Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/15/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute und morgen in diesem Haus die Bundestagsmandate für fünf Auslandseinsätze der Bundeswehr. Unsere Soldatinnen und Soldaten, die – das wissen Sie alle – oft unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen im Einsatz sind, erwarten vor allen Dingen von uns – und das zu Recht – Handlungssicherheit und einen klaren Auftrag. Das gilt nicht nur für die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Einsätze, sondern das gilt erst recht auch für das außenpolitische Gesamtkonzept, ohne das diese Einsätze nicht zum Ziel führen können. Unser Engagement für Frieden und Stabilität, und zwar weltweit, müssen wir auch durch einen Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus unterlegen. Die internationale Anti-IS-Koalition hat in der Vergangenheit bereits wichtige Erfolge erzielt. Die IS-Terrorherrschaft über 3,2 Millionen Syrer und 4,5 Millionen Iraker wurde im letzten Jahr gebrochen. Rakka wurde befreit. 3,5 Millionen irakische Binnenflüchtlinge konnten in ihre Städte und Dörfer zurückkehren. Der IS übt im Irak keine Herrschaft mehr aus. Die Anzahl der Kämpfer ist wesentlich gesunken, und die Finanzquellen konnten größtenteils ausgetrocknet werden. Dennoch sollten wir uns nichts vormachen: Besiegt ist der IS noch lange nicht. In Syrien ist er weiterhin – vor allen Dingen im Osten des Landes – präsent, wo deshalb auch der militärische Fokus aller Mitglieder der Anti-IS-Koalition liegen muss. Aber auch im Irak gibt es immer noch zahlreiche IS-Kämpfer. Das bedeutet, unsere Erfolge sind fragil. Wenn wir sie sichern wollen, dann müssen wir unser Engagement fortsetzen. Darum geht es heute. ({0}) Meine Damen und Herren, wir müssen und werden gleichwohl unser Engagement im Kampf gegen den IS anpassen. Die Bundesregierung beabsichtigt, die Personalobergrenze des Ihnen vorliegenden Mandats deutlich abzusenken: von 1 200 auf 800 Soldatinnen und Soldaten. Der seegehende Schutz für den französischen Flugzeugträger wird nicht mehr nötig sein. Hingegen wollen wir die Aufklärungsflüge, die Luftbetankung und die AWACS-Flüge der NATO fortsetzen, um die erzielten Fortschritte abzusichern und ein Wiedererstarken des IS dauerhaft zu verhindern. Ein vorzeitiges Ende unseres militärischen Beitrages – ja, es ist ein militärischer Beitrag – zur Anti-IS-Koalition, ein Nachlassen im Kampf gegen den IS wäre gerade jetzt das völlig falsche Signal. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem Mandat. ({1}) Mit der Reduzierung des militärischen Engagements im Kampf gegen den IS rücken jetzt die langfristige Perspektive und vor allen Dingen die Ursachenbekämpfung, von der so oft die Rede ist, in den Vordergrund. Wie kann dem IS-Terror auf Dauer der Nährboden entzogen werden? Nach den Jahrzehnten des Gegeneinanders kommt es jetzt vor allem darauf an, dass alle Bevölkerungsgruppen im Irak ihren Platz haben und in den Genuss von wirtschaftlicher und politischer Teilhabe kommen. Bagdad und Erbil haben den Gesprächsfaden auf höchster politischer Ebene wieder aufgenommen, was gut ist. Dass sich alle Beteiligten zu einem Dialog auf Grundlage der irakischen Verfassung bekennen, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, der in der Vergangenheit lange nicht möglich gewesen ist. Wir zeigen genauso Verantwortung mit unserem zivilen Engagement. Das müssen wir umso stärker machen, je erfolgreicher der militärische Kampf gegen den IS verläuft. Die Bundesregierung hat seit 2014 zivile Hilfe in Höhe von über 1 Milliarde Euro für den Irak geleistet. Bei der internationalen Wiederaufbaukonferenz vergangenen Monat in Kuwait hat Deutschland weitere 350 Millionen Euro zugesagt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende noch einige Worte zu Syrien sagen. Es besteht kein Zweifel: Wir erleben zurzeit die schlimmsten Kämpfe seit Beginn des siebenjährigen Konfliktes. Die jüngste Offensive auf Ost-Ghuta offenbart einmal mehr die ganze Brutalität des syrischen Regimes. Täglich sterben Menschen. Hilfstransporte, auf die lange gewartet wird und die bitternötig sind, kommen nicht an; sie werden nicht durchgelassen. Wir fordern daher das syrische Regime und seine Verbündeten auf, Beschlüsse der Weltgemeinschaft endlich umzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Waffen schweigen und die dringend benötigte humanitäre Versorgung endlich geleistet werden kann. ({2}) Für eine friedliche Zukunft in Syrien bleibt entscheidend, dass die dem Konflikt zugrunde liegenden Ursachen angegangen werden. Das bedeutet, dass im Genfer Prozess endlich Fortschritte gelingen müssen. Und es muss klar gesagt werden: Bei all diesen Fragen steht vor allen Dingen Russland in der Verantwortung. Meine Damen und Herren, Stabilität und Entwicklung sind ohne Sicherheit nicht möglich, und zwar nirgendwo. Deshalb ist unser militärischer Beitrag als Teil unseres umfassenden Ansatzes im Kampf gegen den IS und zur Stabilisierung des Iraks weiterhin notwendig. Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. von der Leyen. Bitte sehr. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor etwa einem Monat war die Münchner Sicherheitskonferenz, und damals hat der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi eine beeindruckende Rede gehalten. Er sprach davon, wie er 2015 erstmals auf der Münchner Sicherheitskonferenz war. Damals waren zwei Drittel des Iraks vom IS kontrolliert, das Land war geschunden durch Terror, durch Vertreibungen, religiöse und politische Spannungen, die irakischen Streitkräfte schwach und zersplittert. Aber Premier al-Abadi hat auch geschildert, was es bedeutet hat, dass heute Mosul befreit ist, dass dies das Verdienst einer einzigartigen weltweiten Koalition gegen den Terror ist, vor allem aber ein Erfolg der Iraker. Zum ersten Mal haben die Kräfte der irakischen Zentralregierung zusammen mit den Peschmerga Seite an Seite gekämpft. Gemeinsam mit der Koalition gegen den Terror ist es ihnen gelungen, den IS militärisch zu schlagen, und das ist ein sehr großer Erfolg, meine Damen und Herren. ({0}) Auch Deutschland hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet: Wir haben mit unseren Recce-Tornados zur Aufklärung beigetragen. Wir haben unsere Partner mit Luftbetankung unterstützt. Wir haben die Peschmerga ausgerüstet und ausgebildet. Wir haben ihnen militärisches Basiswissen vermittelt, etwa für den Kampf gegen die Selbstmordkommandos oder den Häuserkampf. Wir haben sie auch in der Verwundetenversorgung ausgebildet, damit Peschmerga-Kämpfer nicht mehr gleich hinter der Front verbluten, weil die Basisversorgung nicht gegeben ist. Wir haben sie später in der ABC-Abwehr spezialisiert. Wir haben Ersatzteile für Fahrzeuge, Sanitätsmaterial und Minenabwehr geliefert. Entscheidend ist aber gewesen: Wir haben dadurch den Peschmerga den Rücken gestärkt. Sie haben Mut gefasst, sie haben tapfer gekämpft, sie haben den IS gestoppt. Es ist ihnen gelungen, ihr Territorium freizukämpfen. Sie haben 1,5 Millionen Flüchtlinge in ihrem Land geschützt. Das ist das Ziel der Mission gewesen, und diese Mission ist jetzt erfolgreich abgeschlossen, meine Damen und Herren. ({1}) Wir können deshalb das reine Basisausbildungsmandat auslaufen lassen. An dieser Stelle – ich spreche, glaube ich, auch im Namen des Hohen Hauses – möchte ich allen Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten danken, die diesen Einsatz in Erbil geleistet haben. Das ist vor allem auch ihr Erfolg. ({2}) Ich danke auch ganz bewusst den Peschmerga; denn wir werden nicht vergessen, dass sie auch für unsere Sicherheit gekämpft haben. Sie haben Leben gelassen, sie haben Gesundheit verloren, und das werden wir ihnen nicht vergessen. Meine Damen und Herren, es geht jetzt darum, die Erfolge zu sichern. Mein Kollege Heiko Maas hat es schon richtig gesagt: Der IS ist militärisch geschlagen, aber besiegt ist er noch nicht. – Er agiert zunehmend aus dem Untergrund. Er hat tiefe Spuren der Verwüstung in diesem Land hinterlassen, gerade zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Jetzt ist es Aufgabe der Koalition, den IS-Terror in Syrien und Irak weiterhin nachhaltig zu bekämpfen, aber vor allem auch die irakischen Streitkräfte zu ertüchtigen, für Sicherheit im eigenen Land zu sorgen. Der größte Schutz gegen den Terror ist aber, wenn wir die Iraker dabei unterstützen, ihr Land wiederaufzubauen und als eine Einheit des Iraks zusammenzubleiben. ({3}) Bei meinem Besuch vor etwa vier Wochen im Irak hat mir Ministerpräsident Haider al-Abadi gleich im ersten Satz gesagt – Herr Präsident, Sie erlauben mein Zitat –: We are asking you for more German engagement. – Er hat also eine klare Einladung und Bitte an Deutschland gerichtet, im Irak weiterhin zu helfen. Natürlich wird das Ganze unter dem Dach der Koalition gegen den Terror geschehen. Unter diesem Dach der Koalition gegen den Terror sind etwa 30 Länder aktiv, aber auch die VN, die Europäische Union, die NATO. Deshalb haben wir jetzt das Mandat neu gefasst. Wir hatten früher zwei Mandate, jetzt haben wir ein Mandat. Wir können die Obergrenze insgesamt von 1 350 auf 800 Soldatinnen und Soldaten absenken. Das Mandat steht auf drei Säulen: Erstens. Wir werden weiterhin Fähigkeiten zur Aufklärung, die Recce-Tornados, zur Verfügung stellen, um sie in Syrien und im Irak einzusetzen. Zweitens. Wir werden der Air Campaign der Koalition weiterhin die Luftbetankung und Stabspersonal zur Verfügung stellen, ebenso NATO-AWACS. Drittens. Wir werden uns aber – das ist das Neue in diesem Ansatz – im Irak auf Capacity Building konzentrieren, also weg von der Basisausbildung, die ich vorhin geschildert habe, hin zu einer höheren, spezifischeren Ebene. Da geht es um den Aufbau loyaler Streitkräfte, spezialisierte Ausbildung – Train the Trainer –, aber eben auch um Schlüsselfähigkeiten wie Minenräumen, Sanitätswesen – wir bauen jetzt in Erbil ein Peschmerga-Krankenhaus – oder ABC-Abwehr. Es geht auch um die Beratung des irakischen Verteidigungsministeriums und um den Aufbau militärischer Ausbildungseinrichtungen. Wir werden also in Zukunft im Irak mit zwei Standbeinen vertreten sein: mit einem in Erbil und einem rund um Bagdad, um das Capacity Building voranzubringen. So wird unser Engagement sowohl geografisch als auch politisch neu ausbalanciert werden. Das Mandatsgebiet wird angepasst.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Neu?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Sie sind gleich dran mit einem Beitrag. Dann können Sie alles sagen, was für Sie relevant ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unserem Beitrag bleiben wir in der Koalition gegen den Terror engagiert, einen Terror, der uns auch weiterhin fordert. Wir tragen dazu bei, dass diese geschundene Region langsam wieder an Stabilität gewinnt, auch damit Millionen von Flüchtlingen, die sich außerhalb des Landes befinden oder Binnenvertriebenen sind, wieder zurück in die Heimat kommen können. Wir wissen zugleich, dass dies noch ein langer Prozess ist. Wir sind erst am Anfang des Weges. Es ist ein Weg, für den es vor allem ein hohes diplomatisches Geschick braucht – Heiko Maas hat es eben geschildert –, auch was die politischen Verwerfungen innerhalb des Landes angeht. Es wird massiver Entwicklungs- und Wiederaufbauleistungen bedürfen, und es wird für eine Weile auch noch militärische Unterstützung nötig sein. Wenn die Regierung sich nach den Wahlen einem guten Miteinander der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschreibt und wenn auch die Länder der Region diese Maxime unterstützen, dann hat der Irak eine echte Chance, wieder stark und einig zu werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Neu zu einer Kurzintervention.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Ministerin, Die Linke können Sie mit Ihren Argumenten nicht überzeugen. – Ich habe eine ganz konkrete Frage: Gehen mit der Bereitstellung von Ausbildungsmodulen auch Waffenlieferung an die irakischen Kräfte einher? Werden künftig auch irakische Kinder mit dem Namen „Milan“ beglückt werden wie die kurdischen Kinder im Norden Iraks? Wird die Ausbildungsmission zugleich mit Rüstungsgüterexport in den Irak verbunden sein?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Minister, Sie können antworten.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Nein, Herr Neu, es wird so sein, dass wir ausschließlich nichtletales Material in den Irak liefern. Es geht um Sanitätsmaterial und um Gerät zur Minenabwehr. Im Übrigen haben wir die Waffenlieferungen an die Peschmerga bereits im Sommer des vergangenen Jahres beendet. Diese Waffenlieferungen waren nötig, damit die Peschmerga in der Lage sind, die rollenden Selbstmordbomben des IS abzuwehren. Sie sind ja dadurch gepeinigt gewesen, dass ganze Laster mit Sprengmaterial gefüllt worden sind, die dann in die Peschmerga-Dörfer hineingefahren worden sind. Insofern ist es absolut überlebensnotwendig für die Peschmerga gewesen, dass sie richtig ausgerüstet werden; denn so konnten sie auch wieder Mut fassen. Das hat sich auch ausgezahlt. Wie ich bereits sagte: Der akute Kampf gegen den IS ist erfolgreich beendet, und deshalb sind auch die Waffenlieferungen eingestellt worden. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Rüdiger Lucassen, AfD. ({0})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Frau von der Leyen will unsere Soldaten überstürzt in eine umfassende Stabilisierungsmission in den Irak schicken. Wir schlagen dringend vor, dass die Verteidigungsministerin zunächst unsere Bundeswehr selbst stabilisiert; ({0}) denn der Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft zeigt katastrophale Zustände auf. Hinzu kommt: Die Bundeswehr befindet sich bereits seit 16 Jahren in einer anderen Stabilisierungsmission – in Afghanistan. Der aktuelle Perspektivbericht des Verteidigungsministeriums zu Afghanistan ist ein Bericht des Scheiterns. Jetzt will Frau von der Leyen in den Irak. Und wieder gibt es keine tragfähige Strategie. Der Antrag der Bundesregierung zeigt, wie die Verteidigungsministerin arbeitet. Frau von der Leyen bereist seit Jahren emsig das internationale Parkett – wir haben es gerade gehört – und sichert bei jeder Gelegenheit Deutschlands Unterstützung zu. Aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen – materiell und personell gut gerüstete Streitkräfte –, das kriegen Sie nicht hin, Frau Ministerin. ({1}) Das haben Sie in Ihrer Amtszeit zweifelsfrei bewiesen. Und jetzt geht auch noch Ihre Rüstungsstaatssekretärin. Aber nicht nur das: Können Sie sich noch daran erinnern, Frau Ministerin, dass Sie von einer Fehlerkultur und mehr Transparenz als Voraussetzungen für eine ehrliche Bestandsaufnahme bei der Bundeswehr sprachen? Auch dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. In der Truppe rumort es wie noch nie; aber von oben kommen nur Jubelmeldungen. Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass die höchste militärische Führung ein wesentlicher Teil dieser Schönrederei ist. ({2}) Es ist aber die Pflicht Ihres Hauses, das Parlament darüber zu unterrichten, wie es tatsächlich um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr steht. ({3}) Der Wehrbeauftragte nennt die Bundeswehr als Ganzes nicht einsetzbar. Ihre Inspekteure melden jedoch, dass jede Aufgabe zu schaffen ist. Aber um welchen Preis? Frau von der Leyen, geben Sie Ihren Inspekteuren die Freiheit, zu melden, was ist – und nicht, was politisch gut klingt. ({4}) Nein, es ist nicht alles außenpolitische Verantwortung, was von Ihnen so bezeichnet wird, vor allem dann nicht, wenn Sie unsere Soldaten erneut in die Welt hinausschicken, ohne eine tragfähige Strategie zu haben. ({5}) Sie machen immer wieder die gleichen Fehler und nennen das „Verantwortung“. Sie sind für das Wohl der Ihnen anvertrauten ({6}) – gedulden Sie sich – Männer und Frauen verantwortlich. Das bedeutet, sie in die Lage zu versetzen, den Auftrag zu erfüllen. Das neue Mandat für den Einsatz im Irak ist voller Risiken. Ich habe hier schon einmal gesagt: Risiken gehören zum Soldatenberuf wie die Uniform und der Formaldienst. Aber jedes Risiko muss einem angemessenen Ertrag gegenüberstehen. Was wollen Sie mit dem neuen Einsatz bis wann erreicht haben? An welchem Punkt können wir unsere Soldaten wieder nach Hause holen? Mit wie vielen Mandatsverlängerungen müssen wir noch rechnen? Darüber geben Sie keine Auskunft – wie in Afghanistan, wie in Mali, wie im Kosovo. ({7}) Ich bezweifle, dass sich die Mehrheit dieses Parlaments dieser Risiken bewusst ist. Wenn wir deutsche Soldaten in den Irak schicken, werden wir unweigerlich zur Konfliktpartei. Wir bilden Kräfte aus, die anderen Kräften gegenüberstehen. Zudem gibt es eine massive Einflussnahme des Iran, die sich möglicherweise auf die nächsten Wahlen im Irak auswirkt. Können Sie ausschließen, dass wir in ein paar Monaten feststellen müssen, dass unsere Soldaten die Falschen ausgebildet haben? Meine Fraktion will zuerst die volle Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr, bevor das nächste Mandat beginnt. Wenn Sie die melden können, Frau Ministerin, dann können wir unsere Soldaten in Einsätze schicken, auch in Kampfeinsätze. An das Parlament gerichtet: Es reicht nicht aus, an ein paar Tagen des Jahres den unbekannten Soldaten mit lauwarmen Worten zu langweilen und sich eine gelbe Schleife anzustecken. ({8}) Die Soldaten, die Sie in Einsätze schicken, brauchen einen klaren Auftrag, Vollausstattung und eine robuste Ausbildung. Das wäre der richtige Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als es im Dezember darum ging, die Mandate für die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu verlängern, haben die Freien Demokraten dieser technischen Verlängerung aller Einsätze zugestimmt. Dabei haben wir aber klargemacht, dass diese Zustimmung keine Vorwegnahme künftigen Abstimmungsverhaltens hier sein würde, sondern dass wir die Mandate verantwortlich bewerten werden, die uns von der Bundesregierung vorgelegt werden. Das haben wir bei dem vorliegenden Mandat getan und kommen zu dem Schluss: Dieses Mandat ist mangelhaft. Es ist in mehrfacher Hinsicht mangelhaft. Es vermischt zwei Einsätze, die ihrem Charakter nach völlig unterschiedlich sind: Der Kampf gegen den IS ist etwas, das dieses ganze Parlament vorbehaltlos unterstützt, auch die Freien Demokraten. Wir unterstützen die Mission der Tornados und die Luftbetankung. Wir halten den Kampf gegen diese Geißel der Menschheit für eine der großen Aufgaben der zivilisierten Welt. Natürlich unterstützen wir das. ({0}) Die Stabilisierung des Gesamtirak ist aber ihrem Charakter nach eine völlig andere Aufgabe. Die Stabilisierung des Gesamtirak ist eine Aufgabe, die getrennt vom Kampf gegen den IS zu beraten ist. Ich glaube, dass das Problem dieses Mandats, so wie es hier vorgelegt worden ist, die Vermischung dieser beiden Ebenen ist, zumal es in Bezug auf den Irak von Unklarheiten wimmelt: Erstens gibt es eine Unklarheit in Bezug auf den nationalen Beitrag, den Deutschland leisten soll. Wo, an welchen Orten soll eigentlich ausgebildet werden? In welcher Größenordnung soll ausgebildet werden? Woher kommen die Stabsoffiziere, die beispielsweise die Ausbildung beim Verteidigungsministerium vornehmen sollen? Das ist etwas völlig anderes als die Ausbildung an Kleinwaffen oder Panzerabwehrwaffen. Dafür haben Sie die militärischen Ressourcen nicht mehr. Eine weitere Frage: Wer wird konkret ausgebildet? Auch dazu gibt es widersprüchliche Angaben aus der Bundesregierung. Zum Zweiten gibt es eine völlige Unklarheit in Bezug auf die NATO-Ausbildungsmission. Im Februar hat in der NATO ein Prozess begonnen, mit dem eine eigene Ausbildungsmission begründet werden soll, die exakt identisch zu den Zielen ist, die in diesem Mandat formuliert worden sind: Aufbau von Strukturen im Verteidigungsministerium, Ausbildung militärischer Führer, Training bestimmter fachlicher Fähigkeiten. Es ist unklar, ob diese Mission kommen wird, und es ist völlig unklar, in welchem Verhältnis diese Mission zu unserem nationalen Beitrag steht. Drittens ist dem Mandatstext zufolge unklar, wie wir uns in Zukunft eigentlich gegenüber den Peschmerga verhalten werden. Wie wird der Einsatz im Gesamtirak strukturiert? Wie ist das Verhältnis der nationalen und der regionalen Dimension? Wenn wir die Peschmerga jetzt fallen ließen, wäre das ein fataler Fehler. Die Peschmerga haben im Kampf gegen den IS Großes geleistet. Die Präsenz Deutschlands in der Region Kurdistan/Irak hat eine stabilisierende Bedeutung; das wissen wir alle. ({1}) Meine Damen und Herren, es gibt zum Vierten eine Unklarheit – Herr Maas, dazu konnten Sie noch nichts sagen; das verstehe ich – in Bezug auf die innenpolitische Entwicklung im Irak. Diese ist völlig offen. Das irakische Parlament hat im Februar eine Resolution verabschiedet, in der es einen Zeitplan für den Abzug aller ausländischen Streitkräfte verlangt. Im Mai sind im Irak Wahlen. Es war uns nicht möglich, in den letzten Wochen von der Bundesregierung eine verbindliche Auskunft über die Sicherheitslage in Zentralirak zu bekommen. Also mit anderen Worten: Die innere Situation im Irak ist genauso unklar wie das Mandat. Wir fordern Sie daher auf: Legen Sie zwei Mandate vor! Es handelt sich eben nicht mehr um ein reines Anti-IS-Mandat, das man gemeinsam mit den Peschmerga durchführt. Es handelt sich um zwei getrennte Aufgaben. Schaffen Sie Klarheit über die regionale und nationale Schwerpunktsetzung! Erklären Sie, wie Sie sich das Verhältnis von ­NATO-Beitrag und nationalem Beitrag vorstellen! Und ja, erklären Sie, wie die Bundeswehr das noch schaffen soll. Denn woher die Stabsoffiziere kommen sollen, die diese Form der Ausbildung durchführen können, diese Frage wurde uns nicht beantwortet. Meine Damen und Herren, die Freien Demokraten stimmen der Überweisung in den Ausschuss zu, aber eine Zustimmung meiner Fraktion zu diesem mangelhaften Mandatstext kann ich nicht in Aussicht stellen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine 24 Stunden im Amt, legt uns die neue schwarz-rote Bundesregierung ein halbes Dutzend Anträge zu Bundeswehreinsätzen im Ausland vor. ({0}) Während die Schlangen an den Tafeln in unserem Land immer länger werden, wollen Sie in den nächsten sechs Monaten sage und schreibe 69,5 Millionen Euro allein für eines dieser vielen kostspieligen, hochgefährlichen militärischen Abenteuer ausgeben – und das, obwohl sich die Bundeswehr seit Wochen über Personalknappheit und Überlastung beschwert. Ich finde, das ist eine falsche Prioritätensetzung dieser Bundesregierung. ({1}) Mit dem neuen Mandat will die Bundesregierung bis zu 800 Soldaten entsenden, um künftig nicht nur kurdische, sondern auch irakische Soldaten auszubilden. Dabei ist es noch nicht einmal ein halbes Jahr her, dass beide Seiten gegeneinander Krieg geführt haben. Ich finde, dieses Programm Ihrer Außenpolitik, das Sie hier vorführen, ist wirklich nicht nur sicherheitspolitischer Wahnsinn, sondern vollständig grotesk. ({2}) Offenbar ist Ihnen alles recht, solange man beide Konfliktparteien in einem Konflikt ausbildet und auch ausrüstet, was man jetzt gerade ja auch in Afrin sieht. Ich finde es wirklich eine zynische Außenpolitik, dass Deutschland mittendrin in einem innerirakischen Konflikt ist. ({3}) Als völkerrechtliche Legitimation geben Sie an, dass die Bundeswehr auf Anfrage der irakischen Regierung entsendet wird. Das stimmt; das ist richtig. Die Frage ist allerdings, ob die Entsendung der Bundeswehr ohne ein Mandat der Vereinten Nationen, allein auf Grundlage einer bilateralen Vereinbarung, mit unserem Grundgesetz vereinbar ist. ({4}) Im Grundgesetz steht davon jedenfalls nichts. ({5}) Deshalb ist dieser Einsatz der Bundeswehr auch ein massiver Verstoß gegen unser Grundgesetz. ({6}) Erklärtes Ziel Ihrer Bemühungen – das sagen Sie in Ihrem Mandat, und die zwei Minister haben das jetzt auch gesagt – ist die Bekämpfung des „Islamischen Staates“. Das klingt zumindest erst einmal ehrenvoll, muss man sagen, es ist aber schlicht verlogen; denn zeitgleich steht die Bundesregierung an der Seite des NATO-Mitglieds Türkei, das jetzt mit deutschen Panzern an der Seite islamistischer Mörderbanden diejenigen in Syrien niederwalzt und beschießt, die seit Jahren entschieden gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen. Türkische Truppen und mit ihnen angreifende islamistische Mörderbanden, die dem IS wirklich in nichts nachstehen, drohen in der Stadt Afrin im Norden Syriens ein furchtbares Massaker anzurichten. ({7}) Viele Opfer – auch Frauen und Kinder –, die Bedrohung von Jesiden in den Dörfern durch islamistische Terrorbanden: All diese Nachrichten und Hilferufe erreichen uns seit Wochen. Und was macht die Bundesregierung? Sie schweigen dazu. Aber Sie schweigen nicht nur; Sie sind auch nicht tatenlos. Das haben ja die Berichte von heute gezeigt. Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der Türkei haben Sie Waffenexporte an die Türkei in Höhe von 4,4 Millionen Euro genehmigt. ({8}) Ich finde, das ist für die deutsche Außenpolitik eine Schande in einem historischen Ausmaß. ({9}) Schämen Sie sich eigentlich nicht dafür, dass Sie sich hierhinstellen und sagen, Sie möchten gegen den IS kämpfen, während Sie gleichzeitig an der Seite der Türkei stehen und damit den IS stärken und die Anti-IS-Kräfte in der Region schwächen? Hören Sie auf mit Ihrer Heuchelei, und schauen Sie sich die Bilder an, auf denen zu sehen ist, wie Ihr NATO-Verbündeter mit Terrorbanden Leichen von gefallenen kurdischen Anti-IS-Kämpferinnen verstümmelt! Dass Sie das hier seit Wochen beschweigen, ist eine große Schande. ({10}) Gestern noch haben Sie als Kabinettsmitglieder geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Ich frage Sie wirklich: Meinen Sie, Sie wenden Schaden vom deutschen Volk ab, indem Sie fest an der Seite der Türkei stehen, die Sie selbst als zentrale Aktionsplattform für den islamistischen Terrorismus in der Region definiert haben? Glauben Sie, dieser Terror wird Deutschland nicht irgendwann erreichen? Ich finde, Ihre Außenpolitik züchtet islamistische Monster heran, die dann auch die Menschen in unserem Land und in Europa gefährden. ({11}) Eine verantwortungsbewusste Außenpolitik sieht ganz anders aus. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Omid Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ISIS ist auf dem Rückzug; und das ist gut. Es gibt viele, denen man danken muss: der Bundeswehr und vielen anderen, die sich den Barbaren in den Weg gestellt haben, nicht nur mit der Waffe in der Hand. Ich möchte an dieser Stelle eine Gruppe erwähnen, bei der mir schlicht die Dankesworte fehlen, weil das, was sie geleistet hat, so unglaublich ist. Das ist „Raqqa Is Being Slaughtered Silently“. Das ist eine Gruppe von jungen Menschen, die nicht nur ihr Leben riskiert haben, sondern vielfach ihr Leben geopfert haben, um Informationen aus Rakka herauszuschmuggeln. Das ist eine unglaubliche Arbeit, die diese Menschen geleistet haben. Dafür kann man nicht ausreichend Danke sagen. ({0}) ISIS ist auf dem Rückzug, aber noch lange nicht am Ende. Er muss weiter mit militärischen Mitteln bekämpft werden, auch wenn wir wissen, dass die Hauptarbeit im politischen Bereich liegt. Dabei ist es völlig richtig, dass man die Bemühungen von Haider al-Abadi, Irak zusammenzuhalten, unterstützt. Irak ist ein Frontstaat im Kampf gegen ISIS. Als wir im November letzten Jahres miteinander gesprochen und über eine Regierungsbildung beraten haben, haben wir uns auf einen Mandatstext geeinigt, dem wir auch hätten zustimmen können. Das können wir beim vorliegenden Mandat nicht. Ich will dafür einige Gründe nennen. Der erste Grund ist das Völkerrecht. Es ist gerade über den Irak gesprochen worden. Die Kollegin Dağdelen hat beschrieben, warum der Einsatz im Irak völkerrechtsgemäß ist. In Syrien ist das anders. Auch die Situation in Syrien findet ja in diesem Mandatstext Erwähnung. Die Bundesregierung sagt ausschließlich: Die Vereinten Nationen haben uns aufgefordert, ISIS zu bekämpfen. – Das ist für eine Souveränitätsverletzung nicht ausreichend. ({1}) Das Zweite ist: Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man Auslandseinsätze grundsätzlich nur in Systemen kollektiver Sicherheit leisten darf. Das, womit wir es hier zu tun haben, ist eine Koalition der Willigen. Das ist aus unserer Sicht nicht nur grundgesetzwidrig, sondern es ist auch eindeutig eine politische Aushöhlung der Regularien und vor allem der Gremien der Vereinten Nationen. Das ist für uns ein weiterer Grund, diesem Mandat nicht zuzustimmen. ({2}) Das Dritte ist: Transparenz fehlt. Ich habe eine Antwort der Bundesregierung zu diesem Thema bekommen und möchte daraus zitieren. Zusätzlich existieren Verhaltensregeln für alle an IRKS beteiligten Nationen. ... Sie gelten für das deutsche Einsatzkontingent Counter DAESH nur innerhalb des durch das Mandat des Deutschen Bundestages festgelegten Rahmens. Eine andere Frage war: Können wir die Einsatzregeln der Bundeswehr einsehen, wie wir das auch bei anderen Mandaten machen durften? Weiter im Zitat: Die ... erwähnten zusätzlichen Verhaltensregeln ... sind Teil eines durch die USA verfassten und „SECRET-RELEASABLE TO USA ...“ ... eingestuften Dokuments. Deshalb werden wir sie nicht herausgeben. – Das sind aber Einsatzregeln für unsere Soldatinnen und Soldaten, die wir als Parlament kontrollieren. Diese Kontrolle können wir aber nicht leisten, wenn Sie diese Transparenz verweigern. ({3}) Das Vierte ist die Frage, ob die Bilder, die bei diesem Einsatz gemacht werden, an die Türkei gehen. Wir haben diese Frage immer wieder gestellt. Es gab immer viele Antworten zu Red Card Holdern. Aber die Frage, ob es nicht einen Pool der NATO gibt, aus dem Bilder und Daten entnommen werden können, und wie man verhindern will, dass die Türkei, die ihre Militäraktion zurzeit nicht nur im Norden Syriens betreibt, sondern auch angekündigt hat, im Norden Iraks tätig zu werden, diese Bilder bekommt, ist nie beantwortet worden. Der letzte Grund: Mir fehlt es, ehrlich gesagt – das geht mir persönlich so –, schlicht an Vertrauen. Die Bundesregierung hat vor vier Jahren – das waren dieselben Parteien, die seit gestern wieder in der Regierung sind – ganz laut und heftig gesagt: Wir werden die Rüstungsexporte restriktiver handhaben. – ({4}) Dass die Fakten der letzten vier Jahre eindeutig eine andere Sprache sprechen, wissen wir. Aber die Tatsache, dass die Bundesregierung in den letzten fünfeinhalb Wochen, seit die Türkei in Syrien einmarschiert ist, 20 Genehmigungen für den Export von Rüstungsgütern in die Türkei erteilt hat, ist schlicht ein Skandal. ({5}) Ihre Behauptung ist eine Lüge, die in die Öffentlichkeit gegeben wurde. Das höhlt unser Vertrauen aus. Es ist im Übrigen hervorragend, Herr Außenminister – dafür danke ich Ihnen –, dass Sie Ost-Ghuta genannt und erwähnt haben, was dort gerade durch Assad, den Freund der AfD, passiert. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten auch noch Afrin genannt. Das ist nicht gleichzusetzen. Aber das ist genauso Teil des Problems in Syrien. ({6}) Die Bundesregierung trägt zu diesem Problem bei, weil sie diese Rüstungsexporte genehmigt. Wir werden diesem Mandat nicht zustimmen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 2014 bedroht der sogenannte „Islamische Staat“ die Welt mit islamistischem Terrorismus in einer bisher ungekannten Dimension. Die Welt hat darauf auch in einer bisher beispiellosen Weise reagiert, und zwar mit einer Allianz von 71 Staaten und verschiedenen internationalen Organisationen, die darauf geantwortet haben. Diese Antwort war von Anfang an nicht nur militärisch angelegt, sondern beinhaltete auch die Stabilisierung von zurückeroberten Gebieten, das Austrocknen der Finanzströme des IS, eine eigene Kommunikationsstrategie und den Umgang mit den sogenannten Foreign Fighters. Wir können heute feststellen: Zumindest bisher war diese Antwort erfolgreich. Der IS ist weitgehend territorial besiegt. Er hat kaum noch Gebiete unter seiner Kontrolle. Von einem zusammenhängenden Kalifat kann keine Rede mehr sein. Es kommen auch kaum noch Foreign Fighters im Irak und in Syrien an. Der Kampf gegen den IS ist aber noch lange nicht gewonnen. Er hat sich nur verändert. Der IS ist heute zwar nicht mehr in der Lage, ganze Landstriche und Städte zu erobern. Aber er verbreitet immer noch in gnadenloser Weise seinen Terror. Ich habe gerade im Internet auf einer der Seiten nachgesehen, auf denen die Terroranschläge immer aktuell aufgeführt sind. Stand heute – sind wir bei 66 Terroranschlägen des IS alleine im Jahr 2018, vor allem im Irak und in Syrien und meistens mit Todesopfern. Meine Damen und Herren, diese veränderte Bedrohungslage erfordert auch eine Veränderung in der Schwerpunktsetzung der Allianz. Für uns bedeutet dies konkret, dass wir einen Teil unseres Beitrags mit diesem Mandat auslaufen lassen können – darauf wurde in der Debatte schon hingewiesen –, nämlich die Ausbildung der Peschmerga im Nordirak. Es ist der Peschmerga gelungen – auch mit unserer Hilfe; auch mit unserer Ausbildung und Ausrüstung –, den IS militärisch zurückzudrängen. Sie konnte ihre Gebiete halten. Es ist ein großer Erfolg, dass wir heute hinter diesen Einsatz einen grünen Haken setzen können. Ich darf Sie nur daran erinnern, welche Debatten wir auch in diesem Saal geführt haben, als wir den Einsatz 2014 begonnen haben. Darauf, dass er so gut ausgegangen ist, können wir wahrlich stolz sein. ({0}) Wir können uns jetzt darauf konzentrieren, das, was wir erreicht haben, zu sichern und die zurückeroberten Gebiete und den Irak weiter zu stabilisieren. Dazu gehört neben vielen Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch eine Unterstützung der Ausbildung der irakischen Sicherheitskräfte; denn diese sind in der Zukunft gefordert, ein Wiedererstarken des IS zu verhindern, um Sicherheit im Irak auch darüber hinaus zu gewährleisten. Das betrifft nicht mehr nur den Nordirak, sondern das ganze Land. Dementsprechend weiten wir unser Einsatzgebiet auch aus. Lieber Herr Kollege Lambsdorff, wir wissen heute nun einmal nicht, wie sich die Situation im Irak in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt. Daher können wir auch nicht voraussagen, wo unsere Soldaten tatsächlich zum Einsatz kommen. Wissen Sie, was sie beispielsweise leisten? Fähigkeitsaufbau insbesondere im Bereich der Kampfmittelräumung und der Entschärfung! Natürlich ist heute nicht klar, wo in vier Monaten und in acht Monaten Bomben entschärft werden müssen. Daher brauchen wir in diesem Mandat eine entsprechende Flexibilität. Sie ist im Text auch enthalten. Ich finde das richtig. Wir werden uns in der nächsten Woche im Verteidigungsausschuss intensiv darüber unterhalten, wie wir das, was wir erreicht haben, stabilisieren können, wie wir der Bedrohung durch den „Islamischen Staat“, die immer noch vorhanden ist, entgegnen können und wie wir die Menschen im Irak auch im Kampf gegen den IS weiter unterstützen können. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/1093 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach 17 Jahren Afghanistan-Engagement wird in unserem Land und auch hier vielfach gefragt: Was hat das gebracht? Es gibt viele Fragen, die sich in dieser Diskussion stellen, und wir haben Anlass genug, auch sehr selbstkritisch auf diese Zeit zurückzublicken. Aber in der Diskussion gerät oft aus dem Blick, welche Fortschritte es in Afghanistan seit 2001 gegeben hat. Es gerät aus dem Blick, dass in den Jahren der grausamen Taliban-Herrschaft international agierenden Terroristen ein sicherer Hafen geboten wurde und die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Und es gerät aus dem Blick, dass die Stabilisierung eines Staates nach Jahren eines intensiven, gewaltsamen Konfliktes nicht weniger als eine Generationenaufgabe ist, die vor allen Dingen eines, nämlich strategische Geduld, erfordert. Leicht gerät auch in Vergessenheit, dass sich Umfang und Charakter unseres militärischen Engagements über die Jahre fundamental gewandelt haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Nein, ich würde das gerne im Zusammenhang zu Ende ausführen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann gestatten Sie keine Zwischenfrage?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Genau. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, 130 000 Soldatinnen und Soldaten haben sich in Afghanistan befunden. Inzwischen – und auch das wird nicht häufig genug gewürdigt – hat die afghanische Regierung die Sicherheitsverantwortung selbst übernommen. Diese schwere Aufgabe wird – wenn auch unter enormen Opfern – mittlerweile bewältigt. Ob wir uns in Afghanistan weiter engagieren sollten, ist aber nicht nur eine Frage der Vergangenheit, sondern es ist vor allen Dingen eine Frage mit Blick auf die jetzige Situation im Land und natürlich auch auf die Aussichten in der Zukunft. Um diese Fragen zu beantworten, hat die Bundesregierung im Perspektivbericht Afghanistan die Lage vor Ort und unser Engagement in seiner ganzen Bandbreite – zivil wie auch militärisch – einer mehr als kritischen Reflexion unterzogen. Der Bericht zeichnet ein ungeschöntes Bild von Afghanistan und den Herausforderungen, vor denen die Regierung, die Menschen in Afghanistan, aber auch die internationale Gemeinschaft jetzt und in der Zukunft stehen. Der Bericht geht nüchtern und eben auch vor allen Dingen selbstkritisch auf Versäumnisse und Unzulänglichkeiten ein, die niemand ernsthaft in Abrede stellen kann. Dazu gehört – das muss man im Rückblick so benennen – auch die starre Fristsetzung für einen Abzug der internationalen Truppen. Das hat den Taliban die Zuversicht gegeben, uns aussitzen zu können. Wer jetzt oder für einen festen Zeitpunkt in der Zukunft einen vollständigen Abzug unserer Truppen aus Afghanistan fordert, der muss sich dann aber auch bitte der Frage stellen, was die Konsequenzen wären. Denn auch Nichthandeln hat einen Preis. Wir sind davon überzeugt, dass der Rückzug uns teuer zu stehen kommen würde und es deshalb in unserem Interesse liegt – auch im Interesse dessen, was dort angefangen wurde –, Afghanistan weiter zu unterstützen und dies auch militärisch zu tun. Meine Damen und Herren, Afghanistan steht nämlich in den nächsten Jahren vor ganz entscheidenden Wegmarken. ({0}) 2018 sollen die Afghanen ein neues Parlament und im Frühjahr 2019 einen neuen Präsidenten wählen. Diesen Schlüsselherausforderungen muss sich das Land auch stellen. Die Regierung muss der überwiegend jungen Bevölkerung – über 40 Prozent sind jünger als 15 Jahre – eine glaubhafte Perspektive bieten. Sie muss weiterhin den aufständischen Gruppen, die ihr insbesondere in Gebieten mit ländlichem Charakter die Kontrolle streitig machen, entgegentreten; denn solange die Sicherheitslage prekär ist, wird es keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben. Die Verantwortlichen müssen auch den Kampf gegen die Korruption entschlossen fortführen. Hier gibt es erste Fortschritte etwa bei der Strafverfolgung in großen Korruptionsfällen, gerade in den Streitkräften und den Ministerien. Wir erwarten von der afghanischen Regierung, dass sie diesen Reformkurs entschlossen hält. Das ist eine klare Bedingung – das wurde immer so gesagt – für die Fortsetzung unserer Unterstützung. Das Wichtigste ist aber die Friedensperspektive, die es in Afghanistan gibt. Ende Februar hat Präsident Ghani den Taliban ein umfassendes Angebot für Friedensgespräche gemacht. Dieses Angebot wird von der internationalen Gemeinschaft unterstützt. Wir sind uns mit den USA und den anderen Alliierten in der NATO ebenso einig wie mit China und Russland, dass Frieden in Afghanistan nicht allein durch militärische Mittel erreicht werden kann. Frieden in Afghanistan wird am Ende nur durch einen politischen Versöhnungsprozess unter Afghanen möglich werden, der die in der afghanischen Verfassung verbrieften Rechte der Menschen, die dort leben – dazu gehört auch die Demokratie –, ebenso wie die individuellen Freiheitsrechte schützt. Die Regierung in Kabul hat ihre Hand hierzu ausgestreckt und muss sich im Weiteren ernsthaft um eine Lösung des Konflikts mit den Taliban bemühen. Nun ist es aber auch an denen, auf dieses Angebot ernsthaft einzugehen. Durch unsere Unterstützung des Versöhnungsprozesses sowie des weiteren Auf- und Ausbaus selbsttragender afghanischer Streitkräfte wollen wir das Generationenprojekt der Stabilisierung in Afghanistan vorantreiben. Ein Teil dieser Bemühungen ist die Unterstützung, die die Bundeswehr im Rahmen dieses Mandats leistet. Dafür bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann erteile ich das Wort der Kollegin Britta Haßelmann zu einer Zwischenbemerkung.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Auch wenn ich nicht mehr die Gelegenheit habe, dem Minister eine Frage zu stellen, will ich Folgendes sagen: Es ist gleich 10 Uhr. Wir reden heute über ziemlich wichtige Mandate. Mir ist daher überhaupt nicht erklärlich – das hätte ich Sie gerne gefragt –, warum das Kanzleramt bei dieser Debatte nicht vertreten ist. ({0}) Bis heute war mir nicht klar, dass es dort irgendeinen Personalmangel gibt. Ich finde, dass die Beteiligung des Bundeskanzleramts an solchen Debatten sicherzustellen ist.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesaußenminister, Sie können antworten, Sie müssen aber nicht.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Nein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann hat das Wort zu einer weiteren Zwischenbemerkung die Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Maas, Ihnen ist sicher bewusst, dass die Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes betreffend die Sicherheit in Afghanistan auch maßgeblich für Abschiebungen nach Afghanistan ist. Nun hat die Vertreterin Ihres Hauses im Verteidigungsausschuss gesagt, dass es seit Monaten keine neue Lageeinschätzung betreffend die Sicherheit in Afghanistan gibt, weil unter anderem die Botschaft gar nicht in ausreichendem Umfang handlungsfähig ist. Ich frage Sie: Können Sie mir sagen, welche Regionen in Afghanistan sicher sind, wie Sie zu einer Lageeinschätzung kommen wollen und wie Sie damit umgehen, dass Abschiebungen nach Afghanistan tatsächlich stattfinden, obwohl Ihr Haus offensichtlich nicht in der Lage ist, eine aktuelle Sicherheitsbewertung vorzunehmen? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesaußenminister, mögen Sie antworten?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Ich würde gerne darauf antworten. – Wie Sie wissen – diese Einschätzung gibt es seit einiger Zeit –, gibt es unterschiedliche Bewertungen für unterschiedliche Gebiete. Es ist uns im Moment tatsächlich nicht in vollem Umfang möglich, abschließend Bewertungen dazu durchzuführen, wie sich die Lage in Zukunft entwickeln wird. Auch das ist ein Grund, der uns zu dem Ergebnis gebracht hat, dieses Mandat fortzuführen und Sie darum zu bitten, dem zuzustimmen; denn an der Lage wird sich nichts verbessern, wenn wir uns jetzt zurückziehen. Dann wird sich nicht nur tatsächlich, sondern auch im Hinblick auf die Bewertungsfragen und die Möglichkeit, solche wichtigen Informationen zusammenzutragen, nichts verbessern. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich zu einer weiteren Kurzintervention dem Kollegen Grosse-Brömer das Wort.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich persönlich habe großes Verständnis dafür, dass die Kollegin Haßelmann die sympathischen Kollegen des Kanzleramtes, insbesondere den neu ernannten Minister Braun und den neuen Staatsminister Hoppenstedt, vermisst. Die Frage ist, warum sie nicht anwesend sind. Aus Sicht des Parlaments muss natürlich die Frage gestellt werden: Ist gewährleistet, dass die zu Recht wichtigen Mandate hier mit außerordentlicher Sachkompetenz behandelt werden können? Denn das ist der Anspruch des Parlaments gegenüber der Regierung. Der Bundesaußenminister und die Bundesministerin der Verteidigung sind beide persönlich hier, tragen in exzellenter Art und Weise dazu vor und stehen, wie man gerade gesehen hat, auch zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung. ({0}) Daran ändert nichts, dass die AfD mit etwas eingeschränktem Gesamtüberblick eine andere Auffassung dazu hat. Es geht hier also darum, ob die Frage berechtigt ist: Ist die Bundesregierung hier ausreichend vertreten? Es ist zwar nicht meine erste Aufgabe, das festzustellen; aber ich jedenfalls habe das Gefühl, dass dieses Parlament gerade bei dieser wichtigen Debatte durch die Bundesregierung exzellent und ausreichend informiert wird. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich vermute, Herr Bundesaußenminister, dass Sie auch auf diese Kurzintervention, die sich erkennbar auf Ihren Debattenbeitrag bezogen hat, nicht erwidern wollen. – Ich füge hinzu, dass Ihre These, Herr Kollege Grosse-Brömer, dass die Ausführungen der Bundesministerin der Verteidigung exzellent seien, eine Vorhersage ist, zu deren Erfüllung ich jetzt der Bundesministerin der Verteidigung das Wort erteile. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Latte so hoch gelegt haben. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Afghanistan war in der letzten Woche gleich zweimal Thema im Kabinett: Einerseits haben wir den Perspektivbericht, der Ihnen allen vorliegt, besprochen; andererseits haben wir die Verlängerung und die Anpassung des Mandates für die Resolute Support Mission beschlossen. Ich möchte zunächst einmal auf den Bericht eingehen. Auftrag war, einen weiten Bogen zu schlagen. Das heißt, der Bericht fängt ganz am Anfang an und erinnert uns daran, dass Ausgangspunkt die schaurigen Anschläge des 11. September 2001 gewesen sind. Infolgedessen haben wir im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan interveniert, um zu verhindern, dass es weiterhin Rückzugsort, Trainingscamp und Schaltzentrale des internationalen Terrors sein kann – was es damals war. Wir haben seitdem mit einem umfassenden und vernetzten Ansatz viel unternommen, um für mehr Sicherheit zu sorgen und dem Land nach vielen Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg wieder auf die Beine zu helfen. Dieser Perspektivbericht zeigt auch sehr deutlich, dass es Fortschritte, aber auch Rückschläge gibt. Ich möchte auf beides eingehen. Zunächst einmal zu den Fortschritten. Für die Menschen in Afghanistan ist entscheidend, dass sich ihre Lebensverhältnisse unterm Strich bessern. Die großen globalen Daten der letzten 17 Jahre zeigen: Die Lebenserwartung in Afghanistan ist seit 2001 von 45 Jahren auf 60 Jahre gestiegen. Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist gesunken; die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren hat sich halbiert. Das Bruttoinlandsprodukt ist um das Achtfache gestiegen – sicher von niedrigem Niveau, aber die Richtung stimmt. Das Pro-Kopf-Einkommen ist um das Fünffache gestiegen. Heute gehen 8 Millionen Kinder in die Schule; 2001 waren es nicht einmal 1 Million. Heute sind ein Drittel dieser Schulkinder Mädchen. Hunderttausende junge Männer und Frauen studieren an der Universität in Kabul. Ich selber habe junge Frauen gesehen, die dort Rechtswissenschaften studieren. Eben hieß es zu Recht, dass über 40 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre sind. Man muss wissen, dass die heutige Generation der bis zu 15-Jährigen, soweit sie im schulpflichtigen Alter sind, lesen und schreiben kann; das war 2001 nicht der Fall. Diese jungen Menschen, die nächste Generation Afghanistans, haben damit vollen Zugang zu Informationen. Sie können lesen, was sie interessiert; sie können sich ihre Meinung bilden und dafür auch aufstehen. Das wäre unter den Taliban niemals möglich gewesen, und das kann den jungen Menschen keiner mehr nehmen. ({0}) Aber es hat ganz ohne Zweifel auch Rückschläge gegeben, auch was die internationale militärische Präsenz angeht, gerade in der sensiblen Zeit des Übergangs vom Schwerpunkt Unterstützung, also ISAF, zur Konzentration auf die Ausbildung, also Resolute Support Mission, in der Phase also, in der die afghanischen Sicherheitskräfte selbst die Sicherheitsverantwortung für das Land übernehmen mussten, und dies bei hohem Druck der Insurgenz. In der Rückbetrachtung muss man sagen – das zeigt dieser Perspektivbericht sehr deutlich –: Die internationalen Kräfte sind zu schnell abgezogen worden, 90 Prozent innerhalb kurzer Zeit. Der Winter 2014/2015 bedeutete für das Land einen tiefen Einschnitt, eine Zerreißprobe mit dem ersten demokratischen Machtwechsel und der gleichzeitigen Übernahme der Sicherheitsverantwortung. Das konnte nicht gut gehen, wenn zur selben Zeit der militärische Druck auf die Taliban nachgelassen und sich insbesondere der Druck aus der Luft verringert hat. Zugleich nahm die neue Regierung der nationalen Einheit damals nur sehr zögerlich Reformen in Angriff. Resultat waren zeitweise erhebliche Sicherheitsdefizite, insbesondere im Jahr 2015, mit dem Verlust einiger Provinzhauptstädte; dazu gehörte vorübergehend auch Kunduz. Afghanistan hat diesen schwierigen Übergang auch dank der verbliebenen internationalen Unterstützung bisher gemeistert. 2016 sind acht Provinzhauptstädte durch die afghanischen Sicherheitskräfte zurückerobert worden, allerdings mit einer sehr hohen Zahl an Opfern. Heute agieren die afghanischen Sicherheitskräfte mit mehr Engagement und mehr und mehr offensiv, allerdings noch mit hohen Verlusten. 60 Prozent des Landes sind unter der Kontrolle der afghanischen Regierung, und zwei Drittel der Bevölkerung sind geschützt. Das ist nicht genug – aber immerhin! Wir sollten das nicht kleiner reden, als es ist. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns und der internationalen Gemeinschaft. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte ist noch lange nicht abgeschlossen. Es ist gut, dass der Aufbau der afghanischen Luftwaffe inzwischen voranschreitet. Der Generationenwechsel innerhalb der Streitkräfte, vor allem im wichtigen Segment der Corpskommandeure, wird langsam eingeleitet. Es ist gut und wichtig und ein couragierter Schritt von Präsident Ghani, dass er jetzt endlich den unverzichtbaren Versöhnungsprozess voranbringen möchte, indem er zu Gesprächen mit jenen Taliban bereit ist, die Gespräche führen wollen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Gerne.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Meine Zwischenfrage ist auch ganz kurz. Das hört sich zwar alles gut an; aber ich frage Sie: Was ist Ihre Strategie in Afghanistan? Was ist vor allen Dingen die Exit-Strategie? Was muss erreicht werden, damit der Einsatz jemals beendet werden kann? ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Erstens. Afghanistan darf nicht wieder zur Brutstätte des Terrors werden. Das heißt, der Terror dort muss nachhaltig bekämpft sein. Zweitens. Der nachhaltige und langfristige Schutz gegen den Terror ist, dass das Land in der Lage ist, seine eigene Sicherheit in die Hände zu nehmen, und wirtschaftlicher Aufbau und damit Perspektiven für die Menschen möglich ist. Das ist unser gemeinsames Ziel. ({0}) Zugleich muss – das schließt daran an – eine umfangreiche Reformagenda umgesetzt werden. Ich habe eingangs gesagt, dass die Regierung nur sehr zögerlich die Reformagenda angegangen ist. Ich finde es richtig, dass wir inzwischen dazu übergegangen sind, einen Teil der Entwicklungszusagen an die Umsetzung der Reformagenda, die 2016 verabredet worden ist, zu binden. Es werden jetzt wichtige Schritte eingeleitet; dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Hinblick auf die Bekämpfung der grassierenden Korruption in diesem Land haben inzwischen Audits der internationalen Gemeinschaft im afghanischen Finanz- und Bankensystem begonnen, um nachzuverfolgen, wo die Mittel landen. Eine ganze Folge weiterer wichtiger Reformen ist jetzt in Angriff genommen worden; aber sie wird an Entwicklungszusagen gekoppelt. Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Mandat wird Deutschland mit der Bundeswehr – wir sind ja Rahmennation für 20 weitere Nationen, die mit uns im Norden tätig sind – die Verantwortung für die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte behalten. Mir haben bei meinem Besuch in Afghanistan unsere Ausbilder gesagt, dass sie den Auftrag „Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte“ viel besser ausführen könnten, wenn sie denn mehr Schutzpersonal hätten. Mit anderen Worten: Sie erfüllen ihren Ausbildungsauftrag bisher nur etwa zur Hälfte und sind die andere Hälfte der Zeit im Camp, weil sie nicht draußen in den definierten Gebieten sein können, wo die Ausbildung stattfindet. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir die Obergrenze jetzt erhöhen können. Das heißt nämlich, dass wir mehr Guardian Angels, mehr Schutzpersonal, einsetzen können, damit der Auftrag, der uns gegeben ist und den die Ausbilder auch wahrnehmen wollen – das ist ja das Ziel dieses Mandats –, unter dem Schutz von Soldatinnen und Soldaten ausgeführt werden kann. ({1}) In diesem Sommer stehen in Afghanistan Parlamentswahlen an. Schon bei der letzten Wahl – daran werden Sie sich erinnern, meine Damen und Herren – sind die Menschen, insbesondere Frauen, trotz der großen Gefahr und der Drohungen, die gegen sie ausgesprochen worden sind, in überwältigender Mehrheit zur Wahl gegangen. Das zeigt, dass die Menschen in Afghanistan ein Leben ohne Angst wollen, ein Leben ohne Terror wollen, nicht unter der Fuchtel der Taliban, sondern frei leben wollen. Sie wollen Perspektive, und sie wollen Teilhabe. Aber die Stabilität in diesem Land mit seiner unendlich rauen Geschichte ist etwas, für das wir strategische Geduld brauchen – gewiss nicht für immer, aber sicher noch für eine geraume Zeit. Richtig bleibt auch nach 17 Jahren, dass ein stabiles Afghanistan auch in unserem Sicherheits­interesse ist. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich dem Kollegen René Springer, AfD, das Wort. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fünf Bundesregierungen in Folge haben seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vergeblich versucht, die Taliban zu besiegen und den Afghanen ein Staatsmodell aufzuzwingen, das die Mehrheit dort gar nicht will. ({0}) Das Ergebnis ist ein absolutes Desaster. Der Krieg am Hindukusch geht jetzt in sein 17. Jahr und dauert damit schon wesentlich länger als beide Weltkriege zusammen. Heute beantragt die sechste Bundesregierung die Verlängerung des Afghanistan-Mandats. Nach so vielen Jahren ist es Zeit, zu fragen, wie lange das noch so weitergehen soll. Die Bundesregierung selbst spricht von einer Generationenaufgabe, die Geduld erfordert. Aber ist es überhaupt im Interesse Deutschlands und seiner Bürger, dass wir uns noch weitere 10, 20 oder 30 Jahre an diesem Krieg beteiligen und jeden einzelnen Tag damit rechnen müssen, dass deutsche Soldaten im Zinksarg zu ihren Familien heimkehren? Die AfD-Fraktion sagt: Nein. ({1}) Es ist vielmehr an der Zeit, dass sich Bundestag und Bundesregierung ehrlich machen. Der Krieg in Afghanistan ist verloren. Die Regierung in Kabul versinkt in einem Sumpf aus Chaos, Vetternwirtschaft und Korruption. Die Taliban sind auf dem Vormarsch und beherrschen heute größere Gebiete als nach ihrem Machtverlust 2001. Auf dem globalen Terrorindex steht Afghanistan auf Platz zwei, gleich hinter dem Irak. Tausende Soldaten und Polizisten desertieren. Für Deutschland ist Afghanistan heute eines der Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge. Inzwischen halten sich mehr als eine Viertelmillion Afghanen in Deutschland auf. Diese Zahl muss Anlass für uns sein, uns darüber klar zu werden, welche Interessen Deutschland in Afghanistan verfolgt. Das Ziel Deutschlands muss es sein, den Flüchtlingsstrom aus Afghanistan zu stoppen und die in Deutschland lebenden afghanischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzubringen. ({2}) Das ist im Interesse der deutschen Bürger. Das ist im Interesse des sozialen Friedens in unserem Land. Aber da passiert nichts. Lächerliche 121 Abschiebungen gab es im Jahr 2017. ({3}) Darüber will ich hier aber gar nicht sprechen, vielmehr über die freiwilligen Rückkehrer. Davon gab es in den vergangenen zwei Jahren lediglich 4 500. Im selben Zeitraum kehrten übrigens nach Angaben der Bundesregierung bis zu 1 Million Afghanen aus Iran und Pakistan in ihre Heimat zurück. ({4}) Das zeigt: Die mangelnde Rückkehrbereitschaft der Afghanen in Deutschland hat nichts mit der Lage in ihrer Heimat zu tun. ({5}) Nein, sie bleiben hier – so steht es auch im aktuellen Bericht der Bundesregierung zum Afghanistan-Engagement –, weil Geldüberweisungen mittlerweile ein erheblicher Wirtschaftsfaktor geworden sind. ({6}) Dieses Problem muss aber in Berlin und nicht in Kabul gelöst werden. ({7}) Unsere Sicherheit und inzwischen auch unseren Sozialstaat müssen wir hier in Deutschland verteidigen und eben nicht am Hindukusch. ({8}) Mit Frankreich und Kanada sind enge Verbündete Deutschlands bereits mit gutem Beispiel vorangegangen; sie haben ihre Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Die Bundesregierung hingegen hat aber offenbar nicht den Schneid, das Scheitern des Westens in Afghanistan gegenüber der deutschen Öffentlichkeit einzugestehen, und sie hat auch nicht den Schneid, gegenüber den USA den Rückzug durchzusetzen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik; das ist feige Politik. ({9}) Meine Damen und Herren, der Westen hat den Krieg am Hindukusch verloren, und ein fahrlässiges Weiter-so in Afghanistan ist nicht im deutschen Interesse. Afghanistan ist uns, um mit Bismarck zu sprechen, nicht die gesunden Knochen eines einzigen deutschen Soldaten wert. ({10}) Die AfD-Fraktion lehnt den Antrag der Bundesregierung ab. Danke sehr. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Marie-­Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat in Afghanistan eine sehr große Verantwortung übernommen, übrigens auch für die vielen anderen Nationen, die von einem plötzlichen Abzug der Bundeswehr direkt betroffen wären, vor allem aber für die Stabilität des Landes. Die deutschen Soldatinnen und Soldaten schaffen damit gemeinsam mit den internationalen Partnern die Rahmenbedingungen für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der in den vergangenen Jahren vor allem im Bereich der Bildung große Fortschritte gemacht hat. Dass junge Männer und insbesondere junge Frauen in diesem Land an Bildung teilhaben können, ist die Grundlage für eine neue, eine stabile Gesellschaft. Dieser Prozess ist die Voraussetzung dafür, dass auch ein nachhaltiger politischer Wandel stattfinden und Stabilität dauerhaft einkehren kann, und das ist auch im Interesse Deutschlands. ({0}) Solche tiefgreifenden Veränderungen brauchen Zeit, mitunter, ja, eine ganze Generation. Wir können die Veränderungen nämlich nicht erzwingen; wir können sie aber begleiten, unterstützen und absichern. Das haben wir bisher getan, und das sollten wir auch weiter tun in einem vernetzten Ansatz, zu dem auch der Ausbildungs- und Unterstützungseinsatz der Bundeswehr gehört. Im Dezember haben wir Freie Demokraten unsere Zustimmung zur Verlängerung mit einer Forderung verbunden, der Forderung nach einer umfassenden Evaluierung dieses Mandates. Nun gibt es endlich, auf unsere Initiative hin, wenigstens einen Perspektivbericht. ({1}) Dieser Bericht ersetzt jedoch nicht eine regelmäßige Überprüfung dessen, was wir mit diesem Mandat bewirken wollen und was wir bewirken können. Wir erwarten, dass weitere Berichte regelmäßig folgen – unaufgefordert vor allen Dingen. ({2}) Meine Damen und Herren, die Personalaufstockung für den Einsatz, welche uns hier vorgelegt wurde, ist zwar eine logische Konsequenz aus dem gestiegenen Schutzbedarf der Ausbilder. Das Ministerium muss dann aber auch dafür Sorge tragen, dass die Bundeswehr genügend qualifiziertes Personal hat, um diese Zusatzbelastungen zu stemmen; denn schon jetzt müssen Soldatinnen und Soldaten länger oder öfter in den Auslandseinsatz als vorgesehen, und das ist nicht zumutbar. ({3}) Die Personalaufstockung darf nicht dazu führen, dass in der Bundeswehr das Material wie in den letzten Jahren – ich muss das so salopp sagen – zusammengekratzt wird; denn das geht auf Kosten der Soldatinnen und Soldaten, die zu Hause ihren Dienst tun. Frau Ministerin, Sie gehen jetzt in Ihr fünftes Jahr im Amt. Trendwenden sind wichtig. Bei allem Respekt für die schwierige Arbeit: Ich kann dieses Wort wirklich nicht mehr hören. Sorgen Sie dafür, dass aus Trendwenden spürbare Verbesserungen werden, die die Truppe auch zu Hause erreichen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir brauchen eine offene Debatte darüber, welche Rolle wir in Zukunft auf dieser Welt einnehmen wollen und können. Dazu gehört der Ehrlichkeit halber auch, auf den Tisch zu legen, was dies für die Bundeswehr bedeutet. Warum fällt es in Deutschland vielen so schwer, zu artikulieren, was wir bereit sind für unsere Sicherheit und letztlich für unsere Freiheit zu tun? Warum fällt es so vielen schwer, zu artikulieren, was die Soldatinnen und Soldaten dafür brauchen und was schlecht und, ja, was miserabel läuft? Diese Debatte schulden wir unseren Soldatinnen und Soldaten und auch unseren Bündnispartnern in der Welt. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stefan Liebich, Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahr 2001 hat Gerhard Schröder, verbunden mit einer Vertrauensfrage, die Zustimmung des Deutschen Bundestages zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan erwirkt; einige wenige der Kolleginnen und Kollegen waren damals dabei. Wahrscheinlich hat damals niemand gedacht, dass wir heute – 17 Jahre danach – immer noch über diesen Einsatz reden. Niemand hat gedacht, dass wir hier den Tod von 57 Bundeswehrsoldaten zu beklagen haben. Niemand hat gedacht, dass 150 000 Menschen auf allen Seiten ihr Leben lassen mussten. 2017 wird das Jahr sein, in dem wir das vierte Jahr in Folge über 10 000 tote Zivilisten zu beklagen haben. Ja, die meisten davon fielen den Taliban zum Opfer; aber wer meint, noch mehr Soldaten dorthin schicken zu müssen, der irrt sich. ({0}) US-Präsident Donald Trump hat eine neue Afghanistan-Strategie verkündet. Er hat gesagt: Wir brauchen wieder mehr Soldaten, wir brauchen mehr Luftangriffe. – Das Ganze trägt aus meiner Sicht aber eher zu einer Eskalation statt zu einer Beruhigung bei. Deshalb finde ich nicht, dass wir dabei mitmachen sollten. ({1}) Die USA setzen immer größere Bomben ein. Die Taliban reagieren darauf mit immer grausameren Terroranschlägen. Ich befürchte für das nächste Jahr neue Rekordopferzahlen. Wir müssen endlich raus aus diesem Teufelskreis. ({2}) Herr Maas und Frau von der Leyen, Sie konnten die Frage nach Strategie und Ziel hier nicht beantworten. Ist das Ziel die Vernichtung der Taliban? Ist das Ziel, dass wir Brunnen und Straßen bauen? Ist das Ziel, dass Mädchen zur Schule gehen können? Ist das überhaupt Aufgabe der Bundeswehr? ({3}) Neulich nannte ein SPD-Kollege im Auswärtigen Ausschuss einen neuen Grund. Er sagte, wir müssten verhindern, dass die Taliban dort an die Macht kommen; denn wenn sie an die Macht kämen, kämen noch mehr Flüchtlinge. Wenn man das zu Ende denkt, dann müssten wir auf eine dauerhafte Besetzung dieses Landes zielen. Das will doch keiner. Auf der anderen Seite ist die Frage berechtigt – ich stelle das einmal als Behauptung in den Raum –, ob die deutsche Bundesregierung hier überhaupt eine eigene Strategie hat oder einfach dem Zickzackkurs der US-Regierung folgt. Wenn Obama sagt: „Wir brauchen weniger Soldaten, wir beenden den Einsatz“, dann sagt das auch die Bundesregierung. Einige können sich vielleicht erinnern: In der letzten Wahlperiode haben die Kollegen der Bundesregierung und der letzten Großen Koalition genau so argumentiert. Sie haben gesagt: Es gibt einen Abzug, es werden immer weniger Soldaten. – Damit wurde die Zustimmung in den eigenen Reihen erreicht. Davon ist heute, wie Frau von der Leyen sagt, keine Rede mehr. Wir reden nicht mehr über ein Abzugsdatum. Es soll immer so weitergehen. Wenn Trump sagt: „mehr Soldaten“, schicken wir mehr Soldaten; wenn Obama sagt: „weniger Soldaten“, schicken wir weniger Soldaten. Wo ist da die eigene Strategie der Bundesrepublik Deutschland? ({4}) Nun wäre es aus meiner Sicht natürlich auch kein sinnvoller Weg, einfach die Zelte abzubrechen, wegzugehen und zu sagen: „Uns interessiert Afghanistan nicht“, so wie es die AfD vorgetragen hat. Deutschland hat in den letzten 17 Jahren in diesem Land Verantwortung übernommen, und deshalb können wir nicht einfach gehen. Es gibt aber Dinge, die wir tun können. Das Erste und Wichtigste ist – da gibt es eine große Differenz zu Ihnen ganz rechts im Hause –: Wir finden, dass Menschen, die aus diesem Krieg fliehen, hier Unterschlupf bekommen müssen. ({5}) Jetzt noch Sammelabschiebungen vorzunehmen in ein Land, von dem Heiko Maas, wie er gerade gesagt hat, nicht weiß, wie dort die Sicherheitslage ist, ist doch absurd. ({6}) Zweitens. Natürlich kann man zivile Kräfte vor Ort unterstützen, da, wo Hilfe gewünscht ist. Die Berufsausbildung ist dafür ein gutes Beispiel. Wir sollten uns auch finanziell engagieren, und zwar dort, wo das Geld nicht in Korruption versinkt. Es gibt also Möglichkeiten, etwas zu tun. Es gibt inzwischen auch gute Infrastrukturprojekte mit den Nachbarländern. Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, anders als bisher mit offenen Märkten ehrliche Alternativen zum Opiumanbau zu erwirken. ({7}) Das bedeutet dann tatsächlich Subventionen und festgesetzte Preise. Da zucken bei Ihnen einige zusammen; aber das ist die einzige Chance, damit die Leute andere Lebensperspektiven bekommen. All das ist möglich, und all das ist ein besserer Beitrag für ein friedliches Afghanistan als das, was Sie uns hier heute vorschlagen, nämlich noch mehr Soldaten. Dazu werden wir Nein sagen. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Agnieszka Brugger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller deprimierenden Entwicklungen in Afghanistan wäre es falsch, so zu tun, als ob sich in diesen 17 Jahren nichts zum Positiven verändert hätte. Ob mit Blick auf die Medienlandschaft, auf die Infrastruktur, auf die Gesundheit, auf die Frauenrechte oder auf den Bildungsbereich: Es gab einige Fortschritte. Bei allen unterschiedlichen Meinungen in diesem Haus, von der FDP bis zur Linkspartei, sind wir uns doch bei der Bewertung dieses Einsatzes in einem Punkt, glaube ich, alle einig: dass eine Lehre aus der Vergangenheit sein muss, dass wir zu wenig zivile Antworten gegeben haben. Das birgt die Verpflichtung, unabhängig vom Militäreinsatz hier viel mehr zu tun, und das auch noch sehr lange. ({0}) Nach 17 Jahren mit Militäreinsätzen in Afghanistan ist die Lage aber nach wie vor sehr gefährlich und sehr instabil. Der Frieden ist nicht nur nicht in Sicht, sondern rückt, wenn man sich die bedrückenden Zahlen anschaut, auch immer mehr in weite Ferne. Über 10 000 Menschen sind allein im letzten Jahr bei Anschlägen getötet und verletzt worden. Ein Bericht für den US-Kongress zeigt ein sehr deprimierendes Bild: Nur zwei Drittel des Landes sind noch unter Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte, und das heißt ja auch nicht, dass dort alles gut ist; ich nenne hier nur das Stichwort „Korruption“. ({1}) Was aber aus meiner Sicht gar nicht geht – Herr Grosse-Brömer hat uns ja gerade Exzellenz versprochen –, ist, dass die Bundesregierung bezüglich der Frage von Abschiebungen und der Bewertung der Sicherheitslage in Afghanistan darauf verweist, dass es ja sichere Zonen gibt. Das haben Sie uns schon viele Monate erzählt. Wir haben nachgefragt. Der Kollege Nouripour hat sogar aufgedeckt, dass in einer Ihrer exzellenten Antworten Regionen aus dem Iran einbezogen sind. Das zeigt doch, dass Sie sich hier immer mehr in Widersprüche verstricken, ({2}) wenn Sie sagen, dass dieser Militäreinsatz weitergehen muss, weil alles so schwierig wird. Da muss man sagen: Hören Sie doch endlich mit dieser schäbigen Praxis und diesen verlogenen Widersprüchen auf! ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab vor ein paar Wochen einen Hoffnungsschimmer, eine große Konferenz mit breiter internationaler Beteiligung, die den Weg für mögliche Verhandlungen mit den Taliban und anderen Aufständischen bereiten sollte. Aber auch dieser Hoffnungsschimmer wird gleich wieder getrübt und gefährdet durch zwei Entwicklungen – eine ist vom Kollegen Liebich schon angesprochen worden –: Unter US-Präsident Donald Trump gibt es einen Rückfall in die gefährliche und bereits vor Jahren gescheiterte Logik, wieder militärische Eskalation zu betreiben. Man kann doch keine Verhandlungslösung anstreben, wenn das Erste, was dieser Präsident tut, ist, die größte Bombe, die er hat, auf Afghanistan abzuwerfen, die Geheimoperationen, die Luftangriffe wieder hochzufahren. So verhindert man diesen wichtigen Prozess. ({4}) Dass der größte Truppensteller dort eine solch gefährliche Trendwende einleitet, führt bei der Bundesregierung zu gar nichts. Zu solch einem gefährlichen Kurswechsel kann man, wenn man gemeinsam in einem Einsatz ist, doch nicht einfach schweigen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erinnern sich vielleicht, wie die Taliban, als vor ein paar Jahren in Afghanistan die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben, versucht haben, das zu verhindern, und wie die Menschen trotzdem voller Hoffnung zu den Urnen gestürmt sind. Das war einer der Momente, wo sich wirklich etwas zum Positiven hätte verändern können. Wenn man sich aber anschaut, was die dann gewählte afghanische Regierung getan hat, wie die Hoffnung und Zukunft der Menschen verspielt worden ist – auch von anderen in der Opposition –, sowohl von der Einheitsregierung von Herrn Ghani und Herrn Abdullah als auch von der neuen selbsternannten Koalition zur Rettung von Afghanistan mit Warlords wie Atta Noor und Dostum, dann muss man sagen: Das ist das alte Spiel von Klientelpolitik und Korruption. Das führt immer weiter abwärts. Auch hier kann die Bundesregierung doch nicht schweigen. Herr Maas, es ist schön, dass Sie hier Selbstkritik einfordern. Schauen Sie doch einmal in Ihren Perspektivbericht, der zu Recht nicht mehr „Fortschrittsbericht“ heißt. Da reden Sie genau diese Entwicklung schön. Hier müssen Sie wirklich einmal die Wahrheit sagen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist nicht einfach. Aber diese harten, schwierigen Fragen nach dem Sinn, der Dauer, den Zielen und den Erfolgschancen dieses gefährlichen, langen und großen Militäreinsatzes muss man ehrlich stellen. Die Befürworter müssen sie endlich einmal beantworten. Gerade solche Einsätze brauchen eine gute Rechtfertigung, eine klare Strategie, Abzugsperspektiven und nicht nur leere Durchhalteparolen, wie sie hier die Bundesregierung und auch die Koalition geliefert haben. Vielen lieben Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Acht Jahre dauert es, bis ein Offizier der Bundeswehr so weit ausgebildet ist, dass er erste Führungsverantwortung übernehmen kann. Nach 13 Jahren führt er eine Kompanie und nach 18 Jahren ein Bataillon. Die afghanische Armee ist erst vor 15 Jahren gegründet worden, ist von Tag eins an im Einsatz und wird jetzt nach und nach aufgebaut. Ein Vergleich der afghanischen Armee mit der Bundeswehr hinkt an vielen Stellen, ({0}) aber einen Punkt möchte ich an dieser Stelle erwähnen: Der Aufbau einer Armee inklusive der Ausbildung der dafür notwendigen Führungskräfte ist kein Prozess von Jahren, sondern es ist ein Prozess von Jahrzehnten. Und es ist auch kein Prozess, der immer nur gerade und nach einem festen Plan verläuft. Er verläuft schon gar nicht nach einem Plan, den wir hier, 4 700 Kilometer von Kabul entfernt, in unserem warmen Bundestag schmieden. Meine Damen und Herren, unsere Vorgänger haben sich 2001 trotzdem dafür entschieden, in den Einsatz nach Afghanistan zu gehen. Auch hatten wir seit 2001 Phasen, in denen wir oft gefragt worden sind, ob der Einsatz überhaupt Sinn macht. Ich sage auch: Diese Frage wird mir in den letzten Jahren nicht mehr so häufig gestellt. Angesichts von Migration und Terrorismus ist in der Bevölkerung ein Bewusstsein gewachsen, dass ein stabiles Afghanistan im deutschen Interesse liegt. Wir leisten gesamtstaatlich einen großen Beitrag dazu. Wir sind für Afghanistan zweitgrößter bilateraler Geber: 430 Millionen Euro jedes Jahr. Wir leisten einen Beitrag zum Aufbau der Polizei. Wir unterstützen jetzt bei der Vorbereitung der Wahlen. Wir leisten auch einen Beitrag bei der Ausbildung der afghanischen Armee. Unser Auftrag ist nicht mehr ein Kampfauftrag. Der Auftrag, den wir in Afghanistan haben, ist Beratung und Unterstützung. Ende 2014 hat die afghanische Armee die Sicherheitsverantwortung für das Land vollständig übernommen. Auch dieser Prozess ist seither nicht ganz nach Plan verlaufen. Lieber Herr Kollege Liebich, ja, wir sind jetzt schlauer. Die afghanische Armee war nicht in der Lage, die Sicherheit vollständig zu garantieren. ({1}) Es ist ein Vakuum entstanden. Auf dem Weg dazu gab es auch Rückschläge. Die Taliban haben insbesondere auf dem Land wieder an Boden gewonnen, und es gibt in den Städten immer wieder Anschläge, vor allem auf Regierungsstellen und internationale Organisationen. Ein solcher Anschlag war zum Beispiel der Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul, die immer noch nicht vollständig handlungsfähig ist. Aber an diesem Beispiel sieht man eines: Durch diese veränderte Sicherheitslage wird es auch für unsere zivilen Entwicklungshelfer immer schwieriger, ihre Aufgabe zu erfüllen. Es gilt hier wie an anderer Stelle der Satz: Ohne Sicherheit keine Entwicklung. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn wir in Afghanistan Entwicklung wollen, dann müssen wir die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage versetzen, selbst und nachhaltig für Sicherheit im Land zu sorgen. Das ist ein langer Weg, der nicht Jahre, sondern – ich habe es gerade angesprochen – Jahrzehnte dauert. Auf diesem Weg gibt es immer wieder Rückschläge, dennoch sind sie gut unterwegs. Wir sind an ihrer Seite, um ihnen ab und zu auch einmal die Richtung zu zeigen. Wir haben eine Verantwortung für Afghanistan übernommen. Seit 2001 sind wir in dem Land präsent. Dort hat sich vieles zum Guten entwickelt, und wir werden und dürfen das Land jetzt auch nicht im Stich lassen. Dementsprechend werden wir dem Mandat auch dieses Mal zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 19/1094 und 19/1120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten und in den sozialen Netzwerken! Der Deutsche Kaiser wollte eine starke Kriegsmarine. Dazu wurde 1902 die deutsche Schaumweinsteuer geschaffen, ({0}) man könnte auch sagen: der Soli der Kaiserzeit. – Aber dazu später. Solidarität ist ein starkes Wort. Es steht für Zusammengehörigkeit und Füreinander-Einstehen. Mit dem Solidaritätszuschlag verbinden wir den Aufbau Ost, den Aufbau der neuen Bundesländer, wo nach 40 Jahren real existierendem Sozialismus unsere Schwestern und Brüder ein neues, ein besseres Leben haben sollten. ({1}) Aber wissen Sie, wofür der Soli ursprünglich geschaffen wurde? Ich sage es Ihnen: zur Finanzierung des zweiten Golfkrieges, zum Sturz von Saddam Hussein. Hier wurden 17 Milliarden DM eingesammelt, ({2}) im Kampf um Macht, Öl und Einfluss im Mittleren Osten. Dies hat einen Flächenbrand ausgelöst, unter dem wir noch heute leiden. Viele mögen sagen: Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt. – Dies offenbart die verfehlte Weltpolitik, die Verfehlungen bei der Armutsmigration, bei Krieg und Terror, für die Sie mitverantwortlich sind, meine Damen und Herren. ({3}) Schauen wir einmal weiter: Der Soli wurde dann kurzfristig abgeschafft. Da war es natürlich bequem, Geld einzusammeln. Wir schreiben inzwischen das Jahr 1995. Die Regierung Kohl hat einen neuen Soli eingeführt, tatsächlich damals aufgrund einer knappen Kassensituation, für den Aufbau der neuen Bundesländer. Aber dieses Jahrhundertprojekt wurde gar nicht klug umgesetzt. Wir stürzten uns stattdessen in das nächste Abenteuer, das Abenteuer Euro und Europa. Plötzlich war es vorbei mit überschaubaren Lebenshaltungskosten, mit sicheren Jobs und mit einer sicheren Währung. ({4}) Die Kosten der deutschen Einheit stiegen – sie stiegen ins Unermessliche. Wir schätzen, dass bis heute die Grenze von 2 Billionen Euro überschritten ist. Wissen Sie, wie viel das ist? Das ist so viel, wie in drei Jahren Bund, Länder und alle Kommunen zusammen einnehmen. Gleichzeitig haben sie aber noch etwas anderes geschafft, nämlich die Staatsverschuldung von 500 Milliarden Euro auf über 2 Billionen Euro zu steigern. Ganz großartig! In der Schule würde es heißen: Setzen, sechs, Klassenziel verfehlt! ({5}) Hat Ihre Bundeskanzlerin eine Vorstellung, was ihre Krisenpolitik anrichtet, dass Deutschland laut EZB-Studie beim Vermögen im europäischen Vergleich auf den hinteren Rängen landet? Jetzt kommt etwas ganz Abenteuerliches: ({6}) Der Soli war nie zweckgebunden. Wir haben Einnahmen von etwa 20 Milliarden Euro, in den neuen Bundesländern kommen davon lediglich 5 Milliarden Euro an. Der Rest verdümpelt im deutschen Steuersumpf. Wir sagen Ihnen: Das Maß ist voll. Der Steuerzahler, der Bürger muss endlich entlastet werden, und zwar sofort und ersatzlos. ({7}) Auch im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit sind wir der Auffassung, dass der Soli verfassungswidrig ist. Er dient nämlich nicht zur kurzfristigen Überbrückung einer finanziellen Lücke, sondern er ist zu einer Dauereinrichtung geworden. Die Große Koalition hat das offensichtlich auch erkannt und möchte die Bürger in den nächsten Jahren schrittweise entlasten, die FDP möchte das ab 2019 tun. Plötzlich ist dieses Thema aktuell und in aller Munde. ({8}) Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Lassen Sie uns den Soli so schnell wie möglich abschaffen. Wir werden dieses Jahr noch zwei Landtagswahlen haben. Ich prophezeie Ihnen: Ihre Bürger werden begreifen, wer für diese verfehlte Politik zuständig ist. ({9}) Ich prophezeie Ihnen, dass diese Große Koalition nicht bis zum Ende der Legislaturperiode halten wird. ({10}) Es wäre schade, wenn viele von Ihnen, die dann nicht mehr hier sitzen, die Abschaffung des Soli nicht mehr erleben würden. ({11}) Kommen wir zurück zur kaiserlichen Schaumweinsteuer. Die Kriegsmarine ist versenkt. – Unsere Verteidigungsministerin ist leider nicht mehr anwesend – gerade habe ich sie noch gesehen –, sonst würde ich sie gerne fragen, ob sie noch irgendwelche kaiserlichen Dampfkanonenboote im Bestand hat; vielleicht wären die ja einsatzfähig. Ich gehe davon aus, dass die deutsche Kriegsmarine inzwischen versenkt ist, die Schaumweinsteuer gibt es immer noch, und das seit nunmehr 116 Jahren. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Anders als offensichtlich mein Kollege Keuter halten wir die Wiedervereinigung für einen Segen für Deutschland. ({0}) Wir sind froh, dass es so gekommen ist. Wir reduzieren sie auf gar keinen Fall auf irgendwelche Milliardenbeträge, wie Sie gerade vorgerechnet haben. Die Wiedervereinigung ist begeistert gefeiert worden, und sie ist gut für alle Menschen in Deutschland, egal ob in Ost oder West. Aber ich gebe zu: Sie war auch eine Herausforderung. Allein im verarbeitenden Gewerbe gingen kurzfristig 66 Prozent der Arbeitsplätze verloren, weil die DDR-Betriebe national und international nicht konkurrenzfähig waren. Die Arbeitslosigkeit stieg bis 2005 auf über 20 Prozent. Die Infrastruktur von Schulen, Krankenhäusern und Straßen war marode. Das Grundgesetz gab das Ziel vor, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in ganz Deutschland zu schaffen, und verständlicherweise haben die Menschen in den neuen Ländern gehofft, dass das sehr schnell geht. Sie haben die Ärmel hochgekrempelt und an diesem vereinten Deutschland gearbeitet. Ohne dieses unglaubliche Engagement der Menschen wäre diese Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Mit allem Geld der Welt hätte die Wiedervereinigung nicht so gut laufen können. Ich bin stolz und glücklich, dass ich diesen Teil der deutschen Geschichte miterleben durfte und dass wir heute rückblickend sagen können: Wir haben einen guten Teil des Wegs geschafft. ({1}) Aber bei allem Engagement: Ohne finanzielle Unterstützung ist es natürlich nicht gegangen. Über zwei Solidarpaktgesetze und den Fonds „Deutsche Einheit“ flossen über 340 Milliarden Euro in die neuen Länder. Anders als der Kollege glauben machen möchte, floss der überwiegende Teil des Solidaritätszuschlags für Aufbau und Sanierungen in die neuen Länder. Zur Finanzierung der Einheit ist der Solidaritätszuschlag eingeführt worden. Er macht 2018  18,5 Milliarden Euro aus. Das Geld fließt rein rechtlich zu 100 Prozent in den Bundeshaushalt, faktisch bleiben beim Bund aber nur rund 4 Milliarden Euro. Das liegt daran – auch das hat der Kollege verschwiegen –, dass der Bund 1995 zugunsten des Länderfinanzausgleichs inklusive neuer Länder dauerhaft 7 Mehrwertsteuerpunkte – das sind heute 15 Milliarden Euro – an die Ländergesamtheit abgetreten hat. Also bleiben nur 4 Milliarden Euro der Mittel aus dem Solidaritätszuschlag überhaupt beim Bund, und diese fließen über den Solidarpakt fast ausschließlich in die neuen Länder. Der wesentliche Teil der Zahlen, die Sie dargestellt haben, Herr Kollege, ist einfach nicht richtig – ganz abgesehen davon, dass Sie die Wiedervereinigung und die Bemühungen um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags von Anfang an nicht positiv begleitet haben. Sie haben das in Ihrer Rede eben noch einmal bestätigt. Zusätzlich zu den 2,8 Milliarden Euro, die nach dem Solidarpakt heute noch in die neuen Länder fließen, betragen die Zahlungen zum Ausgleich von Sonderlasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit 504 Millionen Euro. Hinzu kommen unter anderem die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die Mittel aus dem Programm INNO-KOM-Ost und Investitionsprogramme für Kindergärten und Schulen. Auch heute fließt der wesentliche Teil der Mittel aus dem Solidaritätszuschlag noch in die neuen Länder, um dort den Aufbau zu vollenden. All das zeigt, dass die „Verfassungswidrigkeit“, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, so eindeutig nicht gegeben ist, zumal der Solidaritätszuschlag seit gestern offensichtlich noch verfassungswidriger geworden ist; denn gestern stand im Vorläufer Ihres Antrags wenigstens noch „nach Ihrer Auffassung“. Nach unserer Auffassung wird die Verfassungswidrigkeit nicht von der AfD-Fraktion festgelegt, sondern vom Verfassungsgericht. Ich bin sicher, dass wir mit dem Abbaupfad, den wir angekündigt haben, auf einem guten Weg sind. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an all diejenigen, die mit ihren Mitteln den Aufbau Ost finanziert haben. Die Menschen in Deutschland haben diese Mittel lange Zeit ohne Murren gezahlt, ({2}) weil das Projekt Wiedervereinigung für ganz Deutschland wichtig war. Ein Dankeschön dafür, dass das gemeinschaftlich mit allen zusammen möglich war. ({3}) Nun ist die Anpassung aber so weit vorangeschritten, dass ein fremder Besucher den erheblichen Nachholbedarf der neuen Länder gar nicht mehr sieht. Wir haben annähernd gleiche Lebensverhältnisse erreicht; einigen wenigen Themen müssen wir uns noch zuwenden. Deshalb werden wir zusammen mit dem Koalitionspartner in einem ersten Schritt ab 2021 die Bürgerinnen und Bürger um 10 Milliarden Euro entlasten. 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger werden dann keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen. Das ist ein Riesenschritt, eine Riesenentlastung. Ich bin sicher, dass das auch bei den Bürgerinnen und Bürgern gut ankommt. Wir müssen allerdings – auch das sage ich ganz offen – im Gesetzgebungsverfahren darauf achten, dass wir die Gleitzone, ab der der Soli doch weiterzuzahlen ist, so ausgestalten, dass die Grenzsteuerbelastung nicht zu hoch ist. Ich hoffe sehr – da blicke ich zu unseren Koalitionskollegen; das ist nämlich unser erklärtes Ziel –, dass wir auch den zweiten Schritt schon in diesem Gesetzgebungsverfahren anlegen, dass wir nämlich auch die restlichen 10 Prozent der Bürgerinnen und Bürger vom Solidaritätszuschlag entlasten. Diesen Abbaupfad sollten wir gemeinsam verabreden. Das gilt auch für die Körperschaftsteuer; denn auch hier wird der Solidaritätszuschlag im ersten Schritt noch nicht abgeschafft. Da vertraue ich auf die kollegiale Zusammenarbeit. Ich bin sicher, dass wir das im Gesetzgebungsverfahren gemeinsam hinbekommen. Warum schaffen wir den Solidaritätszuschlag nicht sofort ab? Ich habe eben gesagt: Nur ein Teil von 4 Milliarden Euro fließt überhaupt in den Bundeshaushalt. Im Antrag der AfD – das gilt aber auch für den Gesetzentwurf der FDP, den wir morgen beraten – wird völlig verschwiegen, dass wir ab 2020 einen neuen Länderfinanzausgleich haben werden. 10 Milliarden Euro wird der Bund zusätzlich an die Länder zahlen. Diese 10 Milliarden Euro müssen wir im Haushalt darstellen. Da wir trotz dieser Belastung einen ausgeglichenen Haushalt erreichen wollen, sind wir schon bei einem Betrag von 20 Milliarden Euro, der aus dem Bundeshaushalt dann nicht mehr zur Verfügung steht. Der AfD ist das völlig egal. In ihrer ersten Vorlage hat sie unter „Kosten“ und „Auswirkungen“ noch „Keine.“ geschrieben. Das zeigt, dass Sie sich mit diesem Thema überhaupt nicht befasst haben. Hinzu kommt, dass Sie im Wahlkampf gesagt haben, zusätzlich zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags – laut Ihrem Antrag etwa 18 Milliarden Euro – auch noch die Mehrwertsteuer um 7 Prozentpunkte senken zu wollen; das macht schlappe 50 Milliarden Euro aus. Die Summe von 68 Milliarden Euro wollen Sie aus dem Steuerüberschuss in Höhe von 37 Milliarden Euro finanzieren. Das kommt mir als Finanzpolitikerin etwas seltsam vor. ({4}) Wir haben in den kommenden dreieinhalb Jahren, die gestern losgegangen sind, noch mehr vor. Wir wollen die Menschen nicht nur vom Solidaritätszuschlag entlasten, sondern auch die Familien bei Kindergeld und Kinderfreibetrag unterstützen. Wir wollen ein Baukindergeld einführen, damit sich Familien Wohneigentum leisten können. Wir müssen massiv in Wohnungen investieren. Wir wollen die Ganztagsbetreuung verbessern. Wir wollen die kalte Progression auch weiterhin abschaffen; hier geht es um 2 Milliarden Euro, um die wir die Bürgerinnen und Bürger entlasten wollen. Wir werden die steuerliche Forschungsförderung angehen. Das alles sind Dinge, die wir zusätzlich zum Abbau des Solidaritätszuschlags tun und die insbesondere Familien und Menschen mit geringeren Einkommen unterstützen. Das ist ein Riesenprogramm für die nächsten Jahre. Ich glaube, damit sollten wir beginnen. Das können wir leisten. Das können wir trotz des konsolidierten Haushalts leisten. Ich lade Sie ein, dabei mitzumachen und nicht zu meckern und diesen Weg – eine Entlastung um 46 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode – mit uns gemeinsam zu gestalten. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Schrodi, SPD-Fraktion, zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Manche Rede von der rechten Seite dieses Hauses schmerzt teilweise tatsächlich. Aber das halten wir aus. Wir halten auch den vorliegenden Antrag der AfD-Fraktion aus, der inhaltlich unsauber bis falsch ausgearbeitet ist und nicht einmal dem Wahlprogramm Ihrer Partei entspricht. ({0}) Um nur zwei Beispiele zu nennen. Der Antragsteller konstruiert hier eine vermeintliche Verfassungswidrigkeit des Soli, unter anderem indem er das Niedersächsische Finanzgericht zitiert. Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits den ersten Normenkontrollantrag den Soli betreffend für unzulässig erklärt. Das Finanzgericht Niedersachsen hat eine richtige Watschn dafür erhalten, wie man auf gut bayrisch sagen würde. Jetzt hat es nachgelegt; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht noch aus. Wir sind guter Dinge und wissen: Der Soli ist nicht verfassungswidrig. Übrigens gilt Gleiches auch zu den Aussagen zum Gleichbehandlungsgrundsatz. Diese sind ebenso haltlos. Zu Ihrem Wahlprogramm. In Ihrem Wahlprogramm verwenden Sie von der AfD ganze eineinhalb Seiten auf das Thema Finanzen. Vom Solidaritätszuschlag ist überhaupt nicht die Rede. Dafür verspricht die Partei bei der Reform des Steuersystems einen großen Wurf und lehnt ein „‚Herumdoktern‘“ am bestehenden Steuersystem ab. Den großen Wurf – warten tun wir nun wirklich nicht auf ihn, wir können gerne darauf verzichten – haben Sie noch nicht vorgelegt, dafür doktern Sie nun doch fleißig am bestehenden System herum. Was Sie hier tun, ist aber nicht einmal Herumdoktern, sondern eher der Quacksalberei gleichzusetzen, sehr geehrte Damen und Herren von der AfD. ({1}) Eines muss hier verdeutlicht werden: Der Antragsteller schiebt eine Verfassungswidrigkeit vor, meint aber etwas ganz anderes. Sie haben davon gesprochen, die Bürgerinnen und Bürger entlasten zu wollen. Zur Wahrheit gehört: Die Abschaffung des Solidaritätszuschlages nutzt vor allem Topverdienern. Das reichste Zehntel der Bevölkerung würde um 10,8 Milliarden Euro entlastet. Hier zeigt sich eigentlich das wahre Gesicht der AfD: Sie haben ein großes Herz für einkommensstarke Spitzenverdiener und Vermögende – das zeigt sich übrigens auch bei den Plänen zur Erbschafts- und Vermögenssteuer –; ({2}) aber für diejenigen, bei denen Sie immer so tun, als würden Sie für sie da sein, nämlich für die sogenannten kleinen Leute, haben Sie nichts übrig. Sie entlasten Spitzenverdiener und Vermögende. ({3}) Wir Sozialdemokraten werden mit den Finanzmitteln hingegen sorgsam und sinnvoll umgehen. Das heißt, wir müssen und werden investieren. Wir werden investieren in den Wohnungsbau, in den ÖPNV, in die Bildung. Hier nenne ich nur die Entlastung der Eltern bei den Kitagebühren und die Aufstockung um 2 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen. Das hilft den Menschen, dafür wollen wir Geld in die Hand nehmen, und das ist auch gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Gleichzeitig entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger, aber nicht so, wie Sie das vorhaben. Wir gehen gezielt vor. Um noch einmal auf Parteiprogramme zu verweisen: Ich schaue mit Stolz auf unseres. Darin haben wir festgehalten, den Zuschlag für untere und mittlere Einkommen abzuschaffen. Das Entlastungsvolumen umfasst etwa 10 Milliarden Euro. Wenn ich nun in den Koalitionsvertrag hineinschaue, dann lese ich genau das, nämlich dass 90 Prozent aller Soli-Zahler ab 2021 durch eine Freigrenze vollständig entlastet werden. Das ist gut. Das ist richtig. Das ist gerecht. Das haben wir durchgesetzt. Darauf können wir stolz sein. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit Blick auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes muss ich auf darauf hinweisen, dass wir mehr investieren müssen. Wir müssen zusehen, wie wir dafür die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung stellen. Diese Debatte werden wir auch unter uns Koalitionären noch führen müssen. Aber ich gehe mit einem guten Gefühl in diese nächsten Wochen und Monate, dass wir das schaffen werden. Der vorliegende Antrag der AfD ist hierzu aber kein hilfreicher Beitrag. ({6}) Deshalb lehnen wir ihn ab. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Markus Herbrand, FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die AfD beantragt heute die sofortige Abschaffung des Solidaritätszuschlags wegen Verfassungswidrigkeit. ({0}) Abgesehen davon, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen in Deutschland noch immer dem Bundesverfassungsgericht obliegt, zeigt die AfD mit diesem Antrag, wie unverantwortlich ihre Finanzpolitik ist; denn sie schießt absolut über das Ziel hinaus. ({1}) Der Antrag entlarvt Mehreres, nämlich erstens, dass die AfD immer nur so tut, als sei es ihr wichtig, dass man Regeln einhält. Auf der Suche nach populistischen Knall­effekten mit vermeintlich einfachen Lösungen wirft sie auch rechtskräftige und politisch relevante Vereinbarungen einfach über Bord. Vorliegend ignoriert sie vollständig den Solidarpakt II, der ja erst Ende 2019 ausläuft und eine der Grundlagen der Finanzierung unseres Gemeinwesens ist.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Herbrand, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glaser gestatten?

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege, da Sie wie auch Vorredner davon sprechen, dass die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags eine Erfindung der AfD ist, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass das Niedersächsische Finanzgericht die Verfassungswidrigkeit sehr breit und sehr gründlich begründet hat. ({0}) Das sind keine AfD-Richter, sondern das ist die Justiz, und die hat einen Vorlagebeschluss nach Artikel 100 des Grundgesetzes gefasst und beim Bundesverfassungsgericht vorlegt. Bedauerlicherweise hat das Bundesverfassungsgericht bis heute – also mehrere Jahre lang – nicht entschieden. Sie werden doch wohl zugeben wollen, dass das seriöse Leute in Gestalt eines der Obergerichte der Finanzgerichtsbarkeit waren, die diesen Beschluss gefasst haben, weshalb es nicht ganz falsch sein kann, wenn man die gleiche Auffassung vertritt wie dieses Richterkollektiv. Würden Sie dem zustimmen oder nicht? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Glaser, bleiben Sie bitte stehen; das ist so üblich.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Glaser, ich habe nicht gesagt, dass das eine Erfindung der AfD-Fraktion ist. ({0}) Darüber hinaus ist vom Kollegen der SPD eigentlich schon alles dazu gesagt worden. ({1}) Zurück zu meiner Rede. Der Wegfall dieser Mittel – circa 18 bis 20 Milliarden Euro – würde zu nicht verantwortbaren Deckungslücken im Haushalt führen. Das hat mit seriöser Finanz- und Haushaltspolitik wirklich nichts mehr zu tun. Zweitens. Wir sehen leider nicht das erste Mal, dass sich die AfD bei parlamentarischen Initiativen hemmungslos bei anderen Parteien bedient. ({2}) Hier ist sie tatsächlich Wiederholungstäter; denn bereits vor Wochen hatten wir die Situation, dass ein Antrag der FDP zur Subsidiaritätsrüge nahezu wörtlich abgeschrieben wurde. ({3}) Ich bin mir aber sicher, dauerhaft werden sich die Originale gegen die Plagiate durchsetzen. ({4}) Die AfD ist nun wirklich keine Alternative zu einer vernünftigen und liberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die kommt nun wirklich von uns hier. ({5}) Das zu erkennen, da reicht ein Blick in Ihr Parteiprogramm. Das haben die Kollegen auch schon gemacht. Es zeigt sich dann ganz schnell, welch finanzpolitische Hasardeure Sie eigentlich sind. Sie möchten die Umsatzsteuer um 7 Prozent reduzieren, Sie planen die Rückkehr zur D-Mark, Sie lehnen den Freihandel ab. Das ist nun wirklich kein Konjunkturprogramm für Deutschland. ({6}) Gleichzeitig sollen keine Schulden gemacht werden. Nur eines verraten Sie uns nicht: wie Sie den ganzen Zirkus finanzieren wollen. ({7}) Ihre Politik ist meilenweit von dem entfernt, was Sie den Menschen immer vorgaukeln. Eine kompetente und verlässliche Alternative sind Sie diesbezüglich ganz bestimmt nicht. ({8}) Zurück zum Soli: Mit dem Ziel, nämlich der Abschaffung des Solidaritätszuschlags, sympathisieren wir ja. Auch die Freien Demokraten sehen die Notwendigkeit, angesichts der in der Vergangenheit gegebenen Versprechungen und der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – wir eilen ja von Rekordsteuereinnahmen zu Rekordsteuereinnahmen – die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes so früh wie möglich von dieser Zusatzbelastung zu befreien, also, wie vereinbart, in 2020, und zwar alle, nicht nur einen Teil. ({9}) Die Große Koalition plant vor allem die Entlastung derer, die im Augenblick nur wenig oder gar keinen Solidaritätszuschlag zahlen. Nein, hier muss das endgültige Ende her, und zwar für alle ab 2020. Ab diesem Jahr gibt es für diese Zusatzsteuer keine Rechtfertigung mehr. Wenn die Große Koalition den Soli über diesen versprochenen Zeitpunkt hinaus beibehalten will, ist das nichts anderes als eine Steuererhöhung; denn wenn eine versprochene Entlastung wegfällt, ist das eine zusätzliche Belastung. ({10}) Dann ist erkennbar, dass diese Mehreinnahmen benötigt werden, um Wahlversprechen zu finanzieren. Das wollen und werden wir verhindern, und zwar mit unserem Gesetzentwurf, dem Original, der hier morgen debattiert wird und in dem die vollständige, rechtskonforme und mit dem Solidarpakt vereinbare Abschaffung des Solidaritätszuschlags zum 1. Januar 2020 vorgesehen ist. Diesen Gesetzentwurf darf ich Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit empfehlen. Herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von hier oben! ({0}) – Grüß Gott, Herr Kauder! Danke schön, Markus Herbrand. – Der nächste Redner in der Debatte ist Michael Leutert für Die Linke. ({1})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion fordert in dem heute vorliegenden Antrag, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. Das würde im Bundeshaushalt eine Lücke von 18 Milliarden Euro reißen. Damit klar ist, worüber wir hier sprechen: Das ist ungefähr so viel, wie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung insgesamt zur Verfügung steht. Das könnte man dann also einstampfen. Das ist ungefähr doppelt so viel wie das, was im Haushalt des Familienministeriums vorgesehen ist. Wer hier vorschlägt, eine solche Lücke in den Bundeshaushalt zu reißen, der muss natürlich auch dazusagen, wie er diese Lücke wieder schließen möchte. ({0}) Nun wissen wir von Ihnen, dass Sie den Spitzensteuersatz nicht erhöhen wollen, ganz im Gegenteil. Wir wissen auch, dass Sie die Vermögensteuer nicht wieder einführen wollen. Sie wollen sogar die Erbschaftsteuer abschaffen. ({1}) Auch zu neuen Krediten sind sie nicht bereit. Also sagen Sie doch einmal, wie Sie diese Lücke schließen wollen. Das gehört nämlich zur Wahrheit dazu. ({2}) – Durch Einsparungen. ({3}) Aber in dieser Größenordnung haben Sie nicht viele Möglichkeiten zu Einsparungen. Sagen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern doch bitte, dass Sie an die Grundsicherung im Alter heranwollen, dass Sie medizinische Leistungen einschränken wollen und dass Sie die Unterstützung für Familien zurückfahren wollen. ({4}) Das gehört zur Wahrheit dazu. ({5}) Zur Wahrheit gehört im Übrigen auch – das muss man wieder erwähnen –, dass der Solidaritätszuschlag als allgemeine Steuer nicht an den Aufbau Ost gekoppelt ist, sondern dass wir mit diesen Einnahmen im Bundeshaushalt auch andere Dinge bezahlen können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie, ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Herrn Glaser zulassen.

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Kollege hat vorhin schon etwas gefragt. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zur Wahrheit gehört auch, dass diese Einnahmen nicht an den Aufbau Ost gekoppelt sind, sondern dass damit auch andere Leistungen bezahlt werden können. Damit wird zum Beispiel der Ausbau von Kitaplätzen bezahlt, und zwar in Ost und West. Damit können wir das Kindergeld bezahlen. Damit können wir das BAföG bezahlen. Damit können wir zum Beispiel Maßnahmen gegen Altersarmut bezahlen und im Übrigen auch Programme gegen Rechtsextremismus. Nötig haben wir das. ({0}) Wahr ist im Übrigen auch, dass – oftmals ist das nicht bekannt – nicht bloß Westdeutsche den Solidaritätszuschlag bezahlen, sondern natürlich auch Ostdeutsche. ({1}) Die Grenze verläuft eben nicht zwischen West und Ost, sondern die Grenze verläuft zwischen denjenigen, die mehr Einkommen haben, und denjenigen, die weniger Einkommen haben. Das ist doch der entscheidende Unterschied. ({2}) Da muss man einmal ganz klar sagen, was Sie machen wollen. Ein Bundestagsabgeordneter, also wir alle, zahlt im Monat durchschnittlich 130 Euro für den Solidaritätszuschlag, je nachdem, wie viel Kinder er hat. 130 Euro bei einem Einkommen von 10 000 Euro brutto: Mir kommen die Tränen. Eine Familie mit zwei Kindern, die maximal 4 400 Euro brutto im Monat zur Verfügung hat – also alle, die weniger haben, fallen auch darunter –, bezahlt überhaupt keinen Solidaritätszuschlag. Jetzt möchte ich einmal sehen, wie Sie diesen Familien erklären, wem hier etwas genommen und wem etwas gegeben werden soll. Diese Familien sind nämlich auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen. ({3}) Wenn man das so betrachtet, dass nämlich der Solidaritätszuschlag von denen bezahlt wird, die mehr haben, während diejenigen, die weniger haben, nichts bezahlen, dann bekommt der Begriff „Solidaritätszuschlag“ eine ganz neue Bedeutung. In diesem Sinne brauchen wir die Solidarität in unserer Gesellschaft dringender denn je. Deshalb ist Die Linke gegen die ersatzlose Abschaffung des Solidaritätszuschlags. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Michael Leutert. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Glaser. ({0}) – Immer warten.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Kollege! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt hat Herr Glaser das Wort.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Statt den Versuch zu unternehmen, über Polemik und persönlich verletzende Bemerkungen zu punkten, könnte man vielleicht einmal die Sache selbst in den Mittelpunkt stellen. Das wäre eine Lösung. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sagen: Wenn der Solidaritätszuschlag wegfällt, brechen die Finanzen der Bundesrepublik Deutschland zusammen. ({1}) Verehrter Herr Kollege, Sie wissen doch, dass wir Haushaltsüberschüsse haben, und zwar zweistellige Milliardenbeträge, und das seit Jahren. ({2}) Wenn man von einem Haushaltsüberschuss etwas abzieht, hat man noch lange kein Loch, sondern kommt vielleicht auf die berühmte schwarze Null oder dergleichen mehr. ({3}) Daher ist Ihre Behauptung, mit der Sie hier die Angst verbreiten, die AfD wolle unsolide Finanzpolitik betreiben, an den Haaren herbeigezogen. Sie ist falsch. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Glaser hat das Wort.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht immer wieder dieselben Zoten wiederholen würden. ({0}) Ich höre immer dieselben Zoten. Offenbar gibt es also nicht viele. In meiner Amtszeit in Frankfurt – diesen Satz will ich Ihnen einmal sagen, weil er außergewöhnlichen Inhalts ist – habe ich die Schulden dieser Stadt um 1,5 Milliarden Euro gesenkt. Wenn Sie das einmal auf den Bundeshaushalt hochrechnen, sehen Sie, dass Sie hier eine große Aufgabe vor sich haben, wenn Sie auf mein Niveau kommen wollen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen wir also wieder auf das zurück, um das es geht, an dem Sie aber nicht arbeiten wollen, weil die Ablenkung in solche persönlichen Scharmützel natürlich leichter ist. Das Ausweichen auf andere Steuerarten steht nicht an. Wir haben hier über den vorliegenden Antrag zu entscheiden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn beispielsweise die FDP als Partei der soliden Finanzen das Gleiche will, nur ein paar Monate später, ({2}) dann müssen Sie erklären – die FDP natürlich auch –, wieso es ein Ausdruck solider Finanzpolitik ist, diese Operation zum 1. Januar 2020 durchzuführen, aber ein finanzpolitisches Desaster, wenn wir dasselbe 14 oder 15 Monate vorher machen wollen. Da wird sich schwer argumentieren lassen. Im Übrigen betone ich noch einmal: Das Grundgesetz schreibt vor, dass Ergänzungsabgaben einen ganz konkreten periodischen Bedarf haben müssen. ({3}) Wenn sie ihn nicht haben, haben sie den Geruch der Verfassungswidrigkeit. ({4}) Eine Ergänzungsabgabe, die über diesen Zeitraum seit 1995 erhoben wird, hat deshalb weiß Gott den Anschein, dass sie verfassungswidrig sei. Das ist auch so solide, dass Sie es im Schrifttum gut nachlesen können, sofern Sie gelegentlich das Schrifttum zurate ziehen. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das Wort zu einer Antwort hat Michael Leutert.

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Kollege, Sie haben die Haushaltsüberschüsse angesprochen. Ich möchte Ihnen dazu nur Folgendes mitteilen – wenn es sich bei Ihnen noch nicht herumgesprochen hat –: Diese Überschüsse werden nicht garantiert jedes Jahr da sein. Die Leistungen für Familien brauchen wir aber exakt jedes Jahr. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt kommen wir wieder zur vorgesehenen Abfolge der Debatte zurück. Nächste Rednerin ist Lisa Paus für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich reibt sich der oder die andere erstaunt die Augen über diesen erbittert geführten Wettlauf zwischen AfD und FDP darum, wer eigentlich konsequenter und schneller das Symbol für Solidarität in Deutschland abschafft. Stand heute: Die AfD ist ungefähr 365 Tage schneller als die FDP. Der zweite Blick zeigt aber, dass die AfD hier tatsächlich völlig konsequent handelt. Es ist nämlich falsch, zu meinen, diese Partei sei ja nur gegen Flüchtlinge und gegen Migranten. So ist es eben nicht. Ihr Programm ist die fortschreitende Entsolidarisierung der gesamten Gesellschaft in Deutschland. Wir werden uns dagegenstellen. ({0}) Das zeigen Sie mit diesem Antrag. Es gibt aber noch weitere Beispiele. Ich nenne einmal drei: Keine Solidarität der starken Regionen mit den schwachen Regionen mehr, stattdessen Wettbewerbsföderalismus – das ist AfD. Dazu gehört auch Ihre Forderung, die Unterstützung der Kommunen bzw. deren Haupteinnahmequelle abzuschaffen. Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und die Kommunen damit finanziell ausbluten. Das ist Programm der AfD. Natürlich gehört zum Programm der AfD auch, dass den Alleinerziehenden und ihren Kindern – 40 Prozent von ihnen leben in Armut und sind auf Hartz IV angewiesen – wahlweise die staatlichen Leistungen entweder ganz abgesprochen oder von deren Wohlverhalten abhängig gemacht werden sollen. Auch das ist Entsolidarisierung in Deutschland zulasten der Schwächsten, und dabei machen wir nicht mit, meine Damen und Herren. ({1}) Ihr Vorschlag, den Soli ersatzlos zu streichen, passt sich genau da ein. Es wurde schon darauf hingewiesen: Aktuell betragen die Einnahmen durch den Solidaritätszuschlag 18 Milliarden Euro. In zwei Jahren werden es wahrscheinlich 20 Milliarden Euro sein. 20 Milliarden Mindereinnahmen des Staates: Das merken die Menschen. Denn dann ist eben weniger Geld da für den sozialen Wohnungsbau, für Verkehrsinfrastruktur, Klimaschutz, Bildung und öffentliche Sicherheit. Aber bei den 20 Milliarden Euro Mindereinnahmen kommt noch dazu, dass der Finanzbuchhalter mit Frau und zwei Kindern und einem Jahresbruttoeinkommen von 50 000 Euro nicht einen Euro davon sehen wird. Auch das wird er merken. Er wird merken: Von diesen 20 Milliarden Euro habe ich nichts. Auch die alleinerziehende Bäckereifachverkäuferin mit einem Kind mit einem Jahresbruttoeinkommen von 25 000 Euro wird merken: Sie wird davon nicht einen einzigen Euro abbekommen. Der Grund dafür ist, dass Singles erst ab 1 500 Euro brutto im Monat und Familien erst ab 4 000 Euro brutto im Monat überhaupt den Soli zahlen. Das heißt, die Abschaffung des Soli hilft nicht, gegen die soziale Spaltung in diesem Land anzugehen, sondern sie verschärft die soziale Schieflage. Deswegen warnt der Journalist Hagelüken in der „Süddeutschen“ zu Recht, die Abschaffung des Soli wäre ein Elfmeter für die Populisten. ({2}) Dass das der AfD passt, ist völlig klar. Aber ich verstehe nach wie vor nicht, warum die FDP, die CDU, die CSU und nach dem Koalitionsvertrag de facto auch die SPD für die Populisten, für die AfD mit einzahlen. ({3}) Wir machen in der Form da nicht mit. ({4}) Es ist richtig: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der Soli so nicht mehr zeitgemäß. ({5}) Aber mindestens genauso überfällig ist die Reform der Einkommensteuer bzw. eine spürbare Entlastung der unteren und mittleren Einkommen. Wir brauchen eine faire Entlastung der breiten Mittelschicht in der Gesellschaft, von der auch der Finanzbuchhalter und die Bäckereifachverkäuferin etwas haben, von der auch die unteren Einkommen profitieren. Deswegen: Lassen Sie uns ein Gesamtpaket schnüren, mit dem wir eine Entlastung bei den Abgaben erreichen und auch die untere Mittelschicht entlasten. Und mit diesem Gesamtpaket starten Sie dann wieder in die Debatte. Aber so wird das nichts. So wirkt das einzig und allein für die AfD und die Populisten. Denken Sie noch einmal darüber nach! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! CDU, CSU und SPD sehen als Koalition ihre Hauptaufgabe in der Sicherung des Zusammenhalts unserer Gesellschaft und der wirtschaftlichen Dynamik in unserem Land. ({0}) Dazu haben wir im Koalitionsvertrag ein ganzes Bündel von Maßnahmen verabredet, von der Besserstellung unserer Familien über eine verstärkte Förderung von Bildung und Forschung bis hin zu Entlastungen bei Steuern und Abgaben und der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Es geht aktuell, zu Beginn dieser Legislaturperiode, um den stabilen finanziellen Gesamtrahmen. Das ist für die Stabilität unseres Landes unabdingbar, meine Damen und Herren. Das ist Stabilitätspolitik, wie wir auch sagen. ({1}) Deshalb müssen wir das Thema Soli mit großer Verantwortung und Vernunft angehen. Zunächst einmal: Die CDU/CSU steht für eine vollständige Abschaffung des Soli. Das ist die grundsätzliche Entscheidung, die wir gefällt haben. ({2}) Und die Rechtfertigung des Soli steht ja zweifellos infrage. In der Koalition haben wir deshalb verabredet, dass wir zunächst 90 Prozent der Einkommensbezieher beim Soli entlasten und weitere finanzielle Spielräume ausgewogen nutzen, die aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung durch unsere Politik entstehen und entstehen werden. Da bin ich ganz zuversichtlich. Wir haben bewiesen, dass mehr Beschäftigung mehr Einnahmen bedeutet. Das ist unser Rezept auch in dieser Legislaturperiode. ({3}) Wir sollten die weiteren Schritte bis zum vollständigen Abbau des Soli vertrauensbildend festlegen. Das muss auch für den Solidaritätszuschlag zur Körperschaftsteuer gelten. Hier brauchen wir Klarheit. Steuerzahler und Unternehmen brauchen Planungssicherheit. Dazu gehört eine klare Ausstiegsperspektive beim Soli. Mehr als 28 Jahre nach der deutschen Einheit ist ein fester Abbaupfad vertrauensbildend nötig. Entscheidend ist, dass die Solisenkung sauber in den erwarteten Finanzrahmen eingepasst wird. Alles andere wäre eine unverantwortliche Rückkehr zum Schuldenstaat und ein Verstoß gegen die Vorgaben der im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse. Haushaltsstabilität ist also ein hohes Gut. Deshalb gehen wir sorgsam und verfassungskonform mit dem Geld unserer Bürger um. Natürlich sollte Bundesfinanzminister Olaf Scholz vertrauensbildend ein ganzheitliches Soliauslaufgesetz vorlegen. Ein solches Gesetz wäre für die Bürger eine klare Ansage. Dabei wird die geplante Freigrenze noch einmal genau zu betrachten sein. Eine Grenzsteuerbelastung von mehr als 50 Prozent lehnen wir, die CDU/CSU, ab. Wir lehnen auch eine Eingliederung des Soli in den normalen Einkommensteuertarif ab; das haben wir bei den Verhandlungen mehrfach verdeutlicht. Die CDU/CSU hat klare ordnungspolitische Vorstellungen in ihrer Steuerpolitik. Leistung muss sich lohnen. Das ist ein Grundprinzip der Unionspolitik. Es dient dem Gemeinwohl, wenn der Zusammenhalt der Gesellschaft und die Wachstumskräfte gleichermaßen gestärkt werden. ({4}) Das ist unsere vordringliche Aufgabe. Das stärkt den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dabei ist es wichtig, die richtige Reihenfolge einzuhalten. Ich darf verdeutlichen, dass das, was hier von der AfD vorgetragen wurde, aus der Entscheidung des Niedersächsischen Finanzgerichts abgeschrieben wurde. Das ist also kein eigenständiger Antrag. In unserem Land entscheidet, was verfassungskonform und was verfassungswidrig ist, nicht die AfD, sondern das Bundesverfassungsgericht. ({5}) Wir haben in der Koalition einen klaren Weg vereinbart. Wir haben verabredet, die vorhandenen Haushaltsspielräume für die Verbesserung der Wohnraumversorgung, der Lage der Familien, der Infrastruktur und vor allem in der Zukunftsforschung zu nutzen. Das Geld ist dort gut angelegt, weil uns das letzten Endes die Chancen auf eine ganzheitliche Soliabschaffung eröffnet. In diesem Sinne lade ich alle hier im Deutschen Bundestag sehr herzlich ein, sich in dieser Frage zu bewegen und gemeinsam darüber zu beraten. Es kommt darauf an, dass wir die Vertrauensbildung zugunsten der Steuerzahler und der Unternehmen in unserem Land voranbringen. Dafür werden wir unsere Gesichtspunkte und Grundsätze in der Ordnungs- und Steuerpolitik verdeutlichen. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Michelbach. – Letzter Redner in der Debatte: Lothar Binding für die SPD-Fraktion. – Der Mann mit dem Zollstock. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute ohne Zollstock. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, Hans, ob ich das eben richtig gehört habe, dass du den Soli in dieser Legislaturperiode komplett abschaffen und die Freigrenzen zur Dis­position stellen möchtest. Denn das wäre dann natürlich nicht das, was wir verabredet haben. Wir haben schon den Ehrgeiz, uns an unsere Verabredungen zu halten. ({0}) Eine gewisse Vertragstreue ist eine gute Idee, und in der SPD-Fraktion ist sie gut aufgehoben. Ich wollte das nur korrigieren. Möglicherweise habe ich einen Moment lang nicht ganz konzentriert zugehört. Das kann immer einmal passieren. Mein eigentlicher Redebeginn sollte ganz anders sein: Ich wollte auf den Weitblick eines unserer früheren Vorsitzenden verweisen, der einmal gesagt hat: „Opposition ist Mist.“ ({1}) Da hat er recht gehabt; das muss ich sagen. Trotzdem kann eine Opposition gut sein, wenn sie eigene Ideen hat, wenn sie sich einbringt, wenn sie Fantasie, Kreativität, Zukunftsgewandtheit hat; dann kann sie die Gesellschaft weiterbringen. Denn die guten Ideen übernimmt die Regierungskoalition fast automatisch; das ist ja völlig klar. ({2}) Wer in einer Hochkonjunkturphase falsche Vorschläge macht und damit die Zukunftsfähigkeit gefährdet, der kann nicht erwarten, dass die Regierungskoalition diese Ideen aufnimmt. Schlechte Opposition ist allerdings diejenige, die einfallslos und langweilig ist. Was ist einfallslos und langweilig? Man schaut einmal, was die anderen machen. Man schreibt ein bisschen etwas ab, nicht ganz korrekt, aber doch zumindest die Überschrift, und dann krittelt man daran herum. Es gibt besonders schlaue Kritikpunkte. Ich will einmal ein paar nennen: „Dieser Antrag kommt zu früh.“ Oder: „Dieser Antrag kommt zu spät.“ „Dieser Antrag ist nicht genug; da könnte ja jeder kommen.“ Oder: „Es ist zu viel.“ Wenn gar nichts mehr hilft: „Dieser Antrag ist verfassungswidrig.“ Das Besondere bei der Verfassungswidrigkeit ist ja, dass das Verfassungsgericht – weder Gutachter noch eine Bundestagsfraktion – feststellt, ob etwas verfassungswidrig ist. Deshalb ist es immer gut, mit der Feststellung „verfassungswidrig“ vorsichtig umzugehen. Übrigens, unsere Ziele sind ganz andere. Deshalb gehen wir mit diesem Soli so um, wie wir damit umgehen. Wir wollen etwas für Kinder, für Familien, für den Wohnungsbau machen. Auch wenn es manche gar nicht mehr hören können, kann man das nicht oft genug sagen. Auch wollen wir etwas für Schulen, für die Polizei, für die Studenten, für die Meister, für die Beschäftigung; denn – da hat Hans Michelbach recht gehabt; Michael Schrodi hat es sehr schön erklärt – Beschäftigung ist eines der wichtigsten Dinge, die unsere Zukunft sichern. Insofern ist es klug, den Soli für 90 Prozent aller Einkommensteuerzahler – viele zahlen ihn ja sowieso nicht – abzuschaffen. Das macht eine Entlastung von ungefähr 10 Milliarden Euro aus. Manche Leute sagen: Das ist wenig. Aber ich will nur sagen: Es ist ungefähr das Zehnfache dessen, was durch eine Ermäßigung der Hotelsteuer an Entlastung geschaffen wurde. Diese Entlastung war ja damals etwas ganz Besonderes. Man merkt also: Das hat schon eine gewisse Dimension. ({3}) Wer den Soli jetzt sofort vollständig abschaffen will, der will eigentlich nur die Reichen entlasten. ({4}) Deren Entlastung wäre der einzige Effekt. Denn die Freigrenze sorgt dafür, dass die unteren Einkommensschichten den Soli nicht zahlen und dass die Belastung für die oberen Einkommensschichten fair ist. Die Antragsteller müssen erklären, warum sie den Soli jetzt, in einer Hochkonjunkturphase – in diesem Antrag ist das Wort „sofort“ enthalten –, abschaffen wollen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. – Was wäre denn, wenn man das jetzt in einer Hochkonjunkturphase täte? Das wäre grundverkehrt. Es tut mir leid: Es geht heute nicht darum, was Herr Glaser in Frankfurt getan hat, sondern es geht um die Abschaffung des Soli; sie wird beantragt. Dagegen richtet sich mein Vortrag. Ich will noch auf einen Aspekt, der vorhin in einer Zwischenfrage genannt wurde, eingehen: auf den Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts. Leider ist dieser Beschluss ungeeignet – das wissen inzwischen auch die Gerichte –; er bezieht sich nämlich auf die Rechtslage von 2007. Jetzt weiß aber jeder, dass wir die gewerbesteuerliche Anrechnung mit der Unternehmensteuer im Jahr 2008 korrigiert haben. Das heißt, der Rechtsbezug ist rückwirkend und somit für die Zukunft gar nicht geeignet. Insofern ist es Unsinn, diesen Bezug so herzustellen. ({0}) Das zeigt, wie schlecht dieser Antrag vorbereitet wurde. Man muss einfach sagen, dass der Soli hier völlig falsch eingeschätzt wird. Zusammenfassend will ich sagen: Ich habe von der FDP vernommen: „Besser nicht regieren als schlecht regieren.“ Das heißt aber nicht, dass man automatisch schlechte Opposition sein muss. ({1}))

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Lothar Binding. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gottschalk.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Kollege Binding von der SPD, würden Sie uns zum Ersten zugestehen – die verfassungsrechtliche Wirklichkeit hat das ja gezeigt –, dass kaum häufiger Verfassungsrecht durch Regierungsbeschlüsse gebrochen worden ist als in der Zeit der Großen Koalition? ({0}) – Ja. Das können Sie, glaube ich, an den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts sehen, das viele ihrer Vorhaben kassiert hat. Jetzt ist auch Frau Wankas Äußerung kassiert worden. Ich glaube, wir wären vorsichtig: Wenn kluge Menschen hier begründen, dass sie Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Erhebung haben, dann ist das ihr gutes Recht. Es gibt sogar die Möglichkeit von Organklagen und anderen Klagen im Voraus, wenn man nämlich befürchtet, dass die Verfassung gebrochen wird. ({1}) Wir haben berechtigte Zweifel. ({2}) – Würden Sie nicht immer dazwischensprechen! Das tue ich bei Ihnen auch nicht. Es zeigt sich zum Zweiten, dass Sie sich komplett von der Wirtschaftspolitik Helmut Schmidts oder irgendwelchen volkswirtschaftlichen Grundsätzen verabschiedet haben, ({3}) sehr verehrter Kollege Binding. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Man sagt auch: Wenn man sich in einer konjunkturell schlechten Phase befindet, muss der Staat tatsächlich in die Verschuldung gehen, dann muss er entsprechend investieren, um Schärfen abzumildern. Aber die hohe Staatsverschuldung haben wir doch gerade wegen Ihrer sozialistischen Finanzierungspolitik. In der Not wird investiert. ({4}) Selbst wenn – wie zurzeit – die Steuereinnahmen sprudeln, sind Sie nicht in der Lage und willens, Einsparungen zugunsten aller Menschen hier in Deutschland vorzunehmen. Wenn es Ihnen die 90 Prozent der Menschen, die dabei entlastet würden, nicht wert sind, demaskiert Sie das. Wenn man heute mit über 33 000 Euro als Durchschnittsverdiener gilt und mit dem 1,3-fachen Verdienst, also rund 43 000 Euro, durch Ihre Politik zu den Spitzenverdienern gehört, dann dürfen Sie sich eben auch nicht wundern, dass Sie mittlerweile in den Wahlumfragen bei 15 Prozent stehen und irgendwann bei 10 Prozent stehen werden; denn Sie haben den Bezug zur Wirklichkeit verloren, verehrte Kollegen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Dann gebe ich das Wort Lothar Binding.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich verzichte, vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Lothar Binding. – Dann schließe ich die Aussprache. ({0}) – Gibt es Probleme? ({1}) – Gut. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1179 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Geschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es geht Ihnen so wie mir: Wenn man sich mit der Lage im Südsudan auseinandersetzt, braucht man gute Nerven. Das seit sieben Jahre unabhängige Land geht in das fünfte Bürgerkriegsjahr. Ich glaube, man muss einige Aspekte dieses Konfliktes hier einmal darstellen. Erstens. Die humanitäre Lage hat sich weiter verschlechtert. Das sagt sich so leicht; aber wer sich mit der Lage auseinandergesetzt hat, der kann sich das kaum vorstellen. Wir zählen 2,5 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und 2 Millionen Binnenvertriebene im Südsudan selber. Das, meine Damen und Herren, ist die drittgrößte Flüchtlingskatastrophe weltweit. Es ist die schlimmste Katastrophe in Afrika seit dem Genozid in Ruanda. 2018 werden 7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein. Dass die Konfliktparteien und gerade auch die Regierung den Helferinnen und Helfern immer wieder Steine in den Weg legen, ist eine Katastrophe. Allein im letzten Jahr sind 28 von ihnen ums Leben gekommen. Dieses Verhalten der Regierung, aber auch der Konfliktparteien insgesamt ist inakzeptabel. Meine Damen und Herren, eine weitere Zahl ist erschreckend, und sie illustriert das Ausmaß der Katastrophe: 2 Millionen Kinder im Südsudan gehen wegen dieses Konflikts heute nicht zur Schule. Der zweite Punkt: Die Menschenrechtslage insgesamt ist – das dokumentiert auch ein Bericht der Vereinten Nationen – geprägt von Verletzungen der elementarsten humanitären Grundsätze. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit. Auch die Presse, die Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, vor allem die Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger sind enorm unter Druck. Ethnische Gewalt wird gefördert und ganz gezielt als politisches Instrument eingesetzt. Der dritte Aspekt ist vielleicht ein Aspekt, der ein bisschen Optimismus zulässt. Die Regionalorganisation IGAD hat es – auch mit der Unterstützung der Bundesregierung – geschafft, endlich alle Konfliktparteien an einen Tisch zu bekommen. In zwei Verhandlungsrunden im Dezember und im Februar tagte ein hochrangiges Revitalisierungsforum, das im Grunde genommen den Versuch unternommen hat, die unterschiedlichen Konfliktparteien ins Gespräch einzubinden. Und, ja, es gibt jetzt einen Waffenstillstand. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen auch: Er ist brüchig, und er wird auch verletzt, manchmal sogar täglich. Die Bundesregierung verfolgt in enger Abstimmung mit ihren Partnerinnen und Partnern einen integrierten Ansatz zur Stabilisierung des Landes. Die Mission, über die wir heute diskutieren, UNMISS, ist ein Instrument, das in diesen Bemühungen eine zentrale Bedeutung bekommt. Wir bekämpfen die humanitäre Katastrophe; darauf habe ich hingewiesen. Die Vereinten Nationen erwarten, dass die im Südsudan humanitär tätigen Organisationen allein in diesem Jahr 1,72 Milliarden Dollar benötigen, um konkrete humanitäre Hilfe zu leisten. Ich will für diejenigen, die sich nicht täglich damit auseinandersetzen, noch einmal sagen: Dabei geht es nicht um den Wiederaufbau, nicht um die Finanzierung langfristiger Strukturen; es geht um Hilfe zum Leben und zum Überleben. Die Bundesregierung hat dafür seit 2016 fast 170 Millionen Euro bereitgestellt, allein in diesem Jahr 19 Millionen Euro. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung steht zu diesem Engagement. Sie wird dieses Engagement fortsetzen, und das, wenn ich das so sagen darf, ist angesichts der Lage auch dringend nötig. ({0}) Warum rede ich bei der Debatte über UNMISS über die humanitäre Hilfe? Das hat einen einfachen Grund: Ohne UNMISS ist die Absicherung der Helferinnen und Helfer nicht möglich. Ohne UNMISS wären 200 000 Menschen – das ist die geschätzte Zahl, die uns vorliegt – in den Schutzzonen, die die Vereinten Nationen bereitstellen, schutzlos der Gewalt ausgeliefert. Aber auch in der Fläche ist UNMISS vertreten – dort, wo es möglich ist, wo es die Sicherheitslage zulässt. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen wir. Uns geht es um die konkrete Verbesserung der Menschenrechtslage – ich habe auf den UN-Bericht hingewiesen –; es geht aber auch um die politischen Konsequenzen. Wir kennen das aus vielen anderen Konflikten auch: Straflosigkeit ermuntert die Gewaltakteure, sich weiter auf diese brutale Kriegsführung zu konzentrieren. Deswegen ist ein wichtiges Signal, dass wir – das ist eine Initiative, die wir seit vielen Jahren nicht nur im Südsudan, sondern beispielsweise auch in Syrien unterstützen – dokumentieren, welche Verbrechen begangen werden. Damit soll deutlich werden, dass auch nach einer möglichen friedlichen Entwicklung und einem Friedensschluss die Akteure nicht davon ausgehen können, dass sie straflos davonkommen. Deswegen ist das eine wichtige Aufgabe. Die UN haben uns um Unterstützung gebeten. Wir setzen uns mit unseren Möglichkeiten immer wieder dafür ein, dass diese Fragen im Menschenrechtsrat in Genf auf die Tagesordnung gesetzt werden. Ich bitte auch den Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Unterstützung bei dieser wichtigen Arbeit. Ich bedanke mich dafür, dass die notwendigen Mittel bereitgestellt werden. ({1}) Nicht zuletzt geht es um den Friedensprozess. „Welcher Friedensprozess?“, mag der eine oder andere von Ihnen fragen – eine sehr berechtigte Frage. Trotzdem darf ich darauf hinweisen, dass wir jetzt erstmals seit 2016 wieder Gespräche haben, dass es so etwas wie einen Prozess gibt, eine Debatte, die man mit einem gewissen Optimismus das erste Mal wieder als Friedensprozess bezeichnen kann. Wir erleben aber auch, dass dieser Prozess von Vertretern aller Konfliktparteien, auch der südsudanesischen Regierung, gestört wird. Deswegen ist es richtig, dass auch von der EU Sanktionen gegen einzelne Störer verhängt worden sind. Ich glaube, das ist ein wichtiges politisches Zeichen, ein Zeichen der Entschlossenheit, dass dieses Verhalten Konsequenzen hat. Wir sind entschlossen, meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Politik fortzusetzen, um den fragilen Friedensprozess zu unterstützen. ({2}) Auch hierbei ist UNMISS unverzichtbar. Denn was macht UNMISS letztlich? UNMISS unterstützt die Absicherung der Gespräche, unterstützt die Organe, die die in den Gesprächen getroffenen Vereinbarungen umsetzen wollen und müssen. Dabei geht es vor allem um die Überwachung des vereinbarten Waffenstillstands. Wenn wir einen Blick auf unser Engagement werfen, dann können wir, wie ich glaube, feststellen, dass das durchaus Signalwirkung hat: einmal – das will ich als Erstes sagen – für unsere Soldatinnen und Soldaten im Südsudan, die unter schwierigsten Umständen in Stabsfunktionen und als Militärbeobachter in der Fläche arbeiten. Ich glaube, wir schulden ihnen allen Dank für ihr Engagement. ({3}) Es hat auch Signalfunktion für die humanitären Helfer. Ihre Arbeit muss abgesichert werden, und sie brauchen ein Signal der Unterstützung. Es geht aber auch um ein Signal an die Regierung des Südsudan. Wir unterstützen die Regierung des Südsudan, wenn sie sich um die Belange ihrer eigenen Bürgerinnen und Bürger kümmert. ({4}) Aber die Lage ist eindeutig: Die Verantwortlichen sitzen auch in der Regierung. Deswegen erwarten wir von der Regierung des Südsudan, dass sie die Behinderung der Arbeit der Vereinten Nationen, der Arbeit von UNMISS, beendet. ({5}) Nicht zuletzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht es darum, dass wir ein Signal an die Bürgerinnen und Bürger des Landes senden müssen, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir für den Prozess des Wiederaufbaus bereitstehen; denn sie wollen ihr eigenes junges Land gemeinsam mit uns aufbauen. Daran sollten wir uns beteiligen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niels Annen, und viel Kraft für Ihre Arbeit in Ihrer neuen Funktion. Nächster Redner für die Bundesregierung, auch in neuer Funktion: der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Republik Südsudan ist das jüngste Land dieser Erde, unabhängig seit 2011. Seither bemüht sich die internationale Gemeinschaft um die Stabilisierung der Region. Es ist auch gelungen im August 2015, ein Friedensabkommen abzuschließen; aber es hat dem Land noch keinen Frieden gebracht. Erst 2016 kam es zu erneuter Eskalation der Gewalt. Die humanitäre Lage – das ist schon beschrieben worden – ist weiterhin dramatisch. Vor allem Frauen und Kinder sind davon betroffen. Die Nichtregierungsorganisationen und UNMISS selbst berichten von weitverbreiteter und systematisch ausgeübter sexualisierter Gewalt, von Verstümmelungen und Morden als Kriegstaktik und von brutalsten Auseinandersetzungen. Dennoch gibt es Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses, auch wenn der Waffenstillstand noch brüchig ist. Das Hochrangige Revitalisierungsforum hat zwar noch keinen Durchbruch erzielt, aber doch Fortschritte; es tagt regelmäßig. Deswegen müssen jetzt alle Konfliktparteien ihre Verantwortung für die Lage im Land wahrnehmen und dieser Verantwortung auch gerecht werden. Dazu braucht es weiterhin eine breite, fortgesetzte, intensive Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Das Hauptaugenmerk der Mission UNMISS liegt auf dem Schutz der Zivilbevölkerung. Darüber hinaus sichert UNMISS die humanitären Zugänge, ohne die Hilfe nicht geleistet werden könnte. UNMISS überwacht die Wahrung der Menschenrechte, soweit das möglich ist, und unterstützt die Umsetzung des Friedensabkommens. Damit kommt dieser Mission eine zentrale Rolle zu, um Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Republik Südsudan herzustellen. UNMISS ist autorisiert unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Mission umfasst derzeit gut 12 000 Soldatinnen und Soldaten und über 1 500 Polizisten und Polizistinnen aus 63 Nationen. Deutschland beteiligt sich daran mit einer Mandatsobergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten, die wir allerdings nicht ausschöpfen. Derzeit leisten 16 Angehörige der Bundeswehr ihren Dienst im Südsudan, davon 8 als Militärbeobachter in der Fläche und weitere 8 bei der Führung der Mission im Missionshauptquartier in Juba. Die Soldatinnen und Soldaten, die sich dieser fordernden Aufgabe stellen, in einem ausgesprochen schwierigen Umfeld, haben unsere höchste Anerkennung verdient. Ich möchte ihnen an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank für ihren Dienst aussprechen. ({0}) Wir wollen mit unserem unveränderten Engagement zweierlei leisten: zum einen die langjährigen Bemühungen der Bundesregierung fortsetzen, den Konflikt dauerhaft beizulegen und den Frieden in der Republik Südsudan zu konsolidieren. Und wir unterstützen zum anderen die Vereinten Nationen gemeinsam mit unseren Partnern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon angesprochen worden: 7 Millionen Menschen von insgesamt 12 Millionen Einwohnern im Südsudan sind angewiesen auf humanitäre Hilfe. Darum braucht dieses Land weiterhin die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstützung für die Verlängerung dieses Mandates, um die deutsche Beteiligung an der Mission UNMISS unverändert fortzuführen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Silberhorn, und auch Ihnen viel Kraft. – Nächster Redner: Gerold Otten für die AfD-Fraktion. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Im Südsudan spitzt sich die Lage zu. So berichtete zum Beispiel die „Frankfurter Rundschau“ am 21. Februar dieses Jahres über die aktuelle Situation im Land und titelte: „Ein Krieg wird kommen“. In dem Artikel ist von einem bevorstehenden Angriff der sogenannten Volksbefreiungsarmee SPLA die Rede. Andere Medien sprechen bereits von bürgerkriegsähnlichen Zuständen und davon, dass unbeschreibliche Gräueltaten verübt werden. Wenn sich ein Drittel der Bevölkerung auf der Flucht befindet, droht circa 6 bis 7 Millionen Menschen im Land der Hungertod. Allen Meldungen ist aber eines gemeinsam: Die Lage im Südsudan hat sich de facto seit Verlängerung des Mandats für den Eingriff der Bundeswehr nicht verbessert. Wir haben uns hier schon hinreichend und über alle Fraktionsgrenzen hinweg über die Situation in diesem Failed State empört, sodass es nicht mehr nötig ist, heute an dieser Stelle erneut die groben Missstände vor Ort zu schildern. Die Vertreter der Bundesregierung haben gerade auch noch einmal darauf hingewiesen, wie die humanitäre Situation im Land ist. Wichtiger und richtiger wäre es doch, sich darüber Gedanken zu machen, welche konkreten Schritte zu unternehmen sind, um das Ziel dieser Friedensmission, nämlich die nachhaltige Befriedung der Region, zu erreichen. ({0}) In ihrer Antragsbegründung lässt die Bundesregierung verlauten, es gebe Hoffnung, nachdem im Dezember vergangenen Jahres ein Hochrangiges Revitalisierungsforum einen Waffenstillstand unterzeichnet hat, um damit den Friedensprozess wiederherzustellen. Dennoch werden permanent neue Waffen und Geräte aus Ägypten und Uganda in den Sudan geliefert. Die UN ist aufgefordert, diesen Lieferungen ein Ende zu setzen, anstatt zu versuchen, skrupellose Warlords mit sogenannten Revitalisierungsforen und Mediation davon zu überzeugen, die Profite aus den sprudelnden Öleinnahmen miteinander zu teilen, und darauf zu hoffen, dass tödlich verfeindete Volksgruppen von selbst zur Vernunft kommen. Wir hatten die Bundesregierung an dieser Stelle bereits mehrfach dazu aufgefordert, künftig das politische Gewicht Deutschlands als drittgrößter Beitragszahler der UN zugunsten einer Strategie von UNMISS, welche den Realitäten vor Ort Rechnung trägt, in die Waagschale zu werfen. ({1}) Es hilft eben nicht, im groben Trott einer Strategie zu folgen, die von Ihnen schon in der Antragsbegründung relativiert wird. Dort schreiben Sie selbst: „ein Durchbruch blieb gleichwohl aus“. Meine Damen und Herren, das ist doch Ihre Bankrotterklärung. ({2}) Ich frage deshalb die Bundesregierung heute erneut: Welche Anstrengungen haben Sie unternommen, um bei der UN ein Umdenken zu erwirken? Welchen diplomatischen Druck haben Sie ausgeübt, um deutlich zu machen, dass weitere Behinderungen der Friedensmission entsprechende Konsequenzen haben werden? Die Soldaten im Einsatz benötigen die volle Unterstützung seitens der Politik, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Dieser besteht nach wie vor darin, die ständigen Übergriffe auf die Schwächsten, nämlich auf Frauen und Kinder, umgehend zu beenden sowie die Sicherheit der Hilfsorganisationen im Land zu gewährleisten. Das kann nur dann gelingen, wenn den Konfliktparteien, für die es scheinbar geradezu zur Selbstverständlichkeit geworden ist, sich ihren Anteil an den Hilfsgeldern abzupressen, unmissverständlich deutlich gemacht wird, dass die internationale Staatengemeinschaft nicht mehr bereit ist, dieses Vorgehen zu dulden. Es ist an der Zeit, hier die Regeln zu ändern, und es bleibt Aufgabe der Politik, dies zu tun. ({3}) Wir erwarten ja nichts Besonderes von der Bundesregierung; allerdings sollte nun endlich die Bereitschaft der politisch Verantwortlichen deutlich werden, entschlossen und konsequent Entscheidungen zu treffen, damit der UNMISS-Einsatz Erfolge zeigt. Meine Damen und Herren, aus rein humanitären Gründen befürwortet die AfD-Fraktion daher die Verlängerung des Mandats für die Beteiligung an UNMISS und stimmt der Überweisung an die Ausschüsse zu. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner – das wird seine erste Rede im Deutschen Bundestag sein – ist für die FDP-Fraktion Dr. Marcus Faber. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute werden in dieser Runde insgesamt acht Menschen darüber sprechen, dass wir derzeit 16 Bundeswehrsoldaten im Südsudan im Einsatz haben. Das mag im ersten Moment etwas seltsam erscheinen, ist aber durchaus richtig so; denn wer das Ideal einer Parlamentsarmee ernst nimmt, der muss sich auch mit diesen vermeintlich kleinen Einsätzen ernsthaft beschäftigen. ({0}) Wir als Freie Demokraten haben das getan. Wer das Ideal von Peacekeeping-Missionen ernst nimmt, muss sich auch über die Leistungen, die die UN-Soldaten, die unsere Soldaten vor Ort vollbringen, ernsthaft informieren. Deshalb habe ich mich Anfang der Woche von einem Bundeswehrsoldaten im Südsudan über seinen Einsatz, über seinen Alltag vor Ort, über seine Perspektive auf Sinn und Erfolg dieses Einsatzes informieren lassen. Er ist der Meinung, dass dieser Einsatz einen Sinn hat, dass er einen Nutzen hat, obwohl – das muss man an dieser Stelle sagen – dieser Einsatz unter schwierigsten Bedingungen stattfindet, in einem der ärmsten Länder dieser Welt. Deswegen kann man es nicht genug betonen, dass wir den 16 deutschen Soldaten, aber auch den 17 000 UN-Soldaten vor Ort Dankbarkeit schulden für das, was sie da Tag für Tag leisten. ({1}) Dankbarkeit allein wird allerdings nicht ausreichen. Wir müssen uns auch um die Betreuung und die Versorgung der Soldaten vor Ort kümmern. Wir sollten unseren deutschen Soldaten eine permanente Kommunikation nach Deutschland ermöglichen. Da besteht durchaus noch Verbesserungsbedarf. Dessen sollte sich das Verteidigungsministerium in den nächsten zwölf Monaten annehmen. Der Offizier hat aber auch betont, dass vor Ort nicht alles perfekt läuft, dass Fehler gemacht werden und dass die Präsenz der UN trotzdem notwendig – manche hier würden wahrscheinlich sagen: alternativlos; ich sage lieber: richtig – ist. Denn der Südsudan macht auch das Dilemma von Peacekeeping-Einsätzen deutlich. Wir können nicht überall sein, wir können nicht alle Menschen im Südsudan schützen. Es gibt derzeit sechs Schutzzonen, in denen 200 000 Menschen Schutz finden. Dennoch hungern über 5 Millionen Menschen im Südsudan, trotz UNMISS-Einsatz. Und obwohl wir das Mandat vor zwei Jahren aufgestockt haben, hat sich – wir haben es eben schon gehört – die Sicherheitssituation im Südsudan kaum verbessert. Das darf aber kein Grund sein, die Mission zu stoppen. Was würde denn passieren, wenn die 17 000 UN-Soldaten – von denen wir ganze 16 beisteuern – aus dem Südsudan abziehen würden? Der Bürgerkrieg würde völlig ungezügelt losbrechen, die Menschenrechtsverletzungen würden sich vervielfältigen, humanitäre Hilfe wäre kaum noch möglich. Der Staatsaufbau, wo er denn noch stattfindet im Südsudan, würde in sich zusammenbrechen und eine Flüchtlingswelle nach sich ziehen, die die Nachbarländer weiter destabilisiert. Meine Damen und Herren, wir geben 1,1 Millionen Euro jährlich für den deutschen Anteil am UNMISS-Einsatz aus, um den Südsudan davon abzuhalten, endgültig ein Failed State zu werden. 1,1 Millionen Euro sind mutmaßlich weniger, als die AfD-Fraktion in dieser Legislaturperiode für Schnittchen ausgibt. ({2}) 1,1 Millionen Euro sind aber eben auch recht wenig, wenn wir uns anschauen, wie viel Effekt wir im Südsudan haben und wie vielen Menschen vor Ort wir das blanke Leben retten können. Dieser Einsatz steht unter Führung der UN und kann deshalb keine bessere Legitimationsbasis haben, als er sie heute hat. Deswegen lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Ohne UN hätte der Südsudan keine Chance auf Frieden, ohne UN wäre humanitäre Hilfe nicht möglich, mit der UN schon. Diese Chance sollten wir den Menschen im Südsudan geben. Die Völkergemeinschaft verlangt von uns einen kleinen Anteil, den wir leisten sollten. Wir als Freie Demokraten sind dazu bereit. Wir stimmen für die Überweisung an den Ausschuss. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marcus Faber. – Nächste Rednerin in der Debatte: Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Gäste! Seit 2013 sind im Südsudan 50 000 Menschen Opfer eines verheerenden Bürgerkrieges geworden, eines Krieges, der von Plünderern, von Saudi-Arabien, aber auch vom Westen befeuert wurde. Auch die Bundesregierung hat, als es um die Abspaltung des Südsudan ging, diese als heilbringende Lösung des Konflikts forciert. Geben Sie zu: Das Völkerrecht war dabei egal. ({0}) Geostrategische und wirtschaftliche Interessen gingen vor; die Menschenrechte waren nachrangig. Die Bevölkerung des Südsudan mit all ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und Frieden wurde dabei zum Spielball. Das Rezept der Bundesregierung war wieder einmal: Militäreinsatz. 2011 kam dann UNMISS, und heute sind 56 Prozent der Gesamtbevölkerung von Hunger betroffen; die Tendenz ist dramatisch steigend. Die Vereinten Nationen haben für Teile des Landes bereits jetzt eine offizielle Hungerkatastrophe ausgerufen. Anstatt den Südsudan, bei dessen Staatengründung Sie Pate gestanden haben, endlich wirklich zu unterstützen, verlängern Sie die Militärmission, verpulvern dabei Geld und klagen gleichzeitig über die Lage vor Ort. Das ist politische Schizophrenie. ({1}) Es ist auch erwiesen, dass sich die humanitäre Lage und die Menschenrechtsverletzungen in den vergangenen Jahren trotz der Anwesenheit der UN-Soldaten verschlimmert haben. Ebenso ist erwiesen, dass die UN-Soldaten die Zivilbevölkerung nicht wirklich schützen. Vergewaltigungen und Folterungen, ja sogar das Verbrennen bei lebendigem Leib fanden unter den Augen von UN-Soldaten statt. Die SOS-Kinderdörfer berichten, dass die Zahl von Kindersoldaten auf einen tragischen Rekord von 19 000 gestiegen ist. Diesen Kindern eine sichere Zukunft zu geben, müsste das Leitmotiv aller Anstrengungen sein. ({2}) Der Grund, dass wir den Einsatz ablehnen, sind nicht die Verfehlungen oder das Versagen einzelner Soldaten, sondern ist das Versagen der Bundesregierung. Schon seit Herrn Strauß fand die Aufrüstung des Sudans statt. Auch Sie haben nicht wirklich genügend Druck ausgeübt, wenn es um Waffenlieferungen ging. Das Morden der machtgierigen Banden vor Ort findet auch mit deutschen Waffen unter Lizenzvergabe statt. Das ist grauenhaft und beschämend. ({3}) Kritische Stimmen von Oppositionellen und Menschenrechtsverteidigerinnen in den Medien werden von der Regierung notfalls zum Schweigen gebracht. Diese Regierung ist ein Teil des Problems und nicht die einzige Lösung. ({4}) Auch im Südsudan geht es wie allzu oft um die Ausbeutung von fremden Bodenschätzen, zum Beispiel Gold. 80 Prozent der riesigen Ölvorräte befinden sich auf südsudanesischer Seite. Wer von diesem Geschäft etwas abhaben möchte, muss mit den Mörderbanden kooperieren. Die Bundesregierung drückt auch hier mal wieder beide Augen zu. Aber das kennen wir ja schon; das tut sie bei der Türkei und Saudi-Arabien ebenso. ({5}) Wenn die Bundesregierung zusammen mit der EU im Rahmen des Better Migration Managements bei der sogenannten Migrationsabwehr mit der südsudanesischen Regierung kooperiert, dann ist das keine Bekämpfung von Menschenrechtsbrüchen, sondern die Bekämpfung von Menschen. ({6}) Für uns Linke sind Menschenrechte universell, und das Völkerrecht ist eben kein Wünsch-dir-Was. Die Menschen im Südsudan brauchen vor allen Dingen eines: praktische humanitäre Hilfe. Die Anrainerstaaten, die die Geflüchteten aufnehmen, müssen dringend unterstützt werden. ({7}) Militärmissionen haben noch nie zu einer Lösung geführt. Wir lehnen die Verlängerung dieses Einsatzes, der die Gewaltspirale nur noch weiter verschlimmert, ab. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Nastic. – Nächste Rednerin: Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man daran zurückdenkt, als vor sieben Jahren der Staat Südsudan gegründet wurde, dann erinnert man sich: Das war von unheimlich viel Euphorie und Hoffnung begleitet, dass das Leid der Menschen dort aufhören könnte. Angesichts eines brutalen und blutigen Bürgerkrieges in dem Land, der seit fünf Jahren andauert, kommen einem die damaligen Hoffnungen wirklich sehr naiv vor. Dieser Bürgerkrieg hat zur Folge, dass Zehntausende ihr Leben verloren haben, dass mittlerweile 4 Millionen Menschen – das muss man sich mal vorstellen: ein Drittel der Bevölkerung! – auf der Flucht sind und dass der Südsudan heute das Land ist, in dem es die meisten Kindersoldaten auf der Welt gibt. Ja, es ist richtig: Die Vereinten Nationen konnten in diesen grauenhaften fünf Jahren im allerbesten Fall immer nur das Allerschlimmste verhindern, jedoch nicht alles, was schlimm war. Aber seit Jahren warte ich bei den Reden der Linkspartei darauf, dass Sie – wenn Sie hier stehen und sagen, es gebe Vergewaltigungen und Morde – uns mal erklären, was eigentlich Ihre Antwort ist. ({0}) Wenn man Ihrer Logik folgt, dann sind es zu wenig Soldatinnen und Soldaten, dann ist das Mandat nicht robust genug. Das passt aber überhaupt nicht zu dem, was Sie hier immer vortragen. Dass die Vereinten Nationen ihre Ziele dort nicht erreichen können, liegt nicht an den Menschen, die sich dort trotz aller Grausamkeit immer wieder engagieren, an den internationalen Helferinnen und Helfern, an den Polizeikräften und an den Menschen, die Teil der Friedensmission sind, an den Soldatinnen und Soldaten. Hilfe und Mitmenschlichkeit werden von den Kriegsparteien oft systematisch unter Feuer genommen. Allein im letzten Jahr sind 28 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet worden. Unser Dank, unsere Anerkennung und unser Respekt gelten all denen, die unter diesen schlimmen Bedingungen nicht aufgeben und mutig ihre Arbeit leisten. ({1}) Dass die Vereinten Nationen aber immer nur das Allerschlimmste verhindern können, hat etwas damit zu tun, dass die internationale Gemeinschaft bei weitem nicht genug tut, und das gilt es endlich zu ändern. So zeigt uns die Lektüre des letzten Berichts der VN-Menschenrechtskommission im Südsudan anhand von sehr konkreten Zeugenaussagen schmerzhaft, wie grausam und rücksichtslos alle Kriegsparteien immer wieder versuchen, ihren Profit und Einfluss mit Gewalt und Brutalität zu erhöhen. Es ist nicht so, dass wir nicht wissen, wer die Befehle zu Mord, Plünderungen, Vergewaltigungen, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gibt. Insofern muss die internationale Gemeinschaft jetzt wirklich dafür sorgen, dass das Sondertribunal für den Südsudan eingerichtet wird, dass man es mit Beratung und Finanzen unterstützt. Ich bin sehr froh, Herr Staatsminister, dass Sie dieses Thema heute hier angesprochen haben. Zur Glaubwürdigkeit gehört aber auch dazu, dass man die Vorwürfe gegen die internationalen Polizeikräfte, denen sexuelle Ausbeutung im Rahmen der Mission vorgeworfen wird, wirklich lückenlos aufklärt und man an dieser Stelle eine Nulltoleranzpolitik fährt. ({2}) Auch wenn es im Rahmen von UNMISS in den letzten Jahren immer wieder zu Verfehlungen und Fehlern gekommen ist, muss man doch feststellen, dass nach wie vor 200 000 Menschen Schutz und Zuflucht in den UN-Camps gefunden haben und ein großer Teil des Personals mit ihrem Schutz betraut ist. Hier sind wir aber beim nächsten Beispiel dafür, dass nicht genug getan wird. Ich erinnere mich an Besuche bei den Vereinten Nationen; Vertreter unterschiedlicher Fraktionen waren gemeinsam in New York. Da hören wir übrigens immer wieder, dass die Bundesregierung offensichtlich in New York erzählt, dass der Bundestag nicht bereit wäre, solche Missionen stärker zu unterstützen. Wenn ich an unsere Debatten der letzten Jahre zurückdenke, stelle ich fest: Es gibt bis in die Opposition hinein große Einigkeit darüber, dass die Mandatsobergrenze mit 50 Soldatinnen und Soldaten, die nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft wird, zu niedrig ist. Wir wären bereit, im Südsudan mehr zu tun. Ich kann an die Regierung nur appellieren: Nehmen Sie dieses Angebot auch endlich an, damit man sich stärker engagieren kann. ({3}) Aktuell betteln die Vereinten Nationen wie jedes Jahr bei ihren Mitgliedstaaten um mehr Gelder für humanitäre Hilfe. Man darf hier doch nicht weiter knausern und geizen. Während die zivile Hilfe die Menschen im Südsudan nicht erreicht, geht der Zustrom an Waffen immer weiter. In diesem Zusammenhang muss man alle Staaten der Vereinten Nationen, die das Waffenembargo gegen den Südsudan verhindern, mit aller Schärfe kritisieren. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Friedensmission der Vereinten Nationen und die Menschen im Südsudan haben nur eine Chance, wenn sich die internationale Gemeinschaft stärker engagiert und mehr Druck auf die Kriegsparteien ausübt, von der Verfolgung der Verbrechen bis hin zu einem weltweiten Waffenembargo. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächste Rednerin in der Debatte: Michaela Noll, CDU/CSU. Ich freue mich. ({0})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geschätzte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon relativ lange über Bundeswehreinsätze gesprochen. Viele Redebeiträge in der Debatte machten deutlich, dass es viele Aspekte gibt, bei denen wir uns deckungsgleich engagieren wollen. Dennoch muss ich sagen, Frau Brugger, Sie haben mit Blick auf die Fraktion Die Linke recht, wenn Sie sagen: Die kritisieren sehr viel, aber die haben keine Lösungsansätze. Herr Kollege Dr. Faber, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Sie die Soldaten in den Fokus gerückt haben. Die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion wissen das noch: Ich war in der letzten Legislaturperiode Mitglied im Verteidigungsausschuss. Deswegen weiß ich, wie wichtig es ist, dass wir respektieren und anerkennen, was die Soldaten fern der Heimat leisten. Wir bekommen relativ wenige Informationen darüber, wie es ihnen dort unten im Südsudan tatsächlich geht. Herr Dr. Faber, Sie haben von einem Gespräch mit einem Soldaten berichtet, der sagte: Es macht Sinn, sich hier zu engagieren, es macht Sinn, dass wir vor Ort sind. – Das widerlegt die Aussage von den Linken, die behaupten, dass es keinen Sinn mache. In diesem Sinne bedanke ich mich an dieser Stelle sehr. ({0}) Es hat mich wirklich irritiert, dass von einer Seite hier kritisch angedeutet wurde, man sollte die Gräueltaten nicht mehr schildern. Wir müssen diese Gräueltaten schildern, ganz einfach deshalb, weil Journalisten zum Teil nicht einreisen können. Letztes Jahr sind 20 ausländische Journalisten daran gehindert worden, einzureisen. Andere Journalisten, die dort leben, werden gefoltert, misshandelt etc. Deswegen bekommen wir keine Nachrichten. Ich halte es für richtig, immer wieder auf die Gräueltaten hinzuweisen. Herr Dr. Faber hat recht: Der deutsche Beitrag ist nicht der größte, aber ein ernstzunehmender. Deswegen müssen wir immer wieder betonen und dezidiert ausführen, warum wir uns im Südsudan engagieren; denn nur dann trägt es unsere Gesellschaft mit, wenn wir unsere Soldaten dorthin schicken. ({1}) Das, was derzeit im Südsudan stattfindet, ist eine humanitäre Katastrophe unfassbaren Ausmaßes. Wenn wir die wenigen Nachrichten verfolgen, die bei uns ankommen, müssen wir leider feststellen, dass der Konflikt anscheinend nicht einfacher wird. Aber mich hat sehr gefreut, dass Staatsminister Annen und der Parlamentarische Staatssekretär Silberhorn gesagt haben, dass wir Hoffnung haben können. Die meisten Verhandlungen sind zwar gescheitert, aber zumindest sitzen die Konfliktparteien jetzt an einem Tisch. Wir versuchen nun, Wege zu gehen, damit die Region irgendwann etwas stabiler wird. Mich macht es fassungslos, wenn ich höre, welche Gräueltaten im Südsudan verübt werden – es ist eben schon angesprochen worden –: Die Menschen werden ausgeraubt, sie werden ermordet, sie hungern oder werden taktisch ausgehungert, und es gibt Massenvergewaltigungen. Diejenigen, die am meisten darunter leiden, sind Frauen und Kinder. 90 Prozent derjenigen, die innerhalb des Landes fliehen müssen, sind Frauen und Kinder. Die meisten Flüchtlinge, die in die Nachbarländer fliehen, sind Frauen und Kinder. Ich finde es gut, dass unsere Bundesregierung ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, die in die Nachbarländer fließen, zum Beispiel nach Uganda, um dort entsprechend zu helfen. ({2}) Eben ist der entsprechende Bericht der Kommission für Menschenrechte angesprochen worden. Es gibt 40 Verantwortliche allein aus Militär und Politik, die schwere Kriegsverbrechen begangen haben. Ich rate denjenigen, die sich dafür interessieren: Lesen Sie den Bericht. Er beschreibt die Hölle auf Erden. Deswegen finde ich es gut, dass jetzt bei uns die Signale ankommen, dass diese Kriegsverbrecher irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden; denn nur dann gelingt es uns, diese Region zu stabilisieren. ({3}) Wenn hier von der einen Seite des Hauses gesagt wird: „Man braucht uns nicht“, entgegne ich: Man braucht uns unbedingt. Die humanitäre Lage ist desaströs. Ohne Militär, ohne Schutzmaßnahmen können wir überhaupt keine humanitäre Hilfe leisten. Was ist denn die Alternative? Aus dem Land hinauszugehen und die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen? Das ist nicht meine Vorstellung. Wir müssen den Menschen, die keinen mehr haben, auf den sie sich verlassen können, helfen. Die Bundesregierung hilft finanziell. Deswegen sage ich – ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, aber das kann ich leider nicht ändern –: ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich auch nicht.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Prozess wird Zeit brauchen. An der einen oder anderen Stelle wird es bestimmt wieder Rückschläge geben. Wir brauchen einen langen Atem. Aber in dieser Region aufzugeben, ist für mich und für uns keine Option. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der Beteiligung an UNMISS. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michaela Noll. – Letzter Redner in der Debatte: Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon von meinen Vorrednern gehört: Wer sich mit der Situation im Südsudan auseinandersetzt, ist geschockt. Fernab der Weltöffentlichkeit erleben wir katastrophale Zustände. Wir sprechen von Afrika, von dem Kontinent, den wir endlich als Kontinent der Chancen sehen sollten und dem wir durch fairen Handel natürlich auch Chancen bieten müssen. Aber welche Chancen, welche Perspektiven, welche Zukunft hat eine Region, in der seit mehreren Jahrzehnten Krieg geführt wird? Welche Perspektiven hat eine Region, wenn 70 Prozent aller Kinder im Südsudan – mehr als 2 Millionen Kinder – nicht in die Schule gehen? Was soll aus einem Land werden, in dem Frauen und Kinder systematisch unterdrückt werden? Was soll aus einem Land werden, wenn nur ein Viertel der Frauen lesen und schreiben kann? Und was soll aus einem Land werden, in dem mehr als 20 Prozent aller Mädchen, die eine Schule besuchen, die Schule wegen einer Schwangerschaft vorzeitig verlassen müssen? Sexuelle Gewalt, Vergewaltigungen und Übergriffe auf Kinder sind leider tägliches Geschehen. Jeder kann sich vorstellen, wie die Zukunft eines Landes aussieht, wenn Generationen unter solchen Bedingungen aufwachsen. Da können wir nicht einfach zuschauen. Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundesregierung den Antrag auf Verlängerung des UNMISS-Mandats eingebracht hat. Natürlich müssen wir uns die Fragen stellen: Was ist die Zielsetzung? Was wurde erreicht? Wie geht es weiter? Wir haben in der Debatte schon viele Fragen gehört. Leider gibt es keine befriedigenden Antworten auf all diese Fragen. Die Friedensprozesse waren bisher nicht von Erfolg gekrönt, aber es gibt Hoffnungsschimmer. Das ist, glaube ich, eine wichtige Erkenntnis, die von den Rednern der Regierung dargestellt worden ist. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, wissen wir, dass ohne diesen Einsatz viele Menschen in einer noch kata­strophaleren Lage wären. Der Schutz der Zivilbevölkerung wäre nicht gegeben, humanitäre Hilfe noch schlechter möglich. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir unsere Beteiligung an UNMISS unvermindert fortführen. Es freut mich, dass es dazu in diesem Hohen Hause überwiegend Zustimmung gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, liebe Kollegin Nastic, ich weiß wirklich nicht, auf welchem Planeten Sie leben. ({0}) Wenn Sie die humanitäre Lage kritisieren, dann müssen Sie erklären, wie Sie sie ohne sicheren Zugang verbessern wollen. ({1}) Ohne Sicherheit ist das auch den Organisationen, die dort humanitäre Hilfe leisten, nicht möglich. Die 28 Toten, die hier angesprochen wurden, sind doch letztendlich ein Beleg dafür, dass das ohne grundlegende Sicherheitsstrukturen nicht funktioniert. ({2}) Meine Damen und Herren, am Beispiel von UNMISS wird auch die wichtige Rolle der Vereinten Nationen im Südsudan deutlich; sie ist hier mehrfach angesprochen worden. Gerade in Zeiten, in denen manche – auch jenseits des Atlantiks – die UNO infrage stellen, ihre Effizienz und Effektivität kritisieren, möchte ich festhalten: Wer sonst als die UNO sollte so eine Mission verantworten? Die UNO ist wichtig. Deshalb unterstützen wir diese Mission und leisten einen wichtigen Beitrag. An dieser Stelle ein großer Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die hier gute Arbeit leisten. ({3}) Dass es Hoffnungsschimmer gibt, ist in dieser Debatte schon dargestellt worden. Mir ist zum Schluss meiner Rede wichtig, auch das weitere Engagement Deutschlands herauszustellen. Unser Engagement umfasst in den Zuständigkeiten von Auswärtigem Amt und BMZ Maßnahmen in den Bereichen Mediation/Versöhnung, es gibt ein Rechtsstaatsprogramm, humanitäre Hilfsmaßnahmen in nicht unerheblichem Maße sowie viele Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Dies alles ist wirklich sehr wichtig, weil die Region Ostafrika weltweit mit die höchsten Zahlen an Flüchtlingen und intern Vertriebenen aufweist. Das betrifft natürlich auch uns. Der Kontinent der Chancen darf nicht alleingelassen werden. Die Beteiligung deutscher Soldaten an UNMISS ist daher ein wichtiger Baustein. Ein weiteres Abgleiten Südsudans muss verhindert werden. Deswegen verdient die Weiterführung dieser Friedensmission unsere vollste Unterstützung. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Erndl. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Slack, Skype, Facebook, WhatsApp, iMessage, Face­time, Google, Google-Hangout, Wikis, Clouds, Blackberry, Outlook usw. usf., wissen Sie, was diese Dinge gemeinsam haben? Es gab sie 1994 noch nicht. 1994 schrieben sich die allermeisten Menschen noch keine E-Mails, surften nicht im Internet, mobiles Arbeiten gab es kaum. Das Smarteste an Telefonen war, wenn sie keine Wählscheibe mehr hatten. ({0}) 1994 trat auch das heutige deutsche Arbeitszeitgesetz in Kraft. Die Welt hat sich seitdem verändert. Wir haben viel mehr Freiheiten, wie, von wo, auch wann wir arbeiten. ({1}) Wir leben im Jahr 2018, aber unser deutsches Arbeitszeitgesetz ist noch immer aus dem vorigen Jahrhundert. Wir finden, das kann so nicht bleiben. ({2}) Was heißt das ganz konkret im Alltag? Freunde berichten mir, dass sie das Büro nachmittags verlassen, am Abend Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen, solange diese noch wach sind, und dann abends um 22 oder 23 Uhr gerne noch eine dienstliche E-Mail schreiben oder auch nur lesen wollen. Wenn sie das heute so machen, dann dürfen sie am nächsten Morgen ihre Arbeit vor 10 Uhr eigentlich nicht wieder aufnehmen, ansonsten verstoßen sie gegen das Arbeitszeitgesetz. Ganz ehrlich: Wer macht denn das? Meine These ist: Dieses Gesetz wird in Deutschland schon heute millionenfach ignoriert. ({3}) Aber gerade wenn es um Gesetze geht, durch die Arbeitnehmerrechte geschützt werden, dürfen wir nicht zulassen, dass sie ignoriert werden. In einem Rechtsstaat müssen Gesetze gelten. Das heißt aber auch: Wenn diese veraltet sind, dürfen wir das nicht ignorieren, sondern müssen sie modernisieren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Frau Krellmann von der Linken?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von der Kollegin Krellmann immer gerne.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Vogel, wir kennen uns nun schon längere Zeit und haben in der Vergangenheit Gelegenheit gehabt, ab und zu einmal zusammenzuarbeiten. Die Forderung, die Sie in Ihrem Antrag stellen, und die Begründung, die dort zu lesen ist, sind identisch mit den Forderungen der BDA und des BDI, vom 8-Stunden-Tag wegzugehen und die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden festzulegen. Ich habe in diesem Zusammenhang folgende Fragen an Sie: Erstens. Ist Ihnen klar, dass Sie damit Schutzrechte abbauen, die im Grunde historisch erkämpft wurden? Dabei geht es nämlich nicht nur um alte Gesetze. Für diese Schutzrechte wurde historisch lange gekämpft. Zweitens. Ich selbst habe eine Kleine Anfrage zur Kontrolle des Arbeitszeitgesetzes gestellt. Dabei ist he­rausgekommen, dass bei der Hälfte der Kontrollen der Arbeitsschutzbehörden festgestellt wurde, dass gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen wurde. Wollen Sie mit Ihrem Antrag jetzt das, was in der Vergangenheit falsch war, legalisieren, damit es keine Rolle mehr spielt, oder was wollen Sie eigentlich? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das kann jetzt der Herr Vogel erklären.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das tue ich gerne. – Es ist ganz einfach: Wir wollen uns an der europäischen Arbeitszeitrichtlinie orientieren. Sie gibt – deswegen wird auch nichts abgebaut, Frau Kollegin Krellmann – genau dieselbe wöchentliche Arbeitszeit vor wie das deutsche Recht, sie lässt nur eine freiere Einteilung unter der Woche zu, und das ist aus unserer Sicht ein vernünftiger Weg. ({0}) Frau Kollegin, niemand soll in Summe mehr arbeiten müssen oder weniger Pause machen dürfen. Die Einteilung soll aber freier sein als heute; denn ein moderner Arbeitsmarkt braucht, ehrlich gesagt, auch moderne Regeln. Mit Regeln aus dem analogen Zeitalter werden wir die digitale Zukunft nicht gestalten können. Deshalb müssen wir hier eine Veränderung vornehmen. ({1}) Ich habe jetzt im Koalitionsvertrag von Union und SPD gelesen, dass Sie bei diesem Thema Experimentierklauseln wollen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das wird bei weitem nicht ausreichen. Stellen wir uns das doch einmal konkret vor! Welches Unternehmen und welcher Betriebsrat stellt denn das Arbeitszeitsystem für Hunderte Beschäftigte um, wenn der Gesetzgeber ihm sagt: „Ich weiß gar nicht, ob das in einiger Zeit noch gilt; schauen wir mal“? – Die Leute brauchen doch eine echte Erneuerung und Rechtssicherheit. Nur dann wird es auch eine Veränderung geben, und deswegen reicht eine Experimentierklausel nicht aus. ({2}) Ich habe es gerade schon gesagt: Aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, gibt die europäische Arbeitszeitrichtlinie einen klugen Rahmen vor, der mehr Freiheiten für das Arbeiten im digitalen Zeitalter gibt und gleichzeitig Arbeitnehmerrechte schützt. Wir wissen aber, dass unsere Position, wonach die europäische Arbeitszeitrichtlinie einfach eins zu eins ins deutsche Recht übertragen werden sollte, hier in diesem Haus, im Deutschen Bundestag, aktuell leider noch keine Mehrheit hat. Deshalb legen wir hier auch nicht die FDP-Position pur vor, sondern ein faires Kompromissangebot. Wir sagen nämlich: Die europäische Arbeitszeitrichtlinie muss dauerhaft und rechtssicher – nicht per Experimentierklausel – ausgenutzt werden können, aber nur dann, wenn auch die Tarifpartner in einer Branche, also die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften, zugestimmt haben. Das schließt jeden Missbrauch, den Sie befürchten mögen, sicher aus. Diesen Schritt – zumindest als ersten Schritt – müssen wir gehen. Wer sich dem in den Weg stellt, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, der muss begründen, warum er sich dem Wunsch der Menschen nach mehr Selbstbestimmung in den Weg stellt. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, ich spreche Sie direkt an: Was wir hier vorlegen, ist exakt das, was wir im Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen vereinbart haben. Das, was ich mit Karl-Josef Laumann persönlich verabredet habe, müsste doch auch für die CDA akzeptabel sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({4}) Ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe vor zwei Tagen mit Faszination wahrgenommen, dass in dem von Ihnen geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales Staatssekretär Albrecht die Abschaffung der Kernarbeitszeit verkündet hat. ({5}) Es soll ab jetzt möglich sein, dass die Mitarbeiter in einem Korridor zwischen 6 und 22 Uhr ihre Arbeit individuell und flexibel gestalten. Wir sollten es möglich machen, dass die Mitarbeiter in einem Bundesministerium das wirklich selbstbestimmt ausnutzen können, ohne gegen Gesetze zu verstoßen. ({6}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde! Lassen Sie diese Mutlosigkeit in Form der Experimentierklausel hinter sich! Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf, dem der Freien Demokraten, zu, und gehen wir einen großen Schritt für die Modernisierung des Arbeitsmarkts, die wir in unserem Land dringend brauchen! Auf die weitere Debatte freue ich mich. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Vogel. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich einen ehemaligen Kollegen begrüßen. Herzlich willkommen, Herr Schiewerling. ({0}) Wir alle kennen Sie. Schön, dass Sie bei dieser Debatte dabei sind. Wer Rückfragen hat, kann sich ja an Herrn Schiewerling wenden. Nächster Redner in der Debatte: Torbjörn Kartes für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Arbeitswelt befindet sich in Zeiten der Digitalisierung zweifelsohne in einem Umbruch. Wir sind von einem immer stärker werdenden demografischen Wandel betroffen. Wir wissen, dass die Herausforderung, Fachkräfte zu finden, heute schon immens groß ist und weiter zunehmen wird. Gleichzeitig werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Recht immer selbstbewusster, wenn es gilt, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Es ist als Gesetzgeber unsere Aufgabe, diese Vereinbarkeit zu unterstützen, weil wir wollen, dass in diesem Land mehr Kinder auf die Welt kommen und sich Paare vor allen Dingen nicht gegen Kinder entscheiden müssen, ({0}) weil es aus beruflichen Gründen gerade nicht geht. ({1}) Es gibt für uns also durchaus etwas zu tun. ({2}) Das gilt auch für unser Arbeitszeitgesetz. Ich möchte auf das vorhin genannte Beispiel ganz kurz eingehen. Klar ist: Es ist immer noch so, dass nach dem Arbeitszeitende grundsätzlich eine Ruhezeit von elf Stunden einzuhalten ist. Das wird heute der Realität vieler Familien – das sehe ich auch so – nicht mehr gerecht. Das gilt insbesondere dann, wenn wir wollen, dass Mütter und Väter am Nachmittag nach Hause gehen, ({3}) mit den Kindern spielen und sie ins Bett bringen, aber in den Abendstunden, wenn das geht – man muss mobil arbeiten können; für viele ist das kein Ansatz, aber bei manchen geht das –, noch arbeiten. Wenn sie im Anschluss eine Ruhezeit von elf Stunden einhalten müssen, ist das in der Praxis so nicht möglich. Ich glaube, dass wir in der Lage sind, diese Regelung entsprechend anzupassen. ({4}) Es ist klar, dass die Verfasserinnen und Verfasser des Arbeitszeitgesetzes vor Jahrzehnten daran noch nicht gedacht haben können. Ich sage Ihnen aber auch ganz deutlich: Für uns ist wichtig, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien auch einmal zur Ruhe kommen ({5}) und Ruhezeiten weiter eingehalten werden. ({6}) Bei aller notwendigen Flexibilisierung müssen wir also gleichfalls darauf achten, dass wir den hohen Standard unseres Gesundheits- und unseres Arbeitsschutzes nicht gefährden. Ich glaube, das genau ist der Spagat. Wir wissen, dass wir unsere Arbeitszeit flexibilisieren müssen. ({7}) Wir wissen aber auch, dass wir dies behutsam tun sollten. Dies bedeutet auch, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter zu schützen, manchmal auch vor sich selbst. ({8}) Wir als Union sind schon länger der Auffassung, liebe Kollegen von der FDP – dafür brauchen wir Ihren Gesetzentwurf heute nicht –, dass das Arbeitszeitrecht so zu modernisieren ist, dass die zusätzlichen Spielräume zur Flexibilisierung, ({9}) wie sie die europäische Arbeitszeitrichtlinie eröffnet, in unserem Land besser genutzt werden. Die Forderung nach mehr Gestaltungsspielraum bei der Arbeitszeit hat daher konsequenterweise Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Auch wir halten es für einen guten Weg, über Tariföffnungsklauseln neue Wege zu gehen. Für uns stellt sich aber die Frage, wie weit diese Spielräume dann tatsächlich gehen sollen und wie dafür der richtige, – ich sage einmal, – Rahmen aussieht. Ist es zum Beispiel richtig, dass bei einer möglichen Verkürzung von Ruhezeiten überhaupt keine Untergrenze mehr vorgesehen ist? ({10}) Gleiches gilt für die Frage, ob wir auf eine werktägliche Höchstarbeitszeit gänzlich verzichten oder aber bei stärkerer Orientierung an der wöchentlichen Höchstarbeitszeit dennoch eine Flexibilisierung bei einer höheren Höchstarbeitszeit am Tag zulassen sollten. Ich kann mir vorstellen, dass es dann, wenn wir diesen Weg gemeinsam mit der SPD gehen, sinnvoll wäre, als Gesetzgeber zu sagen, was wir aus Sicht des Gesundheitsschutzes für vertretbar halten, und sich die Tarifpartner hieran orientieren können. Ich glaube, dass so eine Regelung mehr Aussicht auf Erfolg hat und dann tatsächlich auch genutzt wird. ({11}) Ich komme zum Ende. Die unterschiedlichen Gesetzgebungsvorhaben, die wir in den letzten Wochen schon gesehen haben, zeigen, welche Bandbreite wir hier im Deutschen Bundestag haben: von den Linken, die die Wochenarbeitszeit auf maximal 40 Stunden begrenzen wollen, bis hin zu den Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die zwar nicht regieren möchten, aber heute ganz dringend einen Beitrag zur Flexibilisierung leisten möchten. So recht passt das nicht zusammen. Das wissen die Menschen auch, glaube ich. Daher ist es gut, dass wir jetzt eine Koalition haben, die Verantwortung für dieses Land übernimmt. Ich kann den Menschen, insbesondere den jungen Familien, versichern, dass wir hierzu mit Augenmaß eigene Vorschläge machen werden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern und unser Arbeitszeitrecht insgesamt flexibler zu gestalten. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Kartes. – Nächste Rednerin: Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihr Gesetzentwurf erinnert mich stark an das Jahr 2009. Die FDP hatte damals ganz schnell mit der CDU/CSU die sogenannte Mövenpick-Steuer durchgeboxt ({0}) und damit vielen Hoteliers durch eine drastische Senkung der Umsatzsteuer ein richtig tolles Geschenk gemacht. Wenig später kam dann aber heraus, dass die FDP durch großzügige Spenden in Millionenhöhe des Besitzers der Mövenpick-Hotelkette, August von Finck, wohl dazu motiviert wurde. ({1}) Aus der FDP wurde die Mövenpick-Partei. ({2}) Offensichtlich ist sie es geblieben. Denn auch heute greift die FDP mit ihrem Gesetzentwurf wieder die heftigen Wünsche ihrer Klientel aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe auf. Doch diesmal wird es kein grünes Licht geben; denn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, sind ja nicht in Regierungsverantwortung und können Ihre Gesetzesvorhaben somit nicht umsetzen. ({3}) Das haben Sie vermasselt. Pech für Ihre Klientel. Glück für die Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das möchte ich nicht. ({0}) Denn was hätte die Gesetzesänderung der FDP zur Folge, meine Damen und Herren? Die in unserem Arbeitszeitgesetz festgelegte tägliche Höchstarbeitszeit soll durch eine wöchentliche Arbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden ersetzt werden. Maßgeblich ist dann lediglich die Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitseinsätzen. Wer rechnen kann, weiß: Elf Stunden Ruhezeit bedeuten 13 Stunden Arbeit abzüglich der Pausen. Multipliziert mit sechs Arbeitstagen kommt man schließlich auf bis zu 78 Stunden in der Woche. ({1}) Dazu sagen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ganz klar Nein. ({2}) Natürlich brauchen wir neue Wege beim Thema Arbeitszeit. Doch dabei müssen wir die Flexibilitätsbedürfnisse von Unternehmen und Beschäftigten berücksichtigen. Zum Beispiel wünschen sich mehr als die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer laut „Arbeitszeitreport Deutschland 2016“ eine Verringerung ihrer Arbeitszeit. Sie wollen ferner mitbestimmen, zu welcher Uhrzeit ihre Arbeit beginnt. Viele, auch die Gewerkschaften, fordern darüber hinaus ein Recht auf Nichterreichbarkeit und ein Recht auf Telearbeit. Telearbeit etwa kann Menschen mit Behinderungen oder Menschen aus strukturschwachen Gebieten vollkommen neue Chancen eröffnen. Das sind gute Perspektiven. Aber ich sage auch: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Durch Telearbeit kann die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben, Arbeit und Freizeit, Arbeitsplatz und Wohnung verschwimmen und damit das Recht auf Nichterreichbarkeit konterkariert werden. Sie sehen schon an diesem kleinen Beispiel: Es gibt keine einfachen Antworten. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb vereinbart, in tarifgebundenen Unternehmen Experimentierräume zu schaffen, in denen neue Arbeitszeitmodelle erst einmal zeitlich befristet erprobt und wissenschaftlich begleitet werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der richtige Weg. ({3}) Mal eben mit einem Federstrich der FDP unser bewährtes Arbeitszeitgesetz aushebeln zu wollen, ist der falsche Ansatz. ({4}) Denn wen würde die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit treffen? Sicherlich nicht die Gutverdienenden, die sich nach langer Arbeit Erholung im fremdgeputzten Haus und in Wellness- und Verwöhntempeln gönnen können! ({5}) Nein, es wären die 4 Millionen Beschäftigten, die schon heute an Sonntagen schuften, die fast 3 Millionen Nachtarbeiter, die knapp 7 Millionen Menschen in den Spätschichten und alle diejenigen, die trotz harter Arbeit ihr Leben mit miesen Löhnen bestreiten müssen und keine andere Wahl haben. Die würde es treffen, meine Damen und Herren. ({6}) Schon diese Zahlen zeigen, dass unser deutsches Arbeitszeitgesetz durchaus Flexibilität ermöglicht. Schon heute können Beschäftigte ständig 48 Stunden in der Woche arbeiten. Sogar 60 Stunden in der Woche sind möglich, wenn Pausenzeiten beachtet und die Überstunden durch Freizeit ausgeglichen werden. Auch im Ministerium – was Sie angeführt haben, Herr Vogel – ist das im Rahmen unseres gültigen Arbeitszeitgesetzes durchaus möglich. Wohin immer noch mehr Flexibilität führt, erkennen wir sehr deutlich, wenn wir uns die Gesundheitsrisiken der Beschäftigten anschauen. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Gefahr eines Arbeitsunfalls nach acht Stunden Arbeit stark zunimmt. Und falls Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, jetzt denken, dass man sich am Schreibtisch vor dem Computer nicht verletzen kann, sage ich Ihnen, dass die psychischen Erkrankungen die Staublunge der heutigen Dienstleistungsgesellschaft sind. ({7}) Das zeigt sich daran, dass sich die Zahl der Krankheitstage aufgrund von Burn-out-Erkrankungen in den letzten Jahren verzwölffacht hat.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit!

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das, meine Damen und Herren, sollte auch der FDP zu denken geben. Das Arbeitszeitgesetz ist ein Arbeitsschutzgesetz, und das, meine Damen und Herren, muss es bleiben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Johannes Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Hiller-Ohm, das will ich nicht so stehen lassen, sondern drei kurze Bemerkungen machen. Erstens. Ich finde es enttäuschend, dass Sie offenbar kenntnisfrei mit Blick auf den konkreten Gesetzentwurf gesprochen haben. ({0}) Denn die Behauptung, die wöchentliche Arbeitszeit irgendeines Arbeitnehmers würde sich dadurch verändern, ist schlicht falsch und auch Irreführung der Öffentlichkeit. ({1}) An der wöchentlichen Arbeitszeit ändert sich nichts. Es geht nur um die Verteilung unter der Woche. Zweitens. Wir legen hier nicht einmal eins zu eins die europäische Arbeitszeitrichtlinie vor, nach der das gerade Gesagte gelten würde, sondern wir stellen das in diesem Gesetzentwurf auch noch unter Tarifvorbehalt. Ich frage mich deshalb: Welches Misstrauen haben Sie eigentlich gegenüber den Gewerkschaften in diesem Land? Das ist schon sehr bemerkenswert. ({2}) Drittens und letztens. Das hat mich wirklich verstört zurückgelassen. Wenn Sie ernsthaft glauben, dass das ein Thema ist, das nur Unternehmer und Arbeitgeber in diesem Land bewegt, dann frage ich Sie: Wann haben Sie zuletzt mit Arbeitnehmern gesprochen? ({3}) En masse sprechen und schreiben uns Arbeitnehmer an, die mobiles Arbeiten und andere moderne Arbeitsmöglichkeiten nutzen wollen und wissen, dass sie damit mit dem Arbeitszeitgesetz in Konflikt geraten. Ich finde, das können wir nicht so lassen; denn an Gesetze muss man sich halten. Deswegen gehören sie modernisiert, wenn sie veraltet sind. ({4}) Aber es macht mir ernsthaft Sorgen, welchen Kontakt die SPD zur Arbeitnehmerschaft in diesem Land hat, ({5}) wenn Sie der Ansicht sind, dass es hier nur um Unternehmerinteressen gehen würde. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Vogel. – Frau Hiller-Ohm, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihre Unterstellung, ich hätte Ihren Gesetzentwurf nicht gelesen, ist eine Unverschämtheit, muss ich sagen. ({0}) Und es ist genauso eine Unverschämtheit, mir zu unterstellen, ich hätte keine Kenntnisse über die Bedürfnisse und Wünsche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das ist genauso eine Unverschämtheit, und Sie sollten es sich eigentlich ersparen, mit Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus so umzugehen bzw. so etwas zu unterstellen. ({1}) Ich habe das mit Ihnen überhaupt noch nicht gemacht, dass ich Ihnen Unwissenheit oder Ähnliches unterstellt hätte. – So viel zum einen. Zum anderen räumen wir sehr wohl Experimentierräume ein. ({2}) Wir wollen eben schauen: Wo können wir den Bedürfnissen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entgegenkommen? Das halten wir für sehr wichtig, weil wir natürlich auch sehen, dass es hier Wünsche gibt, die vielleicht nicht mit unserem Arbeitszeitgesetz in Einklang sind. Deshalb wollen wir diese Experimentierräume öffnen. ({3}) Ich warne aber davor, dass wir das Arbeitszeitgesetz grundsätzlich öffnen, so wie Sie es wollen. Denn Sie sagen zwar, dass es bei 48 Wochenstunden bleiben soll; aber Sie haben dabei vergessen, dass es in Ihrem Gesetzentwurf heißt: „durchschnittlich 48 Stunden“. Was heißt denn „durchschnittlich“? Das können 50, 60 oder auch 78 Stunden sein. ({4}) „Durchschnittlich“ ist doch ein Gummibegriff. Vielleicht sollten Sie selber Ihren Gesetzentwurf einmal genau lesen. ({5}) Das ist doch das Schlimme: dass Sie den Menschen Sand in die Augen streuen und dabei unser Arbeitszeitgesetz massiv aus den Angeln heben wollen. Dazu sagen wir Nein. Das wollen wir nicht. Das haben die Menschen nicht verdient. Vor allen Dingen die Menschen, die im Niedriglohnbereich arbeiten, würde Ihre Regelung treffen. Diese Menschen müssen schon heute total flexibel sein. Was sollen sie denn noch machen? Da muss es doch eine Grenze geben. Damit muss Schluss sein. Dabei hilft es nichts, wenn Sie von Digitalisierung reden. ({6}) Das ist überhaupt nicht ausschlaggebend. Die Arbeitszeit, also die Zeit, die ein Mensch am Tag arbeiten kann, ist entscheidend und nicht, wie viel Digitalisierung wir haben. ({7}) Der Mensch und sein Schutz müssen im Mittelpunkt stehen. ({8}) Nicht die Gewinnmaximierung von Unternehmen darf Vorrang haben; das muss doch klar sein. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank für diese Kurzinterventionen. Das wird eine spannende Debatte im weiteren Verlauf. Nächster Redner: Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten möchte gern die Arbeitszeiten flexibler gestalten. Wenn Flexibilität auf der Verpackung steht, hört sich das zuerst einmal gut an. Wir müssen aber natürlich die Verpackung aufmachen und uns den Inhalt etwas genauer anschauen, gerade wenn sie von der AfD kommt ({0}) – warum ich mich gerade versprochen habe, erkennen Sie gleich –, also: gerade wenn sie von der FDP kommt, von der wir erst einmal nicht erwarten, dass in erster Linie Arbeitnehmerinteressen die Triebfeder eines solchen Gesetzentwurfs sind. Wie ich bereits zur Vorlage der Fraktion Die Linke, die zum Ziel hat, die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu reduzieren, ausführte, sind starre Arbeitszeitmodelle nicht mehr zeitgemäß; da gebe ich Ihnen völlig recht. Besonders kleine und mittelständische Betriebe müssen auf schwankende Nachfrage und kurzfristige Trends mit flexiblem Personaleinsatz reagieren können. ({1}) Im Dienstleistungssektor und in Unternehmen, die besonders von der Digitalisierung betroffen sind, wird eine Flexibilisierung der täglichen Arbeitszeit gebraucht. Daher freut es mich besonders, dass die Fraktion der FDP scheinbar meinen vorgenannten Ausführungen gut zugehört hat und jetzt dazu einen Gesetzentwurf einbringt. ({2}) Bei genauer Betrachtung des Gesetzentwurfs der FDP fällt aber natürlich schnell auf, dass die FDP auf der einen Seite von Flexibilität und Zukunft redet und auf der anderen Seite mit dem Ausverkauf seit Jahren garantierter Arbeitnehmerrechte beginnt. ({3}) Liebe Kollegen der FDP, Sie müssen schon beide Seiten der Medaille betrachten, wenn Sie mit Ihrer Vorlage Erfolg haben wollen. Es liegt in unserer Verantwortung, das Arbeitsrecht so zu gestalten, dass die Arbeitnehmer dauerhaft gesund bleiben. ({4}) Daher ist die Festlegung von regelmäßigen Ruhezeiten und Pausen eminent wichtig. Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass die amerikanische National Health Foundation 2016 Richtlinien veröffentlicht hat, aus denen hervorgeht, wie viel Schlaf ein Mensch am Tag braucht. Das sind sieben bis neun Stunden Mindestruhe. Die reine Länge der Arbeitszeit pro Woche, wie von Ihnen gefordert, ist somit kein guter Indikator für die subjektive Belastung des Arbeitnehmers. Bei der Flexibilisierung muss zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen, Positionen und Arbeitsaufgaben differenziert werden. Grundlegend kann man sagen, dass eine bessere Abstimmung der Ruhe- und Arbeitszeiten mit dem sozialen Umfeld des Arbeitnehmers wünschenswert wäre. Da, wo es möglich ist, sollten individuelle Arbeitszeitregelungen unter Beachtung der gesetzlichen und der medizinischen Rahmenbedingungen Niederschlag finden. ({5}) Jede Art von allgemeiner Flexibilisierung wird immer Gewinner und Verlierer hervorrufen; das wissen Sie genauso gut wie ich. Daher sollte, werte Kolleginnen und Kollegen der FDP, jede weitere Arbeitszeitflexibilisierung eine Verbesserung der Schnittmenge aus Arbeitsanforderung und Arbeitnehmerinteressen erreichen. Das bedeutet, dass man eine anpassungsfähige Flexibilisierung benötigt. Die Arbeitsaufgaben der Arbeitnehmer und das betriebliche Umfeld müssen dafür geeignet sein. Arbeitszeitflexibilisierung sollte immer im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfolgen. ({6}) Eine Aufhebung der Ruhezeiten steht allerdings für die AfD nicht zur Debatte. Jeder Arbeitnehmer muss das Recht haben, sich gut und ausreichend lange zu erholen, ganz egal wo und wie er arbeitet. Wir als AfD werden aber auch unsere Augen vor der Realität nicht verschließen. Wir wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt stärken und zukunftsfähig machen. Daher stimmt die Fraktion der AfD der Überweisung des Gesetzentwurfs an den Ausschuss zu. Aber eines, liebe Kollegen, kann ich Ihnen schon vorher sagen: Wenn Sie die Zustimmung der AfD-Fraktion zu einer Neuregelung der Arbeitszeit haben möchten, dann müssen Sie ein Paket schnüren, auf dem nicht nur „Flexibilität“ steht, sondern dann muss dieses Paket auch das Prädikat „100 Prozent arbeitnehmerfreundlich“ haben. Danke schön. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Susanne Ferschl für die Fraktion Die Linke. ({0}) Sie kommt aus dem Allgäu.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz für Beschäftigte. Wer es aufweicht, zerstört damit diesen Schutz. ({0}) Lange Arbeitszeiten und fehlende Ruhezeiten machen krank. Das behaupten nicht die Linken, sondern das sagt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Lange Arbeitszeiten erhöhen die Unfallgefahr. Nach acht bis neun Stunden Arbeit steigt das Risiko für Arbeitsunfälle, im Übrigen auch für tödliche, exponentiell an. „Wer mehr als acht Stunden am Tag arbeitet, lebt gefährlicher.“ Das behaupten nicht wir; das sagt der Leiter des Instituts für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen, führt das zu mehr psychischer Belastung, und die Burn-outs nehmen zu. ({1}) Das behaupten nicht wir; das sagt der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte. Die FDP möchte aber den Gesundheitsschutz der Deregulierung und der Flexibilisierung opfern. Der Gesetzentwurf zeigt ganz deutlich, wer der FDP die parlamentarischen Initiativen diktiert: Es sind Wirtschaftslobbyisten und Arbeitgeberverbände. ({2}) Ihr Wahlspruch ist wahrscheinlich – frei nach Kurt Tucholsky –: Wir wollen freie Wirtschafter sein! Wir diktieren die Preise und die Verträge –  kein Schutzgesetz sei uns im Wege. ({3}) Es ist zynisch, wenn Sie behaupten, es gehe um mehr Freiräume für Beschäftigte. In Wahrheit stehen nur die wirtschaftlichen Interessen im Mittelpunkt. ({4}) Wenn es Ihnen um mehr Freiräume ginge, dann sollten Sie hier einen Antrag auf Ausweitung der Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte stellen. ({5}) Arbeitgeber entscheiden, wann gearbeitet wird und wann nicht. Beschäftigte haben dabei kaum ein Mitspracherecht. Ich weiß nicht, wer von Ihnen betriebliche Erfahrung hat. Ich spreche sehr häufig mit Arbeitnehmern. Ich gehe einfach in den Betrieb, wo ich seit 20 Jahren Betriebsrätin bin, und rede mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich kann Ihnen sagen: Es gibt Hunderte von Arbeitszeitmodellen: Ein-Schicht-, Zwei-Schicht-, Drei-Schicht-, Vier-Schicht-Modelle, Frühschichten, Spätschichten, kurze Schichten, lange Schichten, Rufbereitschaft, Herbeiholung – alles möglich im Rahmen des bestehenden Arbeitszeitgesetzes. Es gibt zig Ausnahmeregelungen. Wer behauptet, dass das Arbeitszeitgesetz starr ist, der erzählt Märchen. ({6}) Sie sprechen immer von Digitalisierung, von hochmobilen Angestellten, die von überall aus arbeiten. Es geht aber um ein Arbeitszeitgesetz für alle Beschäftigten. Es geht auch um die Pflegekraft im Krankenhaus. Es geht auch um den Kellner in der Gastronomie, und es geht auch um die Arbeiterin an der Linie. Sie kennen kein Homeoffice, sondern nur Schichtarbeit, und sie sind zum Teil froh, wenn sie überhaupt zu ihren Pausen abgelöst werden. ({7}) Nach Ihrem Vorschlag müssten sie auf Weisung des Arbeitgebers auch wieder 12 oder 14 Stunden arbeiten. ({8}) Die Mehrheit der Beschäftigten ist von diesen hochmobilen Arbeitsplätzen letztendlich nicht betroffen; aber die scheinen für Sie ja gar nicht zu existieren. ({9}) Wir Linke streiten für Arbeitszeiten, die selbstbestimmt und an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sind. ({10}) Wir streiten für eine gerecht verteilte Arbeitszeit. Es sollte nicht so sein, dass die einen bis zum Umfallen arbeiten, während die anderen in der Teilzeitfalle stecken. Deswegen brauchen wir auch keine Ausweitung, sondern – im Gegenteil – eine Reduzierung der Höchstarbeitszeiten. ({11}) Das wäre modern und nicht der Rückfall ins 19. Jahrhundert, den Sie provozieren, indem Sie ein Schutzgesetz kaputtmachen, das sich die Gewerkschaften über Jahrzehnte erkämpft haben. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Nächste Rednerin: Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Sie ist wieder da, die FDP, ({0}) so wie wir sie kennen. Heute geht es um das Arbeitszeitgesetz. Die Begründung hört sich modern an. ({1}) Tatsächlich geht es aber nur um längere tägliche Arbeitszeiten, und zwar über zehn Stunden hinaus, und um die Verkürzung der Ruhezeiten, und zwar ohne eine Untergrenze. Das ist fatal. Das kommt in einer Zeit, in der in Skandinavien einige Unternehmen erfolgreich den Sechsstundentag erproben. Die FDP aber will die Gesellschaft flexibilisieren, damit sie in die digitale Arbeitswelt passt. Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen, dass die Arbeit besser in das Leben der Beschäftigten passt. ({2}) Fakt ist: Die Arbeitswelt hat sich beschleunigt, die Arbeitsintensität ist gestiegen. Wenn es heute um Arbeitsschutz geht, dann geht es insbesondere um die Arbeitszeit. Es ist nun einmal wissenschaftlich erwiesen, dass längere Arbeitszeiten und verkürzte Ruhezeiten krank machen können, weil sich die Beschäftigten nicht ausreichend erholen können. Menschen brauchen sieben bis neun Stunden Schlaf. Eine Ruhezeit ohne Untergrenze geht deshalb überhaupt nicht. Beim Arbeitszeitgesetz geht es um die Menschen, um Gesundheit und um Lebensqualität. Das sollten Sie, die FDP, endlich ernst nehmen. ({3}) Für uns ist das Arbeitszeitgesetz auch noch aus einem anderen Grund wichtig: Gesellschaft funktioniert nur, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sich einbringen und mitgestalten. Dafür brauchen die Menschen Zeit – für Familie, Freunde, Ehrenamt, Verbände oder Kirchen. Deswegen brauchen wir das Arbeitszeitgesetz, einen zeitlichen Rahmen, wann die Mehrzahl der Beschäftigten nicht arbeitet. Das Arbeitszeitgesetz ist auch deswegen notwendig, weil es diesen verbindlichen Freiraum für gesellschaftliches Leben schafft. Das ist wichtig; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit. ({4}) Jetzt sagt die FDP, es gehe ja gar nicht darum, dass die Menschen länger arbeiten sollen. Wie wollen Sie das verhindern, wenn Sie längere tägliche Arbeitszeiten ermöglichen? – Sie sagen auch, es gehe nicht darum, dass alle länger arbeiten sollen, sondern nur Branchen mit Tarifvertrag. Aber es ist doch bekannt, dass Öffnungsklauseln genutzt werden. Natürlich wird in Tarifverhandlungen Druck ausgeübt nach dem Motto: Mehr Lohn gegen flexiblere Arbeitszeiten. Das Arbeitszeitgesetz soll auch für nichttarifgebundene Betriebe gelten – das verstehe ich überhaupt nicht –, und dann auch noch ohne die Einwilligung der Beschäftigten. ({5}) Damit machen Sie die Tür ganz weit auf, und zwar nur für die Arbeitgeber; denn die Beschäftigten stehen immer in einem Abhängigkeitsverhältnis. So werden bei der Digitalisierung vor allem die Arbeitgeber gestärkt. Genau das ist für uns nicht akzeptabel. ({6}) Die FDP spricht nur von Selbstbestimmung, wir aber haben die Konzepte; denn bei uns stehen tatsächlich die Wünsche der Beschäftigten im Mittelpunkt. Selbstbestimmung entsteht, wenn die Beschäftigten mehr Einfluss auf den Umfang ihrer Arbeitszeit nehmen können, wenn beispielsweise Eltern ihre Arbeitszeit auf jeweils 32 Stunden reduzieren können, damit sie partnerschaftlich das Familienleben organisieren können. Dazu gehört auch das Rückkehrrecht auf Vollzeit. Selbstbestimmung entsteht, wenn die Beschäftigten auf die Lage ihrer Arbeitszeit Einfluss nehmen können, wenn sie beispielsweise einen freien Nachmittag brauchen, um sich um ihre alten Eltern zu kümmern. Wir wollen auch ein Recht auf Homeoffice, alternierend und mit klaren Regeln. Bei diesen Vorschlägen aber steht die FDP heftig auf der Bremse. Wir meinen: Digitalisierung geht auch anders; denn nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Beschäftigten müssen davon profitieren. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächste Rednerin: Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Arbeit bestimmt unseren Alltag. Sie ist notwendig, idealerweise auch erfüllend und sinnstiftend. Es ist wichtig, sie mit unseren privaten Verpflichtungen und familiären Wünschen in Einklang zu bringen. Die Gestaltung der Arbeitszeit gehört damit zu einem der entscheidenden Faktoren für gute Arbeit und gutes Leben. Seit Jahren sind flexible Arbeitszeiten in der Praxis auf dem Vormarsch – und dies aus ganz unterschiedlichen Gründen. Das einst vorherrschende Modell des Alleinverdienerhaushalts ist lange überholt. Mein Kollege Torbjörn Kartes hat die Chancen für Familien durch flexible Arbeitszeiten bereits anschaulich geschildert. Auch auf Unternehmensseite ist Flexibilität gewünscht, ja unumgänglich. Für Betriebe ist es erforderlich, auf Nachfrageveränderungen und Kundenwünsche schnell reagieren zu können, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Art und Weise, wie Produktionsprozesse miteinander verzahnt sind, erfordert von der Belegschaft, flexibel einsatzbereit zu sein. Ein Automobilzulieferer in meinem Wahlkreis sorgt mit seinen Schmiedeteilen für Motoren und Achsen dafür, dass Millionen von Fahrzeugen täglich sicher und zuverlässig bewegt werden. Im Schichtbetrieb wird dort 24 Stunden gearbeitet, damit die Bänder bei den Autokonzernen nicht stillstehen – nicht im Homeoffice, aber tariflich ausgehandelt, den Bedürfnissen der Branchen entsprechend, mit Mitarbeitern, die stolz auf ihre Arbeit sind. Flexibilität ist eben keine Einbahnstraße. Dennoch ist eines richtig: Ein zunehmender Teil der Wertschöpfung gründet sich auf Wissens- und neue Formen der Zusammenarbeit. Und wenn Wertschöpfung nicht mehr an einem festen Arbeitsplatz stattfinden muss, ergeben sich neue Möglichkeiten für flexibleres Arbeiten. Ziel der CDU/CSU-Fraktion ist daher, einen Rahmen zu schaffen, in dem Unternehmen, Beschäftigte und Tarifpartner den vielfältigen Anforderungen in der Arbeitszeitgestaltung gerecht werden. Wir wollen Familien in ihrem Anliegen unterstützen, mehr Zeit füreinander zu haben. Die Chancen der Digitalisierung wollen wir nutzen, um den Beschäftigten mehr Freiräume zu ermöglichen. – Vielen, die heute die Debatte verfolgen, werden diese Sätze bekannt vorkommen. Sie stammen aus unserem Koalitionsvertrag. Dort stehen sie unter der Überschrift „Gute Arbeit“. ({0}) Der FDP kann ich also sagen: Vielen Dank für Ihren Gesetzentwurf. Die Zeichen der Zeit haben wir jedoch schon lange erkannt. ({1}) – Hören Sie doch erst mal zu! – Doch wenn Arbeitszeit für Millionen Menschen zu einem der entscheidenden Faktoren für gute Arbeit gehört, dann sollten wir uns ganz genau überlegen, wie wir für mehr Flexibilität sorgen können. ({2}) Hierfür werden wir im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen schaffen. Mehr selbstbestimmte Arbeitszeit und mehr betriebliche Flexibilität lassen sich hier erst einmal erproben. Auf Grundlage dieser Tarifverträge kann dann mittels Betriebsvereinbarungen die Höchstarbeitszeit flexibler geregelt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, auch wir haben die Start-up-Branche, die Wissensarbeiter und Arbeit 4.0 im Blick. Doch Gründlichkeit zum Schutz aller Arbeitnehmer und die Berücksichtigung aller Branchen gehen bei uns vor Schnelligkeit. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, liebe Frau Lezius – auch dafür, dass Sie bei der Redezeit eine Punktlandung gemacht haben. Das muss man immer mal wieder würdigen. Wenn die anderen auch gewürdigt werden wollen, dann sollten sie sich ebenfalls an die Redezeit halten – wie Frau Schmidt, die für die SPD-Fraktion jetzt drei Minuten hat. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich bin das letzte Mal schon gewürdigt worden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Arbeitszeitgesetz lässt schon jetzt zahlreiche Ausnahmen zu. Wenn ein Gesetz nicht starr ist, dann ist es das Arbeitszeitgesetz. ({1}) Wenn eine Mutter von 8.30 Uhr bis 15 Uhr arbeitet, dann ihre Kinder abholt, den Nachmittag mit ihnen verbringt, sie zum Turnen fährt, ins Bett bringt – die liegen nämlich, weil sie vom Turnen fix und fertig sind, um halb acht im Bett –, dann kann sie locker noch bis halb zehn arbeiten und am nächsten Morgen wieder um 8.30 Uhr anfangen. ({2}) Alles das ist mit unserem Arbeitszeitgesetz überhaupt kein Problem. Was verboten ist, ist, dass sie die Nacht durcharbeitet und morgens um 7 Uhr wieder auf der Matte steht – und das ist auch gut so, dass das verboten ist. ({3}) Warum gibt es überhaupt diese Schutzrechte? Weil es im Verhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern eben nicht automatisch zu einem Interessenausgleich kommt. Und weil es eben nicht um das einmalige E-Mail-Schreiben um 23 Uhr geht. Vielmehr zeigt die Erfahrung, dass der Abbau von Schutzrechten von Arbeitgeberseite immer zulasten der Beschäftigten ausgenutzt wurde. Trotzdem: Die Welt ändert sich und so auch die Arbeitswelt. Deswegen ist die Frage nicht, ob man Schutzrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abbaut, sondern, wie man Altes verändert, aber vielleicht auch neue Rechte für die Arbeitnehmer schafft. Deswegen wollen wir das in Experimentierräumen zeitlich und inhaltlich begrenzt erproben, wissenschaftlich begleiten und evaluieren ({4}) und aus den daraus gewonnenen Erfahrungen möglichst eine Erneuerung und Modernisierung der Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickeln. ({5}) Wenn man aber wirklich mehr Freiheit für die Menschen bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit und bei der Organisation ihres Lebens möchte, dann muss man sich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kümmern, zum Beispiel durch bessere und flexiblere Betreuungsangebote. Das haben wir getan, und das tun wir auch weiterhin, indem wir das Recht auf Ganztagsbetreuung auch im Grundschulalter einräumen. Dann muss man auch das Rückkehrrecht in Vollzeit schaffen; auch das schaffen wir. Dann braucht man Elternzeit und Elterngeld; das haben wir. Dann braucht man die Möglichkeit, auch die Pflege der Eltern zu organisieren; das haben wir mit dem Pflegeunterstützungsgeld und der Pflegezeit erleichtert. Und man braucht eine Familienarbeitszeit, die es ermöglicht, die Arbeitszeit zu reduzieren, auch wenn man nicht zu den Besserverdienenden gehört. ({6}) Wir wollen das Leben der Menschen leichter machen. Dazu haben wir auch in dieser Koalition viel vor. Ich möchte Coco Chanel zitieren – das habe ich hier noch nie gemacht; aber irgendwie passt es –: Es gibt eine Zeit für die Arbeit. Und es gibt eine Zeit für die Liebe. Mehr Zeit hat man nicht. Also lassen Sie uns sorgsam mit dieser Zeit umgehen! ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielleicht kann man dieses Zitat ins Protokoll in Fettdruck aufnehmen. Ich schreibe es mir auf jeden Fall auf. – Vielen Dank, Frau Schmidt. Letzter Redner in der Debatte: Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. Das ist jetzt die andere Stimme aus dem Kaufbeurer Allgäu. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein herzliches Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freunde! Die derzeitige Diskussion zeigt die gesamte Spannbreite der Debatte. Die einen wollen mehr Reglementierung, die anderen mehr Flexibilisierung. Dahinter stehen tatsächlich veränderte Anforderungen unseres Arbeitsalltages, die wir ja zu Recht beschreiben. Das derzeitige Arbeitszeitgesetz bietet allerdings bereits einen abgestuften Flexibilisierungsrahmen: gerade für die Tarifvertragsparteien und beispielsweise auch dann, wenn es um Saisonarbeit geht. Allerdings sehe auch ich: Wir brauchen mehr Flexibilität, es besteht weiter gehender Flexibilisierungsbedarf, und wir brauchen zusätzliche Spielräume für unsere Tarifpartner. Das ergibt sich zum einen aus der Unternehmenssicht. ({0}) Wenn es darum geht, in Wertschöpfungsketten zu bestehen, Kundenzufriedenheit herzustellen, dann bedarf es entsprechender Flexibilisierungselemente. Nur dann kann ein Unternehmen am Markt entsprechend bestehen. Das ergibt sich zum anderen aber auch aus der Arbeitnehmersicht: Die Arbeitnehmer wollen mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheiten, sie wollen mehr Raum, um ihr Berufsleben mit den Anforderungen des tagtäglichen Lebens verknüpfen zu können, ({1}) insbesondere was Sorgetätigkeiten in Erziehung und Pflege angeht. ({2}) Deswegen brauchen wir eine neue Balance, eine neue Balance zwischen den Flexibilisierungserfordernissen der Unternehmen, Frau Müller-Gemmeke, und den Flexibilisierungswünschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Arbeitszeit ist immer ein Maßanzug, der beiden passen muss, sowohl dem Unternehmer als auch dem Arbeitnehmer. Aus guten Gründen haben wir gesagt: Wir weisen diese Aufgabe den Tarifvertragspartnern zu. Dort ist sie gut aufgehoben. Wir wollen aber zugleich dafür kämpfen und auch dafür sorgen, dass es in diesem Bereich zu zusätzlichen Spielräumen kommt. Dabei geht es in dieser Diskussion nicht um mehr Arbeit, vielmehr wollen wir, dass das, was derzeit geleistet wird, flexibler verteilt wird. Das ist das Stichwort, unter dem die Diskussion läuft. Wir haben uns innerhalb der Koalition darauf verständigt, Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen zu schaffen. Ja, ich hätte mir an dieser Stelle mehr Mut gewünscht – mehr Mut dahin gehend, dass die Tariföffnung auch für nichttarifgebundene Unternehmen möglich gewesen wäre. ({3}) Die SPD war in diesem Bereich noch nicht so weit. ({4}) Aber ich glaube, wir machen mit den Experimentierräumen einen Anfang und beleben nochmals die Diskussion. Was die Ruhezeiten angeht, muss ich der FDP sagen: Ich glaube, wir müssen angesichts der Diskussion, die zwischen den Tarifvertragsparteien und innerhalb der Gewerkschaften sehr streng und kontrovers geführt wird, aufpassen, die Debatte jetzt nicht einseitig mit der Diskussion um Ruhezeiten zu belasten. Klar ist: Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf den Tarifvertragsparteien die Regelung der Ruhezeit überlassen; das ist auch richtig so. Allerdings würde ich die Diskussion damit nicht belasten wollen. Wir sollten zunächst einmal damit anfangen, in der Verteilung der Arbeit flexibler zu werden. Das versuchen wir über die Experimentierräume zu erreichen. Wir hoffen, dass wir unsere Überlegungen in der Koalition, gerade was die befristete Arbeitszeit angeht, zusammen mit den generellen Überlegungen zur Arbeitszeit in einem arbeitsrechtlichen Gesamtpaket auf den Weg bringen können. Das ist unsere Erwartungshaltung. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage? Das würde Ihre Redezeit verlängern.

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich habe mir das ziemlich lange angehört, aber zum Schluss ist es mir einfach zu viel geworden. Wissen Sie was: Sie schaffen Experimentierräume und reden davon, dass das Arbeitszeitgesetz auf diesem Weg per Tarifvertrag geöffnet werden soll. ({0}) Was passiert denn, wenn ein Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband wieder austritt, was nicht ungewöhnlich ist, oder eine OT-Mitgliedschaft anstrebt? Wie wollen Sie die Tür wieder schließen, die Sie aufgemacht haben? Sie glauben doch selbst nicht, dass das dauerhaft so bleibt, wenn Sie einmal die Tür aufgemacht haben. Alle Redner, insbesondere meine Kollegin, haben hier gesagt: Das sind Schutzgesetze. Sie greifen Schutzgesetze in einer Weise an, die einfach nicht in Ordnung ist. Das hat nichts mit Experimentieren zu tun. Das hat etwas mit Gesundheitsschutz zu tun. Denken Sie doch einmal an Entschleunigung und nicht daran, alles noch breiter zu machen. Deutschland ist das flexibelste Land in Bezug auf die Arbeitszeit. ({1}) Genau die soll noch flexibler werden? Wie wollen Sie das in den Griff bekommen? Das geht doch alles gar nicht. ({2})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, mich wundert, welche Haltung Sie gegenüber den Tarifvertragsparteien haben und welche Geringschätzung Sie den Sozialpartnern entgegenbringen. Sie reden davon, dass das, was wir innerhalb dieser Koalition auf den Weg bringen wollen, dazu führt, dass Arbeitnehmerrechte erodieren würden. Das Gegenteil ist der Fall. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen sich doch zusammensetzen und überlegen, wie man diesen Rahmen ausfüllt. Das hat doch überhaupt nichts mit einer Erosion von Schutzrechten zu tun, so wie Sie es beschreiben. Das ist eine Missinterpretation dessen, was wir uns vorgenommen haben. ({0}) – Frau Kollegin, vielleicht lassen Sie mich ausreden. – Im Übrigen wäre es besser, wenn Sie den Koalitionsvertrag lesen würden. Dort ist von tarifgebundenen Unternehmen die Rede. Nur darauf bezieht sich die Koalitionsvereinbarung und nicht auf das, was Sie hier in Rede stellen. Sie sehen, dass all das, was Sie vorbringen, nicht Realität wird und leider neben der Sache ist. ({1}) Der Applaus ist jetzt genau richtig platziert. Meine Redezeit ist auch abgelaufen. Herzliches Dankeschön, Herr Präsident.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Stracke, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Auch Redezeit ist ja Arbeitszeit. ({0}) Insofern danke ich, dass Sie nahezu punktgenau zum Schluss gekommen sind. – Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/1174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. Was würde denn passieren, wenn ich sagen würde: „Das ist mir eigentlich zu kurz“?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Dann würde das nichts ändern.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Vom 1. März bis 31. Mai 2018 finden in Deutschland Betriebsratswahlen statt. Ich gratuliere von hier aus allen Betriebsrätinnen und Betriebsräten, die schon gewählt sind, zu ihrer Wahl. ({0}) Ihr kämpft für bessere Arbeitsbedingungen in Deutschland. Betriebsräte sind die direkteste und wirksamste Interessenvertretung der Beschäftigten gegenüber den Arbeitgebern und ihrem Streben nach Gewinnen. Betriebsräte sind unverzichtbar; denn Arbeitgeber müssen kontrolliert werden. Bei jeder zweiten Kontrolle durch die Arbeitsschutzbehörde – wir haben eben schon über Arbeitszeit geredet – wurde ein Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz festgestellt. 2016 wurden 2,7 Millionen Beschäftigte um den Mindestlohn beschissen, ({1}) insbesondere in Betrieben ohne Betriebsrat. Betriebsräte sorgen für die Umsetzung der Gesetze, die wir hier auf den Weg bringen. Die Pflicht des Gesetzgebers ist, im Gegenzug dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Betriebsräte stimmen. ({2}) Politik ist mitverantwortlich, dass Demokratie nicht vor dem Werkstor endet. In nur jedem zehnten Betrieb aber gibt es einen Betriebsrat. Damit ist nicht einmal die Hälfte aller Beschäftigten hier in Deutschland durch einen Betriebsrat vertreten. Das ist eine Mitbestimmungslücke, und es ist eine ganz große Katastrophe, dass das so ist. ({3}) Dabei ist die Wahl von Betriebsräten im Betriebsverfassungsgesetz keine Kannvorschrift. Vielmehr ist in jedem Betrieb ab fünf Beschäftigten ein Betriebsrat zu wählen. Die Linke fordert, die Wahl von Betriebsräten zu erleichtern, Betriebsräte besser zu schützen und die Mitbestimmung auszuweiten. ({4}) Laut Koalitionsvereinbarung wollen Sie nur das vereinfachte Wahlverfahren ausweiten. Das ist zu wenig. ({5}) Wer sich für Demokratie im Betrieb einsetzt, lebt leider gefährlich. Betriebsräte oder Wahlvorstände werden häufig gezielt von Arbeitgebern eingeschüchtert, systematisch kaltgestellt oder direkt gekündigt. ({6}) Wie dreist Arbeitgeber und zwielichtige Anwaltskanzleien dabei vorgehen, sieht man zum Beispiel am Frankfurter Flughafen. Dort sitzt die Firma I-SEC Deutsche Luftsicherheit GmbH. Sie führt im Auftrag der Bundespolizei den Großteil der Sicherheitskontrollen durch. Als sich der Betriebsrat gegen die personelle Unterversorgung, Überstunden und Überbelastungen wehrte, wurde er mit absurden Kündigungsversuchen, Hausverboten und Klagen überzogen. Die Beschäftigten dort übernehmen hoheitliche Aufgaben und schützen auch uns. Jetzt müssen wir die Beschäftigten und ihre Betriebsräte schützen. ({7}) Wir müssen sie vor aggressiven Arbeitgebern und deren Handlangern schützen. Anwälte wie Helmut Naujoks haben es schon in mehreren Fällen versucht und leider auch geschafft, ({8}) Betriebsräte und den Menschen hinter dem Mandat systematisch kaputtzumachen. Hier müssen wir handeln. Wir brauchen Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Betriebsratsfeindliche Maßnahmen sind verboten, und undemokratische Arbeitgeber müssen härter bestraft werden. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Krellmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Beschäftigten und Betriebsräte erwarten, dass wir als Politiker an diesem Punkt auch handeln. ({0}) Gute Arbeit muss sicher, tariflich bezahlt und mitbestimmt sein. Vielen Dank. – Jetzt bin ich fertig. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie sind mit Ihrer Rede zu Ende. Ob Sie fertig sind oder nicht, kann ich nicht beurteilen. ({0}) Für die CDU/CSU-Fraktion rufe ich jetzt den Kollegen Uwe Schummer auf. ({1})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Die betriebliche Mitbestimmung ist eng verbunden mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Sie geht weit zurück, nämlich bis in die Hanse. Das Erste, was eine Mannschaft, die auf einer Kogge angeheuert hatte, tat, war, einen Sprecher oder ein Sprecherteam zu wählen. Dieses Sprecherteam hat mit dem Kapitän oder dem ersten Steuermann die Arbeitskonditionen und Arbeitsbedingungen ausgehandelt. ({0}) Im Jahr 1837 wurde die erste sozialpolitische Rede in einem deutschen Parlament gehalten, die sogenannte Fabrikrede. Schon Franz Josef Buß behandelte das Thema der betrieblichen Mitbestimmung von Arbeitnehmern in den Fabriken. Das Betriebsrätegesetz ist letztendlich ein Werk des Pfarrers Heinrich Brauns aus Essen, der viele Jahre Reichsarbeitsminister war und es 1920/21 durchsetzte. Von daher ist die Mitbestimmung eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, aber auch mit der christlich-sozialen Idee in unserem Lande verbunden. Wir haben Dankeschön an die Betriebs- und Personalräte zu sagen. Klar ist auch: Betriebs- und Personalräte, Kollegin Krellmann, sind keine Revolutionäre. Sie sind Co-Manager. Sie sind gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Unternehmen bereit, ihre Arbeitskonditionen, die Wertschöpfung im Unternehmen zu verbessern und das stärkste und wichtigste Kapital im Unternehmen, den Menschen, den Aktivfaktor, entsprechend zu schützen. ({1}) Das ist Partnerschaft. Partnerschaft in der christlichen Soziallehre gibt es auch zwischen Ungleichen. Damit ist die soziale Partnerschaft, die wir kennen und fördern wollen – auch die betriebliche Partnerschaft –, das Kontrastprogramm zu vermeintlich unüberwindbaren Klassengegensätzen und zu vermeintlich unüberwindbaren Rassengegensätze. Wir sind für Brücken, für Miteinander, für soziale Partnerschaft, und die lebt in besonderer Weise in der betrieblichen Mitbestimmung. Von daher Dankeschön allen Betriebs- und Personalräten, die in dieser Aufgabe tätig sind. ({2}) Wir wollen, dass die Vereinbarungen zum Gesundheitsschutz verbindlicher gestaltet werden. Wir wollen, dass Vereinbarungen zur Weiterbildung schneller miteinander umgesetzt werden können. Wir wollen letztendlich, dass bei Mobilität, bei grenzüberschreitenden Betriebsverlagerungen, die Mitbestimmung mitwandert. Wir wollen Wandel, aber wir wollen den Wandel für die Beschäftigten ohne Angst. Von daher ist die Mitbestimmung bzw. die Mitwirkung ein zentrales Thema, das wir innerhalb dieser Großen Koalition auch weiterentwickeln werden. Die Bildung eines Betriebsrates ist geschützt. Es gibt allerdings in der Tat eine Lücke, nämlich in der Zeit, in der man sich bemüht, einen Wahlvorstand zu begründen. ({3}) Hier gibt es keinen Schutz. Es ist oftmals so, dass einige Agenturen Unternehmer beraten, wie man mit Mobbing und auch mit Rechtsverstößen einen solchen Betriebsrat, einen Wahlvorstand verhindert. Solche Consulting­unternehmen, die innerhalb der Unternehmerschaft ihr Consulting mit Rechtsbrüchen begründen, sind eine Schande für ihre Zunft. ({4}) Die gehören genauso bekämpft wie Beratung zum Steuerbetrug. ({5}) Deshalb wollen wir die Rechtsgrundsätze in unserem Land durchsetzen. Dazu gehört, diese Lücke zu schließen. ({6}) Das werden wir innerhalb der Ausschussdebatten, die wir führen werden, miteinander beraten. Frau Krellmann, wir werden im Ausschuss jede Menge Gelegenheit und Zeit haben, darüber zu diskutieren. Ich glaube, dass dort Ihre Zwischenfragen oder Ihre permanenten Zwischenbemerkungen hingehören. Von daher haben Sie Geduld! Im Ausschuss sehen wir uns wieder. ({7}) Wichtig ist, dass wir letztendlich den Strukturwandel der Wirtschaft bezüglich Globalisierung und Digitalisierung gemeinsam mit den Gestaltungskräften der Arbeitnehmerschaft und der Arbeitgeberschaft entwickeln. Wir wollen ein vereinfachtes Wahlverfahren für Betriebe bis 200 Beschäftigte ermöglichen. Dies würde weniger Bürokratie bei der Einrichtung eines Wahlvorstandes und bei der Durchführung von Betriebsratswahlen bedeuten. Dies ist ein Thema, das wir miteinander besprechen werden. Es gibt in unserem Lande eine produktive Kraft des sozialen Friedens. Das ist ein Standortvorteil für die Wirtschaft, für die Menschen. In Deutschland gehen mehr Arbeitsstunden durch Festreden als durch Arbeitskämpfe verloren. Das zeigt den Wert sozialer Marktwirtschaft. Wir werden das Thema der Betriebsverfassung mit beiden Sozialpartnern bereden: mit den Gewerkschaften auf der einen Seite und den Arbeitgebern auf der anderen Seite. Den Interessenausgleich zu moderieren und Lösungen zu entwickeln, wird unsere gemeinsame politische Aufgabe in der Großen Koalition sein. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Schummer. Es spricht für Ihre Weitsicht, dass Sie eine Frage schon beantwortet hatten, bevor sie gestellt wurde. Das ist gut so. ({0}) Als Nächster hat der Kollege Bernd Rützel von den Sozialdemokraten das Wort. ({1})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut – ich freue mich darüber –, wenn wir immer wieder über Mitbestimmung reden. Ich selber war Jugend- und Auszubildendenvertreter, Personalrat und dann Betriebsrat. Und eines habe ich jetzt ganz genau vernommen, lieber Kollege Uwe Schummer – auch darüber bin ich froh –: Wir können jetzt im Ausschuss noch einmal über die Schutzlücke sprechen, die von dem Moment an, in dem sich Menschen in der Teeküche oder Kaffeeküche treffen und sagen: „Wir könnten einen Betriebsrat gebrauchen“, bis zu dem Augenblick besteht, an dem ein Wahlvorstand gebildet wird. In der letzten Legislatur haben wir an dieser Stelle auch darüber gesprochen, aber wir konnten das Problem nicht lösen. Vielleicht kommen wir hier einen Schritt weiter. ({0}) Von der betrieblichen Mitbestimmung profitieren die Beschäftigten genauso wie die Unternehmen. Zahlreiche Studien zeigen, dass es in mitbestimmten Unternehmen höhere Löhne, eine größere Familienfreundlichkeit, mehr Weiterbildung und eine höhere Jobsicherheit gibt. All das sind heute riesige Pluspunkte am Arbeitsmarkt; dadurch wird die Attraktivität eines Unternehmens deutlich gesteigert. Und ein gutes Image kann jedes Unternehmen gebrauchen. Oftmals wird viel Geld für Imagekampagnen ausgegeben. Auf die genannten Punkte zu setzen, wäre aber viel besser. Mitbestimmung in Unternehmen führt auch dazu, dass die Betriebe produktiver sind, dass sie höhere Renditen und eine geringere Fluktuation beim Personal haben und mehr Innovationen hervorbringen. Auch die Differenz zwischen den Gehältern der höher und der geringer Qualifizierten ist bei Mitbestimmung kleiner; auch die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen fällt geringer aus. Also hat Mitbestimmung eine überragende Bedeutung. Ich frage mich, warum trotzdem nur vier von zehn Beschäftigten durch einen Betriebsrat vertreten sind. Es ist schon angeklungen, dass es Bestrebungen gibt, eine solche Interessenvertretung immer weiter auszuhöhlen. Insofern ist es gut, dass die Linken diesen Antrag eingebracht haben. Ich möchte an dieser Stelle an alle Beschäftigten in den Unternehmen appellieren: Wählen Sie Ihre Interessenvertretung, gehen Sie wählen, stärken Sie die Mitbestimmung, nutzen Sie Ihr Wahlrecht! Sich nur zu beschweren, hilft nichts. Man muss es anpacken, und die meisten machen das auch. ({1}) In vielen Unternehmen geht man ordentlich miteinander um; sie sind stark. Es gibt aber auch schwarze Schafe, die eine systematische Bekämpfung, eine Unterdrückung, eine Sabotage von Arbeitnehmervertretungen nicht nur zulassen, sondern auch vorantreiben. Es gibt einige solcher Fälle in meinem Wahlkreis. Diese Zermürbungsmethoden dürfen keinen Erfolg haben. Deswegen werden wir, wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben, demnächst darangehen, die Anwendung des vereinfachten Wahlrechts auszuweiten; es ist eben schon besprochen worden. Ja, das ist nur ein Teil, ja, es könnte viel mehr sein. Ich freue mich, dass wir diese Woche eine Regierung gebildet haben, dass die Koalition steht. Das ist gut. Wir haben viel vor uns. Ich muss hier trotzdem sagen, dass es diese Koalition ist, die sich immer wieder auf das eine oder andere beschränkt. Aber so ist das Leben. Von daher gilt es jetzt, Fortschritte an den Stellen zu machen, zu denen wir viel Gutes vereinbart haben. Für die SPD ist eines klar: Wir werden immer an der Seite der arbeitenden Menschen stehen. ({2}) Wir werden immer an der Seite der abhängig Beschäftigten stehen. Wir werden immer auf der Seite der Betriebsräte, der Personalräte und der Jugendvertretungen stehen. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Rützel. – Als Nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Jürgen Pohl von der AfD. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die betriebliche Mitbestimmung ist einer der größten sozialpolitischen Erfolge in unserem Land. Sie ist die tragende Säule der sozialen Marktwirtschaft. Kurz: Sie ist Voraussetzung und Ausdruck einer zutiefst demokratischen Wirtschafts- und Arbeitskultur. Die betriebliche Mitbestimmung sichert das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Arbeitswelt. Sie ist konstitutiv für den Erfolg unserer Wirtschaft, weil sie den sozialen Frieden sichert. Folglich zählt es zu den vornehmsten Aufgaben der Politik, die betriebliche Mitbestimmung für alle Arbeitnehmer zu wahren und zu verteidigen. ({0}) Das schließt ein, die rechtliche Regelung zu ändern, wenn dies notwendig ist, und wir müssen prüfen, ob es so weit ist. Vor dem Hintergrund dieses Anspruchs ist der Antrag der Fraktion Die Linke zu beleuchten; aber er ist leider, wie Anträge in den letzten Jahren zuvor, nicht zielführend. Erstens. Die im Antrag gestellten Forderungen gehen teilweise an den tatsächlichen Problemen der Arbeitnehmer vorbei. Zweitens. In dem Antrag wird der deutsche Mittelstand als Arbeitnehmerfeind Nummer eins bezeichnet und unter Generalverdacht gestellt. Drittens. Der Antrag erschöpft sich im blanken Lobbyismus für die Altgewerkschaften. ({1}) Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, geht es in diesem Antrag meines Erachtens primär nicht um die Verbesserung der Mitbestimmung. Wenn Sie fordern, dass bereits Wahlvorstände externen Sachverstand bestellen können, ohne dass sie dies mit dem Arbeitgeber vereinbaren müssen, dann wollen Sie eigentlich nur den Genossen in den Gewerkschaften zusätzliche Posten als Sachverständige verschaffen. ({2}) – Es ist eine mutige Aussage, dass ich keine Ahnung habe. Ich glaube, Sie haben sich auf diese Zwischenrufe vorbereitet. Ich weiß: Mit der Arbeitsbeschaffung für die Altgewerkschaften kann man finanzielle Löcher stopfen, die dadurch entstanden sind, dass denen die Mitglieder weglaufen. Doch es ist nicht Ihre Aufgabe, denen Arbeit und Brot zu verschaffen. ({3}) Das ist vor allem auch falsch. Vielmehr helfen Sie mit Ihrer Politik jenen Leuten in den Organisationen wie Verdi, die in den Betrieben zur Denunziation von Kollegen aufrufen, die mit der AfD sympathisieren. ({4}) – Das hatten wir doch schon einmal, Kollegen von den Linken. Sie denken dran, dass Ihre Wähler heute mitschauen. Wenn Sie die Wahrheit niederrufen wollen, bitte schön! ({5}) Sie müssen mit den Konsequenzen leben. – Sie helfen mit Ihrer Politik jenen Funktionären, die kalt lächelnd Millionenabfindungen abnicken ({6}) und gleichzeitig die eigenen Mitglieder in die Arbeitslosigkeit schicken. ({7}) Sie machen Politik für die Vertreter der Altgewerkschaften, die selbst durch Bonizahlungen und Gehaltszahlungen korrumpiert worden sind. Gleichzeitig klagen Sie den Mittelstand an. Sie belasten die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Land mit zusätzlicher Bürokratie und zusätzlichen Kosten. Ihnen fehlt es an marktwirtschaftlichem Grundverständnis. Anders als die Konzerne und Ihre korrumpierten Betriebsratschefs haben die Mittelständler ein überlebenswichtiges Selbstinteresse, dass ihre Unternehmen und damit ihre Arbeitsplätze in Deutschland erhalten bleiben. Mittelständler sind die Garanten für den Wohlstand in diesem Land. ({8}) Liebe Kollegen auf der linken Seite, Sie haben offenbar immer noch nicht begriffen, dass Mitbestimmung nicht gegen, sondern nur im Dialog mit dem Mittelstand zum Wohl aller gelebt werden kann. ({9}) Damit dieses Verständnis einer kooperativen und nicht feindlichen Mitbestimmung auch in die Betriebe transportiert wird, sind wir als AfD, als neue Volkspartei, ({10}) froh, dass es endlich ernstzunehmende Alternativen zu den Altgewerkschaften gibt. Ich meine zum Beispiel ALARM!, eine Gewerkschaftsorganisation, die keinen Arbeitnehmer ausschließt, nur weil er eine andere politische Meinung hat. Solche Organisationen, solche neuen Arbeitnehmervertretungen können die Betriebsräte der Zukunft sein. Sie werden Mitbestimmung weiter stärken. Der Antrag der Linken verringert die logistischen und organisatorischen Hürden für diese neuen Arbeitnehmervertreter. Deswegen ist Ihrem Antrag zuzustimmen. Danke schön. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Pohl, das war nicht nur eine Punktlandung, sondern Sie haben sogar eine Minute Ihrer Redezeit nicht ausgenutzt. Ich finde, das ist selbst für einen Vertreter einer Volkspartei beachtlich. Als Nächstes hat für die Freien Demokraten der Kollege Carl-Julius Cronenberg das Wort. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Tagen habe ich kurz überlegt, ob ich einen befreundeten Metallbauer aus dem Sauerland – er hat ungefähr 20 Mitarbeiter – anrufe und frage, ob er denn Union-Busting oder Betriebsratsbashing betreibt. Die Antwort konnte ich mir schon vorstellen: Union-Busting, was ist denn das? Hilft das gegen Fachkräftemangel? ({0}) Ich finde das nicht so lustig. Wer pauschal Unternehmer des Bustings und Bashings verdächtigt, dem sich Betriebsräte und Beschäftigte wehrlos unterwerfen, der erklärt nicht die Arbeitswirklichkeit der Beschäftigten, sondern verleiht in Wahrheit seiner Geringschätzung von Unternehmern, Betriebsräten und Beschäftigten Ausdruck. Was ist denn das für ein Menschenbild? ({1}) Wie sieht denn die Wirklichkeit in den kleinen inhabergeführten Betrieben aus? Brauchen Millionen Beschäftigte in Handwerk oder Gastronomie wirklich schärfere Regelungen zur Mitbestimmung?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Cronenberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krellmann?

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Frau Krellmann. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie ist sehr intensiv bei der Fragestellung.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Cronenberg. – Das Problem ist: Ich bin bei diesem Thema immer so engagiert, weil ich als Gewerkschaftssekretärin viele Betriebsratswahlen selbst durchführen musste. Ich möchte klarstellen: Ich weiß, dass es ganz viele Betriebsräte gibt, die richtig gute Arbeit machen. Aber ich weiß auch, dass es Betriebe gibt, in denen Betriebsräte große Schwierigkeiten haben. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Betrieben nennen, in denen Betriebsräte, die sich einst engagiert haben, aufgegeben haben, ein Burn-out haben und krank geworden sind. Mir geht es darum, dass man schaut: Wo sind die Probleme in der Betriebsverfassung? Es geht nicht um die Stellen, an denen alles gut läuft – darüber muss man gar nicht reden –, sondern darum, dort, wo es nicht gut läuft, zu helfen. Was mir fehlt und was scheinbar überhaupt nicht wahrgenommen wird, ist, dass nur 9 bzw. 10  Prozent der Betriebe in Deutschland überhaupt einen Betriebsrat haben. Umgekehrt: Es sind nur 43 Prozent der in Westdeutschland Beschäftigten und 34 Prozent der in Ostdeutschland Beschäftigten durch Betriebsräte geschützt. Da gibt es doch eine Mitbestimmungslücke. Es ist nicht so, dass nur wir Linke sagen: Das ist ganz problematisch. – Ich kann das alles sehr genau einschätzen. Ich weiß, dass es da tolle Sachen gibt. Darüber müssen wir nicht reden. Aber wir müssen über die Fälle reden, in denen die Leute Schwierigkeiten haben; denn das kann nicht sein. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Krellmann, Sie haben gerade einige Punkte erwähnt. Zunächst einmal: Ja, Missbrauch gibt es. Es gibt Missbrauch – so sind die Menschen nun einmal – aber auf beiden Seiten; auch das möchte ich hier einmal erwähnen. Ich habe auch Betriebsräte erlebt, die im Schutz der Privilegien, die sie genießen, durchaus zweifelhafte Dinge getan haben. Für Fälle, in denen Betriebsräte bei ihrer Arbeit gestört werden, gibt es die Einigungsstellen der Tarifpartner – das wissen Sie –, und die Arbeitsgerichte können auch angerufen werden. Die – unzureichenden – Gesetze sind nicht das Problem. Ich glaube, dass Ihre Annahmen zum Mitbestimmungsgrad, auch wenn sie statistisch stimmen, falsch sind, weil ein Betriebsrat in ganz kleinen Unternehmen mit 5 bis 20 Mitarbeitern oft nicht erforderlich ist. Da regeln die Mitarbeiter das untereinander. ({0}) Wenn Sie jetzt fordern, die Gesetze zu verschärfen, dann riskieren Sie – genau das ist mein Punkt –, dass Sie das Kind mit dem Bade ausschütten und auf Unternehmerseite wie auf Betriebsratsseite diejenigen bestrafen, die eigentlich eine gute Arbeit machen; denn sie würden die Kosten tragen. ({1}) Ich sage Ihnen eines: Solange die Belegschaftsversammlung eines Betriebs in der Umkleidekabine einer Fußballmannschaft stattfinden kann, so lange sind mir kurze Dienstwege, direkte Gespräche und flexible Absprachen viel lieber als bürokratische Verfahren. ({2}) In den größeren Unternehmen wird die überwiegende Zahl der Beschäftigten ohnehin durch Betriebsräte vertreten. Da sind wir schnell bei 60 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit über 50 Mitarbeitern und sogar bei über 90 Prozent in Betrieben mit über 500 Mitarbeitern. Lassen Sie mich für die Freien Demokraten klarstellen: Wir begrüßen das ausdrücklich. Betriebsräte bündeln Interessen, ergänzen Absprachen der Tarifpartner und regeln betriebliche Belange. Als Gesprächspartner für die Geschäftsleitung auf Augenhöhe leisten sie – Kollege Rützel, Sie haben das gerade gesagt – einen wichtigen Beitrag für den Betriebsfrieden und den unternehmerischen Erfolg. Betriebsräte müssen aber schon demokratisch legitimiert sein. Daher halte ich es nicht für sinnvoll, das vereinfachte Verfahren auf größere Betriebe auszuweiten. Arbeitgeber brauchen kompetente Verhandlungspartner, die den jeweiligen Betrieb genau kennen und die für dessen Beschäftigte sprechen. Einmischung oder Politisierung durch Gesamtbetriebsrat oder Gewerkschaft können da schädlich sein und liegen eben nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit sind wir bei der Legende der natürlichen Feindschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Geschäftsleitung und Betriebsrat oft, ja sogar sehr oft die gleichen Interessen verfolgen, insbesondere bei standortsichernden Investitionen. Gerade diese Investitionen setzen Vertrauen der Kapitalgeber in Stabilität und sozialen Frieden voraus. In Ihrem Antrag aber stellen Sie die vertrauensvolle Zusammenarbeit gemäß § 2 Betriebsverfassungsgesetz infrage. Damit wollen Sie Misstrauen zur Regel machen. So gefährden Sie Investitionen und Arbeitsplätze. Das können wir nicht gutheißen, meine Damen und Herren. ({3}) Gerade, am Sonntagabend, hatte Sahra Wagenknecht bei „Anne Will“ mehr Investitionen gefordert. Da sagt Ihre Vorsitzende mal etwas Vernünftiges, und Sie fallen ihr da in den Rücken! Was fehlt in Ihrem Antrag? Das sind Konzepte für die Zukunft der Arbeit. Die Aufgabe muss lauten, die richtige Balance zu finden zwischen Chancen auf selbstbestimmte Arbeit einerseits und berechtigtem Schutzanspruch vor Missbrauch andererseits. Der Antrag ist in den Annahmen falsch, im Ton respektlos. Der Überweisung stimmen wir zu, Ihre Forderungen lehnen wir ab. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Cronenberg. Da es sich hier eingebürgert hat, Abgeordnete zu loben, die ihre Redezeit nicht ausschöpfen, lobe ich Sie, Herr Cronenberg, auch ausdrücklich, dass Sie uns 13 Sekunden zur Verfügung stellen. Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Bis Ende Mai werden noch Betriebsräte gewählt. Deshalb ist es gut, dass wir diese Debatte auch hier im Bundestag führen. Die betriebliche Mitbestimmung ist gelebte Partizipation und Demokratie. Es ist wichtig, dass sich die Beschäftigten in den Betrieben einmischen, mitreden und ihre Arbeitswelt aktiv mitgestalten. Wenn ihre Anliegen gehört werden und wenn sie sich gut vom Betriebsrat vertreten fühlen, dann entsteht ein Gefühl von Wertschätzung. Das stärkt den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Deshalb wollen auch wir die Mitbestimmung stärken. ({0}) Wir haben genau die gleiche Debatte schon einmal in der letzten Legislaturperiode geführt. Wir hatten damals einen Antrag eingebracht – Die Linke ist damals nachgezogen –, es gab eine Anhörung, wir haben debattiert, – und doch ist rein gar nichts in den letzten vier Jahren passiert. Aber genau das wäre dringend notwendig; denn die weißen Flecken bei der Mitbestimmung sind groß. Betriebsratsarbeit wird behindert, Wahlen von Betriebsräten werden verhindert, natürlich nicht überall, Herr Cronenberg, aber wenn so etwas passiert, dann muss man etwas dagegen tun. Die Mittel, die eingesetzt werden, sind teilweise heftig. Aktive Beschäftigte werden eingeschüchtert, benachteiligt, gemobbt, abgemahnt, und ihnen wird teilweise sogar gekündigt. Das darf nicht sein in einer demokratischen Gesellschaft. ({1}) Deshalb brauchen die Betriebsräte mehr Schutz. Dabei geht es uns Grünen vor allem um drei Aspekte: Erstens. Die schwierigste Zeit ist, wenn sich Beschäftigte auf den Weg machen, um einen Betriebsrat zu gründen, und vor allem dann, wenn die Betriebe das verhindern wollen. Deshalb wollen wir, dass diese aktiven Beschäftigten ihr Vorhaben bei einer neutralen Stelle nichtöffentlich ankündigen können. Dann bekommen sie ab diesem Zeitpunkt den besonderen Schutz nach § 78 Betriebsverfassungsgesetz. Das würde die Beschäftigten nicht nur vor Benachteiligung schützen, diese Regelung würde auch ermutigen und motivieren, aktiv zu werden. Herr Schummer, Sie haben es vorhin angesprochen. Übernehmen Sie doch einfach unsere Idee, unsere Regelung, und ändern Sie das entsprechend in dieser neuen Legislaturperiode. ({2}) Zweitens. Es gibt Branchen und Betriebe, die einen hohen Befristungsanteil aufweisen. Dort sind natürlich viele befristet Beschäftigte im Betriebsrat. Genau sie müssen häufig als Erste gehen. Das macht die Betriebsratsarbeit extrem schwierig, und deshalb sollen die befristet Beschäftigten, die im Betriebsrat sind, den gleichen Schutz wie Auszubildende bekommen; denn die Arbeit der Betriebsräte lebt von Kontinuität. Drittens. Wenn Betriebsräte behindert oder Betriebsratswahlen verhindert werden, dann sind das Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz, und doch haben Arbeitgeber, die so etwas tun, in der Regel nichts zu befürchten. Das geht gar nicht. Es darf keine rechtsfreien Räume geben. Hier muss endlich etwas getan werden. ({3}) Große Herausforderungen wie die Digitalisierung bewältigen die Unternehmen nur mit engagierten Belegschaften, und die Mitbestimmung schafft dafür die Voraussetzungen. Mitbestimmung bedeutet für die Beschäftigten Mitarbeit auf Augenhöhe im Betrieb, und für die Arbeitgeber entsteht dadurch Vertrauen in der Belegschaft. Die Vorteile der Mitbestimmung sind eigentlich bekannt, und auch der Gesetzgeber hat sich beim Betriebsverfassungsgesetz ganz klar positioniert. Da steht nämlich nicht „sollen“ oder „können“, sondern da steht: Betriebsräte werden gewählt. – Und doch wird diese Akzeptanz brüchig. Deshalb brauchen die Beschäftigten Unterstützung und Rückendeckung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Regierungsfraktionen, im Koalitionsvertrag steht nur, dass Sie das Wahlverfahren erleichtern wollen. Das ist einfach zu wenig. Hier muss mehr kommen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Peter Aumer. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für CDU und CSU ist die Mitbestimmung eine tragende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft. Wenn das Bild, das Sie, meine Damen und Herren der Linken, von der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland zeichnen, stimmt: Warum schneiden wir dann im internationalen Vergleich so gut ab? Warum werden beim Blick auf die Leistungsfaktoren der deutschen Wirtschaft immer qualifizierte, zuverlässige und motivierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hervorgehoben? Die Antwort ist der Dreiklang einer intelligenten Mitbestimmung: Vertrauen, Loyalität und Engagement. Dass dennoch nicht mehr Betriebsräte gegründet werden, erklärt die Linke allein durch die Verhinderung von Arbeitgeberseite. Ihre Wahrnehmung des deutschen Unternehmertums ist dabei einseitig und geprägt von Misstrauen. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, haben Sie schon einmal daran gedacht, dass in den vielen mittelständischen und familiengeprägten Unternehmen in unserem Land der direkte Austausch mit der Betriebsleitung sehr gut klappt und ganz alltäglich ist? Diese Betriebe sind das Rückgrat unserer Wirtschaft, weil sie langfristig denken und nachhaltig handeln, ({0}) weil sie ihre Belegschaft beim Namen kennen und weil sie zu schätzen wissen, was sie an ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Die unrealistische Darstellung eines Berufsalltags voller Schikanen und systematischer Bekämpfung bei der Gründung eines Betriebsrates ist völlig kontraproduktiv und geht größtenteils an der Wirklichkeit vorbei. Es gibt schwarze Schafe, ja, das stimmt. Der Kollege Schummer hat heute angedeutet und angekündigt, dass man in diesem Bereich auch etwas tun kann. Aber es gibt auch viele Unternehmerinnen und Unternehmer, die den Mehrwert der Mitbestimmung erkannt haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, mit diesem Antrag senden Sie die falsche Botschaft. Ein Miteinander ist im Betrieblichen gefragt – und nicht Klassenkampf. Die Devise muss, glaube ich, sein, dass wir zu mehr Miteinander im betrieblichen Bereich und im Bereich der Mitbestimmung kommen. ({1}) Ziel der neuen Bundesregierung muss es sein, auch in der Zukunft den Interessensausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Unternehmern und Belegschaft, zwischen Kapital und Arbeit zu finden und in den Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik zu stellen und somit unsere soziale Marktwirtschaft in das 21. Jahrhundert zu führen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Aumer. Ich muss jetzt doch nachfragen. Sie haben gerade selber gesagt: Es gibt diese schwarzen Schafe. Jetzt kann man darüber streiten, wie viele das sind. Aber das ist egal. Geben Sie mir recht, dass das, was die sogenannten schwarzen Schafe machen, Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz sind, wenn Betriebsräte behindert und Wahlen verhindert werden? Geben Sie mir auch recht, dass man dagegen etwas machen muss? Und geben Sie mir dann auch recht, dass alle Arbeitgeber, die mit ihren Beschäftigten fair umgehen und einen Betriebsrat haben oder auch nicht, von Maßnahmen, um Betriebsräte besser zu schützen, damit es eben diese schwarzen Schafe nicht mehr gibt, überhaupt nicht berührt würden? Also wäre das doch ein Argument dafür, dass man wirklich etwas machen muss. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Müller-Gemmeke, vielen Dank für die Frage. – Geben Sie mir recht, dass man nicht pauschal über alle Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen reden kann? ({0}) – Ich möchte auf Ihre Frage antworten. Ich glaube, man muss erst einmal die Pauschalierung, die in diesem Antrag steckt, ansprechen. ({1}) Wenn man sich die ersten Sätze des Antrags durchliest, dann merkt man sehr klar, welches Bild Sie von den Arbeitgebern haben. ({2}) Ich komme aus einem Familienunternehmen. Mein Vater hatte ein kleines Unternehmen. Ich weiß selber, wie das ist. Man muss seine Sicht der Dinge schildern und erkennen, wie wichtig es ist, das Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu fördern. Ja, es gibt schwarze Schafe. Wenn Unrecht geschieht, dann muss das verfolgt werden; da gebe ich Ihnen vollkommen recht. ({3}) Wir leben in einem Rechtsstaat. Die Voraussetzungen müssen stimmen. Rechtliche Lücken muss man in Bereichen – das hat Uwe Schummer vorher angekündigt –, in denen es sie gibt, schließen. Ich glaube, dass die Antwort auf Ihre Fragen hiermit erfolgt ist. ({4}) Ich möchte ganz kurz zu den Herausforderungen der sozialen Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert kommen. In Zeiten von Globalisierung und digitaler Revolution des Arbeitsmarktes wird die Aufgabe der Betriebsräte immer anspruchsvoller und dadurch wichtiger denn je. Aus diesem Grund müssen wir das allgemeine Initiativrecht für Betriebsräte auf Weiterbildung stärken. Bei der grenzüberschreitenden Sitzverlagerung von Gesellschaften muss die Einhaltung der nationalen Vorschriften über die Mitbestimmung gesichert werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, schon im Jahr 2016 war Ihr Antrag nicht innovativ. Sie setzen allein auf Regulierung und unverhältnismäßige Strafen. Wir setzen auf Motivation und Regulierung. Wir wollen innovative Anreize schaffen. Die Begeisterung für Mitbestimmung erreicht man nicht durch Regulierung. Die Begeisterung für Mitbestimmung erreicht man nur durch Motivation. Das ist gesellschaftlicher und betrieblicher Zusammenhalt. Das ist Zukunft. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes hat für die Sozialdemokratie der Abgeordnete Michael Gerdes das Wort. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe FDP! Liebe Linke! Niemand stellt die Arbeitgeber unter Generalverdacht. Viele Arbeitgeber – das muss man auch einmal feststellen – machen einen guten Job. Der Debattenverlauf zeigt, dass niemand von uns den Sinn und Zweck der Mitbestimmung infrage stellt. Wir tun gut an dieser demokratischen Grundhaltung. Hier geht es um die Wahrnehmung von Rechten, die unseren Betrieben im Kleinen und somit unserer Gesellschaft im Großen guttun. So kämpfen Betriebsräte zum Beispiel für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Betrieb, für Beschäftigungsförderung und Beschäftigungssicherung sowie für Arbeitsschutzmaßnahmen, für die Eingliederung schutzbedürftiger Personen, aber auch für Initiativen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den Betrieben und noch viel mehr. Um all diese Rechte geht es, wenn deutschlandweit in den Unternehmen zwischen März und Mai neue Betriebsräte gewählt werden. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch an alle bereits gewählten Betriebsräte und „Viel Erfolg!“ an alle weiteren Bewerber. ({0}) Danke auch an alle Beschäftigten, die sich derzeit zur Wahl stellen und Interessen vertreten wollen. Lasst euch nicht beirren! Mitbestimmung ist kein Bremsklotz für unternehmerische Tätigkeit. Ihr seid auch keine Problememacher. Im Gegenteil: Dort, wo Mitbestimmung gelebt wird, kann die Produktivität gesteigert werden und können Probleme im Betriebsablauf gelöst werden. Daher, liebe Arbeitgeber: Keine Angst vor Betriebsräten! Laut DGB-Schätzung wird aktuell in 28 000 Betrieben über circa 180 000 Mandate abgestimmt. Das klingt viel, könnte aber besser sein. Nicht einmal jeder zweite Beschäftigte wird von einem Betriebsrat vertreten. Wir müssen dringend Wege zur Stärkung der Mitbestimmung finden. Das beinhaltet auch die Überprüfung des Betriebsverfassungsgesetzes – eines Gesetzes, das im letzten November 65 Jahre alt geworden ist. Alles Gute nachträglich! Als ehemaliger Betriebsrat kann ich voller Überzeugung sagen: Das Betriebsverfassungsgesetz hat sich für Arbeitnehmer und Arbeitgeber bewährt. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch vor Augen führen, dass die Arbeitswelt heute eine andere ist als zur Geburtsstunde dieses Gesetzes. Auch seit der letzten Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 gibt es teilweise extrem veränderte Rahmenbedingungen für Erwerbstätige; Stichworte: Digitalisierung, Arbeit 4.0. Darauf muss der Gesetzgeber gemeinsam mit den Sozialpartnern Antworten geben. Wie organisieren sich Erwerbstätige, wenn Tätigkeiten, Arbeitsorte und Arbeitszeiten flexibler werden und sich damit die Bezugsgrößen der Betriebsratsarbeit verschieben? Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, Ihr Antrag ist uns aus der vergangenen Wahlperiode bekannt. Keine Frage: Es gibt viel Handlungsbedarf. Die Lücken haben uns die Experten bei der Anhörung in der vergangenen Wahlperiode aufgezeigt. Sie liegen etwa bei der Freistellung, beim Wahlverfahren, beim Kündigungsschutz oder beim Thema „Einschüchterung von Arbeitnehmervertretern“. In diesem Sinne enthält der vorliegende Antrag viele Sätze und Forderungen, die ich unterstützen kann. Was ich nicht teile, ist die Forderung zur Verpflichtung von Arbeitgebern, Mitarbeiterversammlungen zu organisieren, bei denen auf die Möglichkeit von Betriebsratswahlen hingewiesen wird – getreu dem Motto: Zum Jagen müssen wir sie tragen. Nein, die Initiative muss von der Belegschaft ausgehen. Das macht Betriebsratswahlen glaubwürdiger und schützt auch vor Beeinflussung. ({1}) Mitbestimmen heißt auch Mitverantworten. ({2}) Selbstverständlich wünsche ich mir, dass wir eine echte, wahrnehmbare Stärkung der Mitbestimmung erreichen. Die SPD-Fraktion ist dazu bereit. Lieber Uwe Schummer, auch in einer aktuellen Broschüre der CDA heißt es: „Kündigungsschutz für Betriebsratsgründer schon vor der Einladung zur Wahlversammlung“. Mit dieser Forderung kann ich mitgehen. Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an! Herzlichen Dank und Glück auf! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Gerdes, auch Sie sind punktgenau zum Ende gekommen. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Whittaker das Wort für die CDU/CSU. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Frau Krellmann, ich finde es immer wieder interessant und faszinierend, wie Sie sich an diesem Pult als einzig wahre Vorkämpferin der Betriebsrätinnen und Betriebsräte in diesem Land gerieren ({0}) und uns quasi in eine Ecke stellen und den Eindruck erwecken, als hätten wir von Mitbestimmung in diesem Land keine Ahnung. Ich will noch einmal daran erinnern: Es war meine Fraktion, die 1952 – das ist schon ein bisschen her – dieses Betriebsverfassungsgesetz überhaupt eingeführt hat und zu einem großen Erfolg in Deutschland gemacht hat. Darauf sind wir sehr stolz. ({1}) Denn wir haben auch in unseren Reihen engagierte Betriebsrätinnen und Betriebsräte, die hervorragende Arbeit leisten. Ich habe das selbst in meinem Berufsleben erlebt. Als wir in der Wirtschaftskrise 2008/2009 vor erheblichen, schwierigen Entscheidungen standen, haben die Betriebsräte gemeinsam mit den Unternehmen versucht, möglichst viele Arbeitsplätze zu retten. Ich bin daher jedem Betriebsrat dankbar, der sich da engagiert. Dass es so funktioniert, liegt in dem Geist des Gesetzes begründet. Ich halte es für hilfreich, das hier noch einmal zu zitieren. § 2 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz lautet: Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen. Daran wird deutlich, worum es eigentlich geht. Es geht darum, dass Arbeitgeber nicht einseitig ihre betrieblichen Interessen egoistisch verfolgen dürfen und Arbeitnehmer genauso wenig egoistisch handeln dürfen. Vielmehr sind beide verpflichtet, zum Wohle des Gesamten zu agieren. De facto haben wir ihnen zwei Seelen in dieselbe Brust gelegt. Dieses System hat sich bewährt. ({2}) Sie versuchen stattdessen, mit dem Betriebsverfassungsgesetz eine Arena für Gladiatorenkämpfe aufzubauen. Sie wollen Misstrauen säen und versuchen, zu spalten. Ich möchte einen Punkt aufgreifen, den Kollege Gerdes schon genannt hat. Wir haben im Grundgesetz die Koalitionsfreiheit verankert. Das heißt nichts anderes, als dass die Menschen entscheiden können, ob und, wenn ja, wie sie sich betrieblich organisieren wollen. ({3}) Es gibt keine Pflicht, sich zu organisieren. Sie wollen in Ihrem Antrag ganz klar verankern, dass jedes Jahr darüber abgestimmt wird, ob es einen Betriebsrat geben soll oder nicht, nach dem Motto „So lange wählen, bis das Ergebnis passt“. Das hat mit demokratischen Entscheidungen unserer Meinung nach nichts zu tun. ({4}) Deshalb müssen wir noch einmal genau hinschauen: Ja, wir haben unterschiedliche Arten der Vertretung. In großen Konzernen, solchen ab 500 Mitarbeitern, haben wir eine Vertretung durch Betriebsräte von 85 Prozent. Bei kleinen Unternehmen – mit 5 bis 50 Mitarbeitern – sind es gerade einmal 6 Prozent. Das könnte auch einfach damit zusammenhängen, dass man sich kennt, wenn man sich in einem Zehnmannbetrieb auf dem Flur über den Weg läuft, und deshalb die vertrauensvolle Zusammenarbeit sich anders organisiert als über einen Betriebsrat. Deshalb sagen wir: Ja, wir wollen auch in kleineren Betrieben den Betriebsrat fördern. Das tun wir, indem wir zum Beispiel das Wahlrecht erleichtern. Und wir stärken sogar in dieser Legislaturperiode die Betriebsräte, indem wir ihnen das Initiativrecht geben, was Weiterbildung angeht, ein wichtiges Thema, wie die Diskussion um die Digitalisierung zeigt. Darauf hat Kollege Gerdes gerade zu Recht hingewiesen. Man könnte es auch ausweiten. Man könnte auch darüber diskutieren, ob wir bei den Betriebsratswahlen nicht auch Onlinewahlen bräuchten. Wir könnten darüber diskutieren, ob wir nicht eigentlich auch Betriebsräten das Recht geben müssten, sich per Telefonkonferenzen oder Videoschaltkonferenzen auszutauschen. Wenn es stimmt, dass die Unternehmen aufgrund der Digitalisierung über ganz Deutschland und Europa verstreut sind, dann können wir ihnen doch nicht mehr zumuten, die Betriebsratsarbeit vor Ort zu organisieren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir müssen ihnen stattdessen die Möglichkeit geben, dass sie sich per Konferenz zusammenschalten. Ich freue mich auf die Debatte des Ausschusses darüber. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. Das können Sie im Ausschuss dann auch alles gerne erörtern. – Mit den Worten des Kollegen Whittaker schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/860 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist erkennbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es stimmt: Bakterien kommen überall vor. Und das ist erst mal gut so. Wir brauchen Bakterien auf unserer Haut, in unserem Darm, im Boden und auch überall sonst in der Umwelt. Und ja, es ist auch richtig, dass gerade im Wasser sehr häufig sehr resistente Keime vorkommen. Das ist erst mal kein Grund zur Sorge. Aber was wir jetzt finden, ist etwas völlig anderes. In Seen und Bächen wurden Keime in relevanter Zahl gefunden, die auch beim Menschen vorkommen und die gerade gegen sehr wichtige Antibiotika resistent sind. Das kommt nicht von ungefähr. Nach dem Motto „Viel hilft viel“ wurden in der Behandlung von Menschen zu häufig und teilweise falsch dosiert Antibiotika eingesetzt. ({0}) Aber noch viel mehr – das muss man bedenken – wurden und werden sie in der Tierhaltung, nämlich tonnenweise, verwendet. Mittlerweile gibt es Einschränkungen, doch das reicht längst nicht. ({1}) Es haben sich Resistenzen herausgebildet. Diese werden zwischen den Bakterien weitergegeben, und letztendlich erreichen sie über Umwege auch uns Menschen. Und das ist dramatisch. Denn immerhin sterben jedes Jahr weltweit über 700 000 Menschen an Infektionen durch multiresistente Bakterien. Das dürfen wir einfach nicht hinnehmen. ({2}) Bakterielle Erkrankungen waren eine Geißel der Menschheit, bis die Wirkung der Antibiotika entdeckt wurde und sie für alle Menschen, zumindest hier bei uns, zur Verfügung standen. Das ist noch nicht lange her. Fragen Sie mal nach, wie viele Kinder und Erwachsene an Diphtherie, entzündeten Wunden oder sogar an einem lächerlichen vereiterten Zahn gestorben sind. Ich habe zehn Jahre lang in der Diagnostik bakterieller Erkrankungen gearbeitet. Ich weiß, wie schwer und vor allen Dingen wie schnell ein Krankheitsverlauf ist, wenn nicht das geeignete Medikament gefunden wird. Ich sage Ihnen: Das wollen wir alle nicht haben. ({3}) Es ist nicht lustig, wenn Sie solche Keime nach einer ganz einfachen OP plötzlich im Knie haben oder wenn sie auf Ihrer Herzklappe sitzen; da sitzen sie nämlich sehr gerne. Wenn genau diese Keime heutzutage in Badegewässern, in unseren Bächen und Flüssen gefunden werden, dann ist das keine abstrakte Gefahr mehr. In Hessen ist zum Beispiel ein Mann gestorben, der in einen Bach gefallen ist. Er ist nicht ertrunken, er ist an einer Infektion mit Bakterien gestorben, die nachweislich aus diesem Bach stammten. Damit dieses Schicksal nicht weitere Menschen trifft, müssen wir jetzt handeln. ({4}) Zum einen brauchen wir einen Überblick. Nicht die Presse, sondern unsere Behörden müssen das Wasser untersuchen. Möglichkeiten sind da. Allein in Hessen gibt es über 200 Messstellen. Man muss nur weitere Parameter untersuchen. Das ist machbar, und das ist bezahlbar. ({5}) Zum anderen müssen wir den Umgang mit Medikamenten überdenken, ganz grundsätzlich, und bei der Herstellung mehr Wert auf Umweltverträglichkeit legen, auf gezielte Verschreibungen achten und bei der Entsorgung aufpassen, dass Rückstände und Keime nicht ins Wasser gelangen. ({6}) Vor allen Dingen muss Schluss sein mit dem Einsatz von Reserveantibiotika, zum Beispiel Colistin. Das wird beim Menschen nur verwendet, wenn nichts anderes mehr hilft. Im Geflügelstall gehört das noch zum Standardprogramm. Das alles schlagen wir in unserem Antrag vor, um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen; denn Wasser ist Lebenselixier, und das muss es bleiben, und zwar um jeden Preis. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Dr. Hoffmann. – Als Nächster erteile ich das Wort meiner schleswig-holsteinischen Kollegin Astrid Damerow für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Ich darf darauf hinweisen: Auch für sie ist es die erste Parlamentsrede im Deutschen Bundestag.

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ohne Wasser kein Leben auf unserer Erde! Wir alle nutzen Wasser auf vielfältige Weise. Deshalb ist es wichtig, unser Wasser zu schützen, auch vor multiresistenten Keimen. In Deutschland sterben jedes Jahr Menschen durch Antibiotikaresistenzen. Wasser kann dabei einer der zahlreichen Übertragungswege sein. Die im Auftrag des NDR durchgeführten Proben aus Bächen, Flüssen und Badeseen in Niedersachsen, die alle positiv waren, erfüllen uns deshalb natürlich mit Sorge. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bezieht sich auf diese Berichterstattung. Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, erweckt allerdings den Eindruck, dass wir uns mit diesem Problem in der Vergangenheit nicht beschäftigt haben. Das ist eindeutig falsch. ({0}) Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung nimmt das Thema „multiresistente Keime“ seit Jahren sehr ernst. Nachdem der Einsatz von Antibiotika und damit auch die Entwicklung von Resistenzen vor 20 Jahren weltweit erheblich anstiegen, wurden unter anderem seit 2008 mit der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie viele wirksame und hilfreiche Maßnahmen umgesetzt. ({1}) Auch dadurch ist der Verbrauch von Antibiotika in der Veterinärmedizin und der Tierhaltung seit 2011 um mehr als 50 Prozent gesunken. ({2}) Der Einsatz von Antibiotika wird gezielt erfasst, um Multiresistenzen frühzeitig zu erkennen. Die Hygienemaßnahmen in Krankenhäusern wurden deutlich verschärft. Ressortübergreifend arbeiten die Bundesministerien für Gesundheit, für Ernährung und Landwirtschaft sowie für Bildung und Forschung daran, die erwähnte Strategie beständig zu verbessern. Diese Strategie basiert auf einem ganzheitlichen Ansatz, weil Menschen und Tiere unter den gleichen Infektionskrankheiten leiden und dagegen auch die gleichen Antibiotika erhalten. Entstehende Multiresistenzen betreffen also Mensch, Tier und Natur gleichermaßen. ({3}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da wir nicht alleine auf der Welt sind – Pflanzen, Tiere und Lebensmittel werden im Übrigen weltweit gehandelt –, war es richtig, dass die Bundesregierung mit der Umsetzung der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie frühzeitig einer Forderung der Welthandelsorganisation nachgekommen ist. Auch die Europäische Kommission hat bereits reagiert, und schon 2015 – das ist hier schon erwähnt worden – hat Deutschland dieses Thema auf die Tagesordnung des G-7-Gipfels gesetzt. ({4}) Es muss uns aber auch klar sein, dass wir nach wie vor zu wenig über diese Keime wissen. Wir brauchen noch mehr belastbare Daten und auch Forschungsergebnisse. Deshalb fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung große Projekte, wie beispielsweise HyReKA. In diesem Verbundprojekt wird die Ausbreitung resistenter Erreger über klinische, landwirtschaftliche und kommunale Abwässer untersucht und geeignete Gegenstrategien geprüft. Diese Ergebnisse gilt es noch abzuwarten. Erst dann können wir beispielsweise über ein breitangelegtes Boden- und Gewässermonitoring reden. ({5}) Schon heute stellen wir an die Qualität unseres Wassers höchste Anforderungen. Die Trinkwasserverordnung sieht eine Aufbereitung und, wenn erforderlich, auch eine Desinfektion mikrobakteriell belasteten Wassers vor. Die Kontrolle von Oberflächengewässern liegt jedoch in der Kompetenz der Länder. Deshalb ist und bleibt es wichtig, dass Bund und Länder hier auch in Zukunft eng zusammenarbeiten. ({6}) Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen möchte ich deshalb sagen: Wir haben die gleiche Sorge, aber durchaus unterschiedliche Herangehensweisen. Es darf jetzt nicht darum gehen, möglichst schnell ganz viel zu fordern. Vielmehr ist jetzt wichtig, dass wir mit aller Sorgfalt das Richtige tun. ({7}) Ob ein flächendeckender Handlungsbedarf besteht, kann erst beurteilt werden, wenn die von der Bundesregierung initiierten Forschungsprojekte zu Ende geführt worden sind. Nach wie vor müssen wir natürlich Aufklärung betreiben – bei Ärzten, Apothekern, Landwirten, Tierhaltern und nicht zuletzt bei allen Patienten. Mit Antibiotika sorgsam umzugehen und sie sachgemäß zu entsorgen, ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Um es ganz deutlich zu sagen: Antibiotika gehören in den Hausmüll und nicht in die Toilette. ({8}) Natürlich folgen wir auch dem von der Weltgesundheitsorganisation anvisierten Ziel, neue und bessere Medikamente zu erforschen und einzusetzen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf einen Punkt eingehen, den Sie in Ihrem Antrag erwähnt haben. Die Forderung, die Zulassung von Medikamenten davon abhängig zu machen, ob sie biologisch abbaubar sind, halte ich jedenfalls für fragwürdig. Die Voraussetzung für die Genehmigung von Medikamenten muss in allererster Linie deren Wirksamkeit sein. ({9}) Ich finde es einigermaßen schwierig, einem Patienten zu erklären, dass er ein dringend benötigtes Antibiotikum nicht bekommen kann, weil es nicht biologisch abbaubar ist. ({10}) Es besteht kein Grund zur Panik; das, denke ich, müssen wir ganz deutlich sagen. Es wäre fahrlässig, die Menschen in übertriebene Sorge zu versetzen. Vielmehr müssen wir weiterhin aufklären und forschen. Dies ist der beste Weg. Wenn wir belastbare Ergebnisse haben, werden wir die entsprechenden Programme und Gegenmaßnahmen ergreifen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow, liebe Astrid. – Als Nächstes hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Thews. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Fund von multiresistenten Keimen in Flüssen und Seen ist besorgnis­erregend. Wir wissen, dass der übermäßige und unsachgemäße Gebrauch von Antibiotika die Entstehung von multiresistenten Keimen fördert. In Deutschland werden Antibiotika hauptsächlich in der Human- und Tiermedizin eingesetzt. Über die Ausscheidungen von Mensch und Tier gelangen Medikamentenrückstände, Antibiotika und natürlich auch resistente Keime in die Gewässer. Im Sommer baden wir in diesen Gewässern, und aus einigen dieser Gewässer gewinnen wir auch unser Trinkwasser. Verständlicherweise sind die Menschen besorgt. Drei Fragen stehen für mich im Vordergrund: Erstens. Wo treten diese Probleme überhaupt auf? Die Länder sind dafür verantwortlich, die Untersuchungen der Oberflächengewässer verstärkt vorzunehmen. Sie müssen ihre Untersuchungsprogramme erweitern und diese Keime in ihren Untersuchungsumfang aufnehmen. Zweitens. Wie gelangen die multiresistenten Keime überhaupt in die Gewässer? Wir vermuten momentan, dass Keime über Kläranlagen, Abschläge von Regenüberlaufbecken oder auch diffuse Ausschwemmungen in der Landwirtschaft in die Böden und Flüsse gelangen. Bisher ist allerdings mithilfe von wissenschaftlichen Untersuchungen herausgefunden worden, dass Kontaminationen insbesondere im Umfeld von Krankenhäusern, aber zum Beispiel auch im Abwasser von Flugzeugen zu finden sind. Ich glaube, wir haben hier noch deutlichen Informationsbedarf. Drittens – und das ist vielleicht der wichtigste Punkt –: Wie gefährlich sind diese Kontaminationen überhaupt? Die Tatsache, dass man in der Umwelt etwas findet, sagt noch nichts darüber aus, ob es wirklich gefährlich ist. Die Analyseverfahren haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Aber wir brauchen jetzt die Beurteilung. Da haben wir momentan einen großen Nachholbedarf, auch in der wissenschaftlichen Forschung. ({0}) Klar ist: Wir brauchen mehr Informationen. Ich bin zuversichtlich, dass Forschungsprojekte wie das vom BMBF geförderte Verbundprojekt HyReKA schon in näherer Zeit neue Informationen bringen. Einiges liegt schon vor. Derzeit finden die Abwassertage in Essen statt; dort wird darüber berichtet. Wir müssen die Wirkung der für uns alle lebenswichtigen Antibiotika erhalten und die Entstehung der multiresistenten Keime so weit wie möglich verhindern; das ist in erster Linie ein medizinisches Thema. Ihre Verbreitung in der Umwelt zu stoppen, ist ein Thema des Umweltschutzes. Deshalb müssen wir mit unseren Anstrengungen schon sehr früh an allen Stufen des Lebenszyklus eines Medikaments ansetzen, angefangen bei der Herstellung. Es gibt bereits Forschungen zu Wirkstoffen, die sich im Körper abbauen und gar nicht erst in die Umwelt gelangen. Ansetzen müssen wir aber auch bei der Nutzung. Wir müssen den Einsatz von Antibiotika in der Human- und Tiermedizin, soweit vertretbar, reduzieren. Auch das müssen wir immer wieder hinterfragen. ({1}) Schließlich – ich komme zu einem meiner Lieblingsthemen – müssen wir auch bei der Entsorgung von Antibiotika ansetzen. Wir müssen bundesweit immer wieder darauf hinweisen, dass Medikamentenreste richtig entsorgt werden müssen, und dies möglichst mit einer bundeseinheitlichen Regelung verbinden. Ich sage es noch einmal ganz deutlich – die Kollegin hat es gerade gesagt –: Medikamente gehören auf keinen Fall in die Toilette! Das ist absolut richtig. ({2}) Aber auch technische Lösungen werden in Zukunft notwendig sein. Das gilt nicht nur für multiresistente Keime; auch andere Spurenstoffe sind in den Kläranlagen vorhanden. Es werden weitere Reinigungsstufen in den Kläranlagen erforderlich sein; aber wir müssen auch darüber reden, wie diese dann finanziert werden. Meiner Ansicht nach müssen diese von den Verursachern finanziert werden, und hier sehe ich vor allen Dingen die Hersteller und Inverkehrbringer von Arzneimitteln in der Verpflichtung. ({3}) Wichtig ist bei all unseren Bemühungen, dass wir unser Wissen über die Entstehung und Verbreitung multiresistenter Keime verbessern und damit den Kampf dagegen effektiver führen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Problem in Zukunft mit den Forschungsergebnissen in den Griff bekommen, glaube aber auch, dass wir noch weitere Informationen brauchen. Deswegen freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Thews, herzlichen Dank. – Ich erteile als Nächstes dem Kollegen Dr. Heiko Wildberg von der AfD-Fraktion das Wort und weise darauf hin, dass es seine erste Parlamentsrede ist. ({0})

Dr. Heiko Wildberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004935, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit dem Vorkommen von multiresistenten Keimen in Oberflächengewässern, einem Thema, bei dem wir bis vor kurzem der Meinung waren, dass das eigentlich nur für Krankenhäuser oder andere medizinische Einrichtungen ein Problem darstellt. Nun erfahren wir, dass sich diese Keime auch in Oberflächengewässern, in Seen, Vorflutern, an Kläranlagen etc., befinden können. Allerdings gibt es zur Ausbreitung dieser Keime noch nicht genügend Daten. Die wenigen bisher vorliegenden Daten zeigen, dass es zwar schon eine Verbreitung geben kann, aber noch längst kein Grund zur Panik besteht. Uns allen muss bewusst sein, dass dies nur ein Teilaspekt einer sich bedrohlich zuspitzenden Antibiotikaresistenz ist, die heute eine der größten Herausforderungen der Medizin und der Gesundheitspolitik darstellt. Die vorliegende Datenbasis ist, wie gesagt, noch recht dürftig – zu dürftig, um die gesamte Tragweite dieses Problems in Oberflächengewässern beurteilen zu können. Sie erlaubt daher noch keine Schlüsse auf Qualität und Quantität der Ausbreitung dieser Keime. Auch dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass die Zahl der Infektionen durch multiresistente Keime in Oberflächengewässern verschwindend gering ist, vergleicht man sie mit der Anzahl der Infektionen in Kliniken. Insoweit ist Panik hier sicherlich nicht angesagt. Die Ansteckung über Gewässer ist aktuell sicherlich nicht der kritische Infektionspfad. Dennoch ist es unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips notwendig, zeitnah mit gezielten Untersuchungen das Ausmaß der Belastung verschiedener Oberflächengewässer hinreichend zu erfassen. Die Politik muss auf Bundes- wie auf Landesebene neben den bisherigen Projekten dafür sorgen, dass ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen und auch der rechtliche Rahmen für solche Untersuchungen im Bedarfsfall geschaffen wird; ({0}) denn erst nach Abschluss dieser Untersuchungen wird sich zeigen, ob eine Keimbelastung der Oberflächengewässer nur ein punktuelles Problem ist oder ein weitverbreitetes Problem darstellen könnte. Folgt man der Argumentationslinie der Antragsteller, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ergeben sich immerhin einige nachvollziehbare bzw. vermeintlich nachvollziehbare Vorschläge für Maßnahmen zur Eindämmung des Problems. Unstrittig sollte die weitgehende Vermeidung des Einsatzes von Reserveantibiotika in der Tierhaltung sein. Vorsichtig hingegen muss über die geforderte Reduktion des Antibiotikaeinsatzes in der Landwirtschaft diskutiert werden. Wollen wir denn stattdessen vermehrt Chlorhühnchen verzehren? ({1}) Die Alternative kann das nicht sein. Mit einer kleinteiligen Biolandwirtschaft allein lassen sich in absehbarer Zeit aber keine 82 Millionen Bundesbürger ernähren. ({2}) Zu den übereilten Forderungen im Antrag zählt beispielsweise auch die nach Einführung einer zusätzlichen Klärstufe in Kläranlagen. Allein diese Maßnahme würde die Kosten der Abwasserbehandlung dramatisch erhöhen. Das würde unzumutbare Mehrkosten für Privathaushalte bedeuten, die wir nur dann entstehen lassen dürfen, wenn die Notwendigkeit der Maßnahme hinreichend nachgewiesen ist. Die richtige Vorgehensweise, werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, muss deswegen sein: zuerst eine belastbare Datenbasis ermitteln und danach die Schlussfolgerungen ziehen – und nicht umgekehrt, wie Sie es tun. Sie zäumen das Pferd hier nämlich wieder einmal von hinten auf. ({3}) Der Schutz des Menschen und seiner Gesundheit hat für uns, die AfD-Fraktion, oberste Priorität. Dies wollen wir unter Berücksichtigung folgender Voraussetzungen erreichen: Erstellung einer gesicherten Datenbasis; Durchführung von Maßnahmen auf Grundlage ebendieser Datenbasis; Einhaltung der Verhältnismäßigkeit bei allen Maßnahmen; Nachvollziehbarkeit, Berechenbarkeit und Planungssicherheit sowie – ganz wichtig – Intensivierung der Forschung und Entwicklung von Alternativen zum konventionellen Antibiotikaeinsatz. Die AfD-Fraktion wird wie bisher schon im Bereich Umwelt, Gesundheit und Landwirtschaft in diesem Sinne dazu beitragen, die zunehmend ideologisierte und realitätsferne Politik wieder auf eine vernunftorientierte Basis zu stellen. ({4}) Für das heutige Thema der multiresistenten Keime gilt es, jegliche ideologisch motivierte Angstmache zu vermeiden. Aber einstweilig werden wir einer Überweisung des Antrags an die zuständigen Ausschüsse zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Dr. Wildberg. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Lukas Köhler für die Freien Demokraten. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von den Grünen! Wasser ist unsere Lebensgrundlage. Trinkwasser ist zudem unser wichtigstes Lebensmittel. Ich glaube, diesen ersten Worten Ihres Antrags wird jeder in Deutschland ganz allgemein zustimmen können. Leider wird der Rest Ihres Antrages diesem wichtigen Thema nicht gerecht. ({0}) Ich denke, er wird auch Ihrem Anspruch an eine vernünftige Politik nicht gerecht. Ich stimme Ihnen sogar zu, dass wir in diesem Bereich mehr Forschung und mehr Wissen brauchen. Wir brauchen mehr Informationen darüber, woher die Keime kommen, wie gefährlich sie sind und, falls sie gefährlich sind, wie wir sie zumindest so weit wie möglich verringern können. Da wurde in den letzten Jahren viel zu wenig getan; denn das Problem ist ja nicht neu. Im Gegensatz zu dem, was der Vertreter der AfD gerade gesagt hat, ist es spätestens seit 2012, als Schweizer Forscher multiresistente Keime im Genfer See festgestellt haben, auch auf der politischen Bühne als Problem bekannt. Die Ergebnisse der NDR-Studie sind von daher auch ein Auftrag an die neue Bundesregierung, Forschung und Austausch mit den Bundesländern endlich intensiv voranzutreiben. ({1}) Das eigentliche Thema dieses Antrags ist aber ein völlig anderes. Sie erwähnen zwar, dass wir mehr Wissen und mehr Forschung brauchen. Gleichzeitig tun Sie aber so, als seien Ihnen die Zusammenhänge, Verursacher und Folgen schon völlig bewusst. Ich weiß, wie gerne Sie Grüne jede Bühne dazu nutzen, um sich an Ihren alten Feindbildern abzuarbeiten. ({2}) In diesem Fall trifft es insbesondere die Landwirte und Mediziner. Aber lassen Sie uns doch bitte keine vorschnellen Urteile fällen. Glauben Sie denn im Ernst, dass auch nur ein einziger Landwirt absichtlich unserer Umwelt schadet oder unser Wasser verunreinigen will? ({3}) Andersherum bedeutet das aber natürlich nicht, dass wir keine problematischen Einträge haben. Ich sage Ihnen ganz klar: Über Beispiele wie den Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft oder auch über Verpackungsgrößen in der Humanmedizin müssen wir reden – aber doch bitte in einem vernünftigen Dialog mit den Beteiligten, den Stakeholdern und Akteuren, und nicht in einem Antrag, in dem es um Oberflächengewässer geht. ({4}) Meine Damen und Herren, was mich an diesem Antrag ganz besonders stört, ist, wie dieses so wichtige Thema für billigen Populismus genutzt wird. ({5}) Sie tun doch gerade so, als ob Leib und Leben in Gefahr sei, sobald wir in einen See oder Fluss springen. Dabei sind die Keime, die der NDR gefunden hat, für die allermeisten von uns erst einmal nicht schädlich, es sei denn, wir sind immungeschwächt. Aber dann sollten wir vielleicht auch nicht in einen Badesee springen. ({6}) Außerdem ist es völlig unangebracht, wie Sie mit der Sorge der Menschen um unser Trinkwasser spielen; denn Sie wissen ganz genau: Multiresistente Keime in unseren Oberflächengewässern bedeuten nicht automatisch eine Gefahr für das Trinkwasser. Von daher sind Schnellschüsse wie Ihre Forderung nach einer vierten Klärstufe auch völlig unangebracht; denn „es wird davon ausgegangen, dass eine vollständige Beseitigung multiresistenter Erreger in kommunalen Kläranlagen mit vertretbarem Aufwand nicht möglich ist und im Hinblick auf den derzeitigen Kenntnisstand über die Entstehung und Verbreitung solcher Keime auch nicht angemessen wäre“. Sollten Sie mir das als FDPler nicht glauben wollen, lassen Sie sich hoffentlich von einem Parteikollegen überzeugen: Franz Untersteller, ({7}) der Umweltminister von Baden-Württemberg, antwortete nämlich genau mit diesem Satz auf eine Kleine Anfrage der FDP im Februar dieses Jahres. Also, meine Damen und Herren, lassen Sie uns darüber diskutieren, was gute Wasserqualität ist. Lassen Sie uns darüber diskutieren, was in welchem Kontext getan werden muss. Lassen Sie uns auf wissenschaftlicher Grundlage vernünftige und smarte Umweltpolitik machen. ({8}) Lassen Sie uns aber bitte gerade bei einem so wichtigen Thema hier nicht reinen Populismus als Teil unserer Politik nutzen, sondern lassen Sie uns zu sinnvollen Anträgen kommen. ({9}) Auf jeden Fall ist das Thema Wasser einfach zu wichtig, um Ängste zu schüren und Panik zu verbreiten. Deshalb lassen Sie uns das Thema so behandeln, dass wir seiner Bedeutung und der Verantwortung, die wir dafür in diesem Hause haben, gerecht werden. Vielen lieben Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Dr. Köhler, auch dies war eine Punktlandung, wenn ich das so sagen darf. Herzlichen Dank dafür. Als Nächstes hat für die Fraktion Die Linke der Kollege Ralph Lenkert das Wort. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe nicht, dass antibiotikaresistente Bakterien in unseren Flüssen so eine Überraschung sind. Oder verstehe ich das doch? So, wie hier einige Fraktionen ihr Nichtstun hinter fehlendem Wissen verstecken, ist das ja kein Wunder. ({0}) Alle Bundesregierungen, von GroKo bis Schwarz-Gelb, haben in ihrer Regierungszeit Ursachen, Entstehung und Verbreitung von multiresistenten Keimen ignoriert, und das ist lebensbedrohlich. 15 000 Patienten infizieren sich jedes Jahr in unseren Krankenhäusern mit multiresistenten Keimen. Gleichzeitig wird über Sparmaßnahmen die Hygienequalität zurückgefahren. Es wird geredet, aber die Hygienestandards gehen zurück. Das begünstigt Entstehung und Ausbreitung dieser Keime. ({1}) Woher kommen solche Keime noch? Erstens. 1 700 Tonnen Antibiotika werden jährlich an Schweine, Rinder und Geflügel verfüttert. Über die Gülle gelangen die Keime plus die Medikamentenrückstände in unsere Landwirtschaft und breiten sich aus, und noch immer gibt es keine Liste von Medikamenten, die beim Menschen noch helfen, deren Einsatz bei Tieren aber verboten werden sollte. Das ist ein schweres Versäumnis. ({2}) Zweitens. Es gibt noch immer kein Rücknahmesystem für abgelaufene Altmedikamente. Es gibt noch immer keine Verpflichtung, den Entsorgungsweg auf die Pappschachteln zu drucken. Auch das ist Resultat der Vernachlässigung von Pflichten einer jeden Bundesregierung. ({3}) Drittens. In Billiglohnländern wie Indien werden Antibiotika mit riesigen Profiten produziert; Abwasserreinigung und Klärung entfallen. Bei der Bevölkerungsdichte und den Temperaturen vor Ort züchtet man regelrecht Resistenzen, die dann über Reisende nach Europa kommen, und die Bundesregierung schaut weg.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion?

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie sprachen von einem Einsatz von 1 734 Tonnen an Arzneimitteln in der Nutztierhaltung. Ist Ihnen entgangen, dass die deutsche Landwirtschaft, die deutschen Tierhalter diese Menge in den letzten fünf Jahren um 53 Prozent reduziert haben? Ich frage Sie: Wieso tragen Sie diese alten, falschen Zahlen vor? ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, dass reduziert wurde, stimmt; aber 1 700 Tonnen ist die Zahl des letzten Jahres. ({0}) Insofern sollten Sie noch einmal nachschauen. Schauen Sie auch auf die Sorten der eingesetzten Medikamente. Die Kollegin von den Grünen hat es ausgeführt: Es sind gerade die Medikamente, die beim Menschen gegen multiresistente Keime noch helfen, die in der Geflügelwirtschaft in großer Menge eingesetzt werden. Das, was für uns die Notfalloption ist, wird also flächendeckend eingesetzt. Sie können doch nicht leugnen, dass die Bundesregierung keine Verbotslisten aufgestellt hat. ({1}) Im Jahre 2017 hat meine Fraktion letztmals einen Antrag zur Einführung eines Rücknahmesystems für Altmedikamente, finanziert von Pharmakonzernen, eingebracht. Die Union hat ihn abgelehnt mit der Begründung, das könne man den Pharmaunternehmen nicht zumuten. Mir kommen die Tränen bei Jahresgewinnen in Höhe von 7,3 Milliarden Euro bei Bayer, 7,7 Milliarden Euro bei Novartis, 4,8 Milliarden Euro bei Sanofi, 7,5 Milliarden Euro bei Roche. Sind Sie wirklich der Meinung, dass man denen keine 50 Millionen Euro für ein Rücknahmesystem zumuten kann? Meine Damen und Herren von der Union, Sie brauchen sich nicht zu wundern, dass wir Sie als Lobbyverein der Pharmaindustrie betrachten. ({2}) Die Linke fordert, dass endlich Listen eingeführt werden, durch die der Antibiotikaeinsatz strenger reglementiert und der Einsatz von Reserveantibiotika in der Tiermedizin ausgeschlossen wird. ({3}) Wir fordern, dass endlich mehr Mittel für Hygiene in Krankenhäusern und im medizinischen Bereich bereitgestellt werden. Dazu gehört auch die Schaffung von 100 000 Stellen für Pflegekräfte im Gesundheitswesen, damit eine gute Pflege möglich ist und Resistenzen sich nicht weiter verbreiten. ({4}) Wir fordern zudem, dass die Pharmariesen in Geschäftsberichten nicht nur von ihrer Verantwortung reden, sondern diese Verantwortung auch übernehmen, indem sie ihr Geld nicht nur in profitable Potenzmittel, sondern auch in die Entwicklung neuer Antibiotika stecken. ({5}) Geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, es ist unmöglich, multiresistente Keime aus unserer Umwelt fernzuhalten. Aber es ist möglich, sie einzudämmen und ihre Anzahl zu reduzieren. Das Thema ist zu wichtig, um weiter verschleppt zu werden. Lassen Sie uns endlich handeln! Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollege Lenkert, herzlichen Dank an Sie. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Artur Auernhammer. ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Multiresistente Keime im Wasser – das ist ein wichtiges Thema, das wir hier auch diskutieren sollten. Aber wir sollten es sachorientiert diskutieren und keine Panik verbreiten, wie es einzelne Redner bereits gemacht haben. ({0}) Wir müssen das Schreckensszenario, das hier oft geschildert wurde, einmal ins rechte Licht rücken: Trinkwasser ist in Deutschland das am besten untersuchte Lebensmittel, wesentlich besser als in anderen Staaten dieser Welt. Insofern sollten wir diesen Untersuchungen Glauben schenken, sie ausweiten und unterstützen. Wenn hier die Rede davon ist, dass bereits das Baden gefährlich sei, dann kann ich nur sagen: Wenn Kinder in Badegewässern Probleme haben, dann liegt das meistens daran, dass sie nicht mehr das Schwimmen erlernen, aber nicht an multiresistenten Keimen. ({1}) Insofern haben wir hier, glaube ich, andere Hausaufgaben zu machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den letzten Wochen und auch aktuell zieht durch Deutschland eine richtige Erkältungswelle. Ich möchte nicht wissen, wie viel Antibiotika die deutsche Bevölkerung zu sich genommen hat, auch wenn dies vielleicht gar nicht notwendig gewesen wäre. Nach wie vor gilt nämlich die alte Regel: Eine Erkältung dauert mit Antibiotika sieben Tage und ohne Antibiotika eine Woche. Deshalb ist auch der Einsatz von Antibiotika in der Humanmedizin zu hinterfragen. In dieser Debatte wird aber in erster Linie wieder einmal die große Keule gegen die deutsche Landwirtschaft herausgeholt. Das kann ich so nicht stehen lassen. Die deutsche Landwirtschaft hat in den letzten Jahren, in den Jahren 2011 bis 2016, eine Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes um 56 Prozent geleistet. Ich sage bewusst „geleistet“. Das ist eine große Anstrengung, die unsere Bäuerinnen und Bauern in ihren Betrieben unternommen haben, und das sollten wir mit Respekt zur Kenntnis nehmen. ({2}) Was die angesprochene Liste der Antibiotika angeht, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden dürfen, möchte ich sagen: Herr Kollege von der Linksfraktion, Sie haben eine Tierärztin in Ihrer Fraktion. Fragen Sie diese einmal, wie es sich denn mit dem Antibiotikaeinsatz bei Pferden verhält. Hier wird unterschieden zwischen Pferden, deren Fleisch am Ende ihres Lebens in den Lebensmittelbereich kommt, und Pferden, deren Fleisch nicht in den Lebensmittelbereich kommt. Hier haben wir bereits Listen, hier wird bereits eine Unterscheidung getroffen, und auch das sollten wir respektieren. In meiner Heimatstadt Weißenburg hat der Freistaat Bayern die Installation der sogenannten vierten Reinigungsstufe in der Kläranlage finanziell sehr großzügig unterstützt, und es gibt jetzt auch Versuche, wie sich diese vierte Reinigungsstufe auswirkt. Aber solange der Eintrag durch die Abwässer – da sind wir wieder bei der Erkältungswelle in Deutschland – extrem steigt bzw. extrem hoch ist, hilft uns auch die Investition in eine vierte Reinigungsstufe nicht. Wir müssen das Problem an der Wurzel anpacken. Das heißt: Aufklärung ist in der Humanmedizin wesentlich wichtiger als in der Veterinärmedizin. ({3}) Meine Damen und Herren, die deutsche Landwirtschaft hat unwahrscheinlich viel dazu beigetragen, dass der Einsatz von Antibiotika zurückgegangen ist. Wir haben freiwillige Produktionsvereinbarungen getroffen, wir haben kontrollierte Fleischproduktionsprogramme aufgelegt, die diesen Einsatz von Antibiotika reduziert haben. Vor allem dürfen wir nicht vergessen: Der Einsatz von Antibiotika bedeutet für viele Betriebe, gerade unsere klein- und mittelbäuerlichen Betriebe, einen sehr großen bürokratischen Aufwand. Diesen bürokratischen Aufwand müssen die Betriebsleiter, die Bäuerinnen oder die Bauern genauso wie die Tierärzte leisten. Oft dauert die Bürokratie länger als die Tierbehandlung. Das darf es auch nicht sein. Hier sollten wir den Einsatz respektieren, unterstützen und weiterhin fördern. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es dazu dient, dass der Horizont erweitert wird, bitte, gern, Herr Krischer. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich würde das bedingungslos erlauben.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Auernhammer, Sie haben mehrfach darauf abgehoben, dass der Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft zurückgegangen sei. Ich möchte die Frage an Sie richten: Ist Ihnen bekannt – dazu haben Sie nichts gesagt –, dass der Einsatz von Reserveantibiotika, also die Brandmauer für die Medizin, um schlimme Infektionen für uns alle zu verhindern, in den letzten Jahren in der Landwirtschaft deutlich angestiegen ist? Meine zweite ganz konkrete Frage, die ich an Sie richten möchte: Finden Sie den Einsatz von solchen Reserveantibiotika in der Tierhaltung, insbesondere in der Fleischproduktion, richtig, oder würden Sie mir zustimmen, dass man das der Humanmedizin vorbehalten soll? ({0})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Krischer, würden Sie mir zustimmen, dass wir, wenn ein Tier erkrankt ist, also leidet, alles Mögliche tun sollten, dieses Tier zu heilen? ({0}) – Das hat auch etwas mit der Fleischproduktion zu tun. – Deshalb ist es notwendig, dass wir kranken Tieren auch helfen. ({1}) Das hat etwas mit Tierschutz zu tun. Zu Ihrer Frage nach den Reserveantibiotika. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier stellt sich erst einmal die Frage: Was definieren wir alles als Reserveantibiotika? ({2}) – Ja, hier wird ständig neu definiert. – Nennen wir es einmal so: Aufgrund der neuen Forschung bezüglich Antibiotika, Arzneimittel sind wir hier in einem gleitenden Prozess. Er wird sich in Zukunft auch noch ändern, und es werden in Zukunft noch neue Antibiotika auf den Markt gebracht werden. – Vielen Dank. ({3}) – Ich weiß, dass man die Grünen eigentlich nie befriedigen kann in diesem Haus. ({4}) Aber auch in dieser Legislaturperiode wird sich nichts ändern. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Erlauben Sie mir kurz den Hinweis: Es mag sein, dass die Antwort Sie nicht zufriedenstellt, von befriedigen will ich gar nicht reden. ({0}) Aber der Redner antwortet so, wie er es für richtig hält, auch wenn es Ihnen möglicherweise nicht ausreichend erscheint.

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte dies nicht weiter definieren. Auf Bundesebene haben das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits im Mai 2015 die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie auf den Weg gebracht. Dort werden viele Maßnahmen zusammengeführt, die zu einer Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes in der Human- und in der Veterinärmedizin beitragen werden. Ein Konzept zur Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes in der Nutztierhaltung wurde bereits mit der 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes verankert. Das hatte einen riesigen bürokratischen Aufwand für unsere Betriebe zur Folge, den sie auch geleistet haben. Das sollten wir auch anerkennen. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch einmal Respekt für alle Bäuerinnen und Bauern, für alle Tierärzte, die mit ihrer Arbeit vor allem dazu beitragen, den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu reduzieren. Wir sollten uns auch in der gesamten Diskussion wieder auf die Humanmedizin konzentrieren; denn hier ist ein wesentlich größeres Einsparpotenzial als in der Tierhaltung. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Auernhammer. – Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem Abgeordneten Rainer Spiering für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Gäste auf den Tribünen! Kolleginnen und Kollegen! Die Frage des Einsatzes von Antibiotika erzeugt bei mir Betroffenheit. Wir diskutieren hier auf der Basis eines NDR-Berichts. Der Fluss, der dort benannt worden ist, fließt durch meine Heimatstadt, die Hase. Glauben Sie mir, das erzeugt etwas in einem. Auch komme ich aus einem Bereich, in dem landwirtschaftliche Produktion und Tierhaltung eine extrem große Rolle spielen. Ich bin in einem Alter, in dem man den Einsatz von Antibiotika noch sehr zu schätzen wusste. Deswegen möchte ich dringend darauf hinweisen, dass Antibiotika im 20. Jahrhundert ein Segen für die Menschheit gewesen sind. ({0}) Gehen wir sorgfältig damit um – bitte ganz sorgfältig. Wenn Sie auf den NDR-Bericht abheben, kann ich Ihnen dazu sagen: Es gab dazu vor 14 Tagen im Niedersächsischen Landtag eine Große Anfrage der Grünen. Sie ist vom Umweltminister beantwortet worden. Daraus möchte eine Passage wiedergeben. Der Minister sagte zu Recht: Wir wissen zu wenig. – Jetzt wird das Land Niedersachsen eine großangelegte Studie mit 200 Probestellen anfertigen lassen. Sie wird hoffentlich eine valide Aussage zulassen. Dazu ist zu sagen, dass das kein niedersächsisches Problem ist, sondern unser aller Problem, auch ein europäisches Problem. Also werden wir Mittel des Bundes nehmen müssen, um diese Forschung breitflächig zu unterstützen. Nur so können wir zu validen Aussagen kommen, die uns dahin bringen, mit Antibiotika schonender, vorsichtiger und eingeschränkter umzugehen. Kollege Lenkert, es hat mich schon aufgebracht, dass Sie eben von 1 700 Tonnen Antibiotika pro Jahr in der Tiermedizin gesprochen haben, obwohl es heute 742 Tonnen sind. Das finde ich nicht in Ordnung. Ich finde, da sollten Sie auch die Kraft haben, zu sagen: Ich habe mich hier vertan. ({1}) Ich sage aber im gleichen Atemzug – da habe ich ganz große Bedenken –: Ja, Artur Auernhammer, die Menge der Antibiotika wurde heruntergefahren, allerdings aufgrund gesetzlichen Drucks. Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Der Antibiotikaeinsatz war minimierbar durch wesentlich bessere Hygiene und besseres Farmmanagement auf den Höfen. – Es gilt in der Humanmedizin wie in der Tiermedizin: Das A und O im Umgang mit Antibiotika ist Hygiene. Das heißt, wir haben hier ein Potenzial, das wir noch nicht gehoben haben. Ich möchte darauf hinweisen: Wir haben jetzt noch 149 Tonnen Reserveantibiotika im Einsatz. Wir können trefflich darüber streiten, was ein Reserveantibiotikum ist. Jetzt gehe ich aber einmal in die größeren Zahlen: Das sind 149 000 Kilogramm, 149 Millionen Gramm. Wenn Sie wissen, dass eine Ampulle 40 Milligramm enthält, dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was in den Verkehr gebracht wird. Ich glaube, dass wir im Umgang mit Reserveantibiotika deutlich besser werden müssen. Glauben Sie mir: Das ist die letzte Bastion, die wir haben. – Ich persönlich glaube, dass der Einsatz von Reserveantibiotika in der Tierhaltung sehr bedenklich ist und massiv eingeschränkt werden muss. ({2}) Wenn es nach mir persönlich ginge, würde ich ihren Einsatz in der Tierhaltung untersagen. Denn wir brauchen irgendwo eine Brandmauer, die sicherstellt, dass das, was wir an Antibiotika haben, dem Menschen dann, wenn der Keim kommt, auch noch Hilfe leisten kann. Da wir es durch die Gesetzgebung in den letzten Jahren hinbekommen haben, die Menge so dramatisch zu reduzieren, bin ich mir ganz sicher, dass wir durch weitere Maßnahmen auch dafür sorgen können, sie aus den Ställen zu verbannen. Da kommt unsere große Aufgabe: Wir müssen der Landwirtschaft Hilfsmittel geben, um genau das tun zu können. Gestatten Sie mir, das noch zu sagen: Wir haben dafür ein gutes Mittel; es ist die GAP. Lassen Sie uns die entsprechenden Mittel passgenau dafür einsetzen. Dann können wir eine Menge erreichen. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Mit den letzten Worten des Kollegen Spiering schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1159 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist erkennbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen tatsächlich in der Gefahr, dass durch die Ankündigung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Strafzölle auf Aluminium und Stahl zu erheben, ein Handelskrieg entstehen kann, der massive Nachteile für die Unternehmen und ihre Beschäftigten in Deutschland und in der ganzen Europäischen Union nach sich ziehen kann. Das würde auch zu massiven Haushaltsrisiken führen. Meine Damen und Herren, der G-20-Gipfel in Hamburg wurde abgehalten, dass die internationale Gemeinschaft gemeinsam Lösungen für solche Probleme findet. Die Bürgerinnen und Bürger, die die Ausschreitungen in Hamburg zu ertragen hatten, erwarten zu Recht von unserer Bundesregierung, dass sie sich mit voller Kraft dafür einsetzt, einen Handelskrieg abzuwenden. ({0}) Der US-amerikanische Präsident Donald Trump sagte in einem Interview sinngemäß, die EU sei Deutschland, sie sei geschaffen worden, um den USA das Leben schwer zu machen, und deshalb wolle er künftig bilateral mit den europäischen Staaten verhandeln. Es ist an der Zeit, dass wir Donald Trump beim Wort nehmen. In der Tat liegen die Europäische Union und die europäische Integration im nationalen deutschen Interesse. Aber niemand hindert die deutsche Bundeskanzlerin daran, nach Washington zu reisen, um mit Donald Trump zu sprechen, um zu verhindern, dass Strafzölle erhoben werden. Der australische Premierminister Malcolm Turnbull hat es in einem persönlichen Gespräch mit Donald Trump erreicht, dass Australien von diesen Zöllen ausgenommen wird. An Ihrer Stelle, Frau Bundeskanzlerin, würde ich nach Washington fahren und ein ernstes Wort mit Donald Trump sprechen. ({1}) Es ist schon seit längerer Zeit zu beobachten, dass die Kanäle in die US-Administration nicht sprechfähig sind, ob das Handelsminister Wilbur Ross oder der Handelsbeauftragte Robert Lighthizer ist. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir in Deutschland klarmachen: Antifreihandel kann man nicht mit Antifreihandel beantworten. Wir brauchen eine Initiative für Freihandel, in Deutschland und in ganz Europa. ({2}) Wenn die Europäische Union von Donald Trump mit der Aussage konfrontiert wird, dass auf Autoimporte aus der EU in die USA ein Zoll von 2,5 Prozent erhoben wird, aber umgekehrt wir für Autoimporte aus den USA einen Zoll von 10 Prozent erheben, dann hat der Präsident einen guten Punkt gemacht. Anstatt jetzt einseitig auf Donald Trump zu schimpfen, könnten wir als Bundesrepublik Deutschland eine Initiative in der EU starten und sagen: Lasst uns doch die Zölle auf Autoimporte zwischen den USA und der Europäischen Union insgesamt abschaffen. Das wäre ein Angebot, mit dem man Bewegung in die Gespräche bringen könnte. ({3}) Interessant ist: Wir haben jahrelang auch hier in diesem Haus und in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, insbesondere von den Extremen links und rechts, gehört, Freihandel sei schlecht, Freihandel gefährde Arbeitsplätze, Freihandel treffe unsere Interessen. Fakt ist: Als Exportnation sind wir darauf angewiesen, dass wir Freihandel betreiben können. Wir wären massiv betroffen, wenn diese Strafzölle erhoben würden. Wir sagen: Wir brauchen regelgebundenen Freihandel. Deshalb wäre es richtig und sinnvoll an dieser Stelle, das TTIP, das Freihandelsabkommen mit den USA, neu zu beleben. Wir erwarten hierzu eine Initiative der Bundesregierung. ({4}) Frau Bundeskanzlerin Merkel, die neue Bundesregierung ist die alte Bundesregierung. Wir glauben, dass die anstehenden handelspolitischen Fragen dringend zur Chefsache gemacht werden müssen. Denn sollte es tatsächlich zu einer Spirale der Eskalation durch die Erhöhung von Zöllen kommen, dann wird dies Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland massenweise negativ betreffen. Das wird sich nachteilig auf die wirtschaftlichen Chancen der Unternehmen auswirken. Davon wären die Menschen betroffen, davon wäre aber auch die Haushaltslage dieses Hauses betroffen. Es ist an der Zeit, dass Handelspolitik in der Bundesregierung zur Chefsache gemacht wird. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Theurer. – Als Nächstes erhält der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege von der FDP, Sie sagten: Die neue Regierung ist die alte. Da kann ich nur sagen: Sie hatten es in der Hand. Leider sind diese Chancen vertan worden. ({0}) Meine Damen und Herren, das Bundeswirtschaftsministerium hat heute einen Bericht zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland in den ersten drei Monaten dieses Jahres veröffentlicht. Das Bundeswirtschaftsministerium zeichnet ein sehr positives Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land. Auch das gesamtwirtschaftliche Umfeld in Europa und in der ganzen Welt hat sich in den letzten Monaten sehr positiv entwickelt. Der besondere Träger der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland ist der Außenhandel. Wie schon immer in den letzten Jahren ist der Außenhandel neben dem privaten Verbrauch Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung. Deswegen ist es für uns besonders wichtig, dass in der Welt ein möglichst barrierefreier Handel stattfinden kann und dass wir Freihandel betreiben können. Man muss deutlich sagen – da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege –: Manche Fraktionen in diesem Hohen Hause verwechseln Freihandel mit Handel ohne Regeln. Aber genau das ist er nicht; denn der freie Handel der Welt unterliegt Regeln. Diese Regeln finden sich im Regelwerk der Welthandelsorganisation wieder. Wir sind sehr froh, dass die Welthandelsorganisation in den 90er-Jahren gegründet wurde; denn erst damit war es überhaupt möglich, Regeln für den Welthandel aufzustellen. Die positive konjunkturelle Entwicklung hat auch die Vereinigten Staaten von Amerika erfasst. Die Steuerreform von Präsident Trump wird sicherlich ein weiterer positiver Aspekt sein. Insofern wundern wir uns umso mehr, dass dieser Präsident jetzt die Einführung von Strafzöllen ankündigt, um den Handel in der Welt einzuschränken. Wenn man sich einmal ansieht, was Präsident Trump damit erreichen will, dann muss man sagen: Er will 13 Millionen Tonnen Stahl vom amerikanischen Markt entfernen und die Auslastung der amerikanischen Stahlwerke von 73 auf 80 Prozent erhöhen. Meine Damen und Herren, man muss sich fragen, ob das die Sache wirklich wert ist. Dass er sein Ziel mit den angekündigten Strafzöllen erreicht, möchte ich sehr stark infrage stellen. Herr Kollege von der FDP, ich kann gar nicht verstehen, dass Sie sagen, die Bundesregierung müsse jetzt etwas tun. Die Bundesregierung ist natürlich auf allen Kanälen aktiv. Schon vor der gestrigen Vereidigung der Regierung hat Deutschland auf allen Kanälen versucht, in Amerika Gesprächspartner zu finden. Aber man findet sie im Umfeld des Präsidenten offensichtlich gar nicht so leicht. Er entlässt ja immer wieder Personal, sucht sich neues und entlässt dann andere, sodass das gar nicht so einfach ist. Meine Damen und Herren, die Strafzölle, die er nun mit Blick auf Pkws angekündigt hat, und zwar ganz gezielt gegen deutsche Pkw-Produzenten gerichtet, lassen uns natürlich aufhorchen und machen uns insgesamt unruhig; das ist gar keine Frage; denn einen Handelskrieg – schon den Namen finde ich furchtbar – brauchen wir im Moment überhaupt nicht. Deswegen ist die Strategie der Regierung ganz klar: Reden und verhandeln, wo auch immer es möglich ist. Es gibt neben dem Handelskrieg noch das Thema „Unfaire Handelspraktiken“. Mit beiden Dingen sind wir in Deutschland konfrontiert. Die unfairen Handelspraktiken belasten unsere Wirtschaft natürlich genauso wie ein möglicher Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten. Man muss deutlich sagen: Ein Handelskrieg hat letztendlich nur Verlierer. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten. Auch wenn sie vielleicht einen kurzfristigen Erfolg erzielen, kann man mittel- und langfristig ganz klar davon ausgehen, dass die Amerikaner, die früher die Hüter des freien Welthandels waren, nun den ersten Schritt hin zu einer Restriktion des Handels machen. Dies wird andere Staaten möglicherweise ermuntern, ähnliche Schritte einzuleiten. Trotzdem prognostiziert das Bundeswirtschaftsministerium, dass die Risiken für die Konjunktur in Deutschland und in Europa im Moment sehr gering sind. Ich gehe davon aus, dass sich auch der amerikanische Präsident durchaus noch einmal genau überlegen wird, ob er gegen seine Partner, die er noch brauchen wird, diesen Handelskrieg anzetteln will. Deswegen bleibe ich optimistisch. Ich denke, auf dem Verhandlungswege lässt sich viel erreichen. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Lämmel. – Als Nächstes erteile ich das Wort dem Abgeordneten Thomas Jurk für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Jurk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, was haben Sie sich bei der Wahl dieses Debattenthemas eigentlich gedacht? An der Tafel ist angeschlagen, bei dieser Aktuellen Stunde geht es um „Gefahr eines Handelskrieges“. Der Titel geht aber noch weiter. Der zweite Teil – dazu will ich sprechen – ist formuliert mit „und die Auswirkungen auf die Finanzplanung des Bundes“. Darum soll es hier wohl auch gehen. Ich hatte immer gedacht, dass das Schüren von Ängsten anderen politischen Kräften in diesem Hause überlassen ist. ({0}) Ich hoffe jedenfalls – das hoffe ich gerade als Haushälter –, dass wir nicht nach jeder Twittermeldung von Donald Trump den Bundeshaushalt umschreiben müssen. ({1}) Mit Blick auf die Haushaltsplanung will die FDP mit diesem Debattenthema offensichtlich den Eindruck erwecken, dass die Finanzplanung des Bundes auf Sand gebaut sei. Sie bedient sich des Schreckgespenstes eines – Herr Kollege Lämmel, ich gebe Ihnen Recht, es ist ein Unwort – Handelskrieges. Die Fakten sind klar: Vor einer Woche hat US-Präsident Donald Trump die Verhängung von Importzöllen auf Stahl und Aluminium verkündet. Wir alle wissen, dass Detailfragen noch ungeklärt sind. Wir wissen auch nicht, welche Ausnahmeregelungen wirklich vorgesehen sind. Es ist doch wohl so, dass das Ganze auf Ebene der EU, aber auch durch die Bundesregierung sehr kritisch gesehen wird und dass diese Ankündigung natürlich auch Reaktionen erfahren wird. Zunächst gilt es aber, Gespräche zu führen, um etwas zu verhindern, was uns allen nicht gefallen kann. Dennoch, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in dieser Woche festgestellt – Zitat –: Auch von den US-Zöllen auf Stahl und Aluminium ist zunächst mal keine spürbare Wirkung auf die Konjunktur zu erwarten. Meine Damen und Herren, ich will gar nicht abstreiten, dass mit einem möglichen Handelskrieg durchaus wirtschaftliche Risiken verbunden wären ({2}) – ja, sicher, das ist doch klar –; dennoch muss man sich auch mit anderen wirtschaftlichen Kennziffern auseinandersetzen, die Auswirkungen auf die Haushaltsplanung haben könnten. Da nenne ich viel gravierendere Dinge wie beispielsweise die Entwicklung von Rohstoffpreisen oder die Veränderung des Zinsniveaus. ({3}) Hier wird ein Popanz aufgebaut. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir wirklich einen guten Finanzplan haben. Dieser Finanzplan resultiert aus Annahmen von Mitte letzten Jahres, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr bei 1,6 Prozent liegen würde. Tatsächlich geht die Bundesregierung im aktuellen Jahreswirtschaftsbericht, den wir kürzlich besprochen haben, von 2,4 Prozent aus. Ich sage deutlich: Damit wird klar, dass die Bundesregierung das Wirtschaftswachstum als Grundlage für unseren Finanzplan doch wohl sehr vorsichtig geschätzt hat und damit möglichen Risiken Rechnung trägt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass das Wirtschaftswachstum besser ist, das erkennt man auch an steigenden Steuereinnahmen. So konnten wir bei der letzten Steuerschätzung im November 2017 durchaus positiv konstatieren, dass – gegenüber dem bisherigen Finanzplan – im Finanzplanungszeitraum bis 2021 mit circa 30 Milliarden Euro Mehreinnahmen allein für den Bund gerechnet werden kann. Jetzt gilt es, die nächste Steuerschätzung im Mai abzuwarten, die sich dann im nächsten Finanzplan niederschlagen wird. Darin finden sich dann auch die von der Koalition vereinbarten Mehrausgaben, deren Finanzierbarkeit ausdrücklich gesichert ist. Bereits im letzten Finanzplan haben wir 15 Milliarden Euro mehr frei verfügbar gehabt. Das war eine gute Ansage und hat Spielräume geschaffen. Wir wollen im Finanzplanungszeitraum natürlich auch weiterhin einen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen und die vorhandenen Spielräume systematisch ausnutzen. Das ist sowohl haushaltspolitisch als auch wirtschaftspolitisch völlig richtig. So hat auch die OECD in Kenntnis der geplanten staatlichen Ausgaben ihre Wachstumsprognose für Deutschland angehoben, und zwar in diesem Jahr von 2,3 auf 2,4 Prozent und im nächsten Jahr von 1,9 Prozent auf 2,2 Prozent. Das hat die OECD damit begründet, dass wir sinnvolle Mehrausgaben im Bundeshaushalt vorgesehen haben, beispielsweise Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Wohnungsbau und Mehrausgaben für Familien. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zusammenfassend: Der Finanzplan der Bundesregierung ist auf solidem Fundament gebaut. Wir haben einen guten Finanzplan und werden einen noch besseren bekommen. Dabei wird selbstverständlich auch allen Risiken der wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen. Die heutige Debatte hätten wir uns sparen können. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Jurk, herzlichen Dank. – Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Leif-Erik Holm von der AfD das Wort. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Jurk, ich glaube, Sie haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Ich bin froh, dass wir heute hier im Hohen Hause über dieses wichtige Thema sprechen. Wir befinden uns nämlich tatsächlich auf einem gefährlichen Pfad, wenn nicht schnellstens alle Beteiligten abrüsten. Der möglichst freie Zugang zu den Weltmärkten ist für eine große Handelsnation wie Deutschland natürlich essenziell. Das Hineinstolpern in einen Handelskrieg aus Aktionen und Reaktionen müssen wir verhindern. ({0}) Dazu müssen wir zunächst die Lage sachlich analysieren. Dabei zeigt sich, dass es eben nicht den einen Teufel im Weißen Haus gibt, den hier einige so gerne an die Wand malen. Nein, auch die EU hat hier ihr Päckchen zu tragen. Die Zollsätze der EU liegen im Schnitt eineinhalbmal so hoch wie die der USA. Es gibt also keinen Grund, sich über Trump zu echauffieren, wie es ja die Kommission beispielsweise getan hat. Die EU ist protektionistischer, als die USA es sind. ({1}) Aber wir kennen das Muster ja schon. Wenn der Trump in den Staaten auf den Putz haut, dann hyperventilieren in Europa alle wie die aufgescheuchten Hühner ohne Sinn und Verstand. Ja, auch ich halte den Ansatz der US-Administration, drastische Schutzzölle einzuführen, für falsch. Das wird nicht funktionieren. Wir selbst haben das hier in Europa im Übrigen auch schon erlebt, und zwar mit den Strafzöllen auf Solarpaneele aus China. Das hat am Ende überhaupt nichts genutzt. Die Solarindustrie in Europa ist heute toter als ein Sack Kartoffeln. ({2}) Der aus unserer Sicht falsche Ansatz der Vereinigten Staaten darf aber eben nicht dazu führen, dass ein Herr Juncker gleich mit Vergeltungsmaßnahmen droht. Das ist völlig kontraproduktiv. ({3}) Anstatt den Heißsporn Trump herunterzukühlen, wird sogleich weiteres Öl ins Feuer gekippt. Daran zeigt sich wieder die Fehlkonstruktion der EU. Die Kommission hat gar nicht den Druck und die Verantwortung einer von den Bürgern gewählten Regierung. Ausbaden müssen die Fehlleistungen Brüssels immer die Bürger in den einzelnen Nationalstaaten, und das darf so nicht weitergehen. ({4}) Im Übrigen: Vielleicht helfen hier ja Strafzölle auf dusselige Ideen von Kommissionspräsidenten. Dann müssten wir uns auch nie wieder Sorgen um unsere Haushaltslage machen. Meine Damen und Herren, in diesem Moment wäre die Führung Deutschlands gefragt, um die Zollverschärfung abzuwenden. Jetzt rächt sich leider der schlechte Draht nach Washington. Es rächt sich, dass sich die Repräsentanten dieser gestutzten Koalition hier im Hohen Haus vor der US-Wahl so weit aus dem Fenster gelehnt haben. Was haben Sie den Trump beschimpft! Es ist mir noch heute ein großes Rätsel, warum ausgerechnet der seinerzeitige Chefdiplomat, Außenminister Steinmeier, Trump vor der US-Wahl offen einen „Hassprediger“ genannt und ausdrücklich gesagt hat, er sei bei der Wahl nicht neutral. ({5}) Das gehört sich nicht, schon gar nicht auf dem Parkett der Diplomatie. ({6}) Der eine oder andere mag dieses oder jenes, was Herr Trump so sagt und macht, gewöhnungsbedürftig finden, ({7}) aber er ist der gewählte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Man kann noch etwas sagen: Er versucht doch tatsächlich, seine Wahlversprechen einzulösen. Das nötigt einem wirklich Respekt ab; denn das ist ja hierzulande mittlerweile eine seltene Sache – ({8}) auch bei der einen oder anderen Bundeskanzlerin hier in diesem Hause, mit der es ja zum Beispiel nie eine Maut geben sollte. Meine Damen und Herren, die Zeit ist knapp. Jetzt helfen nur Gespräche quasi rund um die Uhr und auf allen Kanälen; denn es sind ja nur noch acht Tage, bis die neuen US-Zölle in Kraft treten würden. Da muss die neue Bundesregierung jetzt wirklich in die Bütt. Wir können uns nicht auf ein langwieriges WTO-Schlichtungsverfahren verlassen, das bis zu zwei Jahre dauern kann und dessen Erfolgsaussichten völlig fraglich sind. ({9}) Offensichtlich besteht auch auf der anderen Seite des Atlantiks Interesse an einer Einigung. Die Signale aus Washington nehmen wir doch zurzeit wahr. Deswegen ist es jetzt höchste Zeit für das Ausloten von Kompromissen im stillen Kämmerlein. Die Betonung liegt auf „still“, ohne Kameras und Twitter-Zugang. Kompromiss heißt für mich, etwas anzubieten. ({10}) – Hören Sie bitte weiter zu. Jetzt kommt ein Vorschlag. ({11}) Den können wir durchaus machen. Der Handelsforscher Gabriel Felbermayr vom ifo-Institut bringt dafür eine Senkung der hohen EU-Zölle auf Pkw ins Spiel. ({12}) – Da haben Sie auch völlig recht. Das ist völlig richtig. Das sehen wir ganz genauso. Diese Zölle sind eben viermal so hoch wie die der USA. Und man fragt sich: Warum eigentlich? Haben wir so wenig Vertrauen in die Wettbewerbsfähigkeit unserer Autos? Das ist mir völlig unverständlich und anderen offensichtlich auch. ({13}) Selbst der VW-Markenchef Herbert Diess hat mittlerweile die hohen Importzölle im Automobilbereich infrage gestellt. Warum also nicht genau darüber hinter den Kulissen reden? Wir brauchen keine Drohungen, wir brauchen konstruktive Vorschläge. Daran muss jetzt die Bundesregierung dringend mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln intensiv mitarbeiten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit.

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zu Schluss. – Bringen Sie endlich Bewegung in die verfahrene Situation, damit wir als Handelsnation unsere Interessen wahren können! Wie gesagt, es sind nur noch acht Tage. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Einen schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Einen schönen Morgen habe ich Ihnen schon gewünscht. Nächster Redner in der Debatte: Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Laut der „Bild“-Zeitung befinden wir uns im Krieg; im Handelskrieg mit den USA, um genau zu sein. Im Krieg stirbt bekanntlich die Wahrheit zuerst. US-Präsident Trump hat Zölle auf Aluminium in Höhe von 10 Prozent und auf Stahl in Höhe von 25 Prozent angeordnet. Er drohte auch Strafzölle auf BMW und Mercedes an. Solche Strafzölle, etwa auf Autos, könnten Deutschland hart treffen. 8 Prozent unserer Wirtschaftskraft hängen an der Automobilindustrie und an Zulieferern. Trump und Dieselgate könnten in der Tat unser Waterloo werden. Die US-Regierung begründet Zölle auf Stahl und Aluminium mit der nationalen Sicherheit und stützt sich auf den US Trade Expansion Act sowie auf Artikel XXI des GATT-Abkommens. Natürlich bedrohen weder BMW noch Mercedes die nationale Sicherheit der USA. ({0}) Aber ein Erfolg einer Beschwerde bei der WTO wegen der Stahl- und Aluzölle ist nicht sicher, ein Verfahren könnte Jahre dauern. Bundespräsident Heinemann sagte einst: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, auf den weisen drei Finger zurück. – Deutschland und auch die Euro-Zone verzeichnen einen permanenten Exportüberschuss, der den Chinas in den Schatten stellt. Wir verkaufen immer billiger und mehr an den Rest der Welt, als wir von dort einkaufen, weil Löhne, Renten und Staatsausgaben gedrückt wurden. Was ist das bitte schön anderes als ein Handelskrieg, verehrte Kolleginnen und Kollegen? ({1}) Man kann ja an Trumps Geisteszustand zweifeln. Aber diese „Geiz ist geil“-Politik ist nicht weniger verrückt. Die Bundesregierung behauptet, mit der Agenda 2010 und der Lohndrückerei habe der Exportboom überhaupt nichts zu tun, das sei schlicht Qualität „Made in Germany“. Das sind doch alternative Fakten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wenn unsere Ingenieure seit der Einführung des Euros einfach ständig besser geworden wären, wenn die Preise für den Handel völlig egal wären, dann würden uns die Strafzölle der USA doch überhaupt nicht kratzen. Das ist doch absurd. ({3}) Fakt ist: Mit der D-Mark hätten wir mit diesen Exportüberschüssen bereits dramatisch aufgewertet. Die EZB musste jedoch wegen der Kürzungspolitik die Wirtschaft mit billigem Geld beatmen. Der Euro wertete daher zeitweise um 20 Prozent gegenüber dem US-Dollar ab. Dagegen sind viele Zölle ein Kindergeburtstag, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Internationale Kritik an den deutschen Überschüssen gibt es übrigens nicht erst seit dem Clown in Washington. Nobelpreisträger wie Stiglitz haben die Bundesregierung kritisiert ebenso, der IWF, selbst die EU-Kommission und auch Barack Obama. Die USA sind eben nicht Griechenland. Es macht einen Unterschied, ob ein Schäferhund einen Hamster beißt oder einen Pitbull. Statt die Binnenwirtschaft, Löhne und öffentliche Investitionen zu stärken und die Exportüberschüsse kontrolliert abzubauen, droht nun kalter Entzug für den Exportjunkie Deutschland. ({5}) Wahr ist auch: Die EU erhebt Zölle auf Aluminium aus China und Russland – bis zu 35 Prozent. Auf Stahl erhebt die EU Zölle gegenüber 15 Ländern, von Brasilien über Sri Lanka bis zu den USA – meist über 25 Prozent. Und als Kenia sich weigerte, Schutzzölle auf unsere Agrar­produkte abzubauen, um seine Bauern zu schützen, führte die EU Strafzölle auf Tee, Kaffee und Schnittblumen aus Kenia ein. Sie predigen Freihandel, aber wissen: Freier Handel ist ein Märchen. Es geht hier um knallharte Interessen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wenden Sie einen Handelskrieg mit den USA ab! Die Regierung muss endlich Löhne und öffentliche Investitionen stärken, die schwarze Null beerdigen, ({7}) zu der sich der neue rote Finanzminister sofort bekannt hat, und sich an das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 halten, das Deutschland auf einen ausgeglichenen Handel verpflichtet. ({8}) So sichert man sozialen Zusammenhalt in Deutschland und wirtschaftliche Stabilität. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Fabio De Masi. – Nächste Rednerin: Katharina Dröge für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ganz ehrlich sagen: Als ich der Debatte hier im Bundestag gelauscht habe, fehlten mir eine Zeit lang die Worte – und das passiert nicht oft. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das stimmt.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das stimmt. Das sagt Frau Roth auch. – Mir fehlten die Worte, weil ich mich ein Stück weit gefragt habe: Worüber reden Sie hier eigentlich? Der Kollege von der SPD hält es nur für einen Popanz, dass wir eine Aktuelle Stunde zur Gefahr eines drohenden Handelskriegs mit den USA haben. Die Kollegen von FDP und AfD denken, wir könnten einfach die Zölle auf Autos senken; dann sei dieses Thema gegessen. Sie unterschätzen völlig die Dimensionen, um die es hier gerade geht. Donald Trump hat Zölle auf Stahl und Aluminium verhängt; das stimmt. Dahinter steht aber etwas viel Größeres. Es ist bei weitem nicht auf den Stahlsektor beschränkt. Deswegen muss unser oberstes Ziel sein, mit Diplomatie – mit Gesprächen in den USA, auch mit den Partnern, die wir in den USA haben – zu verhindern, dass es sich auf andere Branchen ausweitet. Diplomatie ist das Richtige, um darauf hinzuwirken. Richtig ist aber auch das, was Kommissionspräsident Juncker gemacht hat, als er auf die existierende Liste mit Gegenmaßnahmen hingewiesen hat und gesagt hat, dass die Europäische Union auch bereit ist, zu reagieren, wenn es denn zu dieser Situation kommt. ({0}) In Richtung der Nationalisten aus der AfD muss ich auch sagen: Gerade in dieser extrem schwierigen weltwirtschaftlichen Situation bin ich froh darüber, dass es einen europäischen Binnenmarkt gibt, sodass wir diese Situation gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarländern meistern können und nicht alleine dastehen, wie Sie sich das wünschen. ({1}) Wir müssen uns natürlich auch mit der Situation der Stahlindustrie in Europa beschäftigen. Es gibt Gegenmaßnahmen, die wir ergreifen könnten. Sollte es wirklich zu der Situation kommen, dass 12 Millionen Tonnen Stahl aus den USA auf die europäischen Märkte umgeleitet werden, können Safeguard Measures ergriffen werden. Selbstverständlich müssen wir auch eine Klage vor der Welthandelsorganisation einreichen; denn Donald Trump bricht mit dem Schritt, den er geht, ganz bewusst internationales Recht. Diese Klage vor der WTO ist auch deshalb wichtig, weil Donald Trump mit dem, was er macht, das multilaterale System grundsätzlich infrage stellt. Über diesen Kontext müssen wir hier auch reden. Denn Donald Trump hat mit dem Stahl- und Aluminiumbereich angefangen und spricht über Autos. Er hat aber schon angekündigt, dass er die sogenannten Spiegelzölle einführen will. Er sagt also: Den Zoll, den ich in deinem Land zahlen muss, wirst in Zukunft auch du in den USA zahlen müssen. Damit bricht er mit einem fundamentalen Prinzip, das die Weltgemeinschaft miteinander geschaffen hat, nämlich dem Prinzip der Meistbegünstigung, das sagt: Jedes Land wird gleichbehandelt; den Zoll, den ich einem Land gewähre, gewähre ich in Zukunft auch den anderen Ländern. Mit diesem Prinzip bricht Donald Trump. Damit bricht er mit dem grundsätzlichen Mechanismus, den sich die Weltgemeinschaft – übrigens auch nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – miteinander gegeben hat, ({2}) indem wir gesagt haben: gemeinsame Spielregeln, internationale Kooperation. – Das sind die Antworten auf den Protektionismus der 1930er-Jahre. So müssen wir dieses Problem bewerten. Deswegen reicht es nicht, wenn man hier irgendetwas über Zölle auf Autos erzählt. Deswegen reicht es nicht, zu sagen, das sei nur ein kleines Problem. Schließlich reden wir hier über einen US-Präsidenten, der ganz fundamental sämtliche multilateralen Spielregeln – ob Pariser Übereinkommen zum Klimaschutz, UNESCO, NAFTA, TPP oder WTO – infrage stellt. Mit dieser Situation müssen wir uns hier im Bundestag beschäftigen. ({3}) Auf der anderen Seite müssen wir uns in diesem Parlament aber auch damit beschäftigen, warum der Nationalismus in der Wirtschaftspolitik, dieses Gespenst der 1930er-Jahre, im 21. Jahrhundert auf einmal wieder da ist. Angesichts dessen finde ich es schon krass, werte Kollegen von SPD, CDU und FDP, dass es in Ihren Reden kein einziges Wort der Nachdenklichkeit gab und Sie immer nur weiter fordern, dass wir in die falsche Richtung gehen. Ich meine damit Ihre Freihandelspolitik. Ich meine damit, dass die FDP gestern im Wirtschaftsausschuss und auch hier wieder gefordert hat, dass wir TTIP aus der Mottenkiste holen. Ich halte das für extrem schwierig. Wenn wir nicht irgendwann miteinander – und ich meine wirklich: miteinander – bereit sind, anzuerkennen, dass eine entfesselte Globalisierung zu Ungerechtigkeit führt, die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer spaltet und instabile Finanzmärkte erzeugt, wenn wir nicht bereit sind, Regeln zu erlassen ({4}) und anzuerkennen, dass sie die Klimakrise verschlimmert und globale Konzerne erzeugt, ({5}) die so mächtig sind, ganze Staaten unter Druck zu setzen, ({6}) dann spielen wir genau denen in die Hände, die Nationalismus und Abschottung predigen. ({7}) Darauf gibt es eine Antwort. Dafür gibt es Instrumente. Sie müssten sie nur endlich nutzen. Die Instrumente wären, faire Handelsverträge zu gestalten: ({8}) faire Handelsverträge mit effektiven Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht, zur Regulierung der Finanzmärkte und mit Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten, Abkommen, die endlich der Umsetzung des Pariser Klimavertrages dienen, und Abkommen, die regeln, unter welchen ökologischen und sozialen Standards Produkte hergestellt werden müssen, die hier auf den Märkten verkauft werden. Das alles können Sie regeln. Das alles sind die Instrumente, die Sie haben, um die Globalisierung gerecht zu gestalten. Dafür hätten Sie unsere Unterstützung. Ich sage Ihnen – ich meine das wirklich ernst –: Die einzige vernünftige Antwort, die Sie gegen die Nationalisten dieser Welt geben können, ist, die Globalisierung endlich gerecht zu gestalten. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Dröge. Ich kann in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen zulassen. Manchmal juckt es einen; das verstehe ich gut. Aber in der Aktuellen Stunde gibt es dieses Instrument nicht. Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Jürgen Hardt. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war eben ein mächtiger Vortrag von Frau Dröge. ({0}) Ich erinnere mich an Debatten hier im Haus und mit Frau Dröge und mir auf dem einen oder anderen Podium, bei denen die Grünen massiv mit irrationalen Argumenten, teilweise auch mit Fake Facts, ({1}) gegen ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einer Art und Weise polemisiert haben, die mich stellenweise erschreckt hat. ({2}) Wo stünden wir denn jetzt in der Auseinandersetzung speziell mit dem Weißen Haus, wenn wir ein Handelsabkommen wie TTIP hätten, ({3}) in dem zum Beispiel die Frage der Zölle und der nichttarifären Handelshemmnisse in einer Art und Weise geregelt worden wäre, dass es eben nicht so einfach möglich wäre, Strafzölle gegenüber Partnern wie Europa zu erheben? ({4}) Es war ein großer Fehler, dass wir das nicht vorangebracht haben. Und leider gab es auch in Deutschland eine durch unsachliche Argumente aufgeheizte öffentliche Diskussion, die uns dabei im Wege gestanden hat. Ich würde mir dringend wünschen, dass ein Teil des Vorschlags der Europäischen Union, wie wir auf die Frage antworten, ist, dass wir den Amerikanern bzw. dem Präsidenten sagen: Wir sind für die Abschaffung aller tarifären und nichttarifären Handelshemmnisse zwischen den USA und der Europäischen Union, und unser Angebot ist TTIP. ({5}) Wir können morgen wieder mit den Verhandlungen beginnen, und Herr Lighthizer ist herzlich dazu eingeladen, nach Brüssel zu kommen. ({6}) Ich glaube, dass es eine weise Entscheidung ist, dass wir die Europäische Union in dieser schwierigen Handelsfrage beieinanderhalten und es nicht zulassen, dass einzelne Staaten der Europäischen Union im Sinne einer Nebenhandelspolitik neben der EU-Handelspolitik versuchen, in Washington etwas für sich zu erreichen, sondern dass wir sagen: Gemeinsam sind wir stark. Denn die einzige Wirtschaftsmacht auf dieser Erde, die den Vereinigten Staaten von Amerika ebenbürtig ist – mit jeweils rund 25 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts –, ist die Europäische Union. Ich begrüße, dass die Europäische Kommission in der vergangenen Woche einen klugen Beschluss gefasst hat. Sie hat gesagt: Erstens. Wir beklagen uns über diese Zölle; wir halten sie für ungerechtfertigt. Zweitens. Wir verlassen aber nicht den Rahmen des Völkerrechts, den Rahmen der vertraglichen Vereinbarungen im Zusammenhang mit der WTO. Vielmehr halten wir uns streng an die Regeln der Welthandels­organisation. Wir werden gegebenenfalls unsere Klage dort vorbringen. Wir werden Maßnahmen ergreifen, die WTO-konform sind. Das sind keine Strafzölle, sondern kompensatorische Maßnahmen, die es uns erlauben, den wirtschaftlichen Schaden, der uns durch solche ­Zölle entsteht, zu kompensieren. Die Kommission – Frau ­Malmström – hat es berechnet: Der direkte Schaden durch diese Zölle wird auf circa 7 Milliarden Euro beziffert. Die Gegenmaßnahmen, die jetzt im Schaufenster stehen, die also noch nicht beschlossen, aber von der Kommission als denkbar erachtet werden, werden eine Kompensation in Höhe von rund 2,8 Milliarden Euro darstellen. Wir befinden uns damit also ganz sauber im Regime der WTO. Das Dritte ist die Botschaft an Amerika, dass wir die Gespräche über die Intensivierung der Handelsbeziehungen wieder aufnehmen. Das Vierte sollte das Angebot an die Amerikaner sein: Wenn wir uns gegen unfaire Handelspraktiken in der Welt wehren wollen, dann tun wir es doch bitte gemeinsam. Dann ist der Hebel doppelt so lang. Dann sind wir doppelt so stark. ({7}) Auch hierfür würden Gespräche diesseits und jenseits des Atlantiks im Zusammenhang mit ambitionierten Handelsabkommen sicherlich einen guten Rahmen bieten. Ich möchte noch einen Gedanken vortragen. Ich bin in der letzten Woche mit einigen Senatoren beider Parteien in Amerika zusammengetroffen. Was dort hinter verschlossenen Türen und auch öffentlich über die Strafzölle gesagt wird, ist eindeutig. Ich habe noch nie auf dem Hill einen solch klaren und laut artikulierten Widerstand gegen eine falsche Handelspolitik des Weißen Hauses gehört. Der Präsident braucht den Erfolg. Aufgrund der Rechtsordnung kann der Präsident für sich reklamieren, das zu tun. Es wird sich zeigen, ob der Kongress die Kraft hat, sich auch formal dagegenzustellen und eine entsprechende Gesetzesinitiative einzuleiten. Ich jedenfalls wünsche mir das. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass sich Amerika im Vorwahlkampf befindet. Erst vor wenigen Tagen gab es Wahlen in Pennsylvania. Dort hatte im Übrigen der demokratische Kandidat knapp die Nase vorn. Allerdings hat auch dieser Kandidat verkündet, er sei für Strafzölle. Zur amerikanischen Politik gehört wohl dazu, dass man den gleichen Leuten auch das Gleiche sagt. Aber ich glaube, dass wir eine gute Chance haben, wenn wir als Europäische Union zusammenstehen. In diesem Sinne: Danke schön. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächste Rednerin: Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geht es Ihnen manchmal auch so wie mir? Genießen Sie morgens gelegentlich ein Glas Orangensaft zum Frühstück, oder genießen Sie ein Erdnussbutterbrötchen? ({0}) Dann kann ich Sie nur darauf hinweisen, möglicherweise zu prüfen, woher diese Produkte kommen. Auch wenn Sie abends gelegentlich bei einem amerikanischen Bourbon Whiskey entspannen, kann ich Ihnen nur anraten: Steigen Sie auf irischen Whiskey um, oder stellen Sie – besser – das Alkoholtrinken gänzlich ein. Warum sage ich dies? Mit der Erhebung höherer Einfuhrzölle auf die genannten Produkte bzw. Produktgruppen will die EU versuchen, bestimmte Personenkreise in den USA, nämlich die Persönlichkeiten rund um Präsident Trump und seinen Inner Circle, zu treffen. Wie konnte es zu dem, was Ihnen zimperlich oder gar lustig erscheint, kommen? Seit seinem Amtsantritt hat Donald Trump in regelmäßigen Abständen mit Einfuhrzöllen auf Produkte gedroht – insbesondere gegen die EU – oder sie sogar eingeführt. Aber lassen Sie mich deutlich sagen: Dies ist innenpolitisch motiviert. Das dürfen wir an dieser Stelle auf keinen Fall vergessen. Trump will damit sein Versprechen „America first“ einlösen und die Stärkung der Stahlindustrie im Rust Belt betreiben. Doch werden diese Strafzölle, die sich ja insbesondere gegen unsere Stahlindustrie und damit auch gegen unsere Automobilindustrie richten, nicht verfangen; da bin ich sicher. Langfristig können Strafzölle kein produktives Ergebnis zeitigen; denn Trump unterliegt gleich mehreren Irrtümern. Deshalb ist es so, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass mein Kollege Thomas Jurk Sie mit seiner Entspanntheit anstecken wollte. Er kann darauf rekurrieren, dass es einen ähnlichen Versuch bereits einmal, 2002, bei George W. Bush gab, der ebenfalls nicht verfangen hat. Erstens ist es so, dass die Menschen auch bei geringfügig teureren Produkten aus dem Ausland nicht gleich umsteigen werden. Das ist kein Automatismus. Wenn doch, kommt es im schlimmsten Fall zu einer Produkt- und Warenknappheit. Zweitens werden die amerikanischen Unternehmen den eventuell höheren Gewinn dann immer wieder abtreten müssen, wenn eben andere Staaten, so auch die EU, gleichfalls höhere Einfuhrzölle erheben. Drittens – das sollten wir nicht vergessen – zeigen die jüngsten Entwicklungen ein – das ist hier in der Tat auch schon erwähnt worden – alarmierendes Bild und keineswegs eines, das Bewunderung für Donald Trump verdient oder uns dazu veranlassen sollte. Es ist eher so, dass mit Außenminister Tillerson das letzte gemäßigte Mitglied aus seiner Regierung ausgeschieden ist. Mike Pompeo, der ihm nachfolgt, hat schon angekündigt, dass er eine harte Linie noch deutlich verstärken wird. Mit dieser neuen außenpolitischen Linie wird die Problemlage noch einmal verschärft; dessen bin ich sicher. Aber wer sind wir denn, dass wir nicht wachsam sein sollten? Immer wichtiger wird es in diesem Zusammenhang, dass wir in der Tat den US-Kongress stärker bemühen, um hier auch die Handelspolitik aufzunehmen, dass wir nicht nur mit den Demokraten Gespräche intensivieren – sehr geehrter Herr Kollege Hardt, Sie haben es schon angesprochen –, sondern auch mit den gemäßigten Republikanern. Gleichwohl ist es schwierig: Kaum hat man sich einen Namen in der US-amerikanischen Regierung gemerkt, schon hat derjenige wieder das Board verlassen. Wir brauchen – davon bin ich felsenfest überzeugt – mehr Europa und nicht weniger Europa; denn es mutet sehr anmaßend, fast dreist an, wenn Trump sagt, Staaten könnten von Strafzöllen ausgenommen werden, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllten. Das zielt eindeutig gegen die europäische Einheit. Umso mehr müssen wir sie stabilisieren und verfestigen. ({1}) Wir werden es nicht zulassen, dass Trump einen Keil zwischen uns Deutsche und unsere Nachbarn treibt. So viel sollten wir in dieser Debatte doch begriffen haben. Nur gemeinsam im europäischen Kontext können wir dies erreichen und eine entsprechende Gegenstrategie entwickeln. Lassen Sie mich meine letzten Sekunden noch lobend für den Außenminister Heiko Maas nutzen, der dies auch schon deutlich gemacht hat. An die Adresse des US-amerikanischen Präsidenten möchte ich sagen: Mr President, we are Europe. We like it and we defend it. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela De Ridder. – Nächster Redner in der Debatte: Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Liebe Frau Dr. De Ridder, ich finde es schon eindrucksvoll, wie man selbst aus dem beklopptesten Vorschlag noch eine intellektuelle Interpretation herausfischen kann. Das, was die EU-Kommissarin Frau Malmström da vorgeschlagen hat, Frau De Ridder, nämlich Strafzölle auf Erdnussbutter, amerikanischen Whiskey, Orangensaft und anderes zu erheben, das hat nicht nur in Amerika von Kentucky bis Tennessee, sondern auch beim ehemaligen amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter Gelächter ausgelöst. Er war bekanntlich Erdnussfarmer. Sein Lachen dürften auch wir in diesem Hohen Hause vernehmen. Interessant ist, dass dieser bekloppte Vorschlag weder von der Bundesregierung noch von einem in diesem Hause dementiert worden ist, nach dem Motto: Machen Sie etwas Vernünftiges. ({0}) Das ist schon eindrucksvoll. Was macht der Präsident? Mein Kollege Leif-Erik Holm hat recht: Er macht das, was er angekündigt hat – „America first“ –, und er hält sein Wahlversprechen. Es ist bezeichnend für die Degeneration unserer politischen Elite, wenn Medien und Politiker unisono Trump dafür kritisieren, dass er genau diese Aufgabe wahrnimmt. Wir wünschen uns von der Bundesregierung, ({1}) dass sie endlich wieder energisch im Interesse der eigenen Nation Politik nach außen vertritt. Das wäre der richtige Schritt; und dann könnten wir sogar von einem Donald Trump lernen. ({2}) Alle unsere europäischen Partner verfahren übrigens genauso. Herr Maas wäre gut beraten, nach seiner Reise nach Paris – sie war richtig und wichtig – nicht nach Warschau oder Tel Aviv zu reisen, sondern – gerade vor diesem Hintergrund – in die Vereinigten Staaten und sich mit seinem neuen Amtskollegen darüber auszutauschen. Auch Herr Maas wird lernen müssen, dass Außenpolitik darin besteht, mit denen zu reden, mit denen man eigentlich nicht reden will. In seiner gestrigen Antrittsrede wurde ziemlich deutlich, mit wem er nicht reden will. Wir stemmen uns übrigens auch nicht gegen TTIP, Herr Hardt; vielmehr sind wir für einen freien Handel. Aber wir haben uns dagegen ausgesprochen, dass ein Handelsabkommen im Geheimen in Brüssel und anderswo von Lobbyisten geschrieben wird, und zwar so, dass es keine staatliche Kontrolle über diese Abkommen mehr gibt. Dagegen haben wir uns als AfD immer ausgesprochen. Das stimmt. ({3}) Wir stellen uns auch die Frage, warum Europa so viele Schutzzölle erhebt, die in einigen Bereichen deutlich höher sind als die der Vereinigten Staaten. Wenn wir Verhandlungen mit den USA führen, dann muss man die bestehenden europäischen Schutzzölle in die Diskussion einbeziehen. Wir dürfen allerdings die deutsche Stahlindustrie nicht genauso im Regen stehen lassen, wie wir das bei der deutschen Automobilindustrie im Hinblick auf den Dieselskandal gemacht haben. Dabei ging es nämlich nicht um eine Umwelt- oder Abgasfrage, sondern das war ein erklärter Wirtschaftskrieg. Da haben Sie nichts von Frau Merkel und nichts aus Niedersachsen und nichts aus Bayern oder Baden-Württemberg gehört. Das war ein Wirtschaftskrieg, in dem die Bundesregierung im deutschen Interesse hätte handeln müssen. Sie haben es nicht getan. ({4}) Den Handelskrieg eskalieren zu lassen, wäre kurzsichtig und kindisch. Es ist ein Reflex und eine Überheblichkeit ({5}) und auch ein narzisstisches Selbstmitleid der Bundesregierung, dass man andere immer bestrafen will. Aber genau das ist die Handlungsmaxime der Bundesregierung. Man will die Russen für die Annexion der Krim bestrafen, man will die Briten für den Brexit bestrafen, die Ungarn und Polen will man sowieso bestrafen, und jetzt will man die USA bestrafen. Wann gestehen wir uns endlich ein, dass die Arroganz, andere bestrafen zu wollen, nicht nur nichts bringt, sondern diesem Land schadet und keine vernünftige Politik ist? ({6}) Wenn die USA einfordern, dass wir endlich unserer vertraglichen Verpflichtung nachkommen – das wurde parallel zu der Androhung der Strafzölle gefordert – und 2 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung aufwenden sollen, dann ist das aus amerikanischer Sicht recht und billig. Unsere Bundeswehr ist ein verwahrloster Trümmerhaufen. Daran ist diese Bundesregierung schuld. Das hat man in Washington schon längst wahrgenommen. ({7}) 2 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung aufzuwenden, würde dazu führen, dass wir international nicht weiter der Lächerlichkeit preisgegeben werden mit Waffensystemen, die alle nicht funktionieren, sondern dass wir wieder ein anerkannter Partner auf Augenhöhe auf dem internationalen Parkett werden. Wenn Ihnen das entgangen ist, dann fahren Sie in die Welt und reden mit den jeweiligen Regierungen und erfahren Sie, welchen Stand Deutschland heute genießt. Uns wird der rote Teppich ausgerollt – ja, das ist so. Bei allem anderen nimmt man uns aber immer weniger ernst. Das sollten wir schleunigst ändern. Ich danke Ihnen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Hampel. – Wir werden im Anschluss an diese Debatte über einen Bundeswehreinsatz in Darfur diskutieren, ähnlich wie wir es heute Morgen zu dem Einsatz im Südsudan gemacht haben. Ich kann sagen, dass ich nicht glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten verwahrloste Trümmerfrauen oder Trümmermänner sind. ({0}) Nächster Redner in der Debatte: Otto Fricke. ({1})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tagesordnung steht: Aktuelle Stunde zur „Gefahr eines Handelskrieges und“ – der Kollege Jurk hat es richtig gesagt – „die Auswirkungen auf die Finanzplanung des Bundes“. Wie wichtig diese Aktuelle Stunde ist, kann man an der regen Beteiligung sehen. Woran man es aber nicht sehen kann, ist an der Beteiligung der Bundesregierung. ({0}) Denn wenn wir einmal auf diese Seite schauen, dann stellen wir fest, dass dort zwar der sehr geschätzte Kollege Krings sitzt; aber das Finanzministerium sitzt dort nicht. Auch das Kanzleramt – wie viele Staatsminister hat es jetzt? – ist nicht vertreten; kein einziger ist da. Das ist eine Sache, zu der wir sagen müssen: Wir debattieren in Aktuellen Stunden doch deswegen, weil wir sehen wollen, wie die Auswirkungen in unserem Land sind. Wir erwarten eigentlich, dass die Bundesregierung diesem Parlament zuhört und sich anhand der Debatte eine Meinung bildet. Ich würde mich also freuen, wenn das Kanzleramt den Weg hierher finden würde, zumindest mit einem Vertreter. ({1}) Meine Damen und Herren, an diesem Platz muss man beim Thema „Zoll- und Handelsstreitigkeiten“ einfach nur das Wort „Mauer“ in seinen Kopf setzen. Wir sind hier an einem Ort, an dem wir regelmäßig über die Markierung einer Mauer gehen, die Handel verhindert hat. In den USA soll an der Südgrenze eine Mauer gebaut werden; sie wird ebenfalls vieles erschweren. Zölle und Tarife, auch das sind nichts anderes als Mauern. Es sind Mauern, die man nicht anfassen, nicht sehen, aber spüren kann und spüren wird. Wenn wir uns in diesem Hause eigentlich darüber einig sind, dass Zollstreitigkeiten, Zollzwiste keinen Sinn machen – ich begrüße die Kollegin Hagedorn vom Finanzministerium, die den Weg hierher gefunden hat –, ({2}) dann sind wir uns doch auch darüber einig: Diejenigen, die am meisten unter einem solchen Zwist, unter einer solchen Streitigkeit leiden werden, sind am Ende die Arbeitnehmer. Wen hat es in den 30er-Jahren getroffen? Den Einzelnen, den Arbeitnehmer, die Familie! Es muss die Aufgabe dieses Landes und dieser Bundesregierung sein, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land davor zu schützen, dass durch solche Streitigkeiten am Ende ihre Arbeitsplätze in Gefahr geraten und sie darüber nachdenken müssen, wie sich ihre Zukunft darstellen kann. Das ist der Kern, um den wir uns hier bemühen müssen, das Ziel, das wir erreichen müssen. ({3}) Man muss Vorsorge treffen, das heißt, man muss nicht mit dem Schlimmsten rechnen, aber man muss wissen, wie man mit dem Schlimmsten umgehen kann. Wir haben das im Bereich der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren immer wieder getan. Ich erinnere an die Jahre 2009 und 2010, in denen wir bei der Bundesagentur für Arbeit einen Puffer hatten, der so groß war, dass wir eine kurze Krise gut überwinden konnten. Wir haben den Puffer inzwischen wieder aufgebaut, und das ist auch eine Versicherung. Aber die Frage ist: Was hat die Bundesregierung in den letzten vier Jahren, wissend, welche Auseinandersetzungen mit diesem Präsidenten kommen werden, getan? Was tut sie in der Zukunft? Was macht sie – Herr Kollege Jurk, damit komme ich zu Ihnen – in der Finanzplanung? Wir wissen das doch nicht. Wir wissen auch noch nicht, wie die Finanzplanung aussieht; da muss man dem Finanzministerium auch Zeit geben. Aber – das will ich dann doch sagen –: Sollte es zu Arbeitsplatzverlusten kommen, haben wir das Problem, dass die sozialen Transferleistungen steigen. Wir werden weniger Einnahmen in den Kassen haben, wir werden weniger Steuereinnahmen haben, wir werden steigende Ausgaben in allen möglichen Sozialsystemen haben – eine Ausgabenkaskade, die wir alle schon erlebt haben. Da erwarte ich, dass die Bundesregierung Vorsorge trifft. Wir werden gleichzeitig an unterschiedlichsten Stellen Bedrohungen für den Haushalt haben. Wir wissen schon jetzt konkret, dass beim mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union jährlich mit mindestens 3 Milliarden Euro zu rechnen ist. Wir wissen, dass durch den Brexit mit mindestens 2 Milliarden Euro Mehrausgaben zu rechnen ist. Wir wissen auch, dass wir bei den Zinsen – da hatte die Bundesregierung einen großen Vorteil; sie konnte sagen: die Ausgaben steigen, aber das ist kein Problem; denn die Steuereinnahmen steigen, und die Zinsen sinken – so langsam an das Ende dieser Entwicklung kommen; das wird die Kollegin Hagedorn sicherlich gern bestätigen. ({4}) – Dass Sie nicht verstehen, Kollege Krischer von den Grünen, was das mit Handelskriegen zu tun hat, ist klar; denn Sie gucken nur in das Heute, in das Jetzt. ({5}) Unsere Aufgabe muss es aber sein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zu überlegen, wie wir Vorsorge treffen, wie wir entsprechend in der Finanzplanung agieren. Meine Fraktion, die FDP, wird schauen, welche Ausgabenvorschläge von Ihnen allen hier wieder kommen werden, die in keiner Weise Rücksicht auf das nehmen, was an Bedrohungen für unser Land besteht, nicht nur im Bereich der Umwelt, sondern auch in den Bereichen Arbeitsplätze, Finanzplanung, Sicherheit und Zukunft unseres Landes. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Otto Fricke. – Nächster Redner: Bernhard Loos für die CDU/CSU-Fraktion. – Das ist der dritte Kaufbeurer heute. ({0})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Geld hört die Freundschaft auf. – Diese bekannte Lebensweisheit scheint der derzeitige US-Präsident Donald Trump unter Beweis stellen zu wollen. Ich halte dem natürlich entgegen – das ist, meine ich, viel besser –: Erst in schwierigen Zeiten beweist sich echte Freundschaft. – Und: Wir wollen keinen Handelskrieg. Deshalb finde ich die Aktuelle Stunde heute durchaus angebracht und sehr wichtig. Dass wir so lebhaft darüber diskutieren, ist sicherlich eine notwendige Sache. Deutschland und die USA verbindet weitaus mehr, als ein US-Präsident mit einer verirrten US-Handelspolitik beeinträchtigen kann. ({0}) Unsere beiden Länder verbindet eines zuvorderst: Das ist Freiheit. Das ist die politische Freiheit, die Demokratie, das ist die Freiheit der persönlichen Lebensführung, und das ist auch freier Handel statt staatlich kontrollierter und geschützter Wirtschaft. Denn freier Handel mehrt Wohlstand; falscher Protektionismus schadet ihm. ({1}) Deshalb muss es auch unser Ziel sein, zu verhindern, dass es zu einer unkontrollierbaren Spirale protektionistischer Maßnahmen kommt. Am 8. März unterschrieb der US-Präsident ein Dekret, gemäß dem auf Stahleinfuhren 25 Prozent Strafzölle erhoben werden, auf Aluminiumeinfuhren 10 Prozent. Das ist in meinen Augen ein unwürdiger Wettlauf, der da jetzt begonnen hat. Wir in Europa dürfen uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Ein Gutes hat ein ein bisschen getrübtes Verhältnis zu unserem atlantischen Partner, nämlich dass Europa lernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Menschen in unserem Land erkennen spätestens jetzt den großen Wert der Europäischen Gemeinschaft. ({2}) Die Trump’schen Strafzölle sind paradox, ihre Wirkung auch auf die US-Wirtschaft ist fatal. Experten schätzen, dass rund 145 000 Arbeitsplätze in der stahlverarbeitenden Industrie durch den dann teuren US-Stahl wegfallen werden, also das glatte Gegenteil dessen eintritt, was Trump vorgeblich erreichen möchte. Deutschland lieferte 2016 rund 1 Million Tonnen Walzstahl in die USA; das entspricht 4 Prozent der deutschen Stahlproduktion. Die deutsche Aluminiumindustrie lieferte 2017 rund 100 000 Tonnen, 2,3 Prozent der Gesamtexporte. Nun droht US-Präsident Trump auch noch mit höheren Zöllen auf Autoimporte aus Europa. Das würde natürlich besonders deutsche Autobauer treffen, die rund 500 000 Autos von insgesamt 1,4 Millionen Autos aus der EU jährlich in die USA exportieren. Als direkt gewählter Abgeordneter für München-Nord mit dem Firmensitz der BMW AG und vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen im Wahlkreis weiß ich: Die Menschen in Deutschland haben Angst. Sie haben Angst vor einer nicht absehbaren Eskalation im Zuge eines Handelskrieges, der letztlich zu einer Verschlechterung der Auftragslage führen und damit auch ihre Jobs bedrohen könnte. Wie paradox das Verhalten des US-Präsidenten ist, zeigt auch, dass gerade die BMW- und Mercedes-Werke in den USA die größten Exporteure von Fahrzeugen aus den USA sind. Welchen Sinn macht es, diese Firmen mit Strafzöllen zu belegen und damit zu gefährden, wenn sie gleichzeitig Wertschöpfung in den USA und damit US-Arbeitsplätze sichern? Trump sieht sich als Dealmaker. Das müssen wir erkennen und in unseren Reaktionen berücksichtigen. Wir müssen klare Positionen beziehen. Wir wollen keinen Handelskrieg zwischen der EU und den USA. Der Vorzug muss Gesprächen gegeben werden. Die EU muss deutlich machen, dass sie ein Freihandelsabkommen mit den USA will, das weitere Barrieren abbaut und nicht hinzufügt. ({3}) Keiner gewinnt in einem Wettlauf der Strafzölle. Die EU muss bei der WTO in Genf vorsorglich Klage erheben. Die US-Zölle sind rechtswidrig. Es ist offensichtlich, dass diese Zölle ausschließlich der US-Wirtschaft dienen. Mit der nationalen Sicherheit der USA hat dies alles nichts zu tun und auch nicht mit dem US-Handelsdefizit. Die EU muss Schutzmaßnahmen ergreifen. Wir müssen uns vor umgeleiteten Exporten aus anderen Ländern schützen. Wir müssen Ausgleichsmaßnahmen vorbereiten. Die EU muss Listen mit Produkten vorbereiten, auf die Gegenzölle erhoben werden könnten, damit wir rechtzeitig reagieren können. Aber es darf kein Automatismus sein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit!

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig. – Eines ist ganz klar: Die EU darf sich nicht auseinanderdividieren lassen. Die sich jetzt andienenden Briten sind ein abschreckendes Beispiel. Wir wollen keinen Handelskrieg. Wir wollen mit den USA reden, verhandeln, einen Deal machen. Wir wollen einen Deal für freien Handel. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte. – Danke, Bernhard Loos. Nächster Redner: Bernd Westphal für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für viele Menschen ist das unglaublich: Unser wichtigster internationaler Partner außerhalb Europas, die USA, will Strafzölle auf Stahl und Aluminium auch gegenüber engsten Partnerländern einführen. Bedeutet dies den Beginn einer neuen Handelsschrankenspirale? Die USA wissen, dass sie damit gegen WTO-Recht verstoßen – übrigens Regeln, die sie selber entwickelt, mit aufgebaut und verabschiedet haben. Sie wissen, dass die Europäische Union angemessen und geschlossen darauf reagieren wird. Alle Beteiligten wissen ebenso, dass durch die USA-Strafzölle Länder verlieren; keinem Land wird ein Handelsboykott Vorteile bringen. Das sind Erkenntnisse, die Trumps Politik in die Absurdität führen. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist paradox; denn das Land, das die Probleme des weltweiten Stahldumpings zu verantworten hat, ist China. Der chinesische Staatskapitalismus ist für 50 Prozent der Weltproduktion verantwortlich. China produziert so viel Stahl wie die restliche Welt zusammen. China allein hat 400 Millionen Tonnen Stahlüberkapazitäten. Zum Vergleich: Die Produktion in Europa umfasst 220 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr. Das Land unterminiert mit Dumpingpreisen den internationalen Stahlhandel und ist auch von der Europäischen Union dafür mehrfach sanktioniert worden. Durch die amerikanischen Strafzölle werden aber nicht nur die chinesischen Überkapazitäten angegangen, sondern auch die engsten Partner der USA werden bestraft, etwa Kanada, Brasilien, Mexiko, Südkorea oder die EU. Das sind allesamt Länder, die sich mit den USA in einer politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftspolitischen Wertegemeinschaft verbunden fühlen. Lediglich 1 Million Tonnen Stahl gehen aus Deutschland in die USA. Die USA sind, wie die EU und Deutschland, von staatlich subventionierten Überkapazitäten von Stahl im weltweiten Markt betroffen. Importbeschränkungen sind aber nicht die richtige Antwort; denn die amerikanischen Importzölle werden international einen Verdrängungswettbewerb auslösen. Ich bin überzeugt, dass einige Importbeschränkungen das Problem der weltweiten Stahlüberproduktion nicht lösen werden. Die Lösung kann nur gefunden werden, indem man sich zusammensetzt, kooperativ zusammenwirkt und zum Beispiel das von der Bundesregierung initiierte Global Forum on Steel Excess Capacity auf G-20-Ebene nutzt. ({1}) Dieses Forum kann einen Kompromiss mit verbindlichen Regeln zum Kapazitätsabbau erarbeiten, an dem die USA, aber auch China beteiligt werden müssen. Isoliertes, einseitiges Handeln bringt niemandem etwas. Die richtige Antwort für die Überproduktion bei Stahl lautet: Kooperation, Diplomatie in Wirtschafts- und Handelsfragen und keine Zölle, meine Damen und Herren. ({2}) Wir wollen und wir müssen alles daransetzen, einen globalen Welthandelsstreit zu vermeiden. Ich benutze die Vokabel „Welthandelskrieg“ nicht. Ich glaube, das ist etwas, womit unser Land bittere Erfahrung gemacht hat. Wir haben andere Vokabeln und Wörter in unserem Repertoire, um dieses Wort nicht benutzen zu müssen. 90 Prozent des Welthandels und des Wachstums werden in den nächsten zehn Jahren außerhalb Europas stattfinden. Wir brauchen allesamt keine weltweite amerikanische Dominanz. Ebenso wenig brauchen wir künstliche, staatliche Preisgestaltung wie in China. Wir brauchen eine vitale WTO, die dafür sorgen kann, dass die bisher geltenden Spielregeln wieder eingehalten werden, – und zwar von allen Partnern, auch den USA. ({3}) Was sind die Ursachen der amerikanischen Handelspolitik? Große Teile der amerikanischen Gesellschaft fühlen sich als Verlierer der Globalisierung. Gerade die USA, die von vielen für die weltwirtschaftlichen Verwerfungen und die Auswüchse des globalen Finanzmarkt- und Konzernkapitalismus verantwortlich gemacht werden, haben große hausgemachte Wirtschaftsprobleme. Die Ursache des amerikanischen Wirtschaftsabschwungs liegt in veralteten Industrien und Wirtschaftsstrukturen der USA. Darin sind sich alle renommierten Wirtschaftswissenschaftler einig. Deshalb werden bei diesem Problem eben nicht Abschottung und Ausgrenzung helfen, sondern hier braucht es Wirtschaftsförderung, Innovation und kluge Politik, die die Wirtschaftspolitik vor Ort entwickelt, wie wir sie auch hier in Deutschland wirtschaftsfördernd praktizieren. Lassen Sie mich noch zwei Worte zum Leistungsbilanzüberschuss sagen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Zwei Worte.

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay. – Es gibt Dinge wie Niedrigzinsen, wie niedrige Energiepreise und andere Faktoren, die wir als nationale Politik überhaupt nicht beeinflussen können. Deshalb ist die Argumentation einiger Redner hier zu einfach, was den Handelsüberschuss angeht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bernd Westphal. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Habe ich das eben richtig verstanden, dass der Kollege Hampel für die AfD-Fraktion erklärt hat, dass die Bundeswehr ein verwahrloster Trümmerhaufen ist? ({0}) Wo ist denn der Kollege Hampel überhaupt? Ich sehe ihn gar nicht mehr. Es ist schon ein bisschen peinlich, hier eine Debatte zu führen, Behauptungen aufzustellen und dann aus dem Saal zu verschwinden. ({1}) Meine Damen und Herren, wer die Bundeswehr als verwahrlosten Trümmerhaufen bezeichnet, der beleidigt 180 000 Soldaten, die ihr Leben für dieses Land hingeben. Das ist eine unglaubliche Entgleisung, die hier im Deutschen Bundestag nicht zu dulden ist! ({2}) Ansonsten freue ich mich und ist es absolut richtig, dass wir hier Debatten über Wirtschafts- und Finanzpolitik führen. Das ist gut, und das sollten wir an dieser Stelle viel öfter machen. Zu den Zöllen von Herrn Trump ist viel gesagt worden; das meiste war auch richtig. Aber vielleicht, meine Damen und Herren, betrachten wir das auch als Weckruf, uns mit unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik einmal näher zu beschäftigen. Sie haben die Frage gestellt: Welche Auswirkungen hat das auf die Finanzplanung? Diese Frage ist richtig. Wir sind eine exportorientierte Nation. Ein Großteil unseres Bruttosozialproduktes wird durch Exporte erwirtschaftet. Wenn die Vereinigten Staaten Zölle erheben, wenn es eine Wirtschaftskrise in China oder Konflikte in Osteuropa gibt, ist es natürlich so, dass das unsere Wirtschaft betrifft. Deswegen sollten wir sehr vorsichtig sein; denn das betrifft auch unsere Steuereinnahmen. Wer jetzt schon anfängt, die Steuereinnahmen für die nächsten Jahre zu verballern, der sollte damit sehr vorsichtig sein; denn das gilt auch für die Ausgabenseite. ({3}) Otto Fricke, bevor du klatschst: Das gilt auch für Forderungen, einfach einmal auf 20 Milliarden Euro Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag zu verzichten. ({4}) Das gehört nämlich auch zur Wahrheit dazu. ({5}) In der Wirtschaftspolitik sind es auch noch ein paar andere Fragen, die uns beschäftigen sollten. Welche Haltung haben wir eigentlich als Deutscher Bundestag zum Thema Freihandel? ({6}) Die Zölle sind angesprochen worden. Die EU ist kein Musterschüler im Bereich Zölle. Da sollten wir uns auch an die eigene Nase fassen. Welche Haltung haben wir zum Thema Handelsauseinandersetzung? Ich bin froh, dass bis auf die Rednerin der Grünen keiner gesagt hat: Wir wollen jetzt Zölle mit Gegenzöllen beantworten. – Ich glaube, das führt zu nichts. Das führt zu Verlierern auf beiden Seiten. Ein Handelskrieg führt außerdem zu einem Verlust an Arbeitsplätzen, auch hier in Deutschland. ({7}) Denn Handel und freier Wettbewerb haben immer auch zu Innovation beigetragen, meine Damen und Herren. ({8}) Wir sollten uns aber auch überlegen, ob die Frage der Zölle die einzige ist. ({9}) Wir sollten uns überlegen: Wie sieht es denn eigentlich mit fairem Wettbewerb im Bereich Steuerdumping aus? Da müssen wir gar nicht in die Vereinigten Staaten gehen. ({10}) Da können wir auch in die Niederlande gehen. Das ist ganz nah. ({11}) Wie sieht es denn aus mit Unternehmen wie Amazon, die wenig Ertragsteuer auf dieser Welt zahlen? ({12}) Wie ist denn das Konkurrenzverhältnis zu unseren lokalen Einzelhändlern? ({13}) Das hat auch etwas mit fairen Handelspraktiken zu tun. ({14}) Meine Damen und Herren, wenn wir über faire Handelspraktiken reden, dann reden wir doch einmal über Amazon. Das ist sicherlich ein bemerkenswertes Unternehmen; aber schauen Sie sich doch einmal an, welche Monopolstellung es sich mittlerweile erworben hat, gesponsert auch durch die US-Steuerpolitik. Diese Monopolstellung widerspricht jeglichem Gedanken der sozialen Marktwirtschaft und jeglichem Gedanken des Wettbewerbes. Das heißt: Wir müssen auch einmal darüber reden, welche Bedeutung Kartell- und Monopolpolitik in diesem Lande haben. ({15}) Wenn wir über Wirtschaftspolitik reden, dann müssen wir auch darüber reden, dass wir – daran glaube ich übrigens immer noch – die besten Autos auf der Welt bauen, tolle Maschinen und dass viele Menschen unsere Produkte haben wollen. ({16}) An die Adresse der Grünen und der Linken: Wir werden nicht schlechter wegen unseres Außenhandelsüberschusses. Wir wollen weiter gute Produkte für den Weltmarkt produzieren. ({17}) Wir hatten es in den vergangenen Jahren relativ leicht mit unseren Exporten. Unsere Währung war komplett unterbewertet. Wir haben niedrige Zinsen gehabt. Es wäre an der Zeit, wieder einmal über Produktivität in diesem Land zu reden. ({18}) Ich goutiere ausdrücklich, dass wir große Lohnerhöhungen gehabt haben. Das gehört dazu. Aber wohin führt das? ({19}) Was passiert mit den Sozialversicherungsbeiträgen, mit den Energiepreisen, und was machen wir mit den Bürokratielasten für unsere Unternehmen? ({20}) Auch das ist im Grunde genommen schlecht für unseren Wettbewerb. Auch darüber sollten wir einmal reden, meine Damen und Herren. ({21}) Reden wir weiter über Wirtschaftspolitik. 9 Prozent unseres Warenaußenhandels entfallen auf die Vereinigten Staaten. Es ist nie gut, alle Äpfel in den gleichen Korb hineinzulegen. Ein Kollege aus dem Europäischen Parlament hat gestern gesagt: Wenn der Trump Mauern baut, dann sollten wir Brücken zu anderen Ländern bauen, dann sollten wir den Handel intensivieren. – Wir haben noch Potenzial nach oben: in Asien, in Südamerika, in Mittelamerika, vor allen Dingen aber auch in Afrika. Das, meine Damen und Herren, geht am besten mit Freihandelsabkommen. ({22}) Deswegen ist die Verteufelung von Freihandelsabkommen, die auch heute wieder von der linken Seite des Parlamentes durchgeschienen ist, kontraproduktiv, meine Damen und Herren. Frau Dröge, Sie haben gesagt, Globalisierung ist ungerecht. Fakt ist, dass diese Globalisierung dazu geführt hat, dass wir in Ländern wie Indien oder China überhaupt eine Mittelschicht bekommen, dass dort überhaupt etwas wächst und entsteht. Wer die Globalisierung verteufelt, nimmt den Menschen in diesen Schwellenländern das Recht auf Wohlstand. Auch das gehört zur Wahrheit. ({23}) Wenn ich jetzt einmal einen Strich drunterziehe – das ist sicher nicht die letzte Debatte, die wir hier zur Wirtschaftspolitik und zur Globalisierung führen; wir müssen darüber viel mehr reden –, ({24}) kann ich nur eines sagen: Es macht keinen Sinn, vor anderen wie ein Kaninchen vor der Schlange zu sitzen. Wir sind stark genug, unser eigenes Ding zu machen. Das bedeutet, dass wir eine gute und faire Wirtschaftspolitik machen. Wenn es mit den Partnern in den Vereinigten Staaten nicht klappt, dann müssen wir es mit anderen Partnern auf der Welt machen. Da gibt es noch viel Potenzial nach oben. Danke schön. ({25})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Brinkhaus. – Damit schließe ich diese sehr lebendige Aktuelle Stunde. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, zügig Ihre Plätze zu tauschen oder Platz zu nehmen.

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank, liebe Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen den Einsatz in Darfur fortsetzen. Angesichts der Lage in der Region ist eines ziemlich bemerkenswert: Deutschland ist tatsächlich das einzige europäische Land, das sich militärisch an der Hybridmission UNAMID beteiligt. Unsere Beteiligung ist auch deshalb von ganz besonderer Bedeutung, weil diese Beteiligung ein Zeichen der Solidarität ist. Deutschland übernimmt hier Verantwortung. Ich glaube, dass wir damit auch ein Signal an die Vereinten Nationen aussenden, dass wir ein verlässlicher und kompetenter Partner sind. Außerdem senden wir ein Signal an die Afrikanische Union. Denn das macht diese Mission so besonders: Es ist die einzige gemeinsame Mission der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen. Eine solche Debatte ist immer auch eine Gelegenheit, ein bisschen zurückzublicken. Dieser Konflikt – das darf man, glaube ich, sagen – ist ein wenig aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit geraten, auch aus dem Fokus der deutschen Öffentlichkeit. Was ist in den letzten elf Jahren passiert? Welche Ziele wurden erreicht? Welche Entwicklungen hat es gegeben? Ich glaube, dass man bei aller Vorsicht sagen kann: Es gibt einige optimistisch stimmende positive Nachrichten. Die Regierung des Sudans hat den einseitigen Waffenstillstand im vergangenen Jahr schrittweise verlängert. Zudem blieb erstmals seit Jahren eine Trockenzeitoffensive aus. 2017 war damit das erste Jahr, in dem nicht mehr großflächig in Darfur gekämpft wurde. Ich sage nicht, dass nicht gekämpft wurde; aber es gab keine großangelegte Offensive. Sowohl die Regierung als auch die bewaffneten Oppositionsgruppen haben Kriegsgefangene freigelassen. Auch das muss man – bei aller Vorsicht – positiv bewerten. Es findet in der Region Darfur – ich halte es für wichtig, auch das zu erwähnen – eine Entwaffnungskampagne statt. Sie wird von UNAMID unterstützt und zum Teil von UNAMID durchgeführt. Nicht zuletzt hat UNAMID den Zugang zu dem umkämpften Gebiet, dem Jebel Marra, offen gehalten. Ich habe es eben erwähnt: Der Konflikt ist tatsächlich etwas aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten. Deswegen sind diese Entwicklungen, diese positiven Schritte keine Nachrichten, die es bei uns groß auf die Tagesordnung schaffen. Das ist der Grund, meine sehr verehrten Damen und Herren, weshalb ich das hier erwähne. Ich will auch sagen: Beharrlichkeit und – nach elf Jahren Konflikt – ein langer Atem zahlen sich aus. Der UN-Sicherheitsrat hat die positiven Entwicklungen in Darfur anerkannt, und er hat auch darauf reagiert. Wir haben in diesem Hause häufig über den Einsatz gesprochen. Da gab es den Vorwurf, ein einmal beschlossener Einsatz werde quasi unendlich fortgesetzt und nicht angepasst. Nein, 4 000 Soldatinnen und Soldaten konnten aus der Region abgezogen werden. Die Mission ist Stück für Stück, schrittweise verkleinert worden. Der Fokus liegt auf den heute umkämpften Gebieten, er liegt auf dem Schutz der Zivilbevölkerung. Das ist, wenn ich das hier einmal sagen darf, der richtige Schwerpunkt. Es geht um die Sicherung des Zugangs für humanitäre Hilfe. Das müssen wir gemeinsam gewährleisten. ({0}) Es geht auch darum, dass es keine temporäre Entwicklung bleibt, sondern wir diesen Zugang dauerhaft erhalten. Deswegen helfen wir beim Aufbau von Sicherheitskräften und der Ausbildung der sudanesischen Polizei mit. Aber es ist nicht einfach nur Ausbildung – der Fokus liegt auf Rechtsstaatlichkeit, auf Transparenz, auf Accountability, wie man so schön sagt. Gerade dieses Engagement, meine Damen und Herren, ist es, was letztlich so etwas wie eine Abzugsperspektive für die internationalen Truppen bieten soll. Denn wir hinterlassen etwas, was hoffentlich die Möglichkeit bietet, eine langfristige Lösung zu erreichen. Der deutsche Beitrag zu UNAMID, dem – ich habe es erwähnt – bislang einzigen gemeinsamen Einsatz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen, ist aber letztlich nur ein Teil unseres Engagements. Insofern will ich Ihre Aufmerksamkeit auch noch auf andere Bereiche unseres Engagements richten, um deutlich zu machen, dass es sich hier um einen umfassenden Ansatz handelt. Wir fördern Projekte zur Mediation zwischen der Regierung in Khartum und den Oppositionsgruppen in Darfur. Wir stellen Beratung im Hinblick auf die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung bereit. Ich habe das bei der Frage der Ausbildung der Sicherheitskräfte erwähnt; aber es geht auch insgesamt um einen Verfassungsprozess. Wir unterstützen durch humanitäre Hilfe die vielen Flüchtlinge in der Region, die sich in einer schlechten und zum Teil immer noch katastrophalen Situation befinden. Wir sind auch hier ein verlässlicher Partner. Ich glaube, in einer Zeit, in der wir etwa die Entscheidung der amerikanischen Regierung erlebt haben, mehr oder weniger ohne Ankündigung das Budget für das palästinensische Flüchtlingshilfswerk um die Hälfte zu kürzen – mit fatalen Auswirkungen –, darf ich sagen: Wir sind auch hier ein verlässlicher Partner in der humanitären Hilfe und bleiben es auch, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Wir setzen uns darüber hinaus für den Aufbau eines Berufsbildungssystems und für die Verbesserung der Lebensumstände in der Bevölkerung ein. Ja, es ist unterm Strich, wenn man sich die Probleme anschaut, sicherlich ein bescheidener, aber ein wichtiger Beitrag, der ein bisschen den Geist des Optimismus in sich trägt. Das sollten wir weiter unterstützen, gerade weil die Menschenrechtslage weiterhin durchaus volatil ist. Die humanitäre Situation bleibt angespannt. Auch 2018 werden nach den Informationen, die uns über die Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt worden sind, voraussichtlich über 3 Millionen Menschen in Darfur auf humanitäre Hilfe angewiesen sein. Wir alle wissen, dass eine entsprechende Versorgung dieser Personen finanzielle und logistische Konsequenzen hat. Dringend angegangen werden müssen auch grenzübergreifende Herausforderungen, über die wir auch in anderen Bereichen diskutiert haben, wie Terrorismus und organisierte Kriminalität. Das konzentriert sich alles in einer Region, die durch Spannungen und Konflikte geprägt ist. Als Beispiele nenne ich Libyen und den Südsudan; über den Südsudan haben wir heute bereits miteinander diskutiert. Außerdem gibt es – das muss man leider sagen – im Konflikt um die umstrittenen Grenzgebiete zwischen dem Sudan und dem Südsudan weiterhin keine abschließende Lösung. Das trägt zur Instabilität bei. Ich will die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes erwähnen. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich verdoppelt. Das destabilisiert natürlich auch die Konfliktregion und trifft diejenigen, die besonders verletzlich sind. Deswegen bleibt es eine zentrale Herausforderung, gemeinsam mit unseren Partnern eine politische Lösung zu finden. Mit dem Sondergesandten für die Afrikanische Union werden wir uns weiterhin für eine dauerhafte Lösung einsetzen; denn UNAMID alleine kann den Konflikt nicht lösen. UNAMID bleibt auf die Unterstützung der Staatengemeinschaft angewiesen. Man kann schon sagen: Friedenskonsolidierung ist mühsam, langwierig, und sie verläuft nicht immer linear. Deswegen ist es wichtig, dass dieses Parlament, dass der Deutsche Bundestag die Unterstützung weiterhin gewährt. Wir, die Bundesregierung, bitten Sie um die Zustimmung und um die konstruktive Begleitung des Engagements unserer Soldatinnen und Soldaten, die dort eingesetzt sind. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niels Annen. – Nächster Redner, ebenfalls für die Bundesregierung: der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn. Sie haben das Wort. ({0})

Thomas Silberhorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003636

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, dass wir hier in diesem Haus, in ganz Deutschland und in Europa immer öfter und intensiver über Afrika diskutieren. Ich durfte in den letzten vier Jahren im Entwicklungsministerium erleben, dass dieser Kontinent große Potenziale hat. Es ist ein junger Kontinent. Das Durchschnittsalter der Menschen beträgt 18 Jahre. Der ganze Kontinent befindet sich im Aufbruch. Aber viele Staaten in Afrika stehen auch vor großen Herausforderungen. Viele Regionen leiden noch immer unter Fragilität und Instabilität, und das strahlt auf uns aus. Wir spüren es auch in Europa: bei Flucht und Migration, bei Menschenhandel und organisierter Kriminalität bis hin zu Terrorismus. Die Regionen in Afrika zu stabilisieren, ist in erster Linie eine afrikanische Verantwortung. Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, dass die Afrikanische Union, der seit letztem Jahr erstmals alle afrikanischen Staaten angehören, sich dieser Verantwortung stellt und dass sie einen signifikanten Beitrag leistet und Kapazitäten aufbaut, um Sicherheit und Stabilität in krisenbehafteten und fragilen Regionen sicherstellen zu können. Deshalb ist es auch von besonderer Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft einen Beitrag dazu leistet, dass das gelingt. Das gilt nicht zuletzt in der Region Darfur; denn das Mandat UNAMID ist eine gemeinsame Mission von Afrikanischer Union und Vereinten Nationen. Auftrag ist es, die Sicherheitslage zu verbessern, die humanitären Zugänge in die Region Dafur zu sichern, die Menschenrechtslage zu überwachen und zu verbessern und die politischen Friedensbemühungen zu begleiten. Und tatsächlich: Die Bedrohungs- und Sicherheitslage hat sich im Jahr 2017 positiv entwickelt. Die sudanesische Regierung hat den einseitigen Waffenstillstand verlängert. Der Sondergesandte von Vereinten Nationen und Afrikanischer Union konnte bei Verstößen gegen den Waffenstillstand erfolgreich vermitteln, und sowohl die Regierung als auch bewaffnete Gruppen haben Kriegsgefangene freigelassen. Allerdings, der Kern des Darfur-Konflikts bleibt nach wie vor ungelöst. Trotz der flächendeckenden Beruhigung der Lage im Jahr 2017 bleiben messbare Fortschritte im Friedensprozess weiter aus. In Teilgebieten der Region Darfur kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Menschenrechtsverletzungen. Insbesondere die humanitäre Lage bleibt katastrophal mit 2,7 Millionen Binnenvertriebenen. Deswegen ist ein fortgesetztes Engagement der Staatengemeinschaft mit der Afrikanischen Union hier so wichtig. Deutschland ist derzeit die einzige europäische Nation bei UNAMID; das wurde schon erwähnt. Wir beteiligen uns seit dem Jahr 2008 daran, und zwar ebenso wie bei UNMISS, dem Mandat im Südsudan, mit einer Mandatsobergrenze von bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten. Wir haben vor, weiterhin acht Dienstposten aktiv zu besetzen. Unsere Soldatinnen und Soldaten dienen im Hauptquartier in al-Faschir und unterstützen die Missionsführung im Rahmen von UNAMID bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Unsere Beteiligung und die Fortsetzung unseres Engagements sind deshalb wichtige Zeichen an die Vereinten Nationen, aber auch an die Afrikanische Union: ein Zeichen dafür, dass wir die Friedensanstrengungen der internationalen Gemeinschaft in der Region Darfur weiterhin unterstützen, und ein Zeichen dafür, dass wir die Afrikanische Union in ihrer Verantwortung und ihren Kapazitäten stärken. Wir dürfen nicht vergessen: Die Missionen der Vereinten Nationen sind nur so stark, wie die Staaten sie machen. Deshalb sind wir bereit, einen weiteren Beitrag zu UNAMID zu leisten. Für die Fortsetzung der unveränderten Beteiligung der Bundeswehr an UNAMID bitte ich daher um Ihre breite und starke, klare Unterstützung. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Silberhorn. – Nächster Redner in der Debatte: Gerold Otten für die AfD-Fraktion. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist das einzige Land der Europäischen Union, das sich mit der Entsendung von militärischem und zivilem Personal sowie mit finanziellen Hilfsleistungen an UNAMID beteiligt, an einer UN-Friedensmission, deren Aufgabe es ist, die politische und humanitäre Krise in Darfur zu bekämpfen. Dem deutschen Kontingent vor Ort wurden dabei von UNAMID Aufgaben übertragen, von deren professioneller Erledigung der Erfolg der Mission abhängt. Die Soldaten und Polizeibeamten leisten dort hervorragende Arbeit, und sie tun dies unter schwersten Bedingungen. Ich möchte an dieser Stelle kurz den Beitrag des Kollegen Brinkhaus aufgreifen, der die Aussage von Herrn Hampel völlig entstellt wiedergegeben hat. ({0}) Seine Aussage ging dahin, dass das Personal der Bundeswehr einen vorbildlichen Dienst leistet und dass es ein Versagen der Bundesregierung ist, dass Sie Personal mit Gerät, das völlig veraltet ist, in Einsätze schicken. Das kann man als Trümmerhaufen bezeichnen. ({1}) Wir danken unseren Soldaten für den Einsatz vor Ort und wünschen ihnen viel Erfolg und endlich auch die verdiente Unterstützung durch die Bundesregierung. ({2}) Ihre Aufgabe ist es nämlich, auf diplomatischem Weg die Bedingungen zu erleichtern, unter denen der Einsatz vor Ort durchgeführt wird. Die Realität in Darfur und im Sudan zeigt noch keine sichtbaren Verbesserungen. Wir beobachten dort eine Situation, aus der sich die restlichen EU-Staaten bewusst heraushalten. Es gibt eine sudanesische Zentralregierung, die in zynischer Weise internationale Hilfen kassiert, um ihre eigene Herrschaft zu stabilisieren, während ihre Streitkräfte und Milizen das sicherheitspolitische Hauptproblem darstellen, eine Zentralregierung, die – so zeigt sich – missliebige Aktionen im Rahmen von UNAMID verschleppt und verzögert. Fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen, Kriminalität und Terrorismus bestimmen das Bild. All das widerspricht der beschönigenden Bewertung der Sicherheitslage durch die Bundesregierung. Warum nutzen Sie nicht Ihre diplomatischen Möglichkeiten, um der Zentralregierung deutlich zu machen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft nicht mehr für dumm verkaufen lässt? Verfolgen Sie endlich einen realistischen Kurs in Ihrer Sudan-Politik! Bei Verhandlungen und bei der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union ist ein Umsteuern dringend notwendig. Als drittgrößter Geldgeber der Vereinten Nationen muss die Bundesregierung hier deutlich mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen. ({3}) Im vorliegenden Antrag heißt es, die Reduzierung des militärischen und polizeilichen Personals von UNAMID habe bislang keine nachteiligen Folgen für die Gesamtlage mit sich gebracht. Dennoch herrschen in der Region erbitterte Verteilungskämpfe um natürliche Ressourcen, und immer wieder flackern gewaltsame Auseinandersetzungen auf. Es kommt nach wie vor zu schwersten Menschenrechtsverletzungen sowie zu Missbrauchs- und Gewalthandlungen an Frauen und Kindern. Vor dieser absehbaren Entwicklung hatten wir bereits im Dezember des vergangenen Jahres gewarnt und uns deshalb gegen die geplante Truppenreduzierung ausgesprochen. Nach unserer Einschätzung ist die Friedensmission UNAMID noch weit von der Erreichung der Ziele entfernt. ({4}) Das Engagement der Bundesregierung, mithilfe von Mediations- und Beratungsleistungen die Grundlage für einen Versöhnungsprozess zu schaffen, halten wir angesichts der gegenwärtigen Missstände für blauäugig und weitestgehend verfrüht. Es ist doch geradezu fahrlässig und gefährlich, sich in diesem unberechenbaren Umfeld von Zweckoptimismus leiten zu lassen. Hier ist die Intervention der UN gezielter auf die Entwaffnung der Konfliktparteien auszurichten. Diesen muss die Grundlage zur Fortsetzung bewaffneter Auseinandersetzungen entzogen werden. Wie bereits beim vorhergehenden Antrag der Bundesregierung vermissen wir auch hier einen Zeitplan mit konkreten Meilensteinen zur Umsetzung. Eine Exit-Strategie für die Zeit nach Erreichung der Einsatzziele fehlt ebenfalls. Wir müssen davon ausgehen, dass die Bundesregierung wie beim Afghanistan-Einsatz auch hier kein Konzept hat. Sie sagen selbst: Trotz flächendeckender Lageberuhigung in 2017 bleiben messbare Fortschritte im Friedensprozess in Darfur aus. Es wäre interessant, wenn Sie uns erklären könnten, an welchen messbaren Kriterien die Bundesregierung diese Fortschritte, sofern es sie denn geben sollte, festmachen würde. Meine Damen und Herren, oberste Priorität muss der Schutz der Schwächsten und Wehrlosen haben. Hilfslieferungen müssen dorthin gelangen, wo sie benötigt werden, ohne dass sich Milizen daran in Form von Abgaben und Zahlungen bereichern. Dies und nicht zuletzt der Schutz der internationalen Hilfsorganisationen ist die Kernaufgabe von UNAMID. Die AfD-Fraktion wird daher aus rein humanitären Gründen die beantragte Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an dieser Friedensmission befürworten und stimmt der Überweisung des Antrags an die entsprechenden Ausschüsse zu. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Gerold Otten. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion – es ist seine erste Rede im Deutschen Bundestag – ist Alexander Kulitz aus Ulm. ({0})

Alexander Kulitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004797, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten möchte sich an dieser Stelle ausdrücklich bei den deutschen Soldatinnen und Soldaten bedanken, die in Darfur für den Frieden im Einsatz sind. ({0}) Ich glaube, das wird – auch in diesem Hohen Haus – viel zu selten erwähnt. Meine Damen und Herren, genau deswegen sind sie dort im Einsatz: um den Frieden in Darfur langfristig zu gewährleisten. In der Vergangenheit haben wir immer wieder gehört, UNAMID sei dafür nicht das richtige Mittel; UNAMID sei nicht wirkungsvoll. – Aber genau das ist der Fall. Die UN hat seit Oktober 2017 keine militärischen Auseinandersetzungen in Darfur verzeichnet. Genau das hat uns auch der Parlamentarische Staatssekretär gerade noch einmal dargelegt. Wie, werte Kollegen der Linken, glauben Sie, wäre die Lage in Darfur, wenn keine Truppen vor Ort wären? Meinen Sie, wir könnten unser gemeinsames Ziel der humanitären Hilfe und der Entwicklungsarbeit tatsächlich fortführen, wenn die Vertreter der Hilfsorganisationen und die Bevölkerung vor Ort jeden Tag um ihr Leben bangen müssten? – Ich persönlich habe daran große Zweifel. ({1}) Der UN-Sicherheitsrat spricht seit geraumer Zeit von einer Verbesserung der Sicherheitslage. Wir sind also auf dem richtigen Weg. ({2}) UNAMID wurde im Sommer 2017 als Mission neu ausgerichtet: von einer Peacekeeping- zu einer Peacebuilding-Mission, von einer Friedenssicherung hin zu einer Friedenskonsolidierung. Der Fokus von UNAMID liegt seit 2017 darauf, durch eine Vielzahl von Strategien den Frieden langfristig zu erhalten, indem das Risiko eines Rückfalls in die Gewaltspirale verringert wird. Auch die humanitäre Situation hat sich etwas verbessert, einschließlich des Zugangs für die bedürftigen Menschen in ganz Darfur. Ein Beleg dafür ist auch die – zugegebenermaßen geringe – Rückkehrquote von mehr als 5 000 Flüchtlingen aus dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik in den letzten Monaten. UNAMID wirkt gerade in dieser Übergangs- und Stabilisierungsphase als ordnendes Element. Sehr geehrte Damen und Herren, trotz der verbesserten Lage im Friedensprozess in Darfur ist es noch ein sehr langer Weg. Noch immer kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen; das ist leider wahr. Es wird immer noch nach einer Lösung für die insgesamt knapp 3 Millionen Binnenvertriebenen gesucht. Dabei ist zu beachten, dass es keine zusätzlichen Vertreibungen während der Beurteilungsperiode der „Team Sites“ der ­UNAMID-Mission gegeben hat. Und es ist ganz wichtig, festzustellen: Der Konflikt in Darfur ist noch nicht beendet. Immer noch stehen sich Regierung und Rebellentruppen in ihren Positionen teils diametral gegenüber. Der Konflikt hat sich nun seit längerer Zeit nicht mehr militärisch abgespielt. Das ist ein wichtiger erster Schritt zum Frieden. Aber umso wichtiger ist es jetzt, dass die UNAMID-Mission bei den vielen weiterhin zu gehenden Schritten mit dabei ist. Wir müssen unterstützen und beraten, so wie das Mandat es ja auch vorsieht. Sehr verehrte Damen und Herren, ich glaube, gerade weil wir die einzige europäische Nation sind, die an dieser UN-Mission teilhat, ist es – das kann man so sagen – auch wirklich eine Ehre für Deutschland, dass wir hier in Gemeinschaft mit den anderen Nationen unseren Aufgaben nachkommen und Afrika zusammen mit der Afrikanischen Union helfen, wieder auf die Beine zu kommen. ({3}) Aus genau diesen Gründen unterstützt auch die Fraktion der Freien Demokraten den Einsatz. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Kulitz. – Nächste Rednerin: Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier heute über die Beteiligung der Bundeswehr am gemeinsamen Militäreinsatz der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union in Darfur, kurz UNAMID. Ich höre jetzt schon die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen sagen: Ja, das ist nur ein kleiner Einsatz. Die Bundeswehr entsendet im Augenblick gerade einmal drei Soldaten. Könnte Die Linke da nicht doch einmal zustimmen? – Nein. ({0}) Denn hier geht es um Grundsätzliches, nämlich um die Frage, wem diese Militäreinsätze eigentlich nutzen und was sie wirklich dazu beitragen, die Bevölkerung zu schützen. Aus unserer Sicht hatte UNAMID mindestens zwei Geburtsfehler: erstens die totale Überbewertung der Wirksamkeit von Militär und zweitens die Vernachlässigung des politischen Friedensprozesses. Die Bundesregierung gibt in ihrer Mandatsbegründung ja auch zu, dass man politisch nicht wirklich weitergekommen ist. Genau das hat Die Linke immer kritisiert. Für die Konflikte, die die Ursache der immer wieder aufflammenden Kämpfe sind, kann es nur politische Lösungen geben. ({1}) Das haben inzwischen ja auch die Vereinten Nationen eingesehen, und sie fahren den militärischen Anteil von UNAMID herunter. Dann passierte etwas ganz Seltsames. Siehe da, jetzt lese ich in der Mandatsbegründung der Bundesregierung: Die ... erhebliche Reduzierung der Truppenstärken ... haben nicht zu einer Verschlechterung der Sicherheits- und der Bedrohungslage geführt. Also muss man sich doch einmal die Frage stellen: Lag Die Linke mit ihrer Kritik an diesem Mandat eigentlich immer ganz falsch? ({2}) Wenn wir dann noch genauer in die Mandatsbegründung gucken, dann stellen wir fest, dass die Bundesregierung ihre Beteiligung an UNAMID ganz klar in ihre Abschattungspolitik gegen Flüchtlinge einordnet, und das ist wirklich ein unerhörter Skandal. ({3}) Warum? – Die Bundeswehr arbeitet im Rahmen der Europäischen Union zur Flüchtlingsabwehr mit dem Regime von Umar al-Baschir zusammen. Wir erinnern uns: Das ist der sudanesische Diktator, der vom Internationalen Strafgerichtshof wegen unglaublicher Verbrechen in Darfur mit Haftbefehl gesucht wird. Diesem mutmaßlichen Kriegsverbrecher werfen Sie Millionen von Euro in den Rachen, etwa um das sogenannte Grenzmanagement zu verbessern. Dabei ist Ihnen doch bekannt, Herr Annen, dass die Grenzen des Sudans von bewaffneten Truppen des Geheimdienstes NISS bewacht werden. Und von wem werden diese Truppen geführt? – Sie werden von Generälen geführt, die früher in den berüchtigten Dschandschawid-Milizen gedient haben, und genau diese Milizen haben im Auftrag des sudanesischen Regimes die furchtbaren Massaker in Darfur angerichtet. Wie will die Bundesregierung eigentlich sicherstellen, dass am Ende nicht diese Truppen von der deutschen Trainings- und Ausbildungshilfe profitieren? ({4}) Die ganze EU-Politik zur Einbindung der Staaten Ost- und Nordafrikas in die europäische Abschottungspolitik hat den Namen „Khartum-Prozess“, benannt nach der Hauptstadt des Sudans. Was für ein treffender Name; denn was Sie in Wirklichkeit tun, ist, mutmaßliche Kriegsverbrecher und Folterdiktatoren aufzurüsten, damit weniger Flüchtlinge in Europa ankommen. Der Sudan ist das Hauptdurchgangsland für Flüchtlinge aus Eritrea. 99 Prozent aller Flüchtlinge aus Eritrea, deren Asylantrag hier bei uns inhaltlich geprüft wird, erhalten Asyl in Deutschland. Das ist kein Wunder; denn das eritreische Regime hat sich die Bezeichnung als „Nordkorea Afrikas“ redlich verdient. Glaubt hier im Haus eigentlich irgendjemand, dass die Zusammenarbeit mit dem Sudan auf diesem Feld dazu führt, dass diese Menschen, die vor Folter und jahrelanger Zwangsarbeit fliehen, ein menschenwürdiges Leben führen können? – Nein, das kann nicht Ihr Ernst sein. ({5}) Ich sage Ihnen: Beenden Sie die Zusammenarbeit mit der sudanesischen und der eritreischen Regierung im Bereich der Flüchtlingsabwehr! Setzen Sie sich für politische Friedenslösungen ein, und holen Sie bei der Gelegenheit auch die letzten drei Bundeswehrsoldaten aus Darfur zurück! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächster Redner: Dr. Frithjof Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss ein realistisches Bild der Lage zeichnen. Leider muss man sagen: In den letzten zehn Jahren hat sich die Lage der Menschen in Darfur nicht grundlegend geändert und verbessert. Es gibt nur sehr wenige Fortschritte. Das sollte man nicht wegreden, gerade wenn man sich überlegt: Was muss man tun? Wir haben den Hybrideinsatz von UNO und Afrikanischer Union immer unterstützt, weil er eine Nothilfe für Menschen ist, die vertrieben werden, die massakriert werden, die terrorisiert werden. Diese Hilfe ist absolut notwendig und richtig. Aber das ist kein Grund, die Lage zu beschönigen. ({0}) Es gibt dafür natürlich mehrere Ursachen. Man muss über die Hauptursache klar reden. Das, finde ich, ist auch wichtig für die Bundesregierung. Die Zentralregierung unter Diktator Baschir fördert seit 15 Jahren Terror und Chaos in der Region, unter anderem um Autonomiebestrebungen zu unterdrücken. Dieser Mann wird deswegen als Staatschef – als einer der wenigen Staatschefs – mit internationalem Haftbefehl durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht. Ich sage: Deshalb ist es ein politischer Fehler, wenn die Europäische Union und Deutschland in Fragen von Flucht und Migration mit seinem Regime wieder verstärkt zusammenarbeiten. Das muss aufhören, wenn wir politisch glaubwürdig bleiben wollen. ({1}) Gerade auch infolge der Politik Baschirs terrorisieren bewaffnete Banden und verfeindete Milizen die Bevölkerung. Die Versuche der UN und der AU-Truppen, sie zu entwaffnen, kommen nur langsam voran. Die örtlichen Warlords wechseln nach wie vor ihre Allianzen, teilweise im Monatsrhythmus. Die Milizen operieren oft grenzüberschreitend aus dem Süden Libyens, aus dem Tschad und zunehmend wie die JEM auch aus dem Südsudan. Das hat nicht aufgehört. Hier drohen zwei regionale Krisen zu einem Flächenbrand zu verschmelzen. Wir brauchen dringend mehr internationale Aufmerksamkeit für diesen gefährlichen Prozess; das hat Staatsminister Annen ganz richtig angesprochen. Über den separaten UNMISS-Einsatz im Südsudan haben wir heute Morgen schon gesprochen. Herr Staatsminister Annen, ich möchte Sie und natürlich auch den neuen Außenminister Maas auffordern, gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit dieser gefährlichen Entwicklung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Das gehört ins Zentrum gemeinsamer europäischer Außenpolitik. Ich bitte Sie, in der Europäischen Union da wirklich Akzente zu setzen. ({2}) Die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union haben auch deshalb zu Recht das bisherige Mandat für den Einsatz in Darfur überprüft und verändert. Sie haben im strategischen Review-Prozess eine Reduzierung und Neuausrichtung beschlossen. Kurz gesagt: Es wird eine starke mobile Eingreiftruppe gebildet, die schnell eingesetzt werden kann: in Kampfgebieten zum Schutz der Bevölkerung oder zum Schutz von Nothilfelieferungen, aber auch zur Minenräumung. Gleichzeitig wird die UN-Präsenz in einer begrenzten Zahl von zentralen Flüchtlingslagern verstärkt, um wenigstens dort eine stabile Sicherheitslage zu gewährleisten. Dafür wird dann leider die Präsenz in der Fläche dieses großen Landes reduziert. Das ist eine fatale Konsequenz aus der jahrelangen Unterfinanzierung der Mission, die fortbesteht. Staatsminister Annen, das ist kein Resultat eines besonders erfolgreichen Agierens. Das ist wirklich eine falsche Reaktion. ({3}) Die Zahl der UN-Soldaten muss nämlich um über 20 Prozent verringert werden. Die Kollegen von der Linkspartei sollten sich einmal genau angucken, was das in der Fläche für die Menschen dort bedeutet. Zu glauben, das wäre eine Verbesserung und man hätte das doch insgesamt schon machen können, ist wirklich eine falsche Einschätzung. ({4}) Wir unterstützen die konkreten Schritte, all die Fehler, die bisher gemacht wurden, durch die Neuausrichtung des Mandates zu korrigieren. Aber die Vereinten Nationen brauchen mehr Unterstützung und mehr Ressourcen, wenn sie dort nachhaltig besser helfen sollen. Auch Deutschland muss dazu beitragen. Dafür setzen wir uns ein. Meine Fraktion wird deshalb dieses Mandat weiter unterstützen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frithjof Schmidt. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Dr. Frank Steffel. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag diskutiert unmittelbar nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung über zahlreiche Auslandseinsätze: Irak, Afghanistan, Sudan, Darfur, morgen noch der Einsatz im Mittelmeer. Ich finde es gut, dass wir über jeden dieser Einsätze diskutieren und dass die Bundesregierung sehr prominent und sehr aktiv an der Debatte teilnimmt. Denn jeder einzelne dieser Einsätze ist bei den Menschen in Deutschland sehr umstritten. Viele verstehen nicht, warum wir das machen. Viele verstehen die Strategie nicht. Zahlreiche Menschen haben das Gefühl, dass das nie endet. Insofern ist es richtig, dass wir uns die Zeit nehmen, auch um diesen kleinen Einsatz – wir haben ja heute mehr Redner in der Debatte als Soldaten in Darfur – miteinander zu ringen und darüber zu streiten, was der richtige Weg in dieser zugegebenermaßen außerordentlich schwierigen Region der Welt ist. Mit dieser Debatte kommen wir übrigens – auch das will ich am Beginn bewusst sagen – unserem Auftrag nach, über jeden Einsatz, so schwierig jede einzelne Entscheidung auch ist, zu entscheiden; denn die Bundeswehr – das ist gut für Deutschland – ist eine Parlamentsarmee. Insofern entscheidet die Regierung nicht nur, sondern sie muss auch ihre Anträge hier begründen. Dann entscheiden wir, das Parlament, frei gewählt und unseren Wählerinnen und Wählern verpflichtet, über diese Auslandseinsätze. Wie ich aus zahlreichen Gesprächen mit vielen Kollegen weiß, tut jeder Einzelne sich schwer und entscheidet dann mit großer Verantwortung über diese Dinge. Über das Thema UNAMID ist viel gesagt worden. Das meiste davon war richtig. Der Einsatz ist außergewöhnlich schwierig. Er ist in vielen Bereichen desillusionierend und enttäuschend. Das Ganze verläuft nicht so, wie wir es uns wünschen würden. Wir stellen fest, dass Terrorismus, Vergewaltigung und Entführung, aber auch Hungersnot, organisierte Kriminalität und der Tod sehr vieler Menschen unverändert zu diesem Einsatz und zu dieser Region dazugehören. Einen Ausweg zu finden und die Frage zu beantworten, wie wir dies mittelfristig endgültig abstellen können, ist außergewöhnlich schwierig. Das haben auch die Beiträge von Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion, die von denen der anderen Fraktionen abweichen, gezeigt. Wir haben hier eine Handvoll Soldaten im Einsatz. Deshalb ist die Symbolik der deutschen Beteiligung wahrscheinlich ungleich wichtiger als die Frage, was unsere drei, vier Soldaten dort vor Ort unmittelbar leisten können. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir für den KFOR-Einsatz 3,4 Milliarden Euro deutsches Steuergeld verwendet, weil wir der Auffassung waren, dass das im deutschen und internationalen Interesse die richtige Entscheidung ist. Im Fall von Darfur setzen wir 3,3 Millionen Euro ein. Hier handelt es sich um eine ungleich geringere Beteiligung finanzieller Art. Es ist aber eine Beteiligung symbolischer Art. Denn natürlich wird zur Kenntnis genommen, dass Deutschland das einzige europäische Land ist, das sich an diesem Friedensmandat mit eigenen Soldatinnen und Soldaten beteiligt. Insofern ist dies ein wichtiges Zeichen an die Vereinten Nationen – wir haben diesbezüglich ja auch deutsche Interessen; denken Sie nur den Sitz im Sicherheitsrat – und natürlich an die Afrikanische Union. Da war übrigens Ihre Kritik durchaus richtig, Frau Vogler. Wir müssen noch stärker, als wir es bisher getan haben, im politischen Raum, aber auch bei der Bevölkerung dafür werben, dass wir uns in Afrika stark engagieren – übrigens nicht nur im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland, was ja noch schnell akzeptiert wird, sondern insbesondere auch unter humanitären Gesichtspunkten und natürlich bezüglich der Frage: Wie können wir die Attraktivität der afrikanischen Länder so steigern, dass möglichst viele Menschen sich in ihrer Heimat dauerhaft wohlfühlen? ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen aus Überzeugung Ja zu diesem Einsatz, auch wenn es nur ein kleiner Einsatz ist. Wir wollen ausdrücklich auch an unsere Soldaten denken, die weit entfernt von ihren Familien ihren Dienst für den Frieden dieser Welt verrichten. Wir empfinden nicht nur Dank, sondern auch Respekt vor jedem Soldaten, der diese Entscheidung für sich und seine Familie trifft. Insofern treffen wir mit der Fortsetzung dieses Mandats nicht nur eine Entscheidung für die Menschen in Darfur, sondern auch eine Entscheidung über unsere Soldaten. Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Wir unterstützen aber die Position der Bundesregierung und werden diesem Antrag daher zustimmen. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Frank Steffel. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ein wichtiges Element unseres Engagements in vielen Teilen Afrikas beteiligt sich Deutschland als einziges Land der Europäischen Union an dieser Hybridmission in Darfur. Warum das Ganze? Worin liegt es begründet, dass wir uns dort engagieren? Neben der Tatsache, dass es ein wichtiges Signal für unser gesamtes Engagement in anderen Teilen Afrikas ist, geht es uns auch insbesondere darum, einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu leisten. Die westsudanesische Provinz Darfur hat mehrere Millionen Menschen aufgenommen – die Zahl wurde vorhin schon genannt –, die dort als Binnenflüchtlinge unter erbärmlichen humanitären Bedingungen leben müssen. Daher ist es richtig, dass der Schwerpunkt unseres Engagements dort insbesondere der Zugang zur humanitären Hilfe ist. Dies ist eine richtige, wichtige und sehr sinnvolle, wenngleich auch sehr herausfordernde Aufgabe, die unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten dort leisten, und dafür gilt ihnen unser ganz besonderer und ausdrücklicher Dank. ({0}) Sinn macht unser Engagement dort auch deshalb, weil sich in den angrenzenden Regionen innerhalb wie außerhalb des Sudans bewaffnete Konflikte halten. Diese führen zu den Migrationsbewegungen über staatliche Grenzen hinweg. Da ist es folgerichtig, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei seinem Engagement seinen Fokus auf Maßnahmen im Bereich von Flucht und Migration legt. Das Ziel dabei ist, die Not der Menschen vor Ort zu lindern, damit diese erst gar nicht in die Notlage kommen, sich auf den Weg zu uns nach Europa machen zu müssen. Es ist auch interessant, sich noch einmal die Haupt­ursache für viele der Konflikte im Sudan und in Darfur anzusehen. Dabei geht es häufig um Verteilungskämpfe um natürliche Ressourcen und auch um Kämpfe um die Verteilung von Land. Weil diese Konflikte oftmals sehr kleinteilig sind und zwischen Stämmen und Dörfern ausgetragen werden, ist es schwierig, schnell und effizient zu reagieren und sie dauerhaft einzudämmen, um die Lage zu stabilisieren. Dabei lohnt sich auch ein Blick auf die innenpolitische Lage insgesamt im Sudan. Noch in meiner letzten Rede in der Debatte um das Mandat im Dezember 2017 – das ist also erst wenige Monate her – hatte ich meiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass mit der teilweisen und dann auch permanenten Rücknahme von Wirtschaftssanktionen durch die USA eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage einhergehen würde. Heute wissen wir: Diese Hoffnungen sind enttäuscht worden. Die Preise für viele Güter des täglichen Bedarfs sind teilweise um die Hälfte gestiegen. Der Brotpreis hat sich im Januar verdoppelt, und der Preis für Industriestrom hat sich sogar verzehnfacht. Wir müssen feststellen: Die Wirtschaftskrise hat sich sogar noch verschärft. Das bleibt selbstverständlich nicht ohne Folgen in der Bevölkerung. Die Unzufriedenheit dort wächst und bricht sich in Protesten und Demonstrationen Bahn. Darauf weiß das Regime sich nicht anders zu helfen, als mit massivem Polizeieinsatz zu reagieren. Viele Hundert Menschenrechtsaktivisten sind festgenommen worden und sitzen zum Teil bis heute ohne Anklage in Haft. Dem gilt mein Appell, diese Menschen freizulassen. ({1}) Anmahnen möchte ich darüber hinaus an dieser Stelle, dass der Prozess der Verfassungsreform, der so wichtig für die weitere Entwicklung des Landes ist, jetzt rasch gestartet wird. Ebenfalls in diesem Zusammenhang erwähne ich, dass die Regierung immer wieder Abzugsforderungen stellt. Das ist verfrüht und damit letztlich falsch. Erst müssen die von den Vereinten Nationen aufgestellten Benchmarks erfüllt sein. Dazu gehört insbesondere ein Ende der Gewalt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Beyer, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, Deutschlands Engagement in Darfur genießt großes Vertrauen. Wir leisten dort einen guten und wichtigen Beitrag zur Stabilisierung und Lösung der vielen, oft kleinparzelligen Konflikte. Auch unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten werden dort weiter gebraucht. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Mit den letzten Worten des Kollegen Beyer schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist erkennbar der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Haus! Exzellenz! Wir sehen mit Sorge, dass die Türkei mit der Fortsetzung ihrer Offensive gegen die Stadt Afrin und deren Umgebung weit über das vertretbare Maß einer legitimen Selbstverteidigung hinausgeht. Wenn denn die Informationen stimmen, dass es Angriffe von kurdischer Seite auf türkisches Staatsgebiet gab, dann handelt es sich zuerst einmal um einen Akt der legitimen Selbstverteidigung. Allerdings geht das, was danach kam, nämlich ein massives militärisches Vorgehen auf syrischem Gebiet, weit über das vertretbare Maß hinaus. Hierdurch werden außerdem die Bemühungen des UN-Sicherheitsrates torpediert, der durch eine Waffenruhe das Leiden der betroffenen Zivilbevölkerung lindern möchte. Die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland bewertet daher das türkische Vorgehen als völkerrechtswidrig und verurteilt es entschieden. ({0}) Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, sich dieser Bewertung anzuschließen und auf eine entsprechende Stellungnahme der Europäischen Union zu drängen. Da können wir unser politisches Gewicht bei den europäischen Partnern wieder einmal zum Tragen bringen und deren Bewertung einfordern. ({1}) Staatsminister Annen hat vorhin gesagt, dass wir in Zeiten leben, wo Vergehen gegen das Völkerrecht auch nach einem längeren Zeitraum noch geahndet werden kann. Ich bin gespannt, wie das Auswärtige Amt reagiert, wenn es darum geht, den türkischen Staatspräsidenten für solche Aktivitäten in Haftung zu nehmen. Wir erkennen ausdrücklich das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen an. Es wird auch anerkannt, dass die Türkei vom Boden der durch die syrischen Kurden besetzten Gebiete aus angegriffen worden ist und somit die Bedingungen des Artikel 51 erfüllt sind, jedenfalls formal. Der türkische Beschuss der Stadt Afrin richtet sich allerdings nicht gegen identifizierte militärische Ziele, sondern gegen die Zivilbevölkerung. Es wird wahllos in die Stadt hineingeschossen. Unschuldige Zivilisten sind die Opfer. Das sollte dieses Hohe Haus verurteilen. ({2}) Ein solcher Einsatz ist unverhältnismäßig und untragbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Türkei mit der Fortsetzung ihrer Angriffe die UNO-Resolution für eine Waffenruhe ignoriert und somit die Anstrengungen der Vereinten Nationen behindert. ({3}) Auch das sollten wir nicht hinnehmen. Durch die mittlerweile dokumentierte Beteiligung regulärer syrischer Truppen aufseiten der Kurden steht außerdem zu befürchten, dass durch die Türkei ein bewaffneter Konflikt mit Syrien an sich und den das syrische Regime tragenden Mächten verursacht wird. Wenn Sie mitbekommen haben, dass dort ganz schnell neue Allianzen geschmiedet wurden und dass man sich angesichts der türkischen Bedrohung plötzlich gemeinsam als Syrer verstand, dann wissen Sie, welcher Sprengstoff in einer solchen Allianzverschiebung steckt und wie schnell ein solcher Konflikt eskalieren kann. Es darf doch nicht im deutschen Interesse liegen, solche Aktivitäten der Türken zu ignorieren, hinzunehmen und zu akzeptieren. ({4}) Nein, da muss man den türkischen Freunden sehr schnell sagen, dass hier die Marke weit überschritten ist. Sonst gefährdet das den gesamten Raum, über den wir hier reden, und es kann viel größere Auswirkungen haben. Dagegen sollten wir uns verwahren. ({5}) Es besteht also das Risiko einer unabsehbaren militärischen Eskalation weit über die Region Afrin hinaus. Aufgrund unserer Gespräche mit dem ägyptischen Botschafter, der übrigens unsere Haltung teilt, bemerken wir, dass die Signale in den Nachbarländern viel eher aufgenommen wurden als bei uns. Da erkennt man die Dringlichkeit der Situation. Man sieht Handlungsbedarf und fordert von uns entsprechende Aktivitäten ein. Es ist interessant, dass wir uns durch Zahlungen an die Türkei für das Zurückhalten von Flüchtlingen in eine Abhängigkeit begeben haben, sodass wir eben nicht so frei agieren können, wie wir agieren wollen. Ich bin der Meinung, dass wir auch da schleunigst für klare Verhältnisse sorgen. Eine Abhängigkeit von der Türkei wäre in diesem Falle und vor dem Hintergrund eines solchen Konfliktes noch viel gefährlicher. Wir sollten uns dem entgegenstellen. Ich danke Ihnen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hampel. Auch Sie haben die Redezeit eingehalten. Es ist ja jetzt üblich, zu loben, wenn jemand die Redezeit einhält. – Als Nächstes spricht für die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 20. Januar 2018 begann die Invasion der Türkei in die Region um die Stadt Afrin in Syrien. Seit wir dies erleben, haben wir hier im Deutschen Bundestag eine Aktuelle Stunde und eine Vereinbarte Debatte dazu durchgeführt. Auch sonst haben wir über den Nahen Osten, über Syrien und im Speziellen über Afrin gesprochen. Ich will darauf hinweisen, dass alle unsere Redner klargestellt haben, dass das Vorgehen der Türkei nicht angemessen, nicht verhältnismäßig und deshalb auch ein Völkerrechtsbruch ist. ({0}) Es ist in der Tat so, dass es richtig ist, über Afrin zu sprechen; schließlich sagt die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, dass dort etwa 300 000 Menschen eingeschlossen sind. Der türkische Staatspräsident Erdogan sagt, dass dies eine saubere militärische Aktion sei. ({1}) Aber das stimmt nicht: Das, was Augenzeugen sagen, das, was Hilfsorganisationen sagen, ist, dass es tote Kinder und tote Zivilisten gibt, dass die Infrastruktur zerstört ist. Mehr als 30 Schulen und anderes mehr seien bombardiert worden. Deshalb ist vollkommen klar: Es ist ein Völkerrechtsbruch. Daran gibt es kein Vertun, und das müssen wir auch den Türken in aller Klarheit und Deutlichkeit sagen. ({2}) Es ist nicht so – das weiß jeder hier –, dass man in Syrien Gut und Böse leicht trennen könnte. Natürlich stimmt es, dass die YPG auch mit der PKK zusammenarbeitet, dass man sich abspricht, dass Waffen ausgetauscht werden, dass es in Afrin und in benachbarten Kantonen, die von den Kurden bewohnt sind, oder dass es auch im Kandil-Gebirge im Nordirak PKK-Lager gibt, von wo aus Anschläge in der Türkei verübt werden. Ja, das ist alles richtig. Aber mit der Formel „Krieg gegen Terror“ kann man nicht alles rechtfertigen. ({3}) Insoweit gehen wir mit dem, was in den vier Anträgen steht, durchaus einig. ({4}) Warum ist den Anträgen dann trotzdem nicht zu folgen? ({5}) – Ja, das sage ich Ihnen gerne. Erstens, weil Sie die Gesamtzusammenhänge im Nahen Osten und in Syrien insgesamt nicht sehen. ({6}) – Ja, ich will Ihnen das gerne erläutern. – Sie müssen einfach einmal sehen, was dort los ist. ({7}) – Jetzt hören Sie mir lieber einmal zu; sonst bestehe ich darauf, dass die Redezeit angehalten wird. Passen Sie auf! Es ist tatsächlich so, dass wir ab dem Herbst 2014 einen einheitlichen Feind dort hatten, nämlich den IS. Das hat alle Kräfte zusammengeschweißt. Seit dieser Feind militärisch besiegt ist, sehen wir, dass es dort viele versteckte eigene nationale Agenden gibt, dass es tatsächlich so ist, dass der IS häufig Platzhalter für eigene Interessen war. Das bricht jetzt alles auf. Deswegen ist es ganz entscheidend, was man in einer solchen Situation erreichen kann. Sie müssen sehen, dass die Kurden etwa 40 Prozent des Landes dort halten. Sie müssen die Rolle Russlands und Irans betrachten. Das müssen Sie in eine Gesamtbewertung mit einbeziehen; sonst kommen Sie nicht zu vernünftigen Ergebnissen. ({8}) Zweitens. Man braucht eine Lösung für die Zukunft. Es nützt doch nichts, jetzt laut zu schreien, ohne irgendetwas erreichen zu können. Was haben wir beispielsweise erreicht? Die Bundesregierung hat die von der Türkei gewünschte Aufrüstung ihrer Panzer gestoppt. ({9}) Wir haben daran gearbeitet, eine einheitliche Haltung Europas zustande zu bringen. Das Ganze ist bei der UN thematisiert worden, und Deutschland hat dieses Thema zweimal in einen informellen NATO-Rat gebracht. Das können Sie doch nicht übersehen. Sie fordern, dass es in einen formellen NATO-Rat geht. Dabei müssten Sie eigentlich wissen, dass das nur einstimmig funktioniert. Deshalb ist das, was Sie in Ihren Anträgen fordern, Wolkenschieberei. Das hat nichts mit der Realität zu tun. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns fragen: Was kann man in einer solchen Situation tun? Es ist richtig, im NATO-Rat darüber zu sprechen. Das, was die Türkei tut, hat nichts mit dem Werteverständnis zu tun, das unserer Ansicht nach die NATO eint. Es ist außerdem klar, dass die konkrete Gefahr besteht, dass dort die NATO-Partnerländer Türkei und USA aufeinandertreffen und ein größerer Schaden entstehen kann. Da brauchen wir eine Lösung. Gerade vor dem Hintergrund, dass Präsident Erdogan vor vier oder fünf Tagen angekündigt hat, dass er einen durchgängigen Sicherheitspuffer an der südlichen türkischen Grenze von Afrin in den Nordosten ziehen möchte, muss klar sein: Wir brauchen jetzt Lösungen, die greifen. Deshalb müssen wir die Türkei daran erinnern, dass der Waffenstillstand der UN, die Resolution 2401, auch für sie gilt. Wir müssen aber auch überlegen, welche Lehren wir daraus ziehen können. Das bedeutet, dass unter Wahrung der Sicherheits- und Souveränitätsinteressen der Türkei auch der Friedensprozess zwischen Türken und Kurden in der Türkei wieder aufgenommen werden muss. Das ist die Grundvoraussetzung für eine politische Lösung. ({11}) Was Syrien betrifft, ist, glaube ich, klar – das ist mein letzter Satz, Herr Präsident –, dass es nicht ausreicht, Lippenbekenntnisse zu liefern. ({12}) Am Ende des Tages kommt es auf nachvollziehbares Handeln an. Das werden wir am besten in einem europäischen Kontext schaffen. Damit sind Sie doch sicherlich einverstanden. Herzlichen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Frei, Sie können auch gerne noch weiterreden. Die Redezeit, die Sie zusätzlich brauchen, wird von der Redezeit des nächsten Redners Ihrer Fraktion abgezogen. Das ist hier so üblich. ({0}) – Das hat mit unfair nichts zu tun. ({1}) So sind hier die Regeln. Sie können alles Mögliche fordern, aber der Herr über die Uhr hier bin ich. Meine Bitte an Sie vor über einer Minute, zu Ende zu kommen, haben Sie ignoriert. Insofern hat die CDU/CSU-Fraktion beim nächsten Redner eine Minute weniger. ({2}) Als Nächstes rufe ich den Kollegen Dr. Nils Schmid für die SPD-Fraktion auf. ({3})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einmarsch bzw. die Militäroperation der Türkei im Norden Syriens rund um Afrin ist völkerrechtswidrig. ({0}) Dies festzustellen, ist keine Neuigkeit. Die Redner der SPD in der Debatte am 1. Februar dieses Jahres haben genau dasselbe gesagt. Inzwischen liegt eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vor, die die Frage der Völkerrechtswidrigkeit beleuchtet. Wir hatten eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, wo die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, Rede und Antwort gestanden hat. Wie auch immer man das Gutachten und die Aussagen des Auswärtigen Amtes im Ausschuss bewerten mag, zwei Sachen sind völlig klar: Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen setzt einen Angriff voraus. Die vorliegenden Informationen lassen daran zweifeln, auch wenn türkische Vertreter darauf hinweisen, dass terroristische Operationen aus dem Norden Syriens unterstützt worden seien. Wir haben von der deutschen Regierung bisher noch keine überzeugenden Darlegungen zu diesem Thema bekommen, die einen Angriff bestätigen. Spätestens bei der Frage der Verhältnismäßigkeit wurde mit der Einkesselung von Afrin eine Schwelle überschritten. ({1}) Spätestens damit – ich betone: spätestens – ist die Verhältnismäßigkeit dieser Operation nicht mehr gewahrt. Obwohl sie bei den Vereinten Nationen formell korrekt angemeldet worden ist, halten wir diese Operation für völkerrechtswidrig. Es ist gut – Kollege Frei hat darauf hingewiesen –, dass die Bundesregierung diese Kritik und diese Vorhaltungen zum Beispiel bei der NATO vorgetragen hat. Ich erwarte, dass die Bundesregierung, wenn die Operation weitergehen sollte, weiterhin klare Worte zu dieser Frage findet. ({2}) – Ich bin nicht die Regierung; das wissen Sie. ({3}) Die Haltung der SPD-Fraktion ist völlig klar. ({4}) Genauso klar ist allerdings auch, dass der politische Konflikt, die Frage, welche Rolle die Kurden, die kurdisch besiedelten Gebiete in Zukunft spielen werden, nur gelöst werden kann, wenn ein politischer Prozess eine Pluralität, eine Beteiligung der kurdischen Bevölkerungsanteile in der Türkei, in Syrien, im Irak an dem gesamtstaatlichen politischen Prozess, ermöglicht. Das ist das Entscheidende. Wir werden – auch das war immer klare Haltung Deutschlands und der Bundesregierung – nicht akzeptieren, dass bestehende Staaten mit kurdischen Bevölkerungsanteilen auseinanderfallen, sondern wir erwarten, dass der Irak, Syrien, die Türkei alle Bevölkerungsteile politisch integrieren. Deshalb unterstützen wir mit der heute Vormittag diskutierten Mission im Irak gerade auch die gesamtstaatlichen Institutionen und Sicherheitsbehörden des Irak. Deshalb drängen wir darauf, dass in der Türkei der politische Prozess wieder aufgenommen wird, der den Rechten der Kurden, überhaupt allen demokratischen Rechten voll zum Durchbruch verhilft. Es ist fatal, dass dieser Prozess abgebrochen worden ist. Ich sage auch ganz deutlich: Solange Parlamentarier, ins türkische Parlament gewählte Abgeordnete der HDP, aber auch anderer Parteien, daran gehindert werden, ihr Mandat wahrzunehmen, und mit politisch motivierten Prozessen überzogen werden, ist ein politischer Prozess in der Türkei schwierig. Deshalb ist es sehr gut, dass zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter dieses Hauses Patenschaften für inhaftierte Abgeordnete in der Türkei übernommen haben. Wir fordern die Türkei auf, diesen politischen Prozess wieder in Gang zu setzen. ({5}) Wir verschließen die Augen aber auch nicht vor der insgesamt dramatischen Lage in Syrien; denn neben den Operationen und den schweren Verlusten unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Operation der Türkei im Norden Syriens haben wir eine Katastrophe vor den Toren von Damaskus. Bundesaußenminister Maas hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lage in Ost-Ghuta von unglaublicher Brutalität gekennzeichnet ist. Wenn wir über die Lage in Syrien, über Menschenrechtsverletzungen, über den Schutz der Zivilbevölkerung in Syrien reden, dann müssen wir auch dieses ansprechen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es reicht nicht aus, nach Nordsyrien zu schauen. Auch dort ist die internationale Gemeinschaft gefordert. Ich sage Ihnen mal eines: Die abstoßenden Bilder, die von AfD-Abgeordneten auf Touri-Trips durch einen Souk von Damaskus und mit Blick auf die Hotels gepostet worden sind, ({6}) sind das Letzte, was zu einer friedlichen Lösung in Syrien beiträgt. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Schmid, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Linksfraktion?

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Von Herrn Neu aus der Linksfraktion.

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach so, von links. Okay. Bitte.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Schmid, wir nehmen mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis, dass offensichtlich die SPD-Fraktion und auch die CDU/CSU-Fraktion – neben den anderen Fraktionen in diesem Hause – die Attacke auf Afrin durch die türkischen Streitkräfte als einen Völkerrechtsbruch definieren. Nun sind Sie, die SPD und die CDU/CSU, die die Regierung tragenden Fraktionen. Wie kommt es, dass Sie zu diesem Ergebnis kommen, während Ihre Regierung seit Wochen nicht in der Lage ist, ein solches Ergebnis zu erzeugen? ({0}) Gibt es da Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Fraktionen und der Regierung, oder ist die Regierung personell noch nicht so ausgestattet, dass sie solche Analysen erarbeiten könnte? Vielleicht können Sie mir da weiterhelfen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erst einmal bin ich froh, dass die Regierung einen eigenen Kopf hat. Deshalb müssen Sie die Regierung fragen, wie sie das einschätzt. ({0}) – Ich bin nicht die Regierung, sondern die Regierungsfraktion. Die Haltung der SPD ist glasklar, und sie wurde schon vor Wochen, am 1. Februar, genau so formuliert, wie ich es wiederholt habe. Aber ich will noch auf eines hinweisen – das ist nämlich der blinde Fleck von Ihnen auf der linken und von Ihnen auf der rechten Seite des Hauses –, und das ist Russlands Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in Syrien. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was in Ost-Ghuta geschieht, ist der Bruch humanitären Völkerrechts. Es ist der Bruch von Kriegsvölkerrecht. Es ist eine massive Verletzung des humanitären Völkerrechts. Wer hat die Verantwortung dafür? ({2}) Es ist Russland. Russland hat die Lufthoheit über diesem Gebiet. Deshalb ist schon die Frage, was Russland zu tun gedenkt, um diesem Bruch des Völkerrechts abzuhelfen. Welche Maßnahmen hat Russland ergriffen, um den Schutz der Zivilbevölkerung in diesen Konfliktgebieten, in denen es die Lufthoheit hat und damit die ordnende Militärmacht ist, zu gewährleisten? Auch diese Frage müssen wir diplomatisch und politisch auf allen Kanälen beleuchten; denn wenn es wirklich um die Menschen in Syrien geht, dann geht es um alle, nicht nur um die in Nordsyrien. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schmid. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Ulrich Lechte für die Freien Demokraten. ({0}) Ich weise darauf hin: Es ist seine erste Parlamentsrede überhaupt.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Auch ich möchte gleich zu Beginn auf den Punkt eingehen, über den gerade hier im Haus diskutiert wurde. Wir sind uns alle einig: Das Vorgehen der Türken in Nordsyrien ist völkerrechtswidrig. ({0}) Das gesamte Haus teilt diese Auffassung, zumindest nach den Aussagen der Kollegen Schmid und Frei sowie der Aussagen vonseiten der AfD, der Linken und der Grünen. Die Fraktion der FDP teilt diese Auffassung auch. Damit geben 100 Prozent der Mitglieder des Bundestages der Regierung den Auftrag, über das völkerrechtswidrige Vorgehen der Türkei in Nordsyrien nachzudenken. ({1}) Die militärische Offensive der Türkei in Nordsyrien läuft seit dem 20. Januar unter dem euphemistischen Namen „Olivenzweig“. Bei diesem Namen denkt man an Frieden. Doch statt für Frieden zu sorgen, heizt die Offensive den Konflikt in Syrien weiter an. Beim Vorrücken der türkischen Truppen wurden bereits mehrere Hundert Menschen in der Zivilbevölkerung getötet. Jetzt wird die Großstadt Afrin belagert, und für die 300 000 Einwohner wird die humanitäre Lage immer bedrohlicher. Die Wasser- und Stromversorgung wurde zerstört, und die Nahrungsmittelvorräte sind de facto aufgebraucht; in einigen Teilen der Stadt kursieren bereits Hunger und Not. Die türkische Offensive führt zu weiteren Binnenflüchtlingen in Syrien und destabilisiert das Land auch jenseits des Kampfgebietes. Paradoxerweise führt die Offensive zu einer Schwächung des Kampfes gegen den IS. Denn Kurdenmilizen, die bisher mit uns gegen den IS gekämpft haben, verteidigen stattdessen jetzt das Gebiet gegen die Türken. Mit dem Verhalten eines verantwortungsbewussten NATO-Partners hat dies meines Erachtens erkennbar wenig zu tun. ({2}) Die Türkei hat die UNO und die NATO lediglich über ihre Offensive informiert, statt sich mit ihren Partnern abzustimmen. Sie beruft sich dabei auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Aber sie liefert keine stichhaltigen Beweise für einen Angriff, der eine derartige Selbstverteidigung rechtfertigen würde. Eher kommt einem der Gedanke, dass Erdogan beginnt, seine Träume von einem neuen Osmanischen Reich in die Tat umzusetzen. ({3}) Fakt ist: Die türkische Militäroffensive ist völkerrechtswidrig, sie ist nicht abgestimmt mit den ­NATO-Partnern, sie heizt den Konflikt in Syrien weiter an, und sie stärkt dem teuflischen IS dabei den Rücken. ({4}) Daher fordert die FDP: Erstens: Stopp der Rüstungsexporte in die Türkei. ({5}) Die Entscheidung der geschäftsführenden Bundesregierung, die Rüstungsexporte auszusetzen, war völlig korrekt. Eine Anfrage des Kollegen Nouripour wiederum hat gezeigt, dass die Umsetzung ja wohl offensichtlich äußerst mangelhaft war. ({6}) Wir hoffen, dass die neue Regierung diesen Fehler nicht wiederholt und den Ankündigungen endlich Taten folgen lässt. Der Stopp der Rüstungsexporte muss konsequent umgesetzt werden. ({7}) Zweitens: Kritik innerhalb der NATO. Wir haben ja schon länger Probleme mit der Türkei innerhalb der NATO. Denken Sie nur an die türkische Blockade jeglicher Kooperation mit Österreich, weil die Österreicher, und zwar zu Recht, den Stopp der EU- Beitrittsverhandlungen gefordert haben. Die Kritik der Bundesregierung an der Türkei ist schlicht zu zurückhaltend – quasi zahn- und ergebnislos. Auch zur türkischen Offensive in Syrien hat man im NATO-Rat viel zu kleinlaut um Zurückhaltung und Verhältnismäßigkeit gebeten. Aber wir müssen den NATO-Rat ja gerade dazu nutzen, um gemeinsam mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern auf die Türkei einzuwirken. Dazu gehört deutliche Kritik an der türkischen Militäroffensive. ({8}) Drittens: Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen. Für einen Stopp gab es bereits viele Gründe, auch vor der Offensive in Syrien. Insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wandelt sich die Türkei schrittweise in einen autoritären Staat. Es gibt andauernd Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Es erfolgen willkürliche Verhaftungen von angeblichen Unterstützern des Putsches und angeblichen Unterstützern des Terrorismus. Zehntausende Menschen sind der Willkür von Präsident Erdogan und seiner Regierung ausgeliefert. Über 100 000 Staatsbedienstete wurden wegen hanebüchener Vorwürfe aus dem Dienst entlassen. Der Übergang von einer Demokratie zu einer Autokratie ist in vollem Gange. So jemand hat in der EU – so leid es mir tut – nichts verloren. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz, Herr Kollege.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nun mein letzter Satz. Das beinhaltet für die FDP – das ist etwas Neues, auch in diesem Hause –: keine Erweiterung der Zollunion und keine Visafreiheit. ({0}) Für uns sind gute wirtschaftliche Beziehungen nicht alles. Wir müssen die Freundschaft mit dem türkischen Volk von unserer Reaktion auf die Militäroffensive der türkischen Regierung trennen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Und nun ist wirklich Schluss.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir müssen Präsident Erdogan deutlich sagen, dass die Belastungsgrenze mehr als erreicht ist. Herzlichen Dank, Herr Präsident. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lechte, es war Ihre erste Rede. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Heike Hänsel. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während wir hier gerade debattieren, tötet die türkische Armee gemeinsam mit islamistischen Terrorbanden in Afrin Frauen, Kinder und alte Menschen. Ein Massaker ungeahnten Ausmaßes an Tausenden Zivilisten droht – an Kurden, an Christen, an Arabern und Jesiden. Und was macht die Bundesregierung – darum geht es ja, Herr Schmid und Herr Frei? Wir begrüßen es, dass alle Fraktionen diesen Krieg als völkerrechtswidrig verurteilen. Aber die Bundesregierung hat seit Wochen zu diesem Krieg geschwiegen. Ich erwarte von der SPD-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion, dass sie ihre Regierung auffordern, diesen Krieg endlich zu verurteilen; darum geht es doch. ({0}) Wollen Sie – kaum im Amt – diese schizophrene Politik weitermachen? Sie fühlen sich in der Opposition und lassen die Regierung gewähren? Da kann ich nur sagen: Gute Nacht, SPD. Von wegen Erneuerung – da kommt gar nichts. ({1}) Skandalös an der Haltung der Bundesregierung ist nicht nur, dass sie komplizenhaft schweigt, sondern auch, dass sie weiterhin Rüstungsgüter in die Türkei liefert. Das ist wirklich ein Verbrechen. Ich kann nur sagen: Wer wie die Bundesregierung weiterhin die Ausfuhr dieser Rüstungsgüter genehmigt, ist mitverantwortlich für die Verbrechen, die in Afrin passieren. ({2}) Ich fordere die Bundeskanzlerin Merkel und den neuen Außenminister Heiko Maas, der ja sofort die Kontinuität herstellt, auf: Beenden Sie Ihre Beihilfe zu diesem völkerrechtswidrigen Krieg und den Verbrechen der türkischen Armee in Afrin. ({3}) Beenden Sie diesen Wahnsinn von Rüstungsexporten an ein Regime, das mit islamistischen Mörderbanden ein Massaker in Syrien begeht. Und vor allem: Lügen Sie uns nicht weiter an, dass Sie alle Rüstungsexporte gestoppt hätten. ({4}) Heute Morgen habe ich die salbungsvollen Reden von Minister Maas und Ministerin von der Leyen zum angeblichen Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ gehört. Ich frage mich schon, ob das, was Sie hier erzählen, angesichts der Wirklichkeit noch an Peinlichkeit zu überbieten ist. ({5}) Fakt ist nämlich, dass der erklärte Kampf der Bundesregierung gegen den IS völlig unglaubwürdig ist, weil sie die Türkei nämlich weiter unterstützt, die gerade jetzt diejenigen bekämpft und tötet, die sich, wie die Kurden, seit Jahren dem IS entschieden entgegengestellt haben. Wer wirklich gegen diese islamistischen Gruppen und den „Islamischen Staat“ kämpfen will, der muss endlich Erdogan stoppen ({6}) und der darf die Bundeswehrsoldaten auch nicht weiterhin in der Türkei in Konya belassen. Wir haben das hier mehrfach gefordert; denn sie liefern ihre Aufklärungsdaten über die NATO-AWACS-Mission für die Angriffe auf Afrin. Deshalb muss die Bundeswehr endlich aus Konya abgezogen werden. ({7}) Es gäbe viele Möglichkeiten, was die Bundesregierung machen könnte: endgültiger Stopp aller Genehmigungen und Rüstungsexporte, Abzug der Bundeswehr und keine EU-Hilfsgelder mehr an dieses Erdogan-Regime. Auch das hat der Bundesrechnungshof angemahnt. ({8}) Es gibt keine Kontrolle der Verwendung dieser Gelder. Deswegen müssen die Beitrittsverhandlungen mit der EU endlich gestoppt werden. Kein Geld mehr für Erdogan, keine Waffen und keine Soldaten! Zum Schluss möchte ich noch sagen: Es ist völlig inakzeptabel, dass hier in Deutschland jetzt diejenigen, die gegen den Krieg auf die Straße gehen, kriminalisiert werden, dass Proteste verboten werden sollen und dass hier die Politik Erdogans auch noch vor Ort durchgesetzt wird. ({9}) Wir wollen keine türkischen Verhältnisse hier in Deutschland, und wir solidarisieren uns mit diesen Antikriegsprotesten, wie sie in vielen Städten stattfinden, heute zum Beispiel in Stuttgart und am Samstag in Hannover.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kommen Sie nach Hannover, gegen den Krieg in Afrin. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hänsel. – Als Nächstes hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Claudia Roth das Wort. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tagtäglich erreichen uns die allerschrecklichsten Bilder aus der Region Afrin. Wir sehen das Leid der Menschen, wir sehen Vertreibung, wir sehen Flucht und Tod. Wir müssen dabei zuschauen, wie eine ganze Region eingekesselt wird und wie Erdogan heute erklärt, dass diese Region dauerhaft besetzt bleiben soll. Wir sehen, wie überlebensnotwendige Infrastruktur gezielt zerstört wird, wie zivile Opfer von der türkischen Armee bewusst in Kauf genommen werden. Ich frage deshalb die Bundesregierung: Was muss eigentlich noch geschehen, bis auch Sie die militärische Aggression der Türkei als das anerkennen, was sie ist: völkerrechtswidrig? ({0}) Ja, wir erleben den Angriff eines NATO-Mitglieds ausgerechnet auf jene kurdischen Kräfte, die mit Unterstützung eines anderen NATO-Mitglieds ihr Leben im Kampf gegen Daesh aufs Spiel gesetzt haben. Ich frage deshalb die Bundesregierung erneut: Was muss eigentlich noch geschehen, bis Sie den Angriff auf Afrin auch innerhalb der NATO auf die Tagesordnung setzen, statt wie Jens Stoltenberg laut zu schweigen oder bestenfalls wachsweiche Worte zu finden? ({1}) Oder halten Sie das Vorgehen der Türkei etwa für vereinbar mit dem so häufig beschworenen Wertekanon der NATO? Herr Frei hat das abgelehnt. Ich teile seine Meinung. Ich will es aber endlich von der Bundesregierung wissen. ({2}) Das ist kein Vorgehen, das den Kampf gegen Daesh stärkt, sondern eines, das ihn konterkariert, und das muss doch Konsequenzen haben. Wie wollen Sie eigentlich sicherstellen, dass die Beteiligung der Bundeswehr am AWACS-Einsatz nicht dazu beiträgt, dass Luftaufnahmen nordsyrischer Gebiete in die Hände des Aggressors Erdogan fallen? Wir stellen diese Fragen nicht zum ersten Mal. Auf überzeugende Antworten warten wir bislang vergebens. ({3}) Gewissheit haben wir aber bei etwas ganz anderem: Wir müssen nicht nur einen türkischen Einmarsch in ein ohnehin vom Krieg zerrüttetes Land, das bislang über 350 000 Toten klagt, beobachten, sondern auch einen Angriff mit deutschen Leopard-2-Panzern. Ich frage deshalb die Bundesregierung ein letztes Mal: Was muss eigentlich noch geschehen, bis Sie Ankara endlich eine unmissverständliche Botschaft senden: „keine weiteren Rüstungsexporte, keine Aufrüstung der Leopard-2-Panzer, keine Beteiligung deutscher Rüstungskonsortien in der Türkei“? ({4}) Denn auch für NATO-Mitglieder – das sagen unsere Rüstungsexportrichtlinien – gibt es keinen rüstungspolitischen Blankoscheck und keinen menschenrechtspolitischen Rabatt. ({5}) Wenn ich das sage, dann ist das übrigens nicht anti­türkisch, überhaupt nicht, sondern dann ist das eine wertebasierte, prinzipientreue Außenpolitik, die deutlich macht: Die Türkei ist nicht Erdogan, und Erdogan ist nicht die Türkei. ({6}) Das ist eine Politik, die all diejenigen unterstützt, die sich mehr denn je für eine demokratische, für eine rechtsstaatliche, für eine proeuropäische Türkei einsetzen. ({7}) Es wäre das Ende eines Kotaus vor Präsident Erdogan, der die Repression im Innern ausweitet, der dort den Konflikt mit den Kurden schürt und diesen Konflikt jetzt auch nach Syrien exportiert und damit weiteres Öl in einen regionalen Flächenbrand gießt. Vor allem wäre es aber das klare Signal: Wir vergessen euch nicht, weder die Menschen im belagerten Afrin noch jene, die der grauenhaften humanitären Katastrophe in Ost-Ghuta ausgesetzt sind, ({8}) Ost-Ghuta, das auch heute wieder unter russischem und syrischem Beschuss steht. Wir vergessen euch nicht; denn Vergessen tötet. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Roth. – Ich vermute, Herr Abgeordneter Seitz, Sie waren es wieder, der „Heul weiter!“ dazwischengerufen hat. Sie finden das vielleicht witzig, ich finde es erbärmlich. Das will ich einmal sagen. ({0}) Als Nächste für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Motschmann. ({1})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was zurzeit, in diesem Augenblick in Nordsyrien geschieht, ist zutiefst besorgniserregend, und es ist auch gefährlich. Dieser Kampf, noch ein Kampf mehr auf syrischem Gebiet, fordert wieder Tote, Verletzte, Vertriebene, Traumatisierte in der Zivilbevölkerung, bei den Wehrlosesten – Kinder, Frauen und alte Menschen –, als gäbe es nicht schon genug Katastrophen und Elend in Syrien. Fast auf den Tag genau dauert der Krieg in diesem Land sieben Jahre. 400 000 Tote gibt es bereits. Das sind 400 000 Tote zu viel, meine Damen und Herren. 11 Millionen Vertriebene sind auch eine Katastrophe, nicht weil viele von ihnen hierher kommen – sie sind uns willkommen, weil sie wirklich Asyl verdienen –, sondern weil Flucht und Vertreibung eine menschliche Katastrophe für diejenigen sind, die sie erleiden. ({0}) Ist das türkische Handeln – darüber ist hier reichlich debattiert worden – völkerrechtlich legitim? Macht die Türkei von ihrem Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen Gebrauch? Bisher bleibt das Land dem VN-Sicherheitsrat einen stichhaltigen Beweis schuldig, dass es einen bewaffneten Angriff auf die Türkei gab. Genannt werden Raketenangriffe, die weder von türkischen noch von internationalen Medien belegt sind. Genannt werden auch terroristisch motivierte Übergriffe des IS und der YPG-Milizen, die ebenfalls nicht konkret belegt werden können, obwohl es sicher den einen oder anderen Zwischenfall gibt. Es gibt folglich keine belastbaren Belege für einen bewaffneten Angriff, der eine Verteidigungshandlung wie die Operation Olivenzweig rechtfertigen könnte. Ich stimme allen zu, die sagen: Operation Olivenzweig ist ein völlig verharmlosender Name für einen grausamen Angriff auf die Bevölkerung. Außerdem wird jeder hier im Raum sagen, dass die Maßnahmen der Türken nicht verhältnismäßig sind. Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste bestätigt – das haben hier alle gesagt –, dass es eine abstrakte Bedrohungslage nach Artikel 51 VN-Charta nicht gibt. Folglich sage auch ich glasklar: Diese Operation ist völkerrechtswidrig. ({1}) Ich sage auch, dass die territoriale Integrität Syriens verletzt wird, dass dieser Völkerrechtsbruch, dazu noch von einem NATO-Partner, nicht hinnehmbar ist. Sie fordern klare Aussagen von uns. Diese sind übrigens auch gefallen. Ich will hier ganz deutlich sagen: Frau Kollegin Hänsel, Sie mahnen an – meine Redezeit ist gleich abgelaufen, das ist immer das Problem –, was wir tun sollen. Aber Sie sind völlig blind für das, was Russland in Syrien tut. ({2}) Sie erwähnen es noch nicht einmal. ({3}) Russland unterstützt doch den Massenmörder Assad und nicht wir.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Motschmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Kollegin Motschmann, stimmen Sie mir zu, dass die Bundesregierung vielleicht gar nicht reagieren kann, weil sie sich mit der Milliardenzahlung an Herrn Erdogan, um Migrationsströme nach Europa aufzuhalten, so gebunden hat, dass eine diplomatische Intervention in der Türkei keinen Erfolg haben kann? ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich sehe das anders. Die Bundesregierung hat ja reagiert. Sie hat zum Beispiel die Nachrüstung der Leopard-2-Panzer auf Eis gelegt. Auch die Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union sind auf Eis gelegt. Es finden laufend Gespräche statt, und ich glaube, dass auch Sie der Meinung sein müssen, dass wir nicht alle Gespräche abbrechen dürfen, dass wir irgendwie ja auch Verhandlungen mit diesem NATO-Partner führen müssen. Wenn Sie der Meinung sind, dass man die Operation Olivenzweig stoppen muss – und das ist meine Meinung –, dann muss man reden, natürlich im NATO-Rat, natürlich auf all den Wegen, die ja auch genutzt werden. Sie werden das jetzt auch erleben; es wurde ja nun gerade eine neue Regierung eingesetzt. Ich bin ganz zuversichtlich, dass alles, aber auch wirklich alles versucht wird, damit die Operation Olivenzweig gestoppt wird. Ich hoffe übrigens auch – das will ich hier deutlich sagen –, dass die Nachrüstung der Leopard-2-Panzer, die jetzt nur auf Eis liegt, nicht fortgesetzt wird. Ich hoffe auch, dass es in dieser Situation keine weiteren Rüstungsexporte gibt, und gehe davon aus, dass dies auch so geschieht. – Bitte schön, Herr Kollege. Abschließend möchte ich nur noch sagen, dass dieser Krieg oder diese Auseinandersetzung deshalb so gefährlich ist, weil es eben nicht nur ein regionales Problem ist. Russland, USA, Iran – viele Player sind hier unterwegs.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es uns nicht gelingt, dies zu stoppen, dann, Herr Präsident, werden noch mehr Menschen sterben, und das wollen wir nicht zulassen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Für eine Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Pflüger das Wort.

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir haben ja hier die sehr interessante Situation, dass dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg von den Fraktionen, auch von den Regierungsfraktionen, offensichtlich als das bezeichnet wird, was er ist, nämlich völkerrechtswidrig. Wir haben zugleich die Situation, dass sich die Regierungsvertreter bisher geweigert haben, genau diese Feststellung vorzunehmen. ({0}) – Doch, es ist offensichtlich so. – Wenn dies so ist, ist meine Aufforderung an die Bundesregierung – und wir haben hier Vertreter der Bundesregierung –, sich explizit dazu zu verhalten und zu sagen: Was da im Moment passiert, ist nicht nur ein unmenschlicher, barbarischer Akt der türkischen Armee, sondern auch völkerrechtswidrig. Meine Aufforderung an die Bundesregierung: Verhalten Sie sich endlich dazu, und äußern Sie sich bitte hier, in diesem Kontext! Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Frau Motschmann, möchten Sie antworten? – Nein, offensichtlich nicht. Dann nehmen wir das zur Kenntnis. Erlauben Sie mir kurz eine Bemerkung zu dem Vorfall anlässlich der Rede von Frau Roth. Herr Kollege Braun war bei mir und hat erklärt, mehrere Zeugen der AfD-Fraktion würden bekunden, dass der Zwischenruf nicht „Heul weiter!“ lautete, sondern „Träum weiter!“ ({0}) – Moment, Moment. – Der Sitzungsdienst hinter mir hat bestätigt, dass auch er im Gegensatz zu mir – das ist vielleicht altersbedingt – verstanden hat: „Träum weiter!“ Sollte das Protokoll ergeben, dass der Zwischenruf tatsächlich „Träum weiter!“ lautete, würde das meine Bewertung als erbärmlich nicht rechtfertigen, Herr Kollege Seitz; aber wir warten, bis das Protokoll da ist. Herzlichen Dank. ({1}) Als letzter Redner spricht der Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute eine erneute Diskussion und Aussprache zum Thema Syrien, zum Thema „Situation im Nahen Osten“. Es ist zu befürchten: Wir werden in der nächsten Sitzungswoche wieder Anlass zu entsprechenden Aussprachen und Diskussionen haben. Die Entwicklung dort – das haben ja einige schon angesprochen – ging damals vom Kampf gegen den IS und die Rebellen aus. Nach und nach haben sich Regionalmächte und Großmächte in diesen Konflikt eingemischt. Sie haben versucht, ihre eigenen Interessen zu wahren, und dafür Unheil in dieser Region und bei den Menschen in Kauf genommen. Wir erleben in diesem Jahr, dass die Türkei in die Situation in Syrien eingreift. Ich möchte für die CDU/CSU-Fraktion betonen – ich spreche hier für die Fraktion –, dass wir das Eingreifen der Türkei für völkerrechtswidrig halten. Es kommt darüber hinaus zu einer weiteren Verschiebung in diesem Land, in dieser Region. Wir erleben, dass die Türkei auf der einen Seite einen Verbündeten hat und auf der anderen Seite gegen jemanden kämpft, der bis vor kurzem oder immer noch Verbündeter der USA ist. Das bedeutet eine komplette Verschiebung innerhalb der ­NATO-Strategie. Wir erleben, dass diejenigen, die jetzt im Windschatten der Türkei agieren, hoffen, Land zurückzugewinnen bzw. die Truppen Assads zurückzudrängen, der wiederum im Windschatten von Russland auf dem Vormarsch war. Das alles führt zu einer weiteren Destabilisierung in Syrien und in der ganzen Region. Darum ist es notwendig, dass die UN-Resolution eingehalten wird. Es ist notwendig, dass sich die NATO zu diesem Thema endlich entsprechend äußert. Es ist auch notwendig, dass die EU entsprechend handelt. In den vorliegenden Anträgen wird zu Recht angesprochen, welche Probleme die Türkei in dieser Region schafft. Aber ich vermisse die Erwähnung Russlands. Als ich Russland angesprochen habe, konnte ich an keiner Miene ablesen, dass Sie es für falsch halten, was die Russen dort machen. Meine Damen und Herren, die Region wird nur dann ein Stück weit Frieden bekommen, wenn alle Mächte zusammen agieren: die Regionalmächte wie Iran und Saudi-Arabien und neben der Türkei auch Russland. Darum würde ich mich freuen, wenn in den entsprechenden Anträgen auch Russland auftauchen würde. Dann könnten wir der Lösung des Problems ein Stück weit näherkommen. ({0}) Lassen Sie mich noch zwei Anmerkungen machen. Zum EU-Beitritt: Während meiner Zeit im Europäischen Parlament – das ist schon länger her – ({1}) habe ich mich regelmäßig dahin gehend geäußert, dass die EU die Türkei nicht aufnehmen soll. Es freut mich, dass die Liberalen inzwischen den Schwenk vollzogen haben und ebenfalls in diese Richtung gegangen sind; andere in diesem Haus sind noch nicht dieser Meinung. Meine Partei war schon immer der Auffassung, die Türkei kann nicht Mitglied der Europäischen Union werden. ({2}) Lassen Sie mich außerdem etwas ansprechen, was mich besonders erstaunt hat: der Besuch einiger AfD-Abgeordneter in Syrien, der zum Medienereignis wurde. Sie wollten mit dem Besuch beweisen: Eigentlich könnten die ganzen Flüchtlinge zurückkehren. Aber dann frage ich mich: Warum legen Sie einen solchen Antrag vor? Besten Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Radwan, das Ende Ihrer Rede kam schneller als gedacht. Es gab noch den Wunsch nach Zwischenfragen an Sie. Sie haben noch die Chance, diese zu beantworten. Das würde auch Ihre Redezeit verlängern.

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kein Interesse, es wird nichts Neues kommen. Besten Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Dann schließe ich die Aussprache.

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Maries und Maximilians Eltern leben eine gleichberechtigte Ehe und kümmern sich beide liebevoll um ihre Kinder. Beide waren in Elternzeit. Auch danach haben sie sich die Betreuung und Erziehung der Kinder stets geteilt. Sie haben den Partnerschaftsbonus in Anspruch genommen und arbeiten seitdem beide wieder. Marie und Maximilian sind in die Kita gekommen. Zwei Tage in der Woche werden sie von ihrem Vater abgeholt, zwei Tage von der Mutter, und einen Tag kümmert sich eine Nachbarin. Nun geht es Maries und Maximilians Eltern wie etwa 40 Prozent der Ehepaare in diesem Land: Sie trennen sich und wollen sich scheiden lassen. Welches Leitbild sieht der Gesetzgeber für diese Situation vor? Unser BGB geht davon aus, dass sich ein Kind nur bei einem Elternteil gewöhnlich und dauerhaft aufhält, ({0}) bei nur einem Elternteil tatsächlich lebt, ({1}) während es den anderen Elternteil im Rahmen von Umgangskontakten besucht. Was heißt das für Marie und Maximilian? Sie wohnen künftig nur noch bei Vater oder Mutter. Wenn ihre Eltern darüber in Streit geraten, bei wem von beiden das sein soll, kommt es zu einem Gerichtsverfahren. Marie und Maximilian haben das Gefühl, sich zwischen Mama und Papa entscheiden zu müssen. Schließlich kommt es dazu, dass beide bei der Mutter wohnen. Den Vater besuchen sie jedes zweite Wochenende. Er arbeitet in Vollzeit und zahlt Kindesunterhalt. Die Mutter, nun im Alltag für Haushalt und zwei kleine Kinder allein verantwortlich, muss beruflich deutlich kürzer treten und arbeitet nur noch ein paar Stunden die Woche. Der Vater zahlt deshalb auch für sie Unterhalt. Finanziell wird es auch bei ihm sehr eng. Vor allem aber ist er in die alltäglichen Nöte und Sorgen der Kinder deutlich weniger eingebunden, bekommt nicht mehr jeden Entwicklungsschritt mit. Kurzum: Die Mutter kontrolliert die ersten Hausaufgaben, der Vater geht in den Zoo. Meine Damen und Herren, es gibt sicher Fälle, in denen genau diese Lösung passt. Aber ist das unsere Idee eines zeitgemäßen Familienbildes? Klar ist: Das Kindeswohlprinzip ist und bleibt das Maß aller Dinge. Es muss stets im Einzelfall geschaut werden, welche die beste Lösung für das Kind ist. Wenn die Linksfraktion Sie glauben machen will, unser Antrag sehe anderes vor, meine Damen und Herren, dann will sie Sie offenkundig in die Irre führen. Aber vor dem Hintergrund der eingangs erläuterten Realitäten einer erfreulicherweise immer stärkeren Einbeziehung beider Elternteile in die Erziehungsverantwortung und einer besseren beruflichen Einbindung beider Elternteile sowie in der Logik einer modernen Familienpolitik braucht unser Familienrecht dringend ein Update. ({2}) Wir wollen, dass das Wechselmodell, wenn die Eltern keine andere einvernehmliche Regelung treffen, bei der Betreuung von Kindern nach der Trennung der Eltern zum Regelfall wird. Was hieße das für Marie und Maximilian? Wenn man das Wechselmodell streng paritätisch umsetzen würde, dann könnten die Eltern sie nach wie vor abwechselnd von der Kita abholen, oder sie wechseln sich wochenweise ab. Die Wochenenden verbringen die Kinder ebenfalls im Wechsel bei beiden Elternteilen. Vater und Mutter können in ihren Jobs bleiben. Vielleicht kommt es auch zu der Konstellation, dass der Vater, weil der Mutter vielleicht eine bessere Stelle angeboten wird, zu etwas mehr als 50 Prozent, vielleicht zu 60 Prozent, die Betreuung übernimmt. Sprich: Der Wechselmodell-Begriff ist nicht streng paritätisch, sondern flexibler zu interpretieren. Wer von beiden Elternteilen wie viel Barunterhalt zahlt, bestimmt sich anteilig nach dem Einkommen beider. Vater und Mutter prägen die Kinder gleichermaßen, sind im Alltag für sie da. Kurzum: Vater und Mutter kontrollieren die ersten Hausaufgaben, und beide gehen mal in den Zoo. Das ist gerechter, im Regelfall für die Kinder das Beste und auch international anerkannt. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Helling-Plahr. – Die Nächste ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Mechthild Heil. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, an den Anfang unserer Debatte gehört die Aussage: Die allermeisten Eltern in Deutschland schaffen es auch im Falle einer schmerzhaften Trennung, einvernehmlich ein Betreuungsmodell zu vereinbaren, ein Betreuungsmodell, mit dem die Kinder und die beiden Eltern gut leben können. Diesen Eltern gebührt unsere Anerkennung, weil sie sich in einer schwierigen Situation selbst zurücknehmen und das Wohl des Kindes oder der Kinder an die erste Stelle stellen. ({0}) Genau das wollen auch wir als Gesetzgeber tun. Wir wollen das Wohl der Kinder an die erste Stelle setzen. Es muss klar sein und klar bleiben: Entscheidungen im Bereich des Umgangsrechts sind kein verlängerter Arm der bitteren Auseinandersetzungen zwischen zwei Eltern. Es geht nicht darum, was gerecht für die Eltern ist. Die Frage muss lauten: Was dient den betroffenen Kindern? ({1}) Und dann gibt es leider auch eben die Fälle, in denen die Entfremdung der gescheiterten Partner so groß ist, dass eine Einigung über Ort und Dauer des Aufenthalts der Kinder unmöglich ist. Recht, Gerechtigkeit und Hilfe sucht man dann bei der Justiz. Nur über diese seltenen, verfahrenen, zerstrittenen, perspektivlosen Konstellationen beraten wir als Gesetzgeber und eben nicht über Fälle von Eltern wie die von Marie und Maximilian, die Sie eben geschildert haben, in denen alles wunderbar läuft und man sich einigen kann. ({2}) Schon beim ersten Blick auf diese schwierigen Familiensituationen muss doch jedem klar sein: Darauf kann man nicht mit einem Regelfall antworten. Man kann diese Fälle nicht über einen Kamm scheren. ({3}) So hat es auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung Anfang letzten Jahres betont. Er hat entschieden, dass das Wechselmodell auch gegen den Willen eines Partners angeordnet werden kann, nämlich dann, wenn es dem Kindeswohl am besten dient. ({4}) Für die Kinder bedeutet das Wechselmodell konkret, dass sie in den beiden Haushalten der getrennten Eltern zeitlich annähernd gleichwertig betreut werden. Das kann im Einzelfall die beste Lösung sein; aber es muss nicht immer die beste Lösung sein. Dabei ist klar: Auch die Kinderbetreuung nach der Trennung von Eltern unterliegt einem gesellschaftlichen Wandel. Deutsche Familiengerichte müssen heute, im 21. Jahrhundert, wirklich nicht immer einfach noch davon ausgehen, dass die Kinder bei der Mutter automatisch immer besser aufgehoben sind, ({5}) auch wenn das Modell immer noch das meistgelebte in Deutschland ist. Es ist richtig, genau hinzusehen, sich die Einzelfälle, die Sonderfälle in der Gerichtspraxis genau anzuschauen und zu überlegen, ob sich daraus ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt. Genau das steht auch im Koalitionsvertrag. Die Auswirkungen des Wechselmodells auf die Kinder werden zurzeit auch wissenschaftlich untersucht. Einig ist man sich unter den Wissenschaftlern schon heute, dass ein ständiger Wechsel des Aufenthaltsortes der Kinder nur dann eine positive Wirkung entfalten kann, wenn einige wichtige Voraussetzungen erfüllt sind: Die Eltern müssen in räumlicher Nähe zueinander wohnen. Die Arbeitszeiten der Eltern müssen sich an die wechselnde Kinderbetreuung anpassen lassen. Für dieses wirklich kostenintensive Modell müssen die nötigen Finanzmittel zur Verfügung stehen, und die Eltern müssen in einem konstruktiven Kommunikationskontakt zueinander stehen. Häufig hilft es bei familiengerichtlichen Entscheidungen, einen Blick auf die Zeit vor der Trennung zu werfen. Wenn die Eltern sich da bereits beide um das Kind gekümmert haben, dann ist das sicherlich eine gute Prognose für den Erfolg eines Wechselmodells. In der Lebenswirklichkeit ist das aber trotz allem Wunschdenken längst noch nicht immer der Fall. Väter, die erfolgreich um Zeit und Aufenthalt ihres Kindes gestritten haben, dann aber die Erziehung ihres Kindes der neuen Partnerin überlassen, sind nur ein Beispiel für ein falsch verstandenes Wechselmodell. ({6}) Um es klar zu sagen: Engagierte Väter müssen ihren Platz bei und ihre Zeit mit ihren Kindern haben, genauso wie engagierte Mütter ihn haben müssen. ({7}) Was Familien in Trennungssituationen hilft, sind gut ausgebildete Familienrichter. Wir brauchen unabhängige Gutachter und Verfahrensbeistände, und wir sollten unsere Familiengerichte darin stärken, am Einzelfall orientierte Entscheidungen zu treffen, statt neue Regelfälle zu definieren, wie es die FDP-Fraktion vorschlägt. Aber seien wir ehrlich: Am Ende aller elterlichen Streitigkeiten geht es häufig auch um die Frage der Finanzen, um die Frage des Unterhalts.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden uns deshalb als Koalition anschauen, ob wir den Unterhaltsbedarf und Selbstbehalt verbindlich, gerade auch im Hinblick auf unterschiedliche Umgangsmodelle, regeln können. Das könnte dazu beitragen, das gesellschaftlich umstrittene Thema Umgangsrecht zu befrieden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, ein letzter Satz.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit diesem Ansatz gehen wir gerne in die weiteren Beratungen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Heil. – Als Nächstes für die SPD die Kollegin Sonja Amalie Steffen. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Justizministerin Katarina Barley! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Trennungen und Scheidungen sind für alle Beteiligten fast immer schmerzlich. Sie sind es oft besonders für die Kinder. Das liegt in aller Regel daran, dass die Eltern es nicht schaffen, sich so zu trennen, dass die Kinder nicht darunter leiden. Für die Entwicklung der Kinder ist es allerdings unheimlich wichtig, dass sie auch nach einer Trennung weiterhin Kontakt zu beiden Elternteilen haben. Am besten ist es, wenn die Eltern es nach einer Trennung hinbekommen, möglichen Streit nicht auf dem Rücken der Kinder auszutragen und weiterhin gemeinsam Eltern zu bleiben. Ich denke, wir alle kennen entweder aus eigener familiärer Erfahrung oder aus dem Bekanntenkreis Familien, bei denen das gut funktioniert. Davon gibt es eine ganze Menge; Frau Heil hat schon darauf hingewiesen. Dann braucht es auch keine Jugendämter, es braucht kein Gericht, es braucht keine Verfahrensbeistände, und es braucht auch keine umfangreichen Gutachten. In aller Regel ist es in Deutschland immer noch so, dass die Kinder nach der Trennung bei einem Elternteil leben und von dem anderen in der Hinsicht versorgt werden, dass Umgang ausgeübt wird. Das ist das sogenannte Residenzmodell. Daneben gibt es das Nestmodell, das nicht so häufig praktiziert wird. Bei diesem Modell verlassen die Eltern das Elternhaus, und die Kinder bleiben dort. Das ist kompliziert, weshalb es wahrscheinlich auch nicht so weit verbreitet ist. Und dann gibt noch das Wechselmodell, bei dem die Kinder in regelmäßigen Abständen – möglichst paritätisch – den Aufenthaltsort zwischen Vater und Mutter wechseln. Gerade in den Fällen, dass beide Elternteile arbeiten, wird dieses Wechselmodell zunehmend beliebter. Der Riesenvorteil des Wechselmodells besteht darin, dass die Kinder weiterhin beide Elternteile erleben – auch im Alltag. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Modells ist allerdings immer, dass die Eltern eng beieinanderbleiben, dass sie miteinander reden können und dass sie räumlich nicht zu weit voneinander entfernt wohnen; denn bei einem Wechsel fehlt irgendetwas immer – sei es der Turnbeutel, sei es die Lieblingsjeans oder seien es die Schulsachen. Deshalb ist es total wichtig, dass die Eltern auch nach einer Trennung miteinander reden können. Wenn dies gut klappt und wenn die Eltern ihre persönlichen Befindlichkeiten hintanstellen, dann – davon bin ich überzeugt – können Trennungskinder sogar glücklicher sein als Kinder in einer noch existierenden Beziehung, jedenfalls dann, wenn die Beziehung insgesamt schlecht ist. Was ist jedoch, wenn sich die Eltern nicht verstehen, wenn sie sich nach der Trennung nicht einigen können, wo ihre Kinder leben sollen? Im Jahr 2017 gab es eine BGH-Entscheidung, die besagte, dass das Wechselmodell angeordnet werden kann. Bis 2017 haben die Gerichte gesagt, dass es zum Wechselmodell nicht kommt, wenn nicht beide Elternteile zustimmen. ({0}) Seit der Entscheidung des BGH im Jahr 2017 kann das Wechselmodell auch angeordnet werden – auch gegen den Willen eines Elternteils –, wenn es dem Kindeswohl entspricht. Seitdem gibt es in der Rechtsprechung eine gewisse Unsicherheit. Es wird unterschiedlich geurteilt. Es gibt Richter, die nach wie vor gar nicht für das Wechselmodell entscheiden, und es gibt Richter, die davon viel Gebrauch machen. Deshalb ist es an der Zeit, dass wir uns hier auf den Weg machen, dieses Wechselmodell auch im Gesetz zu verankern. Auch die SPD-Fraktion will diese Möglichkeit schaffen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr Antrag ist jedoch keine gute Idee. Meine Fraktion kann diesem Antrag nicht zustimmen. Ich sage Ihnen auch, warum das so ist. Sie wollen nämlich – so steht es in Ihrem Antrag –, dass das Wechselmodell zum Regelfall wird. Wenn es um Kinder geht, dann kann es aber keine Regelfälle geben. Das individuelle Kindeswohl – und nicht das Vorliegen eines Regelfalls – ist absolut entscheidend. ({2}) Für das Kind kann das Wechselmodell wirklich schrecklich sein, nämlich zum Beispiel dann, wenn es jeweils zur Hälfte der Zeit bei völlig zerstrittenen Elternteilen wohnt und immer dann, wenn es sich bei dem einen Elternteil aufhält, hört, wie furchtbar der andere ist, oder wenn es morgens und abends kilometerweit fahren muss, weil die Eltern zu weit auseinander wohnen. Ich habe übrigens auch Ihren Begriff „multilokale Trennungsfamilie“ nicht verstanden. Darüber müssten wir im Ausschuss auch noch einmal reden. Was ist, wenn das Kind von geliebten Halbgeschwistern zu lange und zu oft getrennt wird? Was ist, wenn es die neue Stiefmutter oder den neuen Stiefvater überhaupt nicht leiden kann und überhaupt nicht mit ihr oder ihm klarkommt? Was ist, wenn es ein Papa- oder ein Mama-Kind ist? Was ist letztendlich, wenn die Kinder 12, 13, 14 Jahre alt sind? Alle, die Kinder in diesem Alter hatten oder haben, wissen, dass sie irgendwann sagen: Du kannst uns mal. Ich will lieber mit meinen Freunden chillen, als mich bei Papa oder Mama aufzuhalten. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Insofern denke ich: Diese Beispiele zeigen, dass der Einzelfall entscheidend ist. Es gibt bei Kindern keine Regelfälle.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben jetzt noch Zeit für einen Satz.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb: Wechselmodell ins Gesetz zur Klarstellung, ja, und zwar mit allem, was dazugehört, aber als Regelfall, nein. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Steffen. – Als nächste Rednerin erteile ich das Wort Frau Nicole Höchst von der AfD. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Die FDP reiht sich mit diesem Antrag in die Liste der naiven Staatsgläubigen ein, ({0}) also in die Gemeinschaft derer, die staatlich verordneten ideologischen Konformismus als Allheilmittel sehen. ({1}) Sie möchten das Wechselmodell nach Scheidung gesetzlich verbindlich verankern und an die Stelle des Residenzmodells setzen ({2}) und springen so als angeblich freiheitlich liberale Demokraten in die Bresche für die totalitäre Zwangsbeglückung aller in der Betreuungsfrage zerstrittenen Eltern, ({3}) letztlich zum Schaden der Kinder. ({4}) Schauen wir genauer hin! Ja, die Gesellschaft befindet sich im steten Wandel. Scheidungen werden im Laufe des Lebens zunehmend zum Regelfall. Das ist sehr betrüblich. Die Kinder haben ein Recht auf Mutter und Vater. Erfreulicherweise nimmt das Interesse getrennt lebender Eltern am Wohl der Kinder und an der geeignetsten Art der Kinderbetreuung stetig zu. Dies kann, muss aber nicht zwangsläufig das Wechselmodell sein. Ja, auch wir von der AfD sehen rechtlichen Regelungsbedarf, allerdings in der Umsetzung des freiwilligen Wechselmodells. Da gehen wir mit und sagen: Interessierten Eltern soll es sehr wohl einfacher gemacht werden, sich dafür gemeinsam zu entscheiden. ({5}) Ja, es muss unbedingt vom Kindeswohl aus gedacht werden. Aber nicht ein abstraktes Modell der Gleichheit zwischen Mutter und Vater sollte ausschlaggebend sein, sondern die konkreten Bedürfnisse der Kinder sollten im Vordergrund stehen: Gerechtigkeit statt Gleichmacherei. ({6}) Kaum ein Elternteil kann sich vorstellen, auf längere Sicht zwischen zwei Lebensmittelpunkten zu pendeln. Was sich kein Erwachsener ernsthaft längere Zeit antun möchte, wird hier dem Kind als sein „Menschenrecht“ aufoktroyiert. Geht es noch? Es muss also im Einzelfall gute Gründe geben, dass diese Form der Betreuung tatsächlich den besten Interessen des Kindes entspricht. Und wichtig: Die Entlastung von Unterhalt oder – andersherum – der Anspruch auf Unterhalt darf hier nicht handlungsleitend sein. Als Quintessenz aller Studien, die der Wissenschaftliche Dienst freundlicherweise herausgearbeitet hat, ist festzuhalten: Es gibt erhöhten Abstimmungsbedarf beim Wechselmodell – das können wir so ganz kühl betrachten – und somit einen steten Quell für immerwährende Streitigkeiten, die sich auf das Kindeswohl wie Gift auswirken; meine Vorrednerinnen haben das dargestellt. Beide Elternteile treffen Alltagsentscheidungen gemeinsam – keine leichte Aufgabe für zerstrittene Paare. Fehlende Einigkeit ist schließlich allzu häufig das, was Eltern dazu bewegt, sich zu trennen und sich scheiden zu lassen. So aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, gelingt das Wechselmodell nicht. Das heißt, eine zwangsweise Anordnung für Eltern und Kinder ist bedenklich. Da gehen wir nicht mit. Auch wird es mit der AfD keine Experimente mit Kindern geben. Nichts anderes ist dieser Versuch von Gesellschaftsingenieuren, hier die Ideologie von der abstrakten Gleichmacherei durchzudrücken: ({7}) zulasten von Kindern, Müttern und Vätern, ({8}) aber auch zulasten der individuellen Rechtsprechung, die es – das haben die Zwischenrufer gerade auch schon deutlich gemacht – ja schon gibt; meine Vorrednerinnen haben das dargestellt. Wir möchten diese individuelle Rechtsprechung nicht aus der Verantwortung entlassen, indem wir ein neues sogenanntes Allheilmittel rechtlich für alle verankern. Wir unterstützen jeden Ansatz, die individuelle Schieflage, die häufig von Vätern beim Antragsmodell für die Sorgerechtsentscheidung empfunden und erlebt wird, anzugehen. Die AfD ermuntert die Bundesregierung ausdrücklich, eine Rechtslage zu schaffen, die geeignet ist, Eltern dabei zu unterstützen, die beste individuelle Betreuungsform für ihre zerbrochene Familie zu finden und auf Augenhöhe zu vereinbaren. Die Lösung hierfür kann aber nicht zwangsbeglückender Konformismus sein – ganz egal, ob es sich hierbei um das zwangsbeglückende Wechselmodell oder das zwangsbeglückende Residenzmodell handelt. Diese Betreuungsformen sollten gleichberechtigte Alternativen sein. Zu guter Letzt: Liebe sogenannte freiheitliche liberale Demokraten, dem Staat steht es keinesfalls an, Eltern – auch nicht geschiedene – zu erziehen, wie Sie es in Ihrer Antragsbegründung unverblümt fordern. Geschiedene Eltern sind in ihrer Ehe zwar gescheitert, aber dennoch mündige Bürger, die selbst entscheiden können, was für sie gut ist. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als Nächste für die Fraktion Die Linke die Kollegin Katrin Werner. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Eltern sich trennen, geht es immer um folgende Fragen: Wie geht es weiter? Was ist das Beste für das Kind? Heutzutage gibt es verschiedene Betreuungsmodelle. Wenn ein Kind hauptsächlich bei einem Elternteil lebt, sprechen wir vom sogenannten Residenzmodell. Vom Wechselmodell sprechen wir, wenn das Kind zu gleichen Teilen bei beiden Eltern wohnt. Das Kind wechselt dann zum Beispiel wöchentlich oder alle zwei Wochen den Wohnsitz. Dazwischen existieren viele weitere Möglichkeiten, die man als erweiterten Umgang bezeichnet. Die meisten Familien entscheiden das selbstständig. Bei anderen gibt es Konflikte. Diese landen vor Gericht. Genau deshalb reden wir heute darüber. Seit Jahren wird in der Öffentlichkeit über eine gesetzliche Festlegung des Wechselmodells als Regelfall diskutiert. Wir sehen das sehr kritisch. Denn ob ein Wechselmodell im Sinne des Kindeswohls funktioniert, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Dass Eltern miteinander reden, ist Voraussetzung dafür, dass es nicht zulasten der Kinder geht. Ein Wechselmodell funktioniert nämlich nur dann, wenn viel gemeinsam organisiert wird und gut miteinander geredet wird. Sind Erwachsene hochzerstritten – das wurde schon gesagt –, geht es immer zulasten der Kinder. Dann ist es für sie unerträglich, zwischen den Eltern zu pendeln. Liebe FDP, Konfliktmanagement per Gesetz kann nicht funktionieren. Das Kind muss im Mittelpunkt stehen. Im Übrigen habe ich noch eine Frage. Wie soll eigentlich ein Wechselmodell funktionieren, wenn Eltern noch nie zusammen gewohnt haben? Meine Damen und Herren, mitentscheidend ist doch die sichere, starke Bindung des Kindes zu beiden Elternteilen. Ist diese vor der Trennung weniger ausgeprägt, ist eine Verbesserung im Rahmen eines Wechselmodells ziemlich unwahrscheinlich. Es kommt nicht darauf an, wie häufig und wie lange ein Kind bei einem Elternteil ist, sondern darauf, wie stark und wie gut das Verhältnis zueinander ist. Somit muss jede Bindung individuell geprüft werden. Natürlich spielt der Kindeswille eine zentrale Rolle. Wenn ein Kind gegen das Wechselmodell ist, sollte es grundsätzlich nicht angeordnet werden. ({0}) Darüber hinaus sind das Alter des Kindes und die räumliche Nähe der Elternhaushalte zueinander, aber auch die Erreichbarkeit von Betreuungseinrichtungen wie der Schule ausschlaggebend für das Gelingen eines solchen Modells. Es kann also nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Wechselmodell immer den Interessen der Kinder am besten gerecht wird. ({1}) Es eignet sich daher auch nicht als Regelmodell. Genau deshalb sprechen wir uns gegen eine Festschreibung als Regelmodell aus. ({2}) Liebe FDP, in Ihrem Antrag geht auch so einiges durcheinander. Sie verwechseln den erweiterten Umgang mit dem Wechselmodell. Im Übrigen fordert die Resolution des Europarats auch keine Festschreibung des Wechselmodells als Regelfall, sondern lediglich die Möglichkeit, es leben zu können. Das ist in Deutschland schon längst möglich. ({3}) Für den Fall, dass Sie Unstimmigkeiten in Ihrem Antrag nach einer Anhörung bereinigen möchten, darf ich Ihnen einen kleinen Hinweis geben: Viele Dinge finden Sie schon in unserem Antrag. Denn wir sind nicht gegen das Wechselmodell. Ganz im Gegenteil: Wir begrüßen es, wenn Familien sich auf dieses Betreuungsmodell einigen, insbesondere dann, wenn es ausdrücklicher Wunsch des Kindes ist. ({4}) Genau deshalb müssen Familien im Vorfeld der Konflikte bei der Entscheidung für ein geeignetes Modell und bei der Umsetzung bestmöglich unterstützt und begleitet werden. Dafür brauchen wir erstens flächendeckend eine bessere personelle und sachliche Ausstattung der Jugendämter und Familiengerichte. Wir brauchen zweitens flächendeckend ausreichendes und gut ausgebildetes psychologisches Personal und mehr Mediatorinnen und Mediatoren. Drittens müssen wir flächendeckend Richter und Richterinnen sowie Gerichtspfleger und -pflegerinnen hinsichtlich der kinderfreundlichen Gestaltung eines Gerichtsverfahrens professionell schulen. Genau das finden Sie übrigens in der Europaratsresolution unter den Punkten 5.9 und 5.10.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Darauf müssen wir unseren Fokus legen, weil Kinder immer im Vordergrund stehen müssen. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Werner. – Als Nächstes für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer auch immer die Zufriedenheit von Kindern getrennter Eltern untersuchen will, wird eins feststellen: Kinder, die im sogenannten Wechselmodell hälftig betreut werden, sind im Schnitt zufriedener als andere Trennungskinder. Das ist allerdings wenig überraschend und kein Anlass für gesetzgeberische Aktivitäten. ({0}) Eltern, die tatsächlich eine hälftige Betreuung ihrer Kinder leben und organisieren, haben alle etwas gemeinsam: Sie einigen sich zum Wohle ihres Kindes, und das in einem überdurchschnittlichen Maße. Denn es erfordert eine hohe Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, sich über den Alltag eines Kindes von den Verabredungen über die Sportaktivitäten bis hin zum schulischen Besprechungsbedarf Tag für Tag auszutauschen und ihn mit geteilter Verantwortung zu organisieren. Deswegen funktioniert das praktisch auch so selten, nämlich in weniger als 5 Prozent der Trennungsfamilien. Bei der großen Mehrheit dieser Familien können die Kinder froh sein, wenn die Eltern sich über die Umgangszeiten einigen, sich bei der Übergabe nicht auch noch streiten und sich ihrer Verantwortung als Eltern nach der Trennung weiter bewusst sind. Wo auch immer die Eltern das nicht schaffen, ist es für das Kind eine furchtbare Belastung. Diese Belastung ließe sich aber noch einmal erheblich steigern, würde man zerstrittenen Eltern eine wechselseitige Betreuung des Kindes gegen den Willen eines Beteiligten auferlegen, obwohl die erforderliche hohe Kooperationsfähigkeit gar nicht vorhanden ist. Das wäre ein echter Albtraum für das Kind. ({1}) Dabei geht es nicht darum, ob eine anderweitige Umgangsregelung gerecht ist oder nicht. Es geht eben nicht um Elterngerechtigkeit, sondern allein um das Wohl des Kindes. ({2}) Worum es schon gar nicht geht, ist die Frage, ob der Kindesunterhalt gerecht ist. Bei manch einem besonders engagierten Vertreter des Wechselmodells werde ich den Verdacht nicht los, dass die Empörung über den als ungerecht empfundenen Kindesunterhalt größer ist als die laut vorgetragene Sorge um das Kindeswohl. ({3}) An all diesen Erkenntnissen ändert auch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom Februar 2017 nichts. Der BGH hat festgestellt – ich zitiere –: Eine gerichtliche Umgangsregelung, die im Ergebnis zu einer gleichmäßigen Betreuung des Kindes durch beide Eltern im Sinne eines paritätischen Wechselmodells führt, wird vom Gesetz nicht ausgeschlossen. Zitat Ende. Es ist also völlig klar: Das Gesetz gibt den Eltern keine Beschränkung auf, und deswegen können sie sich auch jetzt schon darauf einigen. ({4}) Der BGH hält es sogar ganz theoretisch für denkbar, das Wechselmodell gerichtlich zu beschließen, wenn es dem Kindeswohl entspricht, ohne dass er dies aber in dem konkret zu entscheidenden Fall bejaht hätte. Im Gegenteil, die theoretische Möglichkeit schränkt er gleich wieder ein – ich zitiere –: Die auf ein paritätisches Wechselmodell gerichtete Umgangsregelung setzt eine bestehende Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Eltern voraus … Dem Kindeswohl entspricht es daher nicht, ein Wechselmodell zu dem Zwecke anzuordnen, eine Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit erst herbeizuführen. … Ist das Verhältnis der Eltern erheblich konfliktbelastet, so liegt die auf ein paritätisches Wechselmodell gerichtete Anordnung in der Regel nicht im wohlverstandenen Interesse des Kindes. ({5}) Zitat Ende. Am Ende verweist er dann das Verfahren wegen fehlender Anhörung des Kindes an das Oberlandesgericht zurück. Ungeachtet des Streits darüber, ob ein gerichtlich angeordnetes Wechselmodell überhaupt jemals zum Wohle eines Kindes sein kann, gilt unstreitig, dass es keine gesetzliche Priorität für irgendein wie auch immer genanntes Betreuungsmodell gibt. Die Rechtsprechung hat sich allein am Kindeswohl und an der gemeinsamen elterlichen Verantwortung zu orientieren, und das ist auch gut so. Weder bleibt das hinter der gesellschaftlichen Realität zurück, noch braucht es dazu irgendeinen Paradigmenwechsel. Was es braucht, sind Unterstützungsleistungen, um Eltern eine partnerschaftliche Aufteilung der Erziehungsaufgabe zu ermöglichen, und gute Beratung durch qualifizierte Jugendamtsmitarbeiter in ausreichender Zahl. ({6}) Auch Familienrichterinnen und -richter und Sachverständige müssen entsprechend qualifiziert sein. Wir Grünen plädieren daher auch für gesonderte Einstiegsvoraussetzungen für eine Tätigkeit am Familiengericht. Außerdem muss der umgangsbedingte Mehrbedarf im SGB II endlich anerkannt werden, damit den Eltern nicht aus finanzieller Not heraus die Einigung über den Umgang mit dem Kind erschwert wird. ({7}) Insoweit teilen wir die im Antrag der Linken geäußerte Ansicht. Anders als die Linken sehe ich derzeit allerdings keinen Bedarf, unterhaltsrechtliche Regelungen zu ändern; denn auch für das Wechselmodell hat die Rechtsprechung bereits eine Lösung. Fazit: Über den Antrag der Linken können wir reden. Die gesetzliche Festschreibung des Wechselmodells, wie es die FDP fordert, lehnen wir Grüne auf jeden Fall ab. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Keul, herzlichen Dank. – Wir kommen jetzt zum einzigen Wechsel im Geschlecht der Redner, zu dem Kollegen Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident, für diese charmante Einführung. Bin ich tatsächlich der erste Mann, der dazu reden darf? Das gibt es doch gar nicht! Das mache ich aber gerne, weil es wichtig ist. ({0}) Wie wir gehört haben, geht es Marie und Maximilian gut. Wir sagen ganz deutlich: Das ist doch hervorragend. In Fällen wie diesem haben sich die Eltern geeinigt. Es gibt keinen Konflikt. Dann gibt es das Wechselmodell auch als Angebot. 120 000 Kinder erleben jährlich in Deutschland, erstens dass sich ihre Eltern streiten, zweitens dass sich ihre Eltern trennen und dass dann ihre Eltern über die Betreuung möglicherweise streiten. Deswegen ist es wichtig, dass wir für jedes Kind und für jeden einzelnen Fall eine Einzelprüfung vorsehen. Als Lösung kann das Wechselmodell in Betracht kommen. Aber was für Marie und Maximilian gut ist, ist für andere schlecht. Bei hochstrittigen Eltern ist das Wechselmodell schlecht. Zu diesem Ergebnis kommen auch die von Ihnen häufig angeführten Studien: Bei Eltern, die sich verstehen und deren Trennung einvernehmlich verläuft, ist das Wechselmodell – darauf hat Frau Keul zu Recht hingewiesen – richtig. Aber in den Studien wird auch warnend darauf hingewiesen, dass dieses Modell bei hochstrittigen Eltern und hochstrittigen Familiensituationen nicht kindeswohlstärkend, sondern kindeswohlgefährdend wirkt. Deswegen müssen wir den Einzelfall betrachten. Selbstverständlich müssen nach einer Trennung Vater und Mutter die Möglichkeit haben, sich um das Kind zu kümmern, egal ob sie nun an einem Strang ziehen, miteinander reden, Werte teilen oder ob sie sich gegenseitig ausbremsen. Das ist uns wichtig. Das ist übrigens auch Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels. Wir haben heute eine andere Situation als vor 30 Jahren, als es nur das Residenzmodell gab. Deswegen gibt es heute neben dem Wechselmodell unter anderem ein Pendelmodell und ein Doppelresidenzmodell, und, und, und; ich erspare mir den siebten Teil der Vorlesung darüber, welche Modelle es in Deutschland gibt. Wichtig ist nur, dass für jedes Kind das richtige Modell gefunden wird. Die entscheidende Frage lautet – das haben die Kolleginnen vor mir in Breite ausgeführt –, welche Zeit Mama und Papa mit dem Kind verbringen. Entscheidend ist nicht die Quantität, sondern die Qualität der Betreuung. Alle Studien haben – auch länderübergreifend – ergeben, dass die Qualität der Zeit für das Kind wichtiger ist als das Zeitmanagement oder die Zeiteinteilung. Nicht der Elternwille zählt, sondern das Kindeswohl. Das sei auch denjenigen gesagt, die als Vertreter der Väterlobby oder der Mütterlobby dieser Debatte zuschauen. Wir sagen ganz deutlich: Ja, wir verstehen eure Intention und euer Interesse, und wir nehmen das mit auf. Aber für uns stehen das Kindeswohl und die Entscheidung für das Kind im Vordergrund. Danach werden wir uns richten. Bindung, Liebe und Vertrauen sind wichtiger als Quantität oder die Interessen einzelner Elternteile. ({1}) Vor diesem Hintergrund war es klug und wichtig, dass wir in der Koalitionsvereinbarung für den gesamten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch für den Bereich familiengerichtlicher Verfahren festgelegt haben, dass darauf zu achten ist, dass die Familienrichter gut ausgebildet sind, dass sie sich qualifizieren und weiterbilden. Nur dann lässt sich identifizieren, was für das jeweilige Kind wichtig ist. Es kommt ferner auf die Gutachten an. Es war klug, dies im Koalitionsvertrag mit der SPD so zu formulieren. Daran werden wir uns orientieren. Weil die Entscheidung für das Kind und für die Zukunft des Kindes so wichtig ist, brauchen wir die bestmöglichen Voraussetzungen bei familiengerichtlichen Verfahren. Es gibt viele Kinder, die trotz ausgiebiger Zeit mit einem Elternteil eine bessere Bindung zu dem anderen, weniger präsenten Elternteil haben wollen. Wir kennen auch Mütter und Väter, die während ihrer Zeit die Kinder vor allem von Computer und Fernseher betreuen lassen; das ist ein Problem. Die Fifty-fifty-Regelung wirkt dem Anschein nach zwar gerecht. Das ist sie aber nicht, wenn sich darin nicht die individuellen Bedürfnisse des Kindes widerspiegeln. Noch eine Bemerkung zum Ende meiner Redezeit, da immer wieder Studien angeführt werden, die angeblich belegen, dass nur und ausschließlich das Wechselmodell der Regelfall sein soll. Man muss die Studien vergleichen, beispielsweise die Studien aus Australien. In Australien wird das Wechselmodell anders definiert als in Deutschland. Bei vielen Studien –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– um als erster Mann, der hier reden durfte, zum Schluss zu kommen, Herr Präsident – ({0}) hat man nicht konflikthafte Situationen überprüft; aber das muss unsere Aufgabe sein. Von daher kann ich sagen: Über eine Klarstellung können wir reden, lieber Koalitionspartner; Anträge bringen wir ja gemeinsam ins Parlament ein. Aber ein Wechselmodell als Regelfall – Entschuldigung, liebe FDP – würde bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das wollen wir nicht. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die geschlechterspezifische Solidarität sollten Sie nicht überstrapazieren. – Als Nächstes die Kollegin ­Esther Dilcher für die SPD-Fraktion. ({0})

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wechselmodell als Regelfall – das lehnt die SPD-Fraktion ab. Eine gesetzliche Regelung für den Umgang des Kindes mit den Eltern findet sich bereits in § 1684 BGB; – Juristen sagen: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Dort steht in Absatz 1: Das Kind hat das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil ... In Absatz 3 steht dann – und das ist entscheidend –: Das Familiengericht kann über den Umfang des Umgangsrechts entscheiden und seine Ausübung ... näher regeln. Davon haben die Gerichte bisher mehr oder weniger Gebrauch gemacht. Einige waren so mutig und haben das schon angeordnet, teilweise auch im Wege der einstweiligen Anordnung unmittelbar nach der Trennung. Andere waren sich unsicher und haben das abgelehnt. Der BGH hat nunmehr klargestellt, dass das durchaus möglich ist und dass alle Modelle von § 1684 BGB umfasst sind. Das Kindeswohlprinzip ist ebenfalls im Gesetz geregelt. Das heißt, dass alle Entscheidungen, die zu treffen sind, immer das Kindeswohl im Blick haben müssen. Eine gesetzliche Regelung in Ihrem Sinne braucht es nicht. Im Übrigen wundert mich, dass eine freiheitlich-demokratische Partei hier ein ganz bestimmtes Modell vorgeben und den Menschen die Entscheidungsfreiheit nehmen möchte. ({0}) Zutreffend ist auch, dass sich Eltern, die ihr gemeinsames Sorgerecht zum Wohle des Kindes ausüben, auf ein Wechselmodell ohne gerichtliche Klärung einigen können und dies auch bereits getan haben. Diese Fälle kommen erst gar nicht vor Gericht; die sehen wir gar nicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Dilcher, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Helling-Plahr?

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, es entsteht unweigerlich der Eindruck, dass sowohl Sie als auch die Kollegen unseren Antrag nicht gelesen oder nicht verstanden haben oder ihn auch nicht verstehen wollten. Es geht uns nicht darum, dass wir jeder Familie ein Wechselmodell aufdrücken wollen. Wir haben klargestellt, dass in jedem Einzelfall Prüfungen des Kindeswohls stattfinden müssen. Wir wollen das Wechselmodell zum Regelfall machen – nicht mehr und nicht weniger –, von dessen Basis aus, wie derzeit auch, der konkrete Fall beurteilt werden muss. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, zu Ihrer bisherigen Aussage noch einmal Stellung zu nehmen. ({0})

Esther Dilcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Ich denke, Sie haben Ihre Frage gerade selbst beantwortet in dem Augenblick, wo Sie gesagt haben, Sie wollten das als Regelfall. Genau das wollen wir nicht. ({0}) In der Mehrzahl der Fälle ist es so, dass die überwiegende Betreuung durch einen Elternteil und der Umgang des anderen Elternteils an Wochenenden und einzelnen Wochentagen leider immer noch die Regel ist, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es heute gar nicht anders zulassen. Wo gibt es denn Möglichkeiten einer zuverlässigen Betreuung, wenn beide Elternteile Vollzeit, und das eventuell noch im Schichtbetrieb, arbeiten wollen? Wo ist der finanzielle Ausgleich, wenn beide Elternteile vorübergehend in Teilzeit arbeiten wollen? Diese Voraussetzungen, diese Rahmenbedingungen müssen wir schaffen. Daran werden wir arbeiten, um ein Wechselmodell aufbauen zu können, und das nicht nur für mehr Eltern, sondern insbesondere für mehr Kinder, weil wir das Kindeswohl im Blick haben. Auch die Forderung der Linken nach Änderung des Unterhaltsrechts bzw. dessen Anpassung ist für mich noch ein bisschen zu kurz gedacht; da müssen wir noch eine ganze Menge mehr erarbeiten. Wer bezahlt dann noch den Kindergarten, die Schulbücher, die Schulausflüge, Geschenke für Freunde, Bekleidung, Vereinsbeiträge, Taschengeld? Das sind strittige Fragen, die sicherlich noch weiter diskutiert werden. Wenn sich Eltern streiten wollen, dann finden sie auch etwas, worüber sie sich streiten können. Am wichtigsten für die Kinder sind die Bindung des Kindes zu beiden Elternteilen, deren Kommunikation und die gemeinsame Sorge. Lassen wir also den Eltern und den Gerichten Spielraum, um bestmögliche Voraussetzungen für die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse eines jeden Kindes zu schaffen, und bringen wir verbesserte Rahmenbedingungen auf den Weg. Meine Damen, meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Zum Schluss der Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag, mit dem die FDP das familienrechtliche Wechselmodell, also die hälftige Betreuung der Kinder, zum Beispiel nach der Trennung als Regelfall einführen möchte. ({0}) Als Fachanwältin für Familienrecht habe ich viele Jahre in diesem Bereich gearbeitet und vieles erlebt. Es ist ein Rechtsgebiet, das wie kaum ein anderes von menschlichen Schicksalen begleitet ist und das von allen Beteiligten, auch den Richtern, Anwälten und Mitarbeitern beim Jugendamt, ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und an Mediationsfähigkeit fordert. Ich bin deshalb froh, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir die Fortbildung von Richterinnen und Richtern im Bereich des Familienrechts gemeinsam mit den Ländern stärken wollen. ({1}) CDU und CSU unterstützen es sehr, wenn Väter und Mütter auch nach einer Trennung ihre Kinder gemeinsam betreuen. Das ist heute zum Glück immer öfter die Regel, und das ist ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt. Selbstverständlich sind beide Elternteile, Vater und Mutter, gleichermaßen in der Lage, ihre Kinder zu erziehen und zu betreuen. Das Gesetz sieht die gemeinsame elterliche Sorge auch als Regelfall vor. Auch das Umgangsrecht ist geregelt als Recht und Pflicht beider Eltern. Das Kind hat einen Anspruch auf Umgang mit beiden Elternteilen; zum Glück können sich viele Eltern in Trennungssituationen einigen. Das Wechselmodell kann gerichtlich angeordnet werden, ebenso wie erweiterte Umgangsregelungen. Es kann sogar gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden. Deshalb ist eine gesetzliche Klarstellung zwar nicht notwendig, aber eben auch nicht schädlich. Auch im Koalitionsvertrag steht ein Satz zu diesem Punkt. Jede Form der Umgangsvereinbarung muss sich aber zuerst nach dem Kindeswohl, dann nach den Interessen der Eltern und erst ganz zum Schluss nach finanziellen Erwägungen ausrichten. Ich kenne verschiedenste Fälle, in denen die exakt hälftige Betreuung gerade nicht funktioniert. Ich will die jeweiligen Gründe gar nicht bewerten; das können räumlich-technische Gründe sein. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ist es nicht zielführend, das von Ihnen geforderte Wechselmodell bei Trennung ohne Elternkonsens – so steht es in Ihrem Antrag – als Regelfall zu verankern; denn im Fall des Konsenses haben wir gar kein Problem mit unserem Gesetz. ({2}) Wenn sich Eltern nicht über das Umgangsrecht einigen können – genau darüber reden wir hier –, dann müssen eben zunächst Aspekte des Kindeswohls wie Alter des Kindes, Wille des Kindes, Bindung an die Eltern, die bisherigen Abläufe, neue Strukturen, Kooperationsfähigkeit der Eltern und vieles mehr geprüft werden. Wenn man Ihrem Antrag folgte, hätten Eltern auch Anspruch darauf, ein vier Monate altes Kind von Anfang an hälftig zu betreuen, selbst wenn sie noch nicht einmal zusammengelebt haben. Ihr Antrag lässt verdammt viele Fragen offen. Er ist auch nicht geeignet, Streitpotenzial zu vermeiden. Im Gegenteil: Er ist sehr stark von Geldfragen geprägt. Bei einer Ehe, in der gleichberechtigt die Möglichkeit gegeben war, seinem Beruf nachzugehen, haben wir auch heute im Unterhaltsrecht kein Problem. Aber wenn Frauen – es können auch Männer sein – zurückstehen und weniger arbeiten, dann haben wir die Probleme, auch wenn wir die von Ihnen geforderten Änderungen vornehmen würden. Ich will noch einen letzten Punkt zum Unterhalt ansprechen und nehme als Beispiel den schönen Begriff „erweitertes Umgangsrecht“. In diesen Fällen – das glaube ich auch – gibt es tatsächlich unterhaltsrechtlichen Regelungsbedarf. Da ist noch zu vieles zu unklar geregelt. Deswegen haben wir gemeinsam mit der SPD vereinbart, dass wir uns die Unterhaltsregelungen nochmals anschauen; das ist auch gut so. Letztlich sollten wir eines machen: Wir sollten dafür sorgen, dass in den Beratungen vor Ort den Eltern Mut gemacht wird, ihre Kinder gemeinsam zu betreuen und vielleicht auch neue und unkonventionelle Wege zu gehen. Das ist der richtige Schritt, nicht die gesetzliche Verankerung des Wechselmodells per se im Gesetz. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Überweisungen, und zwar zunächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1175 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 15 b. Die Vorlage auf Drucksache 19/1172 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden; die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke – Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – abstimmen. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen dieses Hauses abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist ebenfalls mit der Mehrheit der Fraktionen dieses Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke der Überweisungsvorschlag angenommen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich zu den Tagesordnungspunkten 14 a bis c und Zusatzpunkt 3 zurückkommen. Es geht um den Zwischenruf des Abgeordneten Seitz. Das Protokoll weist aus, dass der Kollege Seitz zwischengerufen hat: „Träum weiter!“, was ich anders verstanden hatte. Ich finde diese Bemerkung nicht witzig, aber sie ist jedenfalls nicht erbärmlich. Insofern, Herr Kollege Seitz, bitte ich um Entschuldigung. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den vorliegenden Antrag haben wir in der letzten Woche schon in den sozialen Medien beworben. Da ist so mancher Kommentar ziemlich erstaunlich gewesen. Beispielsweise hieß es, es sei unklar, warum wir für Selbstständige ein branchenspezifisches Mindest- oder Basishonorar fordern; schließlich seien Selbstständige in ihrer Entscheidung viel freier. Wenn es denn die Zeiten je gab, so muss man sagen, sind sie doch für viele vorbei. Das hat mit der fortschreitenden Prekarisierung der gesamten Arbeitswelt zu tun, und dagegen wollen wir etwas tun. Aktuell gibt es in diesem Land etwa 4,2 Millionen Selbstständige, rund die Hälfte davon ist solo-selbstständig. Wir beziehen uns in diesem Antrag vor allem auf jene, die nur ein geringes Einkommen erwirtschaften. Darunter sind viele, die eigentlich unfreiwillig selbstständig geworden sind, die quasi vor Arbeitslosigkeit geflüchtet sind. Wir finden darunter Grafiker, Designer, Reinigungskräfte, IT-Experten oder auch Kurierdienstfahrer und schließlich Lehrende an Musik- oder auch Hochschulen. Lassen wir vielleicht mal einen Lieferfahrer aus einem „FAZ“-Artikel zu Wort kommen – ich zitiere –: Weil Christoph nicht angestellt ist, bekommt er kein Geld, wenn er verletzt oder krank ist. Für Rücklagen reicht sein Gehalt nicht aus. Was er bei einem Unfall machen würde? „Dann hätte ich wohl ein ziemlich dickes Problem“, sagt er. Für Unfall- und Krankenversicherung muss er selbst aufkommen. Im letzten Jahr hat meine Fraktion eine Große Anfrage zur sozialen Lage von Solo-Selbstständigen gestellt. Aus der Antwort ist hervorgegangen, dass circa 30 Prozent aller Solo-Selbstständigen über ein Nettoeinkommen von unter 1 100 Euro verfügen. Das heißt, sie haben ein massives Problem bei der sozialen Absicherung. Vor einiger Zeit saß bei mir im Wahlkreis jemand in der Sprechstunde, der 17 000 Euro Schulden bei seiner Krankenkasse hatte, wodurch klar ist, dass er überhaupt nur im Notfall behandelt wird. Etwa 3 Millionen Selbstständige sind nicht pflichtversichert. Die meisten können sich zur Kompensation aber auch keine andere soziale Vorsorge leisten. Die Beitragssätze bei der freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung betragen nicht selten bis 40 Prozent des Einkommens, und das halten wir für einen unhaltbaren Zustand. ({0}) Besonders benachteiligt sind Frauen; mehr als ein Drittel der Solo-Selbstständigen sind Frauen. Oftmals haben diese familienbedingt geringere Arbeitszeiten. Dann sind eben auch Absicherung und Einkommen geringer; dafür ist die spätere Altersarmut aber höher. Wer wie die letzten Bundesregierungen Selbstständigkeit und Unternehmertum ganz hoch gehängt hat, meine Damen und Herren, der darf Dienstleistende in diesen Bereichen doch nicht hängen lassen. ({1}) Wir wollen einen starken Dienstleistungssektor, aber wir wollen ihn mit fairen Arbeitszeiten und fairen Vergütungen. ({2}) Ich greife einmal drei unserer Vorschläge heraus. Erstens. Solo-Selbstständige müssen als Pflichtversicherte in die solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung eingebunden werden. ({3}) Die Geringfügigkeitsgrenze soll bei 450 Euro liegen. Bei höheren Einkommen sind die Beiträge natürlich nach Einkommen gestaffelt. Zweitens. Wir wollen eine Erwerbstätigenversicherung. ({4}) Aber bis dahin sollen alle nicht in einem obligatorischen Altersvorsorgesystem abgesicherten Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. ({5}) Deren Beiträge sollen sich nach dem tatsächlichen Einkommen richten. Drittens wollen wir insgesamt etwas für die Interessenvertretungen tun. Ja, meine Damen und Herren, Normalarbeitsverhältnisse sind in den letzten Jahren massiv ausgehöhlt worden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jawohl. – Eine Folge davon sind ungesicherte Beschäftigungsbereiche. Deshalb ist es uns so wichtig, dass wir in diesen Bereichen niemanden alleinlassen und auch schauen, wie es jenen geht, die aus diesen Beschäftigungsverhältnissen herausgefallen sind. Wenn wir jetzt nicht faire Möglichkeiten für die Betroffenen schaffen, dann zahlen wir später drauf. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Dr. Sitte. Sie sollten Ihrem „Jawohl“ auch Taten folgen lassen und nicht auf meine Großmut setzen. Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Jana Schimke. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Frau Dr. Sitte, wenn man schon solche Forderungen aufstellt, die mit erheblichen finanziellen Belastungen für unsere Solidargemeinschaft einhergehen, dann sollte man schon bei der Wahrheit bleiben. Ich bin es ja gewohnt: Wenn wir Anträge der Linken diskutieren, muss man immer ganz genau hinschauen. ({0}) Man sollte sich hier die Zahlen genau anschauen. So behaupten Sie zum Beispiel in Ihrem Antrag, 30 Prozent aller Solo-Selbstständigen bezögen ein Einkommen von gerade einmal 1 100 Euro. ({1}) Das ist an und für sich so richtig. Aber was wurde dabei nicht berücksichtigt? Nicht berücksichtigt wurde der Haushaltskontext. Viele Menschen leben in einer Lebensgemeinschaft, in einer Ehe. Auch das trägt dazu bei, wie es einem am Ende geht. ({2}) Was nicht berücksichtigt wurde, war der Vermögenshintergrund. Gerade Selbstständige und auch Solo-Selbstständige beziehen einen Großteil ihres finanziellen Bedarfs aus Sparvermögen, aus Anlagevermögen. ({3}) Was nicht berücksichtigt wurde, war die Frage: Sind die Solo-Selbstständigen in Vollzeit oder in Teilzeit tätig? Was auch nicht berücksichtigt wurde, war die Frage: Handelt es sich bei der Solo-Selbstständigkeit um eine hauptsächliche Tätigkeit oder um eine Nebentätigkeit? Es gibt auch Menschen, die neben einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung solo-selbstständig sind. Was auch nicht berücksichtigt wurde – das kann ich auch noch sagen –, war die Lebenslaufperspektive. Es gibt jüngere, es gibt ältere Menschen, die solo-selbstständig sind. Es ist doch völlig klar: Wenn ich mit einer Existenzgründung anfange, dann habe ich natürlich nicht so ein Einkommen, wie ich es vielleicht haben werde oder haben möchte. Das ist doch völlig normal. ({4}) Sinn und Zweck gerade auch von Selbstständigkeit besteht doch darin, ein Vermögen aufzubauen und es zu mehren. – All das wird mit der Zahl „1 100 Euro“ nicht berücksichtigt. Was auch nicht berücksichtigt wurde, war das Netto­haushaltseinkommen. Das Nettohaushaltseinkommen von Solo-Selbstständigen liegt nämlich deutlich höher, ungefähr bei 3 100 Euro. ({5}) Da ist nicht definiert, ob da noch eine Ehefrau oder ein Ehemann vorhanden ist. Haushaltseinkommen wird noch von weiteren Indikatoren bestimmt, die man natürlich mitberücksichtigen muss, wenn man entsprechende Forderungen aufstellt. ({6}) Es geht ja weiter. Was sagt Die Linke noch? Die Linke sagt: Es gibt eine fehlende und unzureichende Altersvorsorge bei Solo-Selbstständigen. Ja, wenn nur die gesetzliche Rentenversicherung oder Versorgungswerke in die Untersuchung einbezogen werden, wundert mich das nicht. ({7}) Viele Selbstständige sorgen nämlich anders vor. Sie dürfen sich freiwillig gesetzlich versichern, aber sie müssen es nicht. Liebe Kollegen der Linken, Vorsorge ist eben mehr. 63 Prozent der Solo-Selbstständigen haben ein Vermögen in Form von Immobilien. ({8}) Es gibt viele Solo-Selbstständige, die Geld- und Anlagevermögen haben, 16 Prozent von ihnen immerhin in Höhe von mindestens 100 000 Euro. Dass die Sicherungslücke nicht durch private Vorsorge kompensiert wird, wie Sie es in Ihrem Antrag behaupten, ist schlichtweg falsch. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann die Liste beliebig fortführen. Ein Beispiel möchte ich gerne noch bringen: ergänzende ALG-II-Leistungen. Sie beklagen die dramatische Höhe; 2015 haben 105 000 Solo-Selbstständige ALG-II-Leistungen bezogen. Ja, aber Sie müssen dazusagen, dass die Zahlen seitdem sinken. Das Statistische Bundesamt – da haben wir heute erst wieder nachgefragt – hat uns bestätigt, dass wir 2017 sogar unter 100 000 Bezieher von ergänzenden ALG-II-Leistungen hatten. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Sitte?

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gern fortfahren. Vielen Dank. – Erlauben Sie mir, zum Schluss zu kommen. Sie möchten mit Ihrem Antrag – das erleben wir leider immer wieder – Selbstständige zu Arbeitnehmern machen. Ihre Forderung eines Mindesthonorars für Selbstständige ist nichts anderes als Planwirtschaft 4.0. ({0}) Das geht nicht, meine Damen und Herren. ({1}) Was Sie vornehmen, ist ein massiver Eingriff in die soziale Marktwirtschaft. Sie verkennen, was Unternehmertum in Deutschland ausmacht: Freiheit und Eigenverantwortung. In diesen Werten wollen Sie Selbstständige beschränken. Wir müssen außerdem anerkennen: Unternehmertum bedeutet auch, dass man scheitern kann; das gehört dazu. Aber das liegt im persönlichen Ermessen des Einzelnen. Die Forderung, die Selbstständigen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu verpflichten – um nur einen Punkt herauszugreifen –, ist ein Verstoß gegen unsere sozialrechtlichen Prinzipien. Das muss man ganz klar sagen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. – Wir von CDU/CSU und SPD machen das anders. Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf andere Lösungen verständigt. Wir wollen eine Altersvorsorgepflicht, keine Rentenversicherungspflicht. Wir gehen behutsamer an die Dinge heran. Wir werden auch bei der Krankenversicherung die Bemessungsgrundlage für die Mindestbeiträge reduzieren und damit den Menschen ein Stück weit entgegenkommen. Aber mit der Keule zu kommen, so wie Sie es versuchen, wäre definitiv der falsche Weg. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Ich gehe davon aus, dass die Geschäftsführung der Fraktion Die Linke eine Kurzintervention für Frau Dr. Sitte beantragt hat? – Ich gebe Ihnen das Wort, Frau Dr. Sitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Kollegin, wir haben uns die Zahlen nicht ausgedacht. Sie sind uns auf unsere Große Anfrage hin vonseiten der Bundesregierung gegeben worden. Wenn Sie die Zahlen infrage stellen, dann können Sie das gerne tun. Man kann darüber reden. Aber wir haben sie uns nicht ausgedacht. Dann sind die Zahlen von der Bundesregierung falsch. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt. Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass wir die Leute normiert in ein Arbeitsverhältnis pressen wollen. Wir haben nur festgestellt, dass sich die Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten geändert hat und dass es mehr und mehr Selbstständige und Solo-Selbstständige gibt. Dass dies einige von ihnen freiwillig tun, dass sie es gerne machen und erfolgreich sind, ist in Ordnung; für die brauchen wir keinen Antrag zu stellen. Aber es gibt auch eine große Zahl von Selbstständigen und Solo-Selbstständigen, die ein ernsthaftes Problem haben. Das haben sie nicht aufgrund ihres Geschäftsmodells oder weil sie keine gute Idee hatten, sondern aufgrund der Rahmenbedingungen. Dritter Punkt. Sie verweisen auf die Ehepartner. Ich muss ehrlich sagen: Sie sind selber eine Frau. Würden Sie, wenn Sie in Ihrem Berufsleben nicht erfolgreich sind, sagen: „Ich bin nicht erfolgreich, weil die Rahmenbedingungen in den sozialen Systemen schlecht sind, aber ich habe ja einen Mann, der mich mitversorgen kann; deshalb ist das alles nicht so schlimm“? Nein, Frau Kollegin, das können Sie nicht im Ernst meinen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Schimke, wollen Sie antworten? – Sie haben das Wort.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Sitte, ich kann natürlich nicht in die betreffenden Personen schauen, aber die persönlichen Beweggründe sind mitunter sehr unterschiedlich. Sie verweisen auf Ihre Zahlen und sagen: Diese Zahlen hat uns die Bundesregierung gegeben. – Die stimmen natürlich; das ist richtig. Aber Sie können eine Zahl in einem entsprechenden Kontext so oder so darstellen. Zur Wahrheit gehören immer viele andere Dinge, und das habe ich versucht in meinem Redebeitrag deutlich zu machen. ({0}) Die Frage, wie es mir finanziell geht, hängt gerade bei Solo-Selbstständigen nicht nur davon ab, was ich persönlich erwirtschafte, sondern natürlich auch von vielen anderen Faktoren. Der Punkt ist der: Uns fehlen ausreichende Untersuchungen dahin gehend. Wir haben gar keine ausreichende Datengrundlage, die uns im Detail verrät, wie denn eigentlich die Situation insgesamt ist. Das muss man einmal festhalten. Das sagen sogar die Interessenvertreter der Solo-Selbstständigen. Ich möchte zum Schluss noch anmerken: Von den Solo-Selbstständigen, deren Geschäftsidee nicht funktioniert, können wir durchaus erwarten, dass sie sich wieder in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis begeben. Wir haben Fachkräftemangel. Der Arbeitsmarkt gibt es her. ({1}) Wir haben nicht die Aufgabe, liebe Frau Dr. Sitte, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Wir sollten bzw. müssen ihnen diese Lebensentscheidung auch ein Stück weit selbst überlassen. Danke. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nun freuen wir uns auf den Beitrag des Kollegen Ralf Kapschack von der SPD-Fraktion. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich hatte genau wie die Kollegin Sitte in meinen Bürgersprechstunden in den vergangenen Monaten Besuch von Frauen und Männern, die sich selbstständig gemacht haben, aus ganz unterschiedlichen Motiven, in ganz unterschiedlichen Branchen. Aber sie waren alle mit einem ganz konkreten Problem bei mir: Ihre Krankenversicherungsbeiträge sind zu hoch, weil sie sich nicht am tatsächlichen Einkommen orientieren, sondern an einer fiktiven Größe. Das Thema ist gar nicht neu. ({0}) Wir haben in der vergangenen Wahlperiode als SPD-Fraktion in einem Positionspapier zu Solo-Selbstständigen gefordert, dass da etwas passiert. Insofern bin ich froh, dass sich im Koalitionsvertrag unsere Idee wiederfindet. Wir haben vereinbart, die Bemessungsgrundlage zu halbieren. Dadurch können die Beiträge deutlich gesenkt werden. Das hilft vielen Menschen ganz konkret. ({1}) Die Zahl der Solo-Selbstständigen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Deshalb gerät ihre Absicherung bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zu Recht ins Blickfeld. Da müssen wir ran. Deshalb bin ich froh, dass wir heute darüber reden. ({2}) Rund 3 Millionen Selbstständige haben keine obligatorische Absicherung im Alter. Ehemals Selbstständige sind schon jetzt bei den Beziehern der Grundsicherung deutlich überrepräsentiert, verglichen mit ihrem Anteil an der Bevölkerung. Damit das klar ist: Es geht überhaupt nicht darum, irgendjemanden zu bevormunden. Es geht auch nicht um Planwirtschaft, Frau Schimke. Es geht darum, Frauen und Männer, die sich selbstständig machen wollen, so weit wie möglich dabei zu unterstützen. ({3}) Gleichzeitig hat die so oft bemühte Eigenverantwortung aber Grenzen, wenn sie erkennbar zulasten der Allgemeinheit geht. Im Koalitionsvertrag – es ist schon angesprochen worden – haben wir deshalb eine Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen vereinbart, die nicht anderweitig obligatorisch abgesichert sind. Sie haben künftig die Wahlmöglichkeit zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und anderen Vorsorgearten. Diese müssen allerdings einige Qualitätskriterien erfüllen. Ich will an dieser Stelle überhaupt keinen Hehl daraus machen: Uns wäre es am liebsten gewesen, wir hätten eine Pflichtmitgliedschaft für Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung hinbekommen. ({4}) Das war leider mit der Union nicht zu machen. Das finde ich schade; denn die Rentenversicherung ist ein Angebot, das auch für Selbstständige jede Menge Vorteile bietet: bei der Erwerbsminderung, bei der Hinterbliebenenversorgung und beim Zugang zu Rehaleistungen. Das als Selbstständiger anderweitig abzusichern, dürfte – erst recht mit kleinem Einkommen – schwierig werden. Ich setze deshalb darauf, dass viele Selbstständige rasch erkennen, wie attraktiv die gesetzliche Rentenversicherung auch für sie ist. ({5}) Damit auch das klar ist: Es bleibt für uns dabei, dass wir am Ziel einer Erwerbstätigenversicherung festhalten. Mit ihr wäre ein Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit ohne Probleme möglich, ohne dass Schutz und Ansprüche verloren gingen. Der Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit wird in Zukunft wahrscheinlich zunehmen. Deshalb sollten wir auch Selbstständigen insgesamt den Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern. ({6}) Ulla Schmidt wird gleich noch etwas zum Bereich der Kulturschaffenden sagen; denn dort ist das Thema von besonderer Brisanz. Leistungen kosten Geld. Wie bei Kranken- und Rentenversicherung fehlt Selbstständigen der Arbeitgeberbeitrag. Auch hier müssen sie ihre Beiträge selbst erwirtschaften. In welcher Größenordnung das realistisch ist, was in welchem Umfang über welchen Zeitraum der Staat zuschießen sollte, ist eine der Fragen, die längst noch nicht beantwortet sind. Dazu gibt es auch in dem vorliegenden Antrag viele Ideen, aber, ich finde, noch ein bisschen wenig Substanz, was die Finanzierung angeht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb freue ich mich über die Debatte im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Als Nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Jörg Schneider von der AfD-Fraktion. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Der Antrag der Linken enthält wirklich einige überlegenswerte Aspekte. Wenn Arbeitnehmer aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Arbeitgeber in eine prekäre Scheinselbstständigkeit gedrängt werden, dann ist das sicherlich etwas, was wir bekämpfen müssen. Es wurde bereits angesprochen: Wenn die Krankenkassenbeiträge bei Selbstständigen nicht aufgrund des tatsächlichen Einkommens berechnet werden, dann ist auch das nicht fair. Wenn man Ihren Antrag liest, dann erkennt man sehr schnell, dass Sie wieder nur eines wollen: Sie wollen wieder mehr Staat, Sie wollen mehr Sozialabgaben, Sie wollen weniger Vertragsfreiheit, Sie wollen in Summe weniger Selbstständigkeit. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist mit der AfD nicht zu machen. ({0}) Sie fordern, dass die Selbstständigen in die Rentenversicherung einzahlen. Die SPD ist diesen Ideen gegenüber durchaus auch aufgeschlossen. Was bedeutet das eigentlich? Zunächst einmal würde mehr Geld in die Rentenkasse fließen. Die GroKo wird sich darüber freuen. Damit könnte man wieder ein paar Rentengeschenke finanzieren. Nur, auf Dauer werden aus den Beitragszahlern auch Leistungsempfänger. Das, was Sie planen, ist nichts anderes als die Laufzeitverlängerung eines maroden Rentensystems. Dafür gibt es einen klaren Begriff: Das ist Konkursverschleppung. ({1}) – Hören Sie mir doch einfach einmal zu! Oder reicht es vielleicht für eine Zwischenfrage? Die können Sie auch gerne stellen. Wenn Sie das aus der Sicht der Selbstständigen betrachten, ist das auch problematisch. Es gibt durchaus einige, die schon Vorsorge getroffen haben. Die haben vielleicht eine Immobilie gekauft, haben einen langfristigen Tilgungsplan unterschrieben. Jetzt kommen Sie und wollen denen 20 Prozent Rentenversicherungsbeitrag abnehmen. Auch denen, die – Frau Schimke sprach es an – gerade zu Beginn der Selbstständigentätigkeit noch nicht das große Geld verdienen, wollen Sie 20 Prozent abnehmen. Das haut doch nicht hin. Dass Sie das tatsächlich fordern, mag vielleicht daran liegen, dass Ihnen einfach der Kontakt zu Selbstständigen fehlt. In Ihren Kreisen ist wertschöpfende, gerade selbstständige Arbeit eher verpönt. ({2}) Wenn Sie sich einmal mit Selbstständigen unterhalten würden, dann würden Sie merken, wo bei ihnen der Schuh drückt. Es ist nämlich das Problem der fehlenden Rechtssicherheit. Wir haben ein ganz komplexes Regelwerk, was dazu führen kann, dass ein Selbstständiger rückwirkend zum Scheinselbstständigen gemacht wird. Dann muss er erhebliche Nachzahlungen an die Sozialversicherungskassen leisten, und nicht nur er, sondern durchaus auch sein Auftraggeber. Das ist in doppelter Hinsicht ärgerlich; denn der Selbstständige muss dafür Rückstellungen bilden, und es macht ihm natürlich die Akquise schwer. Wenn der Auftraggeber damit rechnen muss, Jahre später unter Umständen zum Arbeitgeber befördert zu werden und dann auch noch Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu müssen, dann ist es für ihn vielleicht nicht mehr ganz so interessant, den Auftrag zu erteilen. Ich fasse einmal zusammen: Ihr Antrag enthält durchaus einige Aspekte, über die wir im Ausschuss diskutierten sollten. Auf diese Diskussion freue ich mich. Aber bitte hören Sie auf, Selbstständige für Ihre Forderungen nach mehr Staat, nach mehr Sozialabgaben, nach weniger Vertragsfreiheit zu instrumentalisieren; denn genau das wollen die Selbstständigen nicht. ({3}) Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir einen vernünftigen transparenten Rechtsrahmen schaffen. Das kostet nicht viel Geld, das entlastet die Bürokratie, und es macht Menschen eine erfolgreiche Selbstständigkeit möglich. Ich danke Ihnen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nun spricht für die Fraktion der Freien Demokraten der Kollege Alexander Müller. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Linksfraktion, ich bin eines der hilfsbedürftigen Opfer, an die sich Ihr Antrag richtet. ({0}) Ich war knapp 30 Jahre Solo-Selbstständiger in der IT, bis zum letzten Herbst, als ich in dieses Haus gewählt wurde. ({1}) Die Linke erweckt den Eindruck, als würden wir zur Selbstständigkeit gedrängt – von bösen Arbeitgebern, die damit Geld sparen wollten. ({2}) Wir haben uns selbst dafür entschieden, wir machen das freiwillig; Freiberuflichkeit ist eine Lebenseinstellung. ({3}) Wir wollen die Freiheit, spontan einen Tag freizumachen. Wir wollen nicht in hierarchischen Strukturen arbeiten. Auch das Korsett aus sechs Wochen Jahresurlaub, 38-Stunden-Woche und Tarifverträgen wollen wir nicht. ({4}) Ich akzeptiere das Bild nicht, wir wären schützenswerte, arme Opfer. Das Gegenteil ist der Fall. ({5}) Sie adressieren ja explizit die Solo-Selbstständigen, die IT-Experten, die Clickworker. Unser durchschnittlicher Stundensatz beträgt 83 Euro, und nur 4 Prozent von uns haben Stundensätze unter 50 Euro. ({6}) Wir wehren uns gegen das Bild des Prekariats, das Sie hier zeichnen. ({7}) Wir Solo-Selbstständigen gehen mit unserer Altersvorsorge verantwortungsvoll um, und zwar eigenverantwortlich. ({8}) Wir nehmen uns die Freiheit, den Fokus zuerst auf ein abbezahltes Eigenheim zu setzen. ({9}) Die Linke will uns in die gesetzliche Rente hineinzwingen. Welchen Sinn würde es denn machen, wenn wir doppelt so lange unser Eigenheim abbezahlen müssten, weil erzwungenermaßen viel Geld in die gesetzliche Rentenversicherung abfließen müsste? Ein schuldenfreies Eigenheim ist doch die beste Altersvorsorge. Für diese Freiheit der eigenen Entscheidung werden wir weiterkämpfen. ({10}) Selbstständige sollen ein Mindesthonorar erhalten, wenn es nach den Linken ginge. Sie haben keine Ahnung, wie Selbstständige ihre Honorare kalkulieren. Wir müssen uns am Markt orientieren: Verlangen wir zu viel, springen uns die Kunden ab und wir haben keine Aufträge mehr, verlangen wir zu wenig, verzichten wir auf Einkommen und können uns angesichts der Auftragsflut nicht mehr retten. Was sollen denn Mindestlöhne für Solo-Selbstständige bringen, wenn wir unsere Honorare ohnehin frei vereinbaren? Sie wollen den Wechsel in die Freiberuflichkeit erschweren; das ist ja die Intention Ihres Antrages. ({11}) Wir Selbstständigen sorgen doch dafür, dass der Fachkräftemangel gelindert wird. Wir bilden uns ständig weiter, um exakt die nachgefragten Kenntnisse abzudecken, die die Wirtschaft braucht. Denn wer die Lücken füllen kann, der bekommt auch Aufträge. Wir sind das Rückgrat der Wirtschaft. ({12}) Die Krönung ist die Arbeitslosenversicherung für Selbständige. Liebe Linke, ich hatte jeden Monat ein anderes Einkommen. Welchen Monatslohn soll ich denn versichern? Wir Selbständigen haben gar keinen Monatslohn. Angenommen, ich hätte vier Kunden, zwei beendeten die Zusammenarbeit mit mir, und von den verbleibenden 700 Euro Einnahmen im Monat könnte ich nicht mehr leben. Wann sollte denn die Arbeitslosenversicherung greifen? Sollte ich mich in meiner Problemlage arbeitslos melden, obwohl ich überhaupt nicht arbeitslos wäre? Wie sollte das denn funktionieren, wie sollte ein Selbstständiger arbeitslos werden? Sie haben keine Ahnung, wie wir arbeiten. Daher verschonen Sie uns bitte mit Ihren Hilfsangeboten! ({13}) Wir haben schon genug bürokratischen Ärger mit der komplizierten Statusfeststellung, also dem Nachweis, dass wir tatsächlich selbstständig sind. Wir müssen aufwendig unsere Auftraggeber von diesen Nachweisen überzeugen. Sie wollen uns jetzt noch in die gesetzliche Rente zwingen, Sie wollen uns in die gesetzliche Krankenversicherung zwingen, und die Steuern wollen Sie sowieso dauernd erhöhen. ({14}) Wir lehnen Ihre Hilfe dankend ab, und wir werden unsere Freiheit verteidigen. Verlassen Sie sich darauf. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Müller. – Als Nächster hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Linken für den Antrag dankbar, weil er ermöglicht, über eine wichtige Zukunftsfrage zu diskutieren. Ich bin nur erstaunt, dass hier fast niemand über die Zukunft geredet hat. Die Linken stochern nur in den Problemen herum, die es aber auch gibt; das ist offensichtlich. Ich war ziemlich erstaunt über die Reden von FDP und Union, die sich völlig wegducken und sagen, es gebe die Probleme gar nicht, die gar nicht hingucken. Die Situationen der Selbstständigen, Herr Kollege, sind völlig unterschiedlich. ({0}) Es mag Selbstständige geben, denen es so gut geht wie Ihnen. Es gibt aber auch ganz viele Selbstständige, die am Existenzminimum knabbern. Sie brauchen eine Existenzsicherung, sie brauchen soziale Sicherheit, und man muss sie unterstützen. Darum geht es hier. ({1}) Aber reden wir über die Zukunft! Wir schreiben das Jahr 2030. 100 Prozent des Stroms stammen aus erneuerbaren Energien, ({2}) der Ausstieg aus der Kohle ist geschafft, und es werden keine Autos mehr gebaut, deren Motoren Benzin oder Diesel verbrennen. ({3}) Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir Ideen, Kreativität und Innovationen. Schon allein deswegen wollen wir Grüne mehr Selbstständigkeit. ({4}) Es gibt aber noch einen weiteren Grund. Wir Grüne wollen eine Gesellschaft und eine Arbeitswelt, in der die Menschen frei und selbstbestimmt entscheiden können. Wir wollen mehr Freiheit und Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir wollen mehr Selbstständige, weil wir mehr Freiheit wollen. ({5}) Gleichzeitig gibt es massive Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt durch Globalisierung, demografische Entwicklung und Digitalisierung. Insbesondere die Digitalisierung bietet viele Chancen, sie birgt aber auch viele Risiken. Viele Arbeitsplätze fallen weg. Es entstehen zwar neue, aber vor allen Dingen die Arbeitswelt verändert sich, und das schon heute. Es gibt viel mehr Wechsel zwischen selbstständiger und abhängiger Beschäftigung, die Übergänge werden fließender. Es gibt mehr prekäre Beschäftigung, und das bedeutet häufig nicht mehr, sondern weniger Freiheit. All diese Veränderungen schreien regelrecht danach, die sozialen Sicherungssysteme neu aufzustellen und zukunftsfest zu machen. Darum geht es jetzt. ({6}) Für uns Grüne heißt das: Erstens. Wir wollen eine soziale Sicherung für alle, weil insbesondere Selbstständige häufig durch das Netz fallen und unzureichend abgesichert sind. Für uns ist das Prinzip Bürgerversicherung Programm: für Gesundheit, für Pflege und eben auch für die Rente. Die Arbeitslosenversicherung muss zu einer Arbeitsversicherung für alle Beschäftigten werden. ({7}) Zweitens. Wir wollen eine soziale Sicherung, die soziale Teilhabe für alle garantiert, zum Beispiel den Schutz vor Altersarmut durch eine Garantierente. Das ist auch ein Grund, warum Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollten. Das ist gerade für die Selbstständigen wichtig; denn wenn man Angst vor Altersarmut hat, dann gründet man kein Unternehmen, man macht sich vielleicht nicht selbstständig. Deswegen ist soziale Sicherheit so wichtig. Wir müssen aber auch in der Erwerbsphase die Selbstständigen besser vor Armut schützen. Selbstständige sind, wenn sie arm sind oder ein geringes Einkommen haben, auf Hartz IV angewiesen, und das ist für Selbstständige nun wirklich kein passendes System. Hier müssen wir neue Wege beschreiten. Wir brauchen eine Alternative für Selbstständige zu Hartz IV. ({8}) Drittens. Wir wollen ein soziales Sicherungssystem, das Freiheit und Selbstbestimmung ermöglicht, statt zu gängeln und zu bevormunden. Von einem solchen neuen, universellen, armutsfesten und emanzipatorischen sozialen Sicherungssystem profitieren vor allem die Selbstständigen. Die Kreativwirtschaft profitiert davon und nicht zuletzt die Künstlerinnen und Künstler, die man auch in den Blick nehmen muss. Wir Grünen wollen eine vielfältige, bunte und kreative Gesellschaft mit mehr sozialer Sicherung und mehr sozialem Zusammenhalt, mit mehr Selbstbestimmung und mehr Freiheit für alle. Darum geht es. Lasst uns die Zukunft gestalten! Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Als Nächster für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke-Fraktion beschäftigt sich mit den Selbstständigen – da rauft man sich meistens die Haare, da man in der Regel weiß, dass dabei eine Gängelung der Selbstständigen herauskommt. ({0}) Wenn man den Antrag liest und bis zum Ende liest, dann verstärkt sich dieser Eindruck. Natürlich gibt es auch bei Selbstständigen Probleme; das wollen wir nicht verschweigen. Die Große Koalition geht diese Probleme jetzt an. Die Lösung dieser Probleme ist bei uns bestens aufgehoben. Es gibt derzeit Probleme bei der Altersversorgung von Selbstständigen. Wir sind der Meinung, dass Selbstständige einen eigenständigen Beitrag für ihre Vorsorge leisten müssen. Das steht außer Zweifel; denn es kann nicht sein, dass sich Selbstständige unter Umständen im Alter auf die Solidargemeinschaft verlassen. Deshalb soll jeder eine Vorsorgeverpflichtung eingehen. Diese Vorsorgeverpflichtung muss so ausgestaltet sein, dass sie auf der einen Seite für den Selbstständigen finanziell tragbar ist, auf der anderen Seite sicherstellt, im Alter über ein Einkommen zu verfügen, das über dem Grundsicherungsniveau liegt. ({1}) Von daher, Herr Kollege Birkwald, sind wir uns im Prinzip einig, nur über den Weg können wir nicht einig werden; denn wir propagieren die Freiheit der Selbstständigen, Sie hingegen wollen diese Freiheit einschränken, indem Sie sie verpflichten wollen, nur in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Dadurch verhindern Sie, dass alternative Wege beschritten werden. Das, glaube ich, ist der große Unterschied. Dass die Anlagen natürlich mündelsicher sein müssen, nicht pfändbar sein dürfen, tatsächlich für eine dauerhafte Rentenleistung zur Verfügung stehen müssen und dergleichen mehr, steht außer Frage. Das zweite Problem, das aufgelistet wird, ist der Beitrag zur Krankenversicherung. Entgegen dem Antrag der Linken besteht schon heute die Verpflichtung, eine Krankenversicherung abzuschließen. In Ihrem Antrag wird zum Ausdruck gebracht, diese Verpflichtung gäbe es noch nicht. Aber es gibt die Verpflichtung, eine Krankenversicherung abzuschließen. Natürlich stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage man das macht. Da sehen Sie natürlich nur die gesetzliche Krankenversicherung. Wir stehen auch hier wieder für ein pluralistisches System und wollen, dass auch eine private Krankenversicherung die Grundlage sein kann. Hier ist natürlich mitentscheidend, wie hoch der Beitrag ist, den der Einzelne zu zahlen hat.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dazu muss ich feststellen: Den Beitrag auf Basis eines Satzes von 450 Euro zu kreieren, kann wirklich nicht die Grundlage sein; denn dann würde die gesamte Solidargemeinschaft eine billige Krankenversicherung für einen Selbstständigen mitfinanzieren. Das kann doch wirklich nicht in Ihrem Sinne sein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Straubinger, ich habe versucht, Sie nicht zu unterbrechen. Aber Sie atmen nur sehr wenig. ({0}) Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Linken?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mehrere, Herr Präsident – wenn es sein muss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte schön.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Straubinger, vielen Dank erst einmal, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. – Sie haben gerade auf die gesetzliche Rentenversicherung verwiesen und in diesem Zusammenhang mit Blick auf eine Pflichtversicherung von einer „Gängelung“ gesprochen; das waren, glaube ich, Ihre originalen Worte. Ich frage Sie daher: Würden Sie im Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung die Pflichtversicherung für Hebammen und die Pflichtversicherung für selbstständige Lehrer ohne Mitarbeiter als eine Gängelung ansehen, oder sind Sie vielleicht wie ich der Meinung, dass dahinter eine weise gesetzgeberische Absicht steht? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nur als Gängelung betrachtet, dass man keine Wahlfreiheit hat. Wir stehen dafür, dass sich ein Mensch, der sich selbstständig macht, auch überlegen kann, in welcher Form er seine Altersversorgung gestaltet. Wir wollen nicht, dass er, wie Sie laut Ihrem Antrag wollen, nur die gesetzliche Rentenversicherung wählen kann. Es gibt auch Alternativen, und diese Alternativen sollte man zulassen. Ich habe in meinen Ausführungen dargelegt, dass sie eine dauerhafte Alterssicherung darstellen müssen, dass sie mündelsicher sein müssen, vor allen Dingen nicht pfändbar sein dürfen und dergleichen mehr. Das alles habe ich, wie gesagt, dargelegt. Da gibt es auch keinen Unterschied zwischen uns. Ich glaube, da sind wir relativ nah beieinander. Wir unterscheiden uns nur, was den Weg der Absicherung betrifft. Ich sage Ihnen: Eine private Absicherung wäre auch zum Vorteil der kommenden Generation; denn bei einer privaten Absicherung spart man jetzt an. Wenn man die Menschen in ein reines Umlagesystem hineinzwingt, bedeutet dies, dass die Versprechungen, eine Rente zu bekommen, in die Zukunft verlagert werden und dies dann die zukünftige Generation zu leisten hat. Hier sollte man Wahlfreiheit gewähren, um dies dementsprechend gestalten zu können. ({0}) Es gäbe sehr vieles zu Ihrem Antrag anzumerken; leider Gottes komme ich wegen meiner Redezeit nicht mehr dazu. Aber es sei mir erlaubt, den Punkt 10 aufzugreifen, weil ich glaube, dass er das Selbstverständnis der Linken und die Art und Weise, wie Sie zur Selbstständigkeit stehen, deutlich macht. Da steht nämlich der großartige und glorreiche Vorschlag – ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten –: „Mitbestimmung und Verbandsklagerecht“. Sie wollen also – wohlgemerkt: für Selbstständige – ein Mitbestimmungs- und Verbandsklagerecht kreieren. Da heißt es: Die Bundesregierung legt eine Analyse vor, wie die Selbstorganisation von Selbstständigen zu fördern ist und Möglichkeiten der Mitbestimmung in Betrieben geschaffen werden können. Usw. usw.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die größte Mitbestimmung bei Solo-Selbstständigen haben sie selbst. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Keine Zwiegespräche, bitte. Vielen Dank für Ihren Beitrag, Herr Kollege Straubinger. Sie sind jetzt am Ende Ihrer Rede.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, diese Mitbestimmungsklausel kann man nicht mehr erweitern. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Straubinger, ich werde Ihnen wirklich gleich das Mikrofon abschalten.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion der SPD die Kollegin Ulla Schmidt. ({0})

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Müller! Es geht ja gar nicht darum, alle Selbstständigen oder Solo-Selbstständigen über einen Kamm zu scheren. Aber auch Sie können doch nicht leugnen, dass wir eine ganze Reihe von massiven Problemen gerade in diesem Bereich haben. Das kann man besonders deutlich sehen, wenn man sich einmal die Kultur- und Kreativwirtschaft anschaut. Dabei geht es ja nicht nur um diejenigen, die immer in der ersten Reihe und im Rampenlicht stehen. Es geht auch um alle diejenigen, die im hinteren Bereich dafür sorgen, dass Produktionen und vieles andere mehr stattfinden können. Es geht nicht um die Glitzerwelt; denn diese hat in der Regel mit der sozialen Realität vieler Kulturschaffenden überhaupt gar nichts zu tun. ({0}) Deshalb hat dieses Thema auch immer wieder das Parlament beschäftigt. Ich erinnere noch einmal daran, dass die von dem kürzlich verstorbenen sozialdemokratischen Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg eingeführte Künstlersozialversicherung ein Meilenstein war – das wissen wir alle –, um mit der Absicherung im Krankheitsfall und der Alterssicherung überhaupt auf den Weg zu kommen. ({1}) Ich finde es gut, dass wir im Koalitionsvertrag festgehalten haben, dass wir uns für den Erhalt der Künstlersozialversicherung einsetzen und prüfen werden, inwieweit sich die Beschäftigungsverhältnisse verändert haben. Damit können wir den neuen Herausforderungen in diesem Bereich gerecht werden. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige sozialpolitische Entscheidung. ({2}) Ich finde es außerdem gut und sinnvoll, dass die in der letzten Woche noch geschäftsführende Bundesregierung beschlossen hat, den Gesetzentwurf einzubringen, der eine bestehende Sonderregelung in der Arbeitslosenversicherung für die kurzfristig Beschäftigten erst einmal verlängert hat; denn ansonsten wäre diese Regelung am 31. Juli ausgelaufen. ({3}) Damit haben wir erst einmal die Mindeststandardsicherung weiter geregelt. Ich sage aber auch: Das ist kein Ja bis zum Jahr 2021. Wir sind absolut gefordert, uns sehr schnell und sehr intensiv mit dieser Regelung auseinanderzusetzen. Heute sprechen alle Daten und Zahlen dafür, dass das, was wir dort geregelt haben, nicht so ganz funktionieren kann; denn sonst hätten im Zeitraum von 2015 bis 2016 nicht nur 239 Anträge auf Arbeitslosengeld bewilligt werden können. Das muss man ganz klar feststellen. ({4}) Die Regelung, nach der man heute in einem Engagement nicht länger als 10 Wochen befristet beschäftigt sein darf bzw. im Westen nicht mehr als 3 045 Euro oder im Osten nicht mehr als 2 695 Euro verdienen darf, um Ansprüche geltend zu machen, hat mit der Realität nichts mehr zu tun. Wir müssen uns dem zuwenden, was heute Realität ist. Das kann man auch den Daten und Unterlagen, die uns die Berufsverbände gegeben haben, entnehmen. Diese zeigen, dass das befristete Engagement, also die Verträge kurzfristig Beschäftigter, heute in der Regel zwischen zwei Wochen und drei Monaten dauert und dass die Verdienstgrenze oft überschritten wird, danach aber eine längere Zeit folgt, in der man kein Einkommen hat und auf die Arbeitslosenversicherung angewiesen ist. Wir müssen uns mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wir müssen Änderungen beschließen, damit die Menschen, die in der Zeit, in der sie kurzfristig beschäftigt sind, oft hohe Beträge in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, auch einen Rechtsanspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Ich freue mich dabei auf die Zusammenarbeit in der Koalition, und ich denke, wir kommen zu einem guten Ergebnis. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man manchmal die Gelegenheit, zu reagieren und zusammenzufassen, was debattiert wurde. Die soziale Lage und Absicherung von sogenannten Solo-Selbstständigen – es ist ja nirgendwo im Gesetz definiert, was Solo-Selbstständige sind – ist für uns als CDU/CSU-Fraktion seit längerer Zeit tatsächlich ein Thema, auch wenn der eine oder andere in seiner Rede gesagt hat, dass das nicht so sei. ({0}) Diese mutigen, innovativen, risikofreudigen Menschen, die Unternehmen gründen, sind für uns eine relativ wichtige Gruppe. Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben in Ihrer letzten Rede zu diesem Thema im letzten Jahr gesagt: Wir wünschen uns mehr davon. – Ja, das geht uns ganz genauso. Es ist unstrittig, dass bei Selbstständigen, die nirgendwo anders obligatorisch abgesichert sind, Handlungsbedarf besteht. Das haben wir auch in den Debatten gesagt, schon im Regierungsprogramm von vor vier Jahren verankert – Herr Kapschack, wir haben uns aus anderen Gründen nicht geeinigt, als Sie vorhin gesagt haben – und in Parteitagsbeschlüssen bestätigt. Als Volks- und Mittelstandspartei wollen wir jetzt zusammen mit der SPD dieses Thema angehen. Zwei der Vorredner haben bereits erwähnt, dass das in unserem Programm steht. Wir haben uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, den sozialen Schutz von Selbstständigen zu verbessern, indem wir eine gründerfreundlich ausgestaltete Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen einführen, die nicht bereits anderweitig abgesichert sind. Es ist natürlich immer die Frage, wer diese Solo-Selbstständigen sind. Es gibt sehr unterschiedliche. Die Gruppe, die Sie beschrieben haben, ist hier vertreten; es gibt allerdings auch ganz andere Gruppen, also einen großen Variantenreichtum. Ich selbst war sieben Monate lang mit einer Ich-AG selbstständig, und auch in meiner Familie gab es sie. In den letzten Tagen habe ich mit verschiedenen Leuten gesprochen, deren Situationen kaum miteinander vergleichbar waren. Es geht hier also um ein differenziertes Reagieren. Keines gleicht dem anderen. Zudem kann sich die finanzielle Lage sehr schnell ändern, und Selbstständige können für eine bestimmte Zeit auch einen Mitarbeiter beschäftigen. Das muss geregelt sein. Das ist – die Kollegin Schimke ist darauf eingegangen – sehr differenziert und sehr komplex. Die Antworten, die die Linken hier vorgeschlagen haben, sind uns zu einfach. Der Ausgangspunkt der Regelung, die wir jetzt in Betracht ziehen, ist der Koalitionsvertrag. Darin gehen wir auch schon auf das ein, was Sie angesprochen haben – das können Sie dort nachlesen –, nämlich darauf, dass die Mindestkrankenversicherungsbeiträge reduziert werden. Dafür sind wir sehr dankbar. Der Grundgedanke hinter dem Ganzen ist: Entweder geht der Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung – Sie wollen ja keine andere Option zulassen –, oder er weist zur Befreiung von dieser Verpflichtung nach, dass er im Rahmen der Altersvorsorge so viel angespart hat – er kann das auch auf andere Weise sichern –, dass garantiert ist, dass er später mehr als das Grundsicherungsniveau erreichen kann. Hier ist uns die Wahlfreiheit wichtig. Sie haben sie in den Mittelpunkt gestellt, aber auch für uns ist sie wichtig. Zum Schluss geht es um Subsidiarität, Eigenverantwortung und die Freiheit, wählen zu dürfen. Es gibt Gedanken, die für diese Wahlfreiheit sprechen. Hier gibt es ein paar Fragen, bei denen wirklich noch Klärungsbedarf besteht und die wir beantworten müssen. Ich denke an die notwendige Höhe, die Mittel zur Erfüllung der Absicherungspflicht und die Jahre, die möglicherweise begrenzt sein müssen. In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass wir hinsichtlich der Krankenversicherung – ich habe das gerade erwähnt – einiges schon geklärt haben. Ich komme zum Schluss. Diese Fragen, die berechtigt sind und die man tatsächlich beantworten muss, werden wir, wie im Koalitionsvertrag versprochen, im Gesetzgebungsverfahren beantworten. Herr Strengmann-Kuhn, wir kümmern uns an dieser Stelle um die Zukunft. Wir müssen allerdings darauf achten, dass die Selbstständigen durch die Beitragslast nicht überfordert werden – ganz besonders in den ersten Jahren. Die Leistungsfähigkeit der Selbstständigen im Hinblick auf ihre soziale Absicherung muss insgesamt berücksichtigt werden. Soll heißen: Wir haben verstanden, freuen uns über die veränderten Bedingungen – auch dadurch, dass wir mit Ihnen als Koalitionspartner ({1}) jetzt eine Schnittmenge gefunden haben – und machen uns nun an die Arbeit.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie freundlicherweise zum Schluss, Herr Kollege?

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Letzter Satz, versprochen!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Gut.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich das nächste Mal zu diesem Thema reden darf, dann hoffe ich, diese Rede mit dem Satz beginnen zu können: Was lange währt, wird endlich gut. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Heinrich. – Mit den letzten Worten von Ihnen schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich stelle fest: Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Abschluss eines langen Plenartages mal ein Thema, das wohl kein Aufregerthema sein wird. Im März 2017 hat das Vorgängerparlament, 18. Wahlperiode, nachts um 1.30 Uhr, ({0}) also noch zu einer ganz anderen Zeit als jetzt, ein Zustimmungsgesetz zu einem Abkommen auf EU-Ebene zur Einrichtung eines einheitlichen Patentgerichts beschlossen. ({1}) – Ein Abkommen zur Einrichtung eines einheitlichen Patentgerichts. So weit, so gut. Gegenstand des Abkommens ist, dass eine ausschließliche Zuständigkeit für sämtliche Patentstreitigkeiten geschaffen wird, die auf europäischen Patenten beruhen. Das ist ein Problem, weil unser Artikel 92 Grundgesetz regelt, wer in Deutschland die Rechtsprechung ausübt, nämlich das Bundesverfassungsgericht, die Gerichte des Bundes und die der Länder. Wenn man also einen Teil der Rechtsprechung herausstanzt und auf ein europäisches oder ein anderes Gericht überträgt, dann ist dafür eine Änderung der Verfassung notwendig. Dazu sagt Artikel 79 Grundgesetz, dass man dafür eine Zweidrittelmehrheit braucht. ({2}) Nun waren allerdings an dem Abend oder an dem frühen Morgen, je nachdem, wie man es sieht, ganze 35 Abgeordnete anwesend – ausweislich des Videomitschnitts des Parlamentsfernsehens. Manchmal ist Transparenz auch nicht so gut. Ein Einschub: Ich weiß nicht, ob es nur der AfD-Fraktion so geht, dass die Bilder von einem fast leeren Plenarsaal Unbehagen auslösen. Das Ansehen des Parlaments wird dadurch sicherlich nicht gesteigert. ({3}) – Erzählen Sie das den Menschen draußen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie zur Sache sprechen würden. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zurück zur Sache. – Mit der Behauptung einer formellen Verfassungswidrigkeit wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das hat das Bundesverfassungsgericht veranlasst, den Bundespräsidenten zu ersuchen, das Gesetz nicht zu unterschreiben. So geschah es. In diesem Verfahren befindet es sich jetzt. Der Bundestag wurde im Zuge des Verfassungsbeschwerdeverfahrens im Rechtsausschuss wieder mit der Sache befasst ({0}) und gab eine Stellungnahme ab, die in etwa lautete, das sei alles kein Problem; denn das sei von der Befugnis umfasst, Kompetenzen zu übertragen, Stichwort Artikel 23 Grundgesetz. Das scheint mir eine steile These zu sein; denn wenn das richtig wäre, dann würde zwar normalerweise ein verfassungsänderndes Gesetz der Zweidrittelmehrheit bedürfen, aber wenn man zusätzlich noch Kompetenzen abgäbe, dann eben nicht. Das ist ein Wertungswiderspruch, den ich gerne erläutert hätte. ({1}) Unserer Ansicht nach ist zu befürchten, dass diese Verfassungsbeschwerde Erfolg hat. Immerhin ist in rund anderthalb Jahren bis jetzt keine A-limine-Abweisung wegen offensichtlicher Erfolglosigkeit, wegen Unbegründetheit erfolgt. Sollten die Alarmglocken klingeln und Zweifel an der formellen Verfassungsgemäßheit hier erlassener Gesetze aufkommen, sollte man das nicht dem Bundesverfassungsgericht vor die Füße kippen, sondern wir könnten das als Verfassungsgeber bereinigen, indem wir zum Beispiel das Gesetz aufheben. Dann mag gerne ein Entwurf vorgelegt werden, in dem das Übereinkommen erneut eingebracht wird und diesmal mit der erforderlichen Mehrheit verabschiedet wird, wenn sich denn eine solche Mehrheit findet. ({2}) In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun der Kollege Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, um noch auf einige Dinge einzugehen, die eben gesagt wurden und die man nicht so stehen lassen kann. Sie haben zwar kurz den Begriff „Europäisches Patent“ genannt, Herr Kollege. Sie haben aber ein Stück weit den Eindruck vermittelt, als wollten wir, wie es auch in Ihrem Antrag steht, die Gerichtsbarkeit von Bund und Ländern hier aufheben. Man muss deutlich sagen, dass das nicht der Fall ist. Das, was hier vereinbart werden soll und auch in dem Vertrag geregelt ist, ändert zumindest an allem, was wir an nationaler Gerichtsbarkeit, an nationalen Schutzrechten und an nationalen Schutzsystemen haben, erst einmal gar nichts. Das bleibt alles so bestehen, wie wir es jetzt haben. Darüber hinaus bleibt auch bei den Europäischen Patenten, die über das Europäische Patentamt beantragt werden können und nach jetziger Rechtslage dann in sogenannte Bündelpatente zerfallen und nationalem Rechtsschutz in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgesetzt sind, alles genau so bestehen, wie es nach jetziger Rechtslage ist. ({0}) Der dritte Punkt ist die Änderung, um die es geht. Fakultativ soll die Möglichkeit bestehen, bei Patenten im europäischen Rahmen ein sogenanntes Einheitspatent zu haben, das dann Rechtsschutz gewährt, und zwar einheitlich in allen Mitgliedstaaten, was bei Patenten, die weit über Nationalstaaten hinauswirken, auch sinnvoll sein kann. An dieser Stelle kann doch kein Mensch davon sprechen, dass die Gerichtsbarkeit von Bund und Ländern aufgehoben wird. Vielmehr wird damit eine Rechtssituation weiterentwickelt, meine Damen und Herren. ({1}) Ein zweiter Punkt, den Sie jetzt nicht mehr angesprochen haben, der in Ihrem Antrag aber eine große Rolle spielt, betrifft die richterliche Unabhängigkeit, die Sie anzweifeln. Diese Argumentation finde ich schon ziemlich gewagt. Sie begründen Ihre Auffassung damit, dass in den sogenannten Beratenden Ausschuss Rechts- oder Patentanwälte berufen werden können. Dieser Beratende Ausschuss wählt aber nicht am Ende die Richter, wie teilweise suggeriert wird, sondern erarbeitet eine Vorschlagsliste, die mindestens doppelt so viele Kandidatinnen und Kandidaten enthalten muss, wie später vom Verwaltungsausschuss – das ist das Wahlgremium – tatsächlich gewählt werden können. Ihre Argumentation lautet nun: Wenn in diesem beratenden Gremium Rechts- oder Patentanwälte vertreten sein können, die für ein Wahlgremium eine Vorschlagsliste erstellen, aus der das Wahlgremium dann Kandidaten auswählt, werden die Richter sich den Patent- und Rechtsanwälten später so verpflichtet fühlen, dass sie am Ende nur noch willfährige Urteile abgeben, also nicht mehr unabhängig sind. Wenn man so wenig Vertrauen in das Rechtssystem hat, meine Damen und Herren, dann weiß ich nicht, wo­rüber wir hier diskutieren. Es ist völlig normal, dass in beratenden, vorbereitenden Gremien Leute sitzen, die aus der Branche kommen und nicht völlig fachfremd sind. Genau deswegen gibt es ein zweistufiges Verfahren. Das ist absolut richtig und hat nichts mit verfassungsänderndem Charakter zu tun. ({2}) Man muss aber auch Folgendes sagen: Das sind alles Rechtsfragen, die am Ende geklärt werden können. Man spricht sie nur deshalb an, weil sie möglicherweise einen Mechanismus auslösen, der formal zu anderen Beschlussfassungen hätte führen können, wenn man denn der Auffassung ist, dass sie so durchgeführt werden müssten. Wenn es Ihnen darum ginge, hätten Sie darum gebeten, hier ein neues Verfahren einzuführen oder Ähnliches. Sie beantragen hier aber die Aufhebung, weil es Ihnen um etwas anderes geht und Sie in der Sache dagegen sind. Insofern müssen wir darüber reden, ob wir das Europäische Patentgericht und auch das einheitliche Europäische Patent an dieser Stelle haben wollen. Ich sage Ihnen für die Unionsfraktion ganz klar: Ja, wir wollen das so haben. Denn was wollen wir denn? Wir wollen einerseits die nationalen Schutzrechte, die wir heute haben, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen erhalten. Oft reicht ihnen das. Oft brauchen sie keine weiteren Rechte. Gerade für Zulieferbetriebe, die Erfindungen machen und besondere Patente anmelden, reicht häufig der nationale Schutz aus. Ihn wollen wir erhalten. Das ist gar keine Frage. Gleichzeitig wollen wir aber auch das schaffen, was innerhalb der Europäischen Union nun seit 50 Jahren diskutiert wird – einen Rechtsschutz, der über den Schutz des Nationalstaats in besonderen Situationen hinausgeht. Denn im Moment gibt es tatsächlich keine entsprechende Möglichkeit. Man kann nur, wie gesagt, über das Europäische Patentamt ein Europäisches Patent beantragen, das aber sofort in ein sogenanntes Bündelpatent zerfällt und dann nur in jedem einzelnen Mitgliedstaat für sich Rechtsschutz gewährt. Das führt dazu, dass Sie am Ende 25 unterschiedliche Verfahren haben. Sie haben möglicherweise 25 Verfahren, in denen Patentrechte angegriffen und verteidigt werden können, und Sie haben am Ende eine völlige Rechtsunsicherheit und eine Rechtssituation, die völlig ungleich ist. Das kann man denen, die Forschung und Innovation in einem einheitlichen Binnenmarkt vorantreiben, nicht zumuten. ({3}) Wir brauchen eine zeitgemäße Lösung, die nicht völlig auf die Vergangenheit gerichtet ist und sich von anderen Nationalstaaten abschottet, meine Damen und Herren. ({4}) Was man dabei auch berücksichtigen muss, ist die Frage, wer am Ende den Nutzen hat. 40 Prozent aller europäischen Patentanmeldungen kommen schon heute aus Deutschland. Gerade die deutschen Unternehmen sind es doch, die den Nutzen davon tragen. Für die müssen wir doch nun endlich zeitgemäße Lösungen schaffen, statt zu glauben, dass wir das Rad zurückdrehen und uns völlig abschotten können. Wie oft haben wir darüber diskutiert – Sie in der Vergangenheit und vielleicht darf ich das in Zukunft mittun –, dass wir in Forschung und Innovationen investieren müssen. Wir haben gerade eine Exzellenzstrategie beschlossen. Alle sind sich einig: Wir müssen etwas dafür tun, um voranzukommen, damit Deutschland zukunftsfähig ist und wir Innovationen haben. Und dann sind wir nicht bereit, Forschern, die Erfindungen machen, die Möglichkeit zu geben, sie über die nationalen Grenzen hinaus schützen zu lassen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, meine Damen und Herren. ({5}) Deswegen müssen wir am Ende die Entscheidung treffen: Wollen wir rückwärtsgewandt Abschottungspolitik betreiben, oder schaffen wir in dem einheitlichen Binnenmarkt, den wir haben, für bestimmte Situationen, die über die nationalen Staaten hinausgehen, einheitliche Regelungen? Wir sind der Auffassung: Letzteres ist richtig. Und ich hoffe und bin mir sicher: Am Ende wird das auch die Mehrheit des Hauses sein. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Respekt: die erste Rede im Hohen Hause, und das unterhalb der verabredeten Redezeit. ({0}) Das Wort hat Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetzespaket, um das es hier geht – zum einen zur Aufhebung des Gesetzes zu dem Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht und zum anderen zur Aufhebung des Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rechts über das Übereinkommen –, ist hier im Hause beraten worden, auch wenn nicht viele Kolleginnen und Kollegen zu jener Stunde anwesend waren. Aber es war nachts, und das ist ein Thema, das man vielleicht einmal an anderer Stelle aufgreifen muss. Vielleicht haben wir auch ein bisschen mehr Zeit, über die Dinge zu reden, wenn wir uns nicht mit solchen Anträgen wie heute aufhalten müssen. ({0}) Aber diese Frage wollte ich nur sozusagen in Klammern anschneiden. Aber dennoch ist es ein Gesetz gewesen, das mit den hier Anwesenden einstimmig verabschiedet wurde. Ich finde, auch das muss man sich erst einmal vor Augen halten, nämlich dass es etwas ist, das materiell-rechtlich die Zustimmung von allen Fraktionen in der letzten Legislaturperiode gefunden hat. Insofern kann ich mich meinem Vorredner nur anschließen, dass hier eine Lücke geschlossen und ein einheitlicher Patentschutz geschaffen wird, der bislang fehlt. Es ist in der Tat nicht so, dass irgendetwas ersetzt wird, sondern es wird eine Ergänzung für ein europäisches Recht geschaffen: eine europäische Rechtsschutzmöglichkeit und eine entsprechende Gerichtsbarkeit. Insofern finde ich es ein bisschen verfälschend, wenn Sie es so hinstellen, als ob hier etwas abgeschafft werden soll bzw. als ob hier materiell-rechtlich etwas weggenommen werden soll. Zu den Verfahrensfragen muss ich sagen: Ich empfinde es regelrecht als absurd, wenn Sie meinen, man müsse die Gesetze, die hier angesprochen wurden, abschaffen, und zwar aus folgendem Grund: Zunächst einmal ist – Sie haben es erwähnt – eine Verfassungsbeschwerde anhängig. Diese Verfassungsbeschwerde nimmt genau zu den Fragen, die hier anstehen und die Sie aufgeworfen haben, auch ganz unabhängig von Ihrem Antrag Stellung. Das Verfassungsgericht wird sich mit diesen Fragen beschäftigen. Wenn Sie jetzt diesen Antrag vorlegen, dann sagen Sie damit nichts anderes, als dass die Prüfung, die das Verfassungsgericht gerade vornimmt und die Sie offenbar auch verfolgen, von Ihnen gar nicht gewollt ist. Sie wollen offenbar gar nicht, dass es zu dieser Prüfung kommt. Denn wenn das Gesetz abgeschafft würde, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, dann hat das Verfassungsgericht ja keinen Klärungsbedarf mehr. Deshalb frage ich mich, ob nicht eine gewisse Hasenfüßigkeit Ihrerseits existiert, eine verfassungsrechtliche Fragestellung in den Raum zu stellen, die Sie eigentlich nicht ernsthaft zu hinterfragen bemüht sind. ({1}) Dann stellt sich die Frage, ob tatsächlich eine Verfassungswidrigkeit angenommen werden kann. In diesem Zusammenhang möchte ich noch etwas zum Hergang des ganzen Prozesses sagen. Sie unterstellen, dass die Verfassungswidrigkeit glasklar gegeben ist. Mit der Einreichung der Verfassungsbeschwerde wurde damals einstimmig beschlossen – nicht hier im Haus, wohl aber durch die Obleute –, eine Stellungnahme einzuholen; das haben Sie als AfD mit beschlossen. Die Stellungnahme besagt, dass das Gesetzespaket verfassungskonform ist. Wir haben als Bundestag diese Stellungnahme zur Kenntnis genommen, auch inhaltlich. Das haben Sie ebenfalls bestätigt. Die Frage lautet, woran Sie sich eigentlich stören. Einerseits verfolgen Sie eine Aufhebung der Gesetze. Andererseits stellen Sie angesichts Ihres Verhaltens in diesem ganzen Prozess die Verfassungsmäßigkeit offenbar gar nicht mehr infrage. Da die Zeit wegrennt, möchte ich noch eine letzte, kurze Anmerkung machen. Herr Reusch, Sie haben in Ihrer Rede davon gesprochen, dass alles erneut aufgerollt werden solle. Wir sollen hier im Haus alles abschaffen, um es dann mit einer Zweidrittelmehrheit noch einmal zu beschließen. Ich möchte daran erinnern, dass Sie in Ihrem Antrag derartige Vorwürfe gegenüber den Gesetzen erheben, dass davon auszugehen ist, dass Sie auch mit einer Zweidrittelmehrheit nicht zufrieden wären. Sie sprechen davon, dass es den Richtern am Einheitlichen Patentgericht an der richterlichen Unabhängigkeit fehle; das hatte mein Vorredner schon aufgegriffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Scheer, Sie müssen einen Punkt setzen.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letzter Satz. – Wenn Sie das weiterhin verfolgen wollen, müssen Sie auch Ihren Antrag ändern. Die Aufhebung Ihres Antrags wäre eigentlich die konsequente Verfahrensform. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roman Müller-Böhm für die FDP-Fraktion. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich halte diesen Antrag mit dem geplanten Vorgehen für höchst fragwürdig und bedenklich. Der Deutsche Bundestag soll nach Willen der AfD-Fraktion etwas feststellen, was ein Sammelsurium aus falschen und nicht geklärten Aussagen ist. Sie schreiben, dass mit dem Einheitlichen Patentgericht erstmals ein internationales Gericht geschaffen werde, welches Zuständigkeiten im Privatrecht habe. Meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD, ich muss doch den Juristen Ihrer Fraktion bestimmt nicht sagen, was Gegenstand von Vorlageverfahren zum Europäischen Gerichtshof sein kann. Sie werden doch über privatrechtliche Verfahren an internationalen Gerichten Bescheid wissen. Interessant ist vor allem das, was Sie nicht sagen, was Sie verschweigen. Sie sagen, dass die Richterbesetzung nicht korrekt ablaufen werde. Die Stellen werden tatsächlich öffentlich ausgeschrieben, und der Beratende Ausschuss gibt eine Stellungnahme zur Bewerberlage ab. Er hat jedoch nicht die Befugnis, Einfluss auf die Bewerber zu nehmen oder gar jemanden auszuschließen. Sie zeichnen also in diesem Punkt ein gänzlich falsches Bild. ({0}) Dass die Richterernennung nicht exakt nach deutschem Vorbild verläuft, ist, glaube ich, in einem Europa der verschiedenen Rechtstraditionen nur allzu verständlich. Wir leben hier die europäische Idee, ob es Ihnen gefällt oder nicht. ({1}) Wenn Ihnen das noch nicht ausreicht: Artikel 17 des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht befasst sich mit der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Da wird ausdrücklich vorgesehen, dass ein Richter im Fall der Befangenheit sich entschuldigen muss und nicht an dem Verfahren teilnehmen kann. Darüber hinaus ist es in höchstem Maße anmaßend, dass Sie sich als Teil der Legislative einen verfassungsrechtlichen Urteilspruch erlauben. Sie greifen damit der judikativen Bewertung vollkommen vorweg. Dabei stellen Sie sich sonst als Hüter der Verfassung dar. Sie offenbaren aber hier in Perfektion, dass Sie selber ein sehr bedenkliches Verfassungsverständnis besitzen. Die Gewaltenteilung lässt grüßen. ({2}) Das Europäische Patentübereinkommen wurde von allen Mitgliedstaaten ratifiziert. Man hat sich auf das Verfahren – bis hin zur Patenterteilung – verständigt. Die gemeinsame Durchsetzung und Rechtsprechung nach der Patenterteilung ist damit eigentlich nur folgerichtig. Dem fragmentierten Patentmarkt und den beträchtlichen Unterschieden zwischen den nationalen Gerichtssystemen wirken wir damit entgegen. Genau das schafft Rechtssicherheit und schützt damit kleine und mittlere Unternehmen vor ungerechtfertigten und zahlreichen Klagen. ({3}) Das ist auch für den Mittelstand ein wichtiger Standortvorteil in der Europäischen Union, und genau das lobt die Patentanwaltschaft, die ja dieses System seit Jahren im Sinne der Anwenderschaft positiv begleitet hat. Es ist eben nicht so, wie von Ihnen behauptet, dass die gesamte und ausschließliche Zuständigkeit für Patentfragen einem einheitlichen Patentgericht unterliegen soll. Nur wenn es sich um europäische Patentanmeldungen handelt, ist ein Einheitliches Patentgericht ausschließliche Gerichtsbarkeit. Europäische Patentanmeldung, europäische Gerichtsbarkeit – klingt vernünftig, ist es nämlich auch. Es bleibt aber nach wie vor für deutsche Patente der deutsche Rechtsweg offen. Wir schaffen damit ein rechtsstaatlich vernünftiges System. Gerade an den Schnittstellen nationaler und europäischer Patentrechte werden damit klare Regeln geschaffen. Doppelpatentierung – ja, Doppeldurchsetzung – nein. Ich frage mich dann aber schon, warum Ihre Fraktion die Benennung eines Prozessbevollmächtigten für die Verfassungsbeschwerde unterstützt hat, gleichzeitig jetzt aber das laufende Verfahren und die Entscheidung unseres höchsten deutschen Gerichtes nicht beachten möchte. Das ist aus meiner Sicht an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten. ({4}) Meine Damen und Herren der AfD, jetzt einmal Butter bei die Fische: Sie fordern, das Gesetz abzuschaffen, sagen aber nichts darüber, wie Sie eigentlich den Inhalt des Gesetzes sehen. Wollen Sie das Einheitliche Patentgericht – ja oder nein? Wenn ja, wie wollen Sie es ausgestalten? Sie wissen doch ganz genau, dass alle Ausschüsse den Gesetzentwurf damals einstimmig befürwortet haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass es jetzt bei einer erneuten Abstimmung genauso wäre. Wenn auch Sie das Einheitliche Patentgericht sinnvollerweise befürworten, dann war diese Diskussion doch wieder nur eins: Effekthascherei. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat Friedrich Straetmanns das Wort. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Der Antrag der AfD, das Gesetz über die Einrichtung eines Patentgerichts auf europäischer Ebene aufzuheben, steht heute auf der Tagesordnung: ein Gesetz aus der letzten Wahlperiode zur Einrichtung eines Patentgerichts, das die deutschen Patentgerichte ergänzen soll. Letztendlich ist dies eine Übertragung von deutschen Hoheitsrechten auf die europäische Ebene. Das berührt mich als Richter auch fachlich sehr. Ziel des Gesetzes ist es, die Rechtsverletzung eines EU-Patents nicht in jedem europäischen Staat verfolgen zu müssen, sondern dies durch ein Einheitliches Patentgericht für die ganze EU rechtlich regeln zu lassen. Das Gesetz – angesprochen wurde es schon – liegt zurzeit dem Bundesverfassungsgericht zur rechtlichen Prüfung vor. Deshalb einige Worte zur Gesetzesinitiative der AfD, die immer wieder behauptet, dass sie die einzige Fraktion im Bundestag ist, die hier arbeitet. Das stimmt so nicht. ({0}) Arbeiten hätte die AfD hier können. Sie hat diese Zusammenarbeit verweigert. Bei Verfahren zu Gesetzen, die dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorliegen, finden mit allen Fraktionen sogenannte Berichterstattergespräche statt. In diesen erfolgen eine Bewertung und kritische Begleitung des Gerichtsverfahrens. Das wird so gemacht, weil das Bundesverfassungsgericht für uns eine besonders wichtige Rolle in unserer Gesellschaft hat. Ihre Abgeordneten haben es aber fast durchgehend für nicht nötig befunden, diese Arbeit bei den Berichterstattergesprächen anzunehmen und haben stattdessen an den Gesprächen oft nicht teilgenommen. ({1}) Das ist weder Mitarbeit noch eine Vertretung der Interessen der Wählerinnen und Wähler. ({2}) Sagen Sie das eigentlich Ihren Wählerinnen und Wählern? Auf die Antwort bin ich sehr gespannt. In Wahrheit wollen Sie mit Ihrem Antrag doch etwas anderes bewirken: Sie wollen die EU schwächen, ohne eine Alternative aufzuzeigen. Zu diesem Zweck greifen Sie das Gesetz über das Patentgericht an. ({3}) Ihr Verhältnis zur EU ist geprägt durch Ihr arrogantes deutsches Selbstverständnis und durch ein permanentes Überlegenheitsgefühl gegenüber unseren europäischen Nachbarn. ({4}) Nach 1945 ist es aber gerade ein deutsches Vermächtnis, in Europa friedlicher und partnerschaftlicher Nachbar zu sein. Das drückt sich gerade auch in der Zusammenarbeit in der EU aus, und dazu gehört die Einrichtung eines gemeinsamen Patentgerichts. ({5}) Sie von der AfD wollen das gar nicht; deshalb auch Ihr Antrag. Ich habe in zahlreichen Berichterstattergesprächen deutlich gemacht, dass wir etwas anderes in den Mittelpunkt stellen: Nützt dem Tüftler mit seiner Erfindung die Einrichtung dieses europäischen Patentgerichts? Ist der Zugang leicht und einfach für ihn? Ist der Aufwand für die Anrufung leistbar für den einzelnen EU-Bürger? Das sind Fragen, die für uns im Mittelpunkt stehen sollten. Die EU, ihre Gerichte und Einrichtungen müssen bürgerfreundlich sein und damit den Bürgern dienen. Nur zur Klarstellung: Wir sind EU-Freunde, wollen aber eine sozialere und friedlichere Union. ({6}) Das ist das, was uns von allen anderen Fraktionen deutlich unterscheidet. ({7}) Für uns geht eben nicht der Markt vor, sondern die Menschen. Für uns sind nicht die Interessen der Banken und Konzerne entscheidend, sondern eine angemessen hohe Besteuerung und die Vermeidung von Steuerflucht. ({8}) Deshalb ist es notwendig, die EU neu zu justieren. Sie werden erkennen, dass beispielhaft für diese gescheiterte EU-Politik, die zurzeit stattfindet, der Luxemburger Steueroptimierungspolitiker Jean-Claude Juncker steht. Wer solche Aushängeschilder hat, muss sich um den Ansehensverlust der EU, der auch in diesem Antrag der AfD zum Ausdruck kommt, keine Gedanken machen. Der Name, den ich gerade genannt habe, steht für Sumpf, Verbandelung mit Konzernen und für die schlechte Seite der EU. ({9}) Ein solcher Geschäftsführer wie Herr Juncker dürfte bei uns in Bielefeld noch nicht einmal die Pommesbude am Hauptbahnhof führen – um das einmal deutlich zu sagen. ({10}) Im Gegensatz zur AfD erkennen wir das Bundesverfassungsgericht an und halten es deshalb für notwendig, das Verfahren vor dessen Entscheidung nicht auszubremsen. Deshalb werden wir dem Antrag der AfD nicht zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Tabea Rößner das Wort. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Debatte sollten wir eigentlich gar nicht führen; denn sie ist überflüssig. ({0}) Das ist umso ärgerlicher, als es viel wichtigere Themen gäbe, mit denen wir uns hier befassen sollten. ({1}) Ja, das Gesetz für ein einheitliches europäisches Patentgericht und das Ratifikationsverfahren sind ausgesetzt und liegen beim Bundesverfassungsgericht. Also lassen wir doch die Verfassungsrichter entscheiden! Eines ist besonders bizarr. Der Bundestag hat beschlossen, eine Stellungnahme beim Bundesverfassungsgericht abzugeben und einen gemeinsamen Prozessbevollmächtigten zu bestellen, der den Bundestag in diesem Verfahren vertritt. Dem haben alle Fraktionen zugestimmt, auch die AfD. Von einem Versuch Ihrerseits, auf den Inhalt der Stellungnahme einzuwirken oder gar eine eigenständige abzugeben, habe ich nichts mitbekommen. Es handelt sich um ein gemeinsames Vorgehen, auf das wir uns alle hier verständigt haben. Jetzt machen Sie copy and paste und übernehmen in Ihrem Antrag Teile der Verfassungsbeschwerde wortwörtlich. Das heißt, Sie führen Argumente an, gegen die Sie gleichzeitig in Karlsruhe vorgehen. Das sind übrigens keine Fake News, das kann jeder im Plenarprotokoll vom 13. Dezember 2017, Seite 361, nachlesen. Diesen Widerspruch müssen Sie mir erst mal erklären. ({2}) Es drängt sich die Frage auf, ob Sie eigentlich wissen, worüber Sie hier abstimmen lassen wollen. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Es geht nicht nur ums Lesen. Es geht um den Gestaltungsauftrag des Bundestages; den haben auch Sie als Abgeordnete angenommen. Von Ihnen kommt aber nichts als heiße Luft. Daher ist diese Debatte aberwitzig, überflüssig, kostet uns alle wertvolle Zeit und den Steuerzahler Geld. ({3}) Ihre Rede richtet sich doch wieder nur gegen Europa. Es geht um ein einheitliches europäisches Patentgericht –, Schlussstein einer Reform, die einen flächendeckenden einheitlichen Patentschutz in Europa eröffnet. Damit könnte Recht in allen teilnehmenden Staaten effizient durchgesetzt werden. Der einheitliche Patentschutz ist zudem ein weiterer Schritt für das Kernstück der europäischen Integration, nämlich den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt. Dieser Errungenschaft haben wir alle ganz wesentlich Wohlstand, viele Jobs und einen florierenden Markt zu verdanken. ({4}) Das brächte endlich Rechtssicherheit, das Problem fragmentierten Rechtsschutzes würde beseitigt und Rechteinhabern viel Aufwand erspart. Und die Reform würde den Technologiestandort Europa stärken, was angesichts aufstrebender Industrien wie China dringend nötig ist. Selbst die Briten, die sich gerade aus der EU verabschieden, haben das erkannt. Auch Großbritannien will die Ratifizierung der Reform weiter voranbringen. Was ist denn Ihre Idee eines zukunftsfähigen Patentsystems? Sie sagen immer nur, was Sie nicht wollen, zeigen aber keine Alternativen auf. ({5}) Es ließe sich das eine oder andere diskutieren. Auch wir haben Kritik geäußert. Aber wir haben wenigstens Vorschläge für faire Patentverfahren gemacht, die die Nachhaltigkeit im Blick haben und vor allem kleine und mittelständische Unternehmen stärken. ({6}) Dieser Antrag reiht sich in Ihre antieuropäische Agenda ein. Sie schießen gegen jede sinnvolle europäische Zusammenarbeit. Nicht jede Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene ist per se verfassungswidrig. Im Gegenteil: Das Grundgesetz selbst ist von dem Willen zur europäischen Integration geprägt, und diesem Verfassungsauftrag verweigern Sie sich. ({7}) Das gemeinsame Patentsystem ist ein konsequenter Schritt nach vorn, Ihr nationaler Egoismus dagegen ein Riesensprung zurück. Die Mitgliedstaaten selbst profitieren am meisten von ihrem Zusammenhalt. Ein soziales, solidarisches Europa ist gerade für die junge Generation bedeutend, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen. Dafür sollten wir unsere Zeit und Energie aufwenden. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Schutz des geistigen Eigentums ist einer der Grundpfeiler für Wohlstand und eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung. ({0}) Die Einigung auf ein gemeinsames Einheitliches Patentgericht ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Ringens um den Schutz des geistigen Eigentums auf europäischer Ebene, weil wir erkannt haben, dass der Schutz von Erfindungen und Gedanken, welche diesen Erfindungen zugrunde liegen, an nationalen Grenzen nicht haltmachen kann, sondern die Erfindung europaweit geschützt und das durch ein einheitliches Verfahren untermauert werden muss. Wenn man sich ansieht, wie diese Reform zustande kam, dann stellt man fest: Das ist ein Meilenstein der europäischen Patentrechtsreform gewesen. Man hat sich darauf geeinigt, dass Patente in drei Sprachen – Deutsch, Englisch und Französisch – ausgestellt werden, dass dieses Reformpaket in Kraft tritt, wenn die größten Länder in der Europäischen Union dem zustimmen und wenn darüber hinaus ein internationales Gericht, auf völkerrechtlicher Basis übrigens, geschaffen wird, welches diese Patente absichert. Ich glaube, wir sollten ein solches Einigungspaket im Bereich des geistigen Eigentums nicht aus Gründen einer Europafeindlichkeit zerreden, sondern stolz darauf sein, dass wir es geschafft haben, in dem sensiblen Bereich der Patente diese Einigung herbeizuführen. ({1}) Jetzt sagen Sie, die Richter an diesem Einheitlichen Patentgericht seien weder unvoreingenommen noch unabhängig, weil ein Beratender Ausschuss, der auch mit Patentanwälten besetzt ist, über dieses Gericht entscheidet. Dazu möchte ich Ihnen sagen, dass Vorschlagslisten für ein Gericht im internationalen, übrigens auch im nationalen Maßstab nichts Neues sind, sondern gängige Rechtspraxis. Übrigens: Auch die Richter an unserem Bundesverfassungsgericht werden aufgrund von Listen gewählt, die wir als Abgeordnete vorlegen, obwohl wir im Rahmen von Organstreitverfahren von der Rechtsprechung dieser Richter möglicherweise betroffen sind. Also: Das Vorschlagsrecht ändert nichts an der Unvoreingenommenheit, zumal die Richter auch nicht wissen, wer sie vorgeschlagen hat. Zudem muss man sagen, dass die Besetzung der Richterstellen an diesem Patentgericht gar nicht durch den Beratenden Ausschuss vorgenommen wird, sondern durch den Verwaltungsausschuss. Dieser Verwaltungsausschuss besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten, die sich wiederum auf eine ununterbrochene Legitimationskette bis zu ihren nationalen Parlamenten berufen können, sodass auch dort kein Demokratiedefizit besteht. Also sollten Sie ein solches auch nicht behaupten. ({2}) Übrigens: Ihr Argument, dass die Möglichkeit einer Wiederwahl der Richter die richterliche Unabhängigkeit einschränkt, ist auch im internationalen Maßstab nicht zutreffend; eine Wiederwahl ist beispielsweise auch beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag möglich. Das sind anerkannte internationale Rechtsgrundsätze, die Sie hier nicht infrage stellen sollten. ({3}) Wenn wir eine Antwort auf die Frage suchen, ob verfassungsrechtlich eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag notwendig war oder nicht, dann empfehle ich, sich die Artikel 23 und 24 des Grundgesetzes einmal ganz genau anzusehen. Artikel 24 ist über 70 Jahre alt. Er besagt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland in zwischenstaatliche oder internationale Organisationen einbringen kann. Zur Lösung vieler Probleme auf der Welt muss ja, wie wir wissen, Souveränität geteilt werden. Ja, man könnte sagen, Artikel 24 besagt, die Bundesrepublik Deutschland ist ein völkerrechtsfreundlicher Staat. Für die Übertragung von Hoheitsrechten ist nur dann eine Zweidrittelmehrheit notwendig, wenn entweder die Europäische Union begründet oder geändert wird oder das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert wird. Eine reine Übertragung von Hoheitsrechten, die Grundrechtsrelevanz hat, ist noch keine Änderung des Grundgesetzes, sondern ein Vorgang, den gerade Artikel 24 vorsieht. Sie ändern aber mit der Errichtung des Einheitlichen Patentgerichtes das Grundgesetz nicht dem Grunde oder seinem Wesensgehalt nach, weil die grundrechtlichen Ansprüche an einen Rechtsschutz gewahrt werden. Es gibt unabhängige Richter, ein Beschwerdeverfahren und die Möglichkeit, entsprechend der eigenen Betroffenheit Klage zu erheben. Somit handelt es sich um ein ganz normal arbeitendes internationales Gericht. Ein solches sieht auch das Grundgesetz vor. Deshalb ist eine Übertragung von Hoheitsrechten in diesem Fall auch ohne die für Verfassungsänderungen vorgesehene Mehrheit möglich. Das sieht das Grundgesetz vor. Sie sollten auch nichts anderes behaupten, sonst diskreditieren Sie das ganze Parlament. ({4}) Ja, wir sind ein Arbeitsparlament. Wir haben uns in den Ausschüssen und in den Fraktionen auf dieses Einheitliche Patentgericht verständigt. Wir sind uns im Deutschen Bundestag seit vielen Jahren einig, dass wir diesen Weg der europäischen Zusammenarbeit gehen wollen und gehen müssen, und haben uns sehr viele Stunden über dieses Thema unterhalten. Deswegen ist es nicht zutreffend, sondern vielmehr als billig zu bezeichnen, dass Sie hier den Bundestag in Geiselhaft nehmen und letzten Endes den Parlamentarismus diskreditieren wollen. Das ist dieses Themas nicht würdig. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sonja Amalie Steffen für die SPD-Fraktion. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Die AfD möchte heute das Übereinkommen über das Einheitliche Patentgericht zu Fall bringen. Der Bundestag hatte diesem Übereinkommen per Gesetz im März 2017 einstimmig zugestimmt. Was die Zeit betrifft, meine Kolleginnen und Kollegen von der AfD – Sie haben das ja in Ihrem Antrag erwähnt –: 1.30 Uhr mitten in der Nacht ist tatsächlich sportlich, insbesondere dann, wenn am nächsten Morgen teilweise schon um 7 Uhr die nächsten Ausschusssitzungen stattfinden. Ich möchte deshalb gerne an dieser Stelle an alle Rechtspolitiker und natürlich auch an alle anderen gerichtet sagen: Die Rechtspolitik kann durchaus interessant sein. Deshalb werbe ich dafür, dass wir zukünftig vielleicht auch einmal zu Kernzeiten spannende Themen diskutieren. ({0}) Die AfD fordert nun, dass der Bundestag dieses Zustimmungsgesetz wieder aufhebt. Das ist Ihnen wohl erst vor kurzem klar geworden, meine Kolleginnen und Kollegen von der AfD; denn am 13. Dezember 2017 – Frau Rößner hat schon darauf hingewiesen – haben wir uns hier im Plenum schon einmal mit diesem Übereinkommen befasst. Damals ging es um die Verfassungsbeschwerde, die beim Bundesverfassungsgericht gegen dieses Zustimmungsgesetz anhängig ist. Der Bundestag hat an diesem 13. Dezember beschlossen, dass er zu der Verfassungsbeschwerde eine Stellungnahme abgibt und einen Prozessbevollmächtigten bestellt. Die AfD-Fraktion hat dafür gestimmt, dass dies so geschehen soll – mit Ausnahme eines Kollegen. Möglicherweise – ich weiß es nicht – war das Herr Reusch. ({1}) Jedenfalls weiß ich nicht, was Sie von der AfD denken, was so ein Prozessbevollmächtigter eigentlich macht. ({2}) Ich helfe Ihnen da jetzt gerne einmal auf die Sprünge: Unser Prozessbevollmächtigter trägt dem Gericht vor, dass die Verfassungsbeschwerde gegen das beschlossene Gesetz möglichst zurückgewiesen werden soll. Das ist seine Aufgabe. Weshalb stimmen Sie denn an dieser Stelle dafür? Das verstehe ich nicht. ({3}) Aber das ganze Theater geht noch weiter. Unser Prozessbevollmächtigter ist Professor Dr. Heiko Sauer von der Universität Bonn. Er hat einen Schriftsatz entworfen, der mit den Berichterstatterinnen und Berichterstattern aller Fraktion besprochen wurde. Übrigens, Herr Straetmanns, war ausnahmsweise auch ein Berichterstatter der AfD dabei. Ich glaube, es war der Abgeordnete Jens Maier. In unserem Schriftsatz trägt der Prozessbevollmächtigte ausführlich vor, dass die Verfassungsbeschwerde unzulässig und unbegründet ist. Man könnte nun meinen, dass der AfD-Vertreter in diesem Berichterstattergespräch seine grundlegenden Bedenken äußert. Immerhin verlangen Sie heute die Aufhebung des Gesetzes. Aber was soll ich sagen: kein einziges kritisches Wort Ihres Berichterstatters zu diesem Schriftsatz, keine kritische Nachfrage – einfach nichts. Doch jetzt im Plenum holt die AfD die große Keule raus; immer drauf auf Europa und auf den Deutschen Bundestag. Das ist reine Schaufensterpolitik; nur Fassade. ({4}) Eines ist richtig: Die Verfassungsbeschwerde gegen das Übereinkommen wirft schwierige Fragen auf. Wir nehmen das Verfahren deshalb sehr ernst. Ich finde es gut, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit den Fragen beschäftigt. Das ist übrigens kein Vor-die-Füße-Knallen, wie Sie das vorhin genannt haben, sondern es ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Ich hoffe, dass wir das Bundesverfassungsgericht überzeugen können; denn wir sind der Meinung, dass das Übereinkommen keine Grundrechte unserer Bürgerinnen und Bürger verletzt. Vielen Dank fürs Zuhören. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1180 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. März 2018, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Alles Gute bis dahin. (Schluss: 19.42 Uhr)