Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/21/2017

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Bundestag ist seit seiner ersten Sitzung handlungsfähig. Aber wir haben eine gute Tradition, eine Entscheidungsstruktur. Sie beinhaltet entsprechende Ausschussarbeit. Deswegen ist es bewährte parlamentarische Praxis, sogenannte ständige Ausschüsse anhand der Zuschnitte der Ministerien einer neuen Regierung zu organisieren. Nun wissen wir alle – nicht nur aufgrund der gerade gehörten Rede des Bundestagspräsidenten –, dass die Regierungsbildung noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Infolgedessen kann man die ständigen Ausschüsse, gerade mit Blick auf neue Ministerien, noch nicht sinnvoll festlegen. Deswegen haben fünf von sechs Fraktionen heute den gemeinsamen Antrag gestellt, einen Hauptausschuss einzusetzen. Dieser Hauptausschuss soll bis zur Einsetzung der ständigen Ausschüsse als Vorbereitungsgremium für das Plenum und die Entscheidungen hier dienen. Er gilt insbesondere für die Behandlung der Mandate der Bundeswehr, die wir heute hier einbringen, die in diesem Ausschuss entsprechend bearbeitet werden können, bevor sie im nächsten Plenum verabschiedet werden können. Der Hauptausschuss – um das eindeutig zu sagen – ist ganz klar ein vorläufiges Gremium, ein Gremium für einen Übergangszeitraum. Als solches hat es sich, wie schon vorhin vom Bundestagspräsidenten erwähnt, nach der letzten Bundestagswahl bewährt. Wir wollen heute neben dem Hauptausschuss zwei Ausschüsse einsetzen, die eher parlamentsinterne Aufgabenstellungen haben. Das ist der Petitionsausschuss, damit die Menschen in Deutschland nach wie vor Petitionen im Deutschen Bundestag nicht nur einbringen können, sondern auch die Gewähr haben, dass sie dort bearbeitet werden. Und wir wollen einen sogenannten 1. Ausschuss einsetzen, er behandelt Geschäftsordnungsanfragen und Immunitätsangelegenheiten. Auch das ist wichtig und spiegelt sich in beiden Fällen nicht in Ministerien wider. Die Fraktion Die Linke hat sich diesem Antrag nun nicht angeschlossen und möchte diese vierminütige Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer durchführen. Sie fordert stattdessen, heute bereits 22 ständige Ausschüsse entsprechend der Ausschussstruktur der 18. Wahlperiode einzusetzen. Der Ausschuss Digitale Agenda soll allerdings nicht übernommen werden. Das finden Sie vielleicht nicht so wichtig; das ist aber auch egal. ({0}) – Ja, der ist später dazugekommen. Man hätte ihn zusätzlich später erwähnen können. Das ist aber auch nicht so wichtig. ({1}) Sie wollen 22 Ausschüsse einsetzen. Wenn ich es in Ihrem Antrag richtig gelesen habe – ich habe es mir hier aufgeschrieben –, soll die Einsetzung der Ausschüsse anhand der Ressortzuschnitte einer neu zu bildenden Bundesregierung erfolgen. Da sind wir also nicht auseinander. Sie schreiben es selbst. Sie wollen 22 Ausschüsse für einen Übergangszeitraum einsetzen. Das kann man machen, muss man aber nicht. Die Frage ist, ob das sinnvoll ist. 22 Ausschüsse für einen Übergangszeitraum einzurichten, entspricht vielleicht der linken Vorstellung von Effizienz und Organisationsgeschick. ({2}) Wir halten es nicht für sinnvoll, 22 vorläufige Ausschüsse einzurichten und diese dann wieder aufzulösen. Wir glauben: Wenn man mit einem Hauptausschuss die gleiche Wirkung erreichen und die gleiche Arbeit effizienter schaffen kann, ({3}) dann sollten wir diesen auch einsetzen. Alle anderen Fraktionen sind der Auffassung, dass dies nicht nur eleganter ist, sondern auch wesentlich mehr Sinn macht. Deswegen stimmen wir als CDU/CSU-Fraktion für die effiziente und sinnvolle Lösung und nicht für Ihren Antrag. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Abgeordnete Carsten Schneider, SPD.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gemeinsame Antrag zur Einsetzung eines Hauptausschusses zur Schaffung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages, den wir als SPD-Fraktion mitgetragen haben und auch heute mittragen, sieht vor, einen Hauptausschuss einzusetzen, um insbesondere die Vorlagen, die wir heute im Bundestag debattieren werden – es wird um die Auslandseinsätze und um den einen oder anderen Antrag gehen –, auch beraten zu können. Wir haben die Zusage zu diesem Schritt in den Koalitionsverhandlungen 2013 gegeben, wo absehbar war, dass wir in näherer Zeit eine Regierungsbildung erreichen würden. Seit Sonntag ist vieles anders. Von daher sage ich heute hier: Ja, wir setzen diesen Ausschuss ein, um kurzfristig die Arbeitsfähigkeit zu erlangen. Ich sage aber auch zu, dass wir die anderen Ausschüsse in den nächsten Wochen unverzüglich konstituieren werden, weil nicht absehbar ist, wann wir tatsächlich mit einer neuen Regierung zu rechnen haben. ({0}) Wir haben eine geschäftsführende Bundesregierung. Die SPD-Minister stehen zu ihrer Verantwortung und machen sich nicht vom Acker und ergreifen die Flucht, wie die einen oder anderen Parteien es in den letzten Tagen gemacht haben. ({1}) – Herr Lindner, Sie sind der Lars Windhorst der deutschen Politik. Ich finde, Sie sollten ganz still sein. Ganz still sollten Sie heute hier an diesem Tage sein! ({2}) Keine Verantwortung zu übernehmen, den Ausstieg schon lange geplant zu haben und dann so eine Theatralik an den Tag zu legen, ist schon ein starkes Stück. Ich finde, die Schauspielerei sollte jetzt langsam einmal ein Ende haben. ({3}) Wir werden heute hier im Bundestag nicht nur die Auslandsmandate besprechen, sondern auch über die Frage der Finanzhilfen für Irland entscheiden. Ich bin gespannt, wie die Mehrheitsbildung sich hier darstellen wird. Aber all dies bedarf auch einer ordentlichen Beratung in den Ausschüssen. Wir haben funktionierende Ministerien; ich habe das bereits gesagt. Deswegen werden wir unverzüglich – das ist hier jetzt zugesagt – einen Einsetzungsbeschluss fassen, damit wir diesen Bundestag vollumfänglich in Arbeit und in die Gänge bringen. Ich glaube, dieses Land hat das verdient. Die SPD steht dafür zur Verfügung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Abgeordnete Dr. Baumann, AfD.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns dem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen außer der Linken angeschlossen. In diesen unsicheren Zeiten, die durch die gescheiterte Regierungsbildung noch unsicherer geworden sind, müssen wir jetzt sehr schnell zu einer Ausschussarbeit kommen, die sofort funktioniert. Das bewirkt dieser interfraktionelle Antrag von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und den Grünen zumindest vorübergehend. Aber die Zeit parlamentarischer Rücksichtnahme angesichts der Bildung einer Regierung, die nicht zustande kommt, wird aus AfD-Sicht begrenzt sein, meine Damen und Herren. ({0}) Sollte sich in den kommenden Wochen zeigen, dass trotz nur geschäftsführender Regierung plötzlich umfangreiche und sehr wichtige Gesetzesvorhaben einfach durchgewunken werden sollen, dann behalten wir uns vor, zur Beratung dieser Gesetze alle dann notwendigen Fachausschüsse umgehend einzufordern – umgehend, meine Damen und Herren! ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Buschmann, FDP.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten ist nicht nur Antragsteller, sondern steht auch hinter diesem Antrag, weil er das Parlament sachgemäß und schnell arbeitsfähig macht, so wie es die Umstände gebieten. Der Hauptausschuss ist ein sachgemäßes Instrument, um vollumfänglich in allen Themenbereichen vertieft beraten zu können. Den Petitionsausschuss, den ja viele sozusagen als einen Ausschuss zweiter Ordnung ansehen, ({0}) halten wir für entscheidend wichtig, weil er seit der Aufklärung das Instrument ist, mit dem sich jeder Bürger an den Souverän wenden kann. Insofern ist es ein gutes demokratisches Zeichen, dass auch dieser Ausschuss schnell eingesetzt wird. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ist neben seiner ursprünglichen Funktion auch deshalb wichtig, weil wir eine ganze Reihe von Anliegen haben, unsere Geschäftsordnung zu modernisieren. Genau diese Dinge können dort sachgemäß beraten werden. ({1}) Ich wäre gerne bei diesen sachgemäßen Argumenten verblieben; aber wie schon die konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages wird auch diese erste reguläre Sitzung missbraucht, um dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom der SPD nachzukommen. ({2}) Herr Schneider, Sie konnten kaum das Wahlergebnis abwarten, um die Flinte feige ins Korn zu werfen, ({3}) und werfen uns nach über vier Wochen des Ringens, des Beratens und der Suche nach Kompromissen hier irgendetwas vor. Da müssen Sie selber lachen, und das tun Sie mit Recht. Das können Sie ja wahrlich nicht ernst meinen. ({4}) Insofern wäre es besser gewesen, Sie wären beim sachlichen Kern dieser Debatte geblieben. ({5}) Ich möchte hier noch eine Anmerkung machen, die ich für zentral wichtig halte – da gebe ich Ihnen in der Sache sogar recht –: Der Hauptausschuss kann nur ein Provisorium sein; das ist allen Beteiligten klar. Der Hauptausschuss ist ein gutes Instrument, wenn tatsächlich eine erfolgreiche Regierungsbildung absehbar ist. Was nicht gehen wird – das möchte ich hier betonen –, ist, dass hier über fünf, sechs, sieben oder sonst wie viele Monate mit diesem Provisorium gearbeitet wird. Denn die Fachausschüsse haben natürlich auch die Aufgabe, den Sachverstand einzubinden, der sich im gesamten Parlament, in allen Fraktionen widerspiegelt, um zu sachgemäßen Lösungen zu kommen. Insofern würde ich mir wünschen, dass wir, wenn möglicherweise eine erfolgreiche Regierungsbildung nicht abzusehen ist, zu einem Verfahren kommen, um Fachausschüsse einzusetzen. Auch hier ist in ungewöhnlichen Situationen neues Denken „out of the box“ gefragt. Dazu möchte ich alle anderen Fraktionen einladen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort hat der Abgeordnete Korte, Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja ganz gut, dass wir in diesen ernsten Zeiten den Humor noch nicht verloren haben. Denn, Kollege Buschmann, das war wirklich der Gag der Woche – ganz sicher –, dass ausgerechnet die FDP anderen vorwirft, ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom zu haben, so als ob Sie davon frei wären. ({0}) Das war am frühen Morgen nicht schlecht; der Gag war wirklich gut. So viel Humor muss man nach diesem Wochenende haben. Ich will aber nun zur Sache kommen. Sowohl der Kollege Schneider als auch der Kollege Buschmann als auch der Kollege Grosse-Brömer haben ja im Kern gesagt, man sollte dem Antrag der Linken auf Einsetzung von Ausschüssen zustimmen. ({1}) Es geht Ihnen nur um den Zeitpunkt; Sie haben die ganze Zeit erzählt, dass wir irgendwann die Fachausschüsse einsetzen müssen. Wir könnten das schnell und schmerzlos umsetzen. Stimmen Sie einfach unserem Antrag zu. Dann haben wir die Fachausschüsse eingesetzt. Das ist doch eine gute Sache. ({2}) Was ist der Hintergrund unseres Antrags? Sondierungen verlaufen mal gut und auch mal schlecht; das ist so, das muss jeder selber mit sich ausmachen. Die derzeitige Situation hat eine konkrete Folge, nämlich dass wir – der Präsident hat es erwähnt – eine geschäftsführende Bundesregierung haben, die auf der Regierungsbank versammelt ist, und nach dem Stand der Dinge wird sie dort noch ein wenig länger sitzen. Das ist nun einmal so. Das sind die Verfahren, wie sie durch das Grundgesetz vorgeschrieben sind. Daraus ergibt sich allerdings ein Problem für das Parlament. Wenn eine kommissarische Bundesregierung, wie sie hier sitzt, logischerweise politisch nur eingeschränkt handlungsfähig ist, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Parlament voll und ganz handlungsfähig ist, meine Damen und Herren. ({3}) Ich möchte noch etwas zu dem Hauptausschuss sagen; denn Kollege Grosse-Brömer hat etwas erzählt, was schlicht nicht zutrifft. ({4}) Ich will das für die Zuschauer noch einmal sagen: Ein Gremium von 47 Bundestagsabgeordneten – so ist das vorgesehen – soll die Arbeit des gesamten Bundestages, von allen Bundestagsabgeordneten erledigen. ({5}) Da können Sie doch nicht allen Ernstes sagen: Das ist effizient. Ich möchte Sie auf einen Bruch in der Logik Ihrer Argumentation aufmerksam machen: Wenn das wirklich so ist, dann müssten wir für die gesamte Legislaturperiode nur einen Hauptausschuss haben. Das ist ein gewisser Widerspruch, den Sie hier zutage gefördert haben. ({6}) Ich will noch etwas Inhaltliches sagen. In dem einzurichtenden Hauptausschuss werden 47 Abgeordnete sitzen, dabei haben wir derzeit über einige wichtige Fragen jenseits von parteipolitischen Befindlichkeiten zu diskutieren. Wir müssen Auslandseinsätze verlängern, besser gesagt, ablehnen, und das muss man doch in aller Ruhe und mit Expertise diskutieren und nicht unter „ferner liefen“ in einem Supergremium. ({7}) Was ist mit der Klimapolitik? Welche außenpolitischen Krisen gibt es? Was für eine schlimme Politik macht der US-Präsident? Was ist mit der Schere zwischen Arm und Reich? Da können Sie doch nicht allen Ernstes sagen, nur weil wir noch keine neue Regierung haben, diskutieren wir das nicht in Ruhe und sachlich. ({8}) Gerade Sie fordern von den Menschen sehr viel Flexibilität. ({9}) Und dann sind Sie nicht in der Lage, wenn es denn eine neue Regierung gibt, relativ flexibel die Ausschüsse so anzupassen, dass sie spiegelbildlich zu den neuen Ministerien passen? Das muss doch wohl möglich sein, auch in der Unionsfraktion, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Letzter Punkt. Trotz all der Debatten, die wir führen und auch in den nächsten Monaten führen werden: Es kann eine große Stunde des Parlaments kommen. Wir sind seit dem 24. September gewählt, und jeder hat hier einen Job zu machen, ganz egal, was für eine Regierung es gibt und wann es sie gibt. Diese Zeit kann politisch spannend und auch eine Chance sein. Machen Sie sich keine Sorgen, dass hier jeder Linkenantrag durchgehen wird, wenn wir die Diskussion offen gestalten. Das wird so nicht sein. Aber vielleicht gibt es zum Beispiel beim Thema Kooperationsverbot über Parteigrenzen hinweg eine Mehrheit, um sachlich und sinnvoll zu entscheiden. ({11}) Derzeit wird der Deutsche Bundestag aufgrund der Abläufe, wie wir sie gestalten, viel kritisiert. Es gibt aber auch viel unberechtigte Kritik. Wenn wir jetzt anfangen, substanziell und sachlich über die Einsetzung der Ausschüsse zu diskutieren, dann kann man das schlechte Bild, das es von diesem Hause gibt, ein Stück weit korrigieren. Deswegen sehe ich nach allen Wortbeiträgen eine große Zustimmung zu unserem Antrag, um die ich auch bitte. Vielen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zuvor hat als letzte Rednerin der Aussprache die Kollegin Haßelmann das Wort.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat reden wir heute über zwei Anträge. Der eine ist der Antrag, der vor zwei Wochen gemeinsam zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestages auf der Ebene der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer diskutiert wurde, nämlich der Antrag über die Einsetzung eines Hauptausschusses, eines Petitionsausschusses sowie eines Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschusses. In dem anderen Antrag wird die Einsetzung aller Ausschüsse gefordert. Alle wissen, dass wir als Grüne sehr viel Sympathie dafür haben, zu sagen: Der Hauptausschuss ist kein Ersatzausschuss für die Fachausschüsse des Deutschen Bundestages. ({0}) Das ist so, und das haben wir in Gesprächen immer wieder deutlich gemacht. Vor zwei Wochen waren wir allerdings noch in einer anderen Situation: Vier Parteien haben Sondierungsgespräche geführt mit dem Ziel, sie möglichst zu einem positiven Ergebnis zu bringen – bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache und der Programmatik. Dieses Vorhaben ist mit dem Abbruch der Verhandlungen am Sonntagabend durch die FDP gescheitert. Wir sind seitdem in einer neuen Situation. Meine Damen und Herren, eine solche Situation hat der Deutsche Bundestag so noch nicht erlebt. Wir werden jetzt gucken müssen, wie lange dieser Zustand dauert, ehe wir zu einer stabilen Regierungsbildung kommen, und wir werden uns Gedanken darüber machen müssen, wie die Arbeitsfähigkeit des Bundestages in dieser Zeit hergestellt wird. Wir haben jetzt aber nicht in einer spontanen Reaktion das, worüber wir vor zwei Wochen Einvernehmen erzielt haben, über Bord geworfen. Uns Grünen war es wichtig, zu sagen: Wir haben eine Menge sachliche Kritikpunkte daran, alles auf den Hauptausschuss zu konzentrieren; der Hauptausschuss kann nicht der einzige Ausschuss sein, der eingerichtet wird. In den Gesprächen mit den anderen Fraktionen haben wir es erreicht, dass heute in einem ersten Schritt der Haupt-, der Petitions- sowie der Geschäftsordnungs- und Immunitätsausschuss eingerichtet werden. Darauf haben wir uns gemeinsam mit Union, SPD und FDP verständigt. Das ist sozusagen der erste Schritt unseres Handelns, auch mit Blick auf die Befassung mit den vielen Anträgen, die heute vorliegen. Das ist aus meiner Sicht ein schrittweises Verfahren. Deshalb werben wir nach wie vor für diesen Antrag, auch wenn klar ist, dass der Hauptausschuss nicht unsere Präferenz hatte. Immerhin haben sich die anderen Fraktionen auf unsere Idee, noch zwei weitere Ausschüsse einzurichten, eingelassen, was ich gut finde. Das ist ein gutes, positives Signal. ({1}) Lieber Jan Korte, nach den Fraktionssitzungen gestern Abend fand ja noch eine Runde der Parlamentarischen Geschäftsführerinnen statt, ({2}) in der wir uns intensiv damit befasst haben, dass die Situation jetzt anders ist als vor zwei Wochen. Deshalb haben wir alle signalisiert – das hat Carsten Schneider gerade gesagt, das hat Michael Grosse-Brömer gestern erklärt, Sie haben das erklärt und auch ich für meine Fraktion –: Heute unternehmen wir den ersten Schritt. Danach wird es in der nächsten Runde der Parlamentarischen Geschäftsführer eine Diskussion darüber geben, wie die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages an anderen Punkten sichergestellt werden kann und wie wir mit der Situation umgehen. Deshalb werden wir heute – das wissen die Linken, denn das haben wir gestern gesagt – ihrem Antrag keine Zustimmung erteilen, ({3}) auch wenn wir verabredet haben, dass die Fraktionen in der nächsten Woche über die Konstituierung weiterer Ausschüsse diskutieren. So haben wir das gestern Abend vereinbart, und so werden wir das heute machen. Wir haben auch geschaut, ob vonseiten der Linken die Bereitschaft besteht, dieses Gespräch abzuwarten. Das war aber nicht der Fall. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über euren Antrag heute enthalten und unserem Antrag selbstverständlich Zustimmung erteilen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Wir stimmen zuerst über den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Das ist der Tagesordnungspunkt 1 b auf der Drucksache 19/78. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion Die Linke? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, AfD bei Enthaltungen der Fraktion – – ({0}) – Das war gemischt. Also gut. – Der Antrag ist jedenfalls abgelehnt ({1}) bei Enthaltung der SPD und der Grünen. ({2}) Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zu Tagesordnungspunkt 1 a auf der Drucksache 19/85 mit dem Titel „Einsetzung eines Hauptausschusses, eines Petitionsausschusses sowie eines Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Damit sind Hauptausschuss, Petitionsausschuss und der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung eingesetzt.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden uns heute und morgen mit insgesamt sieben laufenden Einsätzen der Bundeswehr beschäftigen und den Bundestag um eine Verlängerung um drei Monate bitten. Meine Damen und Herren, die Bundeswehr, unsere Parlamentsarmee, ist derzeit in 13 vom Bundestag mandatierten Einsätzen. Sie ist da gemeinsam mit Partnern und Verbündeten, um den Terror zu bekämpfen, um Frieden zu sichern, um auszubilden, um zu beraten. Oder anders gesagt: Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen dazu bei, dass Sicherheit geschaffen wird. Sie sorgen für Stabilität. Sie lindern Not. Sie schaffen überhaupt erst den Rahmen dafür, dass in Krisen- und Konfliktsituationen die entscheidenden politischen Lösungen gefunden werden können, dass Wiederaufbau und Entwicklung stattfinden können, und das oft in einem äußerst gefährlichen Umfeld. Meine Damen und Herren, in unzähligen Einsatzreisen konnte ich mich davon überzeugen, dass unsere Bundeswehr, unsere Soldatinnen und Soldaten, bei unseren Partnern und Verbündeten hoch anerkannt ist; sie erleben sie als professionell, besonnen und mit Courage agierend. Deshalb kann ich an dieser Stelle nur sagen – ich spreche im Namen des ganzen Hauses; da bin ich sicher –: Wir können stolz sein auf diese Männer und Frauen, und wir sind ihnen dankbar für die Einsätze, die sie leisten. ({0}) Unsere Soldatinnen und Soldaten, die Bundeswehr, unsere Parlamentsarmee, brauchen Berechenbarkeit. Die sieben Mandate, um die es heute und morgen geht, stehen entweder Ende Dezember dieses Jahres oder Ende Januar nächsten Jahres zur Verlängerung an. Wir haben uns deshalb in der vorherigen Bundesregierung dazu entschlossen, Sie, den Bundestag, zunächst einmal um eine Verlängerung um drei Monate zu bitten, wobei die Mandate im Wesentlichen völlig unverändert sind. Es geht also um eine Verlängerung von unveränderten Mandaten um drei Monate. Mir ist dies aus zweierlei Gründen wichtig: Zum Ersten gibt das uns, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern des Bundestages, darunter viele neue Kolleginnen und Kollegen, Zeit und Gelegenheit, sich mit den unterschiedlichen Mandaten auseinanderzusetzen und sich in die Tiefe einzuarbeiten. Zum Zweiten können sich unsere Partner und Verbündeten in dieser auch für uns gerade so schwierigen Phase fest darauf verlassen, dass sie die Bundeswehr weiterhin kontinuierlich an ihrer Seite haben. Meine Damen und Herren, auch und gerade in der Sicherheitspolitik sind Verlässlichkeit, Vertrauen und Berechenbarkeit ein hohes Gut – wenn nicht gar das höchste Gut –, und Deutschland steht für Verlässlichkeit. ({1}) – Deutschland steht für Verlässlichkeit, meine Damen und Herren. ({2}) – Ja, das ist in dieser Situation vielleicht nicht so einfach. Aber, meine Damen und Herren, das zeigt auch die Tragweite der Entscheidungen der letzten Tage. Das Ausland verlässt sich auf uns. Das Ausland wartet darauf, dass Deutschland stark ist in der Mitte Europas. Es stehen viele sicherheitspolitische Entscheidungen in Europa an. Der Terror wartet nicht darauf, dass wir hier zu Potte kommen, sondern der Terror verlangt eine entschlossene Antwort der Verbündeten und Alliierten, er verlangt Standfestigkeit von Deutschland, und Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundeswehr und Deutschland verlässlich sind. ({3}) Damit komme ich zum ersten Mandat, zur NATO-geführten maritimen Sicherheitsoperation Sea Guardian im Mittelmeer. Ein Drittel aller Güter werden über das Mittelmeer verschifft. Das Mittelmeer verbindet unsere Nachbarn mit Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Das Mittelmeer ist zum Teil aber auch Schauplatz von Schleuser- und Schmuggleraktivitäten – sowohl von Menschenschleusern als auch von Waffenschmugglern. Die sichere Nutzung dieses Seegebietes ist von zentraler Bedeutung für Europa. Deshalb gibt es Sea Guardian als Mission zur Seeraumüberwachung. Diese Mission ist infolge der Anschläge von 9/11, des 11. September 2001, entstanden. Wir haben diese Mission inzwischen richtigerweise von der früheren Artikel-5-Komponente getrennt und sie zu einer Operation der Seeraumüberwachung gemacht. Es geht erstens um ein kontinuierliches und umfassendes Lagebild im Mittelmeer. Es geht zweitens aber auch um eine weitere Aufgabe von Sea Guardian – und die ist mir wichtig –: Schiffe und Boote können bei Verdacht auf Terrorismusunterstützung angehalten, durchsucht, beschlagnahmt und umgeleitet werden. Wegen dieser möglichen Aufgabe, wegen des möglichen exekutiven Handelns, wegen des möglichen Einsatzes von Waffen ist dieser Auftrag mandatierungspflichtig. Drittens unterstützen unsere NATO-AWACS und damit unsere deutschen AWACS-Besatzungen die Lagebilderstellung von Sea Guardian. Deshalb, meine Damen und Herren, ist dieser ­NATO-Einsatz insgesamt sicherheitspolitisch sinnvoll und notwendig. Ich bitte Sie heute um die Verlängerung eines in der Substanz gleich gebliebenen Mandats um drei Monate. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort hat der Abgeordnete Hellmich, SPD. ({0})

Wolfgang Hellmich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004226, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stehen heute am Beginn einer langen Debatte um etliche Mandate, die uns in den nächsten Tagen und Wochen intensiv beschäftigen wird. Gestern haben wir die Gelbe Schleife der Solidarität mit unseren Soldatinnen und Soldaten hier im Bundestag getragen und damit deutlich gemacht, dass wir an der Seite derjenigen stehen, ({0}) die jeden Tag den Kopf dafür hinhalten, dass Terrorismus bekämpft wird, dass im Mittelmeer Schleuser durch Sea Guardian bekämpft werden und dass an dieser Stelle Waffenschmuggel bekämpft wird. Ich schließe mich dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihren Dienst dort versehen, ausdrücklich und auch ganz persönlich an. ({1}) Es waren Sozialdemokraten, die hier im Bundestag und in der Bundesregierung nachdrücklich darauf gedrängt haben, dass dieses Mandat von Artikel 5 des NATO-Vertrages gelöst und auf eine eigenständige Grundlage gestellt wird. Dies geschah mit den nötigen Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates, die dem zugrunde liegen und letztendlich in die Entscheidungen der NATO auf dem Warschauer Gipfel gemündet sind. Damit wurden die Instrumente der NATO auch der EU für ihren Einsatz im Mittelmeer zur Rettung von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt, damit das Mittelmeer nicht weiter zu einem großen, nassen Grab für viele Flüchtlinge wird. Diese Hilfs- und Koordinationsleistung, die Herstellung eines Lagebildes, die Beschaffung von Informationen über das, was sich auf dem Mittelmeer als einer der Lebensadern der großen Räume tut, die die Länder, Staaten, Nationen und auch die Kontinente miteinander verbindet, sind wichtige Aufgaben, mit deren Erfüllung man auch dem Wunsch unserer Partnerinnen und Partner als Anrainer des Mittelmeeres nachkommt, die uns aufgefordert haben, dass sich die NATO genauso wie die EU stärker um die Südflanke kümmern müssen, weil es dort brennt. Und die Krisen sind nicht weniger geworden. Wenn wir uns die Entwicklung im Libanon ansehen, dann sehen wir, dass der Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien kurz davor ist, die Küste des Mittelmeeres zu erreichen und dort vielleicht einen Bürgerkrieg auszulösen. Das ist eine Herausforderung für die EU und für die NATO. Das zeigt, dass wir den Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitsanforderungen auf dem Mittelmeer sehr intensiv nachkommen müssen. Hat dieses Mandat, das seit einem Jahr in Kraft ist, etwas gebracht? Ja, allein wegen der Herstellung eines Lagebildes von einer Patrouille im Sommer dieses Jahres, die die Seewege von mehr als 600 Schiffen nachvollzogen hat, die 140 Schiffe auf ihre Bewegung untersucht hat und die schließlich mit Zustimmung der jeweiligen Flaggenstaaten vier Schiffe durchsucht hat, weil es den Verdacht gab, dass dort Waffen geschmuggelt werden. Es ist gerade einem Einsatztruppenversorger der Marine gelungen, ein Schiff – schwer beladen mit Waffen, gedacht für Bengasi – im Mittelmeer aufzubringen und nach Italien in einen Hafen zu eskortieren. Das zeigt, dass dieses Mandat sinnvoll und notwendig ist und dass die Beiträge unserer Bundeswehr dort geliefert werden müssen: im Interesse der Sicherheit an der Südflanke der NATO und im Interesse der Sicherheit Europas und auf dem Mittelmeer. Das, was dort geleistet worden ist und was unsere Soldatinnen und Soldaten dort leisten, ist ein wichtiger Beitrag dazu, dass es mehr Frieden und Sicherheit auf der Welt bzw. im Mittelmeer gibt. Davon gehen wir aus, und wir unterstützen dieses Mandat auch weiterhin. Deshalb wird die Fraktion der SPD dem Antrag zustimmen; denn wir brauchen das Mandat dringend. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Nolte von der AfD. Es ist seine erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Soldat wird man, um das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Legt man diesen Maßstab an die momentanen Einsätze unserer Streitkräfte an, dann muss man sich wundern, wohin dieses Hohe Haus unsere Soldaten entsendet und mit welchen Begründungen dies geschieht. Die Operation Sea Guardian ist aber ein Mandat, bei dem sich ein Nutzen für unsere Bundesrepublik erkennen lässt, auch wenn diesem Mandat die politische Zuarbeit fehlt, die es bräuchte, damit die Einsatzziele vollständig erreicht werden können. ({0}) Natürlich schützt es Deutschland, wenn Waffenschmuggel und Terrorismus im Mittelmeerraum bekämpft werden. Die Operation Sea Guardian kann damit nicht nur Gewalt und Terror in Deutschland erschweren, sondern sie kann auch die Seehandelsrouten sicherer machen, was ebenfalls in unserem Interesse liegt. Viele sehr dynamische Konflikte sowie der sich ausbreitende Terrorismus verlangen von uns, die zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen, um die Sicherheit in Deutschland und Europa zu erhöhen. Auch im Lichte der Waffenfunde, zu denen es im Zuge von Operation Sophia kam, erscheint Sea Guardian sinnvoll. Deshalb möchte ich dazu aufrufen, endlich die richtigen Prioritäten zu setzen, wenn es um den Einsatz unserer Bundeswehr geht. ({1}) Jeden Monat erscheint eine Studie zu den größten Sorgen der Menschen in den Staaten dieser Welt. Zu den vier größten Sorgen der Deutschen – und die vertreten wir in diesem Parlament – zählen Gewalt und Kriminalität, Terror und eine unkontrollierte Zuwanderung. Wenn wir als Volksvertreter unseren Job ernst nehmen, dann haben wir gegen diese Bedrohungen vorzugehen. ({2}) Für die Verteidigungspolitik heißt das, sich auf Einsätze zu konzentrieren, die Europa und seine Peripherie schützen, und unsere Bundeswehr nicht zu einem Weltpolizisten zu machen. Dafür hat das Volk kein Verständnis. ({3}) Die Marine als kleinste Teilstreitkraft stößt an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, was wohl auch der Grund dafür ist, dass für dieses Mandat keine Kräfte eigens entsandt werden sollen. Es braucht daher endlich den politischen Willen, die Bundeswehr personell und materiell in die Lage zu versetzen, solche wichtigen Einsätze vor den Toren Europas erfolgreich und mit dem richtigen Kräfteansatz zu bestreiten. ({4}) Verteidigungspolitisch muss unser Fokus vor unserer Haustür liegen und nicht irgendwo in der weiten Welt. ({5}) Mehr noch als materielle und personelle Engpässe beeinträchtigt aber die Inkonsequenz derer, die diesen Einsatz 2016 auf den Weg gebracht haben, die Auftragserfüllung unserer Soldaten. In der Antragsbegründung von 2016 wird auf die Eindämmung irregulärer Migration hingewiesen. Die Bekämpfung von Schleusernetzwerken ist der Kernauftrag der Operation Sophia, die durch Sea Guardian unterstützt wird. Angesichts dieses Auftrages und der anhaltenden Armutsmigration nach Deutschland ist es ein Skandal, dass die Einsatzrealität unsere Bundeswehr zum Schlepper macht. ({6}) Selbstverständlich haben die Schleusernetzwerke erkannt, dass unsere Bundeswehr und die Streitkräfte unserer Partnerstaaten ihnen den Großteil des Weges abnehmen. Das Resultat dieser Einsätze ist also, dass die Schlepperboote noch voller werden und dass sie noch weniger seetüchtig sind, da man sich auf die Rettung durch unsere Streitkräfte verlässt. ({7}) Seit Beginn der Operation Sophia haben Marinesoldaten über 21 000 Migranten nach Europa gebracht. Ich rufe jeden auf, der dieses Mandat als sinnvoll erachtet, konsequent zu sein und sich auf allen Ebenen für Abkommen einzusetzen, die es uns erlauben, die Migranten, die wir im Mittelmeer aufgreifen, nach Afrika zurückzubringen. ({8}) Obwohl man also an der Einsatzwirklichkeit von Sea Guardian viel kritisieren kann, werden wir der Überweisung an den Ausschuss zustimmen. Sea Guardian hat für uns das Potenzial, Deutschland und Europa zu schützen. Ich sage aber klar, dass unsere zukünftige Haltung zum Einsatz der Marine im Mittelmeer davon abhängen wird, ob endlich die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass unsere Soldaten ihren Auftrag auch wirklich erfüllen können. Die Bundeswehr muss ein Instrument der Rechtsstaatlichkeit sein. Sie darf von diesem Parlament nicht zum Helfer für Schlepper herabgewürdigt werden. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Graf Lambsdorff von der FDP. Auch er spricht zum ersten Mal in diesem Hohen Haus. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten in dieser Sitzungswoche gleich sieben Bundeswehrmandate für Einsätze im Ausland. Im Rahmen dieser Auslandseinsätze erfüllen unsere Soldatinnen und Soldaten wichtige Aufträge in den Einsatzgebieten. Ich schließe mich ausdrücklich dem Dank der Bundesverteidigungsministerin und anderer Kollegen an die Soldatinnen und Soldaten an, auch im Namen meiner Fraktion, und will hier eines gleich sagen: Dass die AfD die erste Rede in diesem Parlament dazu missbraucht, um die Soldatinnen und Soldaten zu Helfern von Schlepperbanden zu erklären, spricht Bände über ihre Geisteshaltung, die sie hier in dieses Haus einbringen. ({0}) Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind genau wie unser diplomatisches und unser entwicklungspolitisches Engagement weltweit ein sichtbarer Ausdruck der Verantwortung, die wir als Bundesrepublik global übernehmen. Uns als Freien Demokraten ist wichtig, dass wir die Entscheidung über jedes einzelne Mandat verlässlich und sorgfältig treffen – mit Blick auf den strategischen Gesamtzusammenhang und in enger Absprache mit unseren internationalen Partnern. Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, Dialog und Ausgleich: Das sind die Grundprinzipien liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, meine Damen und Herren. Wir Freie Demokraten setzen auf eine internationale Ordnung, die auf den Regeln des Völkerrechts, besonders auf der Charta der Vereinten Nationen, beruht. Aber wir wissen, dass Deutschland diese Ordnung alleine nicht garantieren kann. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Deutschland auf eine kluge Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union, auf handlungsfähige internationale Organisationen, besonders die UNO, und auf starke Allianzen und Bündnisse, besonders die NATO, setzt. ({1}) Die FDP, meine Damen und Herren, steht zum Konsens der Münchner Sicherheitskonferenz von 2014, dass Deutschland in den kommenden Jahren mehr internationale Verantwortung übernehmen muss. Unsere europäischen und internationalen Partner verlassen sich darauf, dass wir hierzu bereit sind. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in seiner wichtigen Rede an der Sorbonne als erstes Schlüsselelement der europäischen Souveränität das Thema Sicherheit genannt. Er hat vorgeschlagen, Wege hin zu einer gemeinsamen europäischen strategischen Kultur zu beschreiten. Wir unterstützen das. Wir unterstützen auch seine praktischen Vorschläge zu einem intensivierten Personalaustausch zwischen nationalen Streitkräften. Wir unterstützen ebenfalls die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, die Deutschland gemeinsam mit 22 anderen europäischen Staaten im November dieses Jahres auf den Weg gebracht hat. Jetzt gilt es, alle diese Ideen, auch die PESCO, mit Leben zu erfüllen, indem wir gezielt gemeinsame europäische Verteidigungsprojekte umsetzen. Die Trendwende zu einer europäischen Verteidigungsunion muss jetzt gelingen. ({2}) Vor diesem Hintergrund ist es zwingend notwendig, dass unseren Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausbildung und Ausrüstung, der bestmögliche Schutz im Einsatz und die bestmögliche Betreuung vor, während und nach den Einsätzen zur Verfügung gestellt werden. Und weil ich mir schon denken kann, was gleich von der Linksfraktion kommt, sage ich ausdrücklich: Ich rede von Ausrüstung und nicht von Aufrüstung. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben einen Anspruch darauf, mit dem bestmöglichen Material in ihre lebensgefährlichen Einsätze geschickt zu werden. Wir dürfen die Fähigkeitslücken, die in den letzten Jahren entstanden sind, nicht offen lassen. ({3}) Es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass wir heute zu wenige einsatzbereite Piloten für den Kampfhubschrauber Tiger zur Verfügung haben, weil, bedingt durch kurzfristige Einsatzverpflichtungen in Afghanistan 2013 und 2014, keine Pilotenausbildung stattfinden konnte. Kurzfristige Herausforderungen eines Einsatzes dürfen nicht dazu führen, dass wir langfristig Fähigkeiten einbüßen. ({4}) Das gilt auch für das Schlüsselthema Personal. Die Gewinnung, der Erhalt und die Ausbildung von zivilem sowie militärischem Personal bleibt unverändert eine Zukunftsfrage für die Bundeswehr. Hier hat die amtierende Bundesregierung noch keine überzeugenden Konzepte vorgelegt. Das aber ist zwingend notwendig; denn die materielle und personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr wird zukünftig bestimmen, in welcher Form und Qualität sich Deutschland überhaupt an Auslandseinsätzen beteiligen kann. Mit der Beteiligung an der Mission Sea Guardian leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag unter anderem zur Seeraumüberwachung im Mittelmeer, bei der Unterstützung der Operation Sophia und bei der maritimen Bekämpfung des Terrorismus. Unsere Partner erwarten von uns, dass wir diese Mission weiterhin unterstützen. Daher unterstützen auch wir als Freie Demokraten die Verlängerung des Einsatzes und die Überweisung an den Ausschuss, damit unsere Soldatinnen und Soldaten die rechtliche Sicherheit für ihren Einsatz haben, die sie brauchen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort hat der Kollege Dr. Neu von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir reden über die NATO-Mission Sea Guardian, die gefühlt hundertste Verlängerung dieser Mission. Woher kommt dieses Gefühl? Auslandseinsätze dauern nachweislich länger als ursprünglich vorgegeben und sind maßgeblich teurer als ursprünglich vorgegeben, zum Beispiel der NATO-Einsatz in Afghanistan und der ­NATO-Einsatz im Mittelmeer. Resolute Support in Afghanistan, vormals ISAF, begann 2001. Sea Guardian, die Fortsetzung der Mission Operation Active Endeavour, begann 2003. Diese beiden Einsätze sind Musterbeispiele für Auslandseinsätze der Bundeswehr, die nicht enden sollen, da es zumindest eine zweite Agenda gibt, nämlich eine geopolitische Agenda. Die Bundesregierung begründet die Sea-Guardian-Mission mit der Notwendigkeit des Antiterrorkampfes und der präventiven Maßnahme gegen Krisenentwicklung im Mittelmeer. Ein paar Anmerkungen zum Thema Antiterrorkampf im Mittelmeer. Zwar haben Sea Guardian und die Vorgängeroperation Operation Active Endeavour nie Waffenschmuggel oder Ähnliches aufgedeckt. Aber die NATO will im Mittelmeerraum operativ tätig bleiben und dort dominieren. Es gibt nicht die geringste Spur eines Selbstzweifels in der NATO, der Europäischen Union oder ihren Mitgliedstaaten, inwieweit sie die Instabilitäten in Nordafrika und den Terrorismus selbst mit erzeugt haben oder mit erzeugen, Stichworte „Libyen“ und „Syrien“. Zur Begründung präventiver Maßnahmen gegen Krisenentwicklungen. In der Begründung des Antrags der Bundesregierung geht es darum, „Krisenentwicklungen im maritimen Umfeld ... frühzeitig zu erkennen“. Krise als Operationsobjekt ist hypothetisch dargelegt, aber nicht konkret. Krise kann sich entwickeln, muss aber nicht notwendigerweise entstehen. Somit sind militärische Maßnahmen gegen hypothetische Krisen in der Logik der Befürworter eines solchen sicherheitspolitischen Verständnisses ohne zeitliche und räumliche Begrenzung, sehr geehrte Damen und Herren. Mit dieser Begründung wird das wahre Ziel der NATO deutlich. Es geht um expansive Raumkontrolle der NATO und der Europäischen Union. Frau Ministerin, Sie haben das gerade gesagt: komplette Aufklärung im Mittelmeer. Man möchte auf der Hohen See im Mittelmeer so operieren wie auf den eigenen Hoheitsgewässern. Die Hohe See des Mittelmeeres soll zum Küstenmeer der NATO und zum Küstenmeer der EU degradiert werden. Das ist klassische Imperialpolitik. ({0}) Wie sonst ist zu erklären, dass über einen längeren Zeitraum NATO und Europäische Union ihre Präsenz im und die Kontrolle über das Mittelmeer systematisch ausbauen? Es handelt sich hier derzeit um vier Missionen: Sea Guardian, UNIFIL, EUNAVFOR MED und Ägäis-Einsatz – Letzterer ohne Bundestagsmandat. Sea Guardian umfasst die Kontrolle über das gesamte Mittelmeer, dessen Zugänge und, das Einverständnis der Anrainer vorausgesetzt, auch die Territorialgewässer sowie den dazugehörigen Luftraum, also die komplette Kontrolle. Als eine weitere Aufgabe von Sea Guardian wird die Unterstützung der Mission Sophia benannt, also die Bekämpfung des Menschenschmuggels. Ich finde, der Begriff „Bekämpfung des Menschenschmuggels“ ist ein schändlicher Euphemismus für „militarisierte Flüchtlingsabwehr“. ({1}) Unser Fazit ist: Unter dem Deckmantel „abstrakte und konkrete Terrorgefahr“ und „abstrakte Gefahr von Krisenentwicklungen“ werden Raumkontrolle und militarisierte Flüchtlingsabwehr organisiert. Geopolitik ist die Sicherheitspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts mit den entsprechenden Folgen. Man hat aus der Vergangenheit nicht gelernt. Militarisierte Flüchtlingsabwehr ist einfach nur menschenverachtend. ({2}) Die Linke wird diese Mission ablehnen. Danke. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lindner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn dieser Sitzung hat der Präsident zu Recht darauf hingewiesen, dass sie eine besondere Sitzung ist, auch wenn wir in diesem Hohen Haus häufiger über Bundeswehrmandate debattieren. Die Große Koalition hat es bei der letzten Verlängerung dieser Mandate unterlassen, sie so zu verlängern, dass sich eine neue Bundesregierung mit ihnen inhaltlich auseinandersetzen kann. Deshalb müssen wir diese Mandate heute um drei Monate verlängern. Danach haben wir hoffentlich eine Bundesregierung, die auch inhaltlich die Entscheidung trifft, ob man diese Mandate in dieser Form fortführt, sie verändert oder manche davon beendet. ({0}) Frau Bundesministerin, da Sie davon sprechen, dass diese Mandate im Wesentlichen unverändert sind, möchte ich für meine Fraktion entgegnen: Darunter sind auch Mandate, denen wir zwar in der Vergangenheit zugestimmt haben und denen wir auch weiterhin zustimmen werden, aber dadurch wird das, was wir an manchen Mandaten falsch finden – wir finden an diesem Mandat so einiges falsch –, nicht besser. Auch das wird unser Abstimmungsverhalten in Zukunft leiten. ({1}) Da wir über Klarheit und Verantwortung – nicht nur gegenüber den Wählerinnen und Wählern – reden, möchte ich einen zweiten Punkt ansprechen. Stand vergangenen Freitag haben 3 660 Frauen und Männer der Bundeswehr ihren Dienst in Auslandseinsätzen geleistet. Bei den jetzt zu verlängernden Mandaten geht es um 2 643 Soldatinnen und Soldaten. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es diesen Frauen und Männern schuldig, dass sie nach diesen drei Monaten Klarheit darüber haben, in welcher Form sie zukünftig ihren Auftrag erfüllen und welche Bundeswehrmandate wir gegebenenfalls beenden werden. ({2}) Ich will noch einen Punkt zu Ihnen, Herr Kollege ­Nolte von der AfD, sagen. Wenn Sie Ihre Rede damit beginnen, dass Sie die Gelöbnisformel zitieren, dann sollten Sie die zweite Hälfte der Gelöbnisformel nicht weglassen. Darin heißt es: ... und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen ... Gerade wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland über Recht und Freiheit reden, dann reden wir darüber immer in einem globalen Rahmen. ({3}) Deswegen ist es gut und richtig, dass sich Deutschland mit der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen an der Friedenssicherung auf diesem Planeten engagiert. ({4}) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Bei allen Differenzen, die wir darüber haben, welche Rolle die Bundeswehr beim Thema „Flucht und Vertreibung“ spielt, spielen sollte oder vielleicht besser nicht spielen sollte: Ich bin für jede Frau, für jeden Mann, für jedes Kind, also für jedes Menschenleben, das deutsche Soldaten in den letzten Monaten aus dem Mittelmeer gerettet haben, das sie vor dem sicheren Tod bewahrt haben, dankbar. ({5}) Jetzt ein Punkt zum Mandat selbst, der uns bei den Ausschussberatungen leiten wird. Die Lagebilderstellung der NATO ist eine Standardaufgabe. Die gab es auch schon vor dem 11. September. Frau Ministerin, wir können gern darüber reden und diskutieren, an welcher Stelle unsere Soldatinnen und Soldaten Rechtssicherheit brauchen, wenn die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung besteht. Dieses Mandat aber, so wie es heute vorliegt, ist gefährlich unklar. Dazu brauchen wir nicht bloß Bestandteile wie zum Beispiel die Ausbildung in Anrainerstaaten. Das hat nichts mit Rechtssicherheit für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten zu tun. ({6}) Deswegen werden wir Grüne uns bei den Beratungen davon leiten lassen, dass man dieses Mandat eng, präzise und so klar wie möglich fasst. In der jetzt vorgelegten Form werden wir ihm nicht zustimmen können. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt von der CDU/CSU. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die erste Sitzung des Deutschen Bundestages, in der wir uns mit politischen Inhalten befassen. Es ist bezeichnend, dass es außenpolitische, sicherheitspolitische Themen sind, die auf der Tagesordnung stehen. Es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass die Außen- und Sicherheitspolitik dichter an uns heranrückt, auch an jeden einzelnen Menschen in diesem Land. So liegen heute und morgen insgesamt sieben Mandate mit dem Wunsch der Regierung nach Verlängerung bei uns auf dem Tisch. Wenn man als Außenpolitiker international unterwegs ist, so wie zum Beispiel ein Kollege, der in der vergangenen Woche auf der großen Sicherheitskonferenz in Halifax war, merkt man: Die Frage „Bleibt Deutschland ein stabiler, verlässlicher Partner in der internationalen Zusammenarbeit?“ ist transatlantisch virulent. Es ist keine Frage so häufig an mich gestellt worden, auch in meiner Eigenschaft als Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit, wie die: Bleibt Deutschland auf Kurs in den internationalen Verpflichtungen? – Ich habe dann jeweils gesagt: Ja. Und ich glaube, dass wir als Deutscher Bundestag in dieser Woche und in der kommenden Sitzungswoche die Kraft haben, dieses Signal zu senden: Deutschland ist und bleibt ein verlässlicher Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Mandate, die heute vorliegen, sind allesamt Mandate, die viele Partnerländer unmittelbar betreffen. Es ist Prinzip unserer Außen- und Sicherheitspolitik, dass wir als Deutschland nichts auf eigene Faust machen, keine Alleingänge unternehmen, sondern dass der vernetzte Ansatz, zivil-militärisch, aber auch in der Breite unter den Nationen, in der Völkergemeinschaft, ein ganz entscheidender ist. Deutschland spielt eine wichtige Rolle in der Völkergemeinschaft, in den Vereinten Nationen. Wir werden im Juli 2018 als Deutschland in eine Abstimmung gehen um einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für die Periode 2019/20. Ich glaube, auch im Blick auf die Bewerbung um einen deutschen Sitz in diesem wichtigsten sicherheitspolitischen Gremium der Welt ist es nicht ganz ohne Bedeutung, dass wir in internationalen Fragen als Deutschland stehen und dass wir die UN-mandatierten NATO- und EU-geführten Einsätze entsprechend sekundieren. Ich möchte zum Einsatz Sea Guardian einen Aspekt noch besonders beleuchten. Zunächst einmal sage ich an den Kollegen Nolte gerichtet – ich darf das als ehemaliger Marineoffizier vielleicht sagen –: Für diese Äußerung hier zu den Soldaten der Marine müssen Sie sich in der PUO-Messe an Ihrem Standort entschuldigen. Das ist meine feste Überzeugung. ({0}) Unsere Soldaten sind keine Schlepperhelfer, sondern Lebensretter. Ich bin dem Kollegen Lindner dankbar dafür, dass er das auch deutlich gesagt hat. ({1}) Der Einsatz Sea Guardian ist auch ein hervorragendes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen NATO und EU in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gerade jetzt, wo wir die PESCO, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, auf den Weg bringen, ist es gut, glaube ich, dass wir die Zusammenarbeit bei diesen beiden Einsätzen weiter stärken. Deswegen ist der eine wie der andere für uns unverzichtbar. Die Soldatinnen und Soldaten an Bord des Einsatzgruppenversorgers „Frankfurt am Main“, in den Stäben und in den AWACS-Flugzeugen leisten einen wichtigen Beitrag, damit auch die EU-Mission EUNAVFOR MED Operation Sophia mit ihren lebensrettenden Maßnahmen im Mittelmeer weiter erfolgreich sein kann. Es ist auch ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO, wie sie in Warschau vereinbart wurde, dass wir dieses Mandat entsprechend fortsetzen wollen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich ankündigen, dass wir diesem Mandat zustimmen werden, und ich möchte zum Ausdruck bringen, dass unsere besten Wünsche die Soldatinnen und Soldaten in ihrem Einsatz begleiten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Gabi Weber von der SPD-Fraktion. ({0})

Gabi Weber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004438, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mandat für Sea Guardian soll die Unterbindung von Waffenschmuggel nach Libyen, die Ausbildung der libyschen Küstenwache sowie die Erfassung des Schiffsverkehrs im Mittelmeer abdecken. Wir beraten heute in erster Lesung die Verlängerung des Mandats für zunächst drei Monate. Es ist auch ganz wichtig, dass wir das hier und jetzt tun. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und deshalb abhängig vom Votum des Deutschen Bundestags. Wir betonen das jetzt genau mit dieser Debatte um die Verlängerung des Mandats um drei Monate, da wir so einer möglichen neuen Bundesregierung die Zeit geben, auch in diesem Mandat vielleicht noch die eine oder andere Frage zu klären. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ähnlich wie beim UNIFIL-Mandat vor der libanesischen Küste soll ein möglicher Waffenschmuggel vor der libyschen Küste unterbunden und die Marine mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden. In welchem Umfang findet eigentlich Schmuggel statt? Der Kollege Hellmich hat eben gesagt: Ein Schiff, hochbeladen, ist abgefangen worden. – Ich denke aber, wir brauchen einfach noch ein paar weitere Erkenntnisse darüber, was sich dort wirklich tut, um dann weitere Entscheidungen treffen zu können. Das ist eine Kritik an dem Mandat, die insbesondere von den Grünen immer wieder angebracht wurde. Wichtiger ist mir allerdings ein zweiter Punkt, und zwar die rechtsstaatliche Souveränität Libyens. Wir wünschen uns, dass Libyen als Rechtsstaat handlungsfähig wird. Dazu geben wir Libyen Unterstützung bei der Ausbildung seiner Küstenwache. Eine wunderbare Voraussetzung, meine Damen und Herren von der AfD, dafür ist, dass unsere Armee anerkannt ist, was die Frage der Rechtsstaatlichkeit und die Vermittlung von Rechtsstaatlichkeit dort angeht, wo sie in Einsätzen ist. Genau deshalb wird sie auch von den Vereinten Nationen immer wieder angefragt, ob sie Unterstützung leisten kann. Das ist gut und richtig so. ({0}) Das kann gut ausgehen, wenn das Wissen und die rechtsstaatliche Kompetenz der Bundeswehr entsprechend aufgenommen und umgesetzt werden. Es kann aber auch schlecht ausgehen, wenn die falschen Leute ausgebildet werden und dann entsprechende Fähigkeiten anderweitig eingesetzt werden, zum Beispiel um geflüchtete Menschen zu unterdrücken. Deshalb ist es wichtig, dass wir genau hinschauen und sicherstellen, dass diese Operation den Anspruch erfüllt, dass sie menschenrechtlich solide auf den Beinen steht und dass dort auch entsprechend agiert wird. ({1}) Von daher ist es wichtig – das finde ich ganz hervorragend –, dass man sich mit diesem mediterranen Lagebild auch darauf einlässt, dass Menschen, die in Seenot geraten sind, aufgespürt und gefunden werden. All denen ist Hochachtung auszusprechen, die sich darum kümmern, Menschen, die in Seenot geraten sind, zu retten. Das ist eine der Geschichten – ob man es als christliche Seefahrt oder wie auch immer bezeichnet –, in der es um Menschenrechte geht, und es ist eine zutiefst humanitäre Angelegenheit, wenn die Bundeswehr hier das tut, was sie auch machen muss, nämlich Menschen aus Seenot retten und Menschenleben schützen. ({2}) Das dehne ich gerne ausdrücklich auch auf all diejenigen aus, die es im zivilen Bereich tun – seien es Sea-Watch oder andere Organisationen, die dort Menschenleben retten. Auch diesen einen herzlichen Dank! ({3}) Meine Damen und Herren, Menschen flüchten aus unterschiedlichen Gründen aus ihren Herkunftsländern. Auf dem Weg in ein vermeintlich besseres Leben stoßen sie aber auf schier unüberwindbare Hindernisse. Eines davon ist, dass uns in Deutschland bisher ein Einwanderungsgesetz fehlt. Ein solches Gesetz, das Menschen legale Wege zu uns ermöglichen könnte, fehlt bis heute. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Sozialdemokraten ein solches Gesetz eingebracht haben, ({4}) um Menschen Alternativen zu Flucht und Vertreibung sowie Wege, wie sie zu einem besseren Leben kommen können, aufzuzeigen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Brandl von der CDU/CSU. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Weber, Sea Guardian hat jetzt wirklich nichts mit einem Einwanderungsgesetz oder einem Fachkräftezuwanderungsgesetz zu tun. ({0}) Ich glaube, wir müssen die Themen auseinanderhalten. Es ist wichtig – auch für die Menschen in unserem Land –, dass wir in unserer Debatte die Themen Asyl und Flucht trennen von der Frage der Fachkräftezuwanderung. Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt etwas zum Einsatz selbst sagen. Ein Drittel aller weltweit verschifften Güter durchqueren auf ihrem Weg zum Kunden irgendwann einmal das Mittelmeer. Zwei Drittel des in Europa verbrauchten Öls und Gas kommen über das Mittelmeer. Meine Damen und Herren, auch ein Großteil der Flüchtlinge kommt über diesen Weg zu uns. Genauso wie die Wirtschaft das Mittelmeer als Drehscheibe nutzt, nutzen es auch alle möglichen Schlepperorganisationen und Terrorgruppen. Deswegen ist Sicherheit im Mittelmeer ein entscheidender Faktor für Sicherheit in Deutschland und in Europa. Aber kein Land – auch nicht Deutschland, Italien oder Spanien – kann Sicherheit im Mittelmeer alleine herstellen. Es geht nur über internationale Zusammenarbeit. Sea Guardian bietet dafür technisch und organisatorisch eine Kooperationsplattform. Die Länder können sich bei Sea Guardian anmelden und geben ihre Aufklärungsergebnisse weiter, seien es Radardaten vom Festland, von Schiffen oder von Flugzeugen. Die NATO führt diese Daten zusammen und erstellt daraus ein Lagebild. Was heißt das konkret? Lagebild bedeutet nicht nur, zu wissen, wo welches Schiff sich im Moment gerade befindet, sondern Lagebild bedeutet konkret, Daten und Bewegungsmuster der Vergangenheit zu analysieren und dann eine Prognose abzugeben, ob das Schiff auf dem Radar ein Fischkutter ist, der jeden Tag aufs Meer hinausfährt, oder ob gerade jemand versucht, das Waffen­embargo für Libyen zu unterlaufen. Wenn solch ein verdächtiges Schiff dann identifiziert wird, haben die Schiffe von Sea Guardian das Recht, es zu kontrollieren. Wenn sie nicht selber in der Nähe sind, geben sie einen entsprechenden Hinweis an EUNAVFOR MED oder an eine Küstenwache. Meine Damen und Herren, der Vorteil von Sea Guardian ist seine flexible Struktur. Deutschland beteiligt sich auch nicht ständig an der Mission. Es läuft praktisch so ab: Wenn ein deutsches Schiff zum Beispiel auf dem Weg zu einem anderen Einsatzgebiet das Mittelmeer passiert, dann meldet es sich bei Sea Guardian an. Für die Dauer der Passage gibt es dann seine Aufklärungsergebnisse an Sea Guardian, an die NATO weiter. Wenn die Passage zu Ende ist und es in einen anderen Einsatz geht, dann meldet es sich ab. Das ist im vergangenen Jahr ungefähr 20-mal passiert. Der deutsche Beitrag zu dieser Mission ist also alles in allem überschaubar. Es ist schon angesprochen worden: Unsere Marine ist in vielen Punkten an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Das sehen aber auch unsere Partner, die großes Verständnis dafür haben und großen Respekt vor dem zeigen, was unsere Marine im Mittelmeer und in anderen Seegebieten leistet. Wir sollten dennoch diesen Beitrag zu Sea Guardian fortsetzen. Er belastet uns nicht in großem Maße, aber er ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität; außerdem trägt es auch zur Sicherheit in Deutschland und in Europa bei, wenn wir wissen, was auf dem Mittelmeer passiert. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/22 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Also ist die Überweisung so beschlossen.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit all diesen Vorlagen und vorbereitenden Beschlüssen zeigen wir, dass die wichtigste deutsche Institution, nämlich das Parlament, trotz der Debatten über eine Regierungsbildung handlungsfähig ist. Deutschland ist ein Land, das über viel Einfluss in der Welt verfügt, mehr als uns Deutschen manchmal bewusst ist. Aber damit verbindet sich auch die Erwartung sehr vieler anderer Nationen gegenüber uns, dass wir Deutsche diesen Einfluss nutzen für Frieden und Stabilität, auch für Hilfe und Unterstützung für die wirklich Schwachen auf der Welt. Verantwortungsbereitschaft ist wohl der Begriff, auf den man all diese Erwartungen anderer Völker dieser Erde weit über Europa hinaus mit Blick auf uns Deutsche zusammenfassen kann. Vor allem blicken diejenigen, die sich nach den Irritationen in der Welt gerade jetzt auf Deutschland als Repräsentant einer freien und liberalen Weltordnung verlassen, auf uns – übrigens leider auch die Gegner einer freien und liberalen Weltordnung. Bei all der Notwendigkeit, jetzt Wege zu finden, müssen wir aufpassen, dass die Gegner dieser freien und liberalen Weltordnung nicht versuchen, uns Deutsche und unser Handeln im eigenen Land als scheinbaren Beleg dafür zu missbrauchen, dass westliche Demokratien am Ende eben nicht ausreichend handlungsfähig sind. Auch deshalb glaube ich, setzen wir mit dem, was wir gerade in der internationalen Politik vorbereiten, ein deutliches Signal dafür, dass die wichtigste Institution einer westlichen Demokratie, das deutsche Parlament, handlungsfähig und handlungsbereit ist, meine Damen und Herren. ({0}) Was immer wir also in den nächsten Wochen auch tun werden: Wir dürfen auf keinen Fall Belege für diejenigen schaffen, die sich über die Schwächung einer liberalen und freiheitlichen Weltordnung freuen. ({1}) Weil das vielleicht in Zukunft in diesem Haus immer wieder eine Rolle spielen wird, will ich auch gerne das Gelöbnis – bei mir war es ein Eid – aufgreifen, das vorhin hier zitiert wurde. Ich glaube, wir sind es den Menschen in unserem Land schuldig, ihnen klar zu sagen, dass das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes eben nicht mehr nur an den Grenzen unseres Landes gesichert werden können. ({2}) Übrigens: Derjenige, der für das eigene Recht und die eigene Freiheit eintritt, darf das Recht und die Freiheit anderer auf der Welt nicht ignorieren – allemal dann nicht, wenn es sich um die Vereinten Nationen handelt, die dieses Recht und diese Freiheit garantieren wollen. ({3}) Wir würden schnell und bitter erfahren, wie verletzlich die Freiheit und das Recht in unserem Land sind, wenn uns die Freiheit und das Recht in anderen Ländern gleichgültig wären. Meine Damen und Herren, diese Verletzlichkeit haben wir ja leider vor fast genau einem Jahr auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz erleben müssen. Nach Paris, Brüssel, Istanbul und weiteren Metropolen hat der IS-Terror damals auch uns mit einem Anschlag getroffen, der gerade das Leben in einer westlichen freien Demokratie verunsichern sollte. Die Terrororganisation IS hat aber vor allem über die Menschen in Syrien und im Irak unglaubliches Grauen und Leid gebracht. Sie sind diejenigen, die vor allem unter der IS-Schreckensherrschaft gelitten haben und übrigens immer noch leiden. Dennoch müssen wir sehen: In der Bekämpfung des IS sind wir in den letzten vier Jahren – seit 2015 auch mit deutscher militärischer Beteiligung – weitergekommen. Ich habe mir im April dieses Jahres während meiner Reise in den Irak ein eigenes Bild machen können – sowohl von den grauenhaften Auswirkungen der IS-Herrschaft als auch davon, was beim Wiederaufbau notwendig sein wird und was uns dort gelingen muss, wo der IS besiegt ist. Denn: Den IS zu besiegen und die Menschen in der Hoffnungslosigkeit zu belassen, hat zur Folge, dass er oder andere Terrororganisationen neu entstehen werden. ({4}) Bis heute bin ich fassungslos angesichts der Grausamkeit, der die Menschen dort ausgesetzt waren. Vielleicht am entsetzlichsten ist der gezielte Missbrauch unschuldiger Zivilisten, selbst Kinder, als menschliche Schutzschilde. Und wo der IS einmal war, da besteht die Bedrohung weiter fort, auch wenn seine Kämpfer vertrieben sind. Minen und Sprengfallen bedrohen das Leben der Bewohner der befreiten Dörfer und Städte. Deshalb sage ich mit großer Überzeugung: Wir dürfen bei der Bekämpfung des IS und bei der Überwindung seiner furchtbaren Hinterlassenschaften nicht nachlassen. Das Gute ist: Wir können heute feststellen, dass die internationale Anti-IS-Koalition große Fortschritte erreicht hat. Sie sind bei weitem noch nicht ausreichend, keine Frage, aber der Stopp einer Beteiligung an dieser Anti-IS-Koalition würde das Erreichte infrage stellen. Die Koalition besteht mittlerweile aus fast 70 Staaten und 4 internationalen Organisationen und kämpft gemeinsam mit ihren regionalen und lokalen Partnern vor Ort. Auf diese Weise, durch diese gemeinsame Anstrengung, hat der IS das von ihm kontrollierte Gebiet im Irak und in Syrien weitgehend verloren. Meine Damen und Herren, vor einem Jahr stand der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – damals als Außenminister – hier und beschrieb bei der Debatte um ebendieses Mandat die Trümmerwüste von Aleppo, die traumatisierten Menschen von Mosul. Seine Worte waren damals: Dieser Wahnsinn kann und darf nicht weitergehen. Er muss ein Ende haben. Dass heute, ein Jahr später, der IS aus Mosul vertrieben ist, dass an so vielen anderen Stellen der IS besiegt ist, das zeigt doch, dass das gemeinsame internationale Engagement, an dem wir Deutsche einen Anteil haben, zwar nicht zu 100 Prozent erfolgreich ist, natürlich auch in anderen Teilen der Welt nicht ausreichend ist, aber dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es zeigt aber vor allen Dingen eines: dass wir auf der richtigen Seite stehen, auf der Seite von Freiheit und Recht und Menschenrechten. Das ist doch das, was uns Deutsche auszeichnet. ({5}) Wo stände dieses Land, wenn sich angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkrieges nicht andere bereitgefunden hätten, für die Freiheit Europas auch ihre Söhne und Töchter in einen gefährlichen Krieg zu schicken? Wo ständen wir heute? Wir hätten kein freies Parlament ohne den Mut unserer heutigen Partner und der damaligen Gegner Deutschlands, meine Damen und Herren. ({6}) Wir sind die Profiteure des Mutes anderer, und wir sollten heute nicht den Eindruck erwecken, wir hätten weniger Mut, weniger Verantwortungsbereitschaft und uns sei die Unterdrückung der Menschen in anderen Teilen der Welt egal. Damals war es anderen nicht egal, unter welcher Herrschaft Europa zu leiden hat, und heute darf es uns nicht egal sein, wie andere Menschen auf der Welt zu leben haben. ({7}) Das schulden wir den vielen unschuldigen Opfern des IS in der Region genauso wie wir es uns selber schulden. Ja, das ist unbequem. Ja, das ist auch keine Antwort auf die Fehler der Vergangenheit, die auch gemacht worden sind, aber es ist eine Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft für uns und für die, die heute von Krieg und Terror betroffen sind. Wir Deutsche beteiligen uns wie bisher nicht an den Luftschlägen der Anti-IS-Koalition. Das ist im Antrag zur Verlängerung des Mandats weiter sichergestellt. Aber wir leisten unseren Anteil, indem wir Aufklärung betreiben, Luftbetankung beisteuern und uns mit AWACS beteiligen. Die beschriebenen Fortschritte in der militärischen Auseinandersetzung sind nicht das Ende, sondern der Startpunkt unserer Bemühungen für die Region. Ja, es stimmt: Die Einsätze dauern länger. Aber sie dauern doch nicht deshalb länger, weil wir sozusagen aus geostrategischen Interessen diese Einsätze verlängern wollen, sondern weil die Welt überall mehr vom Terror als vom Frieden beherrscht wird. Insofern dürfen wir nicht nachlassen, das zu stoppen, meine Damen und Herren. ({8}) Also: Wir engagieren uns genauso substanziell mit zivilen Instrumenten. Insgesamt ist Deutschland einer der größten internationalen Geber, im Irak seit 2014 mit über 1 Milliarde Euro Hilfe in Form von humanitärer Hilfe, Stabilisierungsmaßnahmen und Entwicklungszusammenarbeit. Zuletzt konnten wir 150 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und zur Stabilisierung in Mosul bereitstellen. Mit 250 Millionen Euro unterstützt die Bundesregierung den Wiederaufbau von Mosul. Für die Räumung von Sprengfallen im syrischen Rakka haben wir vor kurzem 10 Millionen Euro bereitgestellt. Das heißt, es geht bei weitem nicht nur um Militäreinsätze, sondern es geht auch darum, dass das, was wir im zivilen Bereich schaffen wollen, militärisch auf Dauer abgesichert sein muss. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Bundesministerin der Verteidigung. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut zwei Jahren hat der Bundestag die Teilnahme der Bundeswehr am Kampf gegen den Terror des IS beschlossen. Es waren damals die grausamen Bilder der Anschläge von Paris, die uns vor Augen geführt haben, wie unmittelbar auch wir hier im Herzen Europas von dem Wüten des IS im Nahen und Mittleren Osten betroffen sind. Aus dieser Situation heraus ist dieser Einsatz Counter Daesh entstanden, um unsere französischen Freunde zu unterstützen, aber auch, weil es in unserem ureigenen Interesse ist, den Terror genau dort zu bekämpfen, wo er sein Zentrum hat und von wo er seine Anschläge orchestriert. ({0}) Es sind weitere Anschläge gefolgt: New York, London, Kabul, Barcelona und vor einem Jahr auch hier in Berlin. Meine Damen und Herren, wir erinnern uns daran, wenn es um die Frage geht, wie wir weitermachen mit unserem Engagement in der breiten Koalition gegen den Terror, die sich daraus entwickelt hat – eine Koalition von europäischen, transatlantischen, arabischen, asiatischen Staaten; auch die NATO ist Teil der Koalition, ebenso die Vereinten Nationen, die Europäische Union –: Wir alle haben uns aus guten Gründen im Kampf gegen den Terror verbündet. Das ist ein Kampf, der umfassend ist. Er findet zu Lande, aber auch zur See statt. Wenn ich in der allerersten Rede, die die AfD hier im Bundestag zu einer Sachfrage, zu einem Mandat, hält, höre, wie sie die Tatsache, dass die deutsche Marine in den vergangenen zwei Jahren über 21 000 Menschen das Leben gerettet hat, verunglimpft, dann sage ich: Sie stellt sich damit gegen ewiges internationales Seerecht. ({1}) – Dadurch, dass Sie jetzt schreien, werden Ihre Argumente auch nicht besser. Wir wissen, dass wir auf dem Boden des Rechtes Verpflichtungen haben. Wir halten dieses ewige internationale Seerecht ein. Genauso versuchen wir, Lösungen für die verzweifelten Menschen zu finden, die den Schleppern und Schleusern in die Hände gefallen sind. Ebenso beteiligen wir uns an der Bekämpfung der Fluchtursachen. Das tun wir mit Mut und mit Nachhaltigkeit sowie bei den Einsätzen, die wir hier besprechen. ({2}) Inzwischen hat der IS insgesamt 95 Prozent des Territoriums, das er einmal gehalten hat, verloren. Fast 7 Millionen Syrier und Iraker wurden aus seiner Herrschaft befreit. Allein im Irak konnten über 2,3 Millionen Menschen in die Heimat zurückkehren. Aber die Strukturen des IS sind noch lange nicht zerschlagen. Es ist uns gelungen, ihn physisch zu schlagen. Aber das virtuelle Kalifat, das Gift des IS, ist noch lange nicht verschwunden. Und damit bleibt der IS auch weiterhin eine unmittelbare und direkte Gefahr für Deutschland, für unsere Bündnispartner und für die internationale Gemeinschaft. Es ändern sich jetzt die Gewichte. Wir werden mehr und mehr auf Absicherung und Stabilisierung gehen. Das umschreibt auch die Aufgaben dieses Mandates, nämlich dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Rahmen dieses Mandates leisten: Aufklärung aus der Luft, Betankung in der Luft, Bereitstellung von Personal in den Stäben, Luftraumüberwachung an Bord von AWACS-Flugzeugen der NATO. In den vergangenen zwei Jahren haben wir mehr als 1 050 Tornadoeinsatzflüge über Syrien und Irak gehabt und über 550 Einsätze zur Luftbetankung durchgeführt. Ja, lieber Graf Lambsdorff – ich habe mich gefreut, Ihre Worte aus der FDP zu hören –: Das zehrt an der Substanz, die die Bundeswehr hat – gar keine Frage. Seit der Wiedervereinigung, nach 25 Jahren Schrumpfen und Kleinerwerden und Kürzen der Ressourcen bei der Bundeswehr war es gut und richtig, dass wir vor zwei Jahren endlich die Trendwenden eingeleitet haben. Wir wachsen wieder: bei Material, bei Personal, bei Finanzen. Ich freue mich, dass die FDP in Zukunft eine Unterstützerin der Union sein wird, wenn es darum geht, die Bundeswehr richtig auszurüsten und auszustatten. Danke dafür. ({3}) Für uns heißt das aber auch weiterhin: Solange der politische Prozess in Syrien, also vor allem die Genfer Gespräche unter Leitung der Vereinten Nationen, noch weit von einer Lösung entfernt ist, solange Präsident Assad mithilfe von Russland und Iran in weiten Teilen des Landes seine diktatorische Macht ausüben kann, solange im Irak die Zentralregierung in Bagdad noch zeigen muss, wie sie eine Zukunft für den Gesamtstaat baut, in dem alle – Schiiten, Sunniten, Kurden und andere Bevölkerungsgruppen – einen guten Platz finden, und solange der IS-Terror in beiden Ländern noch weiterhin operiert, wird Aufklärung nötig sein. Der Umzug unserer Tornados und Tanker von Incirlik nach al-Azraq in Jordanien hat reibungslos funktioniert, und ich möchte an dieser Stelle unseren jordanischen Freunden ausdrücklich für die rasche und gute Aufnahme danken. ({4}) In welchem Maß sich die Bundeswehr an diesem Einsatz zukünftig beteiligen wird, das werden wir im Bundestag ausführlich zu beraten haben. Damit hierfür genügend Zeit bleibt, bitte ich heute um Zustimmung zu einer unveränderten dreimonatigen Verlängerung dieses Mandates. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Kleinwächter von der AfD. Auch für ihn ist es die erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Dieser Einsatz markiert nicht nur einen Tiefpunkt der Diplomatie der ­Merkel-Regierung, dieser Antrag markiert auch einen Tiefpunkt ihres Verständnisses dessen, was Recht ist. ({0}) Wir sind uns einig: Der selbsternannte „Islamische Staat“ ist das Gegenteil unserer westlich-demokratischen Werte. Wir verurteilen die Gräueltaten dieses Terrorregimes aufs Schärfste. Diese Ideologie des IS muss bekämpft werden. ({1}) Der IS überhöht sunnitische Glaubenstraditionen ins Extreme. Er greift auf mittelalterliche Glaubenslehren zurück. Er nimmt den Koran wörtlich und erklärt die Scharia zum Gesetz. Das aber hat gemeinsame Ursprünge mit verwandten Glaubensrichtungen und strahlt auch auf sie aus. Nein, man kann nicht glaubwürdig den IS als Feind erkennen und zugleich pauschal verkünden, der Islam gehöre zu Deutschland. ({2}) Dieser Antrag reiht sich in eine lange Liste von Beschlüssen ein, in denen die Merkel-Regierung das Recht bis zur Unkenntlichkeit dehnt und bricht: Beim Euro ignorieren Sie die Maastricht-Verträge, bei der Massen­immigration das Dublin-Übereinkommen sowie das Grundgesetz und beim Einsatz gegen den IS nun das Völkerrecht. Hier in Deutschland verlieren Menschen ihre Stelle, wenn sie gegen einen Halbsatz ihres Arbeitsvertrages verstoßen, und Sie interpretieren gleich internationales Recht um. Es ist schon abenteuerlich, was der Bundestag laut Antrag der Bundesregierung hier beschließen soll: Wir sollen feststellen, dass wir uns auf Artikel 51 der UN-Charta berufen. Da steht aber, dass das Recht auf Selbstverteidigung nur gilt, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Zwei Jahre – zwei Jahre! – ({3}) nach dem ersten Antrag berufen Sie sich immer noch auf diesen Quasi-Notwehr-Artikel für Frankreich und für den Irak, der zudem für den bewaffneten Angriff von Staaten gilt, aber nicht für Terroristen. So etwas können wir hier doch nicht feststellen. Oder wollen Sie indirekt den IS als Staat anerkennen? Da sage ich Ihnen: Das wollen und werden wir nicht. ({4}) Sie rechtfertigen militärische Gewalt mit der Resolution 2249 des Sicherheitsrates. Diese enthält aber keine Aufforderung zur militärischen Intervention nach Artikel 42 der UN-Charta, die völkerrechtlich notwendig wäre. Vielmehr betont sie politische Prozesse und die Souveränität aller Staaten. Sie aber verletzen die Souveränität Syriens, indem Sie dort ohne Einverständnis der Regierung und ohne UN-Mandat operieren, ({5}) unter dem Vorwand, dass Syrien die Angriffe des IS auf den Irak nicht abhalten könne oder wolle. Syrien hat den Irak nicht angegriffen. Egal wie sehr Sie seine Regierung verabscheuen – seine Souveränität ist unantastbar. Sie brauchen das Einverständnis der Regierung oder ein UN-Mandat. ({6}) Ebenso konstruiert ist der Bündnisfall nach Artikel 42 Absatz 7 der EU-Verträge. Frankreich hat im Kampf gegen den IS in Syrien den Bündnisfall ausgerufen, nachdem es bereits zwei Monate Luftangriffe in Syrien geflogen hatte, und zwar auf Grundlage eines Terroranschlags, verübt von Belgiern und Franzosen. Kein einziges Mal wird der eigentlich einschlägige Artikel 222 AEUV erwähnt, der explizit die europäische Hilfe bei Terroranschlägen regelt. Diese würde freilich nur in Frankreich und nicht sonst wo auf der Welt zulässig sein. ({7}) In was für einem Europa leben wir eigentlich, wo bewusst falsche Grundlagen verwendet werden, um das zu erreichen, was man sich gerade einbildet? Das ist nicht das Europa, das sich die Menschen in Deutschland wünschen, ({8}) und das ist auch nicht das Europa, das wir Diktaturen und Islamisten in der Welt als positives Gegenbeispiel gegenüberstellen sollten. ({9}) Die AfD-Fraktion steht für Ehrlichkeit und Redlichkeit in der Politik. ({10}) Mit uns wird nichts zurechtgebogen, meine Damen und Herren. ({11}) Wir danken unseren Soldaten, die so tapfer unserem Land dienen und die so häufig von den etablierten Parteien vergessen werden – ({12}) deswegen haben wir am Volkstrauertag die gelbe Schleife getragen. Die Soldaten verdienen völkerrechtlich einwandfreie Einsätze. Der Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, meine Damen und Herren, enthält so viele Falschaussagen, dass er der Überweisung in den Hauptausschuss nicht würdig ist. Machen Sie zukünftig bitte Politik mit Anstand. Danke. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich dem Kollegen Michael Link von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gern nach der letzten Stellungnahme wieder zur Sache zurückkommen. ({0}) Viele von uns haben am Montag letzter Woche nach Paris geblickt, wo in aller Stille der 130 Todesopfer der schrecklichen Anschlagsserie vom November 2015 gedacht wurde. Zwei Jahre ist es her, dass diese Anschläge verübt worden sind, und noch immer sind wir angesichts dieses Terrors erschüttert und fassungslos. Noch frischer ist unsere Erinnerung an den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, nur wenige Kilometer von hier entfernt, der sich in weniger als einem Monat zum ersten Mal jähren wird. Die Erinnerung daran bleibt wach. Unsere Gedanken werden am 19. Dezember bei den Opfern und deren Angehörigen sein. Diese Anschläge und unzählige andere in den vergangenen Jahren haben eines gemeinsam, nämlich, dass sie grausam und hinterhältig waren, vor allen Dingen aber, dass sie in unmittelbarem Zusammenhang mit den Aktivitäten des sogenannten „Islamischen Staates“ stehen. Frankreich hat deshalb – darauf will ich ausdrücklich hinweisen; es ist noch nicht erwähnt worden – zum ersten Mal von Artikel 42 des EU-Vertrages Gebrauch gemacht. Es ist ein ganz wichtiger, zentraler Artikel, den wir uns gegeben haben, der besagt, dass ein Angriff auf einen Staat der EU ein Angriff auf alle ist – eine Beistandsverpflichtung. Dazu möchte ich mich auch im Namen meiner Fraktion ganz ausdrücklich bekennen. Dieser Artikel 42, verehrte Kollegen auch der AfD, ist eine sehr wichtige Rechtsgrundlage. Es gibt noch wesentlich mehr Rechtsgrundlagen. Wir können in den Ausschussberatungen gerne über Artikel 51 der UN-Charta und die verschiedenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats diskutieren; darüber werden wir zu beraten haben. Aber eines ist klar: Spätestens nach den Ereignissen von Paris – deshalb hatte Frankreich um Hilfe gebeten – war es wichtig, etwas zu tun. Auch wenn meine Fraktion damals nicht im Bundestag war: Wir fanden und finden es richtig, dass sich Deutschland seit 2014, 2015 aktiv an der internationalen Allianz zur Bekämpfung des IS beteiligt. ({1}) In der Tat können wir auf Grundlage des Mandats, so wie es heute zusammengesetzt ist – es sind ja verschiedene Elemente dazugekommen –, einige Erfolge vorweisen. Die AWACS-Tornados, die seeseitige Aufklärung etc. pp. sind erwähnt worden. All das hat schon einiges bewirkt. Aber machen wir uns nichts vor: Wir sind noch längst nicht an dem Punkt, an dem die vom IS auch territorial ausgehende Gefahr gestoppt ist. Deshalb macht es Sinn, über eine Verlängerung dieses Mandats – nicht nur technisch, sondern tatsächlich – um ein weiteres Jahr nachzudenken. Wir werden uns sehr gerne im Ausschuss bei der Verlängerung des Mandates in der gegenwärtigen Form einbringen. Klar ist, dass die militärischen Maßnahmen in eine politische Gesamtstrategie eingebettet sein müssen. Das übergeordnete Ziel unseres Engagements ist eine umfassende Friedenslösung für Syrien und eine dauerhafte politische Stabilisierung der Region. Die vielleicht größte politische Herausforderung bleibt es, einen politischen Prozess aufs Gleis zu setzen, der die Grundlage für das Ende des innersyrischen Konflikts legen kann. Und da, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es Anlass zur Sorge. Wir verzeichnen hier keine Fortschritte, und zwar weil sich das syrische Regime einem politischen Ansatz de facto verweigert und weiterhin auf eine militärische Lösung setzt. Assad war von vornherein nicht an Verhandlungen interessiert und hat jetzt, wo er Oberwasser hat, auch dank der Hilfe Russlands und des Iran, noch weniger Grund, sich ehrlich darauf einzulassen. Hier steht deshalb auch Russland in der Verantwortung, auf Damaskus einzuwirken. Wenn Russland – zu Recht – internationaler Partner auf Augenhöhe sein will, wäre hier ein großer Bereich, um helfend als Konfliktlöser mitzuwirken. Meine verehrten Damen und Herren, uns allen ist klar, dass der Bedrohung durch den Terrorismus nicht allein mit militärischen Mitteln begegnet werden kann. Nur durch vernetztes Handeln und durch den Einsatz militärischer, aber auch politischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Mittel kann das gelingen. Aber dazu ist es erforderlich, dass wir daran denken, dass wir unsere Soldatinnen und Soldaten in ihrer aktiven Tätigkeit unterstützen, und zwar nicht nur abstrakt, sondern auch mit Besuchen. Deshalb fanden wir es gut und wichtig, dass die Verlegung der Bundeswehrkontingente von Incirlik nach Jordanien stattgefunden hat. Es ist gut, dass ein Truppenstatut-Abkommen auf den Weg gebracht werden soll. Wir erwarten allerdings von der Bundesregierung ganz unzweideutig, dass auch weiterhin klargestellt wird, dass alle Versuche und Wünsche eines Besuchs bei den in Konya stationierten AWACS-Soldaten von der Türkei unverzüglich erlaubt, genehmigt und zugelassen werden. ({2}) Das ist ein ganz entscheidender Punkt, den wir vor einer Verlängerung des Mandates nicht deutlich genug herausstellen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute hat eine Fraktion versucht – ich verweise auf meinen Vorredner –, sich als Anwalt der Soldaten aufzuspielen. ({3}) Ich kann nur eines sagen: Die Bundeswehr ist, war und bleibt eine Parlamentsarmee, nicht die einer Fraktion, sondern eine Armee dieses gesamten Hauses. Wir werden uns bei der Sorgfalt in der Behandlung dieser Mandate nicht übertreffen lassen. Das war in der Vergangenheit so, das ist so, das wird auch so bleiben. Ich freue mich auf die Ausschussberatung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Abgeordnete Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung gibt vor, sich weiter am Krieg gegen den IS in Syrien und auch im Irak beteiligen zu wollen. Dabei wollen Sie, dass deutsche Tornados von Jordanien aus die Luftaufklärung für die Kriegskoalition aus ­NATO-Staaten, aber auch aus Golfdiktaturen übernehmen. Der Antrag der Bundesregierung allerdings wirkt wie aus der Zeit gefallen. In Syrien ist vor wenigen Tagen der IS aus der letzten von ihm gehaltenen Stadt von der syrischen Armee mit Unterstützung Russlands verdrängt worden. ({0}) Am gegenüberliegenden Euphrat-Ufer haben die kurdischen Kämpfer der YPG gemeinsam mit den US-Amerikanern den IS fast bis an die irakische Grenze gedrängt. So verbleiben dem IS nur noch wenige Wüstengebiete, von denen absehbar ist, dass sie binnen kurzer Zeit fallen werden. Was also will die Bundeswehr von Jordanien aus zur Bekämpfung des IS weiter beitragen? ({1}) Diese Antwort sind Sie heute hier schuldig geblieben, liebe Bundesregierung. ({2}) Dabei ist der Einsatz der Bundeswehr selbst bisher ein einziges Desaster. ({3}) Nachdem der Despot vom Bosporus uns Mitgliedern des Deutschen Bundestages unser Besuchsrecht verweigerte, verlegten Sie die deutschen Soldaten in die nächste Autokratie, nach Jordanien, und unterwarfen die Soldaten dort dann auch noch der Scharia-Gesetzgebung. Na, diese Soldaten werden sich bei Ihnen bedanken, Frau von der Leyen. ({4}) Wir als Linke finden das unverantwortlich. Es zeigt auch, wie abenteuerlich Ihre Außen- und Sicherheitspolitik ist. Es ist zudem ein Skandal, menschlich wie politisch, dass Sie sich in der Bundesregierung noch nicht einmal für die Folgen Ihres eigenen Bundeswehreinsatzes interessieren. Das wird an Ihrer Auskunft deutlich, man führe in Deutschland – ich zitiere – „keine Statistiken über die Zahl, Art oder Wirksamkeit der im Rahmen der Allianz geflogenen Lufteinsätze“ und deshalb könne man kein – Zitat – „umfassendes Bild über die … Wirksamkeit der Lufteinsätze … erstellen“. ({5}) Das, meine Damen und Herren, ist ein militärischer sowie politischer Offenbarungseid, und es ist eine humanitäre Bankrotterklärung von Ihnen, dass Sie nicht einmal vorgeben, eine Ahnung davon zu haben, welche Folgen Ihre Luftschläge für die Zivilisten in Syrien haben. Wir, Die Linke, wollen diesen Wahnsinn beenden. Wir finden, damit muss Schluss gemacht werden. ({6}) Vor diesem Hintergrund ist es heuchlerisch von Ihnen, einerseits die russischen Bomben zu verurteilen – das machen wir auch – und andererseits vorzugeben, nicht zu wissen, ob und wie viele Zivilisten bei Ihren eigenen Bombardements zu Tode kamen. Diese Heuchelei ist unerträglich, meine Damen und Herren. ({7}) Geradezu absurd und politisch an Zynismus kaum zu überbieten ist, dass die Bundeswehr in ein Kriegsabenteuer gegen den IS geschickt wird und gleichzeitig hier in Deutschland die Fahnen derjenigen verboten werden, die sich dem IS seit Jahren mutig entgegenstellen. ({8}) Es ist diese Fahne der kurdischen Volksverteidigungseinheiten, der YPG. ({9}) Herr de Maizière, ich finde, es ist eine Schande, dass Sie denjenigen, die die Jesiden vor den Terrorhorden des IS im Shengal gerettet haben, deren Frauenbataillone Kobane verteidigt haben, die die Hauptstadt des IS, Rakka, befreit haben, in den Rücken fallen. Diese mutigen Kämpferinnen und Kämpfer haben Ihre Heuchelei und Doppelmoral nicht verdient. ({10}) Deshalb sage ich: Beenden Sie diesen Bundeswehreinsatz! Lassen Sie die Bundeswehr nach Hause kommen; aber beenden Sie auch dieses schändliche Verbot der Fahnen der Menschen, die sich den Terrorbanden des IS auch an der Seite dieser Koalition in den letzten Jahren mutig entgegengestellt haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben irgendeine Fahne hochgehalten oder ein Bild davon. Wir prüfen gerade, was das war. Ich komme darauf möglicherweise zurück. ({0}) Jetzt hat das Wort die Kollegin Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren leiden viele Menschen in Syrien und im Irak unter dem Terrorregime von Daesh, dem sogenannten, selbsternannten „Islamischen Staat“. Ebenso leiden viele Menschen in Syrien nach wie vor unter den Grausamkeiten des Assad-Regimes. Ja, Daesh konnte im Irak und in Syrien zurückgedrängt werden. Es gibt wahrscheinlich nur noch ein Gebiet an der Grenze, in der Wüste, wo sie noch die Herrschaft haben. Dass Städte wie Mosul, Rakka und Rawa nicht mehr unter ihrer Herrschaft sind, ist sicherlich gut. Darüber muss man sich freuen. Aber es muss auch klar sein, dass man den Terror eben nicht militärisch besiegen kann, sondern nur politisch und dass das immer nur der Anfang eines Prozesses sein kann. ({0}) Giftgasangriffe, Fassbomben auf Marktplätzen, unvorstellbare Brutalität gegen die Zivilbevölkerung – ein Ende der Gewalt in Syrien ist nach wie vor nicht in Sicht. Meine Damen und Herren, nach den schrecklichen Anschlägen in Paris brachte die Große Koalition dieses Mandat auf den Weg. Wir als Grüne haben es wie alle Mandate, die Sie hier vorlegen, sehr sorgfältig geprüft. Uns war auch klar – das haben wir in jeder Debatte klargemacht –, dass angesichts der Gräueltaten in Syrien und im Irak und angesichts der Anschläge in Europa Tatenlosigkeit keine Option sein kann. Trotzdem haben wir Ihrem Mandat nicht zugestimmt. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Das ist ein Einsatz im Rahmen einer Koalition der Willigen, in der unterschiedliche Staaten hochwidersprüchliche Ziele verfolgen und immer wieder ihre eigenen kurzfristigen Interessen über eine gemeinsame Strategie stellen, die den Menschen in Syrien und im Irak wirklich hilft. In diesem Umfeld liefert die Bundeswehr beispielsweise Aufklärungsergebnisse, wenn sie über Syrien fliegt. Es besteht die Gefahr, dass die Türkei diese Informationen im Kampf gegen die Kurden missbraucht – ein Problem, auf das wir Sie immer wieder hingewiesen haben. ({1}) Ein weiteres Problem sind bestimmte rechtliche Punkte in diesem Mandat. Jetzt muss ich in Richtung der Rechtspopulisten sagen: Sie machen sich hier generell lächerlich, wenn Sie von Ehrlichkeit und Anstand sprechen. Ich kann Ihnen nach Ihrer Rede ohne jegliche Sachkenntnis vom Islam und von der Situation im Irak und in Syrien nur empfehlen ({2}) – auch die juristischen Ausführungen, die Sie gemacht haben, waren voller Fehler –: Sie sollten sich wenigstens kurz mit dem Gegenstand, über den Sie hier reden, beschäftigen. ({3}) Meine Damen und Herren, im Rahmen der leider gescheiterten Sondierungsgespräche haben wir intensiv auch darüber miteinander diskutiert, wie man dieses Mandat verbessern und eventuell weiterentwickeln kann, wie man sich von den problematischen Komponenten verabschieden kann und wie man den Einsatzrahmen so gestalten kann, dass er den rechtlichen Vorgaben entspricht. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, mit Blick auf das nächste Mandat genau diese Maßnahmen in Angriff zu nehmen und dies besser heute als morgen zu tun. ({4}) Meine Damen und Herren, auch wenn die Terroristen auf den ersten Blick aus den Städten vertrieben sein mögen: Das ist nur der Anfang. Nach wie vor sollten uns die Fragen beschäftigen: Wie können wir den Menschen in Syrien und im Irak helfen? Wie können wir sie unterstützen? Wie können wir dazu beitragen, dass es langfristig eine Verbesserung der Lage gibt und dass das Leid gelindert wird? Ja, Herr Außenminister, dazu gehört, dass man das Erste, das Sichtbare beseitigt, die Minen und die Sprengfallen. Aber es muss auch für eine Reihe von Jahren ein hohes Maß an schneller humanitärer Hilfe aufrechterhalten werden. Es geht auch um Worte und Überlegungen im Hinblick auf politische Konzepte für Versöhnung. Es geht darum, dass man diplomatischen Druck auf die Staaten, die die Lage dort immer wieder verschlimmern und verkomplizieren, ausübt. Es muss um Versöhnung gehen. Es muss darum gehen, dass die fragile Situation gelöst wird, und zwar langfristig. Dafür braucht es Hartnäckigkeit, dafür braucht es Einsatz, und dafür braucht es auch mehr Einsatz für eine gemeinsame Strategie unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ich glaube, dass wir unsere Rolle als Bundesrepublik Deutschland insbesondere mit Blick auf den Irak, wo wir sehen, dass aus alten Gräben neue Konflikte und neue Gewalt zu entstehen drohen, dazu nutzen sollten, versöhnungspolitische Prozesse voranzubringen. Da können Sie mehr tun. Tun Sie das auch. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Henning Otte von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute, in der ersten Sitzung nach der Konstituierung, sieben Mandate, die erst einmal um drei Monate verlängert werden sollen, um Kontinuität und Verlässlichkeit zu zeigen, aber auch, um nach drei Monaten einer neuen Bundesregierung Entscheidungskompetenz zu geben. Vorliegend geht es um ein Mandat im Kampf gegen den IS-Terror. Es geht darum, dass wir Sicherheit für die Länder in unserer Nachbarschaft produzieren. Aber es geht auch darum, die Sicherheit unseres Landes zu erhöhen. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu diesem Mandat. Einsätze unserer Bundeswehr sind immer mit einem Mandat des Deutschen Bundestages verbunden, sie finden immer gemeinsam mit unseren Partnern statt, und sie haben immer eine sichere Rechtsgrundlage. Die Bundesverteidigungsministerin hat deutlich gemacht, mit wie vielen Nationen und unterschiedlichen Institutionen wir im Kampf gegen den Terror des „Islamischen Staates“ zusammenarbeiten. Der Rechtsrahmen hierfür ist klar: Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen und Artikel 42 Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union. Wir fühlen uns dem Völkerrecht verbunden, und wir stehen für Recht und Rechtsstaatlichkeit ein. Auch deswegen sagen wir als Union: Wir stimmen diesem Mandat zu, meine Damen und Herren. ({0}) Der IS-Terror hat eine ganze Region mit Gewalt überzogen. Nicht durch Schweigen, sondern durch Handeln muss man sich diesem Terror entgegenstellen. Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Wir sagen: Wir müssen auch dort handeln, wo Konflikte entstehen, und wir müssen uns den Konflikten dort entgegenstellen, damit sie nicht zu uns kommen und auch hier Frieden und Sicherheit bedrohen. Wir als Deutschland stellen uns dieser Verantwortung. Der Philosoph Georg Picht hat einmal gesagt: Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sich der Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen. Deutschland steht ein für Rechtsstaatlichkeit, für Frieden und für Sicherheit. Allein in meinem Wahlkreis leben viele Jesiden, deren Angehörige dem Terror ausgesetzt waren und Opfer dieses Terrors geworden sind. Ob im Sindschar, in Aleppo oder in Mossul – viele Menschen waren betroffen und mussten ihre Heimat verlassen. Es geht deshalb darum, dass wir weiter einen erfolgreichen Beitrag leisten und diese Auslandseinsätze der Bundeswehr umsetzen, damit der Terror eingedämmt wird. Der beharrliche Einsatz der Gemeinschaft hat gezeigt: Der Terror kann zurückgedrängt werden, der Terror kann zerschlagen werden, die Struktur und die Organisation des Terrors werden beseitigt. Deswegen ist dieser erfolgreiche Kampf gegen den IS so wichtig. Es gilt, ihn weiter zu führen, zu sichern und zu verstetigen, damit der Terror besiegt werden kann – auch für die Sicherheit unseres Landes. ({1}) Wir leisten Beiträge für Stabspersonal, für Marine­einheiten und für Luftaufklärung – auch mit unseren Recce-Tornados –, damit wir ein Gesamtbild über das Gebiet des IS-Terrors bekommen. Ich kann deutlich sagen, dass auch die AWACS-Flüge im NATO-Verbund einen wichtigen Beitrag zur Luftaufklärung und zum Luftlagebild leisten. Wir haben uns am Standort Konya als Fachpolitiker überzeugen können, dass dieser Einsatz notwendig ist und dass es unseren Soldaten dort gut geht. Auch am neuen Standort al-Azraq in Jordanien sind unsere Soldaten im Einsatz. Frau Dağdelen, ich kann Ihnen sagen: Es ist dort ein Truppenstatut gegeben. Unsere Bundesverteidigungsministerin hat sich dafür eingesetzt. Ich würde Sie herzlich bitten, dies auch zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Kein Konflikt kann allein militärisch gelöst werden. Wir brauchen einen vernetzten Ansatz: diplomatische, aber auch zivile Wege. Deswegen nimmt Deutschland im Zivilen, beim internationalen Aufbau, auch eine ganz wichtige Rolle ein. Ich danke allen Soldatinnen und Soldaten und auch allen zivilen Kräften, die hierzu einen Beitrag leisten, damit wir Sicherheit in dieser Region produzieren können – auch für unser Land. Ein herzliches Dankeschön dafür! ({3}) Ich sage abschließend: In diesen turbulenten Zeiten ist es für uns von herausragender Bedeutung, dass wir in ein Wertebündnis eingebunden sind und dass wir für den Frieden in der Welt und den Zusammenhalt in Europa einstehen. Für diese Sicherheit und Stabilität steht die Union, die CDU/CSU, mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ich bitte um Zustimmung zu diesem Mandat. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bevor ich die Aussprache schließe, Frau Kollegin Dağdelen, muss ich darauf zurückkommen, dass das Zeigen einer Fahne vom Rednerpult aus zumindest unparlamentarisch ist. Das hätte nicht sein müssen. ({0}) – Ich rüge es als unparlamentarisch. ({1}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/23 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({2}) – Dann muss ich darüber abstimmen lassen. Wer ist für die Überweisung an den Hauptausschuss? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist das bei Gegenstimmen der AfD und Zustimmung der anderen Fraktionen so beschlossen.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorweg, Frau Dağdelen. Sie haben nicht genau gesagt, um wen es Ihnen ging. Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Die PKK ist in diesem Land deshalb verboten, weil sie hier in diesem Land Nötigung, Erpressung, Drogenhandel, Menschenhandel und all das betrieben hat. ({0}) – Sie haben ja nicht genau gesagt, wen Sie meinen. ({1}) Sagen Sie doch nächstes Mal einfach klar, wen Sie meinen. Diese Organisation ist hier verboten, weil sie sich in diesem Land so verhalten hat, dass man sie besser verbieten sollte. ({2}) Wenn die deutsche Polizei gegen das Zeigen dieser Fahnen und die Leute, die diese Organisation führen, vorgeht, dann sichert die deutsche Polizei die Durchsetzung von Recht und Gesetz in diesem Land. Nichts anderes tut sie. ({3}) Ich wollte das nur klarstellen, weil wir in anderen Beziehungen darauf angewiesen sind, dass uns auch die Menschen in anderen Ländern verstehen. Meine Damen und Herren, nach 16 Jahren Afghanistan-Einsatz fragen sich viele Menschen: Ist es wirklich richtig, dass weiter deutsche Soldaten am Hindukusch stehen? Ich finde, wir wären nicht recht bei Trost, wenn wir mit dieser Frage nicht im wahrsten Sinne des Wortes ringen würden. Ich finde aber auch: Wir müssen zu unserer internationalen Verantwortung stehen und uns deshalb in der Frage des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan durchringen. Ja, der Einsatz in Afghanistan ist und bleibt hochgefährlich und bei weitem nicht widerspruchsfrei. Wie schwierig die Sicherheitslage nach wie vor ist, haben in den letzten zwölf Monaten die verheerenden Anschläge auf unser Generalkonsulat in Masar-i-Scharif und unsere Botschaft in Kabul in dramatischer Weise gezeigt. Ja, Fortschritte bei der innerafghanischen Versöhnung bleiben weit hinter unseren Erwartungen und Hoffnungen zurück. Und ja, wenn die neue Administration in Washington weniger entschieden als in der Vergangenheit auf eine politische Lösung für Afghanistan setzt, dann verunsichert das die gesamte Region. Ich weiß übrigens, dass auch in diesem Haus am Anfang das Setzen auf politische Lösungen zum Teil verlacht wurde. Ich kann mich jedenfalls noch gut daran erinnern, wie der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck verhöhnt worden ist, als er darüber geredet hat, dass man auch mit den Taliban reden müsse. Hätte man das früher begonnen, wäre uns vielleicht manches erspart geblieben, meine Damen und Herren. ({4}) Manche hier wird das, was dort passiert, in all ihren Vorbehalten gegen Militäreinsätze im Allgemeinen und diesen Einsatz im Besonderen bestärken. Es wird sie in der Haltung bestärken: Am besten holen wir unsere Soldatinnen und Soldaten möglichst schnell heim und beschränken uns auf Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechtsschutz und Bildungsarbeit. – Das ist eine ehrenwerte Position. Ich glaube aber, wer so argumentiert, der sollte sich nicht allzu sicher fühlen; denn würden wir so entscheiden, dann hieße das letztlich, dass auch die Bemühungen um Menschenrechte, Zusammenarbeit und Bildung schnell wieder in Gefahr gerieten und zerstört würden. Wir ließen die afghanische Bevölkerung im Stich, die ihre Hoffnung auf uns und die internationale Staatengemeinschaft setzt. Es hieße, den Schauplatz Afghanistan anderen zu überlassen, die sich vielleicht nicht wie wir von der Vision einer politischen Lösung leiten lassen. Und es hieße: Wir würden uns der großen Verantwortung für eine friedliche internationale Ordnung entziehen, die unserem Land in den letzten Jahren so sehr zugewachsen ist.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Minister, die Kollegin Dağdelen möchte gerne eine Kurzintervention machen. Gestatten Sie das?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Selbstverständlich. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ich hatte verstanden, sofort. Bitte sehr, dann machen wir das nach der Rede.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Schade. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Also doch. – Bitte sehr, Sie haben das Wort, Frau Kollegin.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Uns fehlt niemals der Mut. Das ist anders als bei Ihnen, Herr Kollege. Aber, Herr Gabriel, kommen wir zum Thema. Meine Kollegen hatten mich gebeten, Ihre Rede nicht noch zu verlängern. Deshalb hatte ich mich eigentlich zu einer Kurzintervention gemeldet, aber egal; ich sehe es dem Präsidenten nach. Ich möchte Sie nur um eines bitten: Zur Redlichkeit unter Kollegen gehört, Herr Gabriel, nicht zu behaupten, dass eine Kollegin oder ein Kollege etwas getan haben soll, was sie oder er nicht getan hat. Ich habe in meiner Rede – das wissen Sie ganz genau – nirgendwo eine Organisation erwähnt, die von Ihnen erwähnt wurde, nämlich die PKK, die natürlich als Terrororganisation gelistet ist. Ich habe eine andere Organisation genannt, nämlich die kurdischen Volksverteidigungseinheiten, die YPG. In dem Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, dass diese Bundesregierung heuchlerisch ist, weil sie einerseits sagt, dass diese Organisation, die auf keiner internationalen Terrorliste steht und deshalb auch keine verbotene Organisation ist, nicht dem Vereinsverbot unterliegt, es aber andererseits auf Wunsch des türkischen Präsidenten einen Erlass gibt, die Fahnen und Symbole dieser Organisation in Deutschland zu verbieten. Das hat mit dazu geführt, dass letzte Woche ein junger Wissenschaftler in München um sechs Uhr morgens von der Polizei geweckt wurde, um bei ihm eine Hausdurchsuchung durchzuführen, weil er auf Facebook mit diesen Kämpfern sympathisiert hat gegen die Barbaren des „Islamischen Staats“. Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG kämpfen an Ihrer Seite gegen den IS. Sie kämpfen an der Seite der US-Amerikaner, und Sie unterstützen das. ({0}) Ich finde es heuchlerisch, sich zum Büttel des türkischen Präsidenten zu machen, der von der Bundesregierung verlangt, die Kurden hier wegen ihrer Sympathie mit den Kämpfern gegen den IS in Syrien zu kriminalisieren. Das habe ich gesagt und nichts anderes. ({1}) Zur Redlichkeit gehört: Wenn Sie mich ansprechen, dann unterstellen Sie mir nichts, sondern sprechen Sie zur Sache. Finden Sie es richtig, dass hier die Fahnen und Symbole der YPG, die gegen den IS in Syrien kämpft, verboten werden? Beantworten Sie diese Frage, Herr Gabriel! ({2})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Nein, es ist alles gut. Ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar. Die Antwort lautet: Niemand aus der Bundesregierung verbietet das Tragen von Symbolen oder eine Vereinigung mit ihren Repräsentanten in Deutschland auf Druck von Herrn Erdogan. ({0}) Wenn Sie ausgerechnet mir den Vorwurf machen, ich würde mich Herrn Erdogan unterwerfen, dann, muss ich sagen, entbehrt das nicht einer gewissen Form von Humor. ({1}) Bei Ihnen ist nach meinem Eindruck bei diesem Thema – – ({2}) – Ich habe Ihnen ganz ruhig zugehört. Machen Sie das doch umgekehrt auch; denn wir beide sind mutig. ({3}) Ich habe klargemacht, wann man bei uns Organisationen verbietet. Das tun wir, wenn sie in diesem Land Kriminalität unterstützen. Ich habe auch gesagt, wen das betrifft. Dazu brauchen wir Herrn Erdogan nicht; das haben wir selbst gemacht. Zur YPG wiederhole ich: Niemand in diesem Land, schon gar nicht die Bundesregierung oder Länderregierungen, verbietet Organisationen, weil irgendjemand aus dem Ausland das von uns fordert. Insofern gibt es keinen Grund für den Vorwurf der Heuchelei, jedenfalls nicht an die Regierung. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Jetzt ist die Intervention beendet.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Was glauben Sie, wie viel Lust ich auf eine Debatte hätte! Aber das gestattet mir der Präsident nicht. Zurück zu dem Inhalt des Antrages. Meine Damen und Herren, wir sind nicht in Afghanistan, um einen politischen Konflikt mit militärischen Mitteln zu lösen. Das wäre zum Scheitern verurteilt. Wir sind auch nicht dort, um „blühende Landschaften“ zu schaffen. Das wäre eine naive Illusion. Wir sind schlicht und einfach dort, um die notwendige Stabilität dafür zu schaffen, dass die Afghanen selbst ihre Angelegenheiten im Rahmen eines Versöhnungsprozesses in die eigenen Hände nehmen können. Dafür aber braucht es zuallererst Sicherheit, zu der Resolute Support einen nach wie vor unverzichtbaren Beitrag leistet. Die Mission ist weiterhin kein Kampfeinsatz. Sie wird weiter nicht unmittelbar an Terror- oder Drogenbekämpfung beteiligt sein. Wir dürfen keine Wunder erwarten. Aber was bei der Stabilisierung in den letzten Monaten trotz aller Rückschläge gelungen ist, gibt doch Grund zur Hoffnung. Die Taliban haben dieses Jahr keinen ernsthaften Angriff auf eine Provinzhauptstadt unternommen und keine Distriktzentren dauerhaft einnehmen können. Die afghanischen Streitkräfte sind dank der internationalen Unterstützung deutlich leistungsfähiger geworden. Dem IS ist es nicht gelungen, seinen Einfluss auszuweiten. Daran hat Resolute Support maßgeblichen Anteil. Auch bei den politischen Reformen hat es zumindest Lichtblicke gegeben. Lassen Sie mich nur einen hervorheben: Präsident Ghani hat mit einem Gerichtshof für Korruptionsfälle, mit der Entlassung hochrangiger Beamter wegen Korruptionsvorwürfen und einer Antikorruptionsstrategie erste wichtige Zeichen gesetzt. Vieles bleibt zu tun. Nächstes Jahr sollen endlich die überfälligen Parlamentswahlen stattfinden. Hier steht Afghanistan vor einer Herkulesaufgabe, aber eben auch vor einer Sicherheitsherausforderung. Wir wollen das nach Kräften unterstützen. Entscheidend ist – da gebe ich allen Kritikern des Militäreinsatzes recht –: Letztlich wird nur eine politische Übereinkunft die Lösung der gewaltsamen Konflikte in Afghanistan herbeiführen. Ein Friedens- und Versöhnungsprozess zwischen Regierung und Aufständischen wird aber nicht möglich sein, solange die Taliban darauf hoffen können, ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen. Deshalb werden wir bis auf Weiteres nicht auf militärisches Engagement verzichten können. Der Abschluss des Friedensabkommens mit Hizb-e Islami von Herrn Hekmatjar zeigt: Frieden ist möglich. Dieser Frieden wird nur halten, wenn er ein festes Fundament hat: die in der afghanischen Verfassung garantierten Menschenrechte, insbesondere Frauen- und Kinderrechte, eine klare Abkehr von internationalen Terrorgruppen und schließlich ein günstiges Umfeld in der Region und darüber hinaus. All dies kann den Menschen in Afghanistan nur gelingen, wenn sie auf ein Mindestmaß an Stabilität und Sicherheit bauen können. Darum müssen wir ringen. Wir sollten uns zu dem, was notwendig ist, durchringen. Deshalb bitte ich Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung zu diesem zugegebenermaßen außerordentlich schwierigen Mandat. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist Bundesministerin Dr. von der Leyen. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen war in Brüssel das Treffen der Verteidigungsminister zur Mission Resolute Support. Zusammengekommen sind alle 39 Nationen, die in Afghanistan Truppen stellen. In einem gesonderten Treffen trafen sich die 19 Länder, die gemeinsam mit uns, mit der Bundeswehr, im Norden die Verantwortung tragen. Die gemeinsame Analyse war sehr offen und eindeutig. Ja, es gab in Afghanistan eine Phase, in der die internationale Gemeinschaft zu sehr auf militärische Durchschlagskraft gesetzt hat und zu wenig auf ziviles Engagement und nötige politische Reformen. Ja, es gab eine Zeit, in der wichtige Verbündete ihren Abzug zu sehr nach dem heimischen Wahlkalender ausgerichtet haben und zu wenig nach den Notwendigkeiten vor Ort. Ja, das hat zu Rückschlägen und enttäuschten Erwartungen geführt. Wenn man aber unter dem Strich sieht, was 16 Jahre Engagement für Afghanistan gebracht haben, und wenn man sich die Daten anschaut – das sind nicht unsere Daten, sondern die der Organisationen der Vereinten Nationen wie der WHO –, dann stellt man fest: Die Lebenserwartung ist von 45 Jahren auf rund 60 Jahre gestiegen. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in dieser Zeit verachtfacht. Die Mütter- und die Kindersterblichkeit sind gesunken. An den Universitäten in Afghanistan gab es 2001  8 000 männliche Studenten. Heute sind es Hunderttausend studierende Männer und Frauen. Afghanistan ist nicht mehr die Brutstätte des internationalen Terrors. Deshalb waren wir uns einig: Wir haben vielleicht nicht immer alles richtig gemacht in Afghanistan. Aber heute steht das Land um ein Vielfaches besser da als 2001. Das gilt es zu sichern. ({0}) Die afghanische Armee und Polizei bringen im Kampf gegen die Taliban und – auch das ist inzwischen in Afghanistan der Fall – gegen die Nester des IS große Opfer. Die Bilder der brutalen Anschläge der Vergangenheit sind uns noch sehr präsent. Die afghanischen Sicherheitskräfte kontrollieren inzwischen zwei Drittel des Landes. Sie schützen dadurch fast 75 Prozent der Bevölkerung. Eines ist aber auch klar: Ohne die internationale Gemeinschaft, ohne die Beratung, die Ausbildung und vor allen Dingen ohne eine verlässliche Finanzierung würden afghanische Sicherheitskräfte und Polizei nicht durchhalten können. Aber ein stabiles Afghanistan kann letztlich nur durch einen politischen Prozess und Reformen erreicht werden. Dazu braucht es Sicherheit. Es geht darum, den notwendigen Druck auf die afghanische Regierung auszuüben, damit sie Reformen umsetzt. Es geht um ein entschlossenes Vorgehen gegen den Terror, und zwar nicht nur der afghanischen Regierung, sondern genauso auch der pakistanischen Regierung. Es geht darum, den klugen Ansatz eines funktionierenden Versöhnungsprozesses voranzutreiben, zumindest mit den Taliban, die bereit sind, zu sprechen; solche gibt es. Es geht auch darum, die Regionalmächte im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung in Afghanistan besser einzubinden. Im kommenden Frühjahr wird in Afghanistan gewählt. Ich habe nicht vergessen, wie die letzte Wahl abgelaufen ist. Die Menschen sind trotz Lebensgefahr mit überwältigender Mehrheit an die Wahlurnen gegangen. 40 Prozent der Wähler waren Frauen. Man muss sich klarmachen: Das wäre unter den Taliban niemals denkbar gewesen. Das Erreichte zu sichern, auch das ist unsere Aufgabe, und dazu müssen wir zusammenstehen. ({1}) Deutschland trägt im Norden Afghanistans Verantwortung. Dort sind wir die verlässliche Rahmennation für 19 andere Nationen. Wir gehen unseren Weg gemeinsam: Wir bilden aus und beraten das 209. Korps. Unsere Partner im Norden Afghanistans verlassen sich auf uns, genauso wie wir uns auf sie verlassen können. Wir haben nicht vergessen, dass es bei dem schrecklichen Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar auch lettische und georgische Soldatinnen und Soldaten waren, die unseren deutschen Beamten das Leben gerettet haben. Deshalb muss es auch für uns eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir für unsere Partner im Norden zuverlässig sind. Der Bundestag wird über all das gemeinsam beraten. Damit hierfür genügend Zeit ist, bitte ich um Unterstützung für die Verlängerung des in den wesentlichen Punkten unveränderten Mandats um drei Monate. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächsten Redner rufe ich Dr. Alexander Gauland für die AfD auf. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um Afghanistan die Perspektive auf eine friedliche Zukunft zu eröffnen, sind Schritte zur Verhinderung erneuter Anarchie im öffentlichen Leben vordringlich. ... Daher sollten Sicherheit und Ordnung mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft gewährleistet … werden. Mit diesen Worten beantragte die Bundesregierung im Dezember 2001 das erste Mandat zur Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan. Inzwischen dauert der Krieg dort bald 17 Jahre an, und das, was als gutgemeinter Versuch begann, hat sich, um mit den Worten des Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbandes zu sprechen, als „Machbarkeitsillusion“ entpuppt. Mit dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung, den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan erneut zu verlängern, wird an diese Machbarkeitsillusion angeknüpft, anstatt endlich eine ehrliche Bilanz zu ziehen und das offensichtliche Scheitern des Westens am Hindukusch einzugestehen. ({0}) Die Befürworter des Mandats – das hat die Ministerin gerade wieder angesprochen – werden nicht müde, zu betonen, dass es in Afghanistan auch punktuelle Erfolge gegeben hat; das wird gar nicht bestritten. Sie sagen, dass es dort inzwischen Medien gibt, dass es Wahlen gibt, dass mehr Menschen Zugang zu Trinkwasser und Strom haben. Noch nicht gesagt worden ist – das wird noch kommen –, dass mehr afghanische Kinder die Schule besuchen. Meine Damen und Herren, das mag alles stimmen; aber das war gar nicht die Aufgabe der NATO und auch nicht die Aufgabe der Bundeswehr in Afghanistan. ({1}) Die Aufgaben waren die Herstellung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung und die Reform des Sicherheitssektors. Aber diese Machbarkeitsillusion ist an der Wirklichkeit gescheitert, und die Gesamtbilanz ist verheerend: ({2}) Trotz der seit 2001 andauernden Versuche der internationalen Gemeinschaft, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen zu etablieren, gehört Afghanistan zu den korruptesten Ländern der Welt. Trotz der Bemühungen, den Opiumanbau zu unterbinden, der den Aufständischen als wesentliche Einnahmequelle dient, ist Afghanistan zum weltweit größten Produzenten von Opium aufgestiegen. Trotz der umfangreichen und über 15 Jahre andauernden Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte, trotz modernster Militärtechnologie aus dem Westen, Drohnenangriffen und Großoffensiven gibt es weder Besiegte noch Sieger in diesem Krieg. Weite Teile des Landes sind eben nicht unter der Kontrolle der Regierung. Die Anzahl ziviler Opfer ist höher denn je, und noch immer fliehen Hundertausende Afghanen innerhalb der Landesgrenzen und auch nach Deutschland. Im Jahr 2000 stellten rund 5 400 Afghanen einen Asylantrag in Deutschland. Im vergangenen Jahr, meine Damen und Herren, waren es 227 000 Asylanträge. Das sind 42‑mal mehr als auf dem Höhepunkt der Herrschaft der Taliban. ({3}) Und jetzt, verehrte Bundesregierung und Frau Verteidigungsministerin, wollen Sie erneut deutsche Soldaten zur Staatenrettung nach Afghanistan schicken, während afghanische Flüchtlinge auf dem Ku’damm Kaffee trinken, anstatt beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen. ({4}) Korruption, Drogen, Terroranschläge, Chaos und Flucht, das ist die Bilanz in Afghanistan. Im vorliegenden Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung der Resolute Support Mission in Afghanistan heißt es: Aufgabe der Mission ist es, „die afghanischen nationalen ... Sicherheitskräfte zu befähigen, ihrer Sicherheitsverantwortung nachzukommen“. Das, meine Damen und Herren, ist und bleibt eine Machbarkeitsillusion. Mehr noch: Es ist politischer Unsinn. Es ist der gleiche Unsinn wie die Aussage „Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt“. ({5}) Nein, meine Damen und Herren, Deutschlands Sicherheit wird nicht am Hindukusch verteidigt, ({6}) sondern an der deutschen und europäischen Außengrenze. Die AfD-Fraktion lehnt den Antrag der Bundesregierung deshalb ab. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Kollege Gauland, ich habe vergessen, darauf hinzuweisen, dass dies Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag ist. Das hole ich hiermit nach. ({0}) Als nächster Redner hat nunmehr Alexander Graf Lambsdorff das Wort. ({1})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Engagement in Afghanistan ist stark, es ist nachhaltig, und es ist getragen von dem Bewusstsein, wie gefährlich dieses Engagement ist. Genau aus diesem Grunde steht immer wieder eine Überprüfung an. Jedes Mal aufs Neue ist das nötig. Ich denke hier nicht nur an unsere Soldatinnen und Soldaten; ich denke auch an die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes. Auf das Generalkonsulat in Masar-i-Scharif, auf die deutsche Botschaft in Kabul hat es schwere Anschläge gegeben. Ich denke an unsere zivilen Aufbau- und Entwicklungshelfer, an die Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, die sich dort seit 16 Jahren engagieren, um den Menschen in Afghanistan zu helfen. Ihnen allen schulden wir Dank. ({0}) Es ist schon eine lange Zeit, in der dort gearbeitet wird. Die Fortschritte, die Herr Gauland hier einfach mal so weggewischt hat, die punktuellen Erfolge, das sind ganz konkrete Verbesserungen der Lebenssituation der Menschen in Afghanistan. All denen, die daran mitgearbeitet haben, gilt unser herzlicher Dank. ({1}) Meine Damen und Herren, Afghanistan wird noch mehr politische Aufmerksamkeit, noch mehr entwicklungspolitisches Engagement, noch mehr militärischen Einsatz brauchen. Schon der Rückblick auf die Gründe für diesen Einsatz macht das deutlich. Die Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center und die anderen Zielpunkte in den USA machen das deutlich. Lieber Herr Gauland, was sagen Sie eigentlich den Angehörigen der elf deutschen Opfer? Sie sagen ja: Wir gehen einfach aus Afghanistan raus, überlassen das Land wieder den Terroristen, damit das nächste 9/11 geplant werden kann. – Da sind auch Deutsche ums Leben gekommen. Das ist der Grund, warum wir uns dort engagieren. Heute, meine Damen und Herren, geht es um die Verlängerung des Afghanistan-Mandats um drei Monate – drei Monate, die wir brauchen, um genau eine solche Überprüfung für die nächste Zeit, die nächste Phase zu unternehmen. Ein Abzug jedenfalls wäre logistisch, politisch und militärisch eindeutig unrealistisch; er wäre vor allem vollkommen verantwortungslos. Die FDP bekennt sich zum Afghanistan-Engagement, aber – das will ich hier deutlich sagen – was dieses Parlament braucht, sind eine kritische Bestandsaufnahme und eine Bewertung des bisher Erreichten und auch des Nicht-Erreichten. Mir ist völlig unverständlich, dass der Fortschrittsbericht für Afghanistan durch die Große Koalition abgeschafft worden ist. Das muss sich ändern. Die Amerikaner machen das anders. Sie haben jedes Jahr einen Bericht des Sonderberichterstatters für Afghanistan der amerikanischen Regierung. Das könnte ein Vorbild für die Bundesregierung sein, sodass auch der Deutsche Bundestag in vollem Umfang über das unterrichtet ist, was in Afghanistan gut läuft und was weniger gut läuft, wenn wir über die nächste Mandatsverlängerung diskutieren. ({2}) Wir fordern die Bundesregierung auf, jährlich einen Evaluierungsbericht vorzulegen. Das sind wir all denen schuldig, die in den vergangenen 16 Jahren versucht haben, die Lage im Land zu verbessern. Im Jahre 2015, meine Damen und Herren, ging die alleinige Sicherheitsverantwortung von der NATO und ihren Partnern auf die afghanische Regierung über. Das funktioniert allerdings bisher nur teilweise. Die afghanische Regierung und die Zivilbevölkerung haben seit der Übernahme der Sicherheitsverantwortung auch schwere Jahre durchlebt. In Teilen Afghanistans sind die Taliban wieder erstarkt. Das können und wollen wir nicht akzeptieren. Gerade deshalb ist unsere Unterstützung der afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte so notwendig. Die internationale Gemeinschaft hat gemeinsam mit Afghanistan beim Aufbau staatlicher Institutionen und der Zivilgesellschaft einiges erreicht. Aber das kann eben nur dort dauerhaft bewahrt werden, wo die afghanischen Sicherheitskräfte wirklich in der Lage sind, Sicherheit und Stabilität eigenständig zu gewährleisten; nur dort können die Zonen regionaler Sicherheit größer und dauerhafter werden. Das, meine Damen und Herren, reduziert dann auch den Druck, aus Afghanistan auszuwandern. Wir haben weniger Flüchtlinge, nicht mehr, wenn wir unser Engagement verantwortungsvoll fortsetzen. ({3}) Meine Damen und Herren, unsere Beteiligung an der NATO-Mission Resolute Support ist ein zentraler Beitrag für die Zukunft Afghanistans. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Land erneut ein sicherer Hafen für Terroristen wird, von dem eine Bedrohung der Region und des Rests der Welt ausgeht. Wir haben eine Verantwortung für die Menschen im Land übernommen. Zu dieser Verantwortung stehen wir. Jetzt gilt es, klare Fortschritts- und Erfolgskriterien zu definieren und international abzustimmen. Dazu wollen wir einen Bericht der Bundesregierung. Wir als Freie Demokraten stimmen der Überweisung in den Hauptausschuss zu. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke. Sie haben das Wort. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 16 Jahre führt die NATO jetzt in Afghanistan Krieg – mit deutscher Beteiligung. ({0}) George Bush rief 2001 mit seinen Bündnispartnern global den sogenannten Krieg gegen den Terror aus, an dem sich seitdem alle Bundesregierungen beteiligt haben; übrigens hätte auch eine mögliche Jamaika-Koalition diesen Krieg fortgesetzt. Auch damit hätten wir keine große Änderung dieser Politik hier erlebt. ({1}) Laut einer Studie der Ärzteorganisation IPPNW sind allein in Afghanistan mindestens 220 000 Menschen getötet worden, in Pakistan 80 000, und im Irak sind über 1 Million Menschen direkt getötet worden oder an den Kriegsfolgen gestorben. Dieser globale Krieg der NATO bedeutet Terror für Millionen Menschen und züchtet immer nur neuen Terror. Die Welt ist nicht sicherer, sondern unsicherer geworden. Das zeigen auch mehr und mehr die Terrorangriffe in den westlichen Metropolen. Die Linke hat sich immer gegen diesen globalen Krieg gestemmt. Das werden wir auch weiterhin tun. ({2}) Für Afghanistan heißt das, dass über 2,5 Millionen Menschen ins Ausland geflohen sind und 1,2 Millionen Menschen im Land auf der Flucht sind. Afghanistan zählt weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde und hat eine der korruptesten Regierungen der Welt. Die Sicherheitslage ist besorgniserregend. Was Sie, Frau von der Leyen, in Ihrer Märchenstunde hier – das muss ich wirklich sagen – für ein Bild von Afghanistan gezeichnet haben, ist wirklich skandalös. ({3}) Das deutsche Generalkonsulat ist geschlossen, und die deutsche Botschaft ist nach einem schweren Anschlag, bei dem mehr als 160 Menschen getötet wurden, ebenfalls geschlossen. Die Vereinten Nationen haben allein in diesem Jahr offiziell über 8 000 Zivilisten registriert, die entweder getötet oder verwundet wurden. All diese Zahlen zeigen doch: Die NATO hat in Afghanistan nichts verloren. Sie muss abziehen. ({4}) Stattdessen will sie jetzt den Krieg verschärft, wie von US-Präsident Donald Trump angeordnet, weiterführen. Einen Abzugstermin gibt es nicht, und die USA sagen selbst, dass ihre neue Afghanistan-Strategie lautet: mehr Luftangriffe und verdeckte Operationen für den Versöhnungsprozess. Sie wollen die Taliban nach eigenen Aussagen an den Verhandlungstisch bomben. Ist das eine politische Lösung für Afghanistan? Da kann ich nur den Kopf schütteln. ({5}) Wir fordern stattdessen, dass die Bundeswehr sich an dieser verschärften Kriegsführung nicht beteiligt und dass sie vollständig aus Afghanistan abgezogen wird. ({6}) Wir wissen ebenfalls, dass die US-Drohnenmorde in Afghanistan zur Verschärfung der Situation beitragen, dass sie viel Hass schüren und dazu führen, dass die Taliban immer mehr neue Kämpfer rekrutieren können. Dieser Drohnenkrieg wird unter anderem auch von der US-Air-Base Ramstein geführt, überwacht, gesteuert. Das gilt auch für AFRICOM Stuttgart. Damit sich die Bundesregierung nicht weiter der Beihilfe für extralegale Tötungen schuldig macht, wollen wir, dass Air Base Ramstein und das Hauptquartier von AFRICOM geschlossen werden. ({7}) Besonders heuchlerisch, das muss ich sagen, ist Ihre Argumentation, Frau von der Leyen, dass die Bundeswehr zur Stabilität und Sicherheit in Afghanistan beitragen soll, womit der afghanischen Zivilbevölkerung vor Ort geholfen würde. Wenn aber afghanische Flüchtlinge hierherkommen, dann wird ihnen nicht geholfen, dann werden sie abgeschoben. Eine Rückkehr nach Afghanistan kann aber den Tod bedeuten. Das ist eine menschenverachtende und skandalöse Politik. Wir fordern, dass diese Abschiebungen gestoppt werden. ({8}) Sie selbst können auch gar nicht folgerichtig argumentieren. Einerseits sagen Sie, dass die Bundeswehr deshalb in dieses Land geschickt wird, weil die Sicherheitslage dort so gefährlich und instabil ist. Andererseits schicken Sie Menschen und Familien in dieses Land zurück. Hier zeigen Sie offene Widersprüche. Eine solche Politik ist wirklich verwerflich, skandalös und unmenschlich. Wir werden das nicht unterstützen, und wir setzen uns dafür ein, dass die Abschiebungen gestoppt werden. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gauland, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört, als Sie gesagt haben, unter den Taliban hätte es weniger Flüchtlinge nach Deutschland gegeben. Ich frage Sie: Hätten wir ernsthaft darauf verzichten sollen, dieses verbrecherische, terroristische Regime auch mit militärischer Gewalt zu stürzen? Das ist doch die Frage. ({0}) Ich finde, dass wir diese Frage richtig beantwortet haben. ({1}) Diese Antwort bringt uns in eine bestimmte Verantwortung und führt zu der Geschichte eines schwierigen Einsatzes. Ich will an dieser Stelle eines sagen: Wenn man 16 Jahre dieses miterlebt hat, dann muss man doch einmal herangehen, aufzuhören, die Situation schönzureden, liebe Frau von der Leyen. Wenn man zu seiner Verantwortung steht, dann muss man sich an der Stelle ehrlich machen. ISAF haben wir nicht geordnet zu Ende bringen können. Wenn ich mir die Bilanz von RSM ansehe – Graf Lambsdorff, es gibt gar nicht so viele Zweifel an den Fakten –, dann kann ich sagen: Die Zahl der zivilen Opfer ist, so die Vereinten Nationen, so hoch wie nie zuvor. Die afghanische Regierung kontrolliert weniger als 60 Prozent des Landes. Inzwischen hat die GIZ fast ihr gesamtes Personal aus Kabul abgezogen. Das alles geschieht mit RSM und trotz RSM und ist nicht neu. Es wurde bisher immer nur eine Antwort gegeben: mehr von dem Gleichen. – Nachdem man ISAF nicht ordnungsgemäß beendet hatte, hat man gesagt: Wir machen noch zwei Jahre RSM. Jetzt ist man dazu übergegangen, RSM zu entfristen. Man richtet sich auf eine Dauerpräsenz am Hindukusch ein. Die Verteidigungsministerin möchte die Mission sogar aufstocken. Das geschieht in einer Situation, in der Donald Trump auftritt und in der Sackgasse, in der wir alle uns in Afghanistan befinden, verspricht, Vollgas zu geben: „We are not nation-building … We are killing terrorists.“ Das ist eine brandgefährliche Rambo-Strategie. ({2}) Die Ausweitung von Drohnenangriffen und Ähnlichem wird dieses Problem nicht lösen. Wenn der CIA-Direktor verspricht, man müsse aggressiv vorgehen, um die Mission zu erfüllen, dann wird das nur ein Ergebnis haben: nicht die Lösung des Konfliktes, sondern seine Eskalation. Dieser Konflikt – das hat der Bundesaußenminister zu Recht gesagt – ist militärisch nicht zu lösen. Wenn Sie sich auf Kurt Beck an dieser Stelle beziehen: Welche Konsequenz haben Sie denn daraus gezogen? Wir waren da als internationale Gemeinschaft übrigens schon einmal weiter. Wir haben nicht nur mit den Taliban gesprochen, sondern deutsche Diplomaten haben den Taliban ein Büro am Golf eingerichtet, ({3}) damit solche Gespräche stattfinden können. Das Ergebnis war, dass wir mit dieser Strategie aufgehört haben. Die Strategie hatte nämlich einen ganz einfachen Ansatzpunkt, der lautete: Es wird eine politische Lösung nur geben, wenn es dort auf Dauer weniger internationale Truppen gibt. Das war die Voraussetzung für eine politische Lösung. Deswegen sagen wir: Wir brauchen für ein solches Mandat eine Abzugsperspektive. Auch wir sind der Auffassung, dass man dieses Land nicht einfach fluchtartig verlassen kann. Wir haben Verantwortung zu tragen. Aber es bedarf eines geordneten Prozesses. Es ist das Gegenteil eines geordneten Prozesses, wenn man an der Seite von Donald Trump in einen neuen eskalierenden Kriegseinsatz einziehen würde. ({4}) Deswegen, sehr geehrter Herr Gabriel, irgendwo zwischen Opposition und Regierung, wo sich die SPD gerade befindet ({5}) – wir sitzen da ganz gut, mein Lieber –: Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute ein Mandat mit genau dieser Abzugsperspektive, über die wir alle – CDU/CSU, SPD und wir – uns übrigens einmal einig gewesen sind, vorgelegt hätten, damit wir überhaupt zu einer politischen Lösung kommen können. Sie haben stattdessen immer noch vom Gleichen geredet. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU das Wort. Bitte sehr. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr ist seit ihrer Gründung 1955 eine Parlamentsarmee. Das ist eine Besonderheit; nur wenige Staaten haben ihre Streitkräfte so organisiert. Diese Institution, so wie wir das organisiert haben, ist für unsere Demokratie besonders prägend. Die Beziehung Parlament/Bundeswehr ist in diesem Hohen Hause sichtbar und spürbar, auch heute mit den Soldatinnen und Soldaten, die beispielsweise auf den Zuschauertribünen unserer Debatte folgen, mit dem Wehrbeauftragten als Hilfsorgan des Deutschen Bundestages, der auch bei diesen Debatten regelmäßig dabei ist, mit den Beratern der Bundesregierung, die hinter den Regierungsbänken im Raum sitzen, und natürlich mit den unzähligen Kolleginnen und Kollegen – noch vor allem Kollegen, aber das wird sich vermutlich auch ändern –, die selbst Angehörige der Bundeswehr waren oder sind, die als Reservisten aktiv sind und die deswegen eine besondere Affinität dazu haben. Aber auch die Kollegen – das darf ich vielleicht aus acht Jahren Erfahrung sagen –, die nicht selbst Angehörige der Bundeswehr waren, fühlen sich unseren Soldatinnen und Soldaten in diesem Land im Besonderen und überaus verpflichtet. Zu sagen, wir würden die Soldaten vergessen, ist mindestens Unwissenheit oder kleingeistig, Herr Kollege Kleinwächter. Ich kann, glaube ich, für viele hier in diesem Haus sagen: Dieses Parlament hat es sich noch nie einfach gemacht, Soldatinnen oder Soldaten in die Einsätze zu schicken. Wir werden das auch in Zukunft nicht tun. ({0}) Viele politische Parteien und Fraktionen haben dabei ihre eigene Identität riskiert. Es ist eine Unverschämtheit, deswegen zu sagen, wir würden uns das hier zu leicht machen. Um der wichtigen Aufgabe als Parlament für die Bundeswehr gerecht zu werden, ist es wichtig, dass wir die bald auslaufenden Mandate um drei Monate verlängern. Deutschland sendet damit ein klares Signal, dass unabhängig von Wahlen und Regierungsbildungsprozessen die internationalen Engagements zuverlässig und stabil erfüllt werden. Das ist unser Auftrag und unsere Verantwortung als Parlament in diesem Augenblick. Zu dieser Verantwortung gehört, stabile und verlässliche Säule in unseren Bündnissen zu sein. Beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister Anfang des Monats wurden die Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes, die Aufstockung der eingesetzten Streitkräfte sowie die Ausweitung der Ausbildung auf die mittleren und unteren Ebenen der afghanischen Sicherheitskräfte beschlossen. Außerdem ist es sehr zu begrüßen, dass sich die USA nun ebenfalls auf den „condition based“-Ansatz verständigt haben. Wir können den Afghanen die Sicherheitsverantwortung erst nach Erfüllung der strategischen Ziele und nicht anhand festgelegter starrer Zeitlinien überlassen. Es ist eindeutig: Die Aufstockung ist zwingend erforderlich, da die Sicherheitslage am Hindukusch immer prekärer wird. Die Taliban und andere Aufständische kontrollieren bereits einige Distrikte in Afghanistan. Kunduz, aber auch andere Städte im Norden geraten immer wieder unter Druck. Dazu kommt, dass sich der „Islamische Staat“ ebenfalls ausbreiten konnte oder zumindest zu einer Bedrohung für die schiitischen Minderheiten im Land geworden ist. Die Sicherheitsvorkehrungen für die Einsätze von Beratern haben sich ebenfalls derart verschärft, dass längst nicht mehr alle Beratungseinsätze durchgeführt werden können. Wie wir die Aufstockung im Rahmen der NATO genau aufteilen, ist noch nicht klar. Was jedoch klar sein dürfte: Deutschland darf sich als zweitgrößter Truppensteller und als Rahmennation, als Partner von 18 weiteren Partnern nicht wegducken. Wenn es keine leere Parole bleiben soll, dass Deutschland gemeinsam mit Europa mehr Verantwortung in der Welt übernimmt, muss das gerade auch für Afghanistan gelten. ({1}) Außerdem ist es für die Sicherheit unserer Bundeswehr ebenfalls wichtig, dass wir aufstocken. Gerade in Kunduz ist es sehr fraglich, ob wir mit 50 Soldatinnen und Soldaten gleichzeitig die Schutzkomponente und den Ausbildungsauftrag aufrechterhalten können. Sehr geehrte Kollegen, wir haben in Afghanistan für die Menschen – die Ministerin hat das vorhin ausgeführt – viel erreicht. Afghanistan ist noch nicht so weit, um es allein zu lassen. Wir müssen dieser Verantwortung gerecht werden. In diesem Sinne hoffe ich auf die Beratungen in den nächsten Wochen. Danke schön. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Damit sind wir am Ende der Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/21 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0}) – Dann lasse ich abstimmen. Wer für die Überweisung an den Hauptausschuss ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der AfD – – ({1}) – Ich habe deutlich gesehen, dass die Mehrheit in diesem Haus bei Gegenstimmen der AfD für die Überweisung gestimmt hat. Damit ist das so beschlossen.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Jahr 2007 leistet die United Nations Hybrid Operation in Darfur, UNAMID, einen wichtigen Beitrag, um den langjährigen Konflikt im Sudan um die Region Darfur zu lösen. Seit dem Jahr 2008 beteiligt sich Deutschland mit den von der Mandatsobergrenze her erlaubten bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten an dieser Mission. Aktuell sind sieben deutsche Soldatinnen und Soldaten bei UNAMID im Einsatz. Sie dienen im Hauptquartier in al-Fashir und unterstützen die Missionsführung von UNAMID bei der Umsetzung ihrer anspruchsvollen Aufgaben. UNAMID ist wie UNMISS – darüber diskutieren wir anschließend – ein Mandat, das sich in unser politisches, sicherheits- und entwicklungspolitisches sowie humanitäres Gesamtengagement in der Region und im Rahmen der Vereinten Nationen einfügt. Die gesamte Sudan-Sahel-Region steht großen Herausforderungen gegenüber. Es seien die Stichworte genannt: Terrorismus, organisierte Kriminalität, Flucht und Migration. Das nachhaltige Engagement der internationalen Gemeinschaft zur regionalen Stabilisierung ist und bleibt daher von entscheidender Bedeutung. Auftrag von UNAMID ist die Überwachung des Waffenstillstandsabkommens von Darfur aus dem Jahr 2006, die Sicherung eines humanitären Zugangs zur Region, die Unterstützung und Überwachung der Vermittlungsbemühungen in Konflikten zwischen den Bevölkerungsgruppen sowie der Schutz und die Unterstützung der Zivilbevölkerung. Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist derzeit die einzige europäische Nation bei UNAMID. Unsere fortgesetzte Beteiligung ist deshalb auch ein wichtiges Zeichen an die Vereinten Nationen, an die Afrikanische Union, dass wir die Friedensanstrengungen der internationalen Gemeinschaft in Darfur weiterhin unterstützen. Sie ist zudem ein wichtiges Zeichen und wesentlicher Rückhalt für die Bemühungen der sudanesischen Akteure, selbst zur Verbesserung der Sicherheitslage und politischen Konfliktlösung in Darfur zu kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts positiver Entwicklungen im Sudan hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Juni dieses Jahres eine Neuausrichtung von UNAMID beschlossen. Diese sieht innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Reduzierung des militärischen Anteils um circa 45 Prozent der Kräfte, vor allem in der Fläche, und des polizeilichen Anteils um circa 26 Prozent der Kräfte vor. Damit einher geht eine Akzentverschiebung zu mehr zivil geprägtem Peacekeeping und Peacebuilding. Der Schwerpunkt von UNAMID wird aber weiterhin in einem Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung sowie in der Unterstützung der Vermittlungsbemühungen zwischen den Konfliktparteien liegen. Eine erste Bewertung dieser Anpassung durch die Vereinten Nationen Anfang kommenden Jahres werden wir selbstverständlich mit großem Interesse aufnehmen. Sie muss insbesondere die Realitäten am Boden berücksichtigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz dieser positiven Signale bleibt die Lage in Darfur insgesamt angespannt und instabil. Insbesondere die humanitäre Situation ist mit allein 2,1 Millionen Binnenvertriebenen vor allem in humanitärer Hinsicht katastrophal. UNAMID wird deshalb auch in Zukunft eine Schlüsselrolle in Darfur spielen. Die Mission dient als stabilisierendes Element zur Verbesserung der Sicherheitslage, zur Sicherung des humanitären Zugangs nach Darfur, zur Überwachung und Verbesserung der Menschenrechtslage sowie zur Begleitung der politischen Friedensbemühungen. Daher ist es wichtig, dass auch Deutschland sein Engagement in dieser wichtigen VN-Mission unverändert fortführt. Es ist, wie gesagt, eine kleine Mission; 50 Soldatinnen und Soldaten ist die Obergrenze. Wir sind mit Stabspersonal dort. Es ist eine wichtige Mission: humanitär und politisch. Es ist wichtig, dass wir unsere Solidarität nicht verweigern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem, was noch zu tun ist, bei allen fortdauernden Herausforderungen und Katastrophen möchte ich daran erinnern, dass der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan zurzeit des Bürgerkrieges Darfur als den furchtbarsten Platz auf der Erde bezeichnete. Nun will ich nicht vorwegnehmen, was hier in dieser Debatte noch gesagt wird, aber wir haben die eine oder andere Debatte hinter uns. Manche mögen sagen: Der Westen ist schuld an der Katastrophe. Andere möchten vielleicht fragen: Was geht uns das an? Liebe Kolleginnen und Kollegen, beides ist und wäre falsch. Es ist Teil unserer Aufgabe als Bundesrepublik Deutschland, als Europäer, unseren Beitrag zu leisten, dass sich der Fortschritt weiter Bahn bricht und die humanitäre Katastrophe in Darfur, die humanitäre Katastrophe im Sudan ein Ende findet. Dazu sind wir verpflichtet. Dafür bitte ich namens der Bundesregierung um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist Dr. Bärbel Kofler für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Verlängerung des Mandats der AU/VN-Mission UNAMID gibt uns Gelegenheit, hier im Bundestag über eine Region zu sprechen, über die wir leider in den letzten Monaten und Jahren zu wenig gesprochen haben, insbesondere über die Situation der Menschen in dieser Region. Es ist bereits erwähnt worden, dass dieser Konflikt, der seit dem Jahr 2003 unter ganz dramatischen Umständen in fünf Jahren mehr als 300 000 Todesopfer gefordert hat, einmal als die schlimmste humanitäre Katastrophe bezeichnet worden ist. In den letzten Jahren ist es durchaus gelungen, zu Veränderungsprozessen zu kommen, aber – das möchte ich an dieser Stelle betonen – das war in keiner Weise genug. Die humanitäre Situation und die Menschenrechtslage vor Ort sind nach wie vor bedrückend und katastrophal. Auch das ist ein wichtiger Hinweis und eine Begründung dafür, warum das Mandat fortgesetzt werden sollte. Wir müssen genau hinschauen, wie die vier Aufträge des Mandats – der Schutz der Zivilbevölkerung, der wichtige Punkt der Erleichterung der Bereitstellung humanitärer Hilfe und der Schutz der Helfer, die Vermittlung zwischen sudanesischer Regierung und Rebellen, die das Doha-Abkommen von 2011 nicht anerkannt haben, und die Unterstützung von Vermittlungsbemühungen in interkommunalen Konflikten – in den Mittelpunkt unseres alltäglichen politischen Handels im Umgang mit dem Sudan als Ganzes gerückt werden können. Wenn wir uns die Situation vor Ort ansehen, dann stellen wir nach wie vor schwerste Menschenrechtsverletzungen in Darfur fest. Ich glaube, es ist wichtig, dies festzuhalten; auch das bietet diese Gelegenheit hier. Denn wir reden über Krisen wie die in Darfur leider zu selten. Es kommt zu Menschenrechtsverletzungen und anderen Rechtsverletzungen, Zivilpersonen werden entführt, und massive Gewaltanwendung, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, ist an der Tagesordnung. Wer sich die Zahlen zur humanitären Lage ansieht – wichtig ist mir dabei: hinter jeder Zahl stecken ein Mensch und ein Schicksal – der weiß, dass mit über 2 Millionen Binnenvertriebenen, die Sorge haben, in ihre Gebiete zurückzukehren, auch die Frage der Sicherheitslage an dieser Stelle nicht gelöst ist. Fast 3 Millionen Menschen in der Region sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Darunter sind weit über 2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die akut unterernährt sind. Ich glaube, auch das ist etwas, das wir in den Mittelpunkt stellen müssen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, mich dafür auszusprechen, bei den zukünftigen Beratungen zum Thema „Humanitäre Hilfe“, insbesondere bei den haushalterischen Beratungen, nicht nachzulassen und den Haushalt aufzustocken. ({0}) Wir dürfen an dieser Stelle nicht nachlassen. Die Kata­strophen sind leider nicht vorbei, der Bedarf ist leider nicht kleiner geworden; die erschreckenden Zahlen aus der Region Darfur zeigen und belegen dies ganz deutlich. Wir müssen im Bereich der humanitären Hilfe mehr Engagement für die Region zeigen. Das Mandat gibt uns vier wichtige Handlungsfelder vor. Eines ist der Schutz der Zivilbevölkerung. Es ist mithilfe des Mandates einiges gelungen, was die Schutzzonen anbelangt. Ich glaube aber, da gibt es noch großen Bedarf. Die Situation der Binnenvertriebenen, die sie selbst schildern, zeigt, dass die Sicherheitslage bei weitem alles andere als rosig ist. Es geht hier um politische Verhandlungen. Es ist angesprochen worden, wie intensiv in den letzten Jahren um Frieden und um Abkommen gerungen worden ist. Ich erinnere an das Doha-Abkommen, das leider eben auch daran krankt, dass es nicht von allen Beteiligten anerkannt wird. Ich erinnere auch an die Bemühungen der AU, der Afrikanischen Union, einen Friedensprozess voranzubringen und wiederzubeleben, der im letzten Jahr auf große Probleme gestoßen ist. Es geht jetzt darum, im Rahmen zukünftiger Aktionen der Bundesregierung Zeichen zu setzen, diesen Versöhnungsprozess voranzubringen, diese Gruppen an einen Tisch zu bekommen und auch den Verfassungsprozess, der im Sudan läuft, unter Einbeziehung aller Beteiligten inklusiv zu gestalten. Hier einen Beitrag mit Beratung, Mediation, Unterstützung und politischen Gesprächen zu leisten, ist, glaube ich, ein ganz wichtiges Moment. ({1}) Es geht auch um das humanitäre Völkerrecht. Teil des Mandates ist der Auftrag, Zugang zu humanitärer Hilfe und den Schutz der Helfer zu gewährleisten. Genau das ist eines der großen Probleme, die ungelöst sind: die Frage des Zugangs mit humanitären Hilfsgütern in die Region. Ich glaube, wir wären gut beraten, einen solchen Zugang in allen Gesprächen mit der sudanesischen Regierung einzufordern. Es ist unsere Aufgabe, für die Sicherheit der Helfer im Sudan zu sorgen, damit die Unterstützer den Menschen Nahrung, Medizin, Notunterkünfte, Wasser, Hygieneartikel usw. zur Verfügung stellen können. ({2}) Es ist also ein zentraler Punkt, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Es geht auch um die weitere Erhöhung der Mittel für die zivile Krisenprävention. Auch an dieser Stelle müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, um Freiräume für die sudanesische Zivilgesellschaft zu eröffnen. Wir alle wissen, wie prekär die Menschenrechtslage der gesamten Bevölkerung im Sudan ist. Es muss darum gehen, Möglichkeiten zu ergreifen, um Freiräume für zivilgesellschaftliches Engagement zu eröffnen. ({3}) Humanitäre Hilfe gerade für diese Region – ich habe es angesprochen – wird in den nächsten Jahren nötiger denn je sein. Wenn wir zu einer Stabilisierung beitragen wollen, wenn wir mehr Frieden und bessere Perspektiven schaffen wollen, ist humanitäre Hilfe die grundlegende Voraussetzung dafür. Das Mandat wird sich verändern. Es wird weniger Personal entsandt. Das Mandat wird sich aber auch mit Blick auf die Frage verändern, wie die Aufgabe wahrgenommen wird, die Bevölkerung zu schützen. Es geht um die Frage des Peacebuilding – so heißt es auf Englisch –, des Friedensaufbaus, der Schaffung von Stabilität und Strukturen in den Ländern. Ein Abzug des militärischen Personals darf nicht bedeuten, dass in gleichem Maße ein Abzug der zivilen Kräfte erfolgt. ({4}) Im Gegenteil: Zivile Kräfte müssen verstärkt zum Prozess der Friedensbildung und der Stabilisierung beitragen, sie müssen ins Land gebracht und gefördert werden. Ich möchte einen Punkt deutlich ansprechen: Es geht nicht nur um die Instrumentarien, die wir bereits nutzen und schon in manchen Regionen der Erde erprobt haben. Es geht auch um die Frage, wie wir sich misstrauende Bevölkerungsgruppen zusammenbringen können, wie wir die Gewaltspirale aus Misstrauen auf der einen Seite und Bewaffnung der Bevölkerung auf der anderen Seite durchbrechen können und hier zu einem Ausgleich und einem Versöhnungsprozess kommen können. Hier müssen wir gezielt ansetzen und weiter daran arbeiten. ({5}) All diese Punkte erfordern weit mehr als das, was wir üblicherweise im Zusammenhang mit einem Mandat diskutieren. Sie erfordern in der zivilen Krisenprävention, in der humanitären Hilfe, bei der Unterstützung von Stabilisierungsmaßnahmen im zivilen Bereich in den nächsten Jahren ein großes Engagement. Ich hoffe, wir alle sind dazu bereit und vergessen die Region in Zukunft nicht. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat als Nächster Gerold Otten für die Fraktion der AfD das Wort. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Region Darfur ist seit 2003 der Schauplatz eines blutigen Konflikts. Menschenrechte werden missachtet, Zivilisten werden getötet, und Hilfslieferungen für Flüchtlinge fallen brutalen Milizen zur Beute. Um dem ein Ende zu setzen, hat die Afrikanische Union zusammen mit den Vereinten Nationen im Jahr 2007 die Friedensmission UNAMID ins Leben gerufen. Die Zielsetzung von UNAMID ist vom Ansatz her sicherlich gut, geht es doch um den Schutz von Zivilisten in einer der ärmsten Regionen der Welt, um die Sicherheit von Hilfsorganisationen und um die Schaffung eines dauerhaften Friedens. Dennoch stand die UNAMID-Mission wegen unterlassener Hilfeleistung bereits mehrere Male in der Kritik. Darüber hinaus haben in den zehn Jahren des Einsatzes bereits mehr als 70 Angehörige der Mission ihr Leben verloren. Nun bittet die Bundesregierung zum sechsten Mal darum, der Bundestag möge beschließen, die Beteiligung der Bundeswehr an diesem Einsatz zu verlängern. Sie tut das mit einem in sich widersprüchlichen Argument. Zum einen heißt es dort: Die Menschenrechtslage habe sich auch im Jahr 2017 nicht signifikant gebessert und es gelte mit hoher Priorität, die Entwaffnung der Milizen voranzubringen. Andererseits will man aber auch eine Neuausrichtung der Mission mit einer signifikanten Reduzierung des militärischen Anteils. Nur einen Absatz weiter heißt es in derselben Begründung: Bewaffnete Milizen stellen die Mission weiterhin vor große Herausforderungen. Wie es scheint, will man jetzt, im zehnten Jahr von UNAMID, den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Man glaubt nun, mithilfe von Mediations- und Beratungsleistungen in einer Region, in der Hunger und Wasserknappheit zu verzweifelten Kampfhandlungen geführt haben, einen Versöhnungsprozess anstoßen zu können. Entspricht diese Neuausrichtung von UNAMID tatsächlich der Situation im Sudan? Sollten nicht zuerst lokale Krisenherde nachhaltig stabilisiert werden, bevor man bei UNAMID über eine 45‑prozentige Reduzierung des militärischen Anteils nachdenkt? In erster Linie geht es doch um den Schutz der Zivilbevölkerung. Hier sollte die Bundesregierung ihr Gewicht in die Waagschale werfen, nicht zuletzt, weil Deutschland der drittgrößte Beitragszahler der Vereinten Nationen ist. Sie sollte darauf dringen, eine Strategie zu entwickeln, die den Realitäten im Lande Rechnung trägt. ({0}) Deutschland, das als einziges europäisches Land an UNAMID beteiligt ist, trägt hier eine besondere Verantwortung, nämlich die, sicherzustellen, dass die Anfangsziele dieser Friedensmission schlussendlich doch erreicht werden. Dazu gehört auch, dass Hilfsgüter dort ankommen, wo sie dringend benötigt werden. Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht vergessen, dass in dieser Region Hunderttausende Binnenvertriebene auf Schutz und Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen sind. Der Schutz dieser Organisationen und deren Helfer, von denen die meisten ehrenamtlich tätig sind, sollte oberste Priorität genießen, will man sich nicht erneut dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung aussetzen. Mit einer 45‑prozentigen Reduzierung des militärischen Personals ist dieser Schutz kaum zu gewährleisten. Auch hier ist die Bundesregierung gefordert, nachzubessern. Meine Damen und Herren, den Menschen in Darfur geht es zuallererst um die Sicherstellung der Grundbedürfnisse Sicherheit und Nahrung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung stehen eher am Ende des Prozesses. Wir vermissen hierzu einen Zeitplan mit konkreten Zielsetzungen und Meilensteinen, die es zu erreichen gilt. Es bleibt die Verantwortung der Bundesregierung, eine solche Planung auf diplomatischem Wege einzufordern, sofern sich die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes nicht auf Dauer immer wiederholen soll. An dieser Stelle möchte ich deutlich machen: Unser Dank gebührt unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, die auch in diesem Jahr aufgrund der anstehenden Parlamentsentscheidungen das Weihnachtsfest voraussichtlich nicht mit ihren Familien und Angehörigen in der Heimat verbringen können. ({1}) Meine Damen und Herren, Sie haben die Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz geschickt. Da hätte ich auch von den anderen Fraktionen etwas Beifall erwartet. ({2}) Genau wie alle anderen demokratischen Parteien fühlen auch wir von der AfD uns selbstverständlich humanitären Zielen verpflichtet. ({3}) In ihrem Grundsatzprogramm bekennt sich die AfD zu den Werten der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. ({4}) In diesem Programm sprechen wir uns unter anderem dafür aus, Fluchtursachen zu bekämpfen und Entwicklungsländern Hilfe z ur Selbsthilfe zu leisten. Aus diesen Gründen und auch, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, dass die Krise in Darfur ohne die Intervention der UN noch wesentlich schlimmere Ausmaße angenommen hätte, spricht sich die AfD zugunsten einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an UNAMID aus und damit auch der Überweisung des vorliegenden Antrags an den Hauptausschuss. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächste Rednerin hat, ebenfalls zu ihrer ersten Rede, das Wort Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die FDP. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier ist es in der Tat meine erste Rede. Wie Sie wissen, komme ich aus der Kommunalpolitik. Ich schaue jetzt einmal nach links, weil ich seit Jahren erleben darf, wie die jeweiligen Fraktionen der Linken in großer Regelmäßigkeit in den Sitzungen von Räten und Gemeinden wirklich unappetitliche Anträge stellen, die unsere Bundeswehr diskreditieren. ({0}) – Ja, Sie sollten sich nicht nur auf Berlin konzentrieren, sondern auch prüfen, was die Kolleginnen und Kollegen in den Gemeinden in Ihrem Namen alles machen. ({1}) – Woher ich komme? Ich komme aus dem Wahlkreis von Sahra Wagenknecht, die überall ist, nur nicht in ihrem Wahlkreis. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, heute hier zu stehen, auch und besonders, um den Soldatinnen und Soldaten, die im Auftrag des Parlaments in den Krisengebieten im Einsatz sind, meinen größten Respekt und Dank auszusprechen. Ich freue mich, das an dieser Stelle sagen zu können. ({3}) Meine Damen und Herren, die Waffenruhe, die von der sudanesischen Regierung und einzelnen Rebellengruppen einseitig erklärt worden ist, ist trotz einiger weniger Verstöße ein kleiner, aber sehr wichtiger Schritt in einem sehr, sehr langen Friedensprozess. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind die Kampfhandlungen zwischen den Regierungsstreitkräften und den Rebellen insgesamt zurückgegangen. Und doch – das wurde gerade bestätigt – ist die Sicherheitslage immer noch sehr prekär. Meine Damen und Herren, UNAMID ist eine gemeinsame Peacekeeping-Mission der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen, die der Sicherung des Darfur-Friedensabkommens und dem Schutz der Zivilbevölkerung dient. Derzeit sind über 18 000 Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivile Einsatzkräfte in Darfur im Einsatz. Aufgrund der zuletzt zu beobachtenden Fortschritte im Friedensprozess haben die Vereinten Nationen die gemeinsame Mission mit der Afrikanischen Union neu ausgerichtet und den Personalumfang reduziert. Der Umfang des Bundeswehrmandates ist davon jedoch nicht betroffen. Die Auswirkungen dieser Neuausrichtung jedoch gilt es zu beobachten; denn nach wie vor sind die Menschen in Darfur dringend auf die Unterstützung der UNAMID angewiesen. Vor allem die humanitäre Lage – das wurde auch von meiner Vorrednerin gesagt – bleibt besorgniserregend. Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Zahlen vor Augen halten – langfristig sind 2,7 Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen und rund 2,1 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen –, dann wird uns klar, dass UNAMID einen elementaren Beitrag dazu leistet, die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen und ihre Versorgung sicherzustellen. ({4}) Auch sicherheitspolitisch bleibt die Präsenz der Blauhelme in der Region von sehr großer Bedeutung. Das Auftreten sudanesischer Rebellengruppen auch außerhalb des Sudans und bewaffnete Konflikte im Norden und Osten Darfurs zeigen, dass die Lage weiterhin nicht stabil ist. UNAMID hat es sich zur Aufgabe gemacht, zwischen der Regierung des Sudan und den Rebellengruppen zusätzlich zu vermitteln. Unsere Bundeswehr zeigt in der Tat, dass sie Europa an dieser Stelle gewissermaßen vertritt und Flagge zeigt, wenn auch die deutsche Beteiligung an dieser Mission zahlenmäßig überschaubar ist. Folgt man dem Antrag der Bundesregierung, dürfen bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten entsendet werden. 7 Soldatinnen und Soldaten sind derzeit im Einsatz. Sie haben in den Führungsstäben und bei der Ausbildung der Soldaten anderer an der Mission beteiligter Nationen einen sehr wichtigen Anteil. Meine Damen und Herren, wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages haben die Pflicht, bei jedem einzelnen Auslandseinsatz genau hinzuschauen und diesen immer zu hinterfragen. Wir als Freie Demokraten werden uns die Entscheidung, Menschen in einen Auslandseinsatz zu senden, nicht leicht machen. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle sei betont: Wenn wir in Deutschland über Flüchtlingspolitik sprechen, ist es dringend ratsam – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. Ich möchte Sie bitten, zum Ende zu kommen.

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich komme zum Ende. Sehen Sie, schon haben die Linken meinen Zeitplan gesprengt. Das ist wie im richtigen Leben. ({0}) Wenn wir über Flüchtlingspolitik sprechen, ist es dringend ratsam, auch über die Bekämpfung von Fluchtursachen zu reden. Mit der Beteiligung leisten wir einen aktiven Beitrag zur Stabilisierung. Meine Damen und Herren, es geht um die Menschen, denen wir eine Heimat geben wollen, und letztendlich darum, die vertriebenen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzubringen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Wenn Sie weiterreden, muss ich die Zeit von der Redezeit Ihrer Kollegen abziehen. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deswegen stimmen die Freien Demokraten diesem Mandat sehr gerne zu. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Strack-Zimmermann, nach dieser Inszenierung, diesem Schmierentheater, das uns die FDP am Sonntagabend geboten hat, ({0}) bin ich doch beruhigt, dass zumindest eines bei Ihnen noch funktioniert, und zwar die alten Feindbilder und Reflexe. ({1}) Unsere Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker begründen zumindest inhaltlich, warum sie in der einen oder anderen Frage mit anderen zusammenarbeiten oder auch nicht. Das ist mehr, als Christian Lindner bisher geliefert hat. Von daher sollten Sie sich schämen, dass Sie Leute, die nicht anwesend sind und sich hier nicht wehren können, so angreifen. ({2}) Aber zurück zum Thema; denn eigentlich reden wir über ein ernstes Thema. In Darfur herrscht seit 14 Jahren ein blutiger Bürgerkrieg, ein Konflikt zwischen der Zentralregierung und verschiedenen Milizen, und niemand weiß genau, wie viele Menschen dabei zu Tode gekommen sind. Dieser Konflikt wird rücksichtslos auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen. Er wurde dadurch ausgelöst, dass es immer wieder zu Konflikten zwischen sesshaften Bauern und nomadisch lebenden Viehhirten gekommen ist, die sich durch knappe Wasserressourcen und schlechte Böden noch verschärft haben. Es gibt also Ressourcenkonflikte, und es gibt Konflikte um die Landnutzung. Diese werden ethnisch aufgeladen und durch den Klimawandel verschärft. Die autoritäre Regierung in Khartum nutzt sie brutal für den eigenen Machterhalt. Der UN-Sicherheitsrat hat mit der Resolution 2363 eine Neuausrichtung der Mission vorgenommen. Der militärische Anteil soll reduziert werden. Die Bundesregierung liefert die Begründung, dass es eine insgesamt positive Entwicklung der Sicherheitslage gegeben habe. Sie gibt aber gleichzeitig zu, dass sich die Menschenrechtslage auch 2017 nicht verbessert habe. Das heißt, einerseits verbessert sich die Sicherheitslage, andererseits nützt das der Zivilbevölkerung wenig bis gar nichts, weil die Menschenrechtslage desaströs bleibt. Diesen Widerspruch müssen Sie uns noch einmal erklären. Wenn die Wirkung von UNAMID so zweifelhaft ist, warum wird das Mandat dann Jahr für Jahr verlängert? Ich habe diese Mission einmal „Mission impossible“ genannt, aber inzwischen müsste man sie vielleicht auch „Mission incredible“ nennen. Denn die Bundesregierung macht etwas Neues, was vollkommen irrsinnig ist: Sie verknüpft dieses Mandat mit der Flüchtlingsabwehr. In der Mandatsbegründung schreibt die Bundesregierung, dass dem Sudan zunehmend Bedeutung als Schlüsseltransitland für Flüchtlinge und Migranten zukomme. Es gibt daher ja auch jede Menge Projekte der GIZ, EU-Projekte in großer Menge und Entwicklungshilfegelder, mit denen unter Begriffen wie „Grenzmanagement“ oder „Khartum-Prozess“ nichts anderes getan werden soll, als Flüchtlinge daran zu hindern, den Sudan zu verlassen. Ich will nur einmal festhalten: Diese Bundesregierung kooperiert mit dem sudanesischen Regime und mit Diktator al-Baschir, um Menschen daran zu hindern, ein Land zu verlassen, in dem viele Hunger leiden und in dem es täglich brutale Menschenrechtsverletzungen gibt. Es ist leider nicht nur im Sudan so, sondern auch in Eritrea, in Äthiopien, im Südsudan oder in Libyen, dass die Bundesregierung und die EU alle europäischen und humanistischen Werte über Bord werfen, wenn es darum geht, Menschen die Flucht vor haltlosen Zuständen zu verwehren. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie verwechseln ständig die Bekämpfung der Fluchtursachen mit der Bekämpfung der Flüchtlinge. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({3}) Ich fordere Sie deshalb auf: Setzen Sie die Mittel, die in diesen Militäreinsatz und in diese unmenschliche Flüchtlingsabwehr fließen sollen, lieber für humanitäre Hilfe und zivile Friedensprojekte ein, und sorgen Sie mit einer wirksamen Klimaschutzpolitik dafür, dass die Menschen in Darfur und anderswo wieder eine Lebensperspektive bekommen. Das wäre mal eine echte Friedensmission. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Kollege Uwe Kekeritz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Bereits seit zehn Jahren ist UNAMID in Darfur. Ein Ende des Konflikts ist nicht absehbar. Im Gegenteil: Die Krisensituation verfestigt sich. Folter, Vergewaltigungen, Raub und Plünderungen sind eine ständige Bedrohung. Kämpfe zwischen Rebellen und Regierungstruppen werden nach wie vor auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Unzählige Menschen leben unter katastrophalen Bedingungen in vielen Flüchtlingscamps. Kollegin Bärbel Kofler hat die humanitäre Situation sehr drastisch und plastisch dargestellt. Ein Ende des Martyriums dieser Menschen ist nicht in Sicht. Das müssen wir, glaube ich, bei der Bewertung des Blauhelmeinsatzes mit einfließen lassen. Auch wenn die Blauhelme keinen vollständigen Schutz und auch keine dauerhafte Stabilität garantieren können, ist dieser Einsatz aber trotzdem bitter notwendig. Ohne sie wäre die Situation in diesem Land, in Darfur, noch wesentlich katastrophaler. Die humanitären Helferinnen und Helfer hätten überhaupt keine Chance, helfen zu können. Hilfsgüter kämen überhaupt nicht mehr an. Das größte Problem in der Sache sind dabei allerdings nicht irgendwelche unbekannten Milizen, sondern ist das Al-Baschir-Regime selbst. Sicherheit und Stabilität in der gesamten Region können ohnehin nicht durch militärische Interventionen erreicht werden. Der militärische Einsatz müsste endlich durch politische Ansätze und Friedensinitiativen ergänzt werden. Davon ist aber nichts zu sehen. Genau darin besteht ein wesentliches Problem. Anstatt politische Ansätze zu forcieren, fördern die EU und auch Deutschland das Al-Baschir-Regime in Khartum. Al-Baschir sitzt heute dank europäischer und US-amerikanischer Unterstützung immer fester im Sattel – und dies, obwohl das Regime Verantwortung für tausendfachen Mord, Folter, Unterdrückung, Massenvergewaltigung und Korruption trägt. Menschenrechte stehen wohl nicht mehr ganz oben in der europäischen Außenpolitik. Zwischen Europa und al-Baschir gibt es inzwischen sogar eine strategische Verknüpfung, die das Regime aufwertet und legitimiert. Hintergrund hierfür ist das Ziel, die Migrationsbewegungen nach Europa einzudämmen. ({0}) Diese Zusammenarbeit wird die Flüchtlingszahlen und die Fluchtursachen mittel- und langfristig allerdings nicht reduzieren, sondern deutlich verstärken. ({1}) Wir wissen es doch: Fluchtursache Nummer eins ist das Terrorregime selbst. Deshalb ist auch eine Zusammenarbeit mit al-Baschir und seinem Regime nicht zu rechtfertigen. ({2}) Es ist auch nicht zu rechtfertigen, dass eine offizielle sudanesische Delegation hier in Berlin offiziell empfangen wird. Es ist nicht hinnehmbar, dass die GIZ im Rahmen des Better Migration Managements mit dem Regime zusammenarbeiten muss. Ich halte es für eine moralische Bankrotterklärung, dass wir mit einem Militäreinsatz die Bevölkerung schützen müssen und gleichzeitig mit al-Baschir als strategischem Verbündeten zusammenarbeiten. Ja, es ist sicherlich richtig: Außenpolitik ist interessengeleitet. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass wir unsere tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen über das Völkerrecht stellen. Jede Zusammenarbeit mit al-Baschir verhöhnt internationales Recht und vor allen Dingen auch die Opfer. Ob UNAMID ein zentraler Faktor zur Stabilisierung der gesamten Region werden kann, ist fraglich, aber die Stärkung des Al-Baschir-Regimes schwächt natürlich das positive Potenzial, das so ein UN-Einsatz hat. ({3}) Die Zusammenarbeit bewirkt eben das Gegenteil dessen, was wir uns politisch wünschen. Deshalb muss die Kooperation mit dem Al-Baschir-Regime beendet werden, und ich füge hinzu: möglichst bald und möglichst schnell. Danke schön. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächste Kollegin hat Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Seit 2003 gehört die Region Darfur zu den schlimmsten Krisenherden der Welt. Der Konflikt im Sudan kostete seither bis zu 600 000 Menschen – die Zahlen sind ungenau – das Leben. 2,7 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, 2,1 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das ist eine traurige und bedrückende Bilanz. Herr Gauland, es hat mich erschreckt, dass Sie im Zusammenhang mit Afghanistan so wenig gewürdigt haben, welche Fortschritte die Bundeswehr in diesem Land erzielt und welche Hilfe sie dort geleistet hat. Ich denke, dass wir UNAMID brauchen, um genau diese Hilfe und Flankierung zu organisieren. Darfur ist ein zentraler Brennpunkt in Afrika, Schlüsseltransitland und Zufluchtsland für Flüchtlinge. Mord, Entführung, Vergewaltigung und Hungersnot gehören zu den traurigen Wahrheiten dieses Konflikts. Tatenlos zuzusehen, wie Menschenrechte mit Füßen getreten werden, Menschen verhungern und aus ihrer Heimat vertrieben werden, kann keine Option für die internationale Gemeinschaft sein. Sigmar Gabriel hatte recht, als er sagte: Freiheit und Recht anderer sind genauso wichtig wie Freiheit und Recht in unserem Land. In jeder Krise, in jedem Konflikt müssen zunächst natürlich diplomatische und politische Lösungen gesucht werden. Genau das soll UNAMID flankieren und leisten. Mit wenigen Soldaten unterstützen wir die Afrikanische Union in ihrem Bestreben, Frieden in dieser Krisenregion zu schaffen. UNAMID steht für ein politisches, sicherheitspolitisches, humanitäres und menschenrechtliches Engagement. Genau dieser ganzheitliche Ansatz ist so wichtig. Wenn es darum geht, Fluchtursachen zu bekämpfen, muss man bereit sein, vor Ort zu helfen. UNAMID verbessert die humanitäre Lage. Wir leisten wichtige Unterstützung für Friedensverhandlungen, haben Schutzzonen für die Zivilbevölkerung eingerichtet und unterstützen zum Beispiel auch ein Vorhaben in der beruflichen Bildung im Land. Unsere Aufgabe liegt in der Wahrnehmung von Führungs- und Beratungsaufgaben. Außerdem helfen wir bei der Ausbildung und Ausrüstung truppenstellender Nationen. Diese verschiedenen Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen kann niemand ernsthaft ablehnen. Gerade jetzt, in der augenblicklichen Situation unseres Landes, sind Verlässlichkeit und Berechenbarkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik sehr wichtig, gerade weil wir so viele Krisen in der Welt erleben und bearbeiten müssen. Gerade in der jetzigen Situation wäre es ein fatales Zeichen, wenn wir uns aus internationalen Verpflichtungen zurückziehen. Wir müssen verlässlich und berechenbar sein, und wir müssen für Kontinuität stehen. Eine positive Entwicklung der Bedrohungs- und Sicherheitslage ist erkennbar. Dennoch sind wir noch lange nicht am Ziel. Darum ist es wichtig, dass wir die Menschen in diesem Land nicht alleinlassen. Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Meine Redezeit ist abgelaufen. Wenn wir die Hoffnung verlieren, die Situation im Sudan verbessern zu können, was sollen dann die Menschen vor Ort sagen? Unser Engagement ist richtig, weil wir auch in anderen Regionen dieser Welt Verantwortung tragen. Es reicht nicht, zu sagen: „Wenn es uns gibt, reicht uns das“, sondern wir gehen hinaus und sorgen auch in anderen Regionen für die Einhaltung der Menschenrechte. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das Wort hat Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mission UNAMID trägt in der Region Darfur zum Schutz der Zivilbevölkerung, zur Stabilisierung und Verbesserung der Sicherheitslage sowie zu Vermittlungsbemühungen im Friedensprozess bei. Seit 2012 beteiligt sich Deutschland an der Mission. Dabei konzentrieren wir uns auf Führungs-, Verbindungs-, Beratungs- und Unterstützungsaufgaben und auf die Hilfe bei technischer Ausrüstung und Ausbildung. Den sieben Soldatinnen und Soldaten vor Ort in Darfur gilt unser herzlicher Dank für ihren nicht einfachen Einsatz. Im Juni wurde eine Neuausrichtung der Mission mit schrittweiser Reduzierung der militärischen Anteile beschlossen. Künftig wird ein noch größerer Fokus auf Peacebuilding-Maßnahmen liegen; denn – es ist angesprochen worden – der innerstaatliche Konflikt zwischen Rebellengruppen, Regierung und Stammesmilizen in Darfur ist weiterhin ungelöst. Auch Maßnahmen wie eine Verlängerung des Waffenstillstandes oder eine Kampagne zur Entwaffnung von Rebellengruppen haben nicht dazu beigetragen, dass der Friedensprozess entscheidend vorankommt. Dabei ist eine umfassende politische Lösung nötig. Alle Akteure und die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Realitäten in der Region müssen einbezogen werden. Natürlich muss vor allem die Menschenrechtssituation gestärkt, aber auch die prekäre humanitäre Lage im Sudan verbessert werden; denn die bewaffneten Konflikte und gewaltsamen Auseinandersetzungen um natürliche Ressourcen wie Wasser und Land lassen die Flüchtlingszahlen weiter steigen. Nach aktuellen Zahlen leben 2,7 Millionen Binnenvertriebene in Darfur. Der Konflikt ist auch ein eindrückliches Beispiel für die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf die Entstehung von Fluchtursachen und gewaltsamen Konflikten; ein Thema, dessen sich Deutschland schon während der letzten Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat angenommen hat. Es ist sicherlich auch eine Aufgabe für das wiederum angestrebte Mandat in 2019/2020, dieses Thema weiter auf der politischen Tagesordnung zu halten. Der Sudan ist auch Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Auch deshalb hat die Stabilisierung der Region für uns Priorität. Im Rahmen des Khartum-Prozesses führt die EU daher einen engen Dialog mit den Ländern entlang der ostafrikanischen Migrationsrouten. Meine Damen und Herren, Deutschland engagiert sich im Rahmen des vernetzten Ansatzes mit Mediationsleistungen und Maßnahmen zur Verfassungsberatung sowie humanitären Hilfsmaßnahmen. Wir sind die einzige europäische Nation, die sich bei der UNAMID-Mission auch mit militärischem Personal engagiert. Die Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte in Darfur ist notwendig, um langfristig Stabilität und Sicherheit in der Region zu schaffen, die Zivilgesellschaft zu schützen und eine Ausweitung des Konfliktes zu verhindern. Mit dem zunächst bis Ende März 2018 begrenzten Mandat sichern wir die Kontinuität unseres Engagements. Im Frühjahr muss dann spätestens eine längerfristige Entscheidung getroffen werden; denn unabhängig davon, ob Fraktionen in diesem Hause rechts und links der Mitte sich – jedenfalls zurzeit – als nicht regierungswillig darstellen: Deutschland muss international handlungsfähig bleiben. Unsere Partner in der Welt müssen sich auf uns verlassen können. Mit der Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streitkräfte bei UNAMID tragen wir dazu bei. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Damit sind wir am Ende der Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/19 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Diesmal sind alle einverstanden, wenn ich das richtig gehört habe. – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte über das UNAMID-Mandat habe ich Kofi Annan aus der Zeit des Bürgerkriegs in Darfur zitiert, was zum Glück nicht mehr die aktuelle Situation beschreibt. Aber wenn wir uns jetzt mit der Situation im Südsudan beschäftigen, müssen wir leider feststellen, dass in diesem Jahr das Ausmaß der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ein dramatisches Niveau erreicht hat und dass es vor allem Frauen und Kinder vor Ort betrifft. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Damit hat sich nur zwei Jahre nach dem geschlossenen Friedensabkommen die humanitäre Lage in diesem jüngsten Land der Welt weiterhin dramatisch zugespitzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt daher, die Umsetzung des Friedensabkommens im Südsudan weiterhin mit Nachdruck und mit unseren Möglichkeiten zu unterstützen, um die Zivilbevölkerung zu schützen und ihre Menschenrechte zu wahren. Hierfür brauchen wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Südsudan ist seit langem ein Krisenherd. Deswegen hat das Engagement der internationalen Gemeinschaft im Rahmen dieser Mission quasi mit dem Tag der Unabhängigkeit des Südsudan bereits im Jahr 2011 begonnen. Seitdem bemüht sich die Völkergemeinschaft um die Stabilisierung des Friedens im Südsudan. Das Mandat UNMISS ist unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen autorisiert. Deutschland ist von Anfang an an dieser Mission beteiligt. Aufgrund der Eskalation der Gewalt im Südsudan hat der VN-Sicherheitsrat die Mandatsobergrenze von UNMISS im August 2016 erhöht. 17 000 Soldaten und 2 100 Polizisten sollen den Auftrag der Mission umsetzen. Das derzeitige Mandat läuft noch bis zum 15. Dezember dieses Jahres. Das Hauptaugenmerk der Mission UNMISS liegt auf dem Schutz der südsudanesischen Zivilbevölkerung. Darüber hinaus sichert UNMISS die humanitären Zugänge, um die lebensnotwendige Arbeit der humanitären Helfer zu ermöglichen. UNMISS überwacht die Wahrung der Menschenrechte, unterstützt die Umsetzung des Mechanismus zur Waffenstillstandsbeobachtung und die Umsetzung des Friedensabkommens. Damit kommt der VN-Mission eine zentrale Rolle bei dem Versuch zur Herstellung von Frieden, Sicherheit und Stabilität im Südsudan zu. Wir wissen, dass die Mission insbesondere aufgrund der kritischen politischen und humanitären Lage im Land mit sehr großen Herausforderungen kämpft. Die Vereinten Nationen setzen sich nachdrücklich dafür ein, die Wirksamkeit der Mandatserfüllung zu verbessern. Dabei bedürfen sie weiterhin auch unserer Unterstützung. Deutschland beteiligt sich mit einer Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten ebenfalls an UNMISS. Wir schöpfen die Obergrenze nicht aus. Derzeit sind 17 Bundeswehrangehörige eingesetzt. Einer ist im Rahmen eines Kontingentwechsels auf dem Weg zurück nach Hause. Acht sind im Hauptquartier in Juba und die anderen acht als Militärbeobachter in der Fläche eingesetzt. Sie unterstützen bei der Führung der Mission im Missionshauptquartier. Wenn man sich mit der Lebenssituation der Menschen vor Ort, aber auch mit den Umständen und der Lebenssituation unserer Soldatinnen und Soldaten befasst, dann wird man sagen müssen: Dieser Einsatz in diesem Land ist ein Knochenjob. Dort in der Fläche als einziger deutscher Soldat zusammen mit wenigen anderen Kameradinnen und Kameraden anderer Nationen als Beobachter eingesetzt zu sein, ist eine riesige Herausforderung. Die Soldatinnen und Soldaten, die sich dieser Herausforderung stellen, haben unseren tiefsten Respekt und unsere Dankbarkeit verdient. ({0}) Natürlich gibt es angesichts der Größe der Herausforderung Probleme. Die deutsche militärische Beteiligung ist ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zum UNMISS-Mandat. Zudem ist sie Teil der langjährigen Bemühungen der Bundesregierung um eine dauerhafte Konfliktbeilegung und um Friedenskonsolidierung im Sudan und im Südsudan. Die Geschichte des Südsudans, des jüngsten Staates der Erde, hat hoffungsvoll begonnen. Dass die Lage jetzt so desaströs ist, hat nichts mit der internationalen Staatengemeinschaft zu tun. Wir erwarten von den politisch Verantwortlichen im Südsudan, dass sie ihrer politischen Verantwortung in angemessener Weise gerecht werden. Nichts wäre besser für dieses Land, wenn die Vereinten Nationen dieses Land verlassen könnten und wenn die deutsche Beteiligung an dieser Mission nicht mehr notwendig wäre. Ich bitte Sie namens der Bundesregierung um Ihre Unterstützung für den vorliegenden Antrag, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission UNMISS fortzuführen. Die Menschen im Südsudan brauchen uns. Die Völkergemeinschaft erwartet unseren fortgesetzten Beitrag. Darum bitte ich Sie. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für die Fraktion der SPD. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Wie wir gerade gehört haben, ist die Lage im Südsudan in der Tat verheerend. 7,5 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das heißt, 7,5 Millionen Menschen könnten nicht oder nur knapp überleben, wenn sie nicht täglich Nahrung, Wasser, Kleidung und Medikamente bekämen. Deswegen ist es gut – das will ich als Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sagen –, dass Deutschland dieses Jahr 100 Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung stellt. Ich will hier aber auch sagen: Es ist zwar gut, dass wir das tun, aber es ist schlecht, dass international nicht ausreichend geleistet wird. 1,6 Milliarden US-Dollar wären nötig; diese Summe ist international angefordert worden. Bis heute sind aber nicht einmal 70 Prozent dieser Mittel bereitgestellt. Ich kann nicht verstehen, dass Hunderte Milliarden US-Dollar für das Militär ausgegeben werden – im Jahr 2016 waren es fast 1,7 Billionen US-Dollar – ({0}) und man nicht in der Lage ist, 20 Milliarden oder 30 Milliarden US-Dollar für die humanitäre Hilfe weltweit zur Verfügung zu stellen. Das ist eigentlich ein menschlicher Skandal. ({1}) Manchmal ist es aber gut, wenn sich Menschen auch mit Waffen zwischen Menschen stellen, die sich massakrieren wollen und das leider auch tun. Es ist gut, wenn sich Menschen dazwischenstellen, wenn andere Menschen möglicherweise einen Völkermord begehen wollen. Ich kenne eigentlich fast niemanden, der es falsch findet, wenn sich Menschen zwischen andere Menschen stellen, die sich entsprechend behandeln wollen – außer vielleicht die Mitglieder von einer oder zwei Fraktionen hier im Deutschen Bundestag. Ich will sagen – ich habe gerade extra noch einmal nachgefragt, ob Die Linke wieder gegen diesen Antrag stimmen möchte –: Ich kann das an dieser Stelle überhaupt nicht verstehen. Ich glaube, das ist wirklich Ausdruck von Prinzipienreiterei, die an dieser Stelle einer Fraktion nicht angemessen ist, die sich ansonsten durchaus dadurch auszeichnet, dass sie sich um humanitäre Anliegen kümmern will. Deswegen meine herzliche Bitte, diese Position zu überdenken. ({2}) Natürlich ist UNMISS nicht vollkommen, ganz im Gegenteil. Es gab Kritik an UNMISS. Es gibt einiges, was verbessert wurde. Trotzdem ist UNMISS dringend notwendig. Jedenfalls unterstützt die SPD diesen Einsatz voll. Es ist ein durchaus überschaubarer Einsatz – auch das ist gerade gesagt worden –, aber ein wichtiger Einsatz, an dem derzeit 17 Bundeswehrangehörige von höchstens 50 teilnehmen. Ich will auch für die Sozialdemokratie noch einmal den Soldatinnen und Soldaten Danke sagen, die Schreckliches miterleben müssen, etwa dass 1,1 Millionen Kinder hungern; 300 000 von ihnen sind akut vom Hungertod bedroht. Sie bekommen mit, dass es willkürliche Verhaftungen gibt, Verfolgungen von Journalistinnen und Journalisten, Folter, Mord. Diese Zahl muss man sich einmal vorstellen: 72 Prozent der Frauen, die in Juba in den Flüchtlingslagern sind – 72 Prozent! –, sind vergewaltigt worden. Das ist eine unvorstellbare Zahl. Es ist richtig und wichtig, dass wir alles tun, dass wir alle Möglichkeiten, die wir haben, ausschöpfen, das zukünftig zu verhindern. ({3}) Neben den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten und den humanitären Helferinnen und Helfern will ich auch denjenigen danken, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit dort engagieren, weil ein solcher Konflikt natürlich mehr ist als ein Konflikt – alle, die das betonen, haben recht –, der rein militärisch zu lösen ist. UNMISS kann diesen Konflikt natürlich nicht lösen. Deswegen ist es wichtig, einen breitgefächerten Ansatz zu haben. Ich will daran erinnern, dass wir Menschenrechtspolitiker am Ende der letzten, der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages dabei waren, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten, der diesen umfassenden Ansatz repräsentiert. In unserer Fraktion war es Christoph Strässer, der das Ganze mit koordiniert hat. Leider ist es am Ende, wie ich gehört habe, an den Außenpolitikern der Unionsfraktion gescheitert. Ich will auch in dieser historischen Situation, wo der Bundestag es wirklich leisten kann, das Angebot machen, noch einmal einen solchen Ansatz zu verfolgen, sodass wir uns diesem Thema umfassend widmen. Es gibt jedenfalls den Entwurf eines Antrages, und wir stellen ihn sehr gerne zur Verfügung. Diese Debatte hat mittlerweile die gute Tradition, sich auf Studien zu beziehen, die die Friedrich-Ebert-Stiftung entwickelt hat. Ich habe das Protokoll der Debatte vom letzten Jahr nachgelesen. Dort haben sich mehrere Rednerinnen und Redner auf diese Studien bezogen. Es gibt eine aktuelle Studie, die in diesem Monat veröffentlicht worden ist. Sie macht uns noch einmal deutlich, wie vielschichtig dieser Konflikt im Südsudan eigentlich ist. Er wird hier immer nur über die Namen von zwei Personen wahrgenommen: über den Namen des Präsidenten Salva Kiir und den Namen des ehemaligen Vizepräsidenten Riek Machar. Das Ganze ist eben deutlich komplexer, und deswegen sind auch die Lösungsansätze deutlich komplexer. Häufig ist es gerade notwendig, dass die europäischen Staaten sich das noch einmal anschauen und sich die Lage bewusst machen und auch komplexere Lösungsansätze unterstützen, regionale Ansätze, Ansätze, die einzelne Gruppen einbeziehen, und Ansätze, die eben nicht nur auf die Hauptstadt abzielen, sondern sich auch die regionale Situation im Südsudan vergegenwärtigen. Aber diese Komplexität können wir in der heutigen Debatte nicht umfassend abbilden und diskutieren. Wichtig ist, dass wir als Deutscher Bundestag ein paar zentrale Signale aussenden. Ein Signal muss sein: Wir brauchen ein umfassendes UN-Waffenembargo. Ein Waffenembargo löst auch nicht alle Probleme, aber es kann doch nicht sein, dass wir mit internationaler Unterstützung diesen Konflikt ständig zusätzlich anheizen. Auch wenn das Embargo im UN-Sicherheitsrat schon gescheitert ist, sind wir alle aufgefordert, ist die internationale Weltgemeinschaft aufgefordert, glaube ich, noch einmal einen Anlauf zu einem solchen UN-Waffenembargo zu unternehmen. ({4}) Das Zweite ist das, was ich gerade deutlich gemacht habe. Es ist alles zu tun, dass die internationale Hilfe im humanitären Bereich auf die geforderten gut 1,6 Milliarden US-Dollar aufgestockt wird. Das Dritte, was wir machen müssen, ist, die Regierung des Südsudan aufzufordern, humanitäre Hilfe möglich zu machen. Es ist wirklich ein Skandal, dass die Regierung von humanitären Helfern zurzeit 4 000 US-Dollar pro Jahr verlangt, und zwar dafür, dass sie ein Visum oder eine Möglichkeit bekommen, dort zu arbeiten. Es ist völlig absurd: Menschen, die anderen Menschen dort helfen wollen, müssen dafür eine solch horrende Summe bezahlen. Das kann es nicht sein. Ich glaube, wir müssen auch klarmachen: Wer im Südsudan Völkermord begeht, wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, der muss auch international zur Verantwortung gezogen werden. Es sind viele, die dort so unterwegs sind. Aber die meisten Verbrechen werden durch den Präsidenten und durch die Armee des Präsidenten Salva Kiir verübt. Als Letztes ist die Entscheidung zu treffen: Wie gehen wir mit UNMISS um? Ich habe es gerade deutlich gemacht: Es gibt Kritik an UNMISS – der muss man sich auch stellen –, aber sie bezog sich nicht darauf, was man gemacht hat, sondern eher darauf, was man nicht gemacht hat, dass man an bestimmten Stellen Menschenrechtsverbrechen hat geschehen lassen, dass man an der Seite stand und nicht eingeschritten ist. Es gibt eine Veränderung in der Kommandostruktur an dieser Stelle, einen anderen Kommandeur, und damit verbundene Verbesserungen; das ist jedenfalls mein und unser Eindruck. Wenn es die Mission UNMISS zum Schutz der Menschen – nicht allein dazu, aber auch zum Schutz der Menschen dort vor Ort – nicht gäbe, dann müssten wir sie eigentlich jetzt beschließen. Deswegen entspricht es unserer vollen Überzeugung, dass wir einer solchen Verlängerung zustimmen. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist Gerold Otten für die AfD-Fraktion. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einigen Wochen zeigen die Nachrichten wieder erschreckende Bilder von überfüllten Schlauchbooten, mit denen Menschen aus Afrika nach Europa gelangen wollen. Zu diesen gehören allerdings kaum Flüchtlinge aus dem Südsudan. Dies liegt aber nicht an mangelnden Fluchtgründen, sondern nur daran, dass die Menschen schlicht und ergreifend zu arm sind, um Schlepper bezahlen zu können. Im Südsudan wütet seit Mitte 2016 ein blutiger Bürgerkrieg von katastrophalem Ausmaß. Regierung und Rebellengruppen, zum Teil sogar von ehemaligen Regierungsmitgliedern geführt, überbieten sich gegenseitig, wenn es um Brutalität, Verstümmelung und sexuelle Gewalt geht. Dabei hätte der Südsudan als jüngstes Mitglied der Staatengemeinschaft mit seinen reichen Erdölvorkommen sogar eine gute Chance, zu einem Vorzeigeland Afrikas zu werden. Nun ist es die Verteilung gerade dieses Reichtums, die zu ethnischen Auseinandersetzungen und zu unbeschreiblichen Gewaltexzessen geführt hat. Bereits im Jahr 2011 hat der UN-Sicherheitsrat die internationale Friedensmission UNMISS damit mandatiert, der fortgesetzten Verletzung von Menschenrechten in dieser Region entgegenzuwirken und den Zugang zu humanitärer Hilfe zu sichern. Um den Erfolg von UNMISS im Kontext bewerten zu können, muss man wissen, dass es bereits seit 2005, also noch weit vor der Unabhängigkeit des Südsudan, eine Vorgängermission gab, deren Zielvorgaben mehr oder weniger die gleichen waren, die auch für die heutige Friedensmission gelten. Auch wenn im zweiten Anlauf seit 2013 die Truppenstärke von UNMISS deutlich erhöht wurde, konnte bis zum heutigen Tag keine sichtbare Verbesserung der Situation vor Ort erreicht werden. So hat ein Gewaltausbruch im vorigen Jahr trotz erhöhter Truppenstärke die Bundesregierung zur Evakuierung der Hilfsorganisationen genötigt. Heute halten sich weder die Regierung des Südsudan noch Konfliktparteien an den Waffenstillstand, der seit Mai dieses Jahres gelten sollte. Der Südsudan ist seit 2011 Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Das Land hat deutsche Hilfeleistungen von mehr als 100 Millionen Euro erhalten. Dennoch behindert die Regierung des Südsudan die Friedensmission bei der Erreichung ihrer humanitären Ziele. Selbst die Bundesregierung spricht im heute vorliegenden Antrag von der Gefahr des weiteren Abgleitens des Südsudan „zu einem vollends gescheiterten Staat“. Für viele Beobachter der Region ist dieser Staat heute wirklich ein Failed State. Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen stellt die Frage, ob das südsudanesische Ölregime nicht unter internationale Verwaltung gestellt werden sollte. Zusammen mit dieser Frage weisen wir die Bundesregierung darauf hin, dass es schon seit längerem an der Zeit ist, auf einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat hinzuwirken. ({0}) Das wäre doch einmal ein konstruktiver Ausdruck von Selbstvertrauen, meine Damen und Herren, statt wie sonst ständig mit moralisierenden Forderungen an andere Nationen heranzutreten. Es ist übrigens dieses gesunde und nicht überzogene Selbstvertrauen, das wir von der AfD meinen, wenn wir von Patriotismus sprechen. ({1}) Mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat bestünde auch die Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen, dass eine Mission wie UNMISS nicht zu einer unendlichen Geschichte verkommt, sondern tatsächlich humanitäre Ziele zugunsten der dortigen Bevölkerung verfolgt, und das zaghafte und halbherzige Auftreten der Staatengemeinschaft durch ein geplantes, durchdachtes und konsequentes Handeln zu ersetzen. Neue Akzente also, die den Leidtragenden in diesem Konflikt wieder Zuversicht geben. Meine Damen und Herren, die AfD war am vergangenen Sonntag, dem Volkstrauertag, hier im Haus deutlich vertreten, und zwar mit den meisten Abgeordneten, weitaus mehr als von den anderen Fraktionen zusammen. ({2}) Wir haben damit deutlich unsere Solidarität und Verbundenheit mit unseren Soldaten im Einsatz zum Ausdruck gebracht. Meine Damen und Herren, auch wenn wir wissen, welchen Belastungen unsere Soldaten im Einsatz und ebenfalls unsere Polizisten ausgesetzt sind, befürworten wir als AfD-Fraktion aus den vorgenannten Gründen die fortgesetzte Präsenz der Militärbeobachter und -ausbilder der Bundeswehr bei UNMISS und stimmen der Verlängerung bzw. jetzt erst einmal Überweisung des Antrags in den Hauptausschuss zu. ({3}) Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als nächster Redner hat der Kollege Bijan Djir-Sarai von der FDP das Wort. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die technische Verlängerung des Mandates unserer Streitkräfte im Südsudan. Ich betone bewusst: Es geht hier um eine technische Verlängerung. Technische Verlängerung bedeutet, die Arbeitsfähigkeit unserer Soldatinnen und Soldaten und damit der Kräfte für humanitäre Hilfe vor Ort bis Ende März aufrechtzuerhalten. Diese Verlängerung des Mandates unserer Streitkräfte im Südsudan ist zum heutigen Zeitpunkt aus unserer Sicht eine Notwendigkeit; denn die Lage dort ist in jeder Hinsicht katastrophal: politisch, gesellschaftlich und humanitär. Ich denke – mein Vorredner hat das ja auch erwähnt –, die Bezeichnung „Failed State“ ist an dieser Stelle richtig, ist mittlerweile angebracht. Zu einem vordergründig politischen Konflikt kamen weitere Problemfelder hinzu. Hungersnöte und massenhafte Tötungen sind nur zwei Stichworte. Die prägnantesten Zahlen können Sie ja der Begründung des Antrags der Bundesregierung entnehmen – das ist vorhin ja auch vom Staatssekretär angedeutet worden; ich will das hier nur noch einmal betonen –: 7,6 Millionen der 12 Millionen Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Von den humanitären Helfern, die sich für diese Menschen einsetzen, sind allein 2017  18 Helfer zu Tode gekommen. Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Frauen und Kinder sind systematischer Gewalt und Morden ausgesetzt. Inmitten all dieses Elends haben die UNMISS-Soldaten in den vergangenen Jahren sogenannte Schutzzonen errichtet. Diese Schutzzonen stellen für die südsudanesische Bevölkerung lebenswichtige Zufluchtsorte dar. Mit einem potenziellen Abzug der Soldaten würden wir die Sicherheit dieser Menschen massiv gefährden. Das ist nicht im Sinne der Freien Demokraten und sollte auch von keiner Partei dieses Parlamentes mitgetragen werden. ({0}) Und die Vorstellung, ohne die Unterstützung der UNMISS im Südsudan humanitäre Hilfe leisten zu können, hat nichts mit der politischen Realität vor Ort zu tun. Meine Damen und Herren, wir stellen mit unseren Einsatzkräften lediglich einen kleinen Teil dieser internationalen Mission dar. Trotzdem leisten unsere Soldatinnen und Soldaten einen außerordentlich wichtigen Beitrag zur Durchsetzung der Menschenrechte und zur Stabilisierung der Lage vor Ort. Daher möchte ich gerne auch an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, unseren Soldatinnen und Soldaten, die im Südsudan dienten bzw. dienen, meinen Dank für ihre wertvolle Arbeit auszusprechen. ({1}) Ich wiederhole an dieser Stelle gerne, was ich eingangs gesagt habe: Es geht hier um eine technische Verlängerung; denn eine inhaltliche Diskussion werden wir in den nächsten Wochen und Monaten noch führen müssen. Die Frage, wie der Einsatz ab April fortgesetzt werden muss, werden wir uns in den nächsten Monaten stellen müssen. Dabei wird auch die Frage eine Rolle spielen, welchen Aufwandes es bedarf und vor allem auch wie effizient unser Einsatz vor Ort ist. Die Diskussion über diese inhaltliche Frage müssen wir heute nicht führen, aber zum gegebenen Zeitpunkt. Im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte in Deutschland und in Europa – dieses Stichwort ist vorhin gefallen – haben wir immer argumentiert, dass die Probleme vor Ort gelöst werden müssen, damit Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen. Die Bekämpfung von Fluchtursachen sollte daher auch bei dieser Debatte künftig eine zentrale Rolle spielen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das Wort hat Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke, der heute seine erste Rede hier hält. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang eine Vorbemerkung von mir als neugewähltem Abgeordneten. Wir diskutieren heute sage und schreibe sieben Bundeswehrmandate. ({0}) Ich will sehr klar sagen: Davor gab es keine Debatte in einem Verteidigungsausschuss, ({1}) weil es bisher noch keinen Verteidigungsausschuss gibt. Ich kann sagen, dass ich persönlich das sehr gewöhnungsbedürftig finde. Es gab auch keine weiteren Informationen der geschäftsführenden Bundesregierung oder auch der Bundeswehr, beispielsweise in Form einer Unterrichtung der Abgeordneten. ({2}) Sie reden groß davon, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Ich kann nur sagen: Es bedarf tatsächlich einer seriösen Beratung von Bundeswehrmandaten. Ich glaube nicht, dass das, was wir im Moment hier tun, eine seriöse Beratung ist. ({3}) Wir brauchen explizit die Einsetzung eines Verteidigungsausschusses, und wir fordern, dass die laufenden und noch zu beschließenden Bundeswehreinsätze hier seriös diskutiert werden. Ich will noch kurz eine Bemerkung zu dem machen, was die geschäftsführende Bundesregierung im Militärbereich gerade tut. Sie hat PESCO zugestimmt und vorangetrieben. Das ist die sogenannte EU-Militärunion. ({4}) Auch da ist es so – wir haben als Linksfraktion dazu einen Antrag aufgesetzt –, dass der Deutsche Bundestag wesentlich daran beteiligt werden muss. Das Verfahren, das Sie hier als geschäftsführende Bundesregierung betreiben, ist nicht korrekt. Wir kritisieren das als Linksfraktion sehr klar. ({5}) Nun zum konkreten Einsatz UNMISS. Es geht um ein Mandat für den Einsatz von bis zu 50 Bundeswehrsoldaten als Teil der UN-Mission UNMISS. 2011 wurde der Einsatz gestartet. Es gab von Anfang an eine Schieflage, weil es, wie es damals hieß, konkret darum ging, die neuentstandene südsudanesische Regierung bei der Schaffung von Stabilität zu unterstützen. Herr Schwabe, Sie beschreiben und stellen Forderungen auf, denen ich bekanntlich mit Ausnahme der letzten zustimme. Aber ein zentrales Problem dieses Einsatzes ist diese Schieflage und die Tatsache, dass man mit diesem südsudanesischen Regime genauso zusammenarbeitet wie mit dem – in Anführungszeichen – nordsudanesischen Regime. Genau das macht diesen Einsatz hochproblematisch, und deshalb werden wir ihn ablehnen. ({6}) Es gibt im Südsudan 1,25 Millionen Menschen, die direkt vom Hungertod bedroht sind. Das ist doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Mehr als die Hälfte der Menschen ist mangelernährt oder auf internationale Hilfe angewiesen. Die südsudanesischen Regierungstruppen – das wurde schon genannt – versuchen immer wieder, die Verteilung der humanitären Hilfsgüter zu behindern und zu verhindern. Genau deshalb ist eine Zusammenarbeit mit dieser südsudanesischen Regierung ein wesentliches Problem dieses Einsatzes. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt tatsächlich einen Schlüssel, wie man diesen Konflikt angehen könnte. Amnesty International und eine ganze Reihe von Nichtregierungsorganisationen machen immer wieder darauf aufmerksam, dass die Lieferung von Waffen, Munitions- und Ausrüstungsgegenständen – auch aus europäischen Staaten – mit zur Destabilisierung des Landes beiträgt. Ohne solche Rüstungsexporte, die zum Beispiel auch Kampfhubschrauber aus der Ukraine mit einschließen, und Militärausbildung für diejenigen, die diese Waffen benutzen, hätte der Konflikt im Südsudan nicht in diesem barbarischen Ausmaß eskalieren können. Die dafür Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. ({8}) Dazu will ich klipp und klar sagen: Auch aus Deutschland werden nach wie vor Kleinwaffen und Munition für den Südsudan geliefert – siehe Rüstungsexportbericht 2016. Diese Waffen gehen keineswegs nur an die UN-Mission, sondern leider auch an die Regierungstruppen und auf diesem Weg mitten in den Konflikt. Wir sagen: Das muss gestoppt werden. Das ist ein ganz wesentliches Problem dieses Konfliktes. ({9}) Jetzt sagen Sie, die Antwort auf die humanitäre und politische Krise im Südsudan wäre unter anderem, UNMISS zu schicken. Ich sage klipp und klar: Die wenigen Bundeswehrsoldaten werden dieses Problem logischerweise nicht lösen. Was wir stattdessen brauchen, ist eine zivile Entwicklungsperspektive.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pflüger, ein kleiner geschäftsleitender Hinweis: Das Minus vor den Zahlen, das vor Ihnen leuchtet, zeigt, wie weit Sie die verabredete Redezeit schon überschritten haben. Ich möchte das hier nicht weiter bekannt geben, sondern bitte Sie, einen Punkt zu setzen.

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. Frau Kollegin, ich danke. – Der Südsudan-Experte Peter Schumann sagt in einem Interview klipp und klar, um was es geht: Um die Opferzahl drastisch zu senken, müssen vor allem aber umgehend die Waffenlieferungen gestoppt werden. Das ist für uns eine der zentralen Forderungen – und nicht eine Verlängerung des UNMISS-Einsatzes. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die schlimme Entwicklung im Südsudan zeigt uns auch die ganzen Dilemmata und Unzulänglichkeiten vieler Peacekeeping-Einsätze der Vereinten Nationen. Sie können viel Schlimmes verhindern, aber leider viele Menschen auch nicht schützen. Sie reichen oft nicht aus, um politische Lösungen mit durchzusetzen. Und doch: Sie sind notwendig; das finde ich ganz wichtig. Meine Frage an den Kollegen von der Linkspartei, Tobias Pflüger: Ich verstehe Ihre Position nicht ganz. Sie sagen, Sie stimmen dem Mandat für die Bundeswehr nicht zu. Aber Sie sagen nicht, UNMISS soll abziehen. Das heißt, Sie sagen: Das sollen doch andere machen. – Das finde ich völlig inkonsistent in einer so ernsten Lage. ({0}) Die Lage – das ist hier beschrieben worden – ist desaströs. Immer wieder gibt es neue Gefechte zwischen Rebellen und Regierungstruppen. Das Friedensabkommen aus 2015 ist hinfällig. Auch die für 2018 geplanten Wahlen werden wohl nicht stattfinden. Über 2 Millionen Menschen sind bereits in die Nachbarländer geflohen. Fast genauso viele sind innerhalb des Landes vertrieben. Andere haben es hier schon beschrieben: Die Hilfsorganisationen erreichen gerade einmal die Hälfte aller Hilfsbedürftigen, also viel zu wenig. Sie werden selbst immer öfter Opfer von Gewalt. In dieser schwierigen Lage leisten die Vereinten Nationen den zentralen Beitrag dazu, dass das Land nicht noch weiter im Chaos versinkt. Das ist gut und richtig so. ({1}) UNMISS bietet vielen Menschen, die vor der Gewalt geflohen sind, zumindest einen gewissen Schutz. Sie unterstützt die humanitären Hilfsorganisationen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und schützt sie dabei vor Gewalt. Über 200 000 Zivilistinnen und Zivilisten werden gegenwärtig in den sechs Schutzzonen der UN versorgt. Es gibt Hunger im Land, aber dass eine ganz große Hungersnot in diesem Jahr verhindert werden konnte, verdanken wir eben auch der Präsenz der Blauhelmsoldaten. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt: Bei dieser Mission sind schwere Fehler passiert. Erst kürzlich hat das ein UN-Bericht deutlich gemacht und den ­UNMISS-Soldaten schweres Versagen beim Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten vorgeworfen. Trotzdem ist klar: Für Hunderttausende bieten die Lager, die UNMISS schützt, die einzige Zuflucht und Rettung. Eine Schwächung oder gar ein Abzug von UNMISS wäre für all diese Menschen eine komplette Katastrophe. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sich ihre Entscheidung wirklich noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Dass Sie dabei abseitsstehen wollen, kann ich nicht verstehen. ({3}) Deswegen empfehle ich meiner Fraktion ganz nachdrücklich, auch diesmal diesem Mandat zuzustimmen. Aber es ist auch klar: Die UN-Mission allein wird die Lage im Land nicht stabilisieren können. Viele Beobachter sehen das Friedensabkommen praktisch als letzte politische Chance für den Staat Südsudan. Was ein Implodieren des Südsudans für die ganze Region bedeuten würde – übrigens auch für die Frage großer Fluchtbewegungen aus dieser Region –, können wir uns kaum ausmalen. Deswegen ist es absolut notwendig, dass Deutschland und die Europäische Union international die Initiative ergreifen und sich energisch für offene Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien und natürlich auch für ein Waffenembargo durch die UNO, das lange überfällig ist, einsetzen. Das muss endlich durchgesetzt werden. ({4}) Es muss einen umfassenden Dialog im Land geben, der auch die zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Akteure einbezieht. Dazu gehört übrigens auch – das muss ich in Richtung der Regierungsbank sagen –, dass der deutsche Außenminister, wenn er zu Besuch im Südsudan ist, Treffen mit der Zivilgesellschaft nicht einfach absagen sollte. Gerade mit diesen Akteuren muss nämlich gesprochen werden. ({5}) Angesichts der verheerenden Lage müssen wir dringend über eine Verbesserung und Stärkung dieser UN-Mission reden. Sie reicht so, wie sie ist, in dieser Krisensituation einfach nicht aus. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat Herr Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Südsudan ist der jüngste Staat der Welt. Es gibt ihn seit sechs Jahren. Seit vier Jahren gibt es dort Krieg. Aber im Grunde genommen gibt es dort mit kleinen Unterbrechungen seit 40 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Viele Vorredner haben die aktuelle Situation beschrieben und darauf hingewiesen, was das tatsächlich bedeutet. Ich finde, allein die nackten Zahlen – von den 12 Millionen Einwohnern sind 7,6 Millionen von Nahrungsmittelhilfen abhängig und 1,25 Millionen unmittelbar vom Hungertod bedroht – sind ja schon erschreckend genug. Aber wenn man sich einmal anschaut, wie sich diese Zahlen entwickelt haben, seit wir im vergangenen Jahr über die Verlängerung dieses Mandats entschieden haben, dann muss man sagen: Es hat sich in der Tat nicht zum Guten entwickelt, sondern es ist schlechter geworden. Der Kollege Schmidt hat seine Rede mit der Feststellung beendet, dass man sich letztlich auch der Alternativen, die es dazu gibt, bewusst sein muss. Ich glaube, das müssen wir in eine Gesamtbetrachtung einbeziehen. Es ist ein vielschichtiger Konflikt, der mit zwei Namen verbunden ist: dem des Präsidenten und dem seines früheren Vizepräsidenten. Es geht um Macht, es geht um Geld, es geht um Ressourcen, es geht um Bodenschätze, es geht um Öl. Es geht letztlich auch um einen ethnischen Konflikt zwischen den Dinka und den Nuer, der dem Ganzen zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund brauchen wir in der Tat eine vielschichtige Lösung. Aber eines ist klar: Niemand hier in dieser Debatte hat eine Alternative zu diesem Einsatz, zu diesem UN-Mandat benannt. Denn die Situation ist doch die, dass es überhaupt nichts bringt, hier nur mit ziviler Entwicklungshilfe zu arbeiten. Wenn allein in diesem Jahr bereits 18 Entwicklungshelfer ermordet worden sind, wenn wir im vergangenen Jahr Polizisten aus dieser Mission abgezogen haben, dann zeigt das doch ganz eindeutig, dass man eben auch mit militärischen Mitteln die Grundlage für ein hinreichendes Maß an Sicherheit schaffen muss. Es ist ja nicht nur so, dass die Entwicklungshelfer und die Soldaten von UNMISS sich im Land nicht frei bewegen können. Selbst der Präsident ist mehr ein Bürgermeister von Juba als tatsächlich Präsident des Landes, der sich frei bewegen könnte. Deshalb ist es eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein umfassender Ansatz hier tatsächlich umgesetzt werden kann. In der Tat haben wir da relativ wenige Vorschläge gehört. Ich glaube auch, dass wir bei der Verlängerung von UNMISS deutlich machen müssen, dass es so nicht weitergehen kann, sondern dass wir ein verstärktes Engagement brauchen, dass wir beispielsweise auch Druck der europäischen Staaten auf die Nachbarländer benötigen, zum Beispiel auf Ägypten und Äthiopien, die dort alle mit eigenen Interessen unterwegs sind, Uganda, das dort die Regierungstruppen unterstützt, und anderes mehr. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir nicht rein altruistisch unterwegs sind. Beispielsweise hat der katholische Bischof von Südsudan bereits im August darauf hingewiesen, dass sich große Flüchtlingsströme aus dem Südsudan in Richtung Europa aufmachen können. Dass sich die Zahl der Flüchtlinge in den letzten zwölf Monaten etwa verdoppelt hat – 2 Millionen Menschen innerhalb des Landes, 1 Million in Uganda, 700 000 im Sudan –, ist erschreckend. Wenn ich mir die Situation in Uganda anschaue, dann ist es wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Dort bräuchte man laut UN-Welternährungsprogramm 570 Millionen US-Dollar, um die Menschen versorgen zu können. Tatsächlich sind nur 20 Prozent der Mittel vorhanden. Das erinnert mich fatal an den Sommer 2015 und die Situation in den Anrainerstaaten Syriens. Deshalb sollte uns bewusst sein: Wir reden hier nicht nur über ein kleines Bundeswehrmandat, wir reden über die drittgrößte Flüchtlingskrise nach Syrien und Afghanistan und deshalb über unser Thema. Aus diesem Grunde müssen wir dort auch mehr tun: humanitär, in der Rechtsstaatszusammenarbeit, aber auch mit dem notwendigen Militär, um Sicherheit für all das gewährleisten zu können. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie wahrscheinlich Sie alle schlage ich jeden Morgen die Zeitung auf und lese die Nachrichten aus aller Welt, aber ganz selten lese ich etwas über den Südsudan. Dabei spielt sich im Moment in dem Land eine der weltweit größten humanitären Katastrophen ab. Der Kollege Frei hat die Situation gerade sehr emotional und eindringlich beschrieben: allein 2 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten, etwa 1,5 Millionen im Land. Die Menschen kommen bisher nicht in Europa an. Die Ärmsten der Armen schaffen es gar nicht bis zu uns. Es gibt außerhalb der Stadt Juba kaum internationale Medien und deswegen auch kaum Öffentlichkeit für diese desolate Lage in einem der ärmsten Länder der Welt. Schon alleine deshalb ist es gut, dass wir das Thema hier im Bundestag immer wieder auf die Tagesordnung heben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir das Mandat zum ersten Mal debattiert haben. Das war 2011. Der Staat ist damals neu gegründet worden. Damals waren unsere Debatten hoffnungsvoll. Ich war selber 2012 im Südsudan zu Gast. Ich habe damals ein Land erlebt, das am Boden lag, das aber aufstehen wollte. 2013 kam dann der Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg drückt dieses Land im Moment wieder mit aller Gewalt buchstäblich nach unten. Daran hat auch das Friedensabkommen von 2015 nichts geändert. Dabei wäre in dem Friedensabkommen von 2015 der Weg über einen Waffenstillstand, über eine Übergangsregierung hin zu Neuwahlen vorgezeichnet. Es ist auf 75 Seiten wunderbar beschrieben, wie es laufen könnte. Der Präsident Salva Kiir hat dieses Abkommen mit unterschrieben, ebenso Riek Machar, der ehemalige Vizepräsident, sowie alle Anrainerstaaten um Südsudan herum; alle ostafrikanischen Staaten haben dieses Dokument unterzeichnet. Es fehlt also nicht die geeinte Grundlage. Was im Südsudan fehlt, ist die Umsetzung. Deswegen ist es gut und wichtig, dass die ostafrikanischen Staaten in den letzten Wochen und Monaten verstärkt darauf gedrängt haben, dass dieses Friedensabkommen umgesetzt wird und sich die betroffenen Konfliktparteien wieder an einen Tisch setzen. Die Vertreter der Afrikanischen Union machen an dieser Stelle richtig Druck. Sie haben im September ein Kommuniqué in Richtung Südsudan verabschiedet, in dem sie schreiben, dies sei die „last chance“ für das Land; für den Fall, dass das Abkommen nicht umgesetzt wird, drohen sie mit Sanktionen. Ohne Druck von außen wird sich in diesem Land nichts bewegen. Auch die UN ist deswegen stark gefordert. UNMISS ist eine ganz zentrale Komponente des internationalen Engagements. UNMISS hat im Moment 15 000 Leute vor Ort. Allein mit dieser Präsenz schafft UNMISS ein Lagebild, das wir sonst überhaupt nicht hätten. Wer hält sich wo im fernen Südsudan an welche Vereinbarungen? Ohne die Präsenz von UNMISS könnten wir das gar nicht erfahren. Die zentrale Aufgabe von UNMISS aber ist der Schutz der Zivilbevölkerung. Diese Aufgabe wird zunehmend schwieriger. Es ist in den letzten Wochen immer wieder berichtet worden, dass UNMISS-Mitarbeiter selbst Gegenstand von Angriffen waren, und die Unterstützung vonseiten der Regierung für UNMISS lässt, ehrlich gesagt, auch zu wünschen übrig. Unser Anteil an der Mission ist nicht groß. Wir sind im Moment mit 17 Soldaten vor Ort, die die Lage dort unten beobachten, die Mission beraten und uns aus erster Hand berichten können. Ich hoffe, dass die jüngsten Entwicklungen, auch politischen Entwicklungen, dazu führen, dass sie uns wieder positive Dinge aus dem Südsudan berichten können. Aber unsere heutige Botschaft, die in das Land geht, sollte sein: Selbst wenn keine Flüchtlinge zu uns kommen, selbst wenn das Land weit weg ist und die deutsche Öffentlichkeit kaum Interesse daran hat, weil nicht darüber berichtet wird, lassen wir das Land und die Menschen dort unten nicht im Stich. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/20 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen hat Siemens einen Rekordgewinn bekannt gegeben – in der Liste der Gewinne der Firmengeschichte ganz oben –; zum gleichen Zeitpunkt hat das Unternehmen erklärt, 6 900 Stellen abzubauen – mehr als die Hälfte davon in der Bundesrepublik Deutschland. Bei Siemens heißt es vonseiten der Konzernleitung, es solle – ich zitiere – „die Auslastung der Werke gesteigert, die Effizienz vorangetrieben und Kompetenzen durch die Bündelung von Ressourcen ausgebaut werden“. Man könnte auch sagen: Wir schmeißen die Leute raus, das steigert den Gewinn. – Das ist nicht das Verhalten eines verantwortungsbewussten Managements. ({0}) Es ist inakzeptabel, meine Damen und Herren, dass ein internationaler Konzern, der jahrzehntelang direkt und indirekt vom deutschen Staat, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern dieser Republik und, nebenbei bemerkt, auch von denen der Europäischen Union profitiert hat, jetzt seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für krasse Managementfehler bluten lässt. Aber das ist die bittere Realität kurz vor Weihnachten für einen Teil der Belegschaft. Die Entscheidung dieses Konzerns führt zu Verbitterung. Wir konnten das gerade hier vor den Toren des Reichstags erleben. Es führt zu Verbitterung, weil die Entscheidung unverantwortlich ist. Sie ist unverantwortlich, weil – ich sagte es bereits – in diesem Jahr der Konzern nicht Not leidet, sondern Rekordgewinne macht. Die Entscheidung ist unverantwortlich, weil sie ohne jede Rücksichtnahme auf das Leben der Beschäftigten und ihrer Familie getroffen worden ist. Und nicht zuletzt ist sie unverantwortlich, weil dies zu schweren Schlägen gegen die Wirtschaft in Regionen unseres Landes führt, die Stabilität brauchen und nicht Verantwortungslosigkeit von Arbeitgebern. ({1}) Was Siemens hier macht, meine Damen und Herren, gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland; denn die Stärke der deutschen Wirtschaft besteht im gegenseitigen Vertrauen. Aber was der Vorstand von Siemens mit den Belegschaften macht, ist Zerschlagung von Vertrauen. Vertrauen zwischen den Belegschaften und dem Firmenmanagement ist in Krisenzeiten ein hohes Gut. Gerade, wenn wir an das Unternehmen denken, erinnern wir uns: Siemens hatte Krisen und konnte sich in seinen Krisen vor allen Dingen auf die verantwortungsbewusste Haltung der Belegschaften verlassen. Jetzt, bei diesen Milliardengewinnen, so mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umzugehen, schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. ({2}) Dieser Vertrauensbruch wiegt umso schwerer, weil sich damit ein wichtiger Arbeitgeber vor allen Dingen aus dem Osten unseres Landes zurückzieht, aus Regionen, die den Rückzug von Siemens eben nicht leicht auffangen können. Gerade in Ostdeutschland dürfen wir nicht Werke schließen, sondern müssen Perspektiven bieten. Man darf auch daran erinnern: Auch hier ist Steuergeld geflossen; bei den Betriebsansiedlungen im Osten haben diejenigen, die dort ihre Firmen eröffneten, staatliche Förderungen bekommen. Umso schlimmer, wenn es jetzt trotz der guten wirtschaftlichen Lage dazu kommt, dass dort Menschen und ganze Regionen gefährdet werden. Es geht darum, meine Damen und Herren, Verantwortung zu übernehmen. Gerade ein Unternehmen wie Siemens, das seit 170 Jahren für Innovationen, für Qualität und für erfolgreiches Wirtschaften steht, sollte in der Lage sein, weit voraus zu planen und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Perspektiven zu bieten. Ich komme noch einmal zu den Managementfehlern. Wenn sich bestimmte Betriebssparten kompliziert entwickeln, man aber in anderen Betriebssparten zugleich Riesengewinne erzielt, dann kann man sie doch nutzen, um die Schwierigkeiten abzufangen. Nein, stattdessen wird zu einem alten Mittel gegriffen, das kapitalistische Unternehmen immer haben: Wenn es hart wird, muss am Ende die Belegschaft bluten. Das, meine Damen und Herren, ist völlig inakzeptabel, ({3}) insbesondere bei einem Firmenvorstand, der bisher jedenfalls immer stolz darauf war, dass er sich an die Vereinbarungen mit den Betriebsräten halten wollte, über langfristige und innovative Alternativen auch mit den Betriebsräten, mit den Belegschaften nachdenken wollte. Das ist sichtlich nicht geschehen. Meine Damen und Herren, wir, die Fraktion und die Partei insgesamt, auch unsere zuständigen Ministerinnen und Minister, vor allen Dingen Brigitte Zypries und Katarina Barley, bei denen ich mich bedanken will, sind auch in einer Situation, in der die Regierungsbildung nicht abgeschlossen ist, in der Verantwortung für die Stabilität unseres Landes. ({4}) Ich möchte den beiden genannten Mitgliedern der geschäftsführenden Regierung dafür danken, dass sie an der Seite der Belegschaften von Siemens stehen. – Wenn Sie das amüsiert, sagt das mehr über Sie aus als alles andere. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede hat Herr Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion das Wort. ({0}) – Entschuldigung! ({1}) – Kollege Kauder! ({2}) – Gut, es beruhigt mich, dass ich in einer gewissen Kontinuität unterwegs bin. Wir werden besser, Kollege Kauder, und Sie unterstützen uns wie alle anderen Fraktionsvorsitzenden und Parlamentarischen Geschäftsführer dabei. Dann hat erst einmal Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({3})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie ist die Lage? Der Weltmarkt für konventionelle Stromerzeugung verändert sich rasant. Das ist nicht neu. Wir haben es beim Übergang von Kohle zu Öl erlebt, wir haben es bei der Kernenergie erlebt, wir erleben es bei der Steinkohle, bei der Braunkohle und jetzt auch bei Gasturbinen. Es ist im Übrigen auch politisch gewollt, auch von Ihnen, Herr Schulz, und Ihrer Partei, dass die Erneuerbaren stärker wachsen und ihr Anteil ausgeweitet wird. Deshalb ist in Europa heute kein einziges konventionelles Kraftwerk mehr im Bau. Weltweit sieht es noch anders aus, aber die Erneuerbaren haben hier stark aufgeholt. Derzeit werden 110 bis 120 Gasturbinen – und um die geht es – pro Jahr auf dem Weltmarkt benötigt, in Zukunft eher weniger. Weltweit gibt es Kapazitäten, 400 Turbinen pro Jahr herzustellen. Darauf muss man reagieren. Das gilt auch für ein Unternehmen wie Siemens, die Gott sei Dank bei der Windkraft, onshore wie offshore, Weltmarktführer sind und einen Marktanteil von 50 Prozent haben. Im Bereich der konventionellen Kraftwerke oder bei Industriedampfturbinen liegt ihr Marktanteil bei 25 bis 30 Prozent, aber auch das wird sich ändern. Deshalb ist es eine ureigene unternehmerische Entscheidung, sich mit dem Weltmarkt auseinanderzusetzen, sich den sich verändernden Bedingungen anzupassen und gegebenenfalls das Geschäftsmodell zu verändern. Das versucht Siemens, indem sie eine Know-how-Bündelung in Kompetenzzentren vornehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu verbessern, und indem sie Maßnahmen für mehr Kundennähe, Innovationen, Kostensenkungen und organisatorische Optimierung ergreifen. Dazu gehört leider auch – und das bedauern wahrscheinlich alle in diesem Hause – der Arbeitsplatzabbau in diesen Sektoren, 6 000 bis 7 000 weltweit, davon 2 500 bis 3 000 höchstwahrscheinlich in Deutschland. Aber dem Arbeitsplatzabbau in diesen Sektoren, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind und die es in der Zukunft auch nicht mehr geben wird, steht eine kreative Zerstörung im Schumpeter’schen Sinne gegenüber, durch die Neues erwächst, zum Beispiel neue Arbeitsplätze, auch bei Siemens. Allein in diesem Jahr wurden 5 000 Arbeitsplätze in den entsprechenden Bereichen geschaffen, und auch im nächsten Jahr werden über 5 000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden, zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung. Auf all das muss reagiert werden. Deshalb hilft uns, lieber Herr Schulz, Siemens-Bashing, wie Sie es hier betrieben haben, nicht weiter. Ich halte das, ehrlich gesagt, für nicht seriös. Ich hätte von Ihnen etwas anderes erwartet. ({0}) Wir erwarten selbstverständlich auch, dass sich Siemens an die mit dem Betriebsrat und mit den Tarifpartnern vereinbarten Zusagen hält. ({1}) Es wurden Zusagen hinsichtlich betriebsbedingter Kündigungen und der Standorte gemacht. Diese gilt es jetzt umzusetzen. Der Prozess beginnt jetzt. Bis Ende 2018 sollen Ergebnisse vorliegen, damit die angestrebten Maßnahmen bis Ende 2020 umgesetzt werden können. Auch wir gehen selbstverständlich davon aus, dass Weiterqualifikation, Arbeitsplatzwechsel, Altersteilzeit oder andere Maßnahmen zum Zuge kommen und dass die anstehenden Veränderungen sozialverträglich gestaltet werden. ({2}) Auch wir erwarten selbstverständlich, dass gemachte Zusagen, was Förderbewilligungen anbelangt, eingehalten werden. Nun sind einige Bewilligungen längst ausgelaufen. Aber Siemens hat an den Standorten viel investiert. Auch unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Standorte, vielleicht mit anderen Inhalten, erhalten werden. Aber das ist zuvorderst eine Aufgabe des Unternehmens Siemens, der Unternehmer und der Arbeitnehmer im Betrieb. Das ist nicht zuvorderst eine Aufgabe der Politik; denn wir sind nicht die besseren Unternehmer. Deshalb gilt eine Arbeitsteilung. Diese Fragen sind im Unternehmen zu lösen: von den Unternehmern, den Arbeitnehmern und den Tarifpartnern. Wir müssen die politischen Fragen lösen. Aber dazu habe ich von Ihnen bisher nichts gehört, weder in einem Antrag noch in Ihrer Rede. Ein Satz zum freien Handel. Wir haben ein internationales Level Playing Field. Wir wollen innovations- und investitionsfreundliche Regulierung, zum Beispiel in der steuerlichen Forschungsförderung. Aber die Partner im Hause verweigern sich, die SPD vorneweg. Im Bereich der Digitalisierung, im Bereich der Fachkräfte und im Bereich des Arbeitsrechts brauchen wir Flexibilisierung. ({3}) Wir brauchen Energiepreise, die wettbewerbsfähig sind, und andere Dinge mehr. Wir sind bereit dazu. ({4}) Das ist unsere Aufgabe, das ist eine Aufgabe der Politik. Lassen Sie uns diese Aufgabe gemeinsam anpacken, und lassen wir die unternehmerischen Aufgaben von den Unternehmen erledigen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Hohen Hause hat Herr Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion das Wort. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin, zu meinem Namen. Er wird so ausgesprochen: Tino „Krupalla“. Das ist ein schlesischer Name. Nur der Richtigkeit halber. Meine Damen und Herren! Es war zu erwarten, dass die SPD die bevorstehende Schließung der Siemens-Werke benutzt – unter anderem in meinem Wahlkreis, Görlitz –, um sich mal wieder scheinheilig als Arbeiterpartei zu inszenieren. ({0}) Herr Schulz, das ist vor allem deshalb unglaubwürdig, weil die SPD im Verbund mit der CDU, namentlich der Kanzlerin Angela Merkel, für die Schließung dieser Werke direkt mitverantwortlich ist. ({1}) Aber auch die Grünen will ich nicht aus der Verantwortung entlassen. Schließlich hat die rot-grüne Regierung diese Fehlentwicklung eingeleitet. Sie alle, die Sie hier vor mir sitzen, haben sich der Klimaschutzideologie verschrieben ({2}) und ohne Rücksicht auf Verluste die Energiewende durchgedrückt. ({3}) Als direkte Konsequenz daraus sind die Heimatmärkte von Siemens in der Kernkraft-, in der Kraftwerksparte ({4}) komplett zerstört, mit der Folge, dass ein traditionsreiches deutsches Unternehmen von Weltruhm in diesem Bereich nicht mehr wettbewerbsfähig ist. ({5}) Herzlichen Glückwunsch! Sie haben wirklich ganze Arbeit geleistet. ({6}) Am heuchlerischsten ist die SPD, die ausgerechnet zum Thema Siemens eine Aktuelle Stunde einläutet. ({7}) Unter Ihrer Ägide wollte Deutschland Vorreiter in Sachen „globale Energiewende“ werden, allerdings ohne ein sauberes Konzept auszuarbeiten, wie dieser Wandel langfristig vonstattengehen soll. Betriebe müssen Planungssicherheit haben. Wir haben es hier jedoch mit einer kopflosen Energiepolitik zu tun, die unsere besten Unternehmen ins Straucheln bringt. ({8}) Die SPD hat diesen Irrsinn mitgetragen, anstatt sich über die Konsequenzen für die Arbeiter und deren Familien Gedanken zu machen. Eine der treibenden Kräfte in Sachen Energiewende waren die SPD-geführten Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, ({9}) die sich sehr früh für den Klimaschutz starkmachten. Mit gesunden Heimatmärkten hätten wir das Problem nicht; aber die Vorgabe des Zentralkomitees in Berlin war nun einmal die totale Abkehr von fossilen Brennstoffen. Und jetzt haben wir das Nachsehen. ({10}) Japanische, amerikanische und französische Unternehmen haben diese Schwierigkeiten nicht, weil sie – noch – auf stabile Heimatmärkte zugreifen können. Deutschen Unternehmen wird zusätzlich im Handel mit Russland ein Bein gestellt. Insbesondere Firmen im Osten unseres Landes sind davon betroffen. Es geht aktuell um 2 600 Stellen in Deutschland. Aber in Wirklichkeit geht es um viel mehr. Das Problem ist, dass gerade Werke in wirtschaftlich schwachen Regionen wie in meiner Heimatregion, der Lausitz, betroffen sind, die keine Lobby haben. ({11}) Hinzu kommt, dass nicht nur die Arbeitsplätze im Werk, sondern auch das ganze Netzwerk der Zulieferer betroffen ist, bestehend aus Mittelständlern und Handwerkern und deren Familien. ({12}) Die Menschen in Deutschland haben Ihnen bei der Wahl einen Denkzettel verpasst, weil sie Ihre Inkompetenz durchschauen. ({13}) Glücklicherweise geben Sie inzwischen selbst zu: Die Energiewende ist eine Farce. Ich zitiere die Aussage eines Fachmanns, die am Wochenende in der „Sächsischen Zeitung“ zu lesen war. ({14}) – Den sage ich schon noch. – Er sagte: Nachdem das Ende der Atomkraft als Kampfziel weggefallen ist, versucht man nun, ein neues Thema zu finden. Dabei haben wir jetzt ein Erneuerbare-Energien-Gesetz, das uns als Industrieland voll gegen die Wand fahren wird. ({15}) Diese systemkritische Aussage stammt nicht von mir, sondern vom zukünftigen sächsischen Ministerpräsidenten, Michael Kretschmer aus Görlitz. ({16}) Er hat diese verfehlte Politik der Koalition von Union und SPD mit auf den Weg gebracht und über lange Jahre mitgetragen. Jetzt fällt ihm ein, dass Subventionen den Charakter verderben, und er will über eine Neuausrichtung der Energiepolitik streiten. Müssen sich unsere Unternehmen jetzt wieder auf neue Vorgaben einstellen, die nicht durchdacht und nur auf Stimmenfang ausgerichtet sind? Wir als AfD fordern, dass Parteien für Entscheidungen, die die Schicksale so vieler Menschen betreffen, endlich wieder Verantwortung übernehmen müssen. ({17}) Die Rahmenbedingungen für die Schließung der Werke hat nicht Siemens geschaffen, sondern die Politik. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat Herr Torsten Herbst für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schulz, Sie machen es sich reichlich einfach. Wenn Ihnen die Debatte so wichtig ist, wenn die Arbeitsplätze und die Perspektiven für die Siemens-Werke Ihnen so wichtig sind und Sie die amtierende Wirtschaftsministerin loben, frage ich Sie: Wo ist eigentlich Ihre amtierende Wirtschaftsministerin? Ich kann sie nicht sehen, meine Damen und Herren. ({0}) Sie machen es sich auch aus einem anderen Grund sehr einfach. Im Gegensatz zu Ihnen glauben wir nicht, dass der Deutsche Bundestag direkt über Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft entscheidet. Aber das, was Sie mitverantworten, Ihre Regierungspolitik unter Schwarz-Rot, ({1}) hat mit dazu geführt, dass kein Unternehmen in Deutschland im Moment bereit ist, in konventionelle Kraftwerkskapazitäten und in Versorgungssicherheit zu investieren. ({2}) Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, Herr Schulz. ({3}) Wir als Freie Demokraten billigen Unternehmen zu, unternehmerische Entscheidungen zu treffen, um wettbewerbsfähig zu bleiben; das ist so. ({4}) Aber ich sage auch: Siemens ist kein kleiner Mittelständler, und Siemens steht finanziell auch nicht mit dem Rücken zur Wand. ({5}) Siemens hat deshalb eine Verantwortung, nicht nur für die eigene Aktie und die eigene Dividende, sondern auch für Mitarbeiter und Standorte, meine Damen und Herren. ({6}) Aus diesem Grund muss ich schon hinterfragen, warum begründet wird, dass die angeblich zu hohen Kosten gerade an den Standorten im Osten – in Erfurt, in Leipzig, in Görlitz, in Berlin – entscheidend dafür sein sollen, Werke zu schließen oder Produktionen zu verlagern. Günstige Produktionskosten sind doch eher im Osten zu finden und nirgendwo anders. Deshalb kann ich die Siemens-Entscheidung nicht nachvollziehen. ({7}) In meinem Heimatbundesland, in der Lausitz, kämpfen die Menschen heute noch mit den Auswirkungen des Strukturwandels, der durch die Wende entstanden ist. Sie waren gerade aus dem Gröbsten heraus, und es hat Hoffnung gegeben. Dann kündigte Bombardier an, die Mitarbeiterzahl in den Werken zu verringern. Das Damoklesschwert Kohle schwebt über der Region, was für die Wertschöpfung eine immense Bedeutung hat. Und jetzt Siemens! Meine Damen und Herren, ich kann den Frust der Menschen in der Region verstehen. ({8}) Was den Standort Görlitz angeht, plant Siemens ja keinen sofortigen Ausstieg. Angesichts der langen Perspektive frage ich mich: Warum kann ein so großer Konzern, einer von Deutschlands führenden Technologiekonzernen, es sich nicht leisten, neue Produkte zu entwickeln und über Alternativen nachzudenken? Wenn man die Produktion schon konzentriert und über die Aufgabe von Standorten nachdenkt, dann kann man vielleicht auch darüber nachdenken, neue Produkte in Görlitz und anderswo herstellen zu lassen, meine Damen und Herren. ({9}) Ich kann nur hoffen – das sage ich im Namen der Menschen in der Lausitz –, dass das Siemens-Management noch einmal über seine Entscheidung nachdenkt und den Standorten eine Perspektive gibt. ({10}) Wie gesagt, das ist ein Appell der Politik. Im Gegensatz zu Ihnen gaukle ich den Menschen nicht vor, dass wir hier im Bundestag über die Arbeitsplätze entscheiden. ({11}) Aber ich setze darauf, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und die Standorte eine Perspektive bekommen. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat Klaus Ernst das Wort. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr ­Chrupalla, ich habe gelernt: Es gibt kein Klimaproblem. Sie hätten nur noch dazu sagen können – wo ist er denn? ich sehe ihn jetzt gar nicht –: Die Erde ist eine Scheibe. Dann hätte alles gepasst. Ich glaube, mehr muss man dazu nicht sagen. ({0}) Meine Damen und Herren, das Thema ist eigentlich sehr ernst. Siemens machte im letzten Geschäftsjahr 6,2 Milliarden Euro Gewinn, 11 Prozent mehr als im Vorjahr. Trotzdem ist der Arbeitsplatzabbau von über 6 000 Leuten – die Hälfte davon in Deutschland – geplant; Martin Schulz hat es gesagt. Geschlossen werden sollen die Turbinenwerke in Görlitz und Leipzig, und auch in Berlin sollen offensichtlich 870 Stellen gestrichen werden. Ich sage: Ein Konzern wie Siemens, der so etwas macht – übrigens: gerade in der Region Sachsen und anderswo –, wird seiner Verantwortung nicht gerecht; denn ein Konzern hat nicht nur Verantwortung dafür, Gewinne zu machen, sondern auch eine regionale Verantwortung für die Menschen, die er beschäftigt. Dieser wird der Konzern mit dem, was er gegenwärtig macht, nicht gerecht. Das ist das Problem. ({1}) Meine Damen und Herren, für uns stellt sich hier gemeinsam die Frage: Wollen wir dem einfach zusehen? Wollen wir zuschauen, wie die Aktionäre auf der einen Seite jubeln, während die Beschäftigten auf der anderen Seite trotz hervorragender Lage ihre Jobs verlieren? Natürlich muss ein Unternehmer, wenn es schlecht geht, überlegen, wie er seinen Laden wieder auf Kurs bekommt. Aber er ist ja auf Kurs; denn sonst hätte er nicht einen Gewinn von über 6 Milliarden Euro gemacht. Dies ist der Zusammenhang, der nicht mehr passt. Ich möchte hier einfach noch einmal das Grundgesetz zitieren – das ist vielleicht gar nicht unangebracht –: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. ({2}) Entlassungen bei über 6 Milliarden Euro Gewinn dienen nicht dem Gemeinwohl. Darüber sollten wir uns doch wohl einig sein. Oder will irgendeiner sagen, es diene dem Gemeinwohl, dass Siemens die Leute rauswirft? Weil ich ja Bayer aus Leidenschaft bin: ({3}) Wir haben so eine schöne bayerische Verfassung. Aus ihr möchte ich insbesondere meinen Freunden der CSU mal wieder vortragen. Darin heißt es: Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls. Wir sollten die Forderungen stellen und sagen, dass das, was der Siemens-Konzern gerade treibt, unsittlich ist. Das sollten wir mit aller Deutlichkeit sagen. ({4}) Siemens hat ja schon öfter Probleme mit dem Gesetz gehabt. Ich erinnere an den Schmiergeldskandal, von Pierer musste zurücktreten, Klaus Kleinfeld musste zurücktreten, eine eigene Arbeiterorganisation wurde illegal gegründet, gegen den Finanzchef wurde ermittelt, 2,5 Milliarden Euro wurden in den Sand gesetzt. Siemens hat offensichtlich ein bisschen Probleme, sich legal zu verhalten. ({5}) Vielleicht helfen wir dem Konzern dabei. Wenn wir das tun, dann können sie vielleicht wieder ein wenig ruhiger schlafen. ({6}) Was erwarten die Bürger von uns? Ich glaube, sie erwarten, dass wir hier eingreifen. Natürlich wollen wir nicht die Geschäfte von Siemens machen, aber wir können die Rahmenbedingungen ändern. Wir können zum Beispiel rechtlich die Möglichkeit einschränken – Martin Schulz, wir müssen uns dann im Detail darüber unterhalten, wie wir das machen –, dass trotz Gewinnen Massenentlassungen und Werkschließungen durchgeführt werden. Ich habe den Eindruck, dass die Politikverdrossenheit zunehmen wird, wenn wir das nicht tun. Wir haben die Panama Papers, wir haben die Par­adise Papers, und jetzt soll es trotz Gewinnen Entlassungen geben. Hier erwarten die Leute, dass wir etwas tun und nicht nur zugucken. ({7}) Wir können die Rahmenbedingungen verändern, indem wir zum Beispiel darüber nachdenken und regeln, dass es im Kündigungsschutz als rechtsmissbräuchlich gewertet wird, wenn jemand bei so hohen Gewinnen Entlassungen oder Werkschließungen durchführt. Das ist eine legale Möglichkeit, Rahmenbedingungen zu setzen. Wir könnten das Betriebsverfassungsgesetz ändern und zum Beispiel regeln, dass der Betriebsrat auch bei einem Interessenausgleich – also nicht nur beim Sozialplan – ein volles Mitbestimmungsrecht hat. Ich weiß nicht, ob jedem der Unterschied klar ist. Deshalb will ich Ihnen das kurz sagen: Beim Sozialplan hat der Betriebsrat ein echtes Mitbestimmungsrecht. Dieses kann er über die Einigungsstelle durchsetzen. Beim Interessenausgleich, also bei der Frage, ob diese Entlassungen und Werkschließungen überhaupt stattfinden, hat der Betriebsrat diese Möglichkeit gegenwärtig nicht. Wir könnten das Betriebsverfassungsgesetz also so ändern, dass es auch bei einem Interessenausgleich eine volle Mitbestimmung des Betriebsrates gibt. Wenn der Betriebsrat Nein sagt, wird die Einigungsstelle angerufen und das Unternehmen kann nicht einfach die Leute rauswerfen. Das alles könnten wir als Gesetzgeber tun, meine Damen und Herren. ({8}) Ich komme sofort zum Ende. – Im Übrigen könnten wir auch das Aktiengesetz ändern, damit die Arbeitnehmerseite Nein sagen kann, wenn unter solchen Bedingungen Werke geschlossen werden oder Leute rausfliegen sollen. Auch dort könnte eine Einigungsstelle installiert werden. Meine Damen und Herren, wir haben viele Möglichkeiten. Werner von Siemens hat einmal gesagt: „Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.“ Ich glaube, wir müssen dem Siemens-Konzern ein bisschen helfen, sich wieder an seinen Gründer zu erinnern. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Stephan Kühn das Wort.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tage ist viel von Verantwortung die Rede, ({0}) so auch in dieser Debatte. Dass Siemens im Windschatten der Regierungsbildung und parallel zur Verkündung von Rekordgewinnen einen Jobkahlschlag in Ostdeutschland plant, ist schlicht verantwortungslos. ({1}) Mit fast 1 000 Beschäftigten und Auszubildenden ist das Görlitzer Siemens-Werk einer der letzten verbliebenen Leuchttürme in der ansonsten industriell strukturschwachen Oberlausitz. Eine Schließung des Turbinenwerks würde die gesamte Region hart treffen. Gerade musste die östlichste Stadt Deutschlands, Görlitz, den Abbau von Arbeitsplätzen bei Bombardier in ähnlicher Größenordnung verdauen. Ich zitiere: Es muss die Aufgabe von uns allen sein, Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, einzubinden und ihnen Perspektiven zu geben. Dieser Satz von Joe Kaeser zum Ausgang der Bundestagswahl muss für die Siemens-Beschäftigten wie Hohn klingen, und zwar nicht nur in Görlitz, sondern auch in Berlin, Leipzig, Erfurt und anderswo. ({2}) Seit Jahren ist bekannt, dass die Nachfrage nach Kraftwerksturbinen sinkt und weiter sinken wird. Die Belegschaft muss nun ausbaden, dass die Konzernzentrale viel zu lange an der alten Energiewelt festgehalten hat. ({3}) Die Begründung für den Arbeitsplatzabbau in der Sparte Power and Gas, die immerhin noch 8 Prozent Umsatzrendite erwirtschaftet, lautet: fehlende wettbewerbliche Produkte und Überkapazitäten. Das trifft aber auf Görlitz überhaupt nicht zu. Davon zeugen nicht nur die vollen Auftragsbücher, sondern auch die Tatsache, dass in Görlitz Industriedampfturbinen und keine großen Gasturbinen gefertigt werden. Diese kommen zum Beispiel in Biomasseanlagen und Solarthermiekraftwerken zum Einsatz. Die Technologie der Industriedampfmaschine, meine Damen und Herren, spielt nicht nur heute, sondern auch in Zukunft eine wichtige Rolle, da sie eben nicht von fossilen Energieträgern abhängig ist. Ich habe kein Verständnis dafür, dass diese Fakten in der Konzernzentrale von Siemens überhaupt keine Rolle spielen. ({4}) Im September konnte ich mir bei einem Besuch des Betriebsrates im Görlitzer Siemens-Werk ein Bild davon machen, auf welch hohem Niveau hier ausgebildet und produziert wird und wie stark das Werk in der Region vor allem mit der Hochschule Zittau/Görlitz in Innovations- und Entwicklungsfragen vernetzt ist. Der Standort ist ein vorbildlicher Partner für Schulen, Hochschulen und Betriebe in der Ausbildung von Fachkräften. Die Schließungspläne blenden dieses Potenzial des Standorts vollkommen aus. Die Pläne von Siemens zeigen aber einmal mehr: Die Abhängigkeit von fernen Konzernzentralen einerseits und die Kleinteiligkeit der Wirtschaftsstruktur andererseits sind immer noch die Achillesferse der ostdeutschen Wirtschaft. So haben 90 Prozent der Unternehmen in der Oberlausitz weniger als zehn Beschäftigte. Auch aus diesem Grund brauchen wir ein neues Fördersystem für strukturschwache Regionen, mit dem insbesondere Innovationen in jeder Hinsicht unterstützt werden, damit diese Unternehmen wachsen und die Region stärken können. ({5}) Mit zu Ende geführten Sondierungsgesprächen hätten wir mit der steuerlichen Forschungsförderung ein wichtiges Instrument vereinbaren können, um kleine Unternehmen in ihrer Innovationskraft zu stärken. ({6}) Die amtierende Bundesregierung muss jetzt erst recht zu ihrer Zusage stehen, eine Kohleregion wie die Lausitz beim Strukturwandel zu unterstützen. Wir brauchen einen Strukturwandelfonds, um die Oberlausitz voranzubringen. ({7}) Mich hat die große Demonstration der Siemens-Beschäftigten in Görlitz am 9. November sehr beeindruckt. Die ganze Stadt war dabei: Beschäftigte von Bombardier und anderen Betrieben, Schülerinnen und Schüler, Vertreter aus allen Parteien – bis auf die FDP – und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus ebenfalls betroffenen Siemens-Standorten. Gemeinsam und solidarisch! Von dieser Aktuellen Stunde, meine Damen und Herren, geht das Signal an die betroffenen Siemens-Beschäftigten: Wir stehen an eurer Seite, und wir werden mit euch für den Erhalt eurer Arbeitsplätze kämpfen! ({8}) Werner von Siemens schrieb einst: „Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.“ Da kann ich nur sagen: Joe Kaeser, übernehmen Sie Verantwortung für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Beschäftigen und der Politik nach Lösungen suchen, um eine Schließung der Standorte und den Abbau von Arbeitsplätzen zu verhindern. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzte Umfrage der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in Deutschland Anfang dieses Jahres ({0}) hat es an den Tag gebracht: Das Vertrauen der Menschen in die soziale Marktwirtschaft hat in Deutschland einen Tiefstand erreicht. Das muss uns allen schon zu denken geben. Meine Damen und Herren, die Aktion, die Siemens jetzt in Gang gesetzt hat, wird noch ein paar Menschen mehr dazu bringen, an der sozialen Marktwirtschaft, die die Grundlage für das Wirtschaftsmodell Deutschland und den Erfolg Deutschlands darstellt, zu zweifeln. Meine Damen und Herren, wir in der Politik können natürlich keine Arbeitsplätze schaffen; da stimme ich meinen Vorrednern zu. Wir können auch keine herbeizaubern. Aber wir können die Konzerne an ihre Verantwortung erinnern. ({1}) Herr Kaeser ist einer, der ständig über die Verantwortlichkeit von Unternehmern philosophiert. Er meint auch: Das Wahlergebnis ist das Versagen der Eliten in Deutschland. – Ob er sich dazurechnet oder nicht, kann ich natürlich nicht sagen. Was wir aber an dem Vorgehen von Siemens kritisieren, meine Damen und Herren, ist die Art und Weise, wie der Konzern diese Nachricht verkündet hat. Sie erinnern sich: Vor einigen Jahren hat sich die Siemens AG deutschlandweit dafür feiern lassen, dass sie einen Beschäftigungspakt, das sogenannte Radolfzell-II-Abkommen, beschlossen hat. Das heißt, Werkschließungen und Entlassungen können überhaupt nur nach vorheriger Absprache mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft verkündet werden. Meine Damen und Herren, was hat Siemens hier gemacht? Siemens hat die Beschäftigten mit einer Pressekonferenz überrascht. Ich habe mit allen Betriebsräten gesprochen: Keiner der Betriebsräte, keiner der Werksleiter wusste von diesem geplanten Kahlschlag. Genau das ist der Kritikpunkt, den wir haben: So kann man nicht mit den Leuten umgehen. So kann man nicht mit den Beschäftigten eines Unternehmens umgehen. ({2}) Blicken wir doch einmal auf die beiden Werke, die in Sachsen geschlossen werden sollen. In Görlitz – Herr Kühn hat es kurz angesprochen – werden keine Gasturbinen, sondern Dampfturbinen für einen universellen Einsatz hergestellt. Schon vor drei Jahren hat in Görlitz eine Umstrukturierung stattgefunden, die über 100 Arbeitsplätze gekostet hat, meine Damen und Herren. Es ist nicht so, dass das Werk geschlossen werden soll, und damit ist die Produktion weg. Nein, das Problem ist – jetzt kommt der zweite Punkt –: Es geht hier um eine Umlagerung der Produktion von Görlitz nach Mülheim. Das heißt also, Know-how aus der Region wird in die alten Bundesländer verlagert, die Arbeitsplätze verschwinden und damit die Berufsausbildung und auch die Weiterbildung. Ein Riesennetzwerk wird also aus Görlitz verschwinden. Meine Damen und Herren, die Beschäftigten in Görlitz – das muss man sich immer wieder auf der Zunge zergehen lassen – sind Mitglied im Siemens-Konzern. Sie verdienen nach wie vor ungefähr 13 Prozent weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen in den alten Bundesländern. ({3}) Wie es effizienter sein soll, die Produktion nach Mülheim zu verlagern, muss mir Herr Kaeser einmal vorrechnen. ({4}) Genau derselbe Blick nach Leipzig: In Leipzig werden keine Gasturbinen hergestellt. In Leipzig werden Kompressoren hergestellt. Von 170 industriellen Vorhaben, die in Leipzig realisiert worden sind, sind 5 Kompressorenanlagen für Kraftwerke. 165 Anlagen wurden in die Gasindustrie, in die Ölindustrie, in die Petrochemie und in die chemische Industrie geliefert. Also besteht auch dort im Prinzip kein direkter Zusammenhang zum geplanten Stellenabbau. Nun kommt der Gipfel: Das Werk in Leipzig ist nicht einmal im Tarifverbund Ost. 27 Jahre nach der deutschen Einheit betreibt Siemens Werke, die nicht einmal zum Tarifgebiet Ost gehören. Erst jetzt hat sich Siemens bereit erklärt, im Rahmen eines fünfjährigen Stufenplans das Werk in Leipzig in den Tarif Ost zu heben. Für einen Konzern, der weltweit aufgestellt ist, ist das ziemlich skandalös. ({5}) Es geht mir nicht darum, in unternehmerische Entscheidungen einzugreifen; das geht auch gar nicht. Siemens muss selbst wissen, wie es seine Zukunftsfähigkeit herstellt. Ein Mittelständler würde zuerst immer darüber nachdenken, was er machen kann, um auch morgen die Fähigkeiten seiner gut ausgebildeten Beschäftigten zu nutzen und den Standort zu erhalten bzw. auszubauen. Genau das verlangen wir auch von Siemens. Wir stehen an der Seite der Beschäftigten und werden mit ihnen gemeinsam kämpfen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Eva Högl hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, damit wir hier vom Deutschen Bundestag aus ein ganz deutliches Signal für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Siemens senden. ({0}) Die SPD steht geschlossen und ganz fest an der Seite der Beschäftigten, des Betriebsrats und der IG Metall beim Einsatz für diese wichtigen Arbeitsplätze und beim Erhalt der Standorte in Berlin, Offenbach und Ostdeutschland. ({1}) Ich freue mich sehr – ich blicke nach oben auf die Tribüne –, dass heute Beschäftigte der beiden Werke in Berlin, des Gasturbinenwerks in Moabit in meinem Wahlkreis in Berlin-Mitte und des Dynamowerks in Spandau, unserer Einladung gefolgt sind und diese Debatte verfolgen. ({2}) Viele andere Beschäftigte werden sicherlich entweder vor dem Computer oder vor dem Fernseher die Debatte verfolgen. Herzlich willkommen heute im Deutschen Bundestag! ({3}) Es wurde schon viel gesagt. Trotzdem betone ich für die SPD noch einmal ganz deutlich: Der Stellenabbau, den Siemens plant, ist sowohl unverständlich als auch unverantwortlich und damit ein Skandal. ({4}) Wir erwarten, dass diese Pläne von Siemens zurückgenommen werden. Bei einem Gewinn von mehr als 6 Milliarden Euro ist es absolut unverständlich und indiskutabel, dass ein Stellenabbau die Antwort ist. Es sind die Beschäftigten – das wissen alle –, die die Gewinne erwirtschaften und dafür sorgen, dass ein Unternehmen gut dasteht, und Siemens steht gut da auf dem Weltmarkt. Das sind die Leistung und der Erfolg der Beschäftigten. Wenn für diese Arbeit ein Stellenabbau die Belohnung sein soll, dann läuft doch etwas ganz gewaltig schief. ({5}) Wir wissen ganz genau, dass der Grund nur die Steigerung der kurzfristigen Rendite ist. Hier wird viel über Strukturpolitik gesprochen. Es wird sogar vorgetragen, die Energiewende und unser gemeinsames Bemühen um den Klimaschutz seien die Gründe dafür, dass Siemens nun einen Strukturwandel vornehmen müsse und dass entsprechend viele Stellen abgebaut werden müssten. Das ist absolut falsch; denn gerade Gasturbinen sorgen dafür, dass die Energiewende positiv gestaltet werden kann. Sie leisten einen Beitrag zur Energiewende. Das Argument, Klimaschutz und Energiewende seien schuld, ist absolut vorgeschoben. ({6}) Wenn Klimaschutz und Energiewende tatsächlich Gründe wären, dann wäre es doch die Aufgabe des Siemens-Managements, den Strukturwandel und die Energiewende zusammen mit den Beschäftigten aktiv zu gestalten und mit einer guten Strukturpolitik zu unterfüttern. Ich will deutlich machen, wie wichtig Industriearbeitsplätze in Deutschland sind. Industriearbeitsplätze einschließlich guter Löhne, Tarifverträge, Mitbestimmung und starker Gewerkschaften sind zukunftsfest. Diese dürfen nicht abgebaut, sondern müssen ausgebaut werden. ({7}) Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Innovation. Diese Technologie ist absolut nicht veraltet; sie ist vorn in Sachen Innovation. Wir brauchen die Produktion, um Innovation zu entwickeln. Innovation geht nicht ohne Produktion, und deswegen müssen wir auf der Basis von Produktion zukunftsfähige Arbeitsplätze entwickeln und die entsprechende Produktion weiterentwickeln. Das geht nur mit den Beschäftigten, und das geht nur mit Produktionsstandorten. Meine letzte Minute Redezeit widme ich der sozialen Marktwirtschaft. Ich sagte es eben schon: Es geht hier um kurzfristige Rendite und nicht um eine verantwortungsvolle Standortpolitik. Soziale Marktwirtschaft heißt aber, dass alle, die Verantwortung tragen – das sind die Unternehmen, das Management, die Beschäftigten, die Gewerkschaften und auch wir, die politisch Verantwortlichen –, gemeinsam die Verantwortung wahrnehmen für hochwertige Arbeitsplätze und für die Sicherung von Standorten. Deswegen können diese Standortschließungen und dieser Arbeitsplatzabbau überhaupt keine Antwort in einer sozialen Marktwirtschaft sein. ({8}) Vielmehr wissen wir, dass die Beschäftigten ihre Verantwortung wahrgenommen haben. Sie haben den Strukturwandel möglich gemacht. Die Gewerkschaften haben ihre Verantwortung wahrgenommen. Herr Pfeiffer, es ist kein Siemens-Bashing, wenn ich ganz deutlich sage: Jetzt ist Siemens in der Verantwortung, gemeinsam mit anderen Akteuren Alternativen zum Stellenabbau zu suchen, ({9}) Perspektiven für die Standorte zu entwickeln und das Innovationspotenzial auszubauen. Auch die Abgeordneten hier im Deutschen Bundestag und die geschäftsführende Bundesregierung, auch wir werden unsere Verantwortung wahrnehmen mit der Schaffung von besten Rahmenbedingungen für Unternehmen. Es gibt dafür gute Beispiele, etwa der Auftrag aus Ägypten, der dem Gasturbinenwerk in Berlin-­Moabit geholfen hat. Er ist auch durch politische Mitwirkung des damaligen Wirtschaftsministers Gabriel zustande gekommen. Die Ministerpräsidenten haben sich zu Wort gemeldet. Ich sage ganz klar: Auch die Bundeskanzlerin ist jetzt in der Pflicht, ihre Aufgabe wahrzunehmen, alle Akteure an einen Tisch zu bringen und gemeinsam Verantwortung für den Erhalt der Arbeitsplätze zu übernehmen. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam: Auch die Ankündigung des baldigen Endes einer Rede ersetzt nicht das Ende der Rede. Ich bitte also, auf die Zeitangabe zu achten. Das Wort zu seiner ersten Rede hat Dr. Heiko ­Heßenkemper für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heiko Heßenkemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004751, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der von der SPD beantragten Aktuellen Stunde stehen die angekündigten Werkschließungen von Siemens auf der Agenda, die mit Auswirkungen auch auf die Zulieferindustrie gerade für Ostdeutschland einen wirtschaftlichen Kahlschlag bedeuten. Bei diesen Problemen sollten Strukturen analysiert werden, und es wird ein bestimmtes Muster erkennbar. Ideologiegetragene gesellschaftlich-politische Entwicklungen mit daraus folgenden dirigistischen Eingriffen in die Wirtschaft haben von der Politik nicht berücksichtigte Auswirkungen, die zu solchen Problemen führen, wie sie nun bei Siemens erkennbar sind. An den Gräbern deutscher Arbeitsplätze werden dann Krokodilstränen vergossen, und in populistischer Manier erheben sich Pseudoforderungen als Augenwischerei für die betroffenen Arbeitnehmer mit dem bekannten Ruf „Haltet den Dieb!“; Industrieschelte wird vollzogen, um von der eigenen Mitschuld abzulenken. ({0}) Wir werden dieses Muster noch bei dem Antrag der SPD zur Thyssenkrupp-Tata-Steel-Fusion erkennen. Ebendiesem Muster sind schon die deutsche Kernenergieindustrie und wichtige Bereiche der Biotechnologie zum Opfer gefallen. Welche Industrien sollen noch aus Deutschland vertrieben werden? Ich kann für unser Land nur hoffen, dass wir in wenigen Jahren mit der Automobilindustrie nicht das erleben müssen, was sich im Augenblick abzeichnet, und dass mit der AfD noch gegengesteuert werden kann. ({1}) Zurück zu Siemens. Hier ist jetzt die Kraftwerkssparte betroffen. Aber wer ist denn verantwortlich für die unstrukturierte Energiewende bei uns in Deutschland? Und global? Die von der politisch-medialen Klasse so gefeierten Klimaschutzziele und -abkommen gehen natürlich zulasten der Kraftwerksbauer. Hier wäre mehr Aufrichtigkeit gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern zu wünschen. Schließlich das Russland-Embargo – auch eine politische Aktion, die weniger von den USA, dafür umso mehr von Deutschland umgesetzt wurde. Die Modernisierung des russischen Kraftwerksbestands durch deutsche Firmen mit erheblichen positiven Umwelteinflüssen findet nicht statt. Man muss den Eindruck gewinnen, dass die vernetzten Auswirkungen politischer Entscheidungen nicht allen Akteuren bewusst sind. Lassen Sie mich zu einem Ausblick kommen. Dieses Kind, das aktuelle Siemens-Problem, ist in den Brunnen geworfen worden. Was können wir zukünftig zur Stärkung unseres Wirtschaftsstandortes tun? Drei erste Punkte wären zu nennen: Erstens. Hören Sie endlich auf mit der ideologiegetriebenen Wirtschaftspolitik! ({2}) Kommen Sie zurück auf den Boden der sozialen Marktwirtschaft! ({3}) Zweitens. Stoppen Sie den Verfall unseres Bildungssystems mit den katastrophalen Experimenten gerade in den rot-grün dominierten Bundesländern! ({4}) Gut ausgebildete Menschen sind die Basis jeden wirtschaftlichen Erfolgs. ({5}) Drittens. Optimieren Sie mit uns die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung! Nur Innovationen sind der Grund für nachhaltigen Profit – ja: Profit – und damit nämlich für Prosperität der gesamten Gesellschaft. ({6}) Dies sind die Maßnahmen, die dauerhaft Arbeitsplätze erhalten und schaffen, und nicht populistische Aktionen. ({7}) Werden Sie sich als Volksvertreter Ihrer Verantwortung für unser Land und unsere Bürger endlich bewusst! Sie sind dem Volk und nicht ihren Ideologen verpflichtet. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Andreas Lenz für die CDU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, für die CDU/CSU-Fraktion natürlich, auch wenn ich Sie ungern korrigiere. – Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche Arbeitsmarkt steht so gut da wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. ({0}) So erreichte die Zahl der Erwerbstätigen im September dieses Jahres mit 44,5 Millionen Menschen in Beschäftigung einen erneuten Höchststand. ({1}) Das sind 600 000 Menschen mehr als zu diesem Zeitpunkt im letzten Jahr. Dieser wirtschaftliche Erfolg hat auch einen Namen: Das ist die unionsgeführte Bundesregierung. ({2}) – In Bayern läuft es natürlich noch besser, Kollege Ernst. – Aber gleichzeitig merkt man bei einem geplanten Stellenabbau wie jetzt bei Siemens einmal mehr, dass die gute wirtschaftliche Situation nicht gottgegeben ist. Wir stehen als Wirtschaftsstandort im internationalen Wettbewerb und sind durch unsere Exportorientierung auf die Weltmärkte angewiesen wie kaum ein anderes Land. Das gilt natürlich insbesondere für ein multinationales Unternehmen wie Siemens. So ist die globale Nachfrage nach großen Gasturbinen drastisch gesunken. Auf etwa 110 Turbinen pro Jahr wird sich die globale Nachfrage zukünftig belaufen. Wir haben aber Fertigungskapazitäten für circa 400 Turbinen im Jahr. Es ist hier so, dass es sich um globale Trends handelt, wie es sich auch bei der Entwicklung der erneuerbaren Energien um globale Trends handelt. Darauf muss Siemens natürlich reagieren. Täte Siemens das nicht, wäre das ebenso verantwortungslos. Allerdings gilt es auch, zu betonen, dass gerade Siemens an anderer Stelle vom Umbau der Energieversorgung massiv profitiert, beispielsweise beim Ausbau der Offshorekapazitäten. Das zeigt sich in der Gesamtprofitabilität des Unternehmens. Jetzt muss ich schon auch sagen, dass ich mir die Kommunikation von Siemens hier sicherlich anders gewünscht hätte. Es geht nicht, dass die Arbeitnehmervertretungen vom geplanten Stellenabbau aus den Medien erfahren – einen solchen Stil mag man vielleicht im Umgang von Parteien intern manchmal gewohnt sein, aber das ist kein Umgang auf Augenhöhe. Und das müssen wir als Politik natürlich klar sagen; das müssen wir klar anmahnen. Gerade Siemens als globales Vorzeigeunternehmen hat natürlich auch eine Verpflichtung, seiner sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Wertschöpfung durch Wertschätzung – das geht nur miteinander. Verantwortlichkeit sieht an dieser Stelle natürlich anders aus, aber mit Verantwortungslosigkeit kennen Sie sich von der SPD ja sehr gut aus. ({3}) Deswegen haben Sie ja auch diese Aktuelle Stunde beantragt. Insgesamt ist ein Abbau von 6 900 Stellen geplant, davon die Hälfte in Deutschland im Bereich Power. ({4}) – An anderer Stelle hat das ja auch die jüngste Vergangenheit gezeigt. ({5}) Im Bereich Power und Gas geht es konkret um 2 600 Stellen in Deutschland. Dabei sollen die Werke in Görlitz und Leipzig geschlossen werden, ({6}) aber auch Erfurt, Mülheim, Offenbach, Erlangen und Berlin sind betroffen. Gestern haben hier in Berlin Hunderte Mitarbeiter um das Berliner Gasturbinenwerk in Moabit gegen den Stellenabbau protestiert. Das Motto „Wir umarmen unser Werk“ zeigt die Verbundenheit der Menschen zum Unternehmen. Diese Verbundenheit ist für Siemens eigentlich ein Wert an sich. Es geht um Schicksale, es geht um Existenzen, es geht um Menschen, und das häufig noch dazu in strukturschwachen Gebieten; das haben wir ja gerade schon gehört. Das kann niemanden kaltlassen. Deshalb gilt es, auszuloten, kreativ zu sein, wie man da, wo Aufgaben wegfallen, Ersatz finden kann. Auch die Kanzlerin hat sich eingeschaltet. Auch wenn die Politik letztlich unternehmerische Entscheidungen nicht übernehmen kann und auch nicht soll, geht es darum, an die Verantwortung der Akteure zu erinnern. Das Unternehmen sagt, dass die Maßnahmen sorgfältig, umsichtig und langfristig angelegt sind. Daran werden wir die Unternehmensleitung messen. Die Wirtschaft ist letztlich immer für den Menschen da und nicht anders herum. Der Unternehmensgründer Werner von Siemens meinte: Mit tätigem Eingreifen in die gefürchteten Räder des Schicksals kann man manches Unheil abwenden. – Diesen Geist wünsche ich auch dem aktuellen Unternehmen. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Thomas Jurk für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Jurk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich hervorragende Zahlen, die da Siemens auf der Pressekonferenz am 9. November präsentiert hat: Rekordumsätze, Rekordgewinne – und dann der Schicksalsschlag für ganze Standorte in Deutschland bis hin zur Schließung. 6 900 Beschäftigte werden weltweit abgebaut, ungefähr 3 000 in Deutschland. Das ist eben nicht soziale Marktwirtschaft, wie wir sie uns vorstellen. Ich bin sehr dankbar, dass es differenzierte Wortmeldungen auch aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion dazu gegeben hat. ({0}) Der Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Joe ­Kaeser, wird sehr häufig zu Vorträgen eingeladen. Er ist ein gefragter Gesprächspartner. Viele Zitate werden ihm zugeschrieben. Übrigens sagte er bei seinem Amtsantritt als Siemens-Chef im Jahr 2013 wörtlich: Es ist keine unternehmerische Leistung, möglichst viele Arbeitsplätze zu vernichten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, Sonntagsreden sollten auch in der Arbeitswoche Bestand haben. ({1}) Was sage ich jetzt den Beschäftigten, die vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht sind, die eigentlich mit ihrer tagtäglichen fleißigen, innovativen Arbeit zu dem Rekordergebnis beigetragen haben? Die müssen sich doch völlig verhöhnt vorkommen. Deshalb sage ich ganz klar: Unsere Solidarität gilt allen Beschäftigten deutschlandweit, die von diesen Sparmaßnahmen betroffen sind. ({2}) Ich blicke auf mein Heimatbundesland Sachsen: In Leipzig sind durch Schließung des Kompressorenwerks 270 Beschäftigte, in Görlitz an der Neiße 960 Beschäftigte von der Schließung betroffen. Das stellt eine beschäftigungspolitische Katastrophe für Ostdeutschland dar. Dabei rede ich jetzt noch nicht einmal über Erfurt oder Berlin oder von Standorten wie Mülheim oder Erlangen oder Offenbach in Westdeutschland. Generell ist es so – das muss zur Kenntnis genommen werden –, dass das für uns alle angesichts der guten Ergebnisse nicht akzeptabel ist. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gilt nun wirklich, einmal den Praxischeck zu machen. Ich sage es mal so: Sicherlich ist die weltweite Lage auf dem Markt für fossile Stromerzeugung schwierig und angespannt – keine Frage. Da gibt es auch ein von der Politik gewolltes Umdenken. Aber am Standort Görlitz werden viele Produkte hergestellt, die davon gar nicht betroffen sind. Auch das gehört zur Wahrheit. Görlitz ist Weltspitze in der Ausrüstung von dezentralen Biomassekraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung oder von solarthermischen Kraftwerken und hat übrigens auch volle Auftragsbücher. In Leipzig werden Turbokompressoren für die Prozessindustrie hergestellt, die nicht nur im energetischen Bereich, sondern auch in der chemischen Industrie und bei der Stahlproduktion zum Einsatz kommen. Joe Kaeser sagt ja gerne, dass beides wichtig ist: Mensch und Marge. Aber offensichtlich ist bei dieser Entscheidung von Siemens darüber nicht ernsthaft nachgedacht worden. Wer sich die aktuelle Geschäftsentwicklung anschaut, der wird feststellen, dass bei der Division „Power and Gas“ statt 11,4 Prozent wie im letzten Jahr nur noch 10,3 Prozent Gewinn erreicht wurden. Jetzt frage ich Sie aber: Ist es nicht unglaublich, dass man trotz eines zweistelligen Gewinns Arbeitsplätze abbaut? Es ist doch angesichts dieser Ergebnisse verlogen, zu sagen, die Arbeitnehmer hätten schlecht gearbeitet. Über die strukturellen Folgen in meiner Region will ich gar nicht weiter reden. Sie sind verheerend. Wir haben in Görlitz nun einmal ein Geflecht aus Zulieferunternehmen und eine enge Kooperation mit Schulen und Hochschulen. Das alles wird kaputtgemacht und aufs Spiel gesetzt. Das ist ungerechtfertigt und unverantwortlich. Leuchttürme im Osten sind gefragt. Wir müssen neue aufbauen und dürfen die bestehenden nicht abbauen. ({4}) Was die Perspektiven betrifft, will ich darauf hinweisen, dass vor kurzem 52 Unternehmensverbände in Deutschland ein Bekenntnis zur Klimapolitik veröffentlicht haben. Siemens hat diese Erklärung mitgetragen. Darin heißt es übrigens, dass das Pariser Klimaabkommen die unternehmerische Planungssicherheit erhöht und zusätzliche Investitionen ermöglicht. Nehmen wir also Siemens beim Wort. Investieren Sie von Siemens in Görlitz, Berlin, Offenbach, Erlangen, Mülheim, Leipzig und Erfurt! Tun Sie etwas für die Zukunft gerade auch in Ostdeutschland! Herr Kaeser, Sie sind herzlich eingeladen, dort mitzutun. Kommen Sie nach Görlitz, schauen Sie sich das Werk an, und helfen Sie mit, dass das Unternehmen auch in Ostdeutschland eine Zukunft hat! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein paar einordnende Worte zum Abschluss der Debatte. Ich finde es immer wieder anmaßend, wie in der Politik, auch im Deutschen Bundestag, über die Ursachen unternehmens­interner Entscheidungen geurteilt wird. ({0}) Da heißt es dann: Die machen Gewinne, und deswegen sind sie nicht berechtigt, Stellen abzubauen oder den Betrieb umzustrukturieren. – Reicht denn eine einfache Kennzahl aus, Herr Schulz, um so ein Urteil über einen Weltkonzern zu treffen? ({1}) An die Adresse der AfD, die sagt, die Energiewende sei schuld und alles sei ganz furchtbar: Ja, was denn? Wollen wir den technologischen Fortschritt abschaffen? Wollen wir auf der Stelle stehen bleiben? ({2}) Es geht doch nicht um ein Ja oder um ein Nein. Es geht um die Frage, wie wir eine kluge Politik betreiben, wie wir unser Land fit für die Zukunft machen und wie wir die Maßnahmen, die manchmal Einschränkungen für die Unternehmen und die Beschäftigten mit sich bringen, maßvoll umsetzen. Wenn Sie wollten oder könnten, würden Sie alle Arbeitsplätze per Gesetz schaffen. Aber das können wir nicht. Das Schlimme ist, dass Sie das den Menschen immer erzählen und ihnen glaubhaft machen wollen, dass das in unserer Macht liegt. ({3}) Das tut es aber nicht, Herr Ernst. ({4}) Meine Damen und Herren, ich stehe heute hier auch als Vertreterin für die neuen Bundesländer. In meiner Heimatregion liegt die Lausitz. Auch wir sind natürlich vom Braunkohleausstieg betroffen. Ich weiß, dass der Stellenabbau von Siemens für Ostdeutschland natürlich bitter ist. Er ist bitter für die Beschäftigten, die in diesem Industriezweig arbeiten. Die Menschen arbeiten gerne für ein Unternehmen wie Siemens. Das kann ich gut nachvollziehen. Dort herrschen gute Arbeitsbedingungen. ({5}) Dort gibt es eine Tarifpartnerschaft. Es gibt einen Betriebsrat, der sich für die Arbeitnehmerrechte starkmacht. Das haben wir in Ostdeutschland nicht so oft. Natürlich ist auch ein Industriekonzern wie Siemens in der Nachwendezeit ein politischer Erfolg für die ostdeutschen Bundesländer gewesen. ({6}) Wir haben bis heute relativ wenige Industriearbeitsplätze im Osten. Wir haben – das müssen wir uns leider jährlich im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vortragen lassen – weniger Wertschöpfung in den neuen Bundesländern. Wir haben eine niedrige Lohnstruktur und, und, und. Das haben wir alles nicht – richtig. Deshalb ist es wichtig, eine Politik zu machen, die darauf abzielt, Arbeitsplätze zu erhalten, und zwar, indem wir politische Maßnahmen maßvoll ausgestalten. Da geht es zum Beispiel um die Braunkohle in der Lausitz. Wir sollten nicht sagen: „Morgen ist Schluss, und das war es“, sondern sollten überlegen: Wie kriegen wir den Strukturwandel hin? Wie schaffen wir vor allen Dingen ein realistisches Zeitfenster? Das wäre auch im Sinne der neuen Bundesländer, der Betroffenen, der Zulieferindustrie und der Beschäftigten, die wohlgemerkt auch dort arbeiten; das sind Tausende von Menschen. Meine Damen und Herren, Wirtschaft folgt eben anderen Mechanismen als Politik. Ich habe den Eindruck, das haben Sie alle manchmal nicht so ganz verstanden. ({7}) Deshalb brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen im internationalen Wettbewerb. Auch das spielt eine Rolle bei diesen unternehmerischen Entscheidungen. ({8}) Wir brauchen die richtigen Rahmenbedingungen im energiepolitischen Bereich, in Strukturfragen, in Steuerfragen, aber natürlich auch in sozial- und arbeitsmarktpolitischen Fragen. Meine Damen und Herren, es gibt – das möchte ich auch an die Besucher auf den Tribünen richten – keinen endgültigen Schutz vor unternehmensinternen Entscheidungen. Ein Unternehmen ist keine Behörde, wo ich einen politischen Beschluss treffe und sage: Heute ziehst du hierhin, morgen ziehst du dorthin um. – Das dürfen, das können wir den Menschen so nicht sagen. ({9}) Ich möchte eines schon noch klarstellen und dabei in Richtung Siemens durchaus etwas Kritik laut werden lassen: Die Diskussion, die Außendarstellung des Konzerns ist so natürlich nicht ganz sauber und auch nicht ganz ehrlich. Der Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser hat kürzlich an alle politischen Parteien gerichtet gesagt – Zitat –: Es muss die Aufgabe von uns allen sein, Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen, … Perspektiven zu geben. Deswegen wäre mein Votum an die heutige Runde und mein Petitum, ihn und das Unternehmen, den Konzern daran zu messen. Diese Verantwortung haben die Unternehmen – eben nicht nur die mittelständischen und familiengeführten Betriebe, sondern auch große Konzerne wie Siemens. ({10}) Noch drei Worte zum Abschluss, da meine Zeit hier bereits abgelaufen ist. Siemens hat ganz klargemacht, dass sie ihre Mitarbeiter halten wollen. Deswegen kommt es jetzt auf die Vertragspartner an, ihre Verhandlungen klug auszugestalten und Beschäftigten eine berufliche Perspektive zu geben. Im Konzern Siemens gibt es 3 200 freie Stellen. In Deutschland betreibt das Unternehmen jährlich einen Stellenaufbau von 5 200 Stellen. Um noch einen letzten Gedanken zu nennen: Im MINT-Herbstbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln ist zu lesen, dass wir in Deutschland 469 300 unbesetzte Stellen im MINT-Bereich haben. Meine Damen und Herren, sagen Sie den Leuten nicht immer, dass Stellenabbau das Ende des Lebens bedeutet! Nein, es geht weiter. Wir haben Fachkräftemangel. Viele Betriebe suchen Mitarbeiter. Versuchen Sie, den Menschen Hoffnung zu machen, und erzählen Sie ihnen keine Märchen! ({11}) Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Not found (Minister:in)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit dem Antrag Irlands auf vorzeitige Rückzahlung von Krediten. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns damit beschäftigen. Wir haben im Jahre 2014 über einen ähnlichen Antrag beraten und ihm auch zugestimmt. Damals ging es darum, dass Irland zwischen 2014 und 2015 Schulden gegenüber dem IWF in Höhe von 18 Milliarden Euro vorzeitig zurückzahlen wollte. Heute geht es um die Rückzahlung des Restbetrages an den IWF in Höhe von 4,5 Milliarden Euro, der noch offen war, und um die vollständige Tilgung der Finanzhilfen, die Irland von Dänemark und Schweden bekommen hat. Damit wären für Irland anschließend nur noch die Schulden gegenüber dem Vereinigten Königreich in Höhe von 3,8 Milliarden Euro, der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität von 17,7 Milliarden Euro und dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus in Höhe von 22,5 Milliarden Euro offen. Dies ist Teil einer Erfolgsgeschichte. Es ist Teil einer Erfolgsgeschichte, an der auch Portugal, Spanien und Zypern teilhaben, weil es beweist und deutlich macht, dass die Arbeit der letzten Jahre zur Stabilisierung dieser Länder erfolgreich war und dass diese Erfolgsgeschichte auch in Zukunft weitergehen kann. Irland kann diese vorzeitige Rückzahlung nur vornehmen, wenn es dazu die Zustimmung seiner europäischen Partner hat. Die wird deshalb benötigt, weil die Vereinbarungen mit der EFSF und dem EFSM sowie dem Vereinigten Königreich für den Fall einer vorzeitigen Rückzahlung jeweils eine parallele und proportionale Rückzahlung auch an EFSF und EFSM vorsehen. Diese Klausel, die man Parallelitätsklausel nennt, ist im Grundsatz auch richtig. Trotzdem sind wir der Auffassung, dass dem Wunsch Irlands nachgekommen werden kann, zum jetzigen Zeitpunkt die Ablösung der Kredite mit dem IWF in den Vordergrund zu stellen, weil damit sowohl für Irland wie auch für seine Gläubigerstaaten eine wesentliche Verbesserung verbunden ist. Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es seinerzeit, im Jahre 2010, sehr heftige, teils kontroverse Debatten darüber gab, ob man Ländern wie Irland, Spanien oder Portugal überhaupt helfen soll oder ob man ihnen möglicherweise noch zu günstigeren Bedingungen hätte helfen müssen, als wir es damals getan haben. Diese Debatte brauchen wir im Grundsatz heute nicht zu führen. Denn fest steht, dass die Hilfen, die wir geleistet haben, dazu beigetragen haben, dass diese Länder sich aus ihren Problemen, aus ihren Krisen ­herausarbeiten konnten. Wir hatten einen Grundgedanken: Solidarität gegen Solidität. Wir haben Irland Kredite zu vorteilhaften Konditionen gewährt. Irland hat sich im Gegenzug verpflichtet, im Rahmen seines Anpassungsprogrammes schmerzhafte, aber notwendige Reformen durchzuführen. Das hat funktioniert. Das hat besser funktioniert, als viele damals geglaubt bzw. gehofft haben. Irland hat das Anpassungsprogramm bereits 2013 planmäßig beendet. Es hat alle Auflagen erfüllt. Auch das ist weit über Irland hinaus ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden und auf einen Wachstumspfad zurückzukehren. Wenn wir uns die irische Wirtschaft anschauen, dann stellen wir fest, dass die Arbeitslosigkeit mit allen sozialen Folgen von einem Höchststand von mehr als 15 Prozent im Jahre 2011 auf weniger als 8 Prozent Ende 2016 gesunken ist. Wir stellen fest, dass die irische Staatsverschuldung, die bei 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Ende 2013 lag, erheblich reduziert worden ist. Ich will mich nicht auf eine Zahl festlegen: Wenn man die multinationalen ausländischen Unternehmen herausrechnet, dann sind es nur noch 106 Prozent. Wenn man sie nicht herausrechnet, dann ist es noch etwas weniger. Tatsache ist jedenfalls, dass anders als in manchen anderen Ländern die Entwicklung in Irland kontinuierlich in die richtige Richtung geht und dass Irland die Chance haben wird, in den nächsten Jahren seine Verpflichtungen nach dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen. Der Bankensektor in Irland wurde erfolgreich restrukturiert. Irland hat das Vertrauen der internationalen Investoren zurückgewonnen, und Irland kann sich seit dem Abschluss des Programms auch wieder eigenständig am Kapitalmarkt finanzieren. Natürlich sind auch in Irland längst nicht alle Probleme gelöst. Ein Land, das durch eine derart schwere Krise gehen musste, wird noch auf lange Zeit dem Bankensektor besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Man wird darüber nachdenken und dafür arbeiten müssen, dass der nach wie vor hohe Anteil an notleidenden Krediten – das sind derzeit 14,2 Prozent der inländischen Kredite – reduziert wird. Außerdem ist der Vorgang des Brexit mit den damit verbundenen Unsicherheiten ein Umstand, mit dem sich die irische Politik zusätzlich auseinandersetzen muss. Die Europäische Kommission hat daher gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank und gemeinsam mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, Vorbedingungen gestellt als Voraussetzung einer Zustimmung zum Antrag von Irland. Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass Irland – ich habe mit dem irischen Finanzminister heute noch einmal gesprochen – bereits in seinem Antrag angekündigt hat, die künftige Zusammenarbeit mit dem IWF bis zum Ende der ursprünglich beabsichtigten Nachprogrammüberwachung auch durch technische Missionen der IWF-Experten fortzusetzen. Das ist auch im Interesse von Irland, weil es die Glaubwürdigkeit in die irische Politik und in den Erfolg der irischen Stabilisierung erhöht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir der vorzeitigen Rückzahlung der Schulden, um die es heute geht, zustimmen, zusammen mit der Nichtanwendung der Parallelitätsklausel, dann wird das dazu beitragen, das Vertrauen der Finanzmärkte in die wirtschaftliche und haushaltspolitische Stabilität Irlands weiter zu stärken. Das ist im Interesse dieses kleinen, aber für die Europäische Union so wichtigen Landes. Das ist im Interesse aller Steuerzahler in Europa. Das ist im europäischen Interesse, und das ist im ureigenen Interesse unseres eigenen Landes. Deshalb bitte ich Sie ganz herzlich um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Carsten Schneider hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Altmaier hat gerade die Argumente des Finanzministeriums für die Zustimmung des Bundestages zur vorzeitigen Rückzahlung von Darlehen, die Irland beim IWF und bei zwei weiteren Ländern aufgenommen hat, vorgetragen. Diese vorzeitige Rückzahlung stellt für uns hier im Bundestag und für die Vertreter der Bundesregierung, die wir auch Gläubiger Irlands sind, da wir in den Jahren 2010 bis 2013 über den EFSF ein Milliardendarlehen zur Verfügung gestellt haben, eine Verschlechterung unserer Position als Kreditgeber dar. Man muss sich sehr genau überlegen, ob der Bundestag dieser Verschlechterung zustimmt, angesichts der Situation, dass Irland in Kontinuität – es ist die dritte große Debatte, die wir zum Thema „Irland und Hilfspaket“ führen – in einem ungeheuren Ausmaß auf Steuereinnahmen von internationalen Großkonzernen verzichtet. Für die SPD-Fraktion ist überhaupt nicht nachvollziehbar und auch nicht akzeptabel, dass Irland von einem Großkonzern wie Apple – ein öffentlicher Fall – über 13 Milliarden Euro an Steuern nicht eingezogen hat und entsprechende Absprachen getroffen hat, sodass dieser Konzern quasi steuerfrei Gewinne machen konnte, was in Irland auch noch legal ist. Das ist für uns nicht akzeptabel. Deswegen werden wir diesem Antrag nicht zustimmen. ({0}) Bei anderen Ländern wie Portugal haben wir zugestimmt. Es ist aber immer eine individuelle Entscheidung, die wir hier treffen. Es ist kein Automatismus, dass der Bundestag zustimmt. Das hat auch etwas mit dem politischen Hintergrund zu tun. Ich habe 2010 in der Debatte zum ersten Antrag Irlands gesagt, dass neben den Sparmaßnahmen in Irland, die in extremem Maße umgesetzt wurden, auch die Steuereinnahmeseite zentral ist. Der Unternehmensteuersatz liegt in Irland bei 12,5 Prozent; in Deutschland liegt er bei 30 Prozent, je nachdem, wie hoch die Gewerbesteuer ist. Dieses Steuerdumping ist ein Problem für den Zusammenhalt der Europäischen Union, wenn wir mehr Integration wollen. Der nächste Bundestag muss auf die Vorschläge von Emmanuel Macron, die progressiv nach vorne gehen, um Europa zu stärken, eine Antwort geben. Diese stärkere finanzielle Zusammenarbeit beinhaltet neben Transfers vor allen Dingen eine faire Steuerpolitik. Deswegen ist für uns seit Beginn dieser Legislaturperiode eine faire Steuerpolitik aller Staaten zentral und Voraussetzung für eine progressive Europapolitik. ({1}) Es geht hier um Innenpolitik. Man muss sich mit anderen Ländern auch streiten können. Europapolitik ist jetzt zum Teil Innenpolitik. Es geht dort auch zwischen den Parteifarben hin und her. Wenn ein sehr liberal geprägtes Land wie Irland – die Liberalen regieren dort zum großen Teil – auf Steuereinnahmen verzichten will und im Rahmen des von der Europäischen Kommission eröffneten Beihilfeverfahrens dagegen klagt, diese 13 Milliarden Euro einzutreiben, ist für uns als Sozialdemokraten das Ende der Solidarität erreicht. Aus diesem Grund stimmen wir heute nicht zu. ({2}) Es ist auch niemandem zu erklären, dass nicht einmal der Körperschaftsteuersatz von 12,5 Prozent als Grundlage genommen wird. Nein, im Falle Apple gab es Absprachen, die dazu geführt haben, dass der Steuersatz quasi gegen null geht. Aufgrund dieser Politik des gegenseitigen Aussaugens von Nationalstaaten, die dazu führt, dass der Souverän, das Volk, nicht mehr über Steuerpolitik entscheiden kann, weil der Bundestag letztendlich nicht mehr in der Lage ist, autonom zu entscheiden, muss man die Steuerpolitik auf europäischer Ebene stärken. Wir wollen hier eine europäische und keine nationalistische Antwort geben. Das ist ein ganz zentraler Unterschied. ({3}) Das muss in einer solchen Debatte klar sein, als Grundlage für die Zukunft. Es gibt ja nicht nur den irischen Fall. Wir haben in den letzten zwei Wochen den Fall „Paradise Papers“ erlebt; davor gab es die Diskussion um die „Panama Papers“. Journalisten haben durch intensive Recherchearbeit aufgedeckt, wie Beraterkonzerne, Banken und Staaten gemeinsam es Superreichen und großen Konzernen ermöglichten, ihre Steuerlast auf null zu reduzieren. Das ist in einer Demokratie schädlich. Es ist Gift, weil es dazu führt, dass nur noch diejenigen Steuern zahlen, die nicht fliehen können und die sich keine superteuren Berater leisten können. Deswegen sind wir Sozialdemokraten so hinterher, dass Steuergerechtigkeit gilt und es in Europa Konsens wird, dass Steuerdumping kein Geschäftsprinzip einer sozialen, fortschrittlichen Europäischen Union ist. ({4}) Zu Irland kann man sagen – ich habe das schon 2010 hier in meiner Rede gesagt; mein Kollege Johannes Kahrs hat das 2014 gesagt –, dass wir die Steuersätze, die auf dem Papier stehen, auch in der Realität umgesetzt sehen wollen. Irland hat dieses Stoppschild zweimal überfahren. Dann kann man nicht erwarten, dass Sozialdemokraten bedingungslos weiter zustimmen. ({5}) Aus diesem Grund: ein klares Nein und ein Handlungsauftrag an den amtierenden Finanzminister. Wir haben einen Entschließungsantrag vorgelegt, der Folgendes vorsieht: Solange das Land Irland immer noch gegen den Bescheid der Kommission klagt, soll der Vertreter im EFSF – das ist das Gremium, das die Gelder ausgibt und die Interessen der Nationalstaaten, die Gelder bereitgestellt haben, vertritt – so lange Nein sagen, bis Irland von der Bremse geht und letztendlich dafür sorgt, dass die 13 Milliarden Euro an Steuereinnahmen von Apple tatsächlich erzielt werden. Ich halte das für zwingend notwendig. Es wäre niemandem innerhalb der Europäischen Union zu erklären, wenn wir das durchlaufen ließen. ({6}) Die Debatte zu den Steueroasen innerhalb der Europäischen Union – das ist nicht nur Irland, sondern das sind auch, wie man an den Veröffentlichungen sieht, die Niederlande, Malta und Luxemburg – ist für uns Auftrag, die OECD darin zu bestärken, an dieser Stelle intensiver und schneller vorzugehen. Wir haben als SPD-Fraktion hier vor einem Jahr 20 Punkte gegen Steuerhinterziehung und -betrug vorgelegt. Einige davon sind in den OECD-Maßnahmeplan aufgenommen worden. Wir hätten das gerne schon 2017 im Bundestag beschlossen; die Union war aber dagegen und hat es auf 2018 verschoben. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundeskanzlerin und Finanzminister Wolfgang Schäuble die G‑20-Präsidentschaft, die Deutschland innehatte, genutzt hätten, um dem Thema „Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Steuerunehrlichkeit“ absolute Priorität einzuräumen. Das war leider nicht der Fall. Von daher ist es Auftrag für uns Sozialdemokraten und für den nächsten Bundestag, hier klare Kante zu zeigen und Maßstäbe zu setzen. Aus diesem Grund ist das der erste Punkt, bei dem wir Nein sagen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die AfD-Fraktion hat nun Dr. Harald Weyel das Wort. Es ist seine erste Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordneten! Es ist schon rührend, hier zu sehen, wie in einem Last-minute-Antrag der SPD eine Position vertreten wird, für die auch die AfD steht, wobei wir jetzt eigentlich weniger streng sind. Der Rückzahlung stehen wir äußerst skeptisch und in der vorliegenden Form ablehnend gegenüber. Wir wissen aber, dass man sich in Europa in vielen Bereichen an eine 100-prozentige Rechtsfreiheit, an einen 100-prozentigen Rechtsbruch gewöhnt hat. Insofern hielten wir es schon für angebracht und pädagogisch wertvoll, wenn nur 50 Prozent eines Vertrages erfüllt würden. ({0}) Das wäre ein echter Fortschritt. Bei einem Ziel von 100 Prozent Rechts- und Vertragstreue wären die Erfolgsaussichten nach all den Erfahrungen, die man in Europa gemacht hat, gering. Das erscheint ein bisschen streng. Irland wird zwar wegen einiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Erfolge gelobt. Gleichzeitig sticht jedoch der unverändert hohe Schuldenstand ins Auge, selbst wenn man die Umsätze und Zahlen der Konzerne berücksichtigt. Gleichzeitig munkelt man auch von einem Nachlassen der Bemühungen. Zudem – das hat der Kollege von der SPD wunderbar vorgebracht – stehen 13 Milliarden Steuernachzahlung aus, und die Europäische Kommission verklagt Irland vor dem Europäischen Gerichtshof, um Irland zum Einziehen der Steuerschulden zu bewegen. ({1}) – Ja, immerhin. Das Land hat schon 2014/2015 vorzeitig 18 Milliarden Euro an den IWF zurückgezahlt. Das wurde hier offenbar durchgewunken. Wir waren damals nicht da, um das zu verhindern, und offenbar hat auch die SPD damals eine andere Position vertreten. ({2}) Jetzt sind wir sozusagen im letzten Abschnitt dieses Vorgangs: Das restliche Darlehen von 4,5 Milliarden Euro soll beim IWF abgelöst werden, und auch die beiden skandinavischen Länder sollen ihre 1 Milliarde Euro zurückerhalten. Zur Begründung heißt es, am Markt sei derzeit nur eine Rendite von 0,25 Prozent zu erzielen, weshalb die Umfinanzierung im Falle des Falles so viel günstiger sei. Dies wird als „günstige Marktbedingungen“ charakterisiert – ich glaube, man muss eher sagen: karikiert. Durch diesen Umstand, die günstigen Marktbedingungen, sollen Einsparungen in Höhe von etwa 150 Millionen Euro über vier Jahre hinweg erzielt werden, also mehr als 30 Millionen Euro per annum. Das ist, was man früher bei der Deutschen Bank als Peanuts bezeichnete. Im Vergleich zu den 3,3 Milliarden Euro, die Irland ohnehin zahlt, ist das eine Summe, die wirklich nicht ins Gewicht fällt und nicht substanziell ist. Gegenüber den europäischen Sonderfonds EFSM und EFSF stehen ja noch 40,2 Milliarden Euro aus, zum echten Freundschaftszins nahe null. Es ist klar, dass man da nicht runterkommen will. Das Geld anderer Leute, mit dem man beinahe gratis arbeiten kann, ist natürlich sehr attraktiv. Wir haben es also nicht mit einem Umfeld zu tun, bei dem wir von günstigen Marktbedingungen reden können, sondern wir haben es mit einer Geldschwemmenmarktwirtschaft zu tun, die maßgeblich mit der EZB-Politik zusammenhängt. ({3}) Dabei reden wir gar nicht von den Drohverlusten im TARGET2-System. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass sich ein harter Brexit, so er erfolgt, natürlich am negativsten auf die irische Wirtschaft auswirken würde. Jetzt, da das Geld da ist, sollte man doch die Schulden bei allen Gläubigern bedienen. Die Bundesregierung, Herr Altmaier, wäre sehr gut beraten, dafür zu sorgen, dass die vorgesehene Tilgungssumme von 5,5 Milliarden Euro entsprechend der vertraglich vereinbarten parallelen proportionalen Rückzahlungen an alle EU-Staaten, die Gläubiger sind, verteilt wird. ({4}) Damit ist dann auch das Geld deutscher Steuerzahler gerettet. Von den 23,4 Milliarden Euro, die Irland gegenwärtig in seiner Staatskasse hat, bleibt dann noch einiges übrig. Wir in unserer Konzilianz sagen ja: Fangen wir einfach einmal mit 50 Prozent Vertragstreue und 50 Prozent Rechtstaatlichkeit an, auch in diesem Bereich. Dann sind wir schon sehr viel weiter. Da ist sozusagen last-minute-­mäßig der Königsweg eine überfraktionelle Zustimmung zu einer vernünftigen Maßnahme, die in die richtige Richtung geht. Stimmen Sie im deutschen Interesse für den Antrag der AfD! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Herr Christian Dürr für die FDP-Fraktion. Es ist seine erste Rede im Hohen Hause. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Republik Irland bittet um Zustimmung, einen Teil ihrer internationalen Schulden, nämlich beim IWF sowie bei den Ländern Dänemark und Schweden, vorzeitig zurückzahlen zu dürfen. Irland kann sich – das ist vorhin vom Bundesminister gesagt worden – inzwischen wieder preisgünstiger an den Märkten refinanzieren, bei sechsjährigen Anleihen sogar zu einem negativen Zins. Eine Umschuldung ist geplant. Am Ende sollen für den irischen Haushalt Zinszahlungen gespart werden. Die vorzeitige Rückzahlung – das will ich noch einmal betonen – stärkt das Vertrauen der Märkte in Irland. Sie stärkt insbesondere die Kreditwürdigkeit des Landes. Irland – das kann man mit Fug und Recht behaupten – ist eines der Musterländer, wenn nicht das Musterland der Euro-Rettungspolitik. Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Das möchte ich zu Beginn meiner Rede betonen. ({0}) Es geht auf der einen Seite um die Kreditwürdigkeit Irlands. Auf der anderen Seite muss man sagen: Irland war in den letzten Jahren ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie man aus einem notleidenden Land wieder eine erfolgreiche Volkswirtschaft machen kann. In Irland ist die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert worden. Beispielsweise sind die Lohnstückkosten zurückgegangen. Das Wachstum lag im Jahr 2016 mit 5,2 Prozent deutlich über dem europäischen Durchschnitt, und die Arbeitslosigkeit lag deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Irland musste auf diesem Weg zeitweise auch – ich sage das in Richtung der Kollegen der SPD-Fraktion, weil Sie einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht haben – seine Sozialleistungen reduzieren. Das Renteneintrittsalter – Frau Nahles sitzt hier vorne – ist auf 68 Jahre erhöht worden, und der Arbeitsmarkt ist erheblich flexibilisiert worden. Gleichzeitig konnte das Land in Krankenhäuser, öffentlichen Verkehr und Schulen investieren. Um es zusammenzufassen: Irland hat exakt das Gegenteil dessen getan, wozu die SPD in ihren Wirtschaftskonzepten rät, und Irland war damit sehr erfolgreich. ({1}) Aber anstatt uns gemeinsam über die gute Entwicklung zu freuen, wird Wasser in den Wein geschüttet. Sie wissen, dass es sich meine Partei – das will ich in aller Klarheit sagen – in der Vergangenheit bei der Zustimmung zur Euro-Rettung alles andere als leicht gemacht hat. ({2}) Mit Irland haben wir aber einen Partner, der, anders als andere Länder, die auf den Rettungsschirm angewiesen waren, die gemachten Zusagen eingehalten hat. Sie haben es vorhin erwähnt, Herr Schneider: Es gab hier im Haus 2014 schon einmal eine solche Operation, sogar in größerem Volumen. Damals hat die SPD in der Großen Koalition der sogenannten asymmetrischen Tilgung – darum geht es jetzt – zugestimmt. Jetzt liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor, in dem gefordert wird, dass die Bundesregierung die Zustimmung zur frühzeitigen Rückzahlung der irischen Schulden verweigert. ({3}) Wir haben in den letzten Tagen politisch viel darüber diskutiert, wie handlungsfähig die Bundesrepublik Deutschland auch im europäischen Geschäft ist. Wir führen diese Diskussion insbesondere seit Sonntagabend. Jetzt fordert die SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, auf europäischer Ebene, entgegen allen anderen Gläubigern, eine Blockade zu errichten. Meine Damen und Herren, das ist das Gegenteil von staatspolitischer Verantwortung, um das in aller Klarheit zu sagen. ({4}) Herr Schneider, ich will noch einen Schritt weiter gehen. Wir haben derzeit eine geschäftsführende Bundesregierung unter Ihrer Beteiligung. Ich frage mich: Wie oft telefoniert die SPD-Bundestagsfraktion eigentlich mit ihren Mitgliedern der Bundesregierung? Der vorliegende Antrag des Bundesfinanzministeriums ist mit allen Ressorts abgestimmt. Die SPD hier weiß nicht, was die SPD auf Regierungsebene zugesagt hat. Um auch das in aller Klarheit zu sagen: Sie sind entweder nicht informiert, oder Sie sagen der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit, Herr Schneider. Das ist die Realität. ({5}) Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen, weil Sie, Herr Schneider, das Thema Steuervermeidung angesprochen haben: ({6}) Sie brauchen meiner Partei an dieser Stelle nichts vorzumachen; ({7}) denn in der Frage der Steuervermeidung für multinationale Konzerne hat unsere liberale Parteifreundin, die EU-Kommissarin Margrethe Vestager, ein Verfahren gegen Irland ins Leben gerufen. ({8}) – Das war unsere liberale Parteifreundin. ({9}) Und unser Kollege Michael Theurer, heute Bundestagsabgeordneter, ein ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, hat dazu beigetragen, dass das Thema ­LuxLeaks im Europäischen Parlament parlamentarisch aufgearbeitet wird. Wir kümmern uns um dieses Thema; aber wir wissen die Dinge auseinanderzuhalten. Die SPD-Fraktion ist dazu offensichtlich nicht in der Lage. Herr Schneider, Sie versuchen, für den kurzfristigen politischen Erfolg die Dinge zu vermischen. Ich halte das für einen Fehler. Meine Fraktion übernimmt an dieser Stelle die politische Verantwortung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Dürr, ich unterbreche Sie ungern.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Deswegen werden wir dem Antrag des Bundesfinanzministeriums zustimmen und Ihren Entschließungsantrag ablehnen, Herr Schneider. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich weiß, es ist eine besondere Situation, wenn man das erste Mal hier vorne steht; aber ich sage es noch einmal: Wir sind seitens des Präsidiums großzügig, gerade bei der ersten Rede. Aber wenn schon ein Minuszeichen vor der Redezeit steht, bitte ich, die Rede zu beenden. ({0}) Das sage ich nur für alle Nachfolgenden. Für diejenigen, die schon etwas länger dabei sind, gilt natürlich: Wir halten uns an die Verabredungen. Das Wort hat Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke, ebenfalls für die erste Rede im Hohen Hause. ({1})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der irische Autor James Joyce schrieb in „Ulysses“: Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich aufzuwachen versuche. Ich verstehe daher, dass Irland Kredite des Internationalen Währungsfonds vorzeitig ablösen will. Die Marktzinsen sind niedriger als die Zinsen des IWF; denn die EZB kauft Staatsanleihen und senkt die Zinsen. Irland muss die Gläubiger wegen der Parallelitätsklausel gleichbehandeln. Wenn der IWF 100 Prozent seiner Kredite zurückerhält, müsste Irland auch die anderen Gläubiger entsprechend bedienen. Der deutsche Finanzminister will darauf verzichten. Die Haftung der Steuerzahler in Deutschland nimmt zu, wenn der IWF vorrangig bedient wird. ({0}) Wenn die Zinsen niedrig bleiben, sinkt womöglich das Ausfallrisiko. Wir wissen es nicht. Der Brexit könnte Irland hart treffen. Ein Blick zurück: Irland stand 2010 vor dem Kollaps. Die Immobilienblase platzte, Banken wie die Anglo Irish Bank waren nur noch Zombies, lebende Tote. Die knapp 70 Milliarden Euro der Rettungsschirme, der europäischen und bilateralen Kredite sowie des IWF, retteten keine Krankenschwester, keinen Rentner. Sie retteten irische und auch deutsche Banken. ({1}) Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist der einzige Punkt, der mich an Ihrem Antrag stört. Sie sprechen von der großartigen Solidarität Deutschlands mit Irland. Sie sagen aber nicht: Solidarität mit wem? Ich sage es Ihnen: Bei deutschen Großbanken standen 138 Milliarden US-Dollar im Feuer. Das können Sie auch mit irischem Whiskey nicht bezahlen. ({2}) 2008 erläuterte der CEO der Anglo Irish Bank dem Chef der Finanzaufsicht, er bräuchte 7 Milliarden Euro. Warum 7? Ein Abteilungsleiter der Bank erklärte später in einem mitgeschnittenen Telefonat – ich zitiere wörtlich und bitte die Präsidentin um Verzeihung –, diese Summe habe er sich „aus dem Arsch gezogen“. Das Geld solle – ich zitiere erneut – „zur Überbrückung dienen, bis wir zurückzahlen, nämlich nie!“ Die Rettung der Anglo Irish Bank kostete 30 Milliarden Euro, fast die Hälfte der Rettungsgelder. Die irische Bevölkerung jedoch bezahlte einen hohen Preis: Zehntausende junge Iren verließen wie zur Zeit der Hungersnot das Land. Gehälter wurden gekürzt, Familien verloren ihre Häuser, der Mehrwertsteuersatz wurde erhöht, und alles wurde zu Ramschpreisen privatisiert, was nicht bei drei auf dem Baum war. Alle Fraktionen im Bundestag – außer der Linken – stimmten dem irischen Programm zu. Meine Fraktion verwies bereits damals auf die niedrige irische Körperschaftsteuer. Irland ermöglichte es Apple, im Jahr 2014 nur 0,005 Prozent Steuern auf seine Gewinne zu entrichten. ({3}) 50 Euro für jede Million Gewinn, davon träumen ein Handwerker oder selbst die FDP nicht mal nachts. ({4}) Den EU-Staaten entgehen jährlich Hunderte Milliarden Euro durch solche Steuertricks. Die EU-Kommission forderte Irland nun auf, 13 Milliarden Euro an unlauteren Steuervorteilen bei Apple einzutreiben. Die irische Regierung wollte das Geld aber nicht, weigerte sich und wurde daher von der EU-Kommission an den Europäischen Gerichtshof verwiesen. Klingt verrückt? Ist auch verrückt. Aber genauso verrückt wäre es, heute dem Wunsch des deutschen Finanzministers zu entsprechen. ({5}) Die Bundesregierung hat bei allen Rettungsprogrammen immer auf die Kürzung von Löhnen, Renten, öffentlichen Investitionen und Sozialstaat bestanden. Jedes Detail wurde geregelt, auch wenn dies die Krise vertiefte und den Schuldendienst sogar erschwerte. Aber dem irischen Finanzminister zu sagen, er solle sich sein Geld bei Apple holen, das bringen Sie nicht übers Herz – mir kommen die Tränen. Deswegen, Herr Altmaier, mein Ratschlag: Rufen Sie die Grünen an – die haben sich beim Thema Steuergerechtigkeit bei Jamaika ja als Bettvorleger geoutet – oder den Herrn Lindner; der will ja nur spielen. Aber wir, die Linke, lassen uns nicht veräppeln. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Sven-Christian Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Irland möchte vorzeitig und vollständig seine Schulden beim IWF und bei Dänemark und Schweden tilgen. Wir Grünen sagen klar: Wir unterstützen das. ({0}) Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens. Es hilft auch dem irischen Staat und der irischen Bevölkerung, liebe Linkspartei, wenn Irland 150 Millionen Euro mehr in der Kasse hat, weil Zinskosten gespart wurden. Das wird der Bevölkerung helfen; das unterstützen wir Grüne sehr. ({1}) Es verbessert auch die Schuldentragfähigkeit. Das ist auch im Interesse des deutschen Bundeshaushalts. Zweitens – ich finde, das sollte auch für die Linkspartei ein Argument sein – löst sich Irland damit von der finanziellen Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds. ({2}) Wir Grüne haben immer gesagt, dass Europa seine Probleme alleine lösen kann; dafür braucht man keine Troika und keinen IWF. Deswegen werden wir diesem Antrag heute zustimmen. ({3}) Ja, liebe SPD, es ist richtig: Irland ist ein Land, dessen Geschäftsmodell auch auf Steuerdumping beruht. ({4}) Wir haben die Europäische Kommission dabei unterstützt, dass sie gegen Apple so vorgegangen ist. Das war richtig von der Europäischen Kommission. ({5}) Aber, Kollege Schneider, man muss jetzt zwei Dinge bedenken: Erstens. Ist es wirklich realistisch, dass durch diesen Move im Deutschen Bundestag, den die SPD jetzt vorschlägt, Irland sein Geschäftsmodell aufgibt? Wegen 150 Millionen Euro? Sie wissen selber, dass das nicht realistisch ist. ({6}) – Sie sagen, einen Versuch sei es wert. Zugegeben, es ist kein schlagkräftiges Argument, etwas nur deshalb zu unterlassen, weil es völlig unrealistisch ist. Zweitens finde ich aber, die SPD sollte sich die Frage stellen: Ist das, was Sie machen, verantwortlich? Sie müssen sich einmal die Situation in Deutschland klarmachen: Gerade ist eine Regierungsbildung gescheitert. Ganz Europa blickt auf Deutschland. Kollege Dürr hat zu Recht schon darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung ressortabgestimmt, also mit den Stimmen der SPD, gesagt hat: Wir werden diesen Antrag in den Bundestag einbringen, und wir wollen dem nachher auch auf europäischer Ebene zustimmen. – Gleichzeitig will sich die SPD-Fraktion vom Acker machen und nicht zu ihrer europäischen Verantwortung stehen. Ich finde das nicht glaubwürdig, liebe SPD. ({7}) Die Zeit ist für billige Oppositionsspielchen einfach zu ernst. Die SPD muss sich schon entscheiden: Will sie Regierung sein, will sie Opposition sein oder irgendetwas dazwischen? Entscheidet euch bitte, was ihr machen wollt! ({8}) Liebe SPD und liebe CDU/CSU, Sie machen hier die große Geschichte des Steuerdumpings auf. Ich frage mich nur: Was hat diese Bundesregierung eigentlich in den letzten vier Jahren gegen Steuerdumping, gegen Steuerbetrug, gegen Steuerhinterziehung gemacht? Wo ist denn das Transparenzregister? Das ist nicht da. Wo ist denn das Country-by-Country Reporting? Das ist nicht da. Wo war die scharfe Antwort auf die LuxLeaks und auf die Panama Papers? Wir haben eine geschäftsführende Bundesregierung, die noch im Amt ist. Wo ist die scharfe Reaktion auf die Paradise Papers, der scharfe Aktionsplan? Ich sehe hier nichts von der SPD und von der CDU/CSU. ({9}) Ich finde das, was die SPD heute beantragt, ehrlich gesagt, ziemlich wohlfeil. Diese Untätigkeit der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in den letzten vier Jahren hat Europa viel Geld gekostet. Dieses Geld fehlt den europäischen Steuerzahlern, den europäischen Staaten und der Europäischen Union für gemeinsame Investitionen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für Klimaschutz, für Digitales und für Bildung. Wir Grüne haben immer sehr klar gesagt: Eine harte Sparpolitik wird Europa nicht aus der Krise führen. Wir brauchen jetzt mehr Geld für Europa für gemeinsame Investitionen. Deswegen braucht es einen europäischen Kurswechsel in der Finanzpolitik. ({10}) Deshalb haben wir in den Sondierungen auch sehr hart dafür gestritten, dass man Europa auch institutionell weiterentwickeln muss. Dabei sind wir an zentrale Blockaden bei der FDP, bei der CDU und bei der CSU gestoßen. Trotzdem finde ich, dass Europa jetzt eine Antwort von Deutschland verdient, – von dieser Bundesregierung, die geschäftsführend im Amt ist, und von diesem Bundestag. Wir müssen jetzt die Chance nutzen, die ausgestreckte Hand von Emmanuel Macron zu ergreifen, Ja zu einer Weiterentwicklung der Euro-Zone und einer Wirtschafts- und Währungsunion zu sagen und klarzumachen, dass Europa für die Zukunft gut aufgestellt werden muss. Das ist unsere Zukunft. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam aktiv werden. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2010 stand Irland auf der Schwelle zum Staatsbankrott. Die Euro-Partner – unter anderem wir – und der IWF haben das Land damals mit einem Rettungsprogramm vor dem Absturz bewahrt. Heute ist Irland ein Beispiel dafür, dass die Euro-Stabilisierungspolitik bei entsprechendem Willen der politisch Verantwortlichen im Programmland wirken kann und konkret gewirkt hat. Irland kann sich wieder gut an den Finanzmärkten refinanzieren. Das Land ist ökonomisch auf gutem Wege, und es gibt keinen Grund, am anhaltenden Konsolidierungswillen Irlands zu zweifeln. Durch die vorzeitige Rückzahlung verbessert Irland vielmehr seine Finanzlage; denn das Land zahlt heute verhältnismäßig hohe Zinsen an den IWF. Es kann sich heute am Kapitalmarkt natürlich günstiger refinanzieren, wodurch es 150 Millionen Euro spart. Niemand kann doch ernstlich gegen günstigere Refinanzierungskosten eines Euro-Landes sein. Niemand kann doch etwas gegen eine höhere Schuldentragfähigkeit eines Landes haben. Die Hilfsprogramme, die wir durchgeführt haben, waren die Grundlage für neue Stabilität in Europa. Das ist ein Erfolgsmodell für das Gemeinwohl auch in unserem Land. ({0}) Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist es mir sachlich völlig unerklärlich, dass einzelne Fraktionen das beantragte Verfahren ablehnen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die SPD-Fraktion verstehe ich in dieser Situation überhaupt nicht. ({1}) Wir beraten doch einen Antrag der Bundesregierung. Dem haben auch die SPD-Minister im Kabinett zugestimmt. Das ist die Wahrheit. Die SPD schlägt sich einfach in die Büsche und übernimmt eben keine Verantwortung. ({2}) Heute Morgen haben Sie hier erklärt, Sie ziehen Ihre SPD-Minister nicht zurück, weil Sie Verantwortung übernehmen. Ihre Verantwortung hat hier nicht einmal fünf Stunden überdauert. Das ist die Wahrheit. ({3}) Ihre Begründung ist fadenscheinig und nicht nachvollziehbar. Meine Damen und Herren, damit Sie mich nicht falsch verstehen: Irland ist eine Steueroase und Helfershelfer für Steuertricks von transnationalen Konzernen, und das ist nicht akzeptabel. Aber Sie wissen ganz genau, dass der ehemalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hier ganz deutlich mit BEPS und vielen Gesetzen, die Sie unterstützt haben und die wir gemeinsam in der Großen Koalition vorangebracht haben, reagiert hat. Diese Initiativen waren erfolgreich, und wir werden sie weiter voranbringen. Man muss über die Steuerpraktiken Irlands sprechen. Sie können nicht mit der Holzhammermethode gegen ein anderes europäisches Land vorgehen. Kreditrückzahlung kann man nicht mit europäischen Steuerfragen vermischen. Auf diesem Weg gegen Steuervermeidungsstrategien und gegen Steuerdumping müssen wir konsequent weiter voranschreiten. Das ist nicht akzeptabel. Aber wir haben mit der BEPS-Initiative gegen internationale Steuervermeidung und gegen Steuerverlagerung den Steueroasen den Kampf angesagt. ({4}) Deshalb stehen wir, die CDU/CSU-Fraktion, für europäische Solidarität, Stabilität und ökonomische Vernunft. Es geht um das Vertrauen auf den Finanzmärkten in der Zukunft und nicht um parteitaktische Spiele, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache 19/39 mit dem Titel „Irland: Vorzeitige Kreditrückzahlungen an IWF, Dänemark und Schweden; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes“. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der FDP, der CDU/CSU und der Grünen. Wer ist gegen diesen Antrag? – Linke und SPD und AfD. ({0}) Damit ist der Antrag angenommen. Deutliche Mehrheit. ({1}) Dann wiederholen wir die Abstimmung. Ich frage noch einmal: Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – FDP, CDU/CSU und Grüne. Wer ist dagegen? – Das ist eindeutig die Mehrheit, würde ich sagen, oder? ({2}) Wir sind uns im Präsidium nicht einig über die Mehrheit. ({3}) Wir kommen daher zur Abstimmung durch Zählung der Stimmen. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen. Ich bitte, die Türen zu schließen. – Sind die Türen zu? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Abstimmung und bitte Sie, durch die entsprechenden Türen in den Saal zu kommen. Ich schließe die Abstimmung. Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt: Mit Ja haben gestimmt 348 Abgeordnete, mit Nein 283. Damit ist der Antrag angenommen. ({4}) Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 19/84. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die SPD. – Wer stimmt dagegen? – Gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP. ({5}) Enthaltungen? – Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion der AfD. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/87. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist die Fraktion der AfD. Wer stimmt dagegen? – Dagegen stimmen alle anderen Fraktionen des Hauses. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 20. September 2017 haben thyssenkrupp und das indische Mischunternehmen Tata bekannt gegeben, dass sie ihre Stahlsparten fusionieren, 2 000 Arbeitsplätze auf beiden Seiten jeweils abbauen und den Firmensitz in die Niederlande verlegen wollen. Das ist eine Nachricht, die aus meiner Sicht eigentlich sofortiges Handeln der NRW-Landesregierung und der Bundesregierung erfordert hätte. ({0}) Aber leider war dies nicht der Fall. Stattdessen keinerlei Aktivitäten, kein Engagement, nichts vonseiten der Bundeskanzlerin, der Bundesregierung. ({1}) Und Armin Laschet hat direkt die Parole ausgegeben, er sei zwar für den Erhalt, er sei auch dagegen, dass es zu einer Verlagerung in die Niederlande kommt, aber, mit Verlaub, das sei eine Entscheidung des Unternehmens. ({2}) Zwei Monate später, genau heute – was für ein Zufall! ich sehe das schon als Erfolg unseres Antrages – ({3}) lädt Herr Pinkwart zum ersten Mal zu Gesprächen zu diesem Thema in Nordrhein-Westfalen ein. ({4}) Ich sage Ihnen: Das wird aber auch langsam Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({5}) Ich halte die Haltung, dies zu einer rein unternehmerischen Entscheidung zu erklären, für falsch, und ich halte sie für gefährlich. Ich will das auch begründen. Erstens. Die Stahlindustrie ist eine Schlüsselindustrie, und jeder Wirtschaftsraum muss dafür sorgen, dass es Zugang zu Stahl gibt. Es ist unklar, ob diese Fusion wirklich langfristig die Stahlproduktion in Deutschland und Europa sichert. Es drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass es hier um das Abstoßen eines zwar profitablen Teils, der aber für den Konzern insgesamt nicht mehr interessant ist, geht. Es ist vor allem äußerst bedenklich und absolut nicht in Ordnung, wenn 6,5 Milliarden Euro – ich betone – Schulden in dieses neue Stahlunternehmen hereingeschoben werden, aber gleichzeitig Gewinne abgeschöpft werden sollen. Dieser Weg gefährdet die Unternehmen, die fusioniert werden sollen, massiv. Er führt zur Umwandlung in eine Bad Bank des Konzerns. Das darf auf keinen Fall passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Ich frage mich im Übrigen auch, wie dieses Unternehmen Perspektiven entwickeln soll; denn es ist natürlich so, dass die beiden Unternehmen, die zusammenkommen, jederzeit ihre Beteiligung wieder verkaufen und sich zurückziehen können. Wer denkt, das sei vielleicht zu weit gegriffen, der schaue doch bitte auf Siemens – über Siemens haben wir heute schon diskutiert – und auf BenQ, wo genau diese Konstruktion am Ende zu diesem Ergebnis geführt hat. Deswegen stellen wir Ihnen hier als Oppositionspartei, die in der geschäftsführenden Regierung ist, entsprechende Fragen. ({7}) – Ja, Sie haben das hier eben angesprochen. Es ist eine Situation, die wir zwar nicht zu verantworten haben. Aber wir übernehmen Verantwortung für das Dilemma, das Sie hier angerichtet haben. ({8}) Das will ich sehr klar sagen. Ich sage Ihnen: Wir wollen, dass der Plan am Ende für Stahl und nicht gegen Stahl in Deutschland und Europa ausgeht. Darum streiten wir an dieser Stelle. ({9}) Zweitens. Es geht um Standorte und Arbeitsplätze. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Lachen Sie ruhig. Ich glaube, das kommt bei den Kolleginnen und Kollegen nicht gut an. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nämlich erwarten, dass sich die Volksvertreterinnen und Volksvertreter in diesem Parlament für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze einsetzen. ({10}) Es ist eben keine rein unternehmerische Entscheidung, wenn die Stahlproduktion sowohl in Deutschland als auch in Europa von Arbeitsplatzverlusten bedroht ist. Was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich umtreibt: Die Konstruktion des Verlagerns des Firmensitzes führt dazu, dass die Rechte nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz, mit dem wir seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sehr gut gefahren sind, gefährdet sind. Dabei ist dies ein Erfolgsmodell in Deutschland. Das wird hier infrage gestellt; denn es gibt keine rechtliche Absicherung der Montanmitbestimmung mehr in einem Konzern, dessen Firmensitz in die Niederlande verlagert wird. ({11}) Die Frage ist: Warum machen thyssenkrupp und Tata das? Der Grund ist ganz einfach: Sie müssen in den Niederlanden keine Quellensteuer abführen, was sie aber in Deutschland tun müssen. ({12}) Das ist eine klare Lücke. Wir müssen daher anstreben, dass es kein unterschiedliches Steuerrecht in Europa mehr gibt. Wir brauchen ein Verbot von solchen Ausnahmen, von denen die Niederlande hier Gebrauch macht. ({13}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Europäische Kommission hat Vorschläge hierzu entwickelt. Aber die europäischen Finanzminister haben seit Jahren an dieser Stelle nichts hinbekommen. Wer bezahlt bitte schön für das jahrelange Nichtstun? Tag für Tag bezahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland knallhart dafür, dass an dieser Stelle keine Fortschritte erreicht worden sind. Panama Papers und Paradise Papers – was muss eigentlich noch passieren? Wir merken, dass wir eine neue Koordinierung der Steuerpolitik in Europa brauchen. Auf dem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs vom Wochenende ging es um die soziale Dimension der Europäischen Union, wozu auch eine gerechte und koordinierte Steuerpolitik, das Vermeiden von Steuerdumping und das Schließen von Steuerschlupflöchern gehören. Wer hat dort mit Abwesenheit geglänzt? Deutschland. Auf ausdrücklichen Wunsch der Bundeskanzlerin waren wir dort nicht vertreten. So kann es nicht weitergehen. ({14}) Wir müssen uns deshalb dafür einsetzen, dass Stahlunternehmen in Deutschland bleiben, dass die Stahlproduktion in Deutschland und Europa nicht zum Spekulationsobjekt und die entsprechenden Unternehmensbereiche nicht nach dem Willen von einigen Unternehmensentscheidern zur Bad Bank werden, die in diesen Fragen vor allem auf Börsenkurse und Renditen schielen, aber keinen Wert auf eine nachhaltige Entwicklung legen. Wir brauchen außerdem einen aktiven Kampf gegen Steuerdumping. Deswegen ist es an dieser Stelle wichtig, dass der Deutsche Bundestag heute seine Stimme für den Stahlstandort Deutschland und für die Beschäftigten im Stahlbereich erhebt. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächster hat das Wort Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Frau Nahles, ich habe mit Interesse Ihre Rede gehört und Ihren Antrag gelesen. ({0}) – Nein, überhaupt nicht; ganz im Gegenteil. Wie Sie wissen, haben wir noch im letzten Jahr einen gemeinsamen Antrag in diesem Deutschen Bundestag gestellt, mit dem wir die Stahlindustrie in Deutschland und Europa stärken wollten. Dazu bekennen wir uns hoffentlich beide noch. Deshalb habe ich mit Interesse gelesen, wie Sie den Stahlstandort in Deutschland erhalten, Arbeitsplätze und Arbeitnehmerrechte sichern wollen. ({1}) Wir sind uns offensichtlich einig, dass die Stahlindustrie zentrale Bedeutung für den Wirtschaftsstandort hat: Grundstoffindustrie, Wertschöpfungsketten, die damit verbunden sind, 38 Milliarden Euro direkter Umsatz, 90 000 Beschäftigte. Für jeden Euro Wertschöpfung, der im Stahlbereich generiert wird, werden 2 Euro in vorgelagerten Bereichen generiert. Jeder Job in der Stahlindustrie zieht im Zulieferbereich fünf bis sechs weitere Beschäftigte nach sich. Ohne Stahl gäbe es keine Energiewende, keine Windräder, keinen ICE, und es gäbe auch keine Digitalisierung. Deshalb ist die Wertschöpfungskette von Stahl – insbesondere in den Grundstoffindustrien wie Chemie, Kupfer, Aluminium – von entscheidender Bedeutung für den Standort Deutschland. Darin sind wir uns einig, und das wollen wir alle gemeinsam stärken. ({2}) Jetzt haben Sie aber nur Teilbereiche herausgegriffen. Ich muss etwas ansprechen – ich komme mit der Aufgabenteilung, wie Sie hier sitzen und wie Sie dort auf der Regierungsbank sitzen, ein bisschen durcheinander –: ({3}) Wir haben in unserem Antrag im letzten Jahr in 16 Punkten gemeinsam festgehalten, wie wir den Standort stärken wollen. Leider finde ich von diesen 16 Punkten kaum einen bis gar keinen in Ihrem Antrag – weder zur effektiveren Außenhandelspolitik noch zum Eigenstrom, noch zum Emissionshandel, noch zu anderen Dingen. Das Einzige, was erwähnt wird, ist das Thema Carbon Leakage. Wir sind uns, glaube ich, einig, dass die Überkapazitäten das Hauptproblem im Stahlbereich sind. China allein hat so viele Überkapazitäten, wie wir in Europa, in der NAFTA und in der GUS zusammen verbrauchen. Deshalb war und ist es wichtig, diese Überkapazitäten zu reduzieren. China hat freiwillig zugesagt, sie zu reduzieren, ist dieser Verpflichtung aber noch nicht im notwendigen Umfang nachgekommen. Deshalb wurde von der Bundeskanzlerin im Rahmen des G‑20‑Prozesses erfolgreich versucht, ein Global Forum on Steel zu etablieren, in dem wir multilateral – zusammen mit den USA, China und Europa – versuchen, dieses Überkapazitätsthema zu adressieren. Der Ball liegt jetzt quasi auf dem Elfmeterpunkt, weil dieses Global Forum on Steel nächste Woche hier in Berlin unter Leitung der Bundeswirtschaftsministerin Zypries, die heute offensichtlich nicht hier sein kann, tagen wird. Dort besteht die Möglichkeit, dieses Thema so zu adressieren, dass marktverzerrende Subventionen, staatliche Unterstützungen und anderes eingedämmt werden. Ich habe gehofft, Sie sagen etwas dazu. Wir wünschen Frau Zypries, der SPD und uns allen viel Erfolg, dieses Thema entsprechend zu adressieren. Ich hoffe, dass auch Sie dies als den entscheidenden Punkt ansehen. Herrn Schulz zumindest liegt an der Angelegenheit. ({4}) Ein weiterer Punkt: Wir brauchen bezahlbare Energiepreise. In dem Antrag haben wir uns auch über zig Fragen zum Eigenstrom und Emissionshandel ausgesprochen. Jetzt haben wir Anfang November in Brüssel neue Richtlinien für den Emissionshandel ab 2021 bekommen. Dort geht es unter anderem darum, wofür Zertifikate zur Verfügung gestellt werden, nämlich zum Beispiel für Kuppelgase, die physikalisch im Stahlprozess mitproduziert werden. Frau Hendricks, die ebenfalls nicht hier ist, aber auch Verantwortung trägt und dies verhandelt hat, hat sich nicht dafür eingesetzt, die Kuppelgase im Emissionshandel entsprechend zu berücksichtigen, obwohl wir es in unserem Antrag stehen haben. Und da muss ich Ihnen schon sagen: Das passt irgendwie nicht so richtig zusammen. Weder bei den Überkapazitäten noch beim Emissionshandel, wo wir selber handeln können, sind Sie offensichtlich bereit, das hier so mitzutragen. Ich bedaure das. Nachdem es auf europäischer Ebene nicht gelungen ist, das zu berücksichtigen, müssen wir es national über eine Strompreisreduktion entsprechend anbringen. Da bin ich einmal auf die Debatten gespannt, die wir diesbezüglich führen. Es würde den Stahlarbeitern an den von Ihnen genannten Standorten und den entsprechenden Wertschöpfungsketten helfen, wenn wir hier weiterkommen können. Insofern, muss ich sagen, ist es eindeutig an Ihnen, hier den Ball zu spielen. Wo Sie hätten helfen können, haben Sie es nicht getan. ({5}) – Es ist doch so. ({6}) – Das ist offensichtlich und objektiv so. Sie sagen: Die geplante Fusion hier in Europa ist des Teufels. So habe ich Sie zumindest verstanden. Man muss aber sagen, dass wir auch in Europa Überkapazitäten haben. Es ist doch, glaube ich, in der Tat sinnvoller, eine europäische Lösung zu finden, die dieses mit Maß und Verstand adressiert, damit wir diese Wertschöpfungsketten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa halten können. Den steuerlichen Fragen, die Sie angesprochen haben, muss man sich in der Tat auch politisch widmen. Man kann aber Unternehmen nicht zum Vorwurf machen, dass sie die steuerlichen Möglichkeiten, die der Rechtsstaat ihnen in Deutschland und Europa bietet, auch entsprechend nutzen. ({7}) – Auch Sie wissen, glaube ich, genau: Es werden überhaupt keine Rechte reduziert. ({8}) – Das ist doch objektiv falsch. Das werden wir ja dann sehen. Die Mitbestimmung setzt am Standort an und nicht an der europäischen Rechtsform, Herr Schulz. Das wissen Sie, oder Sie sollten es zumindest wissen. Wir werden in den nächsten Wochen sehen, dass es genau so nicht kommen wird; das wissen Sie doch auch genau. ({9}) Und jetzt ist die Frage: Wie gehen wir mit dieser Fusion um? Diese Fusion ist sicher nicht unproblematisch, bietet aber, glaube ich, für den Standort Deutschland und Europa mehr Chancen als Risiken. ({10}) Wir brauchen eine europäische Lösung. Deshalb bin ich der Meinung, wir sollten diesen Prozess konstruktiv begleiten und hier nicht nur einen Teilbereich herausgreifen, der dem Gesamtproblem überhaupt nicht gerecht wird, nämlich den Stahlstandort Deutschland und Europa im Interesse der Wertschöpfungsketten zu sichern. Wir werden das in Zukunft genauso differenziert tun wie bisher. Ich kann nur auf eine übergroße Mehrheit in diesem Hause hoffen, die uns bei diesem Vorhaben in Zukunft unterstützt. Sie haben die Gelegenheit, dieses jetzt zu tun, und zwar nächste Woche beim Global Forum on Steel. Ich hoffe, dass die SPD Frau Zypries unterstützt. Nachdem die SPD uns beim Emissionshandel in Europa nicht unterstützt hat, hoffe ich, dass uns die SPD bei der Strompreisdiskussion, die wir hier im Deutschen Bundestag führen werden, so unterstützt, wie sie es in unserem gemeinsamen Antrag von 2016 zumindest noch getan hat. Da bin ich mal gespannt. Ich hoffe für die Stahlindustrie, dass sich alle auch in Zukunft an ihre Zusagen erinnern. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede erteile ich das Wort dem Kollegen Marc Bernhard von der AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute hat der Deutsche Bundestag mit seiner inhaltlichen Arbeit in der 19. Legislaturperiode begonnen. Heute beginnt damit auch eine Zeit, in der Debatten über alternativloses Abwirtschaften unseres Landes der Vergangenheit angehören. ({0}) Wir fordern hiermit die Bundesregierung auf, unverzüglich alternative ordnungs- und handelspolitische Rahmenbedingungen zu setzen, die in Zukunft internationale Fusionen zum Nachteil des Standortes Deutschland unterbinden. Es ist für die AfD-Fraktion ein unerträglicher Zustand, dass wir uns im Bundestag, gerade einmal zwei Wochen nach Bekanntwerden der Paradise Papers, nun mit einem industriellen Urgestein Deutschlands, der thyssenkrupp AG, beschäftigen müssen, das sich ebenfalls in die Steuervermeidungsoase Niederlande absetzen möchte. Und es ist geradezu ein Skandal, dass die mittlerweile größte Oppositionspartei, die SPD, im Zuge ihrer heute beantragten Maßnahmen – in ihrer Rede vielleicht schon, aber nicht bei ihren Maßnahmen – diese aktuelle Steuerflucht mit keinem Wort aufgreift. ({1}) Stattdessen kramen Sie lieber in der Mottenkiste des Montan-Mitbestimmungsgesetzes aus dem Jahre 1951 und verweisen auf einen fast zwei Jahre alten Antrag der GroKo zur angeblichen Stärkung der Stahlindustrie in Deutschland und Europa. Wohin uns dieser Antrag gebracht hat, sehen wir doch an der heutigen Debatte, meine sehr geehrten Damen und Herren. Welch eine politische Bankrotterklärung! ({2}) Nachdem die SPD in den letzten 19 Jahren 15 Jahre an der Regierung war, hat sie nicht nur die dringend notwendige Steuerharmonisierung in Europa verschlafen, sondern ihre Art der politischen Unterstützung hat ganz offenbar dazu geführt, dass ein ehemaliger Stahltitan wie thyssenkrupp nun auf internationale Hilfe durch eine Fusion angewiesen ist. Angesichts Ihrer verfehlten Standort- und Industrie­politik haben wir auch Verständnis für ein fusionierendes Unternehmen wie thyssenkrupp, das sich seit Jahren der unfairen und staatlich massiv subventionierten Konkurrenz aus China ausgesetzt sieht und sich mit anderen Wettbewerbern daher zusammenschließen muss. ({3}) Aber auch zum Fusionspartner Tata und zum ebenfalls indischen Stahlgiganten Mittal stellen wir der Bundesregierung die Fragen: Wie steht es eigentlich mit Subventionen und Protektionismus in Indien? Wird die deutsche Industrie auch gegen diese Konkurrenten wieder von der Bundesregierung im Stich gelassen? Ihr ganz offensichtlich erfolgloser Maßnahmenkatalog, den Sie jetzt nach zwei Jahren wieder aufwärmen wollen, würde genau dazu führen. ({4}) Um das zu verhindern, fordern wir das Schließen internationaler Steuerschlupflöcher, WTO-konforme Schutzinstrumente für einen fairen internationalen Handel, die internationale Angleichung von umweltrechtlichen Auflagen, eine vorausschauende und nachhaltige Standort- und Industriepolitik zur Vermeidung von Entlassungen, und vor allem muss der Know-how-Abfluss aus Deutschland endlich gestoppt werden. ({5}) Stattdessen führt jedoch eine von Ihnen grünäugig entworfene und von einem SPD-geführten Ministerium dilettantisch umgesetzte Energiewende dazu, dass ein weiterer Industriegigant – ich spreche hier von Siemens, darüber haben wir heute schon einmal gesprochen – vor einem massiven Stellenabbau steht. ({6}) Und auch hier haben Sie mit Ihrer heutigen Aktuellen Stunde medienwirksam so getan, als ob Sie den Arbeitnehmern beispringen wollten, gerade so, als wären Sie und Ihre Wirtschaftsminister in den letzten Jahren nicht für die Industrie- und Energiepolitik in diesem Land verantwortlich gewesen. ({7}) Wie auch schon beim Ausverkauf von Nokia, Mannesmann oder Höchst sehen wir bei der SPD wieder nur das Vergießen von Kroko-Tränen und die nachträglichen Versuche, an Symptomen herumzudoktern, anstatt eine vorausschauende Standort- und Industriepolitik zu betreiben. ({8}) Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen von der SPD, Sie haben sich gestern gegen eine erneute Große Koalition ausgesprochen. Richtig so! Bitte bleiben Sie angesichts Ihrer Regierungsbilanz in der Wirtschaftspolitik auch in Zukunft in der Opposition. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner, ebenfalls erste Rede: Kollege Bernd Reuther von der FDP-Fraktion. ({0})

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat ja schon Tradition: Sobald ein großes Industrieunternehmen in Schwierigkeiten gerät, übernommen werden soll oder wie jetzt eine Fusion ansteht, tritt die SPD auf den Plan und weiß, was zu tun ist und wie sich dieses Unternehmen jetzt zu verhalten hat. In der Vergangenheit ist immer ganz viel dabei herausgekommen, nämlich nichts – getreu dem Motto „Viel Lärm um nichts“, meine Damen und Herren. ({0}) Jetzt thyssenkrupp. Es wurde schon viel gesprochen über den Preisdruck aus China und den Billigstahl. Wenn ein deutsches Industrieunternehmen auf diesen schwierigen Wettbewerb am Weltmarkt reagiert, kommt die SPD daher und sagt diesem Unternehmen, was es zu tun und zu lassen hat. Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hat großes Verständnis – das sage ich hier in aller Deutlichkeit – für die Sorgen und Nöte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Standorten und dafür, dass sie vor den Werkstoren demonstrieren. Aber zur Wahrheit gehört auch – Kollegin Nahles, das wissen Sie genau –, dass die Konsolidierung bei thyssenkrupp auch ohne jegliche Fusion mindestens in diesem Maße stattgefunden hätte. Untauglich – das will ich an dieser Stelle auch sagen – war hier der Vorschlag der SPD in Nordrhein-Westfalen, eine Deutsche Stahl AG mit den Stahlunternehmen aus Niedersachsen zu bilden. Das hätte zu einem Abbau von noch viel mehr Arbeitsplätzen bei thyssenkrupp geführt. Zur Mitbestimmung. Mitbestimmung ist in der Tat ein hohes Gut. Aber es ist bekannt, dass sich beide Konzerne in ihrem Memorandum of Understanding klar zur Mitbestimmung an den deutschen Standorten bekannt haben. Aber wenn Unternehmen dies vereinbaren, weckt es bei Ihnen Misstrauen. Zum Unternehmenssitz, den Sie angesprochen haben. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn der Unternehmenssitz in Deutschland bliebe, aber das ist nun mal eine Entscheidung des Unternehmens. Sie haben es zu Recht angesprochen: Da muss man auf europäischer Ebene – Stichwort: „Steuerharmonisierung“ – tätig werden. Wir brauchen keine Vorschriften für das Unternehmen, wie sie die SPD hier vorschlägt, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen an den Standorten, speziell in Nordrhein-Westfalen, stimmen. ({1}) Dazu zählt die Infrastruktur, aber dazu zählen auch bezahlbare Energien und Energiesicherheit. ({2}) Ich bin sehr froh, dass die neue nordrhein-westfälische Landesregierung das Thema Standortpolitik ganz oben auf die Agenda gesetzt hat. Das wurde nämlich von der alten Landesregierung über Jahre sträflich vernachlässigt, meine Damen und Herren. ({3}) Die Landesregierung von NRW hat ein Entfesselungspaket auf den Weg gebracht, und der Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart hat bereits im September, also vor zwei Monaten, angekündigt, im Dezember einen Stahlgipfel durchzuführen. Meine Damen und Herren, das ist das, was wir brauchen. Wir brauchen eine Standortpolitik, die den Unternehmen hilft, im internationalen Wettbewerb zu bestehen, und keine Vorschriften für Unternehmen, wie sie der vorliegende Antrag der SPD vorsieht. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist Kollegin Jutta Krellmann. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diejenigen, die eigentlich hier stehen müssten, sind die Beschäftigten von Thyssen. Es geht um ihre Arbeitsplätze und um ihre Zukunft. Es ist richtig, wenn Metallerinnen und Metaller von Thyssen nicht wie die Kaninchen vor der Schlange stehen und abwarten, was denn da jetzt letztendlich passiert. Es ist auch richtig, dass sie sich mit allem, was sie haben, wehren und gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft kämpfen. Es waren organisierte Stahlarbeiter und Stahlarbeiterinnen, die die stärksten Mitbestimmungsrechte weltweit gegen alle Widerstände durchgesetzt und erstreikt haben. Montanmitbestimmung gehört nicht in die Mottenkiste. ({0}) Wenn aber das Kapital international agiert und keine Grenzen kennt, die Mitbestimmung aber schon, dann wird selbst die Montanmitbestimmung zum stumpfen Schwert. Die von Deutschland beeinflusste neoliberale Politik der EU hat die Arbeiter in allen Ländern in Konkurrenz zueinander gestellt. Hier brauchen wir internationale Solidarität statt Standortnationalismus. ({1}) Es gab genug Gelegenheiten, die rechtlichen Weichen zu stellen, damit Unternehmensfusionen nicht immer mit dem gleichen sozialen Kahlschlag einhergehen. Es wurde nichts unternommen, um Mitbestimmungsrechte auszubauen und zu erweitern. Gerade bei Übernahmen und Fusionen ist das aber notwendig. Wir müssen an dieser Stelle in eine neue Richtung denken. Gewerkschaften und Betriebsräte brauchen Mitbestimmungsrechte, um zum Beispiel Fusionstarifverträge abschließen zu können. ({2}) Hier könnten Fragen des Erhalts sozialer und tariflicher Standards geregelt werden. Die Beschäftigten müssten zustimmen und hätten damit ein Vetorecht bei Fusionen und Übernahmen. Das wäre eine echte Hilfe für die Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Nun allein die Schuldigen in China zu suchen und selbst den Umweltschutz zum Sündenbock zu machen, ist ein Zeichen von Hilflosigkeit. Nicht der chinesische Arbeiter ist für die Misere verantwortlich, sondern ein entfesselter Kapitalismus und Fehlentscheidungen des Managements bei Thyssen. ({4}) Deshalb müssen Mitbestimmungsrechte für Beschäftigte in der gesamten EU gestärkt werden. Wir brauchen zwingende Mitbestimmungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten und bei Investitionsentscheidungen. ({5}) Dann hätten es Manager auch nicht mehr so leicht, 12 Milliarden Euro in Brasilien zu versenken. ({6}) Und wenn der Antrag der SPD die Überkapazitäten in China angeprangert – ohne auch nur mit einem Wort das Problem der geringen Nachfrage in Deutschland zu benennen –, dann ist das ein Ablenkungsmanöver. Ihr, Genossinnen und Genossen von der SPD, habt zudem mit der CDU die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert und damit eine beschäftigungsorientierte Politik verhindert. Wenn Deutschland einen Investitionsstau von 100 Milliarden Euro jährlich vor sich herschiebt, dann ist dieser Stau eine Entscheidung gegen Beschäftigung insgesamt, und das nicht nur in der Stahlbranche. ({7}) Euer Antrag, liebe Genossinnen und Genossen, greift zu kurz. Dennoch ist es schön, dass die SPD das Problem endlich auf ihre Agenda setzt. Die Linke solidarisiert sich mit den Beschäftigten bei Thyssen und wird auch hier im Parlament weiterhin für eine Stärkung der Mitbestimmung streiten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Kollegin Kerstin Andreae.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stahlbranche ist für unser Land wie auch für Europa eine wichtige Säule der industriellen Produktion. Sie ist auch wichtig für den globalen Klimaschutz. ({0}) Sie ist eine der Branchen, in der durch moderne Werke gerade in Deutschland massiv CO 2 eingespart werden kann. ({1}) Stahl ist unverzichtbar für die ökologische Modernisierung der gesamten Industrie. Windkraftanlagen, Gebäudesanierung, nachhaltige Mobilität und Verkehrsinfrastruktur, all diese Bereiche brauchen Stahl. ({2}) Deswegen ist es wichtig, die Frage zu stellen: Wie sieht die Zukunft der Stahlbranche aus? Natürlich hat ein Unternehmen, das eine Fusion eingeht, eine große Verantwortung. Es hat eine Verantwortung für den Erfolg seines Stahlgeschäfts, aber es hat vor allem eine soziale Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deswegen ist die Forderung der Beschäftigten, Klarheit zu schaffen und weitgehend, wo möglich, für die Sicherung der Arbeitsplätze einzutreten, eine richtige Forderung, die wir unterstützen. ({3}) Als energieintensive Branche trägt die Stahlbranche zum Klimaschutz bei. Wenn ich aus der Branche höre, dass die Energiepreise ein Problem seien, dann muss ich eines deutlich sagen: Die Stahlindustrie hat kostenlos Emissionszertifikate im Wert von 5,3 Milliarden Euro und eine zweistellige Millionenhilfe in Form einer Strompreiskompensation erhalten. Ja, die Stahlbranche ist unter Druck – unter anderem wegen der Überkapazitäten; auf sie komme ich noch zu sprechen –, aber sie ist nicht unter Druck wegen der Energiepreise. Wir haben sowieso schon eine Schieflage, was die Höhe der Energiepreise für die Industrie auf der einen Seite und für den privaten Verbraucher und den Mittelstand auf der anderen Seite angeht. Deswegen lautet meine klare Ansage an die Stahlbranche: Kommt uns nicht damit, dass die Energiekosten zu hoch sind. Das ist nicht richtig. ({4}) Aber wir müssen die europäische Stahlbranche vor unfairem Wettbewerb schützen. Deswegen ist das, was der Kollege Pfeiffer gesagt hat, richtig: Das eigentliche Problem der Stahlbranche sind die Überkapazitäten, vor allem aus China. Deswegen ist es richtig, dass man auf europäischer Ebene dafür eintritt, dass Schutzzölle dann eingerichtet werden können, wenn Märkte geflutet werden durch eine Überproduktion, die auch noch staatlich induziert ist. Diese Diskussion ist auf europäischer Ebene gelaufen. Damals haben wir uns gewünscht, dass sich Wirtschaftsminister Gabriel deutlich stärker für eine Reform der handelspolitischen Schutzinstrumente einsetzt. Aber es hat an Mut gemangelt, dafür einzutreten. Es ist wichtig, dass wir uns hier für diese Handelsinstrumente einsetzen. ({5}) Natürlich müssen wir im Hinblick auf die Beschäftigten klare Ansagen machen. Was nicht geht, ist, über die Geschäftspolitik eines Unternehmens zu diskutieren. Richtig ist es aber, über die politische Verantwortung eines Unternehmens zu diskutieren. Natürlich sind Arbeitnehmerrechte elementar. Natürlich müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Mitbestimmung erhalten bleibt. Und natürlich darf es keine Grauzonen, keine Lücken und keinen Abbau von Mitbestimmung geben, auch nicht bei einer Fusion auf europäischer Ebene. ({6}) Aber wie schaffen wir es, auch in der Branche Stahl der ökologischen Herausforderung gerecht zu werden? Das ist eine energieintensive Branche. Wie fördern wir Innovationen in den Unternehmen? Wie kann Forschung und Entwicklung zur Ökologisierung der Wirtschaft beitragen? ({7}) Die Klimaziele haben nicht wir erfunden. Die Klimaziele einzuhalten, ist absolut notwendig, und auch die Stahlbranche muss ihren Beitrag dazu leisten. ({8}) Deswegen ist es gut, wenn erforscht wird, wie Hüttengase aus der Stahlproduktion direkt als Rohstoff für die chemische Produktion verwandt werden können. Es ist richtig, wenn Förderprogramme aufgelegt werden und diese ambitionierte Forschung unterstützt wird. Eine ökologische Industriepolitik heißt auch, die Stahlindustrie dabei zu unterstützen, Technologieführer hinsichtlich der Emissionsminderung, hinsichtlich der Energie- und Materialeinsparung und im Bereich der Kreislaufwirtschaft zu werden. Das ist Aufgabe einer vorausschauenden und zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik, im Übrigen auch einer kommissarischen Bundesregierung und eines SPD-geführten Wirtschaftsministeriums. Darum geht es bei der ökologischen Industriepolitik. Alle Branchen müssen ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Letzter Redner in der Debatte ist Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der große Erfolg der deutschen Wirtschaft und der große Erfolg auf dem Arbeitsmarkt hängen ganz wesentlich mit unserem starken produzierenden Gewerbe zusammen. Für die Wertschöpfungskette in unserem Land hat die Stahlbranche als Basisindustrie eine ganz besondere Bedeutung. Mit einer jährlichen Produktion von etwa 42 Millionen Tonnen Rohstahl ist Deutschland die Nummer eins in Europa und weltweit der siebtgrößte Stahlhersteller. Auch die Beschäftigtenzahlen spiegeln dies wider: Direkt in Deutschland sind etwa 85 000 Menschen in dieser Branche beschäftigt – diese Zahl war in den letzten zehn Jahren übrigens relativ stabil –, und in Europa sind fast 320 000 Menschen in der Stahlindustrie beschäftigt. Noch eindrucksvoller wird es, wenn man auf die engen Verflechtungen mit anderen Industriebranchen wie der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik, dem Baugewerbe sowie der Stahl- und Metallverarbeitung schaut: Mit rund 3,5 bis 4 Millionen Beschäftigten stehen die stahlintensiven Branchen für zwei von drei Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe. Man kann also sagen: Stahl ist das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft und – das ist schon angeklungen – ein absoluter Innovationsmotor. Aus genau diesem Grund und wegen des schwierigen Marktumfeldes haben wir in der vergangenen Legislaturperiode zusammen mit der SPD einen Antrag mit dem Titel „Stahlindustrie in Deutschland und Europa stärken“ eingebracht und beschlossen. Wir waren uns einig, dass wir diesen für die deutsche Volkswirtschaft so enorm wichtigen Industriezweig zwingend unterstützen müssen, auch zur Sicherung der Arbeitsplätze in Deutschland. Noch ein Blick auf den Weltmarkt. China produziert mit rund 800 Millionen Tonnen etwa 50 Prozent des gesamten Weltmarktes. Überkapazitäten führen zu einem Überangebot an Stahlprodukten und damit zu Dumpingpreisen, ganz abgesehen von dem damit verbundenen CO2-Ausstoß. Die Stahlnachfrage in der gesamten EU beläuft sich auf rund 152 Millionen Tonnen. China allein produziert aber in diesem Jahr Überkapazitäten von 330 Millionen Tonnen und überschwemmt den Markt mit Stahl, zumal dieser durch staatliche Maßnahmen verbilligt angeboten wird. Wir waren uns einig, dass die Stahlindustrie mit Problemen konfrontiert ist, denen wir politisch begegnen müssen. Ziel des Antrags aus dem Frühjahr 2016 war, die Stahlindustrie zu stärken. Drei wesentliche Punkte waren: erstens die EU mit Nachdruck aufzufordern, verstärkt gegen Dumping in China vorzugehen, zweitens bezahlbare Strompreise im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit und des Klimaschutzes zu gewährleisten und drittens Anpassungen bei den Regelungen zu den Emissionshandelszertifikaten und zum Benchmark vorzunehmen. In all diesen Punkten waren wir uns einig, und es hat sich auch einiges getan. Die Europäische Union hat wirksame Maßnahmen gegen unfaires Preisdumping aus China, aber auch aus Russland, Brasilien und anderen Ländern beschlossen. Die EU ermittelt in über 100 Fällen gegen China. 53 Produkte sind mittlerweile mit Strafzöllen belegt. Darüber hinaus hat sich die gemeinsame Verhandlungsgruppe aus Europäischem Rat, EU-Kommission und EU-Parlament auf eine Erhöhung der Zahl der Emissionszertifikate, die energieintensive Unternehmen kostenfrei erhalten, geeinigt. Auch das trägt zur Wettbewerbsfähigkeit bei. Allerdings wäre es auch hilfreich gewesen – Kollege Pfeiffer hat das schon angesprochen –, wenn Bundesumweltministerin Hendricks in den Trilogverhandlungen den Antrag des EU-Parlaments auf eine Befreiung der Kuppelgasverstromung von der EEG-Umlage unterstützt hätte; denn auch dies war eine Forderung unseres gemeinsamen Antrags. Der vorliegende Antrag der SPD ist in großen Teilen wortgleich zum Antrag aus der vergangenen Legislaturperiode. Er soll eine Weiterentwicklung darstellen, wobei er sich nicht nur um die Stahlindustrie insgesamt dreht, sondern sich vielmehr auf die konkreten Fusionspläne von thyssenkrupp und Tata Steel konzentriert. So nachvollziehbar manche Forderungen auch sind, wäre zunächst über den Sachstand und die Umsetzung unseres gemeinsamen Antrages aus dem Jahr 2016 zu diskutieren. Der vorliegende Antrag stellt zwar einerseits vernünftige Forderungen auf, fordert aber auch Maßnahmen, die nicht in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers gehören. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, für die richtigen wettbewerblichen Rahmenbedingungen zu sorgen, für thyssenkrupp in NRW, aber auch für alle anderen Stahlstandorte in Deutschland. Dabei können und dürfen wir aber nicht in strategische Entscheidungen des Unternehmens eingreifen; der Unternehmenssitz ist so ein Thema gewesen, das schon angesprochen wurde. Wir dürfen auch nicht in die Aufgaben der Tarifpartner, der Gewerkschaften, eingreifen. Im konkreten Fall hat thyssenkrupp übrigens bereits zugesagt – auch das ist eine Forderung aus dem Antrag –, dass die Arbeitnehmer die Montanmitbestimmungsrechte behalten, so wie sie heute sind. Im zuständigen Ausschuss sollten wir deshalb nochmals über den Antrag diskutieren, aber mit dem Fokus darauf: Wofür ist Politik zuständig, wofür sind die Tarifpartner, die Gewerkschaften, zuständig, und wofür ist das Unternehmen zuständig? Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 19/18 mit dem Titel „Stahlstandorte in Deutschland erhalten, Arbeitsplätze und Arbeitnehmerrechte sichern“. Die Fraktion der SPD wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktion der CDU/CSU wünscht Überweisung an den Hauptausschuss. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die Überweisung? – Das sind die Fraktionen FDP, CDU/CSU und Grüne. Wer stimmt dagegen? – Wir sind uns einig, dass das Erste die Mehrheit war. ({0}) Damit ist der Antrag überwiesen. Damit stimmen wir heute über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 19/18 nicht in der Sache ab. Der Änderungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/88 wird infolgedessen heute nicht behandelt.

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ... nach der vertraglichen Regelung – zum Euro – gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers. Das sind die Worte Helmut Kohls aus der Bundestagsdebatte vom 23. April 1998. Die CDU-Wahlwerbung zur Europawahl 1999 proklamierte auf die Frage, ob Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen müsste – ich zitiere –: Ein ganz klares Nein! Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder die anderen EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedstaates haften. ({0}) So hat man es den Wählern versprochen. Kein Euro-Land darf für die Schulden eines anderen Mitgliedstaates haftbar gemacht werden: So steht es in den Verträgen. ({1}) Dies war ein zwingender und elementarer Grundsatz bei der Gründung der Europäischen Währungsunion. Offensichtlich ist es Ihnen, die hier schon länger sitzen, herzlich egal, was Sie den Bürgern versprechen; ({2}) denn sonst hätten Sie nicht den fatalen Griechenland-Rettungspaketen und den diversen Rettungsschirmen zugestimmt. Der deutsche Steuerzahler muss enorme Haftungsrisiken tragen und daneben mit seinem hart erarbeiteten Geld marode Banken und Staaten retten, weil diese schlecht gewirtschaftet haben. Als Dank schwindet sein Erspartes durch die Negativzinspolitik dahin, und auch die Zukunft seiner Rente ist dadurch massiv gefährdet. Diese Politik ist unverantwortlich. ({3}) Was hier geschieht, ist nicht nur unmoralisch, es ist rechtswidrig. Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet die Finanzierung eines Staates durch die Zentralbank ausdrücklich. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies jüngst in einer Entscheidung bekräftigt. Die Bundesregierung scheinen Urteil und Verträge jedoch gar nicht interessiert zu haben. Man bastelt lieber bereits in Hinterzimmern, um Debatten und Abstimmungen im Plenum zu umgehen. Ich frage Sie ganz ehrlich: Haben Sie alle eigentlich überhaupt gar kein Unrechtsbewusstsein mehr? ({4}) Diesem nicht hinnehmbaren Zustand wird sich die AfD, die Alternative für Deutschland – und dafür sind wir angetreten –, mit aller Kraft entgegenstellen. Wir werden nicht widerspruchslos zusehen, wie man uns weiter vor vollendete Tatsachen stellt und die Bürger kalt enteignet. ({5}) Die Reden von Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Juncker und Emmanuel Macron lassen keinen Zweifel mehr daran, dass die geplante Marschroute des Euro-Raumes folgende ist: dauerhafte Vergemeinschaftung der Schulden, ein Euro-Finanzminister mit einem eigenen Budget ({6}) – hauptsächlich finanziert vom deutschen Steuerzahler, versteht sich – und ein eigenes Euro-Zonen-Parlament. ({7}) Von Gewaltenteilung ist überhaupt gar keine Spur mehr. ({8}) Sehr geehrte Damen und Herren, das ist ein Skandal, und Sie haben das zu verantworten. ({9}) Der Euro sollte dazu führen, dass Europa zusammenwächst. Von einem wahren Friedensprojekt sprach einst Helmut Kohl. ({10}) Die traurige Wahrheit aber ist – und das wissen Sie alle –: Der Euro hat Europa auseinandergerissen. ({11}) Die AfD-Fraktion bringt heute ihren ersten Sachantrag in den Deutschen Bundestag ein, sehr geehrte Damen und Herren. Wir wollen, dass das Verfassungs- und EU-Vertragsrecht, das Ihnen offensichtlich fremd ist, wieder eingehalten wird. So sieht es nämlich aus. ({12}) Wir wollen damit den Bürgern, den Steuerzahlern, den Sparern und den zukünftigen Generationen eine Stimme geben, die ihnen in den Jahren der unverantwortlichen Euro-Dauerrettung genommen wurde. Wir fordern deshalb, gegen sämtliche EZB-Beschlüsse zum munteren Gelddrucken und zur Vermögensvernichtung endlich Klage einzureichen. Die Anleihenkaufprogramme sind verfassungswidrig, und sie verstoßen gegen europäisches Vertragsrecht, sehr geehrte Damen und Herren. ({13}) Dazu muss der ewigen Euro-Rettung mittels der ­TARGET2-Salden endlich ein Ende gesetzt werden. Mit dem Abnicken sämtlicher Pseudohilfsprogramme haben Sie, werte Damen und Herren der Fraktionen, die schon länger hier sitzen, unserem Staat und den deutschen Steuerzahlern bereits einen immens hohen Schaden zugefügt. Damit muss endlich Schluss sein. Die Bürger haben es satt, eine abgehobene Politik der arroganten Gutsherrenart auszuhalten. Und es muss endlich wieder zur Rechtsstaatlichkeit zurückgekehrt werden. Dafür sind wir angetreten. Vielen herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner in der Debatte ist für die CDU/CSU der Kollege Eckhardt Rehberg. Lieber Kollege Rehberg, Sie haben das Wort. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Weidel, die Tonlage, ({0}) in der Sie eben vorgetragen haben, erinnert mich an manche Veranstaltung, wo Erich Honecker und/oder Walter Ulbricht gesprochen haben. Genau das war die Tonlage. ({1}) Was Sie hier machen wollen, ist eine Verhetzung gegen Europa und eine 70-jährige Friedensgeschichte, ({2}) die unsere Nachkriegsgeschichte ist. Das ist das, was Sie hier abziehen. ({3}) In Ihrem Antrag, den Sie als Sachantrag bezeichnen, sind Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und Unwahrheiten enthalten, ({4}) und Sie fordern die Bundesregierung, Sie fordern den Deutschen Bundestag zum Rechtsbruch auf, ({5}) nämlich zum Rechtsbruch gegenüber der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Das ist mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wenn Sie meinen, dem deutschen Steuerzahler weismachen zu können, dass er und wir als Bundesrepublik Deutschland durch die europäische Einigung – dieser Prozess hat Mitte der 50er-Jahre begonnen und fand im Vertrag von Maastricht seine Vollendung – und, ({7}) was die Geldpolitik betrifft, mit der Gründung der Europäischen Zentralbank Nachteile erfahren, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass der Euro der Bundesrepublik Deutschland, seinen Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft Vorteile in Milliardenhöhe gebracht hat. ({8}) Deutschland stände heute nicht so da, wenn wir nicht Europa und den Euro hätten. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen legen wir als Union sehr viel Wert darauf, dass Europa nach schwierigen Jahren wieder wettbewerbsfähig wird. ({10}) – Wissen Sie, ein bisschen Benehmen gehört im Deutschen Bundestag mit dazu; nicht mehr und nicht weniger. ({11}) Wir sind seit 2009/2010 nach der Finanzkrise durch eine schwierige Zeit im Euro-Raum gegangen. Wir haben in verschiedenen Stufen dafür gesorgt, dass der Euro-Raum zusammenbleiben konnte. Das war insbesondere im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Europas und insbesondere im Sinne der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir das nicht gemacht hätten, was wir getan haben, ({12}) auch die EZB – – ({13}) – Frau Kollegin Weidel, wenn Sie von „Vertragsbruch“ sprechen, dann gucken Sie sich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts an. ({14}) Ich warte in Ruhe das Urteil des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts zum letztgenannten Fall ab. Sie suggerieren in Ihrem Antrag, dass das Bundesverfassungsgericht Ihren Aussagen zustimmen würde. Mitnichten ist das so. Sie tricksen mit wörtlicher Rede rum. Es ist infam, wie Sie Ihren Antrag aufgebaut haben. Mehr kann ich Ihnen zu diesem Thema nicht sagen. ({15}) Wir begreifen europäische Solidarität als Hilfe zur Selbsthilfe. Mit den Programmländern Portugal, Spanien, Irland und Zypern – auch Griechenland ist durchaus auf einem guten Weg – ({16}) haben wir miteinander dafür gesorgt, dass sich der Euro-Raum insgesamt stabilisiert. Das war ein Beitrag zur Konkurrenzfähigkeit Europas und des Euro-Raums in einer globalisierten Welt. Das, was Sie wollen, heißt, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Das ist mit diesem Deutschen Bundestag nicht zu machen, zumindest nicht mit der Mehrheit. Danke schön. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist Kollegin Bettina Hagedorn. Bitte schön. ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Tat kann ich mich nur der Empörung unseres Kollegen Eckhardt Rehberg aus dem Haushaltsausschuss über das anschließen, was hier von Ihnen, Frau Weidel, vorgetragen worden ist. Ich zitiere einen Satz aus Ihrem Antrag: ... angesichts der seit mindestens 2010 permanent erforderlichen transfersozialistischen sogenannten Eurorettung ... Das ist der Jargon, in dem Sie formulieren. ({0}) Das ist eine Diskriminierung dieses Parlaments, ({1}) das mit großer Mehrheit den gemeinsamen Weg in Richtung Europa in dem Bewusstsein und in dem Wissen gegangen ist, dass es sich auf einem verfassungskonformen Weg bewegt. Dazu will ich Ihnen auch sagen, dass ganz oben in Ihrem Antrag als erstes Mitglied der AfD Peter Boehringer genannt wird. Peter Boehringer hat 2015 das deutsche Gerichtswesen „Justizhuren“ genannt, die Bundesrepublik einen „(Unrechts-)Staat“ und das Bundesverfassungsgericht „oberstes Systemgericht“. ({2}) Wer solche Leute in seinen Reihen hat, der ist scheinheilig, wenn er sich hier so hinstellt, wie Sie es gerade getan haben. ({3}) Im Übrigen haben wir es – darauf wurde schon verwiesen – mit einem laufenden Verfahren zu tun. Es ist mitnichten so, dass das Verfassungsgericht schon geurteilt hat. Es hat am 18. Juli dieses Jahres einen Beschluss gegeben. Es sind Fragen an den Europäischen Gerichtshof gestellt worden. Es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis die Antworten kommen und bis dann das Verfassungsgericht entscheiden wird. Es ist für uns Bundestagsabgeordnete selbstverständlich, dass wir uns dann mit den Verfassungsgerichtsurteilen auseinandersetzen. Darum gehen wir davon aus, dass Ihr Antrag in die Ausschüsse verwiesen wird. Da ist er auch gut aufgehoben. Dann ist er nämlich im laufenden Verfahren. Dann können sogar Anhörungen durchgeführt werden. Ich finde es ganz spannend, dass Sie sich in Ihrem Antrag zum Beispiel auf die Expertise von Herrn Hans-Werner Sinn beziehen. Diesen haben wir in Anhörungen des Haushaltsausschusses schon oft erlebt, zugegebenermaßen nie auf unsere Einladung, sondern meistens auf Einladung der FDP. Sie müssen sich wohl einmal mit der FDP einigen. Sie scheinen sich bei Ihrer Sicht auf Europa und die Euro-Rettung auf die gleichen Quellen zu beziehen. Wir Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag werden andere Experten einladen. ({4}) Wir werden – genauso wie glücklicherweise weite Teile dieses Hauses – dazu beitragen, dass hier eine gute und sachliche, aber auch eine proeuropäische Diskussion geführt wird. ({5}) Von Ihnen können wir wahrlich nichts lernen, wenn es um das Bundesverfassungsgericht geht. Ich mache auf Folgendes aufmerksam – darauf sind wir stolz –: Es waren zwei Kollegen aus unserer Fraktion, nämlich Peter Danckert und Swen Schulz, die im Oktober 2011 das Verfassungsgericht angerufen haben; das beruhte aber auf einer anderen Motivation. Sie haben jedenfalls vor dem Verfassungsgericht recht bekommen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Rechte dieses Parlaments gestärkt wurden, und zwar mehr als in jedem anderen europäischen Land. Wir als Abgeordnete profitieren – auch in künftigen Debatten – von den Urteilen, die diese beiden Kollegen erwirkt haben. Dafür sage ich Danke. Das hat zu einer Stärkung des Parlaments geführt. Die entsprechenden Vorgaben werden wir auch in Zukunft umsetzen. ({6}) Sie tun in Ihrem Antrag zudem so, als ob die Vorschläge, die Herr Macron im September dieses Jahres gemacht hat, schon umgesetzt seien. Wir würden die Nationalstaaten aufgeben und uns in Richtung eines gesamteuropäischen Staates bewegen. Dem ist nicht so. Die Diskussion darüber ist viel zu wichtig, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben, wie Sie das machen. Vielmehr werden der Bundestag und alle Fraktionen, insbesondere wir Sozialdemokraten als Proeuropäer, eine vernünftige Diskussion über die Vorschläge von Herrn Macron führen. Wahr ist: Deutschland hat viel mehr von Europa profitiert, als es gegeben hat. Das wird und soll auch in Zukunft so sein. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Otto Fricke. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe AfD-Fraktion, auch wenn wir gleich von Ihnen sicherlich wieder hämisches Gelächter hören werden und auch wenn die Art und Weise, wie hier provokant geredet wird, einem das manchmal als Parlamentarier und Demokraten unmöglich macht, werden wir als Liberale uns stets zuerst sachlich und inhaltlich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen. Es ist auf den ersten Blick auch ein differenzierter Antrag, in dem Sie sich mit Dingen auseinandersetzen, die die Bürger beschäftigen und mit denen sie sich befassen. Von Ihnen werden auch kritische Punkte im Zusammenhang mit der Euro-Stabilisierung angesprochen. Nur, der Unterschied ist: Wenn Sie weismachen wollen, dass dies den Rest des Hauses nicht interessiert, dann tun Sie etwas, was nicht in Ordnung ist. Sie zerstören das Vertrauen, dass sich ein Parlament mit den Problemen befasst und dann bei der Frage, wie die Probleme zu lösen sind, um die beste Lösung streitet. Das ist das, was Parlamentarismus in diesem Hause immer ausgemacht hat und auch unter Ihrer Teilnahme ausmachen sollte. ({0}) Die spannende Frage, die sich im Zusammenhang mit Ihrem Antrag stellt, lautet aber: Wie sprechen Sie die Probleme an und mit welchem Ziel? Zuerst zum Wie. Ich bin gespannt, zu erfahren, ob Sie selber erkennen, welches Wort in Ihrem Antrag Ihr Lieblingswort ist. Ihr Lieblingswort ist das Wort „sogenannte“: sogenannte Euro-Stabilisierung, sogenannte Griechenland-Rettung, sogenannte EU-Verfassung. Wir alle wissen genau, warum Sie das machen. Sie wollen nämlich sagen: Das alles stimmt doch eigentlich gar nicht. Das ist eine ganz große Verschwörung. ({1}) – Genau so ist das. Und die Verschwörung ist so groß, dass dieses Land sogar in der Lage ist, solche Verschwörungsfanatiker wie Sie hier dazu applaudieren zu lassen. ({2}) Das Interessante ist doch: In Ihrem Antrag sagen Sie genau, was nicht geht: Dieses geht nicht; dagegen muss man klagen. Jenes wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht. Das machen wir nicht, und das geht auch nicht. – Darin sind Sie gut. Was nicht sein soll, wissen Sie. Aber Ihre Aufgabe als Parlamentarier ist, zu zeigen, was geht und wie Sie das machen wollen. ({3}) Davon steht in Ihrem Antrag beileibe zu wenig. ({4}) Die FDP hingegen hat – hier möchte ich gerne meinen Kollegen Frank Schäffler mit einer Äußerung aus dem Jahre 2011 zitieren – ({5}) – ich wusste doch, dass es noch Gelächter und Häme gibt; danke sehr –: Ein Staat, der hoffnungslos überschuldet ist, muss einen Neuanfang ermöglicht bekommen. – Das ist der eine Punkt. Das wäre eine Aussage, mit der die AfD – ich merke, sie schweigt für einen Moment; Schweigen scheint bei Ihnen manchmal auch Zustimmung zu sein – dann fertig wäre. Die FDP sagt in ihrem Programm: Wir brauchen automatische Sanktionen, damit nicht Politik darüber entscheidet, was hier passt. Deswegen wollen wir ein geordnetes Staateninsolvenzverfahren, und deswegen wollen wir die Wirkung des Marktzinses wieder hervorbringen. – Das ist der Unterschied zwischen konstruktiver Politik, die für die Bürger ist, und destruktiver Politik, die sie am Ende nur im Stich lässt. ({6}) Zum Schluss komme ich zu der Frage, was das Ziel Ihrer Politik ist. Jetzt stelle ich einmal eine kleine Verschwörungstheorie auf, die ich aber direkt widerlege, indem ich Ihr Wahlprogramm zitiere. Was ist Ihr Masterplan? Was wollen Sie eigentlich wirklich? Was steht in Ihrem Wahlprogramm? Sie wollen nicht den Euro erhalten. Sie wollen gar nicht, dass man klagt und es besser macht. ({7}) – Ganz genau. – Sie wollen diesen Antrag nur als Mittel benutzen, um die Leute hinter die Fichte zu führen. Wie heißt es nämlich so schön in Ihrem Wahlprogramm: Deshalb muss Deutschland die Transferunion aufkündigen und den Euroraum verlassen. ({8}) Was soll dann dieser Antrag von Ihnen? Meine Damen und Herren, genau das ist es: Es ist keine Alternative, die Sie bieten. Sie sind noch nicht einmal eine sogenannte Alternative für Deutschland. Danke. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat nun für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko. Bitte schön. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Eurozone war von Beginn an eine Fehlkonstruktion. ({0}) Schuld ... an ihren zahlreichen Krisen ist die Struktur der Eurozone, das heißt ihr rechtlicher und institutioneller Ordnungsrahmen. Das sagte vor kurzer Zeit der US-amerikanische Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Es wäre sinnvoll, über die Defizite, über die Fehlkonstruktion der Euro-Zone zu reden, ({1}) hier Reformen anzustoßen. Ich habe nach der Rede von Ihnen, Frau Weidel, den Eindruck, dass Ihre Partei fanatisch hinsichtlich dieses rechtlichen Rahmens ist. In Ihrer Rede war überhaupt kein wirtschaftspolitisches Argument. Auch in Ihrem Antrag steht dazu gar nichts. Ich finde, darüber müssten wir reden. ({2}) Wir haben immer wieder gesagt, dass wir den Euro für eine Fehlkonstruktion halten. Auch bei seiner Einführung haben wir – damals war es noch die PDS – gesagt: Eine gemeinsame Währung kann am Ende eines europäischen Integrationsprozesses stehen, aber nicht am Anfang. – Teil dieser Fehlkonstruktion ist aus unserer Sicht die Mandatierung der EZB. Die EZB ist die einzige Notenbank, die überhaupt kein soziales Kriterium, etwa die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, als Bestandteil ihres Mandats hat. Wir halten das für falsch. Ich glaube, darüber müsste man diskutieren. Auch das, worauf ich anspiele, kommt in Ihrem Antrag natürlich überhaupt nicht vor. Was Sie kritisieren, sind das Anleihenkaufprogramm und die Niedrigzinspolitik. Beides war in der Tat auf dem Höhepunkt der Krise, als die Zinsen für die spanischen und italienischen Anleihen gestiegen sind, ein Programm zur Linderung im Rahmen einer aus unserer Sicht falschen Krisenpolitik. Aber Sie kritisieren genau diese Linderung. Das halten wir für falsch. Die Nullzinspolitik hat leider den Begleiteffekt, dass die Finanzmärkte aufgebläht werden, dass auch künftig Krisen erzeugt werden und dass die Sparer sozusagen enteignet werden, da sie kaum noch Zinserträge bekommen. ({3}) – Ja, da klatschen Sie von der AfD, obwohl es nicht Gegenstand Ihrer Kritik ist. Das Hauptproblem der sogenannten Euro-Rettung – in diesem Fall ist „sogenannten“ in der Tat richtig – sind die Auflagen, die den Ländern Griechenland und Portugal gemacht worden sind. Griechenland kommt im Augenblick, auch aufgrund dieser Auflagen, nur sehr schwer aus der Krise heraus. Ich will daran erinnern – wir haben vorhin über Irland gesprochen –, dass Portugal auf einem sehr guten Weg ist. Portugal hat sehr frühzeitig unter einer einigermaßen linken Regierung gegen den Willen der Troika eine Abkehr von der Austeritätspolitik vorgenommen. Portugal hat die besten Zahlen, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale, und liegt mittlerweile bei der Arbeitslosigkeit unter dem Durchschnitt der Euro-Zone – übrigens unter einer Minderheitsregierung. Das ist der richtige Weg, um da herauszukommen. ({4}) Ein Riesenproblem, was in Ihrem Antrag natürlich auch nicht angesprochen wird, sind die massiven Leistungsbilanzunterschiede im Euro-Raum. ({5}) Hier könnten wir etwas tun. Das ist eigentlich eine gute Nachricht. Es wäre sinnvoll, wenn in Deutschland endlich mehr investiert wird, ein sozialökologisches Investitionsprogramm aufgelegt wird, damit die Binnenwirtschaft gestärkt wird. Notwendig ist es überall: in den Schulen, in der Infrastruktur, in der Pflege, in der Gesundheit. Das würde auch die anderen Euro-Länder entlasten. ({6}) Ebenso bräuchten wir auch hier eine Erhöhung der Löhne und die Beendigung des Niedriglohnsektors. All das steht in Ihrem Antrag leider nicht. Deshalb werden wir Ihren Antrag auch ablehnen. Aber ich habe, glaube ich, dargestellt, in welche Richtung aus unserer Sicht hier der Weg gehen müsste. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Manuel Sarrazin von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Rede der AfD-Fraktion gerade hat uns gezeigt, dass der Euro und die Europäische Union nicht unumkehrbar sind. Das nimmt uns alle in die Pflicht, entschlossen und entschieden für das europäische Projekt einzustehen und unsere Argumente zu schärfen, um der Gefahr für die Europäische Union entgegenzutreten, die sich in diesem billigen Populismus äußert. ({0}) Deswegen bin ich sehr dankbar, hier sagen zu dürfen, dass der Euro die Währung der Europäischen Union ist ({1}) und dass die Europäische Union das Grundprinzip des deutschen Grundgesetzes ist. Das Grundgesetz ist von seinen Vätern und Müttern darauf angelegt worden, dass der Platz Deutschlands in einem vereinten Europa ist: unter der Mitwirkung dieses Landes zur europäischen Einigung im Sinne des Friedens der Welt. Wenn Sie in Ihrem Antrag dagegen polemisieren, dann sind Sie nicht mehr auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes. So viel zum Thema Rechtskonformität an Ihre Seite! ({2}) Man kann das noch etwas schärfer machen. Sie wollen also die Alternative für Deutschland sein? Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Grundsatzentscheidungen nach intensiver Würdigung – unter Anwesenheit der Bundesregierung und von Abgeordneten mit verschiedenen Positionen – dargelegt, dass die Euro-Rettung grundgesetzkonform und europarechtskonform ist. ({3}) Wollen Sie dem Bundesverfassungsgericht widersprechen? Wollen Sie damit eigentlich die Gewaltenteilung in diesem Land infrage stellen? ({4}) Machen Sie sich zum Richter über das, was Recht und was nicht Recht ist? Sie sind hier Teil des Gesetzgebungsorgans. Unsere Arbeit wird von Gerichten kontrolliert. Also akzeptieren Sie die Rechtsprechung, und verschweigen Sie sie nicht, wenn Sie im Sinne des Rechtsstaats handeln wollen! ({5}) Ich möchte Ihnen mal eines sagen: Die Unabhängigkeit der Zentralbank war immer ein deutsches Gut. ({6}) Und warum? Sie fordern in Ihrem Antrag, wie Kollege Rehberg richtig gesagt hat, die Bundesregierung dazu auf, in Kooperation mit dem deutschen Vertreter im EZB-Rat nach Maßgabe des Bundestages gewisse Handlungen anzuregen bzw. unverzüglich anzumahnen, irgend so ein Blabla. ({7}) Ich sage Ihnen mal eines: Die Unabhängigkeit der Zentralbank hat sich entwickelt als Schutzgut der Demokratie davor, dass Politik ohne Ende auf das Geld der Bürgerinnen und Bürger, der Steuerzahler zugreifen kann und so letztlich die Menschen mit ihrer Wahl – über ein gewähltes Parlament oder einen Haushaltsausschuss oder einen Haushaltsgesetzgeber – entmündigt. Die Zentralbank kann letztlich in ihrer Unabhängigkeit ({8}) auch Politik eingrenzen – im Sinne von Stabilität. Daran legen Sie die Axt und reden dann von Enteignung der Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, Sie haben zutiefst nicht verstanden, worauf eigentlich unsere Ordnung in Deutschland mit der Unabhängigkeit der Zentralbank, die von uns durchgesetzt wurde, aufbaut. ({9}) Wir waren 2009/10 in einer Situation, dass wir uns hier fraktionsübergreifend Sorgen gemacht haben, ob das Projekt Euro, ob das Projekt der Europäischen Union überleben wird. Die Risikoanalyse der Mehrheit dieses Hauses war: Wenn wir es riskieren, dass in dieser Situation ein Land fällt oder die gemeinsame Währung fällt, dann werden dadurch die Stabilität und auch die wirtschaftliche Gesundheit der gesamten Währungsunion, der gesamten Europäischen Union und damit auch der Menschen in Deutschland ernsthaft gefährdet werden. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, die Maßnahmen zur Risikominimierung durchzuführen, ({10}) die in den europäischen Verträgen eindeutig als Ultima Ratio angelegt sind, so in Artikel 136 III des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Behaupten Sie nicht, die Euro-Rettung sei nicht rechtskonform. Damit stellen Sie sich gegen den Geist des deutschen Grundgesetzes ({11}) und missachten die Rechtsprechung der höchsten Gerichte unseres Landes und der Europäischen Union. Danke sehr. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Michael Stübgen. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich will mich auf den Text des Antrages der AfD beziehen, der ja so daherkommt, dass man, wenn man ihn sich unvoreingenommen anschaut, glauben könnte, es werde die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass in bestimmten Bereichen, zum Beispiel bei diesen QE-Programmen der Europäischen Zentralbank, Rechtsbruch begangen werde bzw. die Verträge nicht eingehalten würden und damit gegen die deutsche Verfassung gehandelt werde. ({0}) Ich werde Ihnen in den wenigen Minuten, die ich habe, nachweisen, dass das überhaupt nicht Ihr Anliegen ist; denn ansonsten hätten Sie den Antrag anders formuliert und anders begründet. Sie unterstellen in Ihrem Antrag, dass es überhaupt keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu Ankaufprogrammen der Europäischen Zentralbank gibt. Das ist aber nicht der Fall. Ich weiß nicht, ob Sie es nur nicht wissen; ich vermute, Sie nennen diese bewusst nicht. Somit muss ich da ein bisschen ausgreifen. Im Jahr 2012 hat die Europäische Zentralbank auf dem kritischen Höhepunkt der Euro-Krise ein Programm veröffentlicht, das sogenannte OMT-Programm, und angekündigt, dass sie unmittelbar Staatsanleihen von einem Euro-Land aufkaufen wird, wenn es zu massiver singulärer Spekulation gegen ein einzelnes Euro-Land kommen sollte. Dieses OMT-Programm ist beklagt und vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Tat einen hochkritischen Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof gegeben. Der Europäische Gerichtshof hat letztinstanzlich als der zuständige Gerichtshof entschieden: Anleihekäufe der EZB sind unter besonderen Bedingungen eingeschränkt möglich. – Daraufhin hat das Verfassungsgericht im Jahr 2016 festgestellt, dass es sowohl nach Europarecht vertragsrechtlich möglich ist als auch nach dem deutschen Grundgesetz. Das heißt, wir haben eine eindeutige Rechtsprechung, dass es möglich ist. Ich rede aber nicht davon, ob das jetzt richtig oder gut ist bzw. wie das politisch zu bewerten ist, sondern nur davon, dass es möglich ist. In Ihrem Antrag gehen Sie aber sehr stark auf die QE-Aufkaufprogramme der EZB ein. In der Tat, sie sind nicht völlig identisch mit den OMT-Programmen, obwohl es sich dabei auch um Anleiheankaufprogramme handelt. Das gilt gerade auch hinsichtlich der Masse der Ankäufe. Immerhin sind wir da schon im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in sehr hohen Größenordnungen. Aber auch hier verschweigen Sie, dass es dazu längst ein Verfahren gibt. Das heißt, die europäische Rechtsunion funktioniert. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Monaten einen Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof gegeben. Es ist so, dass auch das Bundesverfassungsgericht hier kritische Anmerkungen hat – zu Recht. Es handelt sich um die dritte Instanz; die können das so machen. Wir werden auch hier in überschaubarer Zeit eine klare Rechtsprechung vonseiten des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts haben. Das heißt, das, was Sie hier fordern, findet längst statt. Warum fordern Sie also, dass die Bundesregierung jetzt noch zusätzlich klagen soll? Ihr Ziel besteht doch ausschließlich darin, zu versuchen, Menschen, die besorgt, die beunruhigt sind – deren Besorgnis verstehe ich – ob der Euro-Rettungspolitik und der Summen in Höhe von vielen Hundertmilliarden Euro, die im Raume stehen, ({1}) in Panik zu versetzen in der Hoffnung, billig Stimmen zu bekommen und Stimmung für Ihre Politik gegen Europa, gegen Deutschland, gegen das Bundesverfassungsgericht und gegen den Europäischen Gerichtshof zu machen. ({2}) Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({3}) Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Danke. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion spricht nun Christian Petry. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man muss der AfD ja dankbar sein, dass sie diesen Antrag gestellt hat. ({0}) Selten gab es einen solch inkompetenten Antrag, versehen mit so vielen Fehlern. ({1}) – Ja, Sie haben es ja selbst vorgetragen. – Sie berufen sich auf Gerichtsurteile, zitieren aber nur einen Satz und lassen – Herr Stübgen hat es formuliert – die ganze Wahrheit weg. Es werden Beschlüsse, die es zum OMT-Programm gibt, nicht erwähnt und so der Eindruck erweckt, dass hier etwas Unrechtes getan wird. Es gibt Rechtsprechungen dazu, die zeigen, dass dies so nicht stimmt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Boehringer von der AfD?

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, er kann nachher eine Kurzintervention machen, wenn er möchte. Die Preisstabilität, die die EZB sicherzustellen hat, ist eine wichtige Sache. Hier hat Herr Draghi mit seinem Ankaufprogramm auch gut gewirkt. ({0}) Wir möchten in Europa den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, gegen die Jugendarbeitslosigkeit über diese Geldmengenpolitik steuern. Die Inflationsrate liegt bei 1,4 Prozent; sie sollte bei 2 Prozent liegen; Sie wissen das. Auch hier gibt es eine Steuerung über den Ankauf. Wie weit dieser gehen darf und gehen muss, ist Diskussionsgegenstand auch hier im Parlament. Diese Frage ist wichtig mit Blick auf die Investitionen von kleinen und mittleren Unternehmen. Deutschland hat in den letzten zehn Jahren einen exorbitant hohen Bilanzhandelsüberschuss gehabt. Das liegt auch an den guten und stabilen Werten im Euro-Raum. Sie sind die Basis unseres Wohlstandes, also genau das Gegenteil von dem, was Sie behauptet haben. Sie belügen die Bevölkerung in einem exorbitanten Maße. ({1}) Unser Wohlstand hat seinen Ursprung in Europa und in der Euro-Zone. Die Euro-Zone muss krisenfester gemacht werden. Hier liegen die Vorschläge von Herrn Macron auf dem Tisch. Deutschland ist ein wichtiger Partner in Europa. Auch wir sind aufgefordert, hier mitzudiskutieren, Europa weiterzuentwickeln und für eine Steigerung der sozialen Standards in Europa zu sorgen. Dass wir einen Ausgleich mittels einer besseren und angeglichenen Unternehmensbesteuerung erreichen und dass wir den Wohlstand insgesamt mehren – das würde zur Beseitigung von sozialen Problemen in unserem Land führen –, ist ein Ziel dieses genialen Friedensprojektes Europa. Dieses Projekt hat uns weitergebracht und hat uns Wohlstand gebracht. Es entlarvt Sie geradezu, dass Sie dies alles nicht wollen. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie von der AfD lieben die Menschen in Europa nicht; Sie lieben noch nicht einmal die in Deutschland. ({2}) Dieser Antrag entlarvt Sie. Denn Europa ist das große Projekt, das uns in dieser Republik weiterbringt. Europa ist gut für Deutschland. Sie möchten hingegen den Rückfall in die 60er- und 70er-Jahre – vielleicht sogar in frühere Zeiten – zum Thema machen. ({3}) Mit Ihrem Lachen und Ihrem Lächeln wollen Sie die Politik verhöhnen, und damit verhöhnen Sie die Menschen in diesem Land, ({4}) die dieses Europa in seiner Freiheit lieben und brauchen. ({5}) Dafür müssen wir arbeiten. Das ist unser Auftrag. Dazu gehören aber nicht solche Dinge wie die, die Sie hier produzieren. Das ist sehr schädlich. In diesem Sinne: Gemeinsam für unser friedliches Europa! Glück auf! ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner in dieser Debatte ist Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe AfD-Fraktion! Ist das jetzt alles? ({0}) Wollen Sie uns wirklich erzählen, dass Sie vier Jahre lang dafür gekämpft haben, in den Deutschen Bundestag zu kommen, um uns dann als Ihren ersten Sachantrag solch ein schwaches Papier mit einer Copy-and-paste-Begründung aus dem Internet vorzulegen? ({1}) Ich sage Ihnen eines: Wenn Professor Lucke hier im Plenarsaal sitzen würde, er würde mitsamt seinem Stuhl im Boden versinken. ({2}) Meine Damen und Herren, es ist ein freies Parlament. Sie können hier natürlich vorlegen, was Sie wollen. Aber Sie können nicht verhindern, dass wir es lesen und dass wir uns damit beschäftigen. Ich habe jetzt dafür noch drei Minuten Zeit. Ich komme zu Ihrem ersten Teil, der Problembeschreibung. Bei der Problembeschreibung gebe ich Ihnen in weiten Teilen ja sogar recht. Wir wissen es. ({3}) Die großen Ankaufprogramme der EZB sind zumindest politisch fragwürdig. Ob es rechtlich fragwürdig ist, wird im Moment vom EuGH geklärt. In Verbindung mit der Niedrigzinspolitik – das ist eine Katastrophe für jeden Sparer – wird der Markt mit Geld überschwemmt, Risiken auf den Steuerzahler übertragen. ({4}) – Meine Damen und Herren, Sie klatschen. Aber das ist alles bekannt. ({5}) Was bisher noch nicht bekannt war bzw. noch nicht schwarz auf weiß vorlag, waren die Lösungsvorschläge der AfD. Meine Damen und Herren, ich komme zum zweiten Teil Ihres Antrags. Was schlagen Sie uns denn vor? Das Erste, was Sie fordern, wurde schon erwähnt: Die Bundesregierung soll gegen die EZB wegen Unzuständigkeit und Verletzung der Verträge klagen. ({6}) Das hört sich gut an, ist aber eine reine Schaufenstermaßnahme, ({7}) weil das in der Sache doch längst vor dem EuGH liegt und spätestens in wenigen Monaten entschieden wird. Das wissen Sie; denn Sie haben die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts in Ihren Antrag mit reinkopiert. Jetzt kommen wir zum zweiten und dritten Punkt Ihrer Forderungen. Sie bestehen im Wesentlichen darin, dass Sie die deutsche Bundesregierung auffordern, auf die Deutsche Bundesbank Einfluss zu nehmen. ({8}) Das ist erstens rechtswidrig, es ist zweitens gefährlich, und es ist drittens unnötig. ({9}) Es ist rechtswidrig, weil die Unabhängigkeit der Bundesbank im Bundesbankgesetz festgeschrieben ist. Das hat einen guten Grund. Es ist gefährlich, weil gerade wir Deutschen immer ganz stark auf die Unabhängigkeit der Zentralbank gedrungen haben. ({10}) Die Erfahrung in Europa zeigt: Wenn wir Deutsche uns nicht mehr an eine Regel halten, dann hält sich plötzlich keiner mehr daran. Es ist drittens unnötig, weil Sie ja bereits wissen, dass der Präsident der Deutschen Bundesbank die Ankaufprogramme entsprechend kritisiert und im EZB-Rat mit dagegenstimmt. ({11}) Jetzt komme ich zu Ihrem einzigen wirklich konkreten Punkt, den Sie fordern. Sie fordern nämlich, dass die Target-Salden bei der EZB zukünftig ausgeglichen werden. Sie nehmen dabei die USA als Beispiel. Ich habe mir das mal genauer angeschaut. In den USA geschieht dieser Ausgleich jährlich durch die Verschiebung von Wertpapieren. Was würde das bedeuten? Die Deutsche Bundesbank hat heute eine Forderung in Höhe unseres Target-Saldos gegenüber dem EZB-System als Ganzes. Wenn wir jetzt Ihrem Vorschlag folgen würden, würden wir diese Forderung gegenüber dem EZB-System gegen Wertpapiere eintauschen, im Moment vor allem aus Spanien und aus Italien. ({12}) Es gibt ein wunderschönes Buch von Professor Sinn, das haben Sie bestimmt alle gelesen: „Die Target-Falle“. Er beschreibt darin genau das System der Fed und des Ausgleichs. Darin ist auch die Problematik beschrieben, dass Sie dann nämlich keine Forderung mehr gegenüber dem EZB-System haben, sondern plötzlich spanische und italienische Wertpapiere in Ihren Büchern haben. Ich wage zu bestreiten, dass der deutsche Steuerzahler sich damit besserstellen würde. ({13}) Meine Damen und Herren, die EZB-Politik ist problematisch; das wissen wir. Aber was uns auch nicht weiterhilft, sind Ihre Rezepte. Was wir stattdessen brauchen, sind wirksame Anreizmechanismen und wirksame Druckmechanismen, damit die Krisenländer in Europa ihre Haushalte und ihre Wirtschaft in Ordnung bringen und in Ordnung halten. Das ist die Politik insbesondere der Union, der CSU. Vielleicht fällt Ihnen dazu ja noch etwas ein. Jetzt haben Sie ja ein bisschen Zeit im Parlament. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Brandl, wenn Sie kurz stehen bleiben. – Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention Herrn Peter Boehringer von der AfD. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident, vielen Dank. – Diese Kurzintervention müsste eigentlich über alle Reden gehen; denn ein paar Dinge sind hier von mehreren Rednern wiederholt worden. Da sie faktisch falsch sind, kann das einfach so nicht stehen bleiben. Das eine ist der Vergleich mehrerer Redner von OMT und den aktuellen Anleihekaufprogrammen. ({0}) Da gibt es gleich drei Unterschiede: OMT ist nie aktiviert worden. Es gab dann tatsächlich ein Urteil. Dieses Urteil, das hinterher gefällt wurde, war ein akademisches Urteil. Es ist aber erst nach Jahren erfolgt. ({1}) Also ist, wie Sie eben gesagt haben, ein Urteil auch nicht innerhalb von einigen Monaten zu erwarten. ({2}) Können wir bitte die Zwischenrufe irgendwann auch einmal beenden, Herr Michelbach? ({3}) Was Sie als Copy-and-paste bezeichnen, ist in der Tat Copy-and-paste des Rechts. Wir haben per Copy-and-paste ausschließlich Rechtslage kopiert. ({4}) Sie sollten eigentlich begrüßen, dass wir die Rechtslage kopieren, die Sie permanent brechen. ({5}) Bei OMT waren wir schon an der Grenze der Legalität. Das hat das Verfassungsgericht festgestellt. Aktuelle Rechtslage – ich betone: aktuelle Rechtslage – in Deutschland ist ein aktueller Beschluss – ein Beschluss, kein Urteil – des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. Juli 2017, in dem es um die laufenden Programme geht. Es geht hier um 60 Milliarden Euro pro Monat. Das sind verlorene Gelder. Wir reden hier nicht von Peanuts. ({6}) Das ist das, was im Moment geltendes Recht ist. Die Meinung des Verfassungsgerichts ist eindeutig. Sie entspricht exakt unserer Meinung: dass die aktuellen Euro-Rettungsprogramme eindeutig illegal sind. ({7}) Wir reden vom größten Anleihekaufprogramm, das diese Republik je gesehen hat. Sogar weltweit ist es vermutlich beinahe das größte Aufkaufprogramm. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Würden Sie bitte an die Redezeit denken? Auch die Kurzinterventionen sind limitiert.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich darf ja vermutlich nur auf Sie, Herr Dr. Brandl, Bezug nehmen. ({0}) Zu den anderen wäre ja auch noch einiges zu sagen. ({1}) Insofern kann ich jetzt leider nicht schließen, ohne Herrn Petry annähernd zu zitieren: Wir lieben alle. Wir lieben Europa wirklich, aber nicht die EU. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dr. Brandl, CDU/CSU, jetzt mit der Antwort. ({0}) Würden Sie bitte stehen bleiben? Das ist eigentlich Regel hier im Haus. – Danke schön.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben zwei Punkte aus meiner Rede angesprochen. Der erste Punkt ist der Zeitraum, wann das Urteil kommt. Wenn Sie das Urteil und den Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts genau gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, dass darin exakt steht, dass das Bundesverfassungsgericht den EuGH um eine rasche Bearbeitung bittet, ({0}) weil es sich um einen eilbedürftigen Zustand handelt. Insoweit rechne ich persönlich eher mit Monaten als mit Jahren. Das ist der erste Punkt. Zum zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben. Sie haben gesagt, dass Sie in Ihren Antrag nur Rechtsquellen als Begründung reinkopiert haben. Ich nenne jetzt einmal als Beispiele die Rechtsquellen „ faz.net “, „ www.welt.de “ ({1}) und die ganz bekannte Rechtsquelle von Hans-Werner Sinn, „Am Limit“ aus der „FAZ“. Meine Damen und Herren von der AfD, Sie können hier natürlich vorlegen, was Sie wollen. ({2}) Es ist ein freies Parlament. Sie können aber nicht verhindern, dass wir uns damit beschäftigen und dass wir, wenn Sie so etwas vorlegen, das auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit ansprechen. Herzlichen Dank. Sie dürfen sich setzen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Reinhard Brandl. – Schönen guten Abend Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von meiner Seite! ({0}) Die Aussprache hat stattgefunden. Das entnehme ich nicht nur dem Protokoll, sondern das habe ich auch mitbekommen. Ich schließe jetzt diese lebendige Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/27 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe während des Wahlkampfes einige von Ihnen aus den verschiedenen Fraktionen auf Veranstaltungen zum Thema „Pflege, Pflegenotstand in Krankenhäusern“ usw. usf. erlebt. Ich hatte teilweise das Gefühl, dass die Kolleginnen und Kollegen zum ersten Mal richtig gemerkt haben, dass es einen Pflegenotstand in den Krankenhäusern und in den Altenpflegestätten gibt. ({0}) Ich habe mit sehr großem Interesse gehört, was dann teilweise die Kolleginnen und Kollegen den Pflegekräften der Einrichtungen versprochen haben: Man wolle sich darum kümmern, man wolle das in die Wahlprogramme hineinschreiben. Ich muss allerdings sagen: Der Pflegenotstand in den Krankenhäusern und den Altenpflegeeinrichtungen ist schon seit Jahren bekannt. Seit Jahren machen wir darauf aufmerksam. Seit Jahren wird er ignoriert oder verschleppt durch die jeweiligen Regierungskoalitionen. Das ist ein Skandal. ({1}) Ebenfalls seit Jahren sammle ich anonymisierte Gefährdungsanzeigen. Sie werden von den Pflegekräften erstellt, wenn es zur gefährlichen Pflege kommt, wenn eine Gefährdung der Patientinnen und Patienten und der Pflegebedürftigen vorliegt, von der Gefährdung der Pflegekräfte ganz zu schweigen. Ich möchte aus einer Anzeige zitieren, um damit die Wirklichkeit der Einrichtungen in das Hohe Haus hineinzutragen. Mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitiere ich aus einer Nachtschicht irgendwo in einem Krankenhaus in Deutschland. Es heißt – Zitat –: Ursprünglich war der Dienst geplant mit einer Pflegekraft und einer Hilfskraft. Da die Hilfskraft gekündigt hat, wurde ein Praktikant geplant, der jedoch kurzfristig auf die Intensivstation versetzt wurde. Somit bin ich alleine für 32 Patienten verantwortlich, davon sind 9 zu überwachen, eine Patientin liegt im Sterben, 4 Neuaufnahmen, 2 umtriebige und stark sturzgefährdete demente Patienten, eine Isolation bei MRSA, eine instabile Patientin, ein Patient, der eine Beatmungsmaske tragen muss, sie aber nicht akzeptiert, 2 entgleiste Blutzuckerpatienten, ein Patient kommt eingekotet von der zentralen Aufnahme. Das ist die Situation auf Stationen in deutschen Krankenhäusern. Wichtige Tätigkeiten wie Mobilisation, Verbandwechsel, Vitalzeichenkontrolle, Lagerung, Hygiene, Medikamentengabe und Dokumentation können nicht, verspätet oder nur durch Ableistung von noch mehr Überstunden erbracht werden. Das ist kein Einzelfall, sondern das kommt zigtausendfach in unseren Krankenhäusern vor. Der Pflegenotstand ist schon länger da. Er ist eine Gefährdung für die Pflegenden und für die Gepflegten. Er ist unerträglich und muss dringend behoben werden. ({2}) Deutschland hat als reichstes Land in Europa bezüglich der Frage der Pflegekräfte die rote Laterne, ist Schlusslicht im Verhältnis, wie viele Patienten, Pflegebedürftige auf eine Pflegekraft kommen. Um allein bei den Krankenhäusern auf den mittleren Stand, den durchschnittlichen Stand in Europa zu kommen, so hat Herr Professor Simon, ein Pflegewissenschaftler, ausgerechnet, müssen in Deutschland 100 000 Pflegekräfte in den Krankenhäusern eingesetzt werden. Es wurde ein Pflegestärkungsprogramm im Rahmen des Krankenhausstrukturgesetzes aufgelegt. Das ist auf mehrere Jahre angelegt und nur so ausgelegt, dass insgesamt 6 500 Pflegekräfte damit finanziert werden können. Das kann man einmal ins Verhältnis setzen: 100 000 Pflegekräfte – 6 500 werden jetzt finanziert. Das ist weniger als der Tropfen auf den heißen Stein. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Monaten haben wir landauf, landab Warnsteiks in Krankenhäusern erlebt. Ob in Wismar, Düsseldorf, Frankfurt, Ottweiler oder Augsburg – die streikenden Kolleginnen und Kollegen fordern nicht mehr Lohn, sondern mehr Personal. Für diese Entschlossenheit gebührt ihnen meines Erachtens großer Respekt. ({4}) Dass die Beschäftigten diesen Schritt überhaupt gehen müssen, geht auf das schändliche Versagen der Bundesregierung in der Gesundheitspolitik zurück. Ein zentrales Instrument wäre eine gesetzliche Personalbemessung. Sie fordern wir auch und wollen sie insgesamt durchsetzen. ({5}) Überall dort, wo eine solche Personalbemessung eingeführt worden ist, zum Beispiel im US-Bundesstaat Kalifornien, fällt die Bilanz insgesamt positiv aus. Ich kann es jetzt nicht mehr ausführen, weil das Licht schon brennt – ich weiß! Wir wollen mit unseren Anträgen dazu beitragen, dass es mit solchen Initiativen zumindest nach vorne geht. Wir haben ja die interessante Situation, dass jetzt kein Fraktionszwang und keine Koalitionsdisziplin im Wege stehen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber Redezeiten! ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Insofern möchte ich Sie auffordern, Ihrem Gewissen zu folgen und unseren Anträgen zuzustimmen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Harald Weinberg. – Wir sind ziemlich in Verzug. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn da vorne ein Licht leuchtet, dann ist das nicht eine nette Nachricht von mir, sondern die definitive Aufforderung, Ihre Redezeit einzuhalten. Jetzt gebe ich Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es so: Wenn eine Legislaturperiode zu Ende geht, dann werden die Uhren im gesetzgeberischen Bereich auf null gestellt. Aber es gibt Themen, die immer aktuell sind. Zu diesen Themen gehört die demografische Entwicklung in Deutschland im Allgemeinen und das Thema Pflege, also die Pflege im Krankenhaus sowie die ambulante und stationäre Altenpflege, im Besonderen. So war es über die ganze letzte Legislaturperiode hinweg, bis zum Schluss. Zu diesem Thema steht auch vieles in unserem Wahlprogramm. Wir wollen den Pfad jetzt, nach der Wahl, wieder aufnehmen und daran konsequent weiterarbeiten. Wir haben also in der vergangenen Legislatur in der Pflege vieles gemacht, und dazu steht auch durchaus einiges in unserem Wahlprogramm. Es sind also keine – so haben Sie es in Ihrem Antrag formuliert – „Wahlkampfversprechen“ und „Wahlgeschenke“, sondern ganz konkrete Weichenstellungen für die Zukunft der Pflege in unserem Land, meine Damen und Herren. ({0}) Natürlich sind auch Fragen offen, etwa beim Tarifausgleich. Es ist in der Tat ein Problem für die Krankenhäuser, wenn der Tarifabschluss höher ist als das, was sie hinterher von den Krankenkassen bekommen. Diesen Aspekt haben wir bereits in das Krankenhausstrukturgesetz aufgenommen, allerdings nicht in vollem Umfang, sondern nur ansatzweise. In unserem Wahlprogramm steht, dass wir den vollen Tarifausgleich umsetzen möchten, allerdings unter der Bedingung, dass das Geld für den Tarifausgleich auch tatsächlich beim Pflegepersonal ankommt und nicht für andere Dinge verwendet wird. ({1}) Wir haben auch das Thema der Ausbildung in der Pflege aufgegriffen. Unsere Diskussion zu dem Thema ist noch nicht am Ende. Wir haben uns sozusagen eine Probezeit auferlegt und müssen abwarten, wie sich das entwickelt. Aber eines ist klar: Wir brauchen eine Offensive für die Pflegeausbildung, für junge Menschen, die die Auswahl zwischen vielen attraktiven Berufen in unserem Land und dem Pflegeberuf haben. Wenn wir hier mit der Pflege konkurrenzfähig bleiben wollen, wenn wir besser werden wollen, dann bedarf es in der Zukunft eines deutlichen Aufschlags. ({2}) Es gibt ein altes Thema – das möchte ich nicht verschweigen –, bei dem wir nach wie vor eine offene Flanke haben: Es ist das Thema Investitionskostenfinanzierung. Nach wie vor ist es so, dass die Länder dafür zuständig wären, 100 Prozent der Investitionskosten aufzubringen, es aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht tun. Im besten Falle sind es 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent kommen aus dem laufenden Betrieb, werden aus Entgelten bezahlt. Das entsprechende Geld steht nicht zur Verfügung, um die Personalkosten und Sachkosten zu finanzieren. Was bleibt da anderes übrig, als bei den größten Kostenblöcken, also beim ärztlichen Personal und insbesondere beim Pflegepersonal, einzusparen? Das kann so nicht bleiben. Wir brauchen dringend eine neue Regulierung, was die Investitionskostenförderung anbelangt, damit das Geld tatsächlich für die Pflege verwendet und nicht zweckentfremdet wird, meine Damen und Herren. ({3}) Ein paar Sätze noch zu dem, was wir in der letzten Legislatur gemacht haben. Wir haben mit dem Umswitchen vom Versorgungszuschlag zum Pflegezuschlag im Rahmen des Pflegeprogramms 830 Millionen Euro zusätzlich in die Pflege, an das Personal gegeben. Wir haben entsprechende Anreize gesetzt, sodass die Krankenhäuser, die wirklich mehr Pflegepersonal einstellen, besser dastehen als diejenigen mit weniger Pflegepersonal. Das war wichtig. Wir sind – ich habe es schon erwähnt – in den Tarif­ausgleich eingestiegen. Das werden wir jetzt fortsetzen. Wir haben auch im Bereich der DRGs nachjustiert, sodass pflegeintensive Bereiche, zum Beispiel der Bereich Demenz, unmittelbar in die DRGs eingepreist werden. Wir waren der Meinung, dass bei den Sachkosten überfinanziert wird. Wir wollen weniger Sachkosten in den DRGs haben. Wir wollen das Geld den Krankenhäusern aber nicht nehmen; vielmehr wollen wir das Geld in den Pflege- und Personalbereich hineingeben. Auch das ist schon geschehen. Zu guter Letzt haben wir am Ende der Legislatur auf der Grundlage eines Kommissionsergebnisses der Selbstverwaltung den Auftrag gegeben, in der nächsten Legislatur Personaluntergrenzen zu erarbeiten. Aber eines ist klar: Anhaltszahlen, so wie Sie es im Antrag formuliert haben, können nicht der richtige Weg sein. Zu unterschiedlich sind die Aufträge der Krankenhäuser; sie reichen vom normalen Grundversorger bis zur Uniklinik. Das Verfahren ist zu aufwendig und zu bürokratisch. Wir wollen das Pflegepersonal doch von der Bürokratie entlasten und nicht für weitere Belastungen in der Pflege durch noch mehr Bürokratie sorgen. Deswegen sind Anhaltszahlen der falsche Weg. Ich bin sicher, dass die Selbstverwaltung an dieser Stelle zu klugen Regelungen kommen wird. Ihr Antrag ist nicht zielführend, aber ich habe die große Hoffnung, dass die Selbstverwaltung zu Lösungen kommen wird. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lothar Riebsamen. – Der nächste Redner in der Debatte: Dr. Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich das Gemeinsame betonen: Alle Fraktionen, die hier im Haus sitzen – ich schließe wirklich alle ein –, haben ein Interesse daran, dass sich die Situation der Pflege in Deutschland verbessert. Es gibt zwei große Problemkomplexe: die Krankenpflege und die Altenpflege. In der Krankenpflege ist es in Deutschland so, dass ungefähr eine Krankenpflegekraft auf 10 bis 15 Betten kommt. In den skandinavischen Ländern und in den USA hat man einen Standard von 1 : 3 bis 1 : 5. Das heißt, uns fehlt im Prinzip die Hälfte der Pflegekräfte, die wir bräuchten, wenn wir so pflegen wollten wie in den skandinavischen Ländern oder wie in den USA. Wir wissen aus Studien, dass eine gute Versorgung durch Pflegekräfte die Sterblichkeit in Krankhäusern beeinflusst. Wir wissen, dass dieser Einfluss sogar größer ist als der Einfluss der Ärzte. Grob gesprochen: Wenn ich gegenüberstelle, wie viel Ärzte in einer Klinik pro Patient zur Verfügung stehen und wie viele Pflegekräfte, dann ist festzustellen: Die Rate der Pflegekräfte hat einen größeren Einfluss auf das Wohlergehen der Patienten. Das hat uns als Ärzte und auch als Wissenschaftler überrascht. Die Pflege ist tatsächlich sehr bedeutsam. Daher ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Uns fehlen in der Krankenpflege etwa 30 000 bis 100 000 Pflegekräfte. Das ist die Situation. Daran ist nichts zu drehen. Wir müssen daher jedes Jahr neue Gesetze zur Pflege verabschieden. Die Pflege ist ein Dauerthema. Wenn wir Anschluss an die Länder finden wollen, die uns im Bereich Pflege deutlich überlegen sind, müssen wir jedes Jahr Gesetze beschließen. Das haben wir auch in der vergangenen Legislaturperiode gemacht. Ich will nicht jedes einzelne Gesetz nennen. Herr Riebsamen hat schon etwas dazu gesagt. Man darf unsere Erfolge nicht kaputt reden, aber klar ist: Die Maßnahmen reichen noch lange nicht. Das ist ganz klar. ({0}) Deshalb müssen wir in dieser Legislaturperiode mehr unternehmen. Wir müssen das betonen, was wir gemeinsam erreichen wollen und nicht das, was noch fehlt. Erstens. Es ist dringend notwendig, die Ausbildung zu verbessern. Hier haben wir einen wichtigen Schritt gemacht, aber eine entsprechende Ausbildungsordnung fehlt noch. Sie muss noch kommen. Zweitens. Wir müssen die Tarife voll weitergeben. Wenn also die Tarife in der Pflege steigen, dann muss sich das in den Budgets der Krankenhäuser vollumfänglich wiederfinden. ({1}) Das war einer der wenigen positiven Sozialaspekte in den Sondierungsergebnissen. Das muss hier gewürdigt werden. Das sollten wir gemeinsam weiterverfolgen. In den Fallpauschalen muss die Pflege gesondert ausgewiesen werden. ({2}) Der springende Punkt ist, dass die Pflege nur dann abgerechnet werden kann, wenn sie auch nachgewiesen wird. Die Krankenhäuser, die Pflegestandards nicht nachweisen, dürfen die komplette Fallpauschale nicht abrechnen. Das ist der richtige Weg. Schließlich brauchen wir auf die Fachabteilungen bezogene Pflegeschlüssel. Mit dem, was Herr Weinberg eben vorgeschlagen hat, hat er sich auf Kalifornien bezogen. Diesen Schlüssel hat Kaiser Permanente für Kalifornien entwickelt. Es hat zehn Jahre gedauert, bis dieser Anhaltsschlüssel stand. Das ist kein verbindlicher Schlüssel, sondern der Schlüssel, nach dem die Krankenhäuser in Kalifornien miteinander verglichen werden: Wer erfüllt die Quote und wer nicht? Das ist aber kein verbindlicher Mindeststandard. Das heißt, wenn ich den Standard nicht einhalte, gibt es keine Sanktionierung. Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg. Wir brauchen einen sanktionierbaren Weg. Wir brauchen tatsächlich einen Mindeststandard. Obwohl das nach weniger klingt, ist es mehr; denn wer den Mindeststandard nicht einhält, dem kann ich wegen eines Qualitätsproblems die Fallpauschale kürzen. Somit ist das, was nach weniger klingt – Mindeststandards –, in der Umsetzung mehr. Und das sagt jemand, der zehn Jahre in den USA gelebt hat. Wir müssen daher für einen Mindeststandard kämpfen, der verbindlich ist und eingehalten werden muss, wenn man die volle Pauschale abrechnen will. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl Lauterbach. – Das Wort zu seiner ersten Rede im Bundestag hat Dr. Axel Gehrke für die AfD. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag wird im Zusammenhang mit dem Pflegenotstand in der Headline dazu aufgefordert, Wahlkampfversprechen zu erfüllen. Herr Kollege Riebsamen, Sie haben gerade das Wahlprogramm der CDU angesprochen. Darin findet sich der bemerkenswerte Satz – ich zitiere –: Die vergangenen Regierungsjahre waren gute Jahre für Gesundheit und Pflege. Na ja, bei der Einschätzung, fürchte ich, wird sich da nicht allzu viel ändern. Das spiegelt bereits die eklatante Verkennung der Sachlage wider. ({0}) Nein, meine Damen und Herren, das waren keine guten Jahre für die Gesundheit und schon gar nicht für die Pflege. Im Gegenteil: Wir haben zwölf Jahre mit Fehlanreizen, Ökonomisierung, Bürokratisierung und patientengefährdender Gesetzgebung hinter uns. ({1}) Die Humanitas wurde verschoben in Richtung Dienstleistungsbetrieb, in dem reguliert, industrialisiert und vor allem reglementiert wurde. Bilanz, Effizienz und Produktivität im Sinne betriebswirtschaftlicher Vorgaben sind das Mantra der heutigen Medizin. ({2}) Selbst der Deutsche Ethikrat hat 2016 gefordert, das Patientenwohl wieder als einzige und ethische Grundlage für die medizinische Arbeit zu sehen. Nun, meine Damen und Herren, stehen wir vor den Kollateralschäden: Ja, es gibt ganz eindeutig einen Pflegenotstand, im ambulanten Bereich, im Krankenhaus und besonders gravierend in der Altenpflege. Darauf geht der nachfolgende Antrag zu Recht ein. Es ist schon bemerkenswert, dass die Regierung zwölf Jahre lang mit stoischer Ruhe dem ökonomisch bedingten Personalabbau und der daraus folgenden Arbeitsverdichtung zugeschaut hat, und das trotz zunehmender Warnungen praktisch aller im Gesundheitsbereich tätigen Verbände, bis hin zu den Gewerkschaften. Auch der große Befreiungsschlag vor zwei Jahren, das Krankenhausstrukturgesetz, hat nicht viel gebracht. Im Gegenteil: Der Pflegenotstand hat sich weiter verschärft. Das wurde im erst kürzlich vorgelegten Gutachten des Sachverständigenrates bestätigt. Dort heißt es – ich zitiere –: Die am deutlichsten ausgeprägten Engpassberufe für Spezialisten waren mit der Fachkrankenpflege und der Aufsicht der Krankenpflege im Gesundheitssektor zu finden. Als Lösung kommt nun wieder die Methode der langen Bank: Expertinnen und Experten sollen erst einmal Personalbemessungszahlen entwickeln. Wir haben ja gerade gelernt, Frau Kollegin Hagedorn, dass sich dazu jeder den Experten einlädt, den er braucht. Nein, so wollen wir das nicht machen. ({3}) Nein, meine Damen und Herren, es muss sofort gehandelt werden. Niemand muss auf etwas warten, was längst vorhanden ist. In der internationalen Literatur liegt der Schlüssel in den USA bei 5,3 Patienten pro Pflegekraft, in Schweden bei 7,7, in der Schweiz bei 7,9 und in Deutschland bei 13,0 wobei es durchaus ernstzunehmende Schilderungen gibt – wir haben gerade eben ein Beispiel gehört –, dass nachts auf den Stationen eine Pflegekraft locker 30 bis 50 und mehr Patienten versorgt. Eine ganz einfache Rechnung – das geht auch ohne Studium –: Wenn wir wenigstens den Schlüssel der Schweiz erreichen wollen, müssen wir das Personal in den pflegesensitiven Bereichen um mindestens 50 Prozent aufstocken. ({4}) Wer gar nicht rechnen möchte, reaktiviert einfach die Personalpflegeverordnung, die 2005 mit der Einführung der Fallpauschalen abgeschafft wurde, weil es ja nun die Ökonomie regeln sollte – mit dem Erfolg, den wir heute beklagen. Nein, meine Damen und Herren, es liegt alles vor. Da muss man nichts auf die lange Bank schieben. Im Gegenteil: Wir müssen jetzt und sofort handeln. Das sind wir den betroffenen Menschen schuldig, und zwar sowohl den Patienten als auch dem Pflegepersonal. ({5}) Wenn etwas überprüft werden muss, dann sind es die Arbeitsbedingungen. So ist der Pflegenotstand in Berlin etwa 25‑mal höher als im Saarland, beide Male pro 1 Million Einwohner. Offensichtlich geht man das Problem regional sehr unterschiedlich an. In einem Memorandum forderte die Deutsche Krankenhausgesellschaft, den bürokratischen Aufwand der Dokumentationslast um mindestens 50 Prozent zu reduzieren und den Anteil der Arbeitszeit von Ärzten und Pflegepersonal für Dokumentation und Bürokratie auf maximal 20 Prozent zu begrenzen. Wie hoch muss wohl die derzeitige Überlastung sein, wenn die Reduzierung der Bürokratie um die Hälfte und der Leistungslast auf 20 Prozent der Gesamtarbeitszeit eine Wunschvorstellung ist? Eine weitere Falle ist die Planung einer rein tariflichen Aufwertung, Herr Professor Lauterbach, da diese wahrscheinlich nur wieder bei den Krankenhäusern ankommt, und zwar bei den Krankenhäusern, die schon jetzt Investitionsstaus in Milliardenhöhe vor sich herschieben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich Sie an die Redezeit erinnern?

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bin gleich fertig.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte.

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir schlagen daher vor, besser die Fallpauschalen in ihrer Normierung zumindest in den pflegeintensiven Bereichen neu zu kalkulieren. Meine Damen und Herren, dieser Antrag hat ein sehr wichtiges Thema aufgenommen, bedarf aber dringend weiterer Konkretisierung. Wir plädieren daher für Überweisung an den Hauptausschuss. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir heute über dieses Thema diskutieren. Denn die Versorgung pflegebedürftiger Menschen stellt eine Herausforderung für unsere Gesellschaft dar, und sie wird uns auch in den nächsten Jahren immer wieder beschäftigen. Die Menschen in Deutschland werden dank unserer guten Gesundheitsversorgung – Gott sei Dank – immer älter. Aber im Alter besteht eben auch das Risiko, pflegebedürftig und krank zu werden. Deswegen – da bin ich mit fast allen meiner Vorredner einig – benötigen wir dringend ein Sofortprogramm in allen Bereichen der Pflege. Verbindliche Personalschlüssel sind wünschenswert und werden von uns auf jeden Fall unterstützt. Das Problem aber ist – das wurde bisher von niemandem angesprochen –, dass die Pflegekräfte, die man braucht, um die Personalschlüssel zu erreichen, auf dem jetzigen Arbeitsmarkt überhaupt nicht vorhanden sind. Das ist doch das Problem, und da müssen wir zuerst ansetzen. ({0}) Unsere hochmotivierten Pflegekräfte sind am Limit, weil das Personal fehlt, weil es auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden ist. Ich werde Ihnen gleich schildern, wie wir versuchen werden, das zu ändern. Einen Satz noch: Unserem hochmotivierten Pflegepersonal in ganz Deutschland, das gerade arbeitet oder in der verdienten Pause ist, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass es einen tollen Job macht ({1}) und dass wir alles dafür tun werden, dass es in Zukunft nicht mehr so am Limit arbeiten muss, wie es dies bisher tut. Wie gesagt, wir brauchen dringend mehr Pflegekräfte, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich als auch in den Krankenhäusern. Wie erreichen wir das? Ganz einfach: Wir müssen die Berufe im Pflegebereich attraktiver machen, attraktiver gegenüber den Berufen in anderen Wirtschaftsbereichen, und wir müssen sie stärken. Wir brauchen bessere Rahmen- und Arbeitsbedingungen, damit es gelingt, wieder mehr junge Menschen in die Pflegeberufe zu bekommen, sie zu begeistern und vor allen Dingen ein vorzeitiges Ausscheiden zu verhindern; denn es ist doch auch ein Problem, dass die Pflegekräfte wegen ihrer Überbelastung zu kurz in ihrem Beruf arbeiten. Das müssen wir ändern. Die Personalausstattung ist eine wichtige Rahmenbedingung. Aber: Wie sieht es denn aus? Ich habe es eben schon gesagt: In meinem Bundesland Schleswig-Holstein werden von den Krankenhäusern mittlerweile schon Abwerbeprämien gezahlt, damit das Pflegepersonal von dem einen zum anderen Krankenhaus wechselt. Daher – ich wiederhole es – brauchen wir ein Sofortprogramm für mehr Pflegekräfte, das sofort greift und nicht erst in drei Jahren, wenn neue Pflegekräfte ausgebildet sind. ({2}) Neben einer Ausbildungsoffensive, die den Namen auch verdient, wollen wir Anreize für eine bessere Rückkehr von Teil- in Vollzeit. Wir wollen verbesserte Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung von Pflegehelfern zu Pflegefachkräften, die natürlich auch mehr verdienen; wir brauchen eine stärkere Förderung familienfreundlicher Arbeitszeitmodelle – in der Pflege arbeiten hauptsächlich Frauen; man muss die Arbeitszeiten auch auf sie ausrichten –, und wir brauchen eine bessere Gesundheitsvorsorge für die Beschäftigten in diesen wichtigen Pflegeberufen. ({3}) Daneben brauchen wir eine Reduzierung des bürokratischen Aufwandes; ja, hier bin ich ganz bei Ihnen. IT-Systeme unterstützen das. Die Pflegekräfte wollen Zeit für ihre Patienten, ihre Pflegebedürftigen, haben und nicht Zeit, um zu dokumentieren. Der wichtigste Punkt ist aber – das ist wirklich ganz wichtig –: Die Pflegeberufe brauchen mehr gesellschaftliche Wertschätzung und Würdigung. ({4}) – Ja, ich finde, da kann man ruhig applaudieren, weil das überparteilich ist. Die Pflegekräfte verdienen mehr finanzielle und gesellschaftliche Anerkennung. Hier sind wir alle gefragt. Ich bitte alle Beteiligten, sich an dieser Debatte in den nächsten Jahren zu beteiligen. Ich freue mich auf unsere Diskussionen im Ausschuss. Gestatten Sie mir am Schluss noch die Bemerkung: Wir Freien Demokraten stehen zu unserem Wahlkampfversprechen. Darauf können sich die Menschen in Deutschland verlassen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Nächste Rednerin: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir an dieser Stelle – ich glaube, es ist sogar erstmalig so – über die Situation in der Krankenpflege und in der Altenpflege reden, und zwar mit dem eindeutigen Willen, der von allen Beteiligten hier im Parlament vertreten und geäußert wurde, sofort etwas zu tun. ({0}) Das ist etwas, weswegen ich sagen würde – auch an die Wählerinnen und Wähler –: „Wählen lohnt“; denn es zeigt, dass Druck gemacht worden ist über die Gewerkschaften und die vielen Initiativen – zum Beispiel „Pflege am Boden“ und andere –, die deutlich gemacht haben: Es ist höchste Zeit. Das muss man tatsächlich auch den Vertreterinnen und Vertretern der Großen Koalition nach vier Jahren vorwerfen: Sie haben zwar wirklich viel bewegt – Sie haben viele Pflegestärkungsgesetze und eine umfangreiche Krankenhausreform auf den Weg gebracht –, aber die Situation der Arbeitskräfte in der Pflege hat sich nicht wirklich entscheidend geändert. Das muss man nüchtern feststellen, ({1}) und man muss wirklich sagen: Hier haben wir Handlungsbedarf. Genau das zeigt sich deutlicher denn je. ({2}) Wir haben jetzt zwei Anträge vorliegen, die auf der einen Seite auf das Problem hinweisen und auf der anderen Seite bestimmte Lösungen aufzeigen. Wir werden uns wahrscheinlich nicht über alle Fraktionen hinweg auf alle diese Lösungsinstrumente verständigen können. Aber es deutet sich doch an, dass wir ein Sofortprogramm in der Altenpflege und in der Krankenpflege brauchen, und zwar beides mit einem großen Umfang. In der Krankenpflege muss es um 25 000 neue Arbeitsplätze gehen. Es muss in der Altenpflege um eine richtig große Anzahl Fachkräfte gehen, die auch wirklich in der praktischen Arbeit dort ankommen. Das muss sicher, stabil und verlässlich finanziert werden, damit wir sicher sind, dass es zu dieser Entlastung kommt. ({3}) Wenn wir das erreicht haben und gleichzeitig einsehen, dass diese Sofortprogramme nur ein Vorgriff sein können, weil sie nicht regelhaft sind – wir brauchen ja eine nachhaltige Lösung –, dann sehen wir ebenfalls: Wir brauchen ergänzend verbindliche Personalbemessungssysteme im Krankenhaus und in der Altenpflege. ({4}) Da reichen die Untergrenzen in pflegesensiblen Bereichen im Krankenhaus nicht aus. ({5}) Es reicht auch nicht, für die Altenpflege zu sagen: Wir werden das erst einmal entwickeln, und dann müssen wir sehen, ob wir das bundesweit durchsetzen können. – Nein, wir brauchen ein klares Signal und die klare Bereitschaft vonseiten der Politik: Wir sorgen durch normative gesetzliche Rahmenbedingungen dafür, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege stimmen. ({6}) Das sind wir den Pflegekräften schuldig, die zwar jetzt noch motiviert sind und in der Regel der Meinung sind, dass sie einen sinnstiftenden Beruf haben, und trotzdem diesen Beruf in der Krankenpflege im Schnitt nach 13 Jahren und in der Altenpflege nach 8 Jahren verlassen, weil sie sagen: Ich kann diesen Beruf nicht weiter ausüben, obwohl ich ihn liebe. – Das muss uns zu denken geben. Das muss für uns ein Warnzeichen sein, endlich und auch schnell zu handeln; denn wir können uns diesen Notstand aus verschiedenen Gründen nicht leisten, ({7}) nämlich aus Gründen der Patientensicherheit und der Pflegequalität und auch deshalb, weil wir, wie wir wissen, nicht weniger, sondern mehr Fachkräfte brauchen. Wir werden noch viel mehr Fachkräfte für diesen Zukunftsberuf gewinnen müssen. ({8}) Dafür brauchen wir attraktive, familienfreundliche Bedingungen und natürlich – gerade in der Altenpflege – eine Bezahlung, die stimmt und dem, was dort an Leistung erbracht wird, annähernd gerecht wird. Davon sind wir heute gerade in der Altenpflege noch weit entfernt. Da muss sich etwas tun. Dazu gehört auch – das richte ich an die FDP –, dass wir uns für einen allgemeinverbindlichen „Tarifvertrag Soziales“ starkmachen, – ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das machen wir aber dann in der nächsten Debatte.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– der dazu führt, dass wir auch versprechen können, dass die Bedingungen in der Pflege stimmen. Das wäre doch ein schönes gemeinsames Projekt für alle Beteiligten im Parlament. Denn wir alle wissen: Von Pflege profitieren wir alle, und die haben wir auch alle nötig. In diesem Sinne: Eine gute weitere Beratung. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Klein-Schmeink. – Nächster Redner – jetzt muss ich das richtig aussprechen –: Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin, Sie werden immer besser. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute ein absolutes Zukunftsthema. Dieses Thema wird uns die nächsten Jahrzehnte hundertprozentig beschäftigen, und es geht hier um Weichenstellungen. Der Kollege Weinberg hat ein Beispiel gebracht. Ich möchte nicht sagen, dass es nicht stimmt – ich bin mir hundertprozentig sicher, dass es der Wahrheit entspricht; das ist gar kein Thema –, aber ich möchte auch sagen, dass das weder Standard noch Alltag ist, sondern dass es eine Ausnahme ist. In Deutschland machen viele Pflegekräfte einen hervorragenden Dienst am Menschen, und wir sind, glaube ich, hier ordentlich aufgestellt. Dass wir aber Verbesserungen brauchen, ist uns allen klar. Herr Kollege, Sie haben in der letzten Legislatur erlebt, dass wir hier schon viele Dinge auf den Weg gebracht haben. Uns hat in der Großen Koalition – aber die Oppositionsfraktionen waren teilweise auch dabei – immer der Dreiklang geleitet, eine Verbesserung für die Patienten, für die Angehörigen, aber natürlich auch für die Pflegekräfte zu erreichen. Das ist wichtig. Wenn hier der Personalschlüssel herangezogen wird und Vergleiche mit anderen Ländern angestellt werden, dann ist das alles wunderbar. Wir können das fordern, und wir können das auch gesetzlich verankern. Aber die Wahrheit – das ist auch eine Tatsache – ist natürlich, dass wir das Ganze in der Praxis umsetzen müssen. Deshalb ist es notwendig, dass wir uns nicht nur auf junge Menschen fokussieren, sondern auch Menschen im Alter von 40 oder 50 Jahren in den Blick nehmen, die sagen: Ich könnte mir einen Wechsel in einen neuen Beruf vorstellen. – Wir müssen das zu einem gesellschaftlichen Thema machen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist die Ausbildung angesprochen worden. Sie wissen, dass ich ein Verfechter einer neuen Ausbildungsregelung bin und dass wir hier auf einem guten und richtigen Weg sind. In Ihrem Antrag steht auch all das drin, was mit Schulgeld und dergleichen zu tun hat. Das ist längst erkannt, und diese Dinge sind in der Umsetzung. Wir müssen – das möchte ich hier noch einmal unterstreichen – aber auch sagen, dass wir zum Beispiel den Zivildienst, der mit der Wehrpflicht abgeschafft worden ist, als Motivationspunkt bisher nicht haben ersetzen können. Wir brauchen Instrumente, damit sich junge Menschen ausprobieren können. Es könnte ja sein, dass sie, vielleicht durch Zufall, für einen Pflegeberuf motiviert werden können. Ich denke, da darf es keine Denkverbote geben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Kollegin der FDP hat diese Punkte sehr richtig dargestellt. Vielleicht ein kleiner Seitenhieb – das erlauben Sie mir –: Diese Dinge kann man in Regierungsverantwortung natürlich am besten mit auf den Weg bringen. Das ist klar. Ich glaube, hier sind wir dann auch wieder beim Thema Verantwortung. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte dieses Thema nicht nur auf die Arbeit im Bund beziehen. Wir müssen natürlich auch die Länder daran erinnern, dass sie die Investitionsfinanzierung aus ihren Budgets bestreiten müssen. ({2}) – Ja, ich glaube aber, wir sind unter den ersten drei Bundesländern, die das machen. Aber es geht mir gar nicht darum, welches Bundesland das macht. Ansonsten könnte ich fragen: Wo ist denn die SPD in der Regierungsverantwortung? Das ist mir völlig egal. Das gilt für alle Länder. Das muss im Endeffekt in den Haushalten festgeschrieben sein, sonst wird das Ganze nicht gelingen. Das wird eine Mammutaufgabe. Dieser stellen wir uns. Dazu sind wir alle hier in diesem Parlament verpflichtet. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Irlstorfer. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Hilde Mattheis. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt aus den Reden schon deutlich geworden: Ja, Pflege braucht mehr als warme Worte. Sie braucht politische Rahmenbedingungen, die wir setzen können, damit die Arbeitsbedingungen besser werden, damit die Bezahlung besser wird und damit mehr Menschen diesen Beruf nicht nur voller Engagement beginnen, sondern auch viele Jahre ausüben können. Vor allen Dingen: Wir brauchen mehr als warme Worte, damit Pflegebedürftige eine sichere und qualitätsvolle Pflege haben. Wir müssen Pflege als Gesellschaftsprojekt begreifen und nicht als Renditegeschäft. ({0}) Das ist etwas – da komme ich auf die beiden Anträge zu sprechen –, was ich sehr gerne unterstütze. Alles, was mit Pflege zusammenhängt, ist Daseinsvorsorge. Dafür brauchen wir den gesetzlichen Rahmen im SGB XI und SGB XII. Das haben wir – das ist mein einziger Schlenker hin zu den letzten vier Jahren – durchaus im Blick gehabt, wir als SPD sehr viel stärker als unser Partner. Nicht nur im Wahlkampf, sondern auch davor und jetzt haben wir immer gesagt, dass wir das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zusammen mit vielen Leuten etwa von Verdi und von den Wohlfahrtsverbänden auf den Weg bringen müssen. Wir brauchen viele Leute an unserer Seite, damit das wieder gelingt, was uns letztens gelungen ist, nämlich in dem Fall 5,8 Milliarden Euro mehr für die pflegerische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Das ist schon eine Menge Holz. Das ist uns gelungen, und dieses Geld geht direkt an die Menschen. ({1}) Etwas erstaunt bin ich, dass Sie Pflegeuntergrenzen jetzt auf einmal kategorisch ablehnen. Das ist der Weg hin zur Personalbemessung. Ich habe Sie so verstanden, dass auch Sie Personalbemessung wollen. Auch wir wollen sie. Dafür haben wir heftig gestritten. Sie wollen nun die Personaluntergrenzen einfach streichen und behaupten, dass Experten erforderlich sind, weil die Selbstverwaltung dazu nicht in der Lage ist. Wir haben es andersherum gemacht: Wir haben zuerst die Experten – da war Verdi mit dabei – gefragt und dann bestimmt, dass die Selbstverwaltung die Umsetzung durchführt. Wir setzen auf die Selbstverwaltung. Das System der Selbstverwaltung muss unterstützt werden. ({2}) Wir haben aber auch eine Auffanglinie gezogen. Sie sieht vor, dass das Ministerium, wenn das bis zu einem bestimmten Datum nicht funktioniert, handeln muss. ({3}) Besser geht es gar nicht. Nun zum Pflegevorsorgefonds. Uns haben Sie sofort an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die Mittel dieses Fonds, der auf dem Kapitalmarkt den Beitragszahlern nur Verluste bringt, für mehr Personal umzuwidmen. ({4}) Dafür brauchen wir Mehrheiten. Ich werbe dafür. Wir haben übrigens in den letzten vier Jahren immer dafür geworben. Wir müssen weiter an einem allgemeinen Tarif für die Pflege arbeiten. Wir haben es geschafft, den Tariflohn im Pflegebereich im SGB XI zu verankern. Ihn zu zahlen, ist nicht unwirtschaftlich. An dieser Stelle sollten wir gemeinsam weitermachen. Ich sage es noch einmal: Pflege braucht mehr als warme Worte. Pflegefachkräfte brauchen unsere Unterstützung. Ein letzter Satz. Mich verwundert, dass Sie nicht stärker an unserer Seite waren, als es um die Generalistik in der Pflege ging. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hilde Mattheis. – Letzter Redner in dieser Debatte: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Pflege in Deutschland ist gut, und die Menschen, die diese Pflege leisten, haben Dank und Anerkennung verdient, aber auch unsere starke politische Unterstützung. Dass wir heute über das Thema Pflege reden, halte ich für ein gutes Zeichen; denn meine Fraktion hat nach den großen Verbesserungen in der Pflege, die wir gemeinsam während der letzten Wahlperiode beschlossen haben, auch im 19. Deutschen Bundestag viel vor in der Pflege. Mit Blick auf die vorliegenden Anträge will ich unterstreichen, dass die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Pflegekräften zu den zentralen Aufgaben der Gesundheitspolitik in den vor uns liegenden Jahren zählen wird. Das gilt für die Krankenpflege ebenso wie für die Altenpflege. Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir Krankenhäuser und Krankenkassen dazu verpflichtet, Personaluntergrenzen in Bereichen festzulegen, in denen dies für die Patientensicherheit besonders notwendig ist. Wir haben ferner das Pflegestellen-Förderprogramm aufgelegt und den Versorgungszuschlag durch einen Pflegezuschlag ersetzt. Ein zentrales Problem der Krankenhauspflege sind aber auch die mangelnden Investitionsleistungen der Länder; das wurde schon mehrfach angesprochen. Kliniken müssen deshalb ihre Investitionen teils über die Fallpauschalen finanzieren. Diese sind aber gedacht für eine gute Behandlung und Versorgung der Patienten. De facto sparen die Länder auf Kosten der Pflegekräfte. Meiner Meinung nach sollten wir prüfen, ob die Mittel der Krankenkassen für die Pflege nicht daran geknüpft werden können, dass die Länder eine angemessene Investitionsquote garantieren. Die Beiträge der Versicherten haben nämlich nichts mit der Sanierung der Landeshaushalte zu tun. Die Arbeits- und Versorgungsbedingungen in der ambulanten Pflege haben wir in der letzten Legislaturperiode besonders stark verbessert. Für die Heimpflege haben wir noch einige Aufgaben zu meistern. Wir brauchen mehr Hände für eine gute Versorgung. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir gute Arbeitsbedingungen schaffen, dann werden wir auch viele Menschen gewinnen, die in der Pflege arbeiten wollen. Wir sollten aber auch nicht unerwähnt lassen, dass mit der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Schnitt zwei zusätzliche Pflegekräfte in den Heimen finanziert werden. Darüber hinaus haben wir 60 000 zusätzliche Betreuungskräfte ermöglicht. Bis 2020 liegen uns wissenschaftlich begründete Empfehlungen zur Personalbemessung vor, wobei ich aber schon vorab deutlich machen will, dass auch wir der Meinung sind, dass wir ein Sofortprogramm für die Pflege brauchen. Gerade mit den Anforderungen im stationären Bereich müssen wir uns intensiver auseinandersetzen. ({0}) Wir müssen auch prüfen, welche Chancen und Risiken die Digitalisierung bringt. Zur größeren Wertschätzung der Pflege gehört aber auch, dass vorhandene Kompetenzen stärker genutzt und dadurch auch höher entlohnt werden. Das alles benötigt entsprechende Mitsprache und Mitgestaltung seitens der Pflegekräfte. Wenn man hierzu eine Pflegekammer, sei es freiwillig oder verpflichtend, einrichten will, müssen dort allerdings Krankenpflege und Altenpflege auf Augenhöhe vertreten sein. Ich wünsche mir, dass wir bei all diesen Vorhaben zügig gute Entscheidungen für die Pflege treffen. Die Menschen draußen warten darauf. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Rüddel. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/30 mit dem Titel „Wahlkampfversprechen erfüllen – Verbindliche Personalbemessung in den Krankenhäusern durchsetzen“. Die Fraktion Die Linke wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen Überweisung an den Hauptausschuss. Dann stimmen wir nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Deswegen frage ich: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – ({0}) – Na ja, das ist eine relative Mehrheit gewesen. – Wer enthält sich? – Damit ist die Überweisung mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen so beschlossen. Damit das klar ist: Damit stimmen wir heute über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/30 nicht in der Sache ab.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gute Nachricht von der Klimakonferenz in Bonn, die in den vergangenen zwei Wochen stattgefunden hat, ist: Trotz des Ausstiegs von Donald Trump und der USA ist der internationale Klimaprozess alles andere als tot. Alle anderen Staaten sind an Bord geblieben. Es gibt eine Perspektive, das Weltklima zu retten und unseren Planeten lebenswert zu erhalten, und das, meine Damen und Herren, ist eine gute Botschaft. ({0}) Aber es gibt auch eine traurige Botschaft, und die betrifft uns. Beim ehemaligen Klimaschutzvorreiter Deutschland ist nicht nur der Lack ab; inzwischen hat sich herumgesprochen, dass es noch schlimmer ist: Deutschland wird, wenn nicht ganz schnell etwas passiert, seine selbstgesteckten Klimaschutzziele 2020 krachend verfehlen. Von einer Vorreiterrolle kann überhaupt keine Rede mehr sein. Die Vorreiterrolle Deutschlands ist längst passé, und das ist das Ergebnis einer Politik in den letzten Jahren, die über Klimaschutz zwar geredet hat, aber immer dann, wenn gehandelt werden musste, gegen die Interessen des Klimaschutzes gehandelt hat. Meine Damen und Herren, damit muss endlich Schluss sein. ({1}) Eines ist auch klar: Wir werden das Klimaschutzziel 2020, das übrigens 2007 von einer Großen Koalition beschlossen und 2010 von Schwarz-Gelb bestätigt worden ist, nicht einmal ansatzweise erreichen, wenn wir nicht in den Kohleausstieg einsteigen und jetzt sehr schnell Kraftwerkskapazitäten stilllegen. ({2}) Das, meine Damen und Herren, ist notwendig, um das Klimaschutzziel zu erreichen. Das Verrückte ist: Jeder, der sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt, weiß, dass es bei dem Kohleausstieg in Deutschland gar nicht mehr um die Frage des Ob geht, sondern nur noch um die Frage des Wie. Da kann man sich, ehrlich gesagt, doch nur an den Kopf fassen, wenn sich in Bonn über 20 Staaten zusammentun, eine Allianz für den Kohleausstieg gründen und Deutschland wie ein begossener Pudel an der Seite steht und nicht mitmacht. Das, meine Damen und Herren, muss sich ändern, wenn wir wieder Vorreiter in der Klimaschutzpolitik werden wollen. ({3}) Ich finde, es muss Schluss sein damit, dass hier immer wieder der Eindruck erweckt wird, die Zukunft dieses Landes, die wirtschaftliche und industrielle Zukunft dieses Landes, hänge an der Kohle. Das Gegenteil ist der Fall. Das beweisen nicht nur zahlreiche Studien; das beweisen Unternehmensallianzen, die inzwischen sagen: Ja, wir wollen, wir brauchen den Kohleausstieg in Deutschland. Das ist die Zukunft. Die Zukunft sind Erneuerbare. Kohle ist die Vergangenheit, meine Damen und Herren. ({4}) Ganz ehrlich – ich kann Ihnen das nicht ersparen –: Manche schreiben „DIGITAL FIRST.“ auf Plakate. Dann muss man sich schon fragen, warum ausgerechnet die die Kohlekraftwerke aus Adenauers Zeiten unter Artenschutz stellen. Das ist nicht innovativ. Das ist nicht zukunftsträchtig. Das bringt uns nicht nach vorne. ({5}) Ich sage es hier ganz deutlich: Alte, ineffiziente Kohlekraftwerke gefährden die Versorgungssicherheit, sie stützen sie nicht. Jeder, der sich damit ernsthaft auseinandersetzt, sollte das einmal verinnerlichen, meine Damen und Herren. ({6}) Wir müssen – das ist auch klar – nicht nur bei der Kohle handeln. Wir müssen in allen Sektoren Klimaschutz machen. Wir müssen bei Wärme und Verkehr vorangehen. Der Kohleausstieg ist aber das zentrale Element parallel zum Ausbau der erneuerbaren Energien.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Redezeit!

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Ich glaube, die wirtschaftliche Zukunft dieses Landes hängt davon ab, dass wir den Kohleausstieg schaffen, dass wir es schaffen, die Erneuerbaren auszubauen und ein klimaneutrales Land in allen Sektoren zu schaffen. Das dürfen wir nicht anderen Ländern der Welt, anderen Regionen überlassen. Das ist die Herausforderung der Zukunft für Deutschland, und der wird sich dieses Parlament, eine zukünftige Bundesregierung, der werden wir alle uns ganz zentral widmen müssen. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Oliver Krischer. – Die nächste Rednerin: Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Von der Weltklimakonferenz in Bonn ging letzte Woche ein positives Signal aus, und Deutschland war ein guter Gastgeber. Wichtig ist, dass man vorangekommen ist bei der Erstellung eines Regelwerkes, das die Klimabeiträge der einzelnen Vertragsstaaten vergleichbar und transparent machen soll. Wir haben uns in Bonn mit vielen Delegationen vieler anderer Vertragsstaaten getroffen. Meine Wahrnehmung war, dass Deutschland in Bonn immer wieder Lob und Anerkennung für den Mut erhalten hat, dass wir als wichtige Wirtschafts- und Industrienation den Ausstieg aus der Kernkraft vollziehen. Die German Energiewende war dort noch immer in aller Munde und wird geachtet; und das ist gut so, meine Damen und Herren. ({0}) Wir haben sehr ehrgeizige Klimaziele; das muss man vorneweg auch einmal sagen. Bis 2020 wollen wir bei uns die Treibhausgase um 40 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 reduzieren, bis 2050 sogar um 80 bis 95 Prozent. Dafür haben wir detaillierte Aktionsprogramme zum Klimaschutz, zur Energieeffizienz und einen Klimaschutzplan mit Zielen bis 2050 vorgelegt. Nur sehr wenige Staaten haben einen Klimaschutzplan, der so langfristig angelegt ist. Und zu diesen Zielen stehen wir nach wie vor. Dafür habe ich mich auch als Klimapolitikerin immer wieder starkgemacht. ({1}) Dennoch wissen auch wir, dass Deutschland das Klima alleine nicht retten kann. Wir brauchen auch die anderen Staaten der Welt. Deutschland ist weltweit für 2,2 Prozent der Emissionen verantwortlich, die USA für 16 Prozent, und China emittiert sogar 28,2 Prozent der weltweit emittierten Treibhausgase. Man muss sich bewusst machen: Das ist mehr als zehnmal so viel wie bei uns. Auch die anderen Staaten müssen ihren Beitrag leisten. Die Klimakonferenz hat gezeigt, dass wir hier auf einem sehr guten Weg sind. Alle Staaten der Welt sind an Bord, und auch mit vielen Gouverneuren und Vertretern der Kommunen aus den USA haben wir gesprochen. Viele Bundesstaaten und Kommunen sind weiterhin dabei und wollen ihre Klimaziele erreichen. Es gehört aber auch zur Wahrheit, zu sagen, dass nach aktuellem Stand die Erreichung unserer Klimaziele schwer wird. Deshalb – das sage ich als Klimapolitikerin – müssen wir intensiv daran arbeiten, dass wir unser 2020-Ziel und insbesondere auch unsere 2030- und 2050-Ziele erreichen werden. Für mich ist dabei wichtig, dass wir alle Sektoren mit einbeziehen. Alle Sektoren müssen einen Beitrag leisten: Gebäude, Industrie, Energie, Verkehr und Landwirtschaft. Alle müssen wir in den Fokus nehmen. ({2}) – Ja, das sage ich als Klimapolitikerin. – Aber ich sage auch: Wir dürfen uns nicht nur auf den Energiesektor konzentrieren. Im Moment liegt der Fokus allein darauf. Wir haben einen Klimaschutzplan erstellt, der erstmals auch Ziele für die einzelnen Sektoren festschreibt. Im nächsten Jahr sollen die Ressorts ganz konkrete Maßnahmenpakete dazu vorlegen. Von der Politik brauchen wir dann die Anreize, die die effizientesten Maßnahmen befördern. Ein wichtiges Instrument ist für mich – aus der letzten Legislaturperiode wissen die Kollegen, dass ich es immer wieder erwähne – die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung. ({3}) Ich hoffe, dass dieses Instrument – in welcher politischen Konstellation auch immer – jetzt wirklich kommt, meine Damen und Herren. ({4}) Jetzt zur Kohle. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent zu reduzieren. Diese schrittweise Reduzierung ist übrigens auch durch das Pariser Klimaabkommen vorgezeichnet. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat letzte Woche in Bonn gesagt, dass die Braunkohle dazu auch einen wesentlichen Beitrag leisten muss. Einen ersten Schritt haben wir bereits mit der Überführung der 2,7 Gigawatt in die Sicherstellungsreserve gemacht. Weitere Schritte müssen folgen. Einige nennen es den Einstieg in den Ausstieg, andere nennen es die schrittweise Reduzierung der Kohleverstromung. Egal unter welchem Arbeitstitel man es betrachtet, ist eines für mich als Klimapolitikerin klar: Wir müssen diesen Weg der Reduzierung der Kohleverstromung weitergehen. Wir müssen dabei aber sicherstellen, dass die Energieversorgungssicherheit gewährleistet ist, dass die Energie bezahlbar ist und dass es zu keinen Strukturbrüchen kommt. ({5}) Wir müssen diesen Strukturwandel gestalten und die Menschen und die Unternehmen vor Ort dabei mitnehmen und beim Strukturwandelprozess unterstützen. Hier setze ich auch auf die im Klimaschutzplan 2050 verankerte Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Regionalentwicklung“, die im Bundeswirtschaftsministerium angesiedelt ist. Sie muss jetzt schnell arbeiten und den Regionen Perspektiven aufzeigen. Die Fachleute müssen dann eingehend prüfen, um wie viel Gigawatt die Kohleverstromung reduziert werden kann, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden; denn das wollen wir alle nicht. ({6}) In Ihrem Antrag fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, dass Deutschland der auf der letzten Klimakonferenz gegründeten Globalen Allianz für den Kohleausstieg beitreten soll. ({7}) Zugegeben, der Medienrummel diesbezüglich war groß. Aber haben Sie sich einmal die Länder angeschaut, die dieser Allianz beigetreten sind? ({8}) Frankreichs Präsident Macron hat vollmundig angekündigt, bis 2021 aus der Kohle auszusteigen. Dazu muss man allerdings wissen, dass der Anteil der Kohle an der Stromerzeugung dort bei nur 3 bis 4 Prozent liegt. Bei uns sind es 40 Prozent. Unabhängig davon hat sein Umweltminister Hulot fast im gleichen Atemzug angekündigt, dass Frankreich von seinem Ziel abrückt, den Anteil der Kernenergie bis 2025 auf 50 Prozent zu reduzieren. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wir haben in Deutschland die mutige Entscheidung getroffen, aus der Kernenergie auszusteigen. Keiner hat behauptet, dass das auch vor dem Hintergrund der Erreichung unserer Klimaziele leicht werden wird. Dennoch gehen wir diesen Weg. Wir werden auch den Weg der Reduzierung des Kohlestroms gehen, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– aber schrittweise, geordnet, ohne Strukturbrüche und ohne Gefährdung der Energieversorgung. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Dr. Weisgerber. – Die nächste Rednerin: Bundesministerin Barbara Hendricks für die Bundesregierung. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Minister:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag geht es ja um das Verhalten Deutschlands auf der UN-Klimakonferenz, die in den vergangenen zwei Wochen in Bonn stattgefunden hat. Bitte gestatten Sie mir vorweg eine Bemerkung zu der Rolle als technischer Gastgeber, die Deutschland innehatte. Die COP 23 war die bislang größte zwischenstaatliche Konferenz, die es je auf deutschem Boden gegeben hat. Sie wurde in nur elf Monaten geplant und realisiert, was weniger als die Hälfte des Zeitraums ist, der normalerweise für solche Planungen zur Verfügung steht. Trotzdem ist die Konferenz mit ihren rund 25 000 Teilnehmern absolut einwandfrei verlaufen. Wir sind dabei im Kosten- und Zeitrahmen geblieben. Alle Demonstrationen waren friedlich. Die Rückmeldungen aus der Staatengemeinschaft waren wirklich über alle Maßen positiv; diejenigen, die dabei waren, wissen das. Ich denke, die erfolgreiche Organisation sollte bei allem Interesse an der Sache ruhig einmal erwähnt werden dürfen – nicht zuletzt als ein großes Kompliment an die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das in einem gewaltigen Kraftakt möglich gemacht haben. Sie alle und nicht zuletzt die Bonnerinnen und Bonner haben dazu beigetragen, dass sich Bonn als UN-Stadt großartig präsentiert hat. Ihnen allen also ein herzliches Dankeschön! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Ergebnis ging von Bonn ein großes Signal der Einigkeit und Gemeinsamkeit aus, was auch schon ein Erfolg ist für die erste Klimakonferenz, die nach der Ankündigung der Vereinigten Staaten, aus dem Übereinkommen von Paris aussteigen zu wollen, stattgefunden hat. Aber in der Tat sind in Bonn auch die klimapolitischen Erwartungen an Deutschland deutlich geworden. Die Lücke zu unseren eigenen Klimaschutzzielen für das Jahr 2020 wird international wahrgenommen, wenngleich durchaus noch ohne Häme, weil jeder weiß, dass Transformationsprozesse überall auf der Welt schwierig sind. Aber es ist richtig: Ein zentraler Teil des notwendigen Weges hin zu einer treibhausgasneutralen Welt ist der Ausstieg aus Kohle, aus Öl und aus fossilem Gas. In Bonn hat sich eine bemerkenswerte Allianz aus Kohleausstiegsstaaten präsentiert. Es sei allerdings bemerkt, dass es sich fast durch die Bank um Atomenergiestaaten handelt, die einen verhältnismäßig geringen Kohleanteil bei ihrem Energiemix haben, und dass in Kanada weiter Ölsande abgebaut werden. Darauf hätten die anwesenden Vertreter von NGOs durchaus hinweisen können. ({1}) Ich will vor diesem Hintergrund auf den Konsens im Deutschen Bundestag in den letzten Legislaturperioden hinweisen, dass Atomkraft keine verantwortbare und nachhaltige Energieversorgung ist. ({2}) An diesem Konsens haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, durchaus einen bedeutenden Anteil. Von daher würde ich Sie bitten, diesen Teil der Wahrheit hier nicht unter den Tisch fallen zu lassen. ({3}) Ich kann vor diesen Spielchen nur warnen, die übrigens schon jetzt in die Forderung münden – da sind viele Lobbyisten am Werk –, Atomenergie als Klimaschutztechnologie über den Green Climate Fund fördern zu wollen. Ich warne Neugierige. Da müssen wir ganz vorsichtig sein. Das ist definitiv der falsche Weg. ({4}) Gleichwohl will ich hier deutlich machen, dass auch ich mir wünschen würde, dass Deutschland dieser Allianz beitritt, ({5}) um zu zeigen, dass der richtige Umstieg der von Kohle hin zu einer vollständigen Versorgung aus erneuerbaren Energien ist und eben nicht Atomenergie. ({6}) Aus den Verhandlungskreisen war zu vernehmen, dass die Union zuletzt angeboten hatte, 7 Gigawatt Kohlekapazitäten bis 2020 vom Netz zu nehmen. Das ist meines Erachtens eine vernünftige Größenordnung, die eine Basis für eine deutlich bessere Klimabilanz 2020 legen würde und von der aus wir einen stetigen Pfad für das Erreichen der Klimaschutzziele 2030 legen können. Was in den gescheiterten Jamaika-Gesprächen anscheinend überhaupt keine Rolle gespielt hat, war allerdings die soziale Absicherung. ({7}) Wenn man auch nur ein bisschen soziale Verantwortung übernimmt, muss doch die erste Aussage sein: Wir müssen einen Plan haben, der jedem Einzelnen eine vollständige soziale Absicherung gibt. Verdi hat dazu übrigens gute Vorschläge vorgelegt. Offensichtlich hat von den beteiligten Parteien niemand diese soziale Dimension gesehen. So kann das nicht gehen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen, ist ein Plan für die soziale und regionalwirtschaftliche Ausgestaltung des weiteren Kohleausstiegs in den nächsten Dekaden. ({9}) Ich meine, dass dazu auch eine geschäftsführende Bundesregierung jetzt die Vorarbeiten treffen muss. Im Klimaschutzplan haben wir verabredet, eine Strukturwandelkommission einzusetzen, wozu ich selbstverständlich stehe. Das macht aber nur Sinn, wenn es dazu eine klare Richtungsentscheidung der gesamten geschäftsführenden Bundesregierung gibt. Ich halte es für sinnvoll und zielführend, in Kürze die Mitglieder der Kommission zum Kohleausstieg zu berufen und den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen der Kommission zum Kohleausstieg abzustecken. Ich bin dazu selbstverständlich auch als geschäftsführende Ministerin bereit. Politische und gesetzgeberische Schlussfolgerungen müssen selbstverständlich von der nächsten Bundesregierung und von diesem Parlament gezogen werden. Herzlichen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Barbara Hendricks. – Das war zwar deutlich zu lang, aber das Lob an Bonn rechne ich jetzt einmal nicht mit, weil das, glaube ich, alle nachvollziehen konnten. Bevor der nächste Redner kommt, wollte ich eigentlich Reinhold Robbe begrüßen. Jetzt ist er weg. Es war aber kein Phantom. Der nächste Redner hält seine erste Rede im Deutschen Bundestag. Es ist Karsten Hilse für die AfD-Fraktion. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Offensichtlich haben die Grünen das Thema „schneller Kohleausstieg“ in den letzten 24 Stunden wieder für sich entdeckt, ({0}) nachdem sie es in den Sondierungsgesprächen für eine Beteiligung an der Regierung bereits geopfert hatten. ({1}) Sie wollten Ihren jetzt wieder in den Vordergrund gebrachten schnellen Ausstieg aus der Kohle für den unbegrenzten Familiennachzug opfern. In dem Antrag nennen Sie Deutschland einen visionslosen Gastgeber. Ich möchte an Helmut Schmidt erinnern, der äußerte: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. ({2}) An den Visionen der Grünen sieht man, wie krank dieses Land in der Zwischenzeit ist, wie hier eine links-grüne Ideologie den gesunden Menschenverstand außer Kraft setzt. Niemand kann ein auch nur ansatzweise tragfähiges Konzept vorlegen, wie 234 Terawattstunden – Stand 2016 – aus der Kohleverstromung ersetzt werden sollen. Die sogenannte Energiewende ist eine Energiewende ins Nichts. Sie treibt den Strompreis für den Endverbraucher unnötig in die Höhe. Sie gefährdet die Versorgungssicherheit und führt letztendlich zu einer weiteren Deindustrialisierung Deutschlands. ({3}) Und natürlich verfehlt Deutschland seine Klimaschutzziele. Das kann auch gar nicht anders sein, weil mit dem sachlich unbegründeten Atomausstieg von 2011 der Kohleverstromung die Rolle des einzigen sicheren Rückgrats der Stromgrundlasterzeugung auferlegt wurde. ({4}) Die Grünen stellen in ihrem Antrag zu Recht fest, dass die geplante und als Staatsziel ausgerufene Senkung der Emissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 krachend verfehlt wird. ({5}) Bündnis 90/Die Grünen haben, wenn auch wohl unfreiwillig, den einzig wirksamen Pfad zur Erreichung ihrer Emissionssenkungsziele vorgegeben: die geplante Herbeiführung des Zusammenbruchs wichtiger Teile der deutschen Industrie. ({6}) Doch statt sich ehrlich zu diesem seit Jahren unerbittlich vorangetriebenen Vorgehen mit seinen unausweichlichen Konsequenzen zu bekennen, fordern sie noch mehr vom selben, nämlich den Kohleausstieg sofort einzuleiten, den Pariser Nonsenszielen oberste Priorität einzuräumen und der Globalen Allianz für den Kohleausstieg beizutreten, in der sich übrigens vorrangig Staaten zusammengefunden haben, deren Anteil an der Kohleverstromung niedrig bis marginal ist; Frau Dr. Weisgerber hatte das erwähnt. ({7}) Sie fürchten zudem, dass der weitere internationale Verhandlungsprozess, in dem es jetzt darauf ankommt, das Klimaschutzabkommen von Paris wirksam auszugestalten, gefährdet sei. Gefährdet ist aber zuallererst unsere deutsche Industrie als Basis unseres Wohlstandes. Mit einem Kohleausstieg setzen wir die Deindustrialisierung Deutschlands fort. Was wollen Sie eigentlich? Die Welt retten, ({8}) indem Sie Deutschland deindustrialisieren? Strompreisweltmeister werden, damit wir weniger Strom verbrauchen? Strommangel erzeugen und im selben Atemzug technologische Wunder vollbringen? Die volatilen erneuerbaren Energien von Wind und Sonne sind aufgrund ihrer immanenten Schwächen von Leistungsdichte und Unplanbarkeit unfähig, die Kohlekraftwerke zu ersetzen, egal mit wie viel Windrädern wir deutsche Kulturlandschaften verschandeln. ({9}) Es scheitert am Speicher- und Flächenproblem. Das wissen auch Sie. Wie Frau Weisgerber erwähnt hat, ist der Anteil Deutschlands an den weltweit einsparbaren CO 2 -Emissionen marginal. Wer da von einem wichtigen Beitrag Deutschlands zur Senkung der CO 2 -Emissionen weltweit redet, um irgendwelche utopischen Klimaziele zu erreichen, will oder kann nicht rechnen. ({10}) Er gefährdet zudem absichtlich den Wohlstand und die Zukunft unseres Landes sowie Tausende von wertschöpfenden Arbeitsplätzen im Kohletagebau und in der Kraftwerkstechnik, zum Beispiel in der Lausitz, aber auch in anderen Teilen Deutschlands. Allein in der Lausitz, wo mich die Menschen als ihren direkten Wahlkreisvertreter in dieses Parlament entsandt haben, stehen circa 35 000 Arbeitsplätze von direkt oder indirekt in der Kohleindustrie Beschäftigten zur Disposition. Wir fordern daher, diesen Antrag abzulehnen, und werden das als AfD auch tun. ({11}) Deutschland hat wahrlich andere, viel größere und dringlichere Baustellen, als einem solchen Irrweg weiter hinterherzurennen. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Der nächste Redner in der Debatte – auch er hält seine erste Rede – ist Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege von der AfD hat von einem kranken Land und von Pariser Nonsenszielen gesprochen. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Es ist auch ein bisschen traurig und beschämend, so in eine Debatte einzutreten, die auch aus unserer Sicht extrem wichtig ist und hier prominent geführt werden muss. ({0}) Ich danke den Grünen für diesen Antrag, der die Gelegenheit bietet, mit ein paar Unklarheiten aufzuräumen. Bei COP 23 ging es eben nicht um die nationalen Ziele für 2020, sondern um die Ziele für 2030 und 2050. ({1}) Außerdem schreiben die Grünen in ihrem Antrag, dass internationales Reden und nationales Handeln auseinanderklaffen. Dabei sind es doch gerade die Diskussionen um das nationale Klein-Klein, die den Blick auf das große Ganze verstellen. Ich denke, auch Sie von den Grünen stimmen mir zu, dass es dem Klima egal ist, wo auf der Welt ({2}) welche Tonne CO 2 in die Luft geblasen wird. Wir sind uns – da bin ich mir sicher – einig: Die weltweiten Emissionen sind zu hoch. Doch während Sie meinen, dieses Problem mit einer Art Klimanationalismus bekämpfen zu können, denken wir bei diesem Thema global. ({3}) Was nützt es denn, wenn wir in Deutschland unsere Emissionen verringern und, so wie es bisher der Fall ist, jede Tonne, die wir einsparen, durch den europäischen Emissionshandel in unseren Nachbarländern zusätzlich produziert wird? Offensichtlich gar nichts. Diese Erkenntnis haben wir Freien Demokraten nicht exklusiv, sondern das ist auch die Position des Weltklimarates. Dessen fünften Sachstandsbericht hat die Bundestagsfraktion der Grünen in einer Pressemitteilung wörtlich als Handlungsauftrag an die Bundesregierung bezeichnet. Darin steht: Wenn ein „Cap and Trade“-System eine verbindliche Obergrenze hat, haben andere Maßnahmen wie Subventionen für erneuerbare Energien keine weiteren Auswirkungen auf die Emissionsminderung. – Damit ist natürlich das von den Grünen so hochgepriesene EEG gemeint. Und nun wollen Sie mit einem übereilten Ausstieg aus der Braunkohle den gleichen Fehler erneut begehen, ({4}) worunter ganz besonders – das muss doch klar sein – die sozial Schwachen unserer Gesellschaft leiden werden; denn steigende Energiepreise treffen Menschen mit geringem Einkommen naturgemäß deutlich härter. Neben der Bezahlbarkeit von Energie ist natürlich auch die Versorgungssicherheit ein entscheidender Faktor, den Sie, liebe Grüne, öfter vergessen, der aber gerade für eine große Industrienation wie Deutschland unverzichtbar ist. Doch das alles muss nicht sein; denn mit den richtigen Maßnahmen, von denen ich Ihnen gerne ein paar nenne, können wir den Klimawandel vernünftig bekämpfen. Auf internationaler Ebene müssen wir dazu vor allem den Emissionshandel voranbringen. Beispielhaft können wir die Zahl der Zertifikate schneller abbauen oder die 900 Millionen Zertifikate aus dem Backloading-Beschluss endgültig aus dem Markt nehmen oder aus der MRS, was zur Stabilisierung des Preises führen würde. ({5}) Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Punkte. Der Kollege von der AfD kommt aus der Lausitz. Liebe Grüne, wenn Sie wirklich die CO 2 -Emissionen in Deutschland reduzieren wollen – das ist Ziel des Klimaschutzplans 2050 –, dann müssen Sie endlich auch Technologien wie das Speichern von CO 2 über CCS und insbesondere CCU akzeptieren, ({6}) weil das der Weg sein wird, unsere Klimaschutzziele sozialverträglich und kompetent umzusetzen. ({7}) Meine Damen und Herren, wir als Freie Demokraten können dem Antrag der Grünen, wie er hier vorliegt, auf keinen Fall zustimmen und plädieren für eine Überweisung an den Hauptausschuss. Dort kann dann gerne auch über die Globale Allianz für den Kohleausstieg diskutiert werden, die von Großbritannien angeführt wird. Dann können Sie gerne erklären, ob das neue Vorbild der Grünen ein Land ist, das gerade ein AKW ans Netz bringt. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lukas Köhler. – Nächster Redner – auch er hält seine erste Rede im Bundestag –: Lorenz Gösta Beutin für Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Nicht nur für meine Generation ist der Kampf gegen den Klimawandel ein entscheidendes Thema. Was wir in den letzten Wochen in Sachen Klimaschutz bei den Jamaika-Sondierungen erleben mussten, ist ein Trauerspiel. Was wir brauchen, ist echter Klimaschutz. Wir spüren in Deutschland die Auswirkungen des Klimawandels. Aber für die Menschen, die im Sudan, in Bangladesch oder auf den Fidschi-Inseln leben, ist er längst eine Überlebensfrage. ({0}) Wir können uns hierzulande Klimaschutz in allen Bereichen locker leisten – erneuerbare Energien sind längst billiger als fossile –, ({1}) ohne dass unser Wohlstand gefährdet ist. Ganz im Gegenteil: Wirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur haben vorgerechnet, dass mindestens 7 Gigawatt Kohlekraft vom Netz gehen könnten. Der Ausstieg aus Kohle, aus Öl, aus Gas ist machbar ohne Stromausfälle oder Deindustrialisierung, ({2}) und zwar sofort, ohne dass nur eine einzige Glühbirne im Lande flackern würde. Die neue Wirklichkeit ist längst nicht mehr so, wie es die Front der Klimarelativierer von FDP, Union und GroKo-SPD immer wieder an die Wand malt. Von der AfD wollen wir hier lieber nicht reden; denn wir wissen: Neben ihren rassistischen Positionen ({3}) haben die Rechtsradikalen nicht nur Klimawandelleugnung im Angebot, sie haben auch die rechtspopulistischen Positionen eines Donald Trump gepachtet. ({4}) Als Linke übernehmen wir Verantwortung. Wir stehen für umfassenden Klimaschutz, für einen verbindlichen Kohleausstieg ein. Wir fordern einen Strukturwandelfonds in Höhe von 250 Millionen Euro jährlich. ({5}) Wir wollen für die Menschen in den Braunkohleregionen in Ost und West, für Arbeit und Infrastruktur einstehen. Es darf keine Zeit mehr verloren werden mit Koalitionshickhack. Deshalb ist der Antrag der Grünen im Grundsatz richtig, auch wenn wir wissen, dass die Grünen in den Sondierungsgesprächen bereit waren, all ihre klimaschutzpolitischen Positionen für den Machterhalt über Bord zu werfen. ({6}) Auf der UN-Weltklimakonferenz in Bonn hatte ich Gelegenheit, mit Aktivistinnen aus den Philippinen und Indonesien zu sprechen. Sie haben mir gesagt: Kämpft mit uns, damit unsere Heimat, unsere Häuser, unsere Lebensgrundlagen nicht untergehen. ({7}) Es geht um Klimagerechtigkeit. Dürren, Stürme, den Meeresanstieg haben wir im reichen Norden verursacht, nicht die Menschen im globalen Süden. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die unter dem Klimawandel leiden, die krank werden, früher sterben, weil sie in der Nähe von Kohlekraftwerken wohnen, deren Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, weil ihnen von den Lindners und Gaulands vorgegaukelt wird, sie könnten auf ewig in Kohletagebauen oder in Kohlekraftwerken leben – Entschuldigung, arbeiten. ({8}) Linke Politik hat die Verpflichtung, diesen Menschen eine ehrliche Perspektive zu geben. ({9}) Klimagerechtigkeit bedeutet, dass sich die Industrie an den Kosten für die Energiewende beteiligt. Statt ihr Milliarden an Stromrabatten hinterherzuwerfen, bezahlt von den Privathaushalten, muss dafür gesorgt werden, dass niemand mehr wegen Energiearmut im Dunkeln sitzt. ({10}) Wer in unserer Gesellschaft Klimagerechtigkeit will, wer das Pariser Klimaschutzabkommen ernst nimmt, muss die Wirtschaft nach dem Menschen ausrichten. Wir wollen keinen Klimawandel, wir wollen einen Systemwandel. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächster Redner: Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf der Klimakonferenz in Bonn gesprochen. Sie hat dort den Klimawandel als eine zentrale Herausforderung für die Menschheit bezeichnet. Sie hat von einer Schicksalsfrage gesprochen. Was sie damit meint, das sieht man, wenn man sich zum Beispiel die Situation der Inselstaaten anschaut. Die Fidschi-Inseln standen in besonderer Weise im Mittelpunkt der Konferenz, weil die Fidschis die Präsidentschaft übernommen hatten. Wenn man bedenkt, dass es Inseln gibt, die von Überflutung bedroht sind, dass es dort Menschen gibt, die schon heute ihre Heimat verloren haben, deren Existenz, deren Inseln, deren Heimat durch den Klimawandel bedroht sind, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Umsiedlungen gibt, wenn man also weiß, dass es Menschen gibt, die wegen des Klimawandels flüchten – es gibt Menschen, die zu Klimaflüchtlingen werden –, dann muss man sagen: Wer etwas für die Bekämpfung der Fluchtursachen tun möchte, der muss stark für Klimaschutz sein. ({0}) Es ist ausgemachter Unsinn, wenn hier gesagt wird, beim Klimaschutz gehe es um eine linksgrüne Ideologie. Es geht hier nicht um eine Ideologie, sondern es geht um die Bewahrung der Schöpfung, es geht um christliche Werte und um deren Bewahrung. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Es wurde gesagt, Deutschland hat ganz andere Probleme. Dem muss ich widersprechen. Ja, Deutschland hat auch andere Probleme, aber der Klimawandel ist auch in unserem Land eine zentrale Herausforderung. Dazu muss man nur mit den Landwirten sprechen, die sagen: Ja, auch früher gab es extreme Ereignisse, auch früher gab es Naturkatastrophen, aber in einem Jahr den Hagel, im anderen Jahr eine Dürre und im dritten Jahr, wie in diesem Jahr, die Frostschäden, unter denen die Obstbauern zu leiden hatten, diese Häufung hatten wir früher so nicht, also tut etwas gegen den Klimawandel. Es geht um unsere wirtschaftlichen Existenzen. ({1}) Damit ist die Aufgabe, vor der wir stehen, beschrieben. Selbstverständlich haben wir den Wandel so zu gestalten, dass unser Industriestandort erhalten bleibt, dass wir hier Arbeit haben, dass die Wirtschaft florieren kann und dass die sozialen Fragen im Fokus bleiben, dass die soziale Balance gewahrt wird und dass Strukturbrüche vermieden werden. Genau mit diesen Fragen hat man sich in den Sondierungen zu Jamaika in den letzten Wochen beschäftigt. Ich will sehr deutlich sagen: Es war richtig, dass auch diese Fragen im Mittelpunkt gestanden haben. Die Ministerin hat vorhin ausgeführt, welche Vorschläge zum Thema Kohle auf dem Tisch lagen. Ich will ganz deutlich sagen: Egal wer Verantwortung tragen wird, egal wer regieren wird, er darf nicht hinter den Vorschlag zurückfallen, der hier schon auf dem Tisch gelegen hat. ({2}) In dem vorliegenden Antrag der Grünen wird der Kohleausstieg gefordert. Selbstverständlich ist jedem klar: Wenn wir für Dekarbonisierung eintreten – das hat Deutschland auf dem Gipfel in Elmau getan –, so ist Dekarbonisierung mit Kohle nicht zu machen. Unsere Glaubwürdigkeit hängt in der Tat davon ab, dass wir alles unternehmen, um unsere selbstgesetzten, ambitionierten Klimaziele zu erreichen. Das müssen wir tun. ({3}) Deshalb brauchen wir für die Kohle ein Sofortprogramm, mit dem wir das, was jetzt an Vereinbarungen auf dem Tisch liegt, in den nächsten Jahren Stück für Stück erreichen: zuerst die Ziele für 2020 und dann mit einem Senkungspfad die Ziele für 2030. Wir müssen Schritt für Schritt raus aus der Kohle; sonst werden wir die Herausforderungen des Klimaschutzes nicht meistern. ({4}) Ausdrücklich möchte ich den Rednern recht geben – namentlich nenne ich die Kollegin Anja Weisgerber –, die sagen: Das ist nur ein Aspekt; wir müssen auch in den anderen Sektoren vorankommen. Daher will ich auch auf die dementsprechenden Verhandlungsergebnisse verweisen, die in dieser Form nicht umgesetzt werden, die inhaltlich aber trotzdem richtig bleiben. Wenn wir aus den fossilen Energien aussteigen, müssen wir Alternativen schaffen, und die erneuerbaren Energien sind der richtige Weg, um Deutschland wirtschaftlich nachhaltig aufzustellen. Es ist richtig, den Bereich der erneuerbaren Energien kosteneffizient auszubauen und diesen Ausbau zu beschleunigen. Deshalb müssen wir Speichertechnologien fördern und die Netze ausbauen. Wir müssen die Energieeffizienz ganz neu in den Blick nehmen. Das haben wir uns seit langem vorgenommen. Wir haben da schon einiges auf den Weg gebracht; aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um endlich die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung gemeinsam anzugehen. ({5}) Das muss zwischen Bund und Ländern gelingen. In diesem Haus scheint es bei dieser Frage einen breiten Konsens zwischen vielen Fraktionen zu geben. Daher sollte es jetzt endlich gelingen, auch die Länder für dieses gemeinsame Vorhaben zu gewinnen. Es geht auch um die anderen Sektoren, um Verkehr und Landwirtschaft. Es geht darum, wie wir mit Maßnahmen in all diesen Sektoren unsere Klimaziele 2030 und die langfristigen Ziele erreichen. Diese besondere Herausforderung, vor der wir stehen, müssen wir gemeinsam angehen. Auf diese Arbeit freue ich mich, ganz egal, in welcher Konstellation sie geleistet wird. Das ist nämlich eine parteiübergreifende Aufgabe. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Andreas Jung. – Letzter Redner in der Debatte: Bernd Westphal für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Relevanz dieses Themas ist, denke ich, allen klar. Ich schränke diese Aussage ein: Es gab in dieser Debatte Redner, die das noch nicht verstanden haben, die hier den Trump gemacht haben. Ich denke, zu allen Themenfeldern, die hier angesprochen worden sind, haben wir in diesem Hause viele Diskussionen über den richtigen Weg geführt. Jedem ist klar, dass Deutschland eine besondere Verantwortung trägt und einen Beitrag dazu leisten muss, dass die Klimaziele erreicht werden. Dieser Antrag trägt dazu bei, dieses Thema hier noch einmal auf die Tagesordnung zu bringen. Ich will allerdings auch sagen: Er lässt viele Aspekte, die erwähnt werden müssten, unerwähnt, und in einigen Punkten spiegelt er die energiepolitische Realität nicht wider. Die vielen Innovationen, auch aus Deutschland, in den Bereichen energieeffizienter Anwendungen und Erzeugung erneuerbarer Energien werden kaum erwähnt. Ich glaube, Sie setzen nicht bei dem Beitrag an, den Deutschland im Bereich der Energiewende schon geleistet hat. Mit dem Strommarktgesetz – das ist schon erwähnt worden – und dem Energiewirtschaftsgesetz haben wir bereits festgeschrieben, dass Braunkohlekraftwerke in die Sicherheitsreserve kommen und damit vom Markt verschwinden. Das entspricht einem erheblichen Einsparpotenzial von über 12 Millionen Tonnen CO 2 . Ich will hier noch einmal sagen: Wenn man sich nur auf die Braunkohle konzentriert, zeichnet man ein falsches Bild. Wenn man die anderen Sektoren, die genannt worden sind, einbezieht, muss man erkennen, dass die Braunkohle der Bereich ist, der am stärksten dazu beigetragen hat, dass Deutschland diese CO 2 -Kurve überhaupt erreichen konnte. ({0}) Das liegt vor allen Dingen an der Braunkohleindustrie in den ostdeutschen Ländern, die einen dementsprechenden Beitrag geleistet hat. In dem Antrag fehlt das Thema Strukturwandel. Daran merkt man, dass den Grünen der sozialpolitische Kompass abhandengekommen ist. Wenn es Kompetenz in Sachen Strukturwandel gibt, dann liegt sie bei der SPD. ({1}) Wir haben das nicht nur bei dem Strukturwandel im Steinkohlenbergbau bewiesen, sondern auch in vielen anderen Branchen. Das heißt, Verantwortung zu tragen für die Region, für die vielen Menschen, für die Kumpels, die dort ihren Arbeitsplatz haben. Das muss mitgedacht werden. Das können Sie ja reklamieren, aber das ist zumindest nicht in Ihrem Antrag beschrieben. Deshalb ist Nachhaltigkeit immer eine Säule von sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten. Dies fehlt in diesem Antrag völlig. ({2}) Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir mit dem Klimaschutzplan die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Regionalentwicklung“ ins Leben gerufen haben. Ich finde, es ist eine kluge Idee, Akteure an einen Tisch zu holen und zu beraten, wie der weitere Weg gestaltet werden kann. Dies ist aber keine Kommission, die sich mit der Überschrift „Kohleausstieg“ befasst, ({3}) sondern hier geht es darum, Aspekte aufzuzeigen, um im Konsens einen klaren Pfad aufzuzeigen, wie der Strukturwandel erfolgreich gestaltet werden kann. Ich möchte einen letzten Aspekt ansprechen, weil die Grünen in ihrem Antrag die Globale Allianz für den Kohleausstieg erwähnt haben. Ich glaube, dass die Länder, die dort erwähnt worden sind, die auf Kernenergie setzen, ({4}) die bei der Erdgasförderung eine Fracking-Technologie anwenden, die wir hier in Deutschland in der Form nicht akzeptieren, sicherlich nicht beispielgebend für den Weg der Energiewende in Deutschland sein können. Von daher freue ich mich auf die lebhafte Debatte, die wir über die Energiewende noch führen werden. Wir sind uns der Verantwortung bewusst. Ich denke, auch die Kohle wird zukünftig ihren Beitrag leisten müssen, um die Energiewende so zu gestalten, dass wir international Nachahmer dafür finden. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Westphal. – Damit schließe ich die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/83 an den Hauptausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.