. ({1}) Die Arbeitswelt ist moderner und vielfältiger geworden; leider ist das bei der Bundesregierung noch nicht angekommen. Ganz ehrlich, Sie haben ein echtes Hilfskuddelmuddel geschaffen. Das, was es momentan gibt, gleicht schon fast einer Hilfslotterie. ({2}) Viele Unternehmen können tatsächlich nicht mit Sicherheit sagen, ob sie trotz großer Verluste diese Hilfen erhalten werden. Eines Ihrer neuesten Verwirrspiele ist die Einstufung von Mischbetrieben. Für Sie gelten kleine Betriebe, die einen kleinen Verkauf betreiben, obwohl der eigentliche Betrieb geschlossen ist, als Mischbetriebe, die jetzt möglicherweise keine Hilfen bekommen. Ich nenne ein Beispiel – es wurden solche Fälle beschrieben-: Kosmetikstudios sind geschlossen. Wenn sie aber mehr als 20 Prozent ihres Umsatzes mit Verkauf machen, gelten sie als Mischbetriebe, die möglicherweise eben keine Hilfen bekommen. Ich frage Sie, ob das an dieser Stelle wirklich so gewollt ist. Das Gleiche gilt für Brauereibetriebe, die eine angeschlossene Gaststätte haben. Wir haben heute im Ausschuss die Aussage gehört: Es hängt von der Größe der Brauerei ab, ob sie als Mischbetrieb gilt oder zur Gastronomie zählt. – Bäckereien haben Sie dagegen automatisch eingestuft. Es ist ein unglaubliches Kuddelmuddel. Bitte korrigieren Sie das! Machen Sie es fair! ({3}) Machen Sie es gerecht! Und behandeln Sie hier alle gleich! Die Unternehmen haben entsprechend gehandelt. Da werden jetzt große Lücken entstehen. Bitte seien Sie an dieser Stelle nicht geizig! Helfen Sie wirklich allen! Und nehmen Sie insbesondere die Kleinen in den Blick! Nehmen Sie diejenigen in den Blick, die sich verschiedene Standbeine geschaffen haben, die die Orte lebendig halten, die jetzt aber bei Ihren Hilfen, sowohl bei den November- und Dezemberhilfen, den Überbrückungshilfen als auch bei der Neustarthilfe, durch das Raster fallen. Bitte! Bitte! Wenn Sie diesen helfen wollen – ich wiederhole es gerne mantraartig –: Führen Sie eine Form von Unternehmerlohn bei den Überbrückungshilfen ein! ({4}) Das würde sehr vielen helfen. Wir brauchen die Kreativen, wir brauchen genau diese aktiven Menschen, die unsere Wirtschaft innovativ, zukunftsfähig und breit aufgestellt haben. Lassen Sie diese nicht im Regen stehen! Nehmen Sie sie in den Blick! Helfen Sie dort, wo es wirklich zu helfen gilt! Und seien Sie an dieser Stelle deutlich spendierfreudiger! ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich komme zurück zu dem Tagesordnungspunkt 4 a. Liebe Kollegen, die Zeit der namentlichen Abstimmung ist gleich vorbei. Ich darf fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Jetzt aber dann ganz zügig! Alle anderen sind fröhlich? – Ist der Kollege draußen jetzt so weit? – Gut. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis später bekannt. Der nächste Redner ist der Kollege Axel Knoerig, CDU/CSU. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland geht am heutigen Tag zum zweiten Mal in den Lockdown. Die Einschnitte hinsichtlich des Eingriffs in die Grundrechte sind historisch. Diese Eingriffe betreffen Freiheitsrechte Einzelner wie auch ganzer Gruppen. Mit Blick auf Wirtschaft und Unternehmen geht es um Eingriffe in die Berufsfreiheit und das Eigentum. Das gilt für Aktiengesellschaften wie für Personengesellschaften, für Industrie genauso wie für Mittelstand und Handwerk. Für CDU und CSU ist völlig klar: Diese Eingriffe sind schmerzlich und bedrohen Existenzen. Als Wahlkreisabgeordnete erleben wir das in den letzten Tagen und Wochen. Wir treffen Schausteller; wir treffen Betreiber von Fitnessstudios. Und das sind jetzt nur einige Beispiele für Menschen, die um ihre Existenz kämpfen. Und dennoch – auch das sage ich – sind diese Eingriffe erforderlich und verhältnismäßig. ({0}) Es geht um den Schutz von Menschenleben und um einen Weg, der uns zurückführen soll in eine wenn auch veränderte Normalität. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat zusammen mit den Landesregierungen weitreichende Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die wirtschaftlichen Folgen für Unternehmer und Beschäftigte abzufedern. CDU, CSU und SPD tragen diese Maßnahmen vollumfänglich mit. Die Bundesregierung genießt unser Vertrauen. ({1}) Seit März dieses Jahres waren es viele Maßnahmen. Mit Blick auf unsere heutige Debatte sowie auf die Industrie und den Mittelstand bildet das Kurzarbeitergeld in Verbindung mit den beschlossenen Weiterbildungsmaßnahmen den Kern von Hilfsmaßnahmen. Das ist gut und auch richtig. Das ist eine konkrete Hilfe für die Beschäftigten. Gleichzeitig werden die Unternehmen bei den Personalkosten entlastet. Hinzu kommen Finanzhilfen in Form von Soforthilfen, Überbrückungsgeldern oder auch als Darlehen. Zur Wahrheit gehört auch: Wie weit diese Maßnahmen im Einzelfall tragen, hängt unter anderem davon ab, wie stark das betroffene Unternehmen vor der Krise war und welche Zukunft mit dem jeweiligen Geschäftsmodell verbunden ist. Deswegen müssen wir in der Krise den Unternehmen die Chance geben, sich weiterzuentwickeln, sich neu aufzustellen, damit Arbeitsplätze erhalten bleiben, vielleicht auch neue entstehen, und – das ist ganz wichtig – Produkte und Dienstleistungen erzeugt werden, die zukünftig auch von den Menschen gekauft werden. Meine Damen und Herren, bei den Linken ist das ganz anders. Sie wollen mit Ihrem heutigen Antrag die Menschen glauben machen, dass der Staat Kündigungen einfach verbieten könnte. Das kann der Staat natürlich nicht, und das soll er auch nicht können; denn es gehört zum Wesen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, dass Unternehmen sich verändern, auch vom Markt verschwinden oder wieder neue entstehen. Die soziale Marktwirtschaft sorgt dafür, dass die soziale Balance erhalten bleibt. ({2}) Die Überlegenheit dieses Modells zeigt sich gerade in der Krise. Dass die soziale Marktwirtschaft besser ist als alle anderen Wirtschaftsmodelle, das lehrt nicht nur der Blick in die Geschichte, sondern auch der Blick zu Ihren politischen Freunden in Südamerika. Sie glauben an den Staat. Wir glauben an die Menschen. ({3}) Die Linke traut den Menschen nichts zu. Sie will ihnen die Verantwortung abnehmen und stiehlt ihnen damit auch ihre Freiheit.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Sind Sie dazu bereit?

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Knoerig, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben jetzt die ganze Zeit sehr ausführlich darüber gesprochen, dass in der Marktwirtschaft der Staat im Grunde nichts zu suchen hätte und sich das von selber regeln würde und dass wir deswegen mit unserem Antrag, der sich auf einen besonderen Kündigungsschutz in dieser Pandemie bezieht, über das Ziel hinausschießen würden. Würden Sie mir aber umgekehrt zustimmen, dass, wenn der Staat in dieser Krise nicht so konsequent und auch mit so umfangreichen Hilfsprogrammen handeln würde, ganz schnell ganz viele Unternehmen den Bach runtergegangen wären, ganz viele Unternehmen schon in der Insolvenz wären? Was hat das aus Ihrer Sicht mit freier Marktwirtschaft zu tun? Würden Sie nicht auch sagen, dass nur ein starker Staat in dieser Krise tatsächlich hilft und dass er, wenn er hilft, nicht nur den Unternehmern helfen muss, sondern auch Beschäftigung sichern und für ein Kündigungsverbot sorgen muss? ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von den Linken, was haben wir denn in den vergangenen Monaten erlebt? Wir haben das Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmer; zu Beginn gab es 2 Millionen, zwischenzeitlich bis zu 7 Millionen von Kurzarbeit betroffene Arbeitnehmer. Wir haben den Arbeitgebern bei der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge geholfen; das ist fortlaufend, auch für das nächste Jahr gesichert. Wir erleben zurzeit einen dennoch sehr robusten Arbeitsmarkt. Die Kurzarbeiterzahlen sind von 7 Millionen auf 2,5 Millionen heruntergepurzelt. Das zeigt doch ganz klar, was in der Wirtschaft greift: Gut hilft das bewährte Instrument des Kurzarbeitergeldes, aber auch, dass die Sozialversicherungsbeiträge für die Unternehmen gezahlt werden. Da sage ich: Wir haben diese Maßnahme, die wir schon 2010 und 2011 erfolgreich eingesetzt haben, fortlaufend verbessert, sodass sie auch jetzt wieder eine Stütze ist für die Unternehmen und für die Fachkräfte in Deutschland. Deswegen sage ich ganz klar: Corona ist eben kein Kündigungsgrund, wie Sie es hier weismachen wollen, sondern es gibt ganz klare Grundlagen, was Kündigungen angeht. Sie müssen inhaltlich begründet sein und dürfen nicht, wie Sie es hier darstellen, krankheitsbedingt erfolgen. – Sie können sich jetzt gerne wieder setzen; denn ich meine, ich habe Ihre Frage hinreichend beantwortet. ({0}) Ich möchte noch auf einen Punkt im Antrag der Linken hinweisen. Ihr Antrag ist im Grunde genommen aus der Mottenkiste. Er ist fachlich einfach falsch. ({1}) Ich unterstreiche noch einmal: Sie sagen, Corona sei ein Kündigungsgrund. Dabei sollten Sie doch wissen, dass jede Kündigung, auch in Zeiten einer Pandemie, im Einzelfall immer wieder begründet werden muss. Keine Arbeitnehmerin, kein Arbeitnehmer ist aufgrund von Corona in ihren oder seinen Rechten beschränkt. Die Linke offenbart mit ihrem Antrag erneut ein Wirtschafts- und Gesellschaftsbild, das mit einer freiheitlichen Demokratie und einer sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Da können Sie ruhig auch das Etikett „progressiv“ draufheften. Diese Ideen sind so alt, wie die Planwirtschaft letztendlich gescheitert ist. ({2}) Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass hier viele solcher Anträge gestellt werden. Das zeigt gerade auch mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr: Es wird erkennbar, wo die eine oder andere Partei steht. Die Bürgerinnen und Bürger können entscheiden: rückwärts mit links oder nach vorne für starke Unternehmen und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze mit der CDU/CSU. Ich freue mich auf diese Debatten, und ich sage ganz klar: Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, lehnen den Antrag der Linken ab. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Es macht sich langsam der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt bereit, der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Antrag der Linken ist auf den ersten Blick schon sympathisch ({0}) – ja, dazu kommen wir gleich, Pascal Meiser –; denn Entlassungen sollen verboten werden, wenn Unternehmen Staatsgelder erhalten. Aber er greift zu kurz, und er trifft damit auch nicht die Realität. Ich will das ausführen: Wer Staatsgelder bekommt, also Gelder der Allgemeinheit – von uns –, der muss sicherstellen, dass diese Gelder auch wieder an die Allgemeinheit zurückfließen. Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt und auch beschlossen, dass, wenn staatliche Hilfen geleistet werden, keine Bonuszahlungen und Dividendenausschüttungen erfolgen dürfen. In Ihrem Antrag beschreiben Sie – das ist nicht falsch –, dass es unter Umständen lukrativer sein kann, Leute zu entlassen, als sie in Kurzarbeit zu schicken. Das ist ein theoretisches Modell; in Wirklichkeit ist es doch anders. Ich habe selten Unternehmen kennengelernt, die in erster Linie jetzt ihr Personal loswerden wollen. ({1}) Die kämpfen doch ums Überleben. Die kämpfen doch, weil sie genau wissen, dass es schwierig ist, gutes Personal zu bekommen. Das Ziel ist, dieses Personal an Bord zu halten; deswegen waren ja 6 Millionen Menschen in Kurzarbeit. ({2}) Diese Zahl ist zurückgegangen auf 3 Millionen Menschen. Das zeigt, dass unsere Wirtschaft, unser Arbeitsmarkt in der Krise gut funktioniert; denn es gibt auch Betriebe, die brummen, die boomen – trotz Pandemie. Natürlich wird die Zahl jetzt wieder steigen. Daher ist dieses Instrument ein sehr wichtiges. Einen zweiten Punkt will ich beleuchten. Viele Unternehmen sind tarifgebunden; leider Gottes sind es zu wenige. 52 Prozent der Beschäftigten in Deutschland, also nur jeder Zweite, sind durch einen Tarifvertrag geschützt. Aber die, die es sind, haben in ihren Betrieben und Unternehmen Beschäftigungssicherungstarifverträge. Dadurch haben die Beschäftigten eine Arbeitsplatzgarantie, eine Beschäftigungsgarantie; das ist wichtig. Deswegen ist die Tarifbindung so wichtig. ({3}) Ein weiterer Punkt, den ich beleuchten will: Ja, es gibt viele, die von dieser Pandemie getroffen worden sind wie vom Blitz aus heiterem Himmel. Es gibt aber auch welche, die schon länger Schwierigkeiten gehabt haben; die sind vom Strukturwandel betroffen. Für die ist es ganz wichtig, dass wir die Qualifizierung voranbringen – mit unserem Arbeit-von-morgen-Gesetz, mit dem Qualifizierungschancengesetz –, dass wir Geld in die Hand nehmen, damit die Leute von heute die Arbeit von morgen machen können. Das ist so wichtig. ({4}) Deswegen kann ich noch einmal sagen: Bei den vielen Hilfen, die wir auf den Weg gebracht haben, sind auch 2 Milliarden Euro dabei, die wir direkt in die Automobilindustrie stecken, damit der Strukturwandel gelingt. Ein Allerletztes zum Schluss. Wir können niemandem die Sorge nehmen, arbeitslos zu werden. Aber ich kann hier versichern, dass diese Bundesregierung und die Sozialdemokratie alles dafür tun werden, dass wir Beschäftigung sichern, dass Menschen nicht arbeitslos werden, dass wir gut durch die Pandemie kommen. Den Antrag werden wir im Ausschuss beraten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben heute sicher 100 komplizierte Einzelmaßnahmen zu besprechen. ({0}) Ich will mich auf drei konzentrieren, wobei zur Gemeinnützigkeit später noch der Kollege Michael Schrodi etwas sagen wird. Ich komme zunächst zum Homeoffice. Das ist natürlich der aktuellen Lage geschuldet; viele Leute arbeiten in der Pandemie im Homeoffice. Nicht alle haben natürlich ein Arbeitszimmer. Daraus ergeben sich besondere Belastungen, und wir sind froh, dass wir in diesem Bereich jetzt eine gerechte Pauschale beschließen konnten – das haben wir gemeinsam gemacht, das ist sehr schön; darüber freuen sich schon die CDU/CSU-Kollegen –: 5 Euro pro Tag, bis zu 600 Euro im Jahr. Das wird steuerlich anerkannt und vermindert das zu versteuernde Einkommen; das ist sehr schön. Das ist eine Art Experiment auf zwei Jahre. Das ist ganz wunderbar; denn Hubertus Heil überlegt ja, das Recht auf Homeoffice einzuführen. Das können wir später sehr gut mit steuerlichen Maßnahmen kombinieren. ({1}) – Das ist einen echten Applaus wert; das stimmt. ({2}) Wir haben etwas Zweites gemacht, aber wir haben relativ lange gebraucht. Warum haben wir eigentlich so lange gebraucht? Na ja, wir haben lange diskutiert. ({3}) Die CDU/CSU wollte aus dem Jahressteuergesetz eigentlich eine Art Unternehmensteuergesetz machen – recht kompliziert –, ({4}) mit höheren Verlustrückträgen, Thesaurierungsbegünstigungen – das verstehen die wenigsten – ({5}) und Steuersenkungen für Unternehmen. ({6}) Aber das Jahressteuergesetz ist ein Omnibusgesetz und für kleine Korrekturen infolge der EU-Gesetzgebung gedacht, zur Korrektur kleiner Fehler infolge veränderter Rahmenbedingungen. Es ist eben gerade nicht für große Reformen gedacht. – Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass wir uns über den Begriff „Reform“ nicht einig sind; denn die CDU/CSU-Kollegen verstehen unter „Reform“ ausschließlich Steuersenkungen. Das verstehen wir nicht ausschließlich darunter; denn wir sagen: Wer in der Krise keine Gewinne macht, der hat überhaupt nichts von Steuersenkungen. ({7}) Da hilft keine Unternehmensteuersenkung, das ist klar. ({8}) Aber wer von staatlichen Hilfen profitiert, der soll fairerweise Steuern zahlen. ({9}) Genau das ist die Symmetrie, in der wir denken. Ein Ansatz nach dem Motto „Hilfen rauf, Steuern runter“ ist kein Modell. Es gab noch etwas ganz Spezielles. Kollege Gutting und Sebastian Brehm haben sehr stark für den 44-Euro-Sachbezug gekämpft. ({10}) Es stimmt: Das klingt gut. Ihr habt immer gesagt: für 6 Millionen Arbeitnehmer. ({11}) Beim ersten Hinsehen hilft das den Arbeitnehmern, motiviert sie und stärkt die Attraktivität der Arbeitgeber; es fühlt sich wie ein Geschenk an. Der BiberCard-Verein schreibt, dass die Mitarbeiter relativ wenig verdienen. Die erhalten ein zusätzliches Bonbon in Form eines Sachbezugs. Ehrlich gesagt, ich wäre dafür, wir heben die Löhne an und sorgen für eine faire Entlohnung, anstatt Bonbons zu verteilen. ({12}) So etwas wäre doch schöner und auch einfacher. Ihr habt euch ein kompliziertes System überlegt. Außerdem benachteiligt der Arbeitgeber die Beschenkten noch durch seinen Betriebsausgabenabzug und weil er keine Beiträge zahlt. Das heißt, die Beschenkten haben künftig eine geringere Rente, weil man ihnen Lohn vorenthält und ihnen stattdessen ein Bonbon gibt. Das halte ich für gefährlich. ({13}) Ich will das schwierigste Beispiel nennen, das es gibt: Lieferando. Da müssen die Leute ihr eigenes Fahrrad nehmen – übrigens auch ihr eigenes Handy – und bekommen 10 Cent für die Abnutzung. Interessant ist: Das ist gedeckelt bei 440 Kilometern. Dreimal darf hier jeder raten: Das sind 44 Euro. Und diese 44 Euro werden ausbezahlt als was? Als ein Amazon-Sachgutschein. Diese Gestaltungen ermöglichen wir damit. Das ist eine Art der Entlohnung, die wir nicht wollen. ({14}) Ich bin für faire Löhne, gute Arbeitsmittel, keine Bonbons. ({15}) – Das ist genau der Punkt, ja. Ihr wolltet den regionalen Handel fördern – das wollen wir auch –; aber gleichzeitig hat der Kollege Brehm für, wie wir sagen, Open Loop gekämpft. „Open Loop“ heißt: alles für alles. Du hast keine Sachbezugskarte, sondern eine Geldkarte. Das heißt, nicht der regionale Handel wird gefördert, sondern irgendwie der gesamte Handel. Faire Löhne sind besser als diese Sondertatbestände. Jetzt steht hier: minus 11 Sekunden. Daran will ich mich halten, damit der Präsident mich nicht ermahnen muss.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das ist sehr löblich.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Insofern sieht jeder: Es geht nichts über faire Löhne, aber es spricht so manches gegen diese Bonbons. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sehr gut. – Jetzt geht es weiter mit dem Abgeordneten, der sich mit Maske nähert: der Abgeordnete Kay Gottschalk, AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das war schon großes Kino, Herr Binding. Sie haben wenig zum Steuergesetz gesprochen. Ich kann auch verstehen, warum. Da müsste Ihnen eigentlich die Schamesröte ins Gesicht steigen; ich werde gleich darauf eingehen. Sie sagten ja: Die, die staatliche Hilfen bekommen, sollen gerne mehr Steuern bezahlen. Das betrifft insbesondere die Arbeitnehmer; das werde ich gleich beim Thema Progressionsvorbehalt deutlich machen. Das war eine deutliche K.-o.-Erklärung der SPD. Aber bevor ich mich mit dem Gesetzentwurf auseinandersetze, möchte ich einmal meine grundsätzliche Kritik in Richtung der Koalition äußern: Es ist schon ein starkes Stück, uns fünf Tage vor der abschließenden Finanzausschusssitzung 42 Umdrucke der Koalitionsfraktionen vorzulegen, ({0}) die teilweise hochkomplexe Sachverhalte ändern sollen. Ich halte das nicht für zielführend, und ich halte das auch für einen schlechten Umgang mit der Opposition und wünsche mir da in Zukunft einen besseren Umgang. Das hatte schon was von ESM light, meine Damen und Herren. ({1}) Ein konstruktives Arbeiten setzt natürlich voraus, dass sich auch die Opposition ausreichend mit ihren Gesetzesvorhaben und Änderungen auseinandersetzen kann. Das war für uns schon – einmal abgesehen davon, dass das in einer Haushaltswoche geschah – ein echt starkes Stück. Also nochmals: Hier wünsche ich mir in Zukunft einen vernünftigeren Umgang. Dass wir für die Debatte über das Jahressteuergesetz mit so vielen umfänglichen Änderungen nur so wenig Zeit, nur eine halbe Stunde, haben – auch das ist ein Kritikpunkt, wenn man bedenkt, über was für Punkte wir hier manchmal stundenlang sprechen –, finde ich an dieser Stelle auch ziemlich deplatziert. Aber nun komme ich in dieser kurzen Zeit tatsächlich zu den Änderungen. Da gibt es ein paar gute Anträge der AfD. Liebe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, spitzen Sie da die Ohren, damit Sie tatsächlich bei der Bundestagswahl wissen, wer sich um Ihre Belange kümmert. ({2}) Ich nenne Ihren Gesetzentwurf einmal sehr plakativ „Corona-Steuerfalle-Gesetz“. Warum ist das so bei diesem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren? Das Interessante ist nämlich, was in diesem Gesetzentwurf leider nicht steht. Der Soli bleibt in der Höhe. Schauen wir einmal, was jetzt im Zuge der Coronakosten da auf uns zukommt. Ich komme zum Antrag der AfD und vor allen Dingen zum Thema Progressionsvorbehalt. Sie haben es eben deutlich gesagt, Herr Binding: Wer Hilfen bekommt, soll ruhig zahlen. – Das gilt insbesondere für mehr als 4 Millionen Arbeitnehmer. Meine Damen und Herren, Sie wissen nämlich alle: Das Kurzarbeitergeld ist zwar steuerfrei, aber eben nicht ganz. Es unterliegt nämlich dem sogenannten Progressionsvorbehalt. Ich darf den DGB zitieren – der dürfte der SPD ja bekannt sein –: Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Koalition Millionen Beschäftigte, die Kurzarbeitergeld erhalten, an dieser Stelle im Regen stehen lässt. Wer mit dem Kurzarbeitergeld erhebliche Einkommenseinbußen hinzunehmen hat, soll nicht auch noch mit Steuernachzahlungen zu kämpfen haben. Das sagt kein Geringerer als Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des DGB. Meine Damen und Herren des Hohen Hauses, wir, die AfD, haben einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht, um dieses Problem für über 4 Millionen Kurzarbeiter in Deutschland für die Jahre 2020 und 2021 zu lösen. Was wollen wir ändern? Erstens. Wir wollen, dass das Kurzarbeitergeld in diesen Jahren nicht dem Progressionsvorbehalt unterliegt. Nach dem Einkommensteuergesetz ist dann nämlich mit Nachzahlungen zu rechnen. Ich könnte mich jetzt natürlich freuen; denn die werden nämlich wahrscheinlich im August auf die Menschen zukommen, kurz vor der Bundestagswahl. Zweitens: zum Zweck des gleichzeitigen Bürokratieabbaus. Auch in den Finanzämtern müssten jetzt die Sektkorken knallen; denn ab 410 Euro Kurzarbeitergeld sind Einkommensteuererklärungen notwendig. Es lebe die Bürokratie dieser Regierung, meine Damen und Herren. ({3}) Ein weiterer fantastischer Antrag meiner Fraktion ist eingegangen. Sie sprechen hier alle von Digitalisierung 4.0. Die FDP ist da ja Serviceopposition. Die CDU sagt: „Wir müssen die Digitalisierung voranbringen“, und Sie bringen viel Geld voran. Alle sprechen in Coronazeiten vom Homeoffice. Nur, was Sie hier planen, lieber Herr Binding – deswegen haben Sie wahrscheinlich auch nicht so richtig darüber gesprochen –, das sind Almosen. 5 Euro pro Tag, maximal 600 Euro, wollen Sie den Leuten da draußen gewähren, die jetzt im Homeoffice sitzen, und das Ganze wird dann sogar noch gegen die Werbungskosten aufgerechnet. Meine Damen und Herren, folgen Sie auch hier dem AfD-Antrag, in dem steht: Lassen Sie uns die Verhältnisse wiederherstellen, die wir Anfang der 2000er hatten. Manchmal hilft auch ein Blick zurück. Weg mit der Kerntheorie und anderen Dingen, damit jeder Mensch, wenn er zu Hause ein Arbeitszimmer hat oder arbeitet, auch die tatsächlichen Kosten gegenrechnen kann! Das wäre sozial, das wäre fair, und das trägt auch einer digitalen Zukunft insoweit Rechnung, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Fertig?

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sie sind schon am Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es ist ein ziemlich mittelmäßiger Gesetzentwurf dieser Regierung, weil auch viele gute Änderungen drin sind.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Gottschalk!

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Deswegen werden wir uns enthalten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Also, Leute, ich weiß, dass die Redezeiten kurz sind, aber trotzdem: Man kann auch in kurzer Zeit Wichtiges sagen. Bitte halten Sie sich an die Redezeiten. Der Kollege Olav Gutting ist der nächste Redner. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren haben wir das Jahressteuergesetz bei der Namensgebung ja oft ein bisschen durch Mimikry verunstaltet. Dieses Jahr heißt es wirklich „Jahressteuergesetz“, und das ist auch gut so. Neben teilweise deutlichen Entlastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmer stärken wir mit dem Jahressteuergesetz das Ehrenamt, und wir nehmen entsprechende Anpassungen an EU-Recht und an Rechtsprechung vor. Wir haben hier einen Gesetzentwurf mit 18 Artikeln, den wir an 42 Stellen im Verfahren geändert haben. Da steckt viel Arbeit, viel Ausdauer, aber leider auch viel Zeit drin. Aber ich denke, es hat sich gelohnt. Ich möchte mich an dieser Stelle deshalb bei allen Beteiligten, bei den Kolleginnen und Kollegen im Finanzausschuss, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Beamten des BMF, die viel geleistet haben, den Sachverständigen aus Wissenschaft und aus den Verbänden bedanken und immer wieder die gute und intensive Zusammenarbeit in den letzten Monaten betonen. ({0}) Gut Ding will Weile haben, ja. Wir haben etwas länger gebraucht. Leider ist es uns dann auch nicht gelungen, den ursprünglichen Zeitplan für das Gesetzgebungsvorhaben einzuhalten. Das lag einerseits am späten Kabinettsbeschluss, andererseits auch an den vielfältigen Änderungswünschen des Bundesrats und von uns Parlamentariern. Schneller ging es leider nicht. Mir bleibt deswegen nur, mich an dieser Stelle zu entschuldigen. Ich bitte um Entschuldigung bei den steuerberatenden Berufen, bei den Seminaranbietern, bei den Softwareanbietern, aber auch bei der Verwaltung, dass jetzt leider nur wenig Zeit bleibt, um sich entsprechend umzustellen und anzupassen. Aber auch hier: Wir geloben Besserung. ({1}) Aufgrund der eingeschränkten Redezeit nur einige Punkte des Gesetzgebungspaketes, die mir besonders am Herzen liegen, darunter, wie gesagt, viele steuerliche Entlastungen. Das hier nur im Schnelldurchgang. Wir haben den Alleinerziehendenentlastungsbetrag bereits im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz verdoppelt. Um ein Zeichen gerade für die schwere Situation von Alleinerziehenden zu setzen, wird diese Erhöhung jetzt entfristet und gilt über das Jahr 2022 hinaus. ({2}) Wir haben die Möglichkeit zur steuerfreien Auszahlung des Coronabonus bis zum Sommer 2021 verlängert. Das heißt: Auch ein im Halbjahr nächsten Jahres ausbezahlter Bonus etwa für Pflegekräfte bleibt steuerbegünstigt. Wir haben beim § 7g EStG zur Förderung von kleinen und mittleren Betrieben die Gewinngrenze auf 200 000 Euro angehoben. Das ist gut für landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Betriebe; es wird denen zugutekommen. ({3}) Die gesetzliche Konkretisierung und Steuerfreiheit für Outplacement-Beratungen ist ebenfalls ein wichtiger Punkt. Die steuerrechtliche Berücksichtigung von Aufwendungen bei der verbilligten Wohnraumvermietung wird für Vermieter und damit eben auch für Mieter und Mieterinnen verbessert. Der steuerfreie Sachbezug – lieber Lothar Binding, du hast es angesprochen – steigt auch 2022 von 44 auf 50 Euro, und wir finden das richtig. Wir finden auch diesen steuerfreien Sachbezug richtig. Der Unterschied ist: Wir wollen, dass faire Löhne bezahlt werden, und wir wollen obendrauf noch zusätzlich diesen Sachbezug. ({4}) Ich freue mich auch für die Vereine und für die Ehrenamtlichen. Durch Steuerentlastungen und durch Bürokratieabbau erleichtern wir ihre unverzichtbare Arbeit. Das ist ein wichtiges Signal; denn ihr Engagement in den Vereinen macht unser Land lebenswert. ({5}) Was fehlt, will ich aber hier auch nicht verschweigen. Wir hätten uns gewünscht – das kam schon zur Sprache –, dass wir zum Beispiel beim § 20 Absatz 6 EStG, bei der Verlustverrechnung bei der Abgeltungsteuer, eine Korrektur vornehmen. Wir hätten uns überhaupt bei der Verlustverrechnung insgesamt endlich Bewegung gewünscht. Das wäre übrigens keine Steuersenkung gewesen, sondern eine zielgenaue Hilfe für die Unternehmen, die jetzt Verluste machen. ({6}) Ebenso wäre eine Thesaurierungsbegünstigung ein wichtiges Signal an unseren Mittelstand gewesen. Vieles mehr hätten wir uns gewünscht; aber das ging mit dem Koalitionspartner nicht. Alles in allem: Viel Licht, wenig Schatten. Es lohnt sich, zuzustimmen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die Fraktion der FDP der Kollege Markus Herbrand. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir vorgenommen, zur Weihnachtszeit versöhnliche Worte zu finden. Und in der Tat: Es gibt auch Gutes in dem Gesetz; insbesondere die 42 Umdrucke zum Ende haben dieses Gesetz besser gemacht. Wir befürworten zum Beispiel auch alle Regeln, die den Vereinen das Leben einfacher machen. ({0}) Alles in allem aber machen Sie mir es eher schwer, positive Worte zu dem Gesetz zu finden; denn es leidet aus meiner Sicht an zwei Konstruktionsfehlern. Deshalb haben wir mit fast 30 Anträgen versucht, unsere Aspekte einzubringen; leider vergebens. Der erste Konstruktionsfehler ist, dass das, was im Gesetz steht, oft in die falsche Richtung geht. Der Bürokratieaufwand wird zum Teil erhöht. So sind die Regelungen zur verbilligten Vermietung ein deutlicher Rückschritt im Kampf gegen die Bürokratie, und das wissen Sie ganz genau. Falsch ist auch: Sie verweigern vielen Sparerinnen und Sparern nach wie vor die steuerliche Berücksichtigung der Verluste, obgleich gleichgelagerte Gewinne komplett versteuert werden. ({1}) Die obersten Richter in unserem Land halten das für verfassungswidrig, wir auch. Wir halten es zudem für massiv ungerecht. ({2}) Deshalb haben wir einen eigenen Antrag dazu eingebracht. Auch mit den steuerlichen Regelungen zum Homeoffice bleiben Sie auf halber Strecke stehen. ({3}) Warum, um Gottes willen, befristen Sie diese Regelung auf zwei Jahre? Sie vertreten offenbar die Auffassung: Wenn das Virus weg ist, dann verschwindet auch das Homeoffice wieder. Das halte ich, ehrlich gesagt, für weltfremd. ({4}) Der zweite Konstruktionsfehler dieses Gesetzes: Es fehlt einfach zu viel in diesem Gesetz. Dass beispielsweise immer noch nichts zu dem dringend notwendigen weiteren Reformbedarf bei der Verlustverrechnung von Betrieben gekommen ist, ist sehr ernüchternd. ({5}) Sie verweigern sich hier einem einfachen und auch unbürokratischen Lösungsansatz, um die Unternehmen mit dringend notwendiger Liquidität zu versorgen; Sie gehen lieber über KfW-Kredite. Auch verweigern Sie erneut, die Bezieher von Kurzarbeitergeld von den für alle zu erwartenden Steuernachzahlungen zu befreien. Der Progressionsvorbehalt führt dazu, dass diese Leistungen mit der Steuererklärung im nächsten Jahr zum Teil einfach wieder wegbesteuert werden; da werden sich noch viele wundern. Wir haben wiederholt beantragt, den Progressionsvorbehalt für coronabedingte Lohnersatzleistungen auszusetzen. Sie haben das wiederholt abgelehnt und damit dokumentiert, dass Sie das nicht wollen. Unsere Ablehnung dieses Gesetzes ist auch eine Ablehnung der insgesamt wenig ambitionierten Steuerpolitik der Koalition, nicht nur, aber eben auch im Coronajahr. Weder die Corona-Steuerhilfegesetze noch das Jahressteuergesetz wurden genutzt, um den steuerpolitischen Stillstand zu beenden und richtige und wichtige Weichen zu stellen, um unser Land steuerpolitisch zukunftsfest zu machen und wettbewerbsfähig aufzustellen für die Zeit in und auch nach der Krise. Deshalb lehnen wir dieses Gesetz ab. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt hat für die Fraktion Die Linke das Wort der Abgeordnete Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieses Jahr war ein schwieriges Jahr, es war ein verrücktes Jahr, aber jedes Jahr endet mit einem Jahressteuergesetz. Man findet in so einem Jahressteuergesetz immer einige Dinge, die ganz okay sind, und einige Dinge, die uns zu wenig sind. Ich fange mal mit dem Positiven an. Positiv ist, dass Sie klarstellen, dass Zusatzleistungen der Arbeitgeber wie ein Jobticket zusätzlich zum Arbeitslohn erfolgen müssen und nicht dafür genutzt werden dürfen, die Löhne zu drücken. Das finden wir ausdrücklich positiv. ({0}) Wir hätten uns gewünscht – es ist bereits angesprochen worden –, dass wir den Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld aussetzen, damit nicht die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt um ihre Zukunft bangen, später mit höheren Steuernachzahlungen konfrontiert werden; denn Kurzarbeitergeld ist zwar steuerfrei, aber es wird zum zu versteuernden Einkommen hinzugerechnet. Somit rutscht man in eine höhere Progression, und dadurch drohen Steuernachzahlungen. Wir fordern schon seit Jahren, den Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld abzuschaffen. ({1}) Darüber hinaus ist positiv, dass wir bei den kriminellen Cum/Ex-Geschäften, dem größten Steuerraub in der deutschen Geschichte, endlich zur Regelung kommen: Auch wenn Cum/Ex-Deals bereits steuerlich verjährt sind, können wir sie strafrechtlich abschöpfen. Wir haben uns hier im Haus darüber gefetzt. Aber es ist gut, dass uns das jetzt gemeinsam gelungen ist und dass wir es nicht zulassen, dass die kriminellen Cum/Ex-Gangster davonkommen. Es gibt noch einige Unsicherheiten, die dadurch entstanden sind, dass das Finanzministerium geschlampt und eine Hintertür für die Cum/Ex-Gangster eingebaut hat, wenn nämlich die Verjährung vor dem 1. Juli 2020 eingetreten ist. Aber wir versuchen, das jetzt gemeinsam zu heilen, und das ist auch gut so. ({2}) Was die Homeoffice-Pauschale angeht: Das Problem ist, dass der Steuerabzug immer jene begünstigt, die über ein höheres zu versteuerndes Einkommen verfügen. Dadurch, dass sie unter die Werbungskosten fällt, gehen die Arbeitnehmer leer aus, die über ein geringeres Einkommen verfügen und nicht über die 1 000 Euro Werbungskosten hinauskommen. Zusätzlich werden auch die Arbeitgeber aus der Pflicht genommen. Das hätten wir anders gelöst. Zum Schluss. Wir haben einen eigenen Antrag eingebracht, der sich auf die Gemeinnützigkeit bezieht. Warum? Wir haben die Situation in Deutschland, dass zum Beispiel die Rüstungslobby gemeinnützig ist, aber Organisationen wie der VVN, einer Organisation, die von Holocaustüberlebenden gegründet wurde, wurde die Gemeinnützigkeit aberkannt. Das finden wir völlig inakzeptabel. Deswegen wollen wir den Katalog der steuerbegünstigten Zwecke erweitern und werben um Zustimmung zu unserem Antrag. Zum Jahressteuergesetz wollen wir uns enthalten. Vielen Dank. Bleiben Sie gesund, und fröhliche Weihnachten vorab. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Fabio De Masi; vorbildliches Einhalten der Redezeit. – Nächste Rednerin: die Abgeordnete Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, das Jahressteuergesetz hat wie jedes Jahr Licht und Schatten neben den üblichen notwendigen Anpassungen. Ich fange mit etwas Licht an. Es ist uns gelungen, den schweren Fehler, den die Mehrheit in diesem Hause im Sommer gemacht hat, nämlich das Rückwirkungsverbot bei der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung einzuführen, zu korrigieren. Das Bundesfinanzministerium hat sich geziert, aber es ist uns gelungen, dass die Regelung wieder geändert wird. Damit ist es nicht mehr möglich, dass die Cum/Ex-Straftäter einfach mit dem Geld nach Hause gehen. Vielmehr können sie jetzt rechtlich belangt werden. Ich hoffe, der Fehler ist jetzt repariert. Allerdings fragen wir uns: Warum haben Sie die Regelung am Ende doch noch leicht eingeschränkt? Sie sagen, sie gilt nur für besonders schwere Steuerstraftaten. Das wäre aus unserer Sicht rechtlich nicht notwendig gewesen. Wir haben es mehrfach dargestellt. Wir haben auch einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, den Sie aber nicht angenommen haben; das ist der Schatten an dieser Stelle. ({0}) Ein bisschen weniger Licht und noch viel mehr Schatten gibt es im Bereich Gemeinnützigkeit. Richtig ist: Es hat sich in dem Bereich einiges getan. Aber die nach wie vor existierende massive rechtliche Unsicherheit für Nichtregierungsorganisationen – die Frage ist, was passiert, wenn sie sich politisch betätigen – haben Sie mit dem Gesetz nicht beseitigt, und das ist schlichtweg ein Skandal. ({1}) Wir als Grüne wollen endlich eindeutig gesetzlich regeln, dass die Einflussnahme auf die politische Willensbildung grundsätzlich gemeinnützige Zwecke verfolgen darf. Insbesondere Teile der Union haben das abgelehnt mit dem Hinweis: Wieso? Es gebe doch gar kein Problem. – Wenn das tatsächlich so sein sollte: Wir hören definitiv anderes. Seit über zwei Jahren gibt es einen Stillstand. Keiner bewegt sich, weil man unsicher ist. Lassen Sie uns doch gemeinsam einen eindeutigen Anwendungserlass erlassen. ({2}) Dann hätten wir zumindest einen kleinen Schritt in die richtige Richtung getan. ({3}) Ja, Sie haben den Zweckkatalog um Klimaschutz und um Freifunk ergänzt, aber auch – jetzt wird es ein bisschen eklektisch – um Friedhofspflege. Vor allen Dingen ist völlig unklar, warum Sie ihn nicht ergänzt haben um die Förderung der tragenden Grundsätze unseres Staatswesens wie Demokratie, wie Grund- und Menschenrechte, wie zivilgesellschaftliche Teilhabe und wie soziale Gerechtigkeit. Dazu findet sich nichts in diesem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren. ({4}) Licht und Schatten gibt es auch beim Thema Investitionsanreize. Ja, Sie haben beim § 7g Einkommensteuergesetz – Investitionsabzugsbetrag – etwas getan; aber der Investitionsabzugsbetrag hat null – null! – ökologische Lenkungswirkung. Das kritisieren nicht nur wir, sondern das kritisiert auch der Bundesrechnungshof, der Ihnen klar sagt: Damit widersprechen Sie Ihrem eigenen Klimaschutzprogramm 2030. ({5}) Außerdem hätten wir uns die Ausweitung des Verlustrücktrages gewünscht. ({6}) Das fehlt; dabei wissen wir alle miteinander, dass das wirkungsvoll und zielgenau wäre. Auch darauf gehen wir in unserem Entschließungsantrag ein. Auch das ist eine Leerstelle in diesem Gesetzentwurf. Nun kommen wir zum Schluss noch zur völligen Dunkelheit: Es gibt nach wie vor nichts zum Thema Share Deals. Seit über einem Jahr liegt der Gesetzentwurf rum. ({7}) Es gibt auch kein Stopfen der kratergroßen Löcher beim Erbschaft- und beim Schenkungsteuerrecht. Herr Döpfner ist mit 1 Milliarde Euro schenkungsteuerfrei nach Hause gegangen; aber dieser Gesetzentwurf sieht keine entsprechende Änderung vor. Da wundert es nicht, dass auch eine Erbschaft von 300 Wohnungen und mehr nach wie vor steuerfrei ist, weil das dann als Unternehmen gilt, obwohl es ein Urteil des BFH dazu gibt; auch da ist keine Änderung vorgesehen. Das versteht diese Große Koalition unter sozialer Gerechtigkeit. Deshalb ist vielleicht die beste Nachricht: Das ist das letzte Jahressteuergesetz dieser Koalition, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die Fraktion der SPD der Kollege Michael Schrodi. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit diesem Jahressteuergesetz legen wir zahlreiche Päckchen unter den Weihnachtsbaum. Jeder packt hier ein paar aus und sagt, was drin ist. Auch ich möchte ein paar Päckchen herausnehmen. Eine gute Nachricht für Vermieter und Mieter: Wenn die Miete 50 Prozent unter der ortsüblichen Miete liegt, dann kann der Vermieter seine Kosten für die Wohnung als Werbungskosten steuerlich geltend machen. Die entsprechende Grenze haben wir von 66 Prozent auf 50 Prozent gesenkt. Das ist, denke ich, eine gute Nachricht für Vermieterinnen und Vermieter sowie für Mieterinnen und Mieter. Wir verlangen in einigen Fällen eine Totalüberschussprognose. Die einen sprechen hier von Bürokratie. Wir sagen: Wir wollen damit Gestaltungsmöglichkeiten verhindern, und das ist gut so. Genauso gut ist, dass wir den Steuerbetrug bekämpfen wollen. Das haben wir immer gesagt; auch Olaf Scholz hat sich das immer auf die Fahne geschrieben. Bei Cum/Ex-Geschäften machen wir das jetzt auch: Wir verlängern die Frist für die Strafverfolgungsverjährung, und bei bereits verjährten Steuerbetrugsfällen können die so erzielten Gewinne eingezogen werden. ({0}) Da gab es nie eine bewusste Lücke. Wir haben immer gesagt: Wir machen das in einer Abfolge. Das habe ich Ihnen beim letzten Mal schon erklärt, Herr De Masi. Jetzt haben wir, glaube ich, alles gemacht, damit wir diesen Betrug wasserdicht bekämpfen können. ({1}) Das ist gut so, dass wir das mit diesem Gesetz so beschließen. ({2}) Wir haben in dieser Krise gemerkt, dass wir sozialen Zusammenhalt, dass wir Solidarität brauchen. Wir versuchen, da vieles zu tun. Wichtig ist aber, was vor Ort geschieht, in Vereinen, gemeinnützigen Organisationen, im Ehrenamt. Das wollen wir fördern. Wir tun das durch die Anhebung der Übungsleiter- und der Ehrenamtspauschale. Mein und unser aller Dank gilt all denen, die ehrenamtlich tätig sind, die auch unentgeltlich in vielen kleinen Vereinen tätig sind. Vielen Dank an die, die so für Solidarität und Zusammenhalt sorgen! ({3}) Wir haben auch den Zweckkatalog erweitert – das ist schon erwähnt worden –, beispielsweise um Klimaschutz und Freifunk. Ein Päckchen liegt leider nicht unter dem Weihnachtsbaum, und das ist insgesamt für diese Gesellschaft nicht gut, wie wir finden. Demokratie braucht eine starke und lebendige Zivilgesellschaft. Sie steht unter Druck. Sie ist durch manche Urteile verunsichert, dadurch, dass manchen Organisationen die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. Sie ist aber auch durch die Politik verunsichert, beispielsweise durch einen Parteitagsbeschluss der CDU von vor zwei Jahren, mit dem man Druck auf eine Umweltorganisation ausüben wollte. Damals hat man gesagt: Man möchte versuchen, dieser Organisation die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. – Das ist nicht gut. Solche Angriffe auf politisch missliebige Organisationen sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht gut. ({4}) Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft, die auch mal unbequem ist; sie ist wichtig. Auch Antifaschismus muss gemeinnützig sein. Das ist ein anderer Rechtskreis, aber auch er gehört dazu. Dafür müssen wir kämpfen; ich denke hier an den bayerischen Verfassungsschutzbericht. Wir wollten den vielen gemeinnützigen Organisationen Rechtssicherheit geben. Wir hätten nur in das Gesetz reinschreiben müssen, dass es unschädlich ist, wenn Organisationen innerhalb ihrer Satzungszwecke auch auf die politische Willensbildung einwirken. Mehr wäre es nicht gewesen. Aber selbst das – diese Rechtssicherheit zu gewähren – war leider mit dem Koalitionspartner nicht möglich. Das ist schade; wir halten das auch für falsch. Aber in einem Jahr ist wieder Weihnachten. ({5}) Da versuchen wir, ein großes rotes Päckchen der Gemeinnützigkeit mit Rechtssicherheit unter den Baum zu legen, dann vielleicht mit anderen Mehrheiten. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, jetzt ist die Zeit abgelaufen.

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ansonsten wünsche ich Ihnen bis dahin auch ein fröhliches Weihnachtsfest, und – natürlich – bleiben Sie gesund. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste: der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende des Jahres kommt immer wieder – das ist schon gesagt worden – das Jahressteuergesetz daher. Leider wird es zu einer Tradition, dass wir es nicht innerhalb des Zeitrahmens verabschieden, den wir eigentlich vorgesehen hatten. Wir wollten den Menschen in beratenden Berufen und auch den Steuerpflichtigen eigentlich genug Zeit geben, sich auf das Gesetz einzustellen. Aber wir haben uns – das muss man so offen anerkennen und auch sagen – in der Debatte verhakt. ({0}) Das liegt aber auch daran, dass die Jahressteuergesetze mittlerweile immer weiter überfrachtet werden. Früher waren Jahressteuergesetze dafür da, technische Änderungen durchzuführen, Anpassungen an die aktuelle Rechtsprechung durchzuführen. Mittlerweile soll das, was unterjährig nicht geleistet wird, in diesem Jahressteuergesetz geleistet werden. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir bei der Gemeinnützigkeit viel Gutes tun. Manche würden auch noch etwas anderes tun – darüber, ob das gut ist, haben wir ja lange diskutiert –, aber wir tun schon viel Gutes. Doch es war eigentlich die Aufgabe des Bundesfinanzministers – das hat er angekündigt –, ein Ehrenamtsmodernisierungsgesetz vorzulegen. Auf das warten wir heute noch, ({1}) und nur weil der Bundesrat uns das aufgegeben hat, haben wir überhaupt diese Regelungen hier drin. Wir haben schon damals bei der Einbringung gesagt: Das Entscheidende bei diesem Gesetz ist nicht das, was drinsteht, sondern das, was noch nicht drinsteht. Da sind wir grundsätzlich mit dem Kollegen Herbrand einig. ({2}) Wir wollten andere Dinge in diesem Gesetz haben; das ist ja auch schon gesagt worden. Die Homeoffice-Pauschale ist reingekommen. Im Hinblick auf die Verjährung von Cum/Ex-Geschäften haben wir sogar Lob von Herrn De Masi erhalten, weil wir da eine Lösung gefunden haben. ({3}) Schade ist, dass Frau Paus und die Grünen, die das ja eigentlich auch wollen, im Ausschuss nicht zustimmen konnten. Aber ich glaube, wir haben da eine gute Lösung gefunden. Was uns wirklich schmerzt, ist, dass es uns nicht gelungen ist, unseren Koalitionspartner und auch den Minister davon zu überzeugen, dass wir in dieser besonderen Situation auch noch etwas für die Wirtschaft machen müssen. Lothar Binding, es geht nicht darum, jetzt Steuern zu senken. Wir haben schon im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuersenkung darüber diskutiert: Ist es überhaupt sinnvoll, die Mehrwertsteuer zu senken, wenn keine Umsätze da sind? – Das ist eine alte Debatte. Es macht keinen Sinn, Unternehmensteuern zu senken, wenn keine Gewinne da sind. Man hätte aber über Folgendes nachdenken sollen: Latente Steueransprüche, die Steuerpflichtige aufgrund ihrer Verluste haben, mit zukünftigen Gewinnen verrechnen zu können, sie sozusagen nach hinten verrechnen zu können, und zwar zwei Jahre und mehr zurück und nicht, wie jetzt, nur ein Jahr, das schafft Liquidität. Das ist zielgenau. Das wäre jetzt ein wichtiges Signal an die Wirtschaft gewesen. ({4}) Das fordern mittlerweile eigentlich alle. Es gibt kein Wirtschaftsinstitut, das dies nicht fordert. Die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder hat das mehrheitlich entschieden, über alle Parteigrenzen hinweg. Die Grünen fordern das mittlerweile. Es gibt eigentlich nur noch das – falsche – Beharrungsvermögen beim Bundesfinanzminister, der sich ja im Interview mit dem „Spiegel“ als „wirtschaftskompetentester Kanzler“ bezeichnet hat. Hier beweist er genau das Gegenteil: Er kann keine Wirtschaft, es sei denn, er zeigt, dass er es doch kann. ({5}) Denn eigentlich hat er die Erkenntnis: Ich glaube, es war am Samstag, als ich die Pressekonferenz nach der Konferenz der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin gesehen habe. Da saß Olaf Scholz und erklärte uns, dass es klug ist, jetzt untergesetzlich zu regeln – was übrigens längst geregelt ist –, dass Waren und Wirtschaftsgüter abgeschrieben werden können, wenn sie nicht mehr genutzt werden können. Das ist die sogenannte Teilwertabschreibung. Er hat das Teilabschreibung genannt. So steht es auch im Papier; aber das ist nicht ganz richtig. Es sind Teilwertabschreibungen. Diese sind jetzt auch schon möglich. Und dann sagte er, damit könnten Verluste unmittelbar geltend gemacht werden und das schaffe Liquidität bei den Unternehmen. Recht hat er! Aber das, was unterjährig gilt, gilt auch rückwirkend. Von daher wird es höchste Zeit, dass wir beim Verlustrücktrag etwas tun. ({6}) Ein weiterer Punkt, den wir nur kurz angesprochen haben – was schade ist; das gebe ich zu –, ist das Thema der Fristverlängerung. Die steuerberatenden Berufe ächzen derzeit: Überbrückungshilfen, Konjunkturhilfen, Antragswesen. Sie müssen bis zum 28. Februar des nächsten Jahres die Steuererklärung 2019 abgegeben haben. Wir haben darauf gebaut, dass die Länder sich mit dem Bund verständigen. Sie haben sich verständigt: Heraus gekommen ist ein Monat Fristverlängerung. Das ist ein Schlag ins Gesicht der beratenden Berufe. Ich hoffe, dass die Länder und der Bund hier noch vernünftig werden, sonst müssen wir hier im nächsten Jahr gesetzgeberisch tätig werden. Ich glaube, das könnten wir auch in dieser Koalition gemeinsam tun; dann würden wir auch in diesem Punkt noch etwas Gutes erledigen. Andere Punkte haben wir auch nicht erledigt, wie das ATAD-Umsetzungsgesetz. Wir haben Ihnen angeboten, das Vertragsverletzungsverfahren zu verhindern. Auf dieses Angebot sind Sie leider nicht eingegangen. Aber wir haben ein paar gute Dinge erreicht; die haben wir schon dargestellt, und Herr Kollege Brehm wird das jetzt fortsetzen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Brehm erhält auch unverzüglich das Wort. – Bitte schön. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde natürlich an das anschließen, was mein Kollege Fritz Güntzler gesagt hat. Das Jahressteuergesetz 2020 kann man, glaube ich, unter drei große Überschriften packen: Erstens. Wir entlasten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass die Arbeitgeber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Jahr einen steuer- und sozialversicherungsfreien Coronabonus in Höhe von 1 500 Euro auszahlen. Wir verlängern dies jetzt bis zum 30. Juni 2021 – ein starkes Signal. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in diesem Jahr aber auch erhebliche Belastungen durch die Arbeit im Homeoffice in Kauf nehmen müssen. Diese erheblichen Belastungen wollen wir abfedern. Der CDU/CSU ist es gelungen – auch ein sehr guter Punkt; Danke an Lothar Binding, dass es so gelobt worden ist –, eine Homeoffice-Pauschale in das Jahressteuergesetz 2020 mit aufzunehmen, mit 5 Euro pro Tag, maximal 600 Euro im Jahr. Das ist ein starkes Signal, und das ist auch eine Antwort auf die lang verkrustete Rechtsprechung beim betrieblichen Arbeitszimmer, übrigens auch eine Antwort darauf, dass sich die Arbeitswelt geändert hat, insbesondere die digitale Arbeitswelt. ({1}) Wenn wir bei der digitalen Arbeitswelt sind, lieber Herr Kollege Binding, dann sind wir auch bei den 44 Euro, die die Arbeitgeber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steuer- und sozialversicherungsfrei, als Sachlohn, zusätzlich zum Arbeitslohn, geben können. ({2}) Das ist doch eine prima Sache, insbesondere für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Das wollten Sie einschränken. Für mich ist das unverständlich: Die SPD will Zahlungen an Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen einschränken. ({3}) Wir konnten erreichen, dass bis 2021 die alte Regelung beibehalten wird, die auch moderne Formen wie Gutscheinkarten etc., die nicht zu Bargeldauszahlungen führen, Open-Loop-Karten, mit denen man deutschlandweit einkaufen kann, umfasst. Es ist uns gelungen, dies zumindest bis Ende 2021 aufrechtzuerhalten. Das ist auch ein gutes Signal für 6,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, die solche Leistungen erhalten. ({4}) Der zweite große Punkt ist das Ehrenamt. Es wurde ja ausgeführt: Wir heben den Ehrenamtsfreibetrag an und vereinfachen die Bürokratie an vielen Stellen. Das Dritte ist die Entlastung des Mittelstands. Wir konnten den Investitionsabzugsbetrag vereinheitlichen. Bis zu einem Gewinn von 200 000 Euro können 50 Prozent der künftigen Investition im Voraus steuerlich geltend gemacht werden. Es ist uns leider nicht gelungen, die notwendigen und wichtigen Maßnahmen für eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung, für einen erweiterten Verlustrücktrag und auch für die Verlängerung der Frist für die Abgabe der von den Steuerberaterinnen und Steuerberatern zu bearbeitenden Steuererklärungen zu erreichen; der Kollege Güntzler hat es ausgeführt, sie ist nur um einen Monat verlängert worden. Also, wenn wir unseren Wunschzettel unter den Weihnachtsbaum legen, dann steht da drauf: dringend notwendige Modernisierung der Unternehmensbesteuerung, dringend notwendiger Handlungsbedarf beim erweiterten Verlustrücktrag und dringend notwendiger Handlungsbedarf bei der Verlängerung der Frist für die Abgabe der Steuererklärung. Ich hoffe, dass das Nürnberger Christkind diesen Wunschzettel annimmt und ihn im Jahre 2021 umsetzen wird. Fröhliche Weihnachten und herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie erinnern sich an die Coronaausbrüche bei Tönnies im Sommer. Vor zwei Wochen gab es wieder einen Coronaausbruch in einer Tönnies-Fabrik: 172 Beschäftigte wurden im Schlachtbetrieb Weißenfels positiv getestet. Sie arbeiten im Schichtdienst in schlecht belüfteten Hallen und schlafen zu eng in den Unterkünften zusammen. Die Coronapandemie zeigt wie ein Brennglas die katastrophalen Arbeitsbedingungen, die schon seit Jahren in vielen Niedriglohnbranchen bestehen. Und seit Langem ist bekannt, wer in diesen Unternehmen arbeitet: Menschen aus Mittel- und Osteuropa, die über Werk- und Leihverträge zu schlechten Löhnen beschäftigt sind. Hier hat die Bundesregierung viel zu lange weggeschaut, und das ist beschämend! ({0}) Mit dem heute beschlossenen Arbeitsschutzkontrollgesetz reagieren Sie zwar auf die unzähligen Skandale in der Fleischindustrie. Bundesminister Heil wollte hier aufräumen, aber er hat mit dem Putzen nur angefangen; denn was immer noch fehlt, ist ein Verbandsklagerecht, mit dem die Gewerkschaften endlich Betroffenen helfen können, ihre Rechte auch durchzusetzen. ({1}) Auf unsere Anfrage hin lehnt das Bundesarbeitsministerium dies ab und spricht hier nur von Einzelfällen. Das zeugt doch wirklich von Realitätsverweigerung. Das sind keine Einzelfälle, sondern das ist systematische Ausbeutung, die bei uns passiert. ({2}) Wir reden nicht nur über die Fleischbranche, sondern auch über die Logistik, die Landwirtschaft und auch die Pflege. Hier arbeiten Hunderttausende Leih- und Saisonarbeiter – wir haben es in der Krise auch gemerkt – oder angeblich Selbstständige am Rande der Ausbeutung. Also belassen Sie es nicht dabei, nur den einen Bereich anzugehen, sondern gehen Sie endlich durch alle Sektoren durch! Wir müssen in Deutschland dafür sorgen – und das bedeutet ein soziales Europa auch –, dass alle Europäer, die bei uns arbeiten, gut arbeiten können und dass ihre Rechte wirklich garantiert sind. ({3}) Dass Sie während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht den Mut finden, endlich in allen Bereichen vorzugehen, das ist eigentlich ein trauriges Zeichen. Auch sonst haben Sie mit Blick auf das soziale Europa während Ihrer Ratspräsidentschaft nichts erreicht. Es geht aber nicht nur um die Ausbeutung, sondern es geht auch darum, dass jene, die die Freizügigkeit in rechtem Maße und völlig regelkonform umsetzen wollen, immer noch mit bürokratischen Hürden zu tun haben. Diese Hürden sind in Deutschland sehr hoch mit dem A1-Formular, das man bei jeder einzelnen Reise wieder neu beantragen muss. Es gibt dafür eine super Lösung: eine europäische Sozialversicherungsnummer. Das würde alle bürokratischen Hürden abbauen und endlich die Freizügigkeit erleichtern. ({4}) Machen Sie sich also auf den Weg! Unterstützen Sie dieses Vorhaben einer europäischen Sozialversicherungsnummer. Das hilft, Betrug zu bekämpfen, und es hilft, die Freizügigkeit für jene, die sie rechtmäßig nutzen wollen, auch wirklich zu vereinfachen. ({5}) Führen Sie bitte endlich verschärfte Kontrollen in den Betrieben durch! Stärken Sie die Europäische Arbeitsbehörde! Fördern Sie mehrsprachige Beratungsangebote und regulieren Sie Vermittlungsagenturen, die häufig die Arbeitskräfte ausbeuten! Setzen Sie sich auch für eine EU-Initiative für Mindeststandards bei Unterkünften ein! Und wenn man das nicht europäisch hinbekommt, dann sollte man wenigstens bei uns bessere Standards setzen. ({6}) Führen Sie vor allem – das ist unsere große Forderung – im Rahmen der Entsenderichtlinie ein Verbandsklagerecht in Deutschland ein, und setzen Sie sich auf europäischer Ebene dafür ein! Denn was bringt einem ein Recht, das man nicht einlösen kann, weil man gar nicht die Möglichkeiten dazu hat, weil man die Sprache nicht kann, weil man das Geld dafür nicht hat, weil man wieder zurück in sein Land muss und dann diese Rechte gar nicht einklagen kann? Setzen Sie sich daher endlich für ein Verbandsklagerecht auch in diesem Sektor ein, damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit fair ist und alle davon profitieren können! ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner mit Mund-Nase-Schutz: der Kollege Peter Aumer. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute eine sehr breite Spanne an Anträgen vorliegen: zwei von den Grünen, zwei von der AfD. Das zeigt so ein bisschen, wie breit das Spannungsfeld in Europa ist. Eine Kernüberschrift der Grünenanträge ist: „Für ein Europa, das schützt“. Eine Kernüberschrift der AfD-Anträge ist: „Souveränität bedeutet Freiheit“. ({0}) In diesem Spannungsfeld müssen wir Politik machen und ein Europa formen, das in die Zukunft führt. Frau Brantner, da hilft auch der Populismus nichts. Wir haben uns in den letzten Wochen bemüht, das Arbeitsschutzkontrollgesetz auf den Weg zu bringen. Heute haben wir es beschlossen und damit eine zukunftsweisende Lösung ermöglicht. Dabei haben wir Kompromisse gefunden. Wir haben das deutsche Handwerk geschützt, aber auch Regelungen für die Industrie auf den Weg gebracht. Das muss man auch mal anerkennen. Das ist wichtig. ({1}) Wenn man die Anträge der Grünen und der AfD vergleicht, dann kommt mir dieses Europa so ein bisschen vor wie „Wünsch dir was“. Wir sind zwar kurz vor Weihnachten, aber dieses Europa ist mehr, als dass jeder seine Wünsche verwirklichen kann wie die elf Punkte in einem der Anträge der Grünen, zum Beispiel zum Subsidiaritätsprinzip. ({2}) – Ich sage sehr gerne was zum Inhalt, Frau Brantner. Aber so viel haben Sie ja auch nicht zu den Inhalten gesagt. ({3}) Ich möchte sehr, sehr deutlich sagen, dass das, was Sie uns heute präsentieren, aus meiner Sicht dem nicht angemessen ist, was Europa in den letzten 70 Jahren für uns geschaffen hat: Friede, Freiheit und Wohlstand. Meine Damen und Herren, liebe Frau Brantner, ich habe mir Ihre Anträge sehr genau angeschaut. Wenn ich auf alles eingehen müsste, dann würde ich hier wahrscheinlich vier Stunden reden. Arbeitsmarktrechte sollen den gleichen Stellenwert haben wie die wirtschaftliche Freiheit auf dem Binnenmarkt, steht in Ihrem Antrag; ({4}) weiter fordern Sie eine europäische Strategie zur Altersarmutsbekämpfung, Mindeststandards für die nationalen Grundsicherungssysteme und die Gesundheitssysteme sowie eine europäische Richtlinie für Mindestlöhne. Darauf werde ich nachher auch kurz eingehen; das haben Sie in Ihrer Rede ganz vergessen. – So viel zu den inhaltlichen Punkten, liebe Frau Brantner. Sie schreiben in Ihrem Antrag, jetzt sei das Zeitfenster der allgemeinen Reform- und Vertiefungsdiskussionen. Wenn ich mir die Anträge der AfD anschaue, dann ist da nichts mit dem Zeitfenster für Reformen und die Vertiefung Europas. Die wollen sicherlich keine Vertiefung, und sie wollen Reformen, die wir nicht wollen, die die Mehrheit dieses Hauses nicht möchte und die in Europa auch nicht mehrheitsfähig sind. Deswegen sind, Herr Kleinwächter, auch die Punkte in Ihrem Antrag indiskutabel. Wenn man die Warenverkehrsfreiheit damit gleichsetzt, mehr Schmuggel zu ermöglichen, wenn man die Dienstleistungsfreiheit mit Preis-, Qualitäts- und Lohnwettläufen gleichsetzt, dann zeigt das ebenso wie viele Beispiele mehr, die Sie in Ihrem komischen Antrag, würde ich jetzt mal formulieren, dargestellt haben, dass Sie Europa nicht die notwendige und gebührende Ernsthaftigkeit beimessen, die es verdient. ({5}) Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die Aufgabe sicherlich auch der Volksparteien und vor allem für uns als CDU und CSU; denn für uns ist Europa die große Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Wenn man schaut, wer denn die Antworten zu der Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Thema Klimawandel – bei der Flüchtlingsfrage sind wir sicherlich noch am Kämpfen –, bei der Folgenabwicklung für die Coronapandemie gegeben hat, zeigt sich: Überall da ist Europa dabei, Antworten zu geben und Antworten zu finden, oder es hat schon Antworten gegeben. ({6}) Das ist vor allem das Verdienst Deutschlands – für uns ist dieses Europa ganz wesentlich – und vor allem auch ein Verdienst der Bundeskanzlerin. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, zeigt auch, welchen Stellenwert für uns die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene hat. Wenn Sie jetzt heute mit Ihrem populistischen Antrag zum Thema „EU-Richtlinie für europäische Mindestlöhne“ kommen – Herr Kleinwächter hat ja heute im Ausschuss sehr großspurig angekündigt, dass es eine große Debatte dazu geben wird; ich habe mir den Antrag mal angeschaut: sehr viel Substanz hat er nicht –, so wird auch das dem Thema nicht gerecht. Wir müssen natürlich schauen: Welche Kompetenzen hat Europa? Für uns ist die Tarifautonomie ein Bereich, den vor allem die Mitgliedsländer regeln. Für uns ist die Sozialpolitik der Bereich, der, auch vertraglich geregelt, bei den Mitgliedsländern liegt. Deswegen muss unsere Antwort sein – und auf diese Debatte im Bundestag, Frau Brantner, würde ich mich auch freuen –, dass man neben den Sozialstandards auch mal fragt: Wie können wir denn Europa zukunftsfähig machen? Welche Antworten können wir in der Wirtschaftspolitik, in der Bildungspolitik, in allen anderen Bereichen geben? Der Präsident sagt jetzt leider, ich muss aufhören. Deswegen kann ich nicht mehr ausführen. Ich möchte Sie bitten: Lassen Sie uns in einen Dialog einsteigen, was Europa stärker macht, was Europa in die Zukunft führt. Dazu gehört sicherlich anteilsmäßig die Sozialpolitik, aber nicht nur. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. – Die Anträge lehnen wir ab. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Maske auf, Peter Aumer! ({0}) – Ja, mein lieber Herr Gesangverein! – Der nächste Redner für die AfD-Fraktion ist der Abgeordnete Norbert Kleinwächter. ({1})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute in der Debatte stellen wir uns im Prinzip zwei Fragen. Erstens. Brauchen wir ein soziales Europa, also sozialpolitische Regelungen aus Brüssel, denen die Mitgliedstaaten unterworfen sind? Und zweitens. Brauchen und wollen wir die neue Mindestlohnrichtlinie der Europäischen Union? Zu beiden Fragen sagen wir ganz klar Nein. ({0}) Wir fordern Subsidiarität und nationale Souveränität ein; denn Souveränität bringt Freiheit. Gerade die neue EU-Mindestlohnrichtlinie zeigt doch, wie Brüssel sich jetzt gerade wieder anschickt, in die Mitgliedstaaten hineinzuregieren. Mit kreativster Auslegung der europäischen Verträge versucht Brüssel zu definieren, welche Löhne richtig, welche Löhne angemessen, welche Löhne sozial sind. Und genau deswegen haben wir heute die Subsidiaritätsrüge beantragt, um zu zeigen: „So geht es nicht!“ und um nach Brüssel das Signal zu schicken: Ihr dürft nicht in unsere Sozialpolitik hineinregieren! ({1}) Über Sozialpolitik demokratisch zu entscheiden, ist wirklich eine essenzielle Frage der Demokratie. Denn was bewegt den Wähler? Es muss in diesem Hause über Sozialpolitik debattiert werden, darüber, wie hoch die Löhne sind, wie hoch die Abgaben sind, wie umfangreich unser Sozialsystem sein soll. Das können wir doch nicht nach Brüssel abgeben. Denn wenn wir das nach Brüssel abgeben, verlieren wir eben nicht nur Souveränität, sondern wir verlieren auch Demokratie. ({2}) Zum Thema „Soziales Europa“ muss man hinzufügen: Die EU löst keine sozialen Probleme; sie schafft selbst soziale Probleme. Ehrlich gesagt, war ich überrascht, dass die Grünen das in wahrscheinlich unfreiwilliger Ehrlichkeit in ihren Antragstitel gepackt haben. Sie haben nämlich Arbeitnehmerfreizügigkeit und Ausbeutung in einem Satz erwähnt. Da sind Sie tatsächlich ziemlich dicht dran. Da haben wir ein Systemproblem in der Europäischen Union, Frau Dr. Brantner, und das hat mit der Architektur der vier Grundfreiheiten zu tun: Waren, Kapital, Dienstleistung, Freizügigkeit. Diese Grundfreiheiten greifen nämlich stark in die Rechts- und Sozialgefüge der Nationalstaaten ein, und das hat auch eine deutliche Kehrseite. Gerade bei der Dienstleistungsfreiheit und bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit können wir das beobachten. Ja, das sind schöne individuelle Rechte gegenüber den Mitgliedstaaten. Aber sie führen eben auch zu Lohndumping, zu ungesunden Sogwirkungen und zu sozialem Elend. ({3}) Wir haben einen Preiskampf im unteren Lohnsegment – Frau Dr. Brantner, Sie haben es schön ausgeführt –, und wir haben in der Fleischwirtschaft, über die wir ja vorhin schon diskutiert haben, tatsächlich zahlreiche EU-Ausländer, die für Subunternehmer oder als Scheinselbstständige arbeiten, die sich einem Sozialdumping unterwerfen, ja auch unterwerfen müssen, weil in ihren Heimatländern teilweise die Arbeitsmärkte zusammenbrechen, und dann unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Das ist falsch, und das ist auch nicht durch Richtlinien auf EU-Ebene zu bekämpfen, ({4}) sondern die Lösung ist, einen Schritt zurückzugehen, einen Schritt von dieser Absolutheit der Grundfreiheiten zurückzugehen, und für die Mitgliedstaaten auch ein Vorbehaltsrecht einzuführen, dass sie sagen: Diese Dienstleistung ist unangemessen. Diese Zuwanderung unterstützen wir nicht, um unsere Bürger zu schützen. – Das wäre richtig, und das wäre gut. ({5}) – Doch; denn die europäischen Freiheiten sind gut, wenn sie Bürgern und Mitgliedstaaten nützen. Sie sind aber kritisch, wenn sie nur einem nützen, und sie sind unverantwortlich, wenn sie keinem nützen. Wer in der Fleischwirtschaft profitiert, das sehen wir ja, und das ist ein Problem. ({6}) Meine Damen und Herren, wir haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, nicht des Sozialismus, und die soziale Marktwirtschaft steht für Wohlstand für alle. Dazu braucht es aber Bedingungen, nämlich eine freie, intakte Marktwirtschaft, einen intakten Rechtsrahmen und Komponenten des sozialen Ausgleichs, und die EU zerstört gleich alle drei. Übrigens, zu Ludwig Erhards Zeiten – der eine oder andere CDU-Abgeordnete mag sich trotz Merkels Kehrtwende noch ein bisschen erinnern – gab es keinen Mindestlohn, und Firmen haben Arbeiterwohnungen gebaut. Und warum? Weil Arbeitnehmer wertgeschätzt wurden, weil sie kein beliebiges, austauschbares Humankapital waren, das man quer durch Europa verschieben konnte, sondern weil den Kleinsten auch Aufmerksamkeit und Freiheit gegeben wurde. Deswegen ist die Antwort auf die Frage „Brauchen wir ein soziales Europa?“ ganz klar: Nein, wir brauchen ein Europa der Freiheit und der Würde. Freiheit entsteht aus Möglichkeiten, Würde aus Respekt in Gemeinschaft. Deswegen brauchen wir keine EU-Gleichmacherei, sondern Freiheiten der Europäischen Gemeinschaft für den Bürger, dem der Einzelstaat jedoch Schutz, Ordnung und Würde verleiht. Haben Sie herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Abgeordnete Angelika Glöckner. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im Titel des Antrags der Grünen heißt es: Freizügigkeit in der EU. – Gestatten Sie mir deswegen, dass ich mit diesem Thema einsteige. Freizügigkeit ist eine der wichtigsten Säulen der Europäischen Union. Die meisten Menschen Europas denken, wenn sie an Freizügigkeit denken, an freies Reisen von Land zu Land. Sie denken daran, dass sie Dinge in anderen Ländern kennenlernen. Wir als Sozialdemokraten wissen schon immer, dass das die Stärke und den Zusammenhalt in der EU überhaupt ausmacht. Das ist die Grundlage dafür. Deswegen sage ich ganz klar für meine Fraktion, die SPD: Dieses hohe Gut ist für uns unverzichtbar und unantastbar. ({0}) Es ermöglicht auch, dass junge Menschen von A nach B, von einem Land in das andere gehen können. Herr Kleinwächter, Sie selbst haben doch in Frankreich studiert. ({1}) Aber das ist eben der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir gönnen es nicht nur uns selbst, sondern auch anderen, ({2}) und Sie geben sich hier als Antieuropäer. Sie sollten sich was schämen. Außerdem sind Stipendien wichtig. EU-Bürgerinnen und -Bürger können in jedem Land der Europäischen Union arbeiten. Auch das ist wichtig, und es ist gut. Es bereichert unsere gesamte Europäische Union. Das alles ist in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vereinbart, und Absatz 2 schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten ungleiche Behandlung bei Arbeitsverhältnissen abschaffen müssen. Werte Kollegin, darauf beziehen Sie sich ja in Ihrem Antrag. Dazu muss ich aber sagen: Der Schlussfolgerung, die Sie daraus ziehen, kann ich nicht folgen. Sie sagen nämlich: Jeder, der aus einem Land der Europäischen Union zu uns kommt, muss mit Arbeitsbeginn gleichbehandelt werden. Aber das steht in Absatz 2 so nicht drin. Ich will Ihnen das kurz erläutern. Darin steht nämlich der Begriff „Abschaffung“. Das bedeutet doch, dass es hier einen Prozess gibt und dass dieser Prozess ein stetiger Prozess ist, dass man stetig Regelungen machen muss, um darauf hinzuarbeiten, dass Menschen in Arbeitsverhältnissen gleichbehandelt werden. Jetzt sage ich Ihnen: Was machen wir denn hier die ganze Zeit? Worüber haben wir denn vorhin abgestimmt? Über das Arbeitsschutzkontrollgesetz, über das Entsendegesetz, über das Projekt „Faire Mobilität“ als wichtige Beratungsstelle. Es wird die ELA geben, die genau solche Themen aufgreift wie die von Ihnen angesprochene europäische Sozialversicherungsnummer. Das ist doch alles im Aufbau. Aber wir sind doch auch Teil der EU; wir sind nicht die EU. Das wissen Sie ganz genau, Frau Brantner. Da vermisse ich, ehrlich gesagt, so ein bisschen den weiten Blick. Die Versäumnisse, die Sie uns vorwerfen, kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen. Ich will für meine Fraktion, die SPD, hier noch mal deutlich zum Ausdruck bringen: Mit all den Schritten, die wir entscheiden, bekennen wir uns zu einem sozialen Europa. Wir gehen genau in die Richtung, die dieser Absatz 2, den Sie zitieren, uns vorschreibt. Deswegen sind wir, finde ich, auf einem richtigen Weg. Wir tun alles, was in dieser Koalition möglich ist, und darauf können wir stolz sein. Sie sollten Ihren Antrag noch mal überdenken. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Carl-Julius Cronenberg. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Lesen der beiden Anträge der Grünen, „Für ein Europa das schützt“ und „Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU fair gestalten und Ausbeutung stoppen“, kann man den Eindruck gewinnen: Es steht schlecht um die sozialen Rechte in Europa. ({0}) Ich finde, das Bild, das da gezeichnet wird, ist zu negativ. Wie kommen Sie zum Beispiel zu der Feststellung – ich zitiere –: „Arbeits- und Sozialstandards“ sind „unterentwickelt“? Meinen Sie ehrlich, Frau Brantner, die sind in China, den USA oder in Indien weiter entwickelt? ({1}) Europa erwirtschaftet mit 7 Prozent der Weltbevölkerung 23 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und steht für 40 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. ({2}) Das nenne ich nicht „unterentwickelt“; das ist der Erfolg von sozialer Markwirtschaft, meine Damen und Herren. Das heißt nicht, dass alles perfekt wäre, weiß Gott nicht. Aber wenn wir das soziale Europa weiterentwickeln, dann sollten wir es nicht mit mehr Regulierung am grünen Tisch in Brüssel machen, sondern nah am Menschen, am besten mit starker Einbindung der Sozialpartner. Deshalb setzen wir Freien Demokraten auf Subsidiarität und Tarifautonomie. Wer hingegen mit zentralistischen europäischen Sozialstaatsforderungen kommt, der verletzt das Prinzip der Subsidiarität und schwächt das Vertrauen in die Europäische Union. Das schafft keinen Zusammenhalt; das spaltet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Grünen fordern: „Soziale Absicherung europaweit garantieren“. Ich habe so meine Zweifel bei Vollkaskogarantien. Die beste soziale Absicherung schaffen wir nicht mit Ihren Vorschlägen, sondern mit Vollbeschäftigung und Wachstum. ({4}) Schon vor Corona waren die wirtschaftlichen Eckdaten vieler Mitgliedstaaten besorgniserregend geschwächt. Das wird nach Corona nicht besser. Es ist auch so schon schwer genug. Der eisige Wind nationaler Alleingänge weht uns doch längst entgegen. Die Missachtung des Rechtsstaats hier, die Verletzung von Maastricht-Stabilitätskriterien da und der drohende Brexit ohne Abkommen obendrein. ({5}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir jetzt ein beherztes „Mehr“ als nur ein „Raus aus der Krise“. Mehr Binnenmarkt, mehr Freihandel und mehr Investitionen in Technologie und innovative Geschäftsmodelle: Das ist das Europa, das schützt. ({6}) Dabei wissen Sie, Frau Brantner, wie es geht; das zeigt Ihre Antragsforderung zur A1-Bescheinigung. Da brauchen wir endlich weniger Bürokratie, ganz genau. Liebe Bundesregierung, lieber Hubertus Heil, wir alle wissen, dass es auch die Parteifreunde des Arbeitsministers im Europäischen Parlament sind, die einer Lösung da im Weg stehen. Wann schaffen wir da endlich den Durchbruch? ({7}) Freiheit und Zusammenhalt in Europa sind uns eine Herzensangelegenheit. Statt kleinteilig oder moralisierend mehr zu regulieren, sollten wir Subsidiarität und Aufwärtskonvergenz stärken. Nutzen wir die Chancen des größten Binnenmarkts der Welt! Dann schaffen wir ein Europa, das die Menschen schützt. Ihnen und euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Cronenberg. – Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Anträge zu teilweise ganz unterschiedlichen Themen in 30 Minuten; die große Überschrift ist „Stärkung eines sozialen Europas“. Ich glaube, wir Linken bemängeln schon, seitdem wir 2005 zum ersten Mal als Linke in den Deutschen Bundestag eingezogen sind, dass die soziale Dimension zu wenig ausgeprägt ist. Schon immer haben wir gesagt: Den Grundfreiheiten fehlt eine soziale Fortschrittsklausel. – Zu jeder Europawahl haben auch andere Fraktionen hier im Bundestag diese Forderung mit erhoben; aber wir haben bis zum heutigen Tag keine soziale Fortschrittsklausel. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wurde mit diesem Thema leider auch nicht konfrontiert. Das wäre ein gutes Signal für ein soziales Europa gewesen, das wir weiterhin fordern. ({0}) Die soziale Lage ist auch weiterhin schwierig; in vielen Ländern hat man immer noch nicht die Finanz- und Wirtschaftskrise tatsächlich verdaut. Jeder Fünfte in Europa ist armutsgefährdet, 10 Prozent Arbeitslosigkeit, und die Coronapandemie hat das Ganze noch erschwert. Deshalb brauchen wir mehr soziales Europa. Das, was die AfD heute hier in mehreren Tagesordnungspunkten gefordert hat, ist ja eigentlich: Man braucht kein soziales Europa; Europa soll sich raushalten. – Sie haben es heute fertiggebracht, dass Sie nun gegen die Mindestlohnrichtlinie vorgehen wollen. ({1}) Sie haben heute Mittag gegen den Kündigungsschutz bei Wirtschaftshilfen gestimmt. Sie haben in der Abstimmung über das Gesetz zur Arbeitsschutzkontrolle in der Fleischindustrie dagegengestimmt. Deshalb sage ich: Was Sie hier machen, ist Neoliberalismus pur. Sie überholen die FDP bei diesen Punkten noch rechts. Sie haben für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land und in Europa überhaupt nichts übrig. ({2}) Herr Aumer, Sie sagen, Sie hätten heute mit dem Gesetz für die Fleischindustrie Ihre Pflicht getan. Sie sind ja dazu gezwungen worden. Es geschah ja nicht aus freien Stücken, sondern wir haben auch da schon seit über zehn Jahren die Forderung erhoben, dass man in der Fleischindustrie genauer hinschauen muss. Was haben Sie gemacht? Die Pandemie kam. Wenn es durch Corona etwas Positives gibt, dann das, dass sogar die CDU/CSU gesagt hat: Wir müssen nun an dieses Thema ran. – Aber das ist nur ein Sektor. Wir haben viele andere Sektoren, wo es ebenfalls grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassungen oder ‑entsendungen gibt. Auch da müssen wir handeln. Wir als Linke fordern: Gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort, egal in welchem Sektor und – das ist auch wichtig – über die Fleischwirtschaft hinaus. ({3}) Zum Mindestlohn, weil er auch ein Thema ist, das die AfD heute noch mal prominent aufsetzt. Ja, wir begrüßen als Linke, dass in der EU-Kommission die Initiative für einen europaweiten Mindestlohn ergriffen worden ist, der natürlich in jedem Land anders ist. Wir fordern 60 Prozent des Medianlohns; das wären in Deutschland übrigens 12 Euro. Deshalb: Olaf Scholz, der Finanzminister und Kanzlerkandidat, hat sich am Samstag wieder auf einer SPD-Veranstaltung hingestellt und für diese 12 Euro geworben. Ich frage mich: Was hat er als Vizekanzler in den letzten drei Jahren gemacht, um auf 12 Euro zu kommen? Wir haben jetzt die mickrigen 15 Cent Erhöhung. Die SPD sagt samstags was, und montags macht sie im Bundestag das Gegenteil. Wir als Linke haben schon vor drei Jahren zum Bundestagswahlkampf gesagt: Wir brauchen 12 Euro, nicht irgendwann, sondern sofort. ({4}) Deshalb glaube ich: Die Anträge der Grünen werden wir wahrscheinlich sehr wohlwollend im Ausschuss begleiten. Das, was die FDP und die AfD wollen, ist ein Abgesang eines sozialen Europas. Die Union ist immer nur dann getrieben, wenn es gar nicht mehr anders geht. Deshalb glaube ich: Es ist auch heute wieder klar geworden, wer für ein soziales Europa steht: Die Linke auf jeden Fall. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Es macht sich bereit die Abgeordnete Dr. Saskia Ludwig. – Bitte schön, Frau Kollegin. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur ganz kurz dazu, was gleiche Standards betrifft. Herr Kollege von den Linken, wir können gerne darüber diskutieren, wie viel von den 12 Euro bei den Arbeitnehmern in Deutschland oder in Spanien in der Tasche bleibt. Zu dem Thema „gleiche Standards“ komme ich gleich noch mal. Uns liegt der Antrag vor „Für ein Europa das schützt – Soziale Absicherung europaweit garantieren“. Wenn ich mir den vorliegenden Antrag anschaue, erinnert er mich doch ganz stark an Louis Armstrong und sein Lied „What a wonderful world“. Wer träumt nicht gern von wundervollen Zuständen? Vielleicht hat es ja doch was mit dem bevorstehenden Weihnachtsfest zu tun, dass die Grünen hier einen europapolitischen Wunschzettel ausrollen. Ja, es ist sicherlich auch berechtigt, Anträge zu stellen, die ein Idealbild zeichnen, und sicher hat auch unser Land genauso wie Europa das Ziel, den Menschen in jedem Land der Europäischen Union sozusagen beste Zustände zu bieten. So weit das Idealbild. Aber was ist die Realität? Ja, die Standards sind von Mitgliedsland zu Mitgliedsland unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Löhne, unterschiedliche Beschäftigungsgrade, unterschiedliche Eigentumsquoten, auch eine unterschiedliche Arbeitsproduktivität. Es existieren in den EU-Mitgliedsländern unterschiedliche Sozialstandards. Deshalb dürfte es sehr schwer werden, einen sozialen Standard für alle Länder verbindlich zu definieren. ({0}) – Natürlich. – Diese Gleichmacherei führt unweigerlich zu Ungleichbehandlung. Ich will nur ein kleines Beispiel bringen: Eigentumsquote. Wenn wir nach Rumänien blicken, dann sehen wir eine Eigentumsquote von 95 Prozent. Anders formuliert: Fast alle Menschen in Rumänien wohnen auf eigenem Grund und Boden. Im Vergleich dazu sind es in Deutschland 42 Prozent. ({1}) Wir können gerne darüber diskutieren, wie sich das auf die Miete auswirkt. Wenn ich diesen Unterschied sehe und dann über gleiche Sozialstandards rede, ist das für mich schon interessant. Die Grünenforderung ist nichts anderes als die Zentralisierung des Sozialsystems auf europäischer Ebene. ({2}) Dem widersprechen viele Verfassungen der Mitgliedsländer. Jedes Land hat seine eigenen Sozialsysteme. Ein europäisches Sozialsystem aus einem Guss, quasi aus einer Hand, war und ist nie Position der CDU/CSU gewesen. Die Kompetenz für die Sozialsysteme muss bei den Mitgliedstaaten bleiben. Auch die Arbeitsmarktpolitik ist eine nationale Aufgabe. Wir als CDU und CSU lehnen deshalb eine europäische Arbeitslosenversicherung ab. Zudem halten wir an der nationalen Tarifautonomie fest. Ich frage mich auch, ob Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Thema tatsächlich mal ernsthaft mit den Gewerkschaften besprochen haben. ({3}) Die Tarifautonomie ist mit gutem Grund im Wortsinne eine Autonomie. Der Staat hat bei der konkreten Lohnfindung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nichts zu suchen, allenfalls in der Schlichtung. Löhne zentral festzulegen, widerspricht dem Wesen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. ({4}) – Das steht, glaube ich, schon in Ihrem Antrag drin. Sie sagen auch, dass der einseitige und harte Sparkurs in den besonders betroffenen Mitgliedstaaten die Lebensbedingungen vieler Menschen verschlechtert ({5}) und zu steigender Unzufriedenheit gegenüber der EU geführt hätte. ({6}) Verlässliche soziale Rechte seien Voraussetzung dafür, dass Binnenmarkt und Währungsunion im Interesse der Menschen wirkten. ({7}) Bei solchen Äußerungen frage ich mich, ob Sie Ursache und Wirkung absichtlich verwechseln und das Engagement auf europäischer Ebene für die Mitgliedstaaten in Zeiten von Corona komplett ausblenden. Nur unser Wirtschaftssystem, nämlich die soziale Marktwirtschaft, macht solche solidarischen Programme, die wir jetzt in dieser Coronapandemie sehen, überhaupt möglich. Zum Beispiel das EU-Programm SURE. Das Programm finanziert vor allem Kurzarbeit und Hilfen für Selbstständige – ein Paradebeispiel gelebter Solidarität. Alle verfügbaren Mittel aus den Strukturfonds sollen so schnell wie möglich zur Bekämpfung der Coronakrise verwendet werden. Und schon jetzt stehen 37 Milliarden Euro zur Verfügung, die nicht voll genutzt werden. Der EU-Solidaritätsfonds wird auf 800 Millionen Euro aufgestockt. Alle diese Maßnahmen wurden getroffen, um den sozialen Frieden innerhalb der EU zu sichern. Sie sagen in Ihrem Antrag, das Versprechen eines sozialen Europas und gleicher Chancen und Teilhabe für alle Menschen in der EU sei noch nicht eingelöst. ({8}) Ja, meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen, dass genau dieses Versprechen in Zukunft auch noch in Deutschland gilt. Nur wenn wir es schaffen, national stark zu bleiben, können wir so stark helfen, wie wir es gerade tun. Kein anderes Land hat solch eine Vorsorge getroffen wie wir, und dafür wurde diese Bundesregierung in der Vergangenheit oft ausgeschimpft. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann hätten wir schon vor Corona leere Kassen gehabt, und ich frage mich ernsthaft, wie wir diese Solidarität, die wir gerade in Europa zeigen, dann hätten bewerkstelligen können. ({9}) Der marktwirtschaftliche Sachverstand der Grünen – dazu gehört nämlich der Zusammenhang zwischen Wachstum, Steuern, Solidarität – hat sich für mein Dafürhalten mit Ihrem Mitglied Werner Schulz schon vor langer Zeit aus dem Hohen Hause hier verabschiedet. Das ist sehr schade. Meine Damen und Herren, Ihr De-luxe-Antrag kommt zur Unzeit. Sie wollen Dinge regeln, für die die EU nicht gedacht ist, während alle anderen hier mit der Bekämpfung der Coronapandemie beschäftigt sind. Linke und Grüne, wenn ich Ihren Reden zuhöre, habe ich wirklich nicht den Eindruck, dass Sie verstanden haben, dass wir es mit ganz anderen Verhältnissen draußen zu tun haben. Sie zeichnen ein düsteres Bild von Europa, von der Solidarität, aber auch von der sozialen Beschaffenheit. Das ist spannend. Ihr Antrag verkennt das Wesen der Europäischen Union. Statt zu überlegen, wie Arbeitslosigkeit am besten verwaltet werden kann, sollten wir überlegen, wie sich die europäische Wirtschaft am besten wieder erholt. Arbeit zu haben, ist immer noch die beste Möglichkeit, um Armut zu verhindern. – Meine Redezeit ist leider abgelaufen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ja.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube nicht, dass Ihr Antrag Europa wirklich hilft. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Auch ich darf Ihnen noch ein schönes Weihnachtsfest wünschen. Alles Gute! Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt kommen wir zum letzten Redner. Der Abgeordnete Bernd Rützel hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich wollte jetzt eigentlich ganz viel zu der Kollegin Brantner sagen, die uns so vieles vorgeworfen hat, was man alles nicht gemacht habe. Übrigens: Das haben wir gemacht, und zwar in diesem Jahr; da ist wohl vieles irgendwie nicht mehr in Erinnerung. Darüber wollte ich eigentlich sprechen. Ich habe zwar nur drei Minuten; aber ich muss, Herr Präsident, jetzt die Gelegenheit nutzen, um etwas zu der Frau Dr. Ludwig zu sagen. Es hat niemand behauptet, dass wir in Europa von Polen bis Portugal 12 Euro Mindestlohn brauchen. ({0}) Aber wir brauchen schon einen vergleichbaren Mindestlohn. Man hat sich darauf geeinigt, dass 60 Prozent des Medians, des einigermaßen durchschnittlichen Einkommens, ein Lohn ist, von dem ein Mann oder eine Frau, der oder die Vollzeit arbeitet, am Ende des Tages sich und die Familie ernähren kann. ({1}) Und von diesen 60 Prozent des Medians sind wir in Deutschland weit entfernt. Ja, ich bin richtig stolz auf das, was wir hier alles können und leisten. Aber eines können wir nicht: Wir können mit unseren Kräften nicht den ganzen Pflegesektor bedienen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kleinwächter? ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke. – Wir können mit unseren Kräften im Pflegebereich nicht alles abdecken, in der Fleischindustrie – das haben wir doch gesehen –, im Transport-, im Paketgewerbe. Jetzt könnte ich noch vieles aufzählen. ({0}) Das heißt, wir sind doch abhängig und froh, dass wir diese Arbeitnehmerfreizügigkeit haben. ({1}) Ja, auch viele Deutsche gehen ins Ausland; aber noch viel mehr kommen zu uns und arbeiten hier, und die, die zu uns kommen, haben die gleichen Rechte wie die, die von hier stammen. Es darf keine zwei Klassen geben; das ist wichtig. ({2}) Deswegen haben wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz am 18. Juni dieses Jahres hier an dieser Stelle verbessert. Ja, man kann alles noch viel besser machen, Beate Müller-Gemmeke; da hast du ja recht. ({3}) Aber es sind wesentliche Dinge schon dabei; denn es gelten nicht nur Mindestbedingungen. Wir haben den Schutz für die Beschäftigten ausgeweitet; sie haben mehr Rechte. Wir haben Verschiedenes auf den Weg gebracht: Reise‑, Verpflegungs-, Unterbringungskosten können nicht mehr vom Lohn abgezogen werden, und wir haben auch tausend zusätzliche Stellen beim Zoll geschaffen, die das kontrollieren. Darauf sind wir richtig stolz. ({4}) Das ist etwas, was die sozialen Aspekte in den Vordergrund stellt. Wir haben viel Geld investiert, und das ist auch gut so. Jeder Cent, den wir in die Faire Mobilität stecken, ist wichtig. Das sind Menschen – Frauen und Männer –, die mehrere Sprachen können, die wissen, wo die Probleme sind, die beraten, die aufklären, die Hilfe geben, die Halt geben und die auch vieles aufdecken. Deswegen ist all das, was die Faire Mobilität macht und gemacht hat, so wichtig. ({5}) Hubertus Heil ist ein Kämpfer und hat mit dem EU-Kommissar Nicolas Schmit massiv dazu beigetragen. Europa braucht diese soziale Säule und nicht nur die wirtschaftliche Säule. Das Licht am Rednerpult blinkt schon ganz lange; deshalb will ich zum Schluss noch sagen: „Wer Freizügigkeit und Ausbeutung verwechselt, der hat uns zum Gegner.“ Dieses Zitat kommt von Hubertus Heil, unserem Arbeitsminister. Seien Sie versichert, dass wir an der Seite der Beschäftigten, und zwar aller, stehen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache.

Not found (Minister:in)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich fange heute mit einer Frage an: Wissen Sie, wie viel Zeit Jugendliche im Schnitt täglich im Internet verbringen? ({0}) Wahrscheinlich hat da jeder von Ihnen seine eigenen Erfahrungen mit Kindern im näheren Umfeld. Also, es sind im Schnitt drei Stunden am Tag in Nichtcoronazeiten. Vermutlich sind es im Moment sogar noch deutlich mehr. In dieser Zeit wird alles Mögliche gemacht: Videos angeschaut, mit Freunden gechattet, Musik gehört. Es werden Bilder geteilt. Es wird sich unterhalten über Messengerdienste in sozialen Netzwerken. Es werden eigene Clips produziert und gepostet. Keine Frage, die digitale Welt bietet jungen Menschen sehr viel; aber sie hat auch ihre Schattenseiten. 40 Prozent der 10- bis 18-Jährigen haben schon einmal negative Erfahrungen im Internet gemacht. Anfang Dezember hat eine Studie festgestellt, dass in Deutschland 2 Millionen Schülerinnen und Schüler von Cybermobbing betroffen sind. Darauf müssen wir reagieren. Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen in der digitalen Welt geschützt und sicher unterwegs sein können und dem Jugendschutz entsprochen wird. Denn der Jugendschutz hat Verfassungsrang – nicht nur auf der Straße, sondern auch im Netz. Unser Jugendschutz stammt aus dem Jahr 2002, aus einer Zeit von CD-ROM und Videokassetten, aus einer Zeit vor YouTube, Instagram und TikTok, also quasi aus der digitalen Steinzeit. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, ihn fitzumachen fürs 21. Jahrhundert. Das machen wir mit diesem Gesetzentwurf, der sich für einen modernen Jugendmedienschutz starkmacht. ({1}) Es sind drei große Schwerpunkte, um die es geht: Schutz, Orientierung und Rechtsdurchsetzung; unter diesen drei Überschriften können wir den Regelungsgehalt fassen. Es geht darum, Kinder vor Risiken und Gefahren im Internet wirksamer zu schützen. Kindgerechte Voreinstellungen sorgen beispielsweise dafür, dass Kinder über ihre Profile, die sie auf sozialen Netzwerken oder Spieleplattformen nutzen, nicht einfach von Millionen von Menschen angesprochen und gefunden werden können und so besser vor sexueller Anmache im Netz, aber auch vor Abzocke geschützt sind. Es geht darum, unkomplizierte Hilfs- und Beschwerdesysteme einzustellen, bei denen Kinder auch schnell Hilfe finden, wenn sie im Netz bedroht oder belästigt werden. Es geht darum, diesen Schutzmechanismus zu verbessern. Das ist der erste Punkt: Schutz. Der zweite Punkt ist das Thema Orientierung. Dabei geht es nicht nur um Orientierung für die Kinder und Jugendlichen, sondern vor allem für Eltern, für Fachkräfte. Durch transparente und gleichartig gestaltete Alterseinstufungen kann man sich schnell einen Überblick verschaffen. Zukünftig berücksichtigen sie auch besondere Gefahren im Netz wie sexuelle Anmache und richten sich nach dem Inhalt eines Angebots, nicht nach dem Verkaufsweg. Egal ob ein Spiel im Laden gekauft oder im Netz runtergeladen wird: Es geht darum, dass wir einheitliche Regeln haben, die für die Alterseinstufung gleichermaßen gelten und allen gleichermaßen Orientierung geben. Das ist der zweite Punkt. ({2}) Der dritte Punkt betrifft die Frage: Wie schaffen wir es, diese beiden Regelungen – Schutz und Orientierung – auch durchzusetzen? Deshalb ist die Rechtsdurchsetzung der dritte Punkt, gerade gegenüber ausländischen Anbietern. Wir wissen, dass ein großer Teil der jungen Menschen auf den Plattformen von ausländischen Anbietern unterwegs ist. Deshalb nimmt dieser Gesetzentwurf erstmals ausdrücklich auch internationale Anbieter in den Blick. Wir werden eine neue Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz schaffen, die auch dank Ihnen mit den nötigen Stellen und Mitteln fürs nächste Jahr ausgestattet ist, um eben die Vorsorge- und Schutzpflichten, die Anbieter haben, auch durchzusetzen und Verstöße mit Strafen zu sanktionieren. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben diesen Gesetzentwurf in einem langen Prozess mit vielen Partnern erarbeitet. Wir wollen die digitale Welt sicherer machen für Kinder und Jugendliche, damit sie gut mit Medien aufwachsen. Wir haben diesen Gesetzentwurf konsequent vom Kind aus gedacht, und ich bitte Sie um Ihre Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Der nächste Redner für die Fraktion der AfD ist der Abgeordnete Johannes Huber. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Generell begrüßen wir ja, dass sich die Bundesregierung nach 18 Jahren endlich wieder dem Kinder- und Jugendmedienschutz widmet und eine unbeschwerte Teilhabe in sicheren Interaktionsräumen gewährleisten möchte. Allerdings fragen wir uns schon, was Sie mit der vom Wissenschaftlichen Dienst widerlegten Aussage sagen wollen, es bestünde ein angebliches Recht auf Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am digitalen Raum. Verstehen wir uns richtig: Wir wollen Kinder und Jugendliche im Internet schützen – ganz klar –; aber wir wollen auch, dass Kinder und Jugendliche noch echte, also persönliche Interaktionen erleben dürfen. Zwar sehen wir den Erwerb von Medienkompetenz auch als Teil der Bildung an; inwiefern jedoch Instagram, TikTok und Snapchat für die Jüngsten bereits dazu beitragen können, ist mehr als fragwürdig. Es erscheint zudem als befremdliche Klientelpolitik, wenn Influencer von der Alterskennzeichnungspflicht ihrer Inhalte ausgenommen werden. Das ist im Hinblick auf die zu erreichenden Schutzziele auch absolut unverständlich. ({0}) Das positive Beispiel Großbritannien zeigt uns, dass es möglich ist, dass jeder Anbieter den Anforderungen des Jugendschutzes Folge leisten muss, wenn nur der politische Wille besteht. Es besteht aber bei uns das Bild, dass die Kinder und Jugendlichen in unserem Land offenbar ein deutlich größeres Problembewusstsein haben als die Bundesregierung selbst; denn 79 Prozent der 9- bis 16-Jährigen geben selbst an, zu viel Zeit im Internet zu verbringen. Anstatt sich jetzt dieser schwierigen Aufgabe zu stellen, sehen Sie sich umgekehrt dazu verpflichtet, dieses Übermaß an Mediennutzung auch noch vollumfänglich sicherzustellen. Ein in dieser Weise formuliertes Recht auf digitale Teilhabe wird aber weder in der Rechtsprechung noch in der juristischen Literatur diskutiert und ist daher frei erfunden. Das ist für mich der Beweis, dass seitens der Bundesregierung unsauber gearbeitet wird, um sich mit einer Symptombekämpfung elegant aus der Affäre zu ziehen, während wir uns von der AfD um die grundlegende Problematik des Medienkonsums kümmern. ({1}) Der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Leipzig, Christoph Degenhart, führt in einem von den Landesmedienanstalten beauftragten Rechtsgutachten sogar aus, dass „eine inhaltsbezogene Aufsicht über Medien“ mit „dem Gebot der Staatsferne unvereinbar“ sei. Die Staatsferne werde nämlich dann berührt, wenn, wie im Gesetzesentwurf, „der vorgesehenen Bundesbehörde dahingehende Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden sollen“. Wenn Kinder und Jugendliche künftig Medien konsumieren, dann erlaubt sich die SPD-geführte Behörde eine Positivkennzeichnung, um außerhalb des berechtigten Schutzinteresses solche Inhalte hervorzuheben, die die Bundesregierung für besonders wertvoll erachtet. ({2}) – Ja, da lachen Sie. ({3}) Es besteht hierbei nicht nur eine Gefahr politischer Einflussnahme, sondern bei der Bewertung des Jugendschutzgesetzes legen Sie geradezu regierungskonforme Kriterien an. ({4}) Wenn Sie jugendgefährdende Medien aufarbeiten wollen, dann schalten Sie einfach den Fernseher ein, und betrachten Sie einmal die Inhalte der Sender, die durch Ihre liebevoll genannte Demokratieabgabe zwangsfinanziert werden. Schauen Sie sich beispielsweise auf KiKA eine Dokumentation an, in der eine 16-jährige Malvina mit ihrem deutlich älteren Freund – natürlich einem muslimischen Flüchtling – zu sehen ist. ({5}) Sie werden dann bewundern, wie dieser ihr Vorschriften bezüglich ihrer Kleidung und ihrer privaten Kontakte macht. Kritisch hinterfragt wird das Ganze im Beitrag natürlich nicht. Wenn wir schon bei Ihrer Zielgruppe sind: Interessant ist auch, dass Frau Giffey sich mit Verweis auf vermeintlichen Zeitdruck weigert, den Vorschlag des Bundesrates aufzunehmen, der den Konsum von nikotinfreien Shishamischungen für Minderjährige untersagen möchte. All das zeigt, dass es Ihnen primär nicht um den Kinderschutz geht, sondern um das verzweifelte Suchen nach Wählergruppen am Rand unserer Gesellschaft. ({6}) Wenn – und das ist mein letzter Satz – Sie schon Wahlkampf für das Bürgermeisteramt in Berlin machen wollen, dann instrumentalisieren Sie dafür bitte nicht den Bundestag und auch nicht Ihr eigenes Ministeramt. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Bettina Wiesmann. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch der Jugendschutz selbst darf nie auslernen; er muss sich ständig anpassen an die Jugend, die lebt – und auch anders lebt, als sie früher gelebt hat –, und an die Welt, die sich dreht. Das Internet lädt zu nahezu unbegrenzter Kommunikation ein, die wir nutzbringend einsetzen können und wollen, zum Beispiel gerade jetzt, wo wir keine Geschäfte mehr betreten dürfen. Junge Menschen – Kinder gar – sind aber nicht immer und nicht sofort in der Lage, diesen Einladungen zu widerstehen oder Gefahren zu erkennen und zu meiden. Sie sind offen, vertrauend, experimentierfreudig, dazu leichter zu beeindrucken und auch nicht immer von vornherein selbstsicher. Sie brauchen deshalb Schutz und Unterstützung, damit sie sich dieser neuen Medien und dieser neuen Welt zu ihrem eigenen Vorteil und auch zum Vorteil aller bedienen können. Mit der nahezu hundertprozentigen Verbreitung der Smartphones unter Jugendlichen und älteren Kindern haben sich diese Herausforderungen für ihren Schutz vervielfacht; denn sie sind nun jederzeit erreichbar, jederzeit online, für jeden ansprechbar. Filme, Serien, Blocks, Clips, Games – das wurde schon angesprochen –: Alles ist jederzeit und überall verfügbar und dazu ständig neu. Die neuen Spiele beispielsweise werden nicht mehr am Tisch mit Freunden und der Familie gespielt, sondern oft in weltweiten Teams, in denen nicht jeder jeden kennt. Auch getarnte erwachsene oder sogar jugendliche Straftäter können darunter sein. Die Kinderkommission hat unter meinem Vorsitz im vergangenen Jahr die Risiken der digitalen Medien für das Kindeswohl erörtert und einstimmig Handlungsempfehlungen verabschiedet. Im Bereich des Strafrechts hat die Koalition mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität und auch mit dem Gesetz zur Versuchsstrafbarkeit des Cybergroomings die staatlichen Schutzinstrumente bereits verbessert. Das Jugendschutzgesetz zielt nun vor allem auf die Prävention. Es erweitert die Liste der Inhaltsrisiken, die wir schon kannten – Gewaltszenen, Sex, Hass und Erniedrigung –, um die neuen Interaktionsrisiken: ungeschützte Kontakte und Anmache, Cybermobbing, versteckte Kaufanreize, suchtauslösende Spielelemente, Preisgabe persönlicher Daten. Endlich, kann man sagen, werden diese neuen Risiken für Kinder und Jugendliche adressiert; denn Bund und Länder hatten sich eigentlich schon vor vier Jahren darüber verständigt, und der Bund ist damals auch vorangegangen. Meine Damen und Herren, es ist überfällig, dass wir hier handeln, und wir von der Union – und auch die SPD, wie ich weiß – teilen diesen Ansatz. ({0}) Der Gesetzentwurf hält Anbieter von Medien und Mediendiensten zu verstärkten Vorsorgemaßnahmen an. Neben Beschwerde- und Abhilfeverfahren sollen sie unter anderem Alterseinstufungssysteme und Verifikationen sowie standardmäßige Sicherheitseinstellungen vorhalten; das hat die Ministerin erläutert. All dies – auch das wurde gesagt – muss sichtbar, leicht verständlich und wirkungsvoll sein. Dabei sind Dreh- und Angelpunkte aus unserer Sicht die Alterseinstufungen. Weil die Interaktionsrisiken meist außerhalb des Mediums liegen, haben wir hier von der Unionsfraktion noch fachlichen Gesprächsbedarf zur Einstufung und zur Kennzeichnung der Angebote. Für die Aufsicht über diese speziellen Vorsorgemaßnahmen weitet der Gesetzentwurf die Kompetenzen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien aus. Sie wird zur Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz und soll tatsächlich – wir haben es ja letzte Woche auch haushalterisch schon diskutiert – personell aufgestockt werden. Ich halte das für wichtig, insbesondere um die neuen Vorsorgemaßnahmen effektiv umzusetzen. Damit wird ein einheitliches Vorgehen innerhalb und sogar auch außerhalb des Bundesgebiets erreicht, und auch das ist wichtig. Allerdings sollte die Verzahnung mit den Aufsichtsstellen der Länder noch verbessert werden, damit Entscheidungen abgestimmt und auch schnell gefällt werden können und die bei den Ländern heute vorhandene Fachkompetenz auch genutzt wird. Und schließlich: Ein gutes Zusammenwirken wünsche ich mir auch mit den Eltern. Aufklärung und Erziehung hin zu Medienkompetenz und Mündigkeit kann ihnen auch der beste Jugendschutz nicht vollständig abnehmen. Jugendliche ihrerseits sollten auch kontinuierlich in die Entwicklung geeigneter Schutzverfahren einbezogen werden. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, letzter Punkt – auch an die Adresse der Bundesländer –: Diese Novelle ist kein Angriff auf die Medienhoheit der Länder, sondern ein überfälliger Schritt für effektiven Kinder- und Jugendschutz, aber im 21. Jahrhundert. Gemeinsam können wir den guten Entwurf sicher noch besser machen und dann zügig umsetzen. Kinder und Eltern haben das genauso verdient wie Entwickler und Anbieter. ({1}) Bevor wir das weiter diskutieren, worauf ich mich freue, feiern wir hoffentlich alle ein schönes Weihnachtsfest. Das wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. Das wünschen wir Ihnen natürlich auch. – Der nächste Redner: der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendschutz ist heute mehr als der kleine Aushang in der Kneipe, die zugeklebten Scheiben beim Sexshop oder die obligatorische Ausweiskontrolle beim Zigarettenkauf. Der Zugang zu jugendgefährdenden Inhalten ist im 21. Jahrhundert ein ganz anderer. Die fortschreitende Digitalisierung und die ständige Verfügbarkeit von Inhalten fordern Eltern und Behörden heraus. Mit ihren Smartphones haben unsere Kinder und Jugendlichen mit wenigen Klicks Zugang zu einer Welt, die sich manch einer von uns Älteren nicht einmal vorstellen mag. Auch der Jugendschutz muss im digitalen Zeitalter ankommen. Jugendschutz im 21. Jahrhundert ist vor allem auch medienpolitisch zu betrachten. Wie gehen wir mit den vielseitigen Gefahren zielführend um, denen unsere Kinder und Jugendlichen tagtäglich ausgesetzt sein können – von Hasskommentaren über sexuelle Anbahnungen oder Zugang zu Gewaltvideos? Unser Ziel muss es doch sein, einen besseren Schutz in der digitalen Welt zu etablieren, der sein Ziel erreicht, ohne auf mehr Verbote zu setzen. Wir müssen auf einen Jugendschutz setzen, der vor allem auch die Medienkompetenz stärkt. ({0}) Ja, das Jugendschutzgesetz muss zwingend modernisiert werden, und Jugendschutz gehört in eine Hand – zumindest darüber sind wir uns mit der Bundesfamilienministerin einig. Doch der vorliegende Entwurf enttäuscht und verkennt die wichtigsten Ziele: Der Entwurf ignoriert vollkommen, dass Jugendmedienschutz Ländersache ist. Das Internet ist global, aber Ihr Entwurf handelt lokal. Von Sperren im Inland profitieren vor allem Anbieter mit Sitz im Ausland. Der Entwurf missachtet unsere bisherige funktionierende Jugendschutzpraxis: Die Selbstkontrolleinrichtungen und die Jugendschützer in den Unternehmen kommen ihrer Verantwortung nach. Unternehmen handeln verantwortungsvoll innerhalb des gesetzlichen Rahmens. So stellen übrigens wir Freien Demokraten uns das Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft vor, auch beim Jugendschutz! ({1}) Die Einbeziehung von Interaktions- und Kommunikationsrisiken, zum Beispiel über Chatfunktionen, wird, wenn die Vorabprüfung eines Inhalts erfolgt, zum Teil missachtet. Ein und derselbe Film oder ein und dasselbe Game kann dann mal ab 12, ab 16 oder ab 18 Jahren freigegeben sein, je nach Zusatzfunktionen. Das schafft keine Klarheit. Hier wird Vertrauen verspielt. Sie planen eine neue Bundeszentrale, bei gleichzeitiger Länderkompetenz. Aber wir brauchen doch nicht noch mehr Doppelstrukturen und Doppelregulierungen, die die Praxis eher erschweren als verbessern. ({2}) Das sieht übrigens auch die EU-Kommission so. Meine Damen und Herren, ein moderner Jugendschutz im digitalen Zeitalter braucht klare Regeln und Zuständigkeiten, einheitliche Standards; er muss eingebunden sein in europäische Regeln und darf keine Insellösung sein, ({3}) er muss Kinder und Jugendliche schützen und den Eltern, Plattformbetreibern und Behörden klare Unterstützung geben; denn nur so kann er seine Wirkung entfalten. Ihr Entwurf, Frau Ministerin, ist das genaue Gegenteil davon: Doppelstrukturen, nationale Alleingänge, unklare Regeln. Das verspielt das Allerwichtigste: das Vertrauen der Menschen in den Staat. Unsere Hoffnung ist, dass die massive Kritik der Kommission, der Länder, der Unternehmen und wohl auch der Union im Gesetzgebungsprozess Eingang findet, um einen klaren, effektiven und vertrauenswürdigen Jugendschutz zu schaffen. Daran arbeiten wir Freie Demokraten gerne mit. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder und Jugendliche müssen Medien altersgemäß nutzen können, auch und gerade im Internet. Dabei sind sie vor Gewalt, Glücksspiel, Pornografie und Cybermobbing zu schützen. Um den Rahmen dafür abzustecken und zu regeln, gibt es den Jugendschutz. In seiner Fassung von 2002 – wir haben es gehört – hinkt das Jugendschutzgesetz den Entwicklungen klar hinterher und muss tatsächlich erneuert werden. So deutlich dieser Wunsch, so anspruchsvoll ist die Umsetzung jetzt, weil wir es selbstverständlich nicht nur mit lokalen Anbietern zu tun haben und auch nicht nur mit indizierbaren Inhalten, die einfach durch Filter abzustellen wären. Bei allen technischen Abwägungen und Machbarkeiten hinsichtlich der Frage, wie wir Kinder auf verschiedensten Plattformen schützen können, zeigt sich hier seit Jahren auch ein kompetenzrechtlicher Problembereich. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ist eine nachgeordnete Dienststelle des Familienministeriums und dafür zuständig, Schriften, Ton- und Bildträger in Sachen Jugendgefährdung einzustufen. Für Filme, Computerspiele und Plattformen wie YouTube hingegen sind medienrechtlich die Länder zuständig, also Landesmedienanstalten, die unabhängig von den Regierungen arbeiten. Diese staatsfernen Ebenen in ihrer Kontrollfunktion und Expertise zurückzusetzen, kann aus unserer Sicht nicht der Weg sein. ({0}) Es stimmt, dass zwischen Bund und Ländern Parallelstrukturen entstanden sind, die Absurdes zutage fördern, wie etwa, dass ein und derselbe Film als DVD – Zuständigkeit: Bund – eine andere Alterseinstufung als das entsprechende Video im Netz – Zuständigkeit: Länder – aufweist. Das sehr beliebte Game „Fortnite“ hatte zwischenzeitlich drei verschiedene Altersempfehlungen gleichzeitig. Derlei Unstimmigkeiten müssen geklärt werden. Aber der Vorschlag der Bundesregierung, kurzerhand Länderkompetenzen zu einer weisungsgebundenen Behörde des Familienministeriums zu schieben, würde so ein Problem nicht lösen, sondern neue Probleme schaffen. ({1}) Nach Stand des Gesetzentwurfes entstehen weitere Doppelstrukturen, weil es zum Beispiel für den Bereich der Internetplattformen dann zwei Zuständige gibt, zum einen nach dem Jugendschutzgesetz bei der jetzigen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und zum anderen nach dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag bei den Landesmedienanstalten und der Kommission für Jugendmedienschutz. Unter solchen Voraussetzungen haben wir vermutlich nicht mehr Sicherheit für Kinder und Jugendliche, sondern mehr Kompetenzblockaden und Verunsicherung; und genau das gilt es doch zu vermeiden. ({2}) Es gibt viel Kritik daran, dass die bei den Ländern angesiedelte Aufsicht über Onlinemedien nun an eine Behörde des Familienministeriums gehen soll. Diese Kritik ist sehr ernst zu nehmen, weil es hier um die Regulierung von Inhalten geht. Medienpolitisch ist es zentral, dass so eine Aufsicht und Einwirkung nicht regierungsseitig erfolgt. Der Entwurf aus dem Hause Giffey widerspricht diesem Prinzip. Auch der Bundesrat hat eine grundlegende Überarbeitung gefordert, der wir uns nicht verschließen sollten. Von daher ist es gut, dass die Ausschussarbeit noch vor uns liegt und hoffentlich die richtigen Ideen zusammenbringt. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollegin Achelwilm. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der Novelle des Jugendschutzgesetzes strebt die Bundesregierung an, den Jugendmedienschutz zu modernisieren. Dafür ist es tatsächlich höchste Zeit. ({0}) Bislang besteht Jugendschutz im Internet im Kern aus Filterprogrammen, die für Kinder und Jugendliche ungeeignete Inhalte automatisch blockieren sollen. Nur: Fast niemand kennt diese Programme. Deshalb, weil sie niemand einsetzt, stören sich die Anbieter auch nicht daran. Die Besonderheiten der vielen von Nutzerinnen und Nutzern erstellten Inhalte wie Posts, Videos, Fotos – sprich: User-generated Content – werden von den bisherigen Vorgaben erst gar nicht erfasst. Wir brauchen Gesetze, die dem Phänomen der sogenannten Medienkonvergenz gerecht werden. Der vorliegende Entwurf erfüllt diesen Anspruch nicht – leider. Das bisherige Kompetenzchaos zwischen Bund, Ländern und den freiwilligen Selbstkontrollen der Digital- und Medienwirtschaft bleibt weitgehend unangetastet: zu viel Rücksicht auf gewachsene Strukturen, zu wenig Mut zur Innovation. ({1}) Ministerin Giffey will immerhin die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu einer Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz umbauen. Das ist ein Fortschritt, weil für diese neue Bundeszentrale eine koordinierende Rolle und eine Bündelung von Zuständigkeiten vorgesehen ist. Ob sie diese Rolle wirklich ausfüllen kann, wenn sie sich ständig mit der Kommission für Jugendmedienschutz und den vielen verschiedenen Selbstkontrollen abstimmen muss, ist zu bezweifeln. Ergo: Eine einheitliche Medienaufsicht, wie sie bereits 2016 im Abschlussbericht der Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz vereinbart wurde, rückt in weite Ferne. Schade! Für Eltern und Erziehungsberechtigte ist vor allem eines wichtig: ein hoher, medienübergreifender Schutz. Sie brauchen einheitliche und leicht verständliche Regelungen über alle unterschiedlichen Dienste und Plattformen hinweg. Kontakt- und Interaktionsrisiken wie Cybermobbing, Cybergrooming oder gefährliche Mutproben, wie sie vor allem über Plattformen mit Chatfunktion bestehen, sind mittlerweile ein ernstes Problem. Es ist Erziehungsberechtigten nicht zu vermitteln, warum solche Risiken beispielsweise in der Alterseinstufung bisher keine Berücksichtigung finden. Trotzdem wollen wir, dass Kinder und Jugendliche das Internet weiterhin mit seinen Plattformen und Apps interaktiv nutzen. Was wir nicht wollen, sind abgeschottete, komplett kontrollierte Räume und schon gar keine Totalüberwachung jeder individuellen Kommunikation von Kindern. Umso wichtiger ist es daher, dass die Diensteanbieter in die Pflicht genommen werden, sichere Voreinstellungen anzubieten, Jugendschutz by Design. Dazu gehören auch Meldewege und Hilfsangebote in kindgerechter Sprache. Wir unterstützen deshalb ausdrücklich die Intention dieses Gesetzes. Aber wir haben auch die gespaltenen Reaktionen darauf wahrgenommen. Während die neuen Regelungen den Akteuren des Kinder- und Jugendschutzes nicht weit genug gehen, regt sich im Bereich der Medienpolitik erheblicher Widerstand gegen dieses Gesetz. Dieses Gesetz wird wirkungslos bleiben, wenn nicht alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Es ist deshalb gut, dass wir im Januar eine öffentliche Anhörung im federführenden Ausschuss durchführen. Wir werden uns auch dort lösungsorientiert und im Sinne des bestmöglichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen im Internet engagieren. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Svenja Stadler für die SPD-Fraktion. ({0})

Svenja Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004412, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Jugendmedienschutzes begleitet mich jetzt tatsächlich schon die zweite Legislaturperiode. Und es ist mir auch ein persönliches Anliegen, dass wir es in dieser Legislaturperiode zu einem guten Abschluss bringen. Von daher freue ich mich über den jetzt vorliegenden Entwurf des Familienministeriums, der zum Ziel hat, den digitalen Kinder- und Jugendmedienschutz zu verbessern. Denn – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – wenn der Sohn oder die Tochter auf einen zukommt und zum Beispiel sagt: „Hey Mama, ich habe da so ein Spiel, das würde ich gerne runterladen und mal spielen“, dann setzen Sie sich damit ja auch auseinander. Sie schicken Ihr Kind ja nicht weg und sagen: „Ja, ja“, und gucken irgendwann mal, was da passiert. Wenn Sie das kennen, dann wissen Sie: Wir brauchen einfach Hilfsmittel an die Hand, nicht nur wir Eltern, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen und Erzieher, um das Kind im Netz auf eine sichere Spur zu setzen, damit es sich sicher im digitalen Netz und in der Spielewelt bewegen kann. Im Vorfeld zu diesem Gesetzentwurf gab es viele Gespräche. Glauben Sie mir, ich habe schon einige Gespräche hinter mir: mit Vertreterinnen und Vertretern diverser Institutionen und Organisationen, aber auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer – das ist sehr interessant –, mit Kinder- und Jugendärzten sowie mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch wir in der Koalition haben schon miteinander gesprochen; und das ist wichtig; denn – machen wir uns nichts vor – wir wollen einen guten Jugend- und Medienschutz mit schlagkräftigen Durchsetzungsmechanismen und mit Prüf- und Kontrollsystemen, die auch funktionieren. Das ist wichtig, das ist unser Anliegen. Aber wissen Sie – das ist auch wichtig, und das möchte ich hier ganz deutlich machen –: Wenn wir am Ende der Beratungen das novellierte Jugendschutzgesetz verabschieden – natürlich erfolgreich, damit auch ich gut in den Wahlkampf gehen kann nächstes Jahr –, ({0}) ist nichtsdestotrotz nur ein Element im Baukasten zum Schutz der Kinder und Jugendlichen im Netz. Es ist ein Element, es ist nicht das Element; wir schützen unsere Kinder nicht alleine damit vor Übergriffen, Cybermobbing und all diesen Dingen, die im Netz passieren. Das möchte ich nur einmal deutlich machen. Darüber hinaus ist auch wichtig, dass wir Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln, in allen Bereichen: ob in der Kita, in der Schule, in Jugendzentren. Das ist wichtig, damit wir sie gut ausstatten können, damit sie fit für das Netz und fit im Umgang mit den digitalen Angeboten sind. Und – das ist auch ganz wichtig – wir dürfen die Eltern nicht aus dem Blick verlieren; denn wir brauchen sie, damit unsere Kinder und Jugendlichen gut und sicher im Netz unterwegs sind. ({1}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich jetzt tatsächlich auf die anschließenden Beratungen. Es ist wie immer, auch hier gilt das Struck’sche Gesetz: Ein Gesetz kommt in den Bundestag hinein, wird verändert durch parlamentarisch gute Zutaten und geht dann noch besser wieder heraus. Darauf freuen wir uns. Aber vorher freue ich mich jetzt auf Weihnachten. Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. Bleiben Sie gesund! Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige erste Lesung hatte einen langen Vorlauf mit einer intensiven, teilweise auch öffentlichen Diskussion. Die Koalitionspartner sind sich dabei überwiegend einig. Die Kollegin Wiesmann hat die noch zu erörternden Punkte in exzellenter Art und Weise zusammengefasst. Hoher Diskussionsbedarf bestand vielmehr mit den Staatskanzleien der Bundesländer. Von daher bin ich überrascht, dass die Bundesratsbank am heutigen Abend wieder mit Leere glänzt; denn die Länder – wir haben es gehört – beanspruchen die Zuständigkeit für diese Regelungsmaterie und bemühen sich mit viel Aktionismus, dies öffentlich deutlich zu machen. Meine Damen und Herren, ich will zunächst in Erinnerung rufen, um welche grundsätzlichen Fragestellungen es hier geht. Jugendmedienschutz ist rechtlich eine hochkomplexe Materie, weil sich Bund und Länder die Gesetzgebungskompetenz teilen und wir zudem mit dem Modell der regulierten Selbstregulierung arbeiten – also eine Rechtsmaterie für juristische Feinschmecker. Diese Zuständigkeitsteilung wird durch die Digitalisierung ganz besonders herausgefordert. Denn durch die Digitalisierung verschmelzen Einzelmedien ineinander – wir sprechen von der sogenannten Medienkonvergenz –, und die von uns bisher vorgenommene künstliche Trennung von sogenannten Trägermedien und sogenannten Telemedien, gespickt noch mit Rundfunk, kommt an ihre realen Grenzen. Dieser Umstand benötigt eine völlig neue Antwort für eine zeitgemäße Regulierung. Und diese Antwort geben wir mit diesem Gesetzentwurf. ({0}) Eine Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz wurde eingesetzt; der Bericht wurde 2017 präsentiert. Dort heißt es: Bund und Länder sind sich einig, dass der gesetzliche Jugendmedienschutz weiterer Anpassungen an die konvergente Medienrealität bedarf. Sehr richtig. Der Bund handelt jetzt mit diesem Gesetzentwurf, nachdem wir uns sehr lange mit den Ländern zu dieser Thematik abgestimmt haben. ({1}) Meine Damen und Herren, das erste Buzzword in dieser Diskussion mit den Ländern – auch heute hören wir es wieder –: Doppelzuständigkeit. Wenn wir unseren Vorschlag umsetzen, kommt es zu Doppelzuständigkeiten und Rechtsunsicherheiten. Dem kann ich ganz klar entgegentreten; denn wir brauchen überhaupt erst mal einen wirkungsvollen Mechanismus. Die Einzelmaßnahmen der 14 Landesmedienanstalten werden der Vielzahl an Jugendschutzverstößen im Internet offensichtlich nicht gerecht. Allein auf YouTube werden 500 Stunden Material pro Minute hochgeladen. Mehr als 40 Prozent der 10- bis 18-Jährigen haben im Netz negative Erfahrungen gemacht; 800 000 Jugendliche berichten von Mobbing und Beleidigungen. Eine solche Menge kann ich nicht mit Einzelfallentscheidungen der sogenannten Kommission für Jugendmedienschutz, KJM, begegnen, die innerhalb eines Jahres nur 40 Verstöße gegen Jugendschutzbestimmungen im Internet feststellt. ({2}) Das zweite Buzzword in dieser Diskussion: europarechtliche Bedenken, insbesondere mit Blick auf die Regulierung ausländischer Anbieter. Meine Damen und Herren, gestern wurde der Digital Services Act von der EU-Kommission vorgestellt. Auch diese erkennt ganz ausdrücklich das System an, dass trotz des bewährten Herkunftslandprinzips der EU sich derjenige an unsere Vorschriften halten muss, der seinen Dienst im Binnenmarkt anbietet, egal ob er innerhalb oder außerhalb der EU niedergelassen ist. Von daher trägt dieses Buzzword „europarechtliche Bedenken“ nicht. Zudem hat die Kommission das bei der Notifizierung nicht bemängelt. Das Hauptproblem des gegenwärtigen Jugendschutzes im Internet ist die fehlende Effektivität. Das sagen selbst die Landesmedienanstalten; Kollegin Wiesmann hat darauf zu Recht hingewiesen. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf ein neues System etablieren, eine neue Systematik einführen, um die Effektivität des Jugendschutzes im Internet zu steigern. Es ist notwendig, dass wir diesen neuen Weg gehen, da wir sehen, dass die bisherigen Wege nicht zum Ziel geführt haben. Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen und bin zuversichtlich, dass wir diesen Gesetzgebungsprozess sehr positiv und gut abschließen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Wir kommen zur voraussichtlich letzten Rednerin am heutigen Tag: die Kollegin Melanie Bernstein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Melanie Bernstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004670, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Kinder und Jugendliche beim Medienkonsum Schutz und Begleitung benötigen, ist eine Erkenntnis, über die wir hier im Hause weitgehende Einigkeit haben. Auch wissen wir alle, mit welcher beeindruckenden Schnelligkeit sich Verfügbarkeit und Konsum von Medien in den vergangenen Jahren geändert und weiterentwickelt haben. Das Jugendschutzgesetz – das haben wir schon gehört – erlebte seine letzte Neufassung im Juli 2002. Da war das Internet zwar schon ein paar Jahre alt, aber ein Smartphone gehörte, wenn wir uns erinnern, noch nicht zur persönlichen Grundausstattung, erst recht nicht für unsere Kinder. Das war die Zeit, als die Kollegen hier im Hause diskutierten, ob der Kontakt zum Abgeordneten per E-Mail diesen nicht zu sehr von der parlamentarischen Arbeit abhalten würde. ({0}) Entsprechend lesen wir in der bisherigen Fassung des Gesetzes viel von CD-ROMs, Videokassetten und DVDs. Es ist also offenkundig, dass hier mal gehandelt werden muss. Ein Punkt ist, dass Trägermedien und Telemedien kaum noch getrennt betrachtet werden können. Von beiden Medienarten gehen so ziemlich dieselben Gefahren aus; aber zuständig sind einmal der Bund und einmal die Länder. Der Handlungsbedarf wird noch klarer, wenn wir unseren Blick auf die derzeitige Situation vieler Familien richten. Nun ist Corona nicht an allem schuld, aber es ist klar, dass Medienkonsum intensiver wird, wenn analoge pädagogische Betreuung, Schule und Freizeitangebote nicht verfügbar sind, wenn Eltern oftmals im Homeoffice stundenlang vor Videokonferenzen sitzen oder eben auch einfach zur Arbeit gehen müssen. Schon im Koalitionsvertrag wurde festgestellt, dass der Anstieg von Cybermobbing, Grooming und sexualisierter Gewalt, Suchtgefährdung und Anleitung zu Selbstgefährdung im Netz besorgniserregend ist. Also muss eine zeitgemäße Gesetzgebung den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor gefährdenden Inhalten sicherstellen. Unser Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen eine unbeschwerte Teilhabe an Medien in sicheren Interaktionsräumen zu ermöglichen und vor allen Dingen auch die Eltern entsprechend zu stärken. Risiken der Interaktion im virtuellen Raum sind für Eltern nämlich oft gar nicht auf den ersten Blick erkennbar. Zuständig ist hier der Bund, weshalb wir heute diesen Gesetzentwurf beraten. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch auf die Kompetenzen der Länder gesetzt werden soll. Eine Bundeszentrale – von mir aus gern eine möglichst schlanke – könnte etwa die Kompetenz der Länder ganz eng einbinden. Ohne die intensive Mitarbeit der Bundesländer wird ein effektiver Jugendmedienschutz nicht funktionieren! Auch Unternehmen haben im Übrigen ein ganz hohes Eigeninteresse an einem hinreichenden und effektiven Medienschutz. Davon konnten wir uns alle, glaube ich, in ganz vielen Gesprächen gut überzeugen. Bei der nun anstehenden Umsetzung müssen wir auch darauf achten, dass ein jetzt beschlossenes Gesetz noch Spielraum bietet für eine Weiterentwicklung der Medienwelt; und die geht fix voran. Denn wie wir – oftmals leidvoll, insbesondere in der Vorweihnachtszeit – spätestens von unseren Kindern erfahren, kommen quasi täglich neue Geräte, Spiele oder Programme auf den Markt. Hier braucht es den verantwortungsvollen Umgang nicht nur der Eltern, sondern auch des Gesetzgebers. Packen wir es einfach gemeinsam an! Ganz vielen Dank und ganz, ganz schöne Weihnachten für Sie alle. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.