Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Guten Morgen! Ich freue mich, dass wir heute in erster Lesung das neue Elterngeldgesetz beraten und damit einer der bekanntesten und beliebtesten Familienleistungen in Deutschland noch einmal zu einer Verbesserung verhelfen können.
Rund 2 Millionen Familien nutzen das Elterngeld in Deutschland. Mit ihm stärken wir die wirtschaftliche Stabilität von Familien. Wir geben ihnen in den ersten Lebensmonaten ihres Kindes Sicherheit und vor allem Zeit. Zugleich trägt diese Leistung einem gesellschaftlichen Wandel Rechnung, und das seit über zehn Jahren. Denn immer mehr Eltern wollen sich die Erwerbsarbeit und die familiäre Sorgearbeit partnerschaftlicher aufteilen. Seit seiner Einführung im Jahr 2007 hat das Elterngeld dazu beigetragen, dass mehr Mütter und Väter diesen Wunsch auch in die Tat umgesetzt haben. Heute nutzen rund 40 Prozent der Väter das Elterngeld – mit steigender Tendenz.
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An diese Erfolge wollen wir anknüpfen und das Elterngeld noch besser aufstellen: Wir sorgen für noch mehr Partnerschaftlichkeit und Flexibilität. Wir entlasten Eltern, deren Kinder zu früh geboren worden sind. Und wir vereinfachen die Abläufe und entlasten damit Eltern, Elterngeldstellen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. So bleibt den Eltern mehr Zeit für das Wichtigste, für die Kinder.
Mehr Partnerschaftlichkeit, mehr Flexibilität – mit dem Elterngeld Plus können Eltern doppelt so lange Elterngeld beziehen und parallel leichter wieder in den Beruf einsteigen. Den Partnerschaftsbonus erhalten sie zusätzlich, wenn sich beide vornehmen, vier Monate parallel in Teilzeit zu arbeiten und sich somit Erwerbs- und Familienarbeit gerechter partnerschaftlich aufzuteilen.
Manchmal aber durchkreuzt das Leben die Pläne, zum Beispiel wenn ein Partner plötzlich schwer erkrankt, wenn in einem Betrieb auf einmal viel mehr gearbeitet werden muss oder wenn Teilzeit nicht wie geplant eingehalten werden kann. Künftig sollen Eltern dann nicht mehr in die Lage kommen, den Partnerschaftsbonus zurückzahlen zu müssen. Wir wollen ihnen auch mehr Flexibilität geben, wenn die Pläne anders verlaufen als ursprünglich gedacht. Wir erweitern den Stundenkorridor auf 24 bis 32 Stunden pro Woche. Das ermöglicht Eltern, Müttern und Vätern, zum Beispiel eine Viertagewoche und gleichzeitig die Inanspruchnahme des Partnerschaftsbonus. – Wir stellen also sicher, dass der Partnerschaftsbonus nicht zurückgezahlt werden muss, wenn ein Partner aufgrund von Krankheit, anders als geplant, nicht arbeiten kann. Zudem können Eltern diesen Partnerschaftsbonus flexibel zwischen zwei und vier Monaten nehmen und sich auch später noch umentscheiden, wenn etwas dazwischenkommt.
Außerdem sorgen wir mit dieser Reform dafür, dass Familien, die in der besonders schwierigen Situation sind, dass ihr Kind viel zu früh vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen ist, Unterstützung erhalten. Wenn ein Kind sechs Wochen oder mehr zu früh geboren wird, erhalten Eltern einen zusätzlichen Monat beim Elterngeld. Wir nennen diesen Monat den „Frühchenmonat“. Damit wollen wir dafür sorgen, dass sich Eltern in Ruhe um ihr Kind kümmern können, dass sie die Entwicklung, die ein Kind braucht, wenn es zu früh gekommen ist, ein Stück weit aufholen können. Dafür wird das Elterngeld gewährt.
Wir vereinfachen die Dinge. Wir nehmen mit dieser Reform das Elterngeld auch hinsichtlich einer Entbürokratisierung in den Blick. In Zukunft soll es deshalb die Ausnahme sein, dass Eltern Nachweise über die Zahl der Arbeitsstunden einreichen müssen, wenn sie während des Elterngeldbezuges in Teilzeit gearbeitet haben. Wir schaffen die Möglichkeit für Eltern, auf Wunsch als Nichtselbstständige behandelt zu werden, wenn sie nur geringe Nebeneinkünfte aus selbstständiger Arbeit erzielt haben. Damit stellen wir sicher, dass ihre tatsächliche Lebenssituation als Angestellte bei der Berechnung des Elterngeldes besser berücksichtigt wird.
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Das alles dient dazu, starke Familien in einem starken Land zu unterstützen, dazu, dass Frauen wie Männer Kinder haben können, sich um die Familie kümmern können, aber auch im Beruf erfolgreich sein können. Wir machen es Vätern und Müttern leichter, ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten. Und das ist wichtig für eine moderne Gesellschaft und für ein zukunftsfähiges Land. Mit dieser Politik, mit dieser Entscheidung heute, mit diesem Gesetz geben wir Eltern das Signal: Sie können sich auf uns verlassen, auf eine Familienpolitik, die ihre Bedürfnisse beachtet und ihnen zur Seite steht. Das ist gut für Deutschland.
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Ich freue mich auf die Beratungen, freue mich, dass wir den Gesetzentwurf endlich im parlamentarischen Verfahren haben. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Johannes Huber, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Mitbürger! Die meisten Eltern wünschen sich eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Zeit für ihre Kinder, aber auch Zeit für den eigenen beruflichen Weg. Das Elterngeld wurde mit dem Ziel eingeführt, die wirtschaftliche Stabilität von Familien und Müttern zu stützen. Studien zeigen, dass dies für das erste Lebensjahr des Kindes erreicht wurde. Weil das Elterngeld vor allem für diejenigen Paare attraktiv ist, bei denen beide Elternteile berufstätig sind, bestehen also Anreize für die Familie und für den Beruf. Diese Grundidee begrüßen wir deshalb ausdrücklich.
Es gibt aber erheblichen Diskussionsbedarf über den Partnerschaftsbonus. Dieser soll zwar nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung durch eine größere Flexibilität bei den Arbeitswochenstunden besser nutzbar gemacht werden, was im Gedankenmodell des Partnerschaftsbonus tatsächlich eine Verbesserung darstellt. Paare erhalten diesen aber nur, wenn sie beide ihre Arbeitszeiten anpassen und somit gleichermaßen in die Betreuung des Kindes eingebunden sind. Dies greift aus unserer Sicht in die elterliche Freiheit ein und subventioniert nur jene Eltern, die sich mit der starren und ideologischen Aufteilung anfreunden können. Daher ist der Partnerschaftsbonus von der Konstruktion her abzulehnen.
Wir begrüßen zwar die Möglichkeit, dass beide Elternteile sich die Zeit nehmen können,
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wollen dies jedoch nicht zur Voraussetzung machen. Aus diesem Grund wäre auch verwaltungstechnisch die einfachste und sauberste Lösung, das Elterngeld als solches zu verlängern, und zwar unabhängig von der partnerschaftlichen Aufteilung.
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Das zieht nämlich den Staat aus diesem höchstpersönlichen Lebensbereich zurück, schafft wahre Entscheidungsfreiheit und wäre vor allem im Interesse des Kindes.
Eltern von Frühchen, die mindestens sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt kommen, sollen nach der Bundesregierung künftig pauschal einen Monat länger Anspruch auf Basiselterngeld bzw. Anspruch auf zwei weitere Monate Elterngeld Plus erhalten. Wir von der AfD könnten uns sogar vorstellen, dies um noch einen zusätzlichen Monat zu erweitern, um der besonderen Belastung Rechnung zu tragen und einen erfolgreichen Start in das Leben zu unterstützen.
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Um die finanzielle Belastung im Rahmen des Elterngeldbezugs generell abzumildern, ist dringend ein größerer Wurf als der von der Bundesregierung geboten, nämlich aus unserer Sicht sogar eine Erhöhung des Elterngeldes bis hin zum skandinavischen Vorbild. Höhere Lebenshaltungskosten durch die ideologisch verursachte Verknappung des Wohnraums sowie steigende Preise für Energie und Güter des täglichen Bedarfs machen das notwendig, damit sich Eltern die gemeinsame Zeit mit den Kindern schlicht leisten können.
Wenn es Ihnen wirklich um Gleichberechtigung ginge, würden Sie gutausgebildeten Frauen erste Familiengründungen ermöglichen, also derjenigen Gruppe, bei der die sogenannte Fertilitätslücke zwischen Kinderwunsch und Kinderzahl am größten ausfällt. Diese leistungsbereite Gruppe wollen wir von der AfD familienpolitisch ganz besonders fördern.
Der Bundestag hat zuletzt grundlegend festgehalten, dass das ehrenamtliche Engagement von Bürgern unseres Staates große Anerkennung verdient. Eine ehrenamtliche Tätigkeit führt aber dazu, dass man weniger Elterngeld erhält, als wenn man ausschließlich einen Beruf als Angestellter ausüben würde. Daher hat bereits der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages der Bundesregierung mitgegeben, Entschädigungen aus Ehrenämtern bei Leistungen nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz nicht mehr als selbstständige Einkünfte bei der Berechnung des Elterngeldes heranzuziehen.
Wir haben jetzt einige Vorschläge auf den Tisch gelegt. Liebe Frau Giffey, machen Sie was aus unseren Vorschlägen!
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zeit für Familie – das ist, worum es uns auch heute geht, wenn wir wieder einmal die beliebte Familienleistung, das Elterngeld und die Elternzeit, flexibilisieren und anpassen.
Das Elterngeld und die Elternzeit ist ein Teil unseres Gesamtkonzepts für Familien, das daraus besteht, dass wir zum einen die finanziellen familienpolitischen Leistungen erhöhen – in dieser Legislaturperiode ganz besonders stark –, dass wir zum Zweiten hochwertige Betreuungsangebote schaffen, flexibel und den Wünschen der Eltern angemessen, und dass wir zum Dritten mithelfen, gemeinsam mit den Unternehmerinnen und Unternehmern eine familienbewusste Arbeitswelt zu schaffen, und mit unseren staatlichen Leistungen wie dem Elterngeld die Kombination aus Berufstätigkeit und Familie, Kinderbetreuung und Erziehung vereinfachen.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf packen wir etwas an, das in Gesprächen mit jungen Eltern ganz oft geäußert wurde. Wir machen möglich, dass man die Partnermonate noch flexibler als bisher wählen kann. Und wir passen den Stundenkorridor, der bisher zwischen 25 und 30 Stunden lag, so an, dass er besser zur Arbeitswelt passt. Viele Beschäftigte haben nach wie vor einen Achtstundentag, und da macht es viel mehr Sinn, einen Stundenkorridor von 24 bis 32 Stunden zu wählen.
Und ja, auch für das wichtige Thema Frühchen haben wir uns etwas vorgenommen, das wir uns im gesetzgeberischen Verfahren noch mal genau anschauen werden. Wir finden es wichtig, dass Paaren die Zeit, die sie nicht haben, weil das Kind früher geboren worden ist, später zur Verfügung steht, um die Entwicklung des zu früh geborenen Kindes bestmöglich zu begleiten.
Das sind wichtige Punkte, die immer wieder in Gesprächen von den Eltern angesprochen worden sind, und das bringen wir hiermit auf den Weg.
Das reiht sich gut ein in die Politik, die wir in dieser Legislaturperiode zum Schwerpunkt machen. Ich will nur noch mal daran erinnern: Wir haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Kinderfreibetrag erhöht. Wir haben den Freibetrag für Alleinerziehende erhöht. Wir haben das Baukindergeld eingeführt, das wir jetzt flexibilisieren, sodass es noch bis März beschieden werden kann. Wir haben außerdem das Gute-KiTa-Gesetz eingeführt. 5,5 Milliarden Euro, um Länder und Kommunen bei der Qualität ihrer Kinderbetreuung zu unterstützen! Und wir haben zusätzlich noch draufgesattelt beim Ausbau der Kinderbetreuung.
Aktuell haben wir ein weiteres Vorhaben in der Planung, nämlich die Nachmittagsbetreuung an den Grundschulen. Da hakt es noch in den Gesprächen zwischen Bund und Ländern; das will ich nicht verhehlen. Wir wollen, dass alle Kommunen es sich leisten können, eine Nachmittagsbetreuung für die Kinder zur Verfügung zu stellen. Wir legen als Bund 3,5 Milliarden Euro auf den Tisch. Wir steigen sogar in die Betriebskosten ein und flexibilisieren den Einstieg in den Restanspruch für die Nachmittagsbetreuung.
So viele Angebote in einem Bereich, für den originär die Kommunen und die Länder zuständig sind. Ich verstehe nicht, warum die Länder da nicht einschlagen. Das ist die letzte Chance, diese Gelegenheit zu nutzen. 3,5 Milliarden Euro, das ist wirklich eine Ansage.
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Mit dem Geld, das wir auf den Tisch legen, und mit der Flexibilisierung unserer familienpolitischen Leistungen wollen wir Eltern gerade in diesen schweren Zeiten unterstützen. Es wird oft gesagt: Na ja, in der Krise haben es die Eltern besonders schwer. – Und das stimmt! Wir tun aber vieles, um die Eltern gut durch diese Krise zu bekommen. Wir sagen zum einen: Es soll bei den familienpolitischen Leistungen wie etwa dem Elterngeld keiner finanzielle Nachteile haben, weil er Kurzarbeitergeld bezieht. Das haben wir bereits im Sommer beschlossen, und das führen wir fort. Wir haben zum Zweiten den Notfall-KiZ, den Notfallkinderzuschlag, eingeführt, der dazu dient, dass Familien, die ein ganz kleines Einkommen haben, pro Kind zusätzliche finanzielle Mittel – und dadurch auch Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets – beantragen können und so eine große finanzielle Entlastung erfahren. Das nützt gerade den Familien, die arbeiten, aber ein kleines Einkommen haben. Diese Politik wollen wir fortsetzen.
Uns ist es wichtig, die Familien bestmöglich durch diese Krise zu bekommen und gleichzeitig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf jetzt und auch in den nächsten Jahren zu verbessern, damit die Familien ihren Alltag so gestalten können, wie sie es am besten finden. Wir wollen keine Vorgaben machen. Wir wollen Wahlfreiheit, wir wollen Flexibilität, und wir wollen vor allem, dass jeder Familie, auch den Alleinerziehenden, die bestmögliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt. Das ist unsere Politik. In dieser Legislaturperiode haben wir einen besonderen Schwerpunkt darauf gelegt. Wir stehen dafür, dass wir diese Politik auch fortsetzen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Grigorios Aggelidis, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich, muss man sagen. 2018 hatte schon Frau Barley Änderungen beim Elterngeld, bei dieser guten und sehr wichtigen Leistung für Eltern und Kinder, versprochen. Dreimal haben Sie die Vorstellung des Entwurfs verschoben, und fast drei Jahre später ist leider auch klar: Der große Wurf ist es nicht. Der Gesetzentwurf ist leider nur ein halbherziges Update für das Elterngeld; denn es bleiben zahlreiche Ungerechtigkeiten und Konstruktionsfehler. Eltern werden weiterhin Monate auf die Auszahlung warten, weil Sie die Chancen der Digitalisierung zu wenig nutzen. Eine wirkliche Modernisierung für eine freie Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit schaffen Sie nicht, und für viele Familien bleiben leider große finanzielle Risiken.
Im Detail: Trotz der finanziellen Risiken, trotz der jetzigen Situation lassen Sie bei der Berechnung des Elterngeldes für den Zeitraum vor der Geburt das Kranken- und Insolvenzgeld aus. Das bedeutet, dass Familien, die unverschuldet in diese Situation kommen, im Worst Case nicht nur den Job los sind, sondern dann auch noch beim Elterngeld massive Einbußen hinnehmen müssen. Wir fordern Sie auf: Berücksichtigen Sie endlich Insolvenz- und Krankengeld bei der Berechnung des Elterngeldes, damit Familien nicht die finanzielle Basis entzogen wird, sondern sie finanzielle Sicherheit in einer so schweren Zeit haben!
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Die Regelung zu den Frühgeburten haben Sie angesprochen. Ich muss ehrlich sagen: Ich verstehe nicht, warum Sie unsere Vorschläge nicht aufnehmen. Sie schaffen eine starre Vierwochenregel für all die Kinder, die sechs Wochen oder länger zu früh geboren worden sind. Das bedeutet: Bei Kindern, die fünf Wochen und sechs Tage zu früh geboren sind, gibt es nicht einen einzigen Tag länger Elterngeld. Genauso ist es bei Familien, in denen die Kinder im Extremfall vielleicht sogar acht Wochen oder früher geboren worden sind: Auch da bleibt es bei den zusätzlichen vier Wochen. Wir fordern Sie auf: Schaffen Sie hier eine familien- und vor allem eine kinder- und elternfreundliche Lösung! Sehen Sie zu, dass Sie sich an der Differenz zwischen dem tatsächlichen Geburtstermin und dem errechneten Geburtstermin orientieren! Das würde Sicherheit schaffen.
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Zum Thema Digitalisierung. Ja, Sie schaffen tatsächlich eine digitale Beantragung. Nutzen Sie doch bitte die Chancen der Digitalisierung, weil Familien teilweise monatelang auf das Elterngeld warten! Digitalisieren Sie den ganzen Prozess, vor allem die Berechnung des Elterngeldes, damit Eltern nicht monatelang darauf warten müssen! Und vor allem: Geben Sie, solange Sie das nicht geschafft haben, den Kommunen die Möglichkeit, mit Teil- oder Abschlagszahlungen die Eltern zu unterstützen! Das wäre eine wirklich gute Hilfe für die Eltern.
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Zum Thema Pflegefamilien möchte ich auch was sagen. Für uns sind Pflegefamilien Familien, die einen wichtigen Beitrag für die Kinder leisten, die es besonders schwer haben. Dennoch werden diese Familien schlechtergestellt. Wir fordern Sie auf: Weiten Sie den Anspruch auf Elterngeld auf Pflegeeltern aus!
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Dabei ist das Pflegegeld auf den Elterngeldanspruch anzurechnen.
Ich komme zu einem für uns Liberale ganz wichtigen Punkt, nämlich zur freien, zur selbstständigen Wahl der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Immer wieder ist zu hören, dass Sie das ernst nehmen wollen. Vatermonate sollen dabei helfen; aber das tun sie leider nicht so sehr, wie es sein sollte. Denn aktuell ist der finanzielle Anreiz gegeben, dass derjenige Partner oder diejenige Partnerin, der bzw. die das niedrigere Einkommen hat, auf die entsprechende Arbeitszeit sozusagen verzichtet, um den Einkommensverlust für die Familie möglichst gering zu halten.
Mein Kollege Christian Dürr hat Ihnen schon eine besonders gute Idee dazu vorgebracht, die wir natürlich unterstützen und genauso fördern: Die Entscheidung, wer das Elterngeld bezieht, muss von den unterschiedlichen Einkommenshöhen unabhängig sein. Deswegen: Schaffen Sie analog zum Ehegattensplitting bitte auch ein Elterngeldsplitting! Damit wäre das gesamte Haushaltseinkommen maßgeblich für die Berechnung des Elterngeldes und nicht das jeweilige einzelne Einkommen des Partners. Damit würden Sie den Familien, den Müttern und den Vätern, die wirklich freie Wahl überlassen, wie sie sich das aufteilen. Das wäre eine gute Lösung.
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Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Machen Sie mit unserer Unterstützung aus dem Elterngeld eine richtige Erfolgsgeschichte, ein richtig gutes Elterngeld! Wir freuen uns auf die Beratungen im Ausschuss und auf die Anhörung und würden uns wünschen, dass Sie im Interesse der Familien unseren Forderungen nachkommen.
Danke.
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Katrin Werner, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Ja, wir diskutieren einen Entwurf zur Änderung des Elterngeldgesetzes. Der Bezug von Elterngeld soll flexibler werden, es soll bessere Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit geben, es wird etwas einfacher, den Partnerschaftsbonus zu erhalten, und für Frühgeburten soll es einen Monat mehr Elterngeld geben. Das sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Aber ehrlich gesagt: Das kann man eigentlich nicht „Reform“ nennen; es ist wieder mal ein kleines Reförmchen.
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Frau Giffey, drängende Probleme werden eben nicht angegangen. Was ist mit der besseren Unterstützung von Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen? Wo sind die mutigen Maßnahmen, die eine partnerschaftliche Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit fördern? Wir finden, die fehlen in Ihrem Gesetzentwurf.
2007 wurde das Elterngeld eingeführt. Es ermöglicht Eltern eine finanzielle Unterstützung, um mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Auch Eltern, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, bekommen Elterngeld. Für sie gibt es den Mindestbetrag von 300 Euro bzw. von 150 Euro beim Elterngeld Plus. Doch der Mindestbetrag wird auf Hartz IV angerechnet. Die Familien, die es am dringendsten benötigen, werden also wieder ausgeschlossen. Da sagen wir einfach: Das darf nicht sein!
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Solange es keine Kindergrundsicherung gibt, muss die Anrechnung des Elterngeldmindestbetrags auf Hartz IV abgeschafft werden.
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Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Gesetzentwurf weitgehend ausblenden, ist die Partnerschaftlichkeit. Es ist gut, dass immer mehr Väter Elternzeit in Anspruch nehmen. Doch wenn man mal genau hinschaut, sieht man: Frauen beziehen durchschnittlich 14,3 Monate und Männer nur 3,7 Monate Elterngeld. Gehen Sie das Projekt an, damit das Elterngeld eben mehr zu einer partnerschaftlichen Aufteilung von Haus-, Sorge- und Erziehungsarbeit beiträgt!
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Ganz konkret frage ich: Warum zahlen Sie nicht jedem Elternteil 12 Monate Basiselterngeld, wenn sie zu Hause bleiben? Für Alleinerziehende muss es dann einen Anspruch über 24 Monate geben.
Selbst die Bundesregierung sagt: Seit der Einführung des Elterngeldes sind die Verbraucherpreise um 17,5 Prozent gestiegen. – Doch der Mindestbetrag ist nicht erhöht worden. Damit werden Familien mit geringen Einkommen und ohne Einkommen weiter diskriminiert. Allein um die Inflation auszugleichen, müsste der Mindestbetrag um 50 Euro beim Elterngeld und 25 Euro beim Elterngeld Plus angehoben werden. Wo bleibt die automatische Anpassung an den Verbraucherpreisindex?
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Wir haben das bereits im letzten Jahr hier vorgeschlagen, und nichts ist passiert. Dabei wäre es dringend notwendig; denn es betrifft viele Eltern. Insbesondere Mütter beziehen beim Elterngeld oft nur den Mindestbetrag. Das betrifft jede vierte Mutter.
Blicken wir noch mal kurz zurück: Seit 2007, seit 13 Jahren, ist der Mindestbetrag nicht erhöht worden. Ich möchte abschließend passend zur jetzigen Jahreszeit einfach sagen: 2007 wurde das Lied „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ der Kölner Karnevals- bzw. Musikgruppe „Die Höhner“ zum offiziellen Song der Handball-WM. Wir finden, das ist die passende Motivation für die weiteren Beratungen.
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Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Junge Eltern befinden sich in der Rushhour des Lebens. In kaum einer Lebensphase verdichten sich die Anforderungen an Menschen so sehr wie in der ersten Phase der Familiengründung. Darum ist es wichtig, hier den Druck aus den Familien zu nehmen, im Interesse der Eltern, im Interesse der Kinder und im Interesse eines Landes, das sich familienfreundlich nennen will.
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Familien in ihrer ganzen Vielfalt brauchen einen Schonraum in der turbulenten Phase nach der Geburt ohne finanzielle Sorgen, mit Zeit für einen guten Start in das gemeinsame Leben. Mit dem Elterngeld und dem Elterngeld Plus wurde der Grundstein für Schonraum geschaffen. Aber gleichzeitig steht fest: Familien brauchen mehr Zeit füreinander. Das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes wird den tatsächlichen Bedürfnissen von Eltern nicht gerecht. Die meisten Eltern nutzen Elterngeld und Elterngeld Plus doch im ersten Lebensjahr eines Kindes. Selbst bei einem sofortigen Kitaplatz ist der Anspruch auf Elterngeld schnell aufgebraucht. Am Ende ist noch viel Kindheit und wenig Geld übrig. Größere Kinder brauchen phasenweise mehr Zeit und Aufmerksamkeit beim Schul- oder Kitawechsel, zu Beginn der Pubertät oder zum Beispiel auch bei einer Trennung. Dann sollte eine finanzielle Abfederung von Arbeitszeitreduzierung möglich sein. Das wäre ein echter Beitrag zur Familienfreundlichkeit.
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Frau Ministerin, mehr Zeit für Familie ist in Ihrem Gesetzentwurf allerdings nicht vorgesehen: nur ein extra Monat für Eltern von Frühgeborenen. Das ist gut; aber warum pauschal nur ein Monat? Was ist, wenn ein Kind drei Monate zu früh kommt? Hier haben Sie sich leider nur für eine Minimalverbesserung entschieden, und das ist zu wenig.
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Wir als Grüne-Bundestagsfraktion setzen uns dafür ein, dass Eltern besonders zu Beginn mehr Zeit mit ihren Kindern haben, dass Familie gelebt und nicht nur gemanagt werden kann, und vor allem, dass Sorgeverantwortung partnerschaftlich geteilt wird, wie es sich die meisten Eltern wünschen. Dafür reicht kein Partnerschaftsbonus, selbst wenn dieser nun flexibel und attraktiv gestaltet werden soll. Klar ist, dafür braucht es eine Ausweitung der Partnermonate: für jeden Elternteil einen eigenen Anspruch. Hier bleibt Ihre Reform mutlos. Mit einer umfassenden Weiterentwicklung und mehr Partnermonaten hätten Sie die Möglichkeit gehabt, die Weichen für mehr Gleichberechtigung in der Familienarbeit zu stellen. Diese Chance wurde zu unserem Bedauern vertan. Wir brauchen jetzt eine partnerschaftliche Aufteilung, und wir brauchen auch eine Care-Revolution.
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Das führt uns, mehr als wir wollen, auch die aktuelle Coronasituation schmerzhaft vor Augen. Gerade hier bei uns in Deutschland werden Frauen und Männer mit der Geburt des ersten Kindes oft zurückgeworfen in traditionelle Rollenmuster. In Zahlen heißt das: Frauen leisten jeden Tag 90 Minuten mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer; verdienen tun sie im Durchschnitt immer noch 21 Prozent weniger. Wenn wir eine gleichberechtigte Gesellschaft mit der Chance auf eine partnerschaftliche Aufteilung der unbezahlten Familien- und Hausarbeit von Männern und Frauen wollen, müssen wir Optionen eröffnen, dass sich Väter von Anfang an mit Zeit und Sorge für Kinder einbringen können. Zwar gab es seit Einführung des Elterngeldes deutliche Fortschritte beim Elterngeld der Väter; aber noch immer nehmen die meisten Väter nur zwei Partnermonate, und über 60 Prozent der Väter beziehen überhaupt kein Elterngeld. Das ist kein Fortschritt, weder für Frauen noch für Männer.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wie vor wird betont, alle Entscheidungen seien reine Privatsache der Familie. Nein, so einfach ist das nicht. Die Wünsche der Eltern machen doch mehr als deutlich, dass viele Eltern und vor allen Dingen viele Väter sich mehr einbringen wollen und Frauen das auch von Männern erwarten. Darum sollten wir deutliche Anreize schaffen, sie darin zu unterstützen. Leider hat die Koalition hier nur sehr zaghafte Möglichkeiten vorgelegt. Die Gleichberechtigung von jungen Familien wird so nicht gefördert.
Übrigens hat Ursula von der Leyen als Familienministerin – ich erinnere daran – 2007 bei der Einführung des Elterngeldes deutlich mehr Mut bewiesen. Sie wollte vier Partnermonate am Stück einführen; das haben Sie als Union damals verhindert. Das hätte vor allem dem Engagement von Vätern sehr gutgetan.
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Wir, die Grüne-Bundestagsfraktion, schlagen die Weiterentwicklung des Elterngeldes, eine „KinderZeit Plus“ vor: Diese umfasst 24 statt 14 Monate, davon sind mindestens acht Monate Partnermonate. Das eröffnet viel mehr Möglichkeiten für beide Eltern, für die Familienarbeit Arbeitszeit zu reduzieren; darin werden sie mit einer Lohnersatzleistung unterstützt. Eltern können diese 24 Monate aufteilen und sogar bis zum 14. Lebensjahr eines Kindes flexibel nutzen. Das wollen wir adäquat auch für Alleinerziehende und mit entsprechenden Leistungen unterstützen. Diese Art flexibler Unterstützung brauchen Familien. Sie brauchen eine moderne Zeitpolitik. Auf unseren Grünen-Vorschlag erhalten wir sehr positives Echo. Wir erkennen an, was Eltern leisten; denn Kinder beim Großwerden zu begleiten, ist eben kein reines Privatvergnügen, sondern eine immense gesellschaftliche Leistung.
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Meine Damen und Herren, wir mussten lange auf die Elterngeldreform warten. Wir hätten uns deutlich mehr gewünscht. Dass Sie so mutlos bei der Weiterentwicklung dieses guten Instruments, bei der Regelung für mehr Geschlechtergerechtigkeit gewesen sind, bedauern wir sehr. Für viele moderne Eltern ist das enttäuschend.
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Deswegen brauchen wir hier Beratungen, Nachbesserungen. Wir sagen: Es ist bedauerlich, dass es nur so weit gekommen ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Stefan Schwartze, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn etwas richtig gut läuft, dann sagt man bei mir zu Hause in Ostwestfalen: Da kannste nix von sagen. – Genauso ist das mit dem Elterngeld: Da kannste nix von sagen.
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Das Elterngeld ist eines der am besten funktionierenden Instrumente der Familienpolitik. Es verfolgt zwei Ziele: die Unterstützung junger Familien und gleichzeitig die Förderung von partnerschaftlicher Aufteilung von Familien- und Arbeitszeit. Bei mir im Kreis Herford wurde von circa 3 000 bewilligten Anträgen im vergangenen Jahr etwa ein Drittel von Männern gestellt. Damit liegen wir zwar über dem Durchschnitt von einem Viertel in ganz Nordrhein-Westfalen; aber da ist noch reichlich Luft nach oben.
Seit seiner Einführung 2007 hat das Gesetz immer wieder Anpassungen erfahren; denn mit unserer Familienpolitik nehmen wir veränderte gesellschaftliche Realitäten auf. Junge Familien wollen heute die Familien- und Erwerbsarbeit partnerschaftlich teilen. Sie wollen mehr Zeit mit der Familie verbringen, und genau deshalb soll die Teilzeitmöglichkeit weiter flexibilisiert werden. So wird man künftig bis zu 32 Stunden während des Bezugs von Elterngeld arbeiten dürfen. Das ist praxisnah; denn so wird eine Viertagewoche möglich. Gleiches gilt für den Partnerschaftsbonus; den bekommen Eltern, wenn sie gleichzeitig in Teilzeit gehen. Hier ist klar geworden, dass der bisherige Korridor von 25 bis 30 Stunden praxisfern war. 25 Stunden sind zu viel für eine Dreitagewoche, und 30 Stunden sind zu wenig für eine Viertagewoche. Deswegen wird auch hier der Korridor erweitert.
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Gleichzeitig entbürokratisieren wir. Eltern, die während des Elterngeldbezugs in Teilzeit arbeiten, werden nur noch ausnahmsweise nachträglich ihre Arbeitszeiten belegen müssen. Außerdem sollen Eltern mit geringen selbstständigen Nebeneinkünften, also unter 35 Euro im Monat, für die Bemessung des Elterngeldes künftig wie Nichtselbstständige behandelt werden, sofern sie das wollen. Für die Höhe ihres Elterngeldes kommt es dann, wie bei allen Nichtselbstständigen, auf die zwölf Monate vor der Geburt des Kindes an. Das hilft Zehntausenden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Eltern, deren Kind besonders früh zur Welt kommt, stehen vor enormen Herausforderungen. Deshalb benötigen sie besondere Unterstützung, und deswegen sollen künftig Eltern, deren Kind sechs Wochen vor Termin geboren wurde, einen zusätzlichen Monat Elterngeld bekommen. Sprechen Sie mit Eltern, sprechen Sie mit Hebammen; ich sage Ihnen, das ist dringend erforderlich. Übrigens: Hebammen sind eine Berufsgruppe, die in der aktuellen Coronazeit viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt, auch sonst viel zu wenig Respekt bekommt und auch viel zu schlecht für ihre Leistungen, die unverzichtbar sind, bezahlt wird.
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Familienpolitik hat die Aufgabe, sich ständig den neuen Lebensrealitäten anzupassen. Das nehmen wir mehr als ernst. Wir haben das Elterngeld in der letzten Wahlperiode reformiert und das Elterngeld Plus und den Partnerschaftsbonus eingeführt. Wir haben sehr kurzfristig die Auswirkungen der Coronakrise auf das Elterngeld abgefedert, und jetzt wollen wir weitere Verbesserungen angehen – für ein Elterngeld, bei dem die Eltern auch weiter der Meinung sind: Da kannste nix von sagen.
Danke schön.
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Martin Reichardt, AfD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Kollege Huber hat schon auf die Probleme beim Elterngeld hingewiesen; es ist dazu hier auch heute schon viel Richtiges gesagt worden. Wir erkennen alle: Große Würfe für Eltern und Kinder dürfen wir von der SPD und dem Familienministerium nicht erwarten. Darum können wir den Blick auch etwas weiten.
Mit Zustimmung zu den Coronamaßnahmen lässt die SPD fleißige Menschen zu Bittstellern werden und um ihre nackte Existenz kämpfen. Die SPD sieht tatenlos zu, wenn Restaurants, Hotels und Innenstädte veröden. Die SPD sieht tatenlos zu, wenn fleißige Menschen zu Bittstellern werden und so leider Gottes ihrer persönlichen Würde beraubt werden. Sie lassen Ihre ehemalige Stammwählerschaft am langen Arm verhungern, und wir müssen das leider diesmal durchaus wörtlich nehmen. Sie sind unsozial, unsolidarisch und demokratiefeindlich. Ihre Familienministerin glänzt in diesen schweren Zeiten mit Untätigkeit, jedenfalls wenn es um Familie und Senioren geht.
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Ein Schlag ins Gesicht für isolierte Senioren und notleidende Familien ist es, wenn Sie sich, Frau Giffey, in der aktuellen Krise, die hier überall beschworen wird, als Covergirl für die lächerliche Kampagne „Ich bin eine Quotenfrau“ zur Verfügung stellen.
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Zusammen mit egozentrischen Quotenemanzen dokumentieren Sie, was Ihnen in dieser Krise wirklich wichtig ist, während Teile unserer Bevölkerung unter den Coronamaßnahmen große Not leiden.
Alte Menschen, die nicht mehr leben wollen, weil sie isoliert werden, Kinder, die die Lebensfreude verlieren,
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3,3 Millionen Menschen in Kurzarbeit, das ist Ihnen alles egal, und das muss heute hier gesagt werden.
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Hauptsache, die Quote stimmt. Das ist das, was leider auch bei der Rede von den Grünen zum Ausdruck gekommen ist.
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Bereits im April haben wir gefordert, dass zur Unterstützung von Senioren ein Freiwilligendienstprogramm aufgelegt werden soll. Das hätte dieser Risikogruppe geholfen. Sie weigern sich, diese Hilfe, die Sie 2015 Flüchtlingen zugebilligt haben, unseren Senioren zu gewähren.
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Wir fordern auch für Familien einen Ausgleich bei krisenbedingten Mietschulden. Das wurde ebenfalls abgelehnt,
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obwohl die Mietschulden zur Wohnungskündigung und damit zur Obdachlosigkeit von Familien führen.
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Das Einzige, was die SPD in dieser Krise tut, ist Panik verbreiten und mündige Bürger diffamieren. Sie spalten unsere Gesellschaft in Regierungstreue und „Covidioten“.
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Für die Regierungskritiker, die Sie „Covidioten“ nennen, ist Ihre Antwort: Wasserwerfer marsch und Knüppel aus dem Sack. – Das muss an dieser Stelle ganz eindeutig betont werden. Es ist eine Schande für die deutsche Demokratie.
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Die SPD ist leider verkommen zum verlängerten Arm von Herrn Söder und zur Marionette der wahren „Covidioten“ um ihren Panikdoktor Lauterbach.
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Aber wir, die AfD – das betone ich zum Schluss –, sind der verlängerte Arm der notleidenden Familien in diesem Parlament.
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Wir sind die einzige Stimme für Freiheit und Demokratie in diesem Hause.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Maik Beermann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu der Rede vom Kollegen Schwartze von der SPD kann man sagen: Da kannste nix von sagen. – Zu der Rede vom Kollegen Reichardt gerade eben kann man nur sagen: Dazu sollte man etwas sagen, weil das eher eine Kabaretteinlage war oder eine Rede aus einer anderen Parallelwelt, aber bestimmt keine Rede zu dem Thema, über das wir uns hier heute Morgen unterhalten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesem Jahr von diesem Pult aus oft über Familien und Kinder gesprochen. Das war und ist angesichts der coronabedingten Ausnahmesituation auch absolut richtig. Ich finde es auch richtig klasse, dass heute Morgen um 9 Uhr, sozusagen in der Primetime des Parlaments, eine familienpolitische Debatte zum Elterngeld stattfindet. Warum? Weil wir das Elterngeld hier klar verbessern und positive Veränderungen für die Eltern herbeiführen. Ich würde mich freuen, wenn wir solche Familiendebatten, solche gesellschaftspolitischen Debatten durchaus öfter zu einer solchen Uhrzeit hier im Parlament führen könnten.
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Im Dezember 2019 haben wir schon einmal über dieses Thema gesprochen. Da habe ich auch von diesem Pult aus in Richtung Bundesregierung gesagt: Ich würde mich freuen, wenn zeitnah auch ein Gesetzentwurf vorgelegt wird. – Unter „zeitnah“ verstehe ich persönlich etwas anderes; denn wir sind jetzt ein Jahr später dran, aber besser spät als nie. Das nur kurz am Rande.
Das Elterngeld ist schon richtig gut, aber mit diesem Gesetzentwurf, der heute vorliegt, machen wir es noch besser. Aber: Das Bessermachen beginnt ab heute, weil ab heute das parlamentarische Verfahren beginnt. Ab heute werden wir uns über diesen Gesetzentwurf unterhalten, und aus allen Reihen der Opposition – bis auf die eine Reihe hier vorne rechts – gab es auch gute und interessante Vorschläge, die diskussionsfähig und diskussionswürdig sind. Ihrer werden wir uns auch annehmen. Wir werden zu diesem Gesetzentwurf auch noch eine Anhörung haben, in der man uns den einen oder anderen Hinweis geben wird. Wir werden diese Dinge berücksichtigen. Warum? Weil uns genau dieses Thema wichtig ist.
2007, als das Elterngeld eingeführt wurde, war eine Sternstunde, weil wir nämlich die familienpolitische Leistung überhaupt ins Leben gerufen haben. 2007 ist man mit 4 Milliarden Euro als Haushaltsansatz gestartet, mittlerweile sind wir bei 7,3 Milliarden Euro angekommen. 7,3 Milliarden Euro – das ist wirklich schon eine Hausnummer, und es wird noch mehr werden. Warum? Weil beispielsweise im letzten Jahr 1,9 Millionen Mütter und Väter das Elterngeld genutzt haben. Ich bin mir sicher: 2020 werden es noch mehr Eltern sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss aber auch noch einmal das erwähnen, was der Kollege Huber von der AfD gesagt hat. Die AfD möchte den Partnerschaftsbonus abschaffen, so steht es in deren Antrag. Die AfD hat aber gar nicht verstanden, warum wir den Partnerschaftsbonus eigentlich eingeführt haben, nämlich weil es mittlerweile tatsächlich so ist, dass nicht nur Mütter etwas von ihren Kindern haben wollen und bei der Erziehung mitwirken wollen, sondern eben auch die Väter. Oh Wunder, stellen Sie sich das einmal vor, liebe Kollegen der AfD: Die Väter wollen auch etwas von ihren Kindern haben! – Und wir verpflichten Eltern – in Klammern: Väter – überhaupt gar nicht, den Partnerschaftsbonus in Anspruch zu nehmen, sondern wir schaffen die Möglichkeit, dies zu tun. Es gibt auch eigentlich nichts Besseres. Von daher ist das, was Sie mit dem Partnerschaftsbonus verbinden, total falsch. Wir schaffen die Möglichkeit, dass Väter dieselbe Möglichkeit haben wie auch Mütter. Das ist doch eigentlich etwas Schönes und auch etwas Gutes.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorgelegten Gesetzentwurf vereinfachen und flexibilisieren wir also weiter. Wir nehmen die Wünsche der Eltern ernst, und darauf kommt es an. Wir wollen einen zusätzlichen Elterngeldmonat bzw. zwei Elterngeld-Plus-Monate für Eltern mit Frühchen. Wir heben die zulässigen Teilzeitumfänge von 30 auf 32 Wochenstunden an.
Herr Kollege Beermann, der Kollege Huber von der AfD würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, dann mal zu.
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– Ja, ist doch egal.
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Vielen Dank. Ich nehme zur Kenntnis, dass die SPD zugibt: Kollege Reichardt hatte recht, Herr Beermann ist demokratischer als sie und lässt die Frage zu. Vielen Dank dafür.
Ich möchte Sie nämlich fragen: Sie haben behauptet, dass wir den Partnerschaftsbonus komplett abschaffen wollen. Das ist natürlich so nicht richtig. Das steht in keinem Antrag. Ich habe aber gesagt – hier möchte ich Sie fragen, ob Sie das wirklich so teilen –, dass der Partnerschaftsbonus, so wie er heute konstruiert ist, eine starre und demnach auch ideologische Komponente beinhaltet, weil Väter und Mütter praktisch zu gleichen Anteilen diesen Partnerschaftsbonus eingehen müssen. Sind Sie wirklich der Meinung, dass alleine dieses Modell der starren Gleichmacherei das richtige Modell dafür ist, oder sollten wir das nicht auch flexibilisieren?
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Herr Kollege Huber, wissen Sie, man kann sich immer über gewisse Nuancen oder Details unterhalten, aber entscheidend ist doch vielmehr, dass wir die Wünsche, die an uns Politiker herangetragen werden, umsetzen. Ich persönlich finde den Partnerschaftsbonus dadurch, dass wir ihn mit diesem Gesetzentwurf jetzt weiter flexibilisieren, erstens schon gar nicht ideologisch und zweitens schon gar nicht starr, sondern wir schaffen eine Möglichkeit oder unterbreiten ein Angebot an junge Eltern, diese Möglichkeit zu nutzen. Es zeigt sich auch, dass der Partnerschaftsbonus immer größere Beliebtheit bekommt, weil immer mehr Väter diese Möglichkeit nutzen. Von daher, glaube ich, sind wir hier auf dem richtigen Weg.
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Ich entschuldige mich, wenn ich mich da falsch geäußert habe. Aber Sie haben gesagt: Der Partnerschaftsbonus gehört abgeschafft. – Dann meinten Sie sicherlich: Der Partnerschaftsbonus in dieser Form, wie er aktuell besteht, gehört abgeschafft. – Dann korrigiere ich das sehr gerne. Das ist der Fairness halber geboten. Aber, wie gesagt, der Partnerschaftsbonus ist etwas, mit dem wir für junge Eltern eine Möglichkeit schaffen, und wir verbessern ihn jetzt weiter. Deswegen ist nichts ideologisch geprägt und schon gar nicht starr.
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Außerdem verschlanken und verbessern wir die Eltern.
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– Bei manchen wäre es wahrscheinlich wirklich nicht schlecht, aber das wollen wir uns natürlich nicht zumuten. – Also, noch einmal: Außerdem verschlanken wir. Zum Beispiel verbessern wir die Situation von Eltern mit geringen selbstständigen Nebeneinkünften, indem wir ein neues Antragsrecht einführen und sie bei der Elterngeldbemessung bis zu einem bestimmten Betrag wie Nichtselbstständige behandeln. Wir gehen das Problem der sogenannten Mischeinkünfte an. Wir wollen Eltern, die geringe Einkünfte aus selbstständiger Arbeit haben, beim Elterngeld nicht benachteiligen. Ich denke, das ist ein guter Punkt, den wir hier umsetzen.
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Wie schon erwähnt: Wir werden in den Verhandlungen im parlamentarischen Verfahren, die jetzt beginnen, sicherlich das eine oder andere am Gesetzentwurf verändern. Was wären wir für ein Parlament, wenn wir die Entwürfe, die die Bundesregierung hier im Hohen Haus einbringt, einfach so lassen würden und nicht mehr unsere eigenen Gedanken und schon gar nicht die von Sachverständigen und Experten berücksichtigen würden. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, freue ich mich auf das parlamentarische Verfahren, auf die Gespräche in den nächsten Wochen. Ich freue mich auf die Anhörung. Ich bin mir sicher, dass wir in der zweiten und dritten Lesung ein anderes Gesetz verabschieden werden als das, was heute eingebracht wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Elterngeld ist eine Erfolgsstory: bekannt, beliebt, und das schon seit 13 Jahren. Umso mehr braucht es ein Update. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir hier und heute darüber sprechen.
Die konkreten Verbesserungsvorschläge der FDP-Fraktion zum Elterngeld hat Ihnen Kollege Aggelidis bereits vorgestellt. Ich möchte nun die Vision einer modernen Familienpolitik der Zukunft vorstellen und ein Bild davon zeichnen, wie wir Freie Demokraten uns vorstellen, wie man Familie und Beruf, Kinder und Karriere unter einen Hut bringen kann.
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Kinder sind ein gemeinsames Projekt. Deshalb ist es fair, die Verantwortung entsprechend teilen zu können. Dafür brauchen die Familien aber die Freiheit, nach der jeweiligen Lebenssituation entscheiden zu können: ob eine Frau Vollzeit arbeitet und Kinder hat, ob ein Mann Teilzeit arbeitet und sich um seine Kinder kümmert, ob sie Vollzeitmutter ist und den Haushalt macht, ob sie Karriere macht und er Hausmann ist und ihr den Rücken freihält – alles okay, wenn echte Entscheidungsoptionen die Grundlage für den individuell besten Weg sind. Aktuell bezweifle ich aber, dass Familien echte Wahlfreiheit haben.
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Leider ist es noch keine Selbstverständlichkeit, dass Ereignisse wie die Geburt eines Kindes zum Leben gehören. Studien zeigen, dass Mütter und Väter auf unterschiedliche Weise auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Männer fürchten Nachteile im Job, wenn sie mehr als zwei Monate Elternzeit nehmen. Frauen hingegen müssen Nachteile erwarten, egal ob sie nur zwei Monate oder länger Elternzeit nehmen. Das ist nicht in Ordnung, und das muss bei uns in den Köpfen ankommen.
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Dies gilt übrigens auch für familienbedingte Auszeiten für Führungskräfte wie beispielsweise Vorstandsmitglieder. Auch ihnen muss es möglich sein, im begründeten Fall sechs Monate Auszeit nehmen zu können: für die Geburt, für die Kinder oder für zu pflegende Angehörige. Wir haben dazu vor einigen Monaten hier im Deutschen Bundestag einen Antrag eingereicht. Umso mehr freut es mich, verkünden zu können, dass gestern die Justizminister der Länder die #Stayonboard-Initiative mit einem Beschluss unterstützten. Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank an dieser Stelle an Verena Pausder und ihre Mitstreiter bei der Initiative #Stayonboard!
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Doch jetzt heißt es: tatsächlich umsetzen, und zwar noch in dieser Legislaturperiode, meine Kolleginnen und Kollegen. Es geht um ein Umdenken, es geht um einen Kulturwandel hin zu mehr Familienfreundlichkeit. Davon profitieren Mütter und Väter, Familien und Unternehmen. Das ist eine echte Win-win-Situation. Dafür machen wir, die FDP als Fortschrittspartei, uns stark und laden all diejenigen ein, die dabei mitmachen wollen.
Herzlichen Dank.
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Sabine Zimmermann, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Elternsein ist anspruchsvoll, und das nicht erst seit der Coronapandemie. Eltern möchten für ihre Kinder da sein, aber auch keine beruflichen Nachteile erleiden. Sie wünschen sich auch eine partnerschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit. All das fordert ausreichende und flexible Betreuungsangebote sowie finanzielle Planungssicherheit mithilfe des Elterngeldes. Familien verdienen unsere bestmögliche Unterstützung. Das, meine Damen und Herren, ist der Maßstab für eine gute Familienpolitik.
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Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine kleine, in manchen Punkten sogar eine kleinliche Lösung. Das ist nicht die lang erwartete große Elterngeldreform – so von der Bundesregierung angekündigt gewesen –; sondern für Eltern eine große Enttäuschung. Da müssen Sie noch sehr viel nachbessern.
Von Flexibilität, die Sie in der Begründung beschwören, ist bei den konkreten Regelungen jedenfalls wenig zu erkennen. Zum Beispiel: Sie begrenzen den Bezug des Elterngeldes Plus auf die ersten 32 Lebensmonate, schränken also die Gestaltungsfreiheit der Eltern sogar noch ein. Auch der Korridor der Wochenarbeitszeit beim Partnerschaftsbonus bleibt eng, was besonders für Alleinerziehende schwierig ist.
Vor allem aber schwebt den Eltern weiterhin das Damoklesschwert der Rückzahlung über dem Kopf. Es braucht nicht viel, damit man die Grenzen des Stundenkorridors über- oder unterschreitet, zum Beispiel durch Kurzarbeit, betrieblich angeordnete Mehrarbeit, eigene Krankheit oder Krankheit des Kindes; wir alle wissen, wie leicht das passieren kann. Hier fordern wir deshalb dringend Nachbesserungen.
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Wer gegen die Grenzen verstößt, verliert nun zwar nicht mehr den Anspruch auf Elterngeld Plus für die Folgezeit, wird aber auch künftig das bezogene Elterngeld wieder zurückzahlen müssen. Das ist für berufstätige Eltern eine Zumutung. Das muss dringend geändert werden, meine Damen und Herren.
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Die Rückzahlung trifft vor allem Eltern mit geringem Einkommen am härtesten. Diese Eltern lassen Sie auch sonst im Stich. Wer Mindestelterngeld bezieht, hat seit 2007 jedes Jahr weniger Kaufkraft im Portemonnaie, weil Sie den Betrag nicht angehoben haben; meine Kollegin Werner hat dazu schon einiges gesagt. Auf Hartz IV wird es auch noch angerechnet. Familien in Hartz IV gehen bei Familienleistungen regelmäßig leer aus. Familienleistungen dürfen nicht auf Hartz IV angerechnet werden. Das müssen Sie endlich ändern.
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Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Realeinkommen sind bei den Geringverdienenden in den letzten 30 Jahren kaum gewachsen, bei den Ärmsten sind sie sogar geschrumpft. Da das Elterngeld lohnabhängig ist, fällt es dadurch auch niedriger aus. Sorgen Sie endlich für gute Arbeitsverhältnisse! Fangen Sie beim Mindestlohn an! Je höher die Löhne, desto mehr können sich die Familien mit dem Elterngeld leisten, und das kurbelt sogar die Wirtschaft an.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Weniger Aufwand, weniger Bürokratie, dafür mehr Flexibilität, mehr gleichberechtigte partnerschaftliche Teilhabe: Das ist das, was viele junge Familien in unserem Land wollen. Mit dieser Reform des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes wollen wir diesem Wunsch auch ein Stück weit entgegenkommen.
Klar ist: Unsere Gesellschaft hat sich gewandelt. Das Selbstbild junger Familien hat sich gewandelt, die Bedürfnisse junger Eltern haben sich gewandelt. Viele Mütter, aber auch Väter wollen sich bei der Erziehung der Kinder mehr beteiligen, wollen miterleben, wie ihr Kind die ersten Worte spricht und die ersten Schritte geht. Viele Frauen wollen nicht nur Mutter sein, sondern auch im Beruf etwas bewegen, sich weiterentwickeln, den Anschluss nicht verlieren. Mit diesem Gesetz wollen wir diesem Modell ein Stück weit entgegenkommen. Nicht jeder und jede in diesem Land muss das wollen; so wird es nicht sein.
Ich freue mich, wenn die FDP das Thema Wahlfreiheit für sich entdeckt; genau dafür stehen wir schon die ganze Zeit.
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Aber für die, die diese gleichberechtigte Teilhabe wollen – das sind immer mehr –, müssen wir Angebote schaffen. Da gehen wir einen wichtigen Schritt, mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen.
Die Höchstarbeitszeitgrenze wird von 30 auf 32 Wochenstunden erhöht. Bei der Dauer des Elterngeldbezuges ist das eine gute und richtige Maßnahme. Viele sagen: Ich möchte die Elternzeit lieber über eine längere Zeit strecken und mache eine Viertagewoche; das schaffe ich. Mein Mann oder Partner kann eine Viertagewoche machen. Ich habe noch Großeltern: Wir sind flexibel und können die Elternzeit so gestalten.
Der Partnerschaftsbonus soll flexibilisiert werden. Auch da: Der Stundenkorridor wird zu Recht auf 24 bzw. auf bis zu 32 Wochenstunden erweitert. Die Regelungen werden auch flexibler: Es ist keine Rückzahlung vorgesehen, wenn es dann doch nicht so klappt wie geplant.
Der Aspekt der Flexibilisierung ist ganz wichtig; das wurde heute schon mehrfach angesprochen. Auch bei den Frühchen ist die vorgesehene Flexibilisierung richtig. Ein besonders früh geborenes Kind liegt in seinem Entwicklungsstand häufig ein bisschen hinter anderen zurück, also ist es auch fair, den Eltern ein bisschen mehr Zeit zu geben, nämlich einen Monat.
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Der Gedanke ist bestechend, zu sagen: Dann verlängern wir doch die Elternzeit um jeden Tag, den das Kind früher geboren ist. – Aber irgendwo müssen wir auch ein bisschen die Praktikabilität im Blick behalten. Ganz viele Kinder kommen 2 Tage, 5 Tage, 12 Tage, 17 Tage oder mehr zu früh, aber irgendwo müssen wir mal eine Grenze setzen. Und ich denke, es ist praktikabel – das ist der Hintergrund – und berechenbar, mit gewissen fixen Zeiten zu arbeiten.
Eltern mit geringfügigen Nebeneinkünften aus selbstständiger Tätigkeit – das ist angesprochen worden – werden nicht mehr als Selbstständige behandelt. Das ist absolut richtig.
Also, das ist ein Bündel von Maßnahmen. Wie wichtig uns das Elterngeld ist, zeigen nicht nur die Reform und das permanente Nachbessern – diese Nachbesserungen basieren auf den Bürgergesprächen, die wir ja führen –, sondern das zeigt auch der Gesamtrahmen im Familienetat. Wir haben für das Elterngeld 7,3 Milliarden Euro bereitgestellt – der Familienetat für 2021 beläuft sich auf 12,2 Milliarden Euro –; das ist die größte gesetzliche Leistung, die wir im Familienetat haben. Das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist.
Der CSU ist es auch ein Anliegen, dass wir damit die Väter noch mehr einbinden. Wir würden uns auch freuen, wenn wir noch mal zwei Extramonate für die Väter bekommen könnten.
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Ich glaube, das ist kein Schaden, allerdings auch nur ein Angebot, keine Verpflichtung.
Ich muss noch ganz kurz was zur AfD sagen, die sich hier als die einzig wahre Familienpartei feiert, die aber in der Coronakrise leider die Stimmung mancher Eltern missbraucht, die natürlich belastet sind. Sie sagt: Machen wir doch Durchseuchung: Die Älteren sollen sich alle schützen; sie kriegen eine Maske, und dann ist alles gut.
Kein Wort über die Risikogruppe der Schwangeren. So wichtig sind sie Ihnen also. In unserer Nachbarschaft ist eine Schwangere ohne Vorerkrankung an Corona gestorben. Es hat gedauert, bis man gemerkt hat, dass die Schwangeren eine Risikogruppe sind. So wichtig sind Ihnen die Familien! Mit keinem einzigen Wort haben Sie die Schwangeren erwähnt und gesagt, wie Sie diese schützen wollen. Oder sollen die auch alle zu Hause eingesperrt werden?
(Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat ja gar nicht zum Thema geredet!
Ich bitte alle Familien: Fallen Sie nicht auf die falschen Personen rein!
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sönke Rix, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal ganz herzlichen Dank an Frau Giffey und an die gesamte Bundesregierung für den Gesetzentwurf! Ganz herzlichen Dank an die Union,
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weil wir mit diesem Gesetzentwurf schon ein Stück weiter sind als das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Aber Frau Launert hat richtigerweise gerade gesagt: Die Gesellschaft hat sich nun mal verändert. – Wir als SPD wären damals bei den Koalitionsverhandlungen gerne noch einen Schritt weitergegangen und hätten den Schritt von einem Elterngeld zu einem richtigen Familienarbeitszeitmodell gemacht. Das können wir immer noch machen, wir sind dazu immer noch bereit. Damit würden wir den Familien wirklich entgegenkommen, wenn wir ihnen sagen könnten: Mit einer richtigen Familienarbeitszeit helfen und unterstützen wir die Eltern dabei, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. – Ich lade herzlich dazu ein, darüber weiter zu diskutieren.
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Nun liegt uns ein Gesetzentwurf vor, der eine Flexibilisierung der Partnerschaftsmonate, eine Verbesserung der Bedingungen für Eltern von Frühgeborenen und eine Verbesserung der Situation von Eltern vorsieht, die neben ihrer Haupttätigkeit noch eine nebenberufliche selbstständige Tätigkeit haben. Der Entwurf stellt eine Verbesserung des Istzustandes dar. Deshalb ist er auch eine Verbesserung für Beschäftigte mit Familien. Das ist die Linie der SPD: Wir haben immer die Beschäftigten mit Familien genau im Blick und wollen genau deren Leben verbessern, und dieser Gesetzentwurf verbessert das Leben von Familien, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Er bettet sich in der aktuellen Krisenzeit auch in viele Maßnahmen ein, die wir schon auf den Weg gebracht haben. Wir haben zum Beispiel das Elterngeld auch jetzt in der Krisenzeit noch einmal angepasst, weil das nicht mit den zahlreichen Kurzarbeitregelungen kompatibel war, die für Eltern gelten. Wir haben aber auch die Lohnfortzahlung für Eltern fortgesetzt, deren Kinder nicht in die Betreuung gehen können und zuhause betreut werden müssen. Wir haben die Bedingungen für den Bezug des Kinderzuschlags in Krisenzeiten verbessert. Deshalb passt sich dieser Gesetzentwurf vollkommen in die aktuelle Situation ein.
Aber ich sage auch: Im parlamentarischen Verfahren müssen wir nicht nur die konstruktiven Vorschläge von fast allen Oppositionsfraktionen noch mal mitdiskutieren, sondern durchaus auch das, was vielleicht an eigenen Vorstellungen aus den Koalitionsfraktionen kommt. Wir müssen auch sehen, wie wir zum Beispiel das, was wir aus der Krisenzeit gelernt haben, jetzt auch insgesamt ins Elterngeldgesetz einbauen können, damit wir in Sondersituationen, in Krisenzeiten besser dastehen. Das, glaube ich, wäre auch eine vernünftige Maßnahme, wenn wir diese Anpassung vornehmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, von daher sage ich an dieser Stelle: Ich bin sehr froh, dass wir im Gegensatz zu gestern eine sehr ruhige, sachliche und konstruktive Debatte geführt haben. Ich finde auch gut, dass die Vorschläge aus den Oppositionsfraktionen – das sind ja Dinge, die auch insgesamt diskutiert werden – ins parlamentarische Verfahren mit aufgenommen werden können. Ich finde es auch richtig und gut, dass wir das, was wir jetzt als guten Vorschlag vorliegen haben, weiterentwickeln können; dafür ist ein parlamentarisches Verfahren da. Deshalb freue ich mich auf die weiteren Auseinandersetzungen und die konstruktiven Beratungen dazu.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Sönke Rix und ich sind ja – „alte Männer“, hätte ich fast gesagt – erfahrene Abgeordnete.
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Man sieht es uns nicht an,
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aber wir haben in den letzten 13 Jahren viele Debatten über das Elterngeld geführt, und da wurde auch schon sehr ideologisch diskutiert. Man kann heute sagen: Das Elterngeld – das ist deutlich geworden – ist ein Erfolgsmodell. Es hat eine hohe Akzeptanz bei den Eltern. Selbst die kritischen Abgeordneten müssen konstatieren: Das war eine richtig gute Entscheidung. Wir diskutieren heute darüber, wie wir es noch weiter verbessern können. Insoweit ist das Elterngeld unser großes Erfolgsmodell.
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Frau Bauer, Sie wollen jetzt den Kulturwandel einläuten. Hallo, guten Morgen! Sie kommen 13 Jahre zu spät. 2007 haben wir den Kulturwandel eingeläutet.
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Wir haben aber nicht gesagt: Familien müssen anders denken. – Wir müssen die Familien mitnehmen – entideologisiert. Das, was für die Familien wichtig ist, ihre Wünsche müssen wir in der Politik wahrnehmen. Insoweit kommt Ihr Kulturwandel da etwas spät.
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– Entschuldigung, auch der Kollege aus Melmac möge irgendwann in der Realität des Lebens ankommen. – Wir sind gerne bereit, den Weg zu weisen; denn – das ist das Entscheidende beim Elterngeld – es ist ein Modell, das sich verändert und sich anpasst.
Herr Kollege Weinberg, die Kollegin Bauer möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Gern.
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Das war offensichtlich.
Da habe ich schon mal zwei Minuten mehr.
Sehr geehrter Herr Weinberg, Sie haben ja meiner Rede gelauscht und mitbekommen, dass ich das Elterngeld und die Elternzeit in seiner Gänze und die Einführung vor 13 Jahren gelobt habe.
Nichtsdestotrotz: Können Sie mir recht geben, dass an der einen oder anderen Stelle – das diskutieren wir auch heute – Verbesserungsbedarf besteht und dass der Kulturwandel hin zu mehr Familienfreundlichkeit deutschlandweit, weltweit noch nicht in allen Unternehmen abgeschlossen ist? Es gibt tolle Unternehmen, aber eben noch nicht überall.
Herzlichen Dank.
Natürlich habe ich Ihrer Rede wie immer mit großer Freude gelauscht. Sie haben gerade noch mal bestätigt, dass die Maßnahmen der Großen Koalition mit Blick auf das Elterngeld die richtigen waren. Insoweit vielen Dank für die nachträgliche Bestätigung.
Ich teile Ihren Aspekt, und zwar sehr konkret. Als ich vor vielen Jahrzehnten als Student in einem Unternehmen gejobbt habe, gab es dort einen leitenden Mitarbeiter, der sich damals erdreistete, die Erziehungszeit in Anspruch zu nehmen. Die Botschaft war: Dieser Mitarbeiter wird in diesem Unternehmen keine Karriere machen. Wer sich als Mann um die Kinder kümmert, der ist am falschen Platz. – Wir haben in den letzten Jahren einen Kulturwandel hinbekommen und dafür gesorgt, dass es normal ist, dass sich auch Männer um die Kinder kümmern und dass Frauen Karriere machen. Das muss unser Ziel sein. Das ist das, was die Menschen in diesem Land – da bin ich bei Ihnen; da arbeiten wir gerne zusammen – auch wollen.
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Der Kulturwandel wird auch daran deutlich, dass die Eltern mehr und mehr möchten, dass es eine gute Ganztagsbetreuung gibt; darüber haben wir letzte Woche gesprochen. Der Kulturwandel bedeutet, dass viele Berufstätigkeit und Familienzeit besser zusammenbringen wollen. Wir haben nicht zu bewerten: Das ist ein gutes Modell des Familienlebens, und das ist ein weniger gutes Modell. – Die Auswahl des Modells bleibt den Eltern und den Familien überlassen. Wenn sich eine Familie entscheidet, dass ein Elternteil, die Mutter, zu Hause bleibt und sich um die Erziehung der Kinder kümmert, dann ist das gut und unser Auftrag, dies zu unterstützen.
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Wenn aber eine Mutter so schnell wie möglich wieder arbeiten möchte, dann ist für uns auch das das richtige Modell. Wir müssen als nicht übergriffiger Staat Unterstützungsangebote leisten. Das Elterngeld ist ein Beispiel dafür, wie man das machen kann. Es ist seit mittlerweile 13 Jahren eine Erfolgsgeschichte.
Dahinter steht ein Grundgedanke, wie Familien leben und wie sie in Zukunft leben wollen. Das ist das Dreieck, über das wir viel diskutiert haben, Kollege Rix, schon damals vor 13 Jahren, nämlich finanzielle Sicherheit und eine gute Infrastruktur – heute diskutieren wir über die finanzielle Sicherheit; letzte Woche ging es um die Infrastruktur –, und das Dritte, das immer wichtiger wird – das hat Nadine Schön angesprochen –, ist Zeit: Zeit für Familien, Zeit, zu entscheiden, wie ich meine Zeit gemeinsam mit der Familie verbringe. Das ist das Dreieck, das wir weiterentwickeln.
82 Prozent der Eltern sagen: Das Elterngeld ist wichtig zur Stabilisierung der finanziellen Situation. Das heißt, die 6 Milliarden bzw. mittlerweile 7 Milliarden Euro kommen gut an, weil dieses Geld den Eltern genau in dem ersten wichtigen Jahr nach der Geburt ihres Kindes Unterstützung gewährleistet. Dass man, Frau Bauer, beim Kulturwandel auch sehr dicke Bretter bohren muss, ist ja klar. Kollege Beermann hat das angesprochen: Mittlerweile sind 34 Prozent derjenigen, die Elterngeld beziehen, Männer. 34 Prozent! Das waren mal 2 Prozent, als wir anfingen. Auf diesem Weg gehen wir mit der Veränderung, die wir noch diskutieren und dann beschließen wollen, einen weiteren Schritt.
Das sind die drei entscheidenden Punkte – da haben wir auch Herausforderungen, Probleme erkannt; von Defiziten will ich nicht sprechen –: Erstens das Thema Frühchen. Da bin ich bei den Kollegen der FDP; darüber reden wir noch mal. Natürlich stehen Eltern, die ein Frühchen haben, vor einer großen Herausforderung, weil das entwicklungspsychologisch etwas Besonderes ist. Da müssen wir als Politik überlegen, wie wir das mildern und das Elterngeld entsprechend anpassen können.
Der zweite wichtige Punkt ist natürlich das Thema der sogenannten Schlechterstellung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die geringfügige Nebeneinkünfte haben. Hier muss der Grundsatz gelten, dass diese Schlechterstellung aufgehoben wird.
Das Dritte ist dann die Erweiterung des Korridors. Auch das ist Ausdruck einer veränderten Wahrnehmung – Stichwort „32 Wochenstunden“ –, den Eltern mehr Flexibilität anzubieten, und wir haben es ja auch mit Blick auf die Finanzierung gut hinbekommen.
Insoweit war es eine sehr spannende Debatte und eine gute Debatte. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen. Wir werden – und das sei der Opposition zugesichert – sehr intensiv und sehr genau prüfen, welche Vorschläge wir in den parlamentarischen Beratungen umsetzen können. Wenn Sie uns dann auch noch sagen, wie das eine oder andere – mit Blick auf die Finanzierung – konkret aussieht, machen wir das gerne.
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Zum Schluss noch ein Zitat von Gustav Heinemann: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“ Verändern, das machen wir beim Elterngeld zum wiederholten Male. Es wird, glaube ich, eine gute Debatte werden. Ich freue mich auf die zweite und dritte Lesung. Dann haben wir einen nächsten guten Schritt mit Blick auf Ihren Kulturwandel und unseren Kulturwandel hinbekommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir wissen es längst: Mit der Pandemie müssen wir noch eine ganze Weile leben. Im März erlebten wir mit den bundesweiten Schulschließungen einen bis dahin kaum für möglich gehaltenen Einschnitt in die Zukunftschancen unserer Kinder. Über die dramatischen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen dieser Schulschließungen für Kinder, besonders für die aus benachteiligten Familien, für die Eltern und die Lehrkräfte haben wir ja hier bereits ausführlich gesprochen. Es ist daher natürlich gut, dass der Bund und die Länder – die Länder haben sich hier gegen den Bund durchgesetzt – am Mittwoch erneut die Wichtigkeit von Präsenzunterricht betont haben. Dass wir hier nun aber Ende November noch immer stehen und darüber diskutieren, wie genau ein solcher Unterricht im Winter überhaupt gewährleistet werden kann, das ist kaum zu fassen, und das ist absolut inakzeptabel.
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Statt tragfähiger Konzepte hat Anja Karliczek nicht mehr zu bieten als Lüften und Stoffmaske tragen. Sie bleibt tatenlos. Das ist in einer solchen Krise absolut fahrlässig, meine Damen und Herren.
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Es ist richtig, dass die Schulen und Schulträger vor Ort über konkrete Schutz- und Unterrichtskonzepte entscheiden. Der Bund kann und darf sich aber dennoch nicht einfach so aus der Affäre ziehen. Die Frau Ministerin – sie ist heute wieder nicht da – muss sich endlich ihrer Verantwortung bewusst werden. Wir müssen alles dafür tun, dass Kinder so lange wie möglich in Präsenz unterrichtet werden. Dafür sollten wir endlich viel stärker auf Luftfiltergeräte in den Klassenräumen setzen. Mehrere Studien bestätigen mittlerweile, dass Filteranlagen die Aerosolkonzentration um über 90 Prozent senken können. Werden die Klassenräume zudem in den Pausen gelüftet, dann kann das Infektionsrisiko im Klassenzimmer auf ein beherrschbares Niveau reduziert werden. Der flächendeckende Einsatz von Luftfilteranlagen würde uns sehr dabei helfen, den Präsenzunterricht auch im Winter zu garantieren, und das ganz ohne Kinder, die mit Schal und Mütze im Unterricht sitzen müssen.
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Der Bund sollte den Ländern daher in einem Akutförderprogramm 250 Millionen Euro für die kurzfristige Beschaffung von Filtergeräten zur Verfügung stellen. Diese vergleichsweise geringe Summe sollte uns das Verhindern eines erneuten Unterrichtschaos wie im März allemal wert sein.
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Zumal die Gegenfinanzierung der Geräte für den Bund ohne Probleme aus den bisher nicht abgeflossenen Mitteln des Kommunalinvestitionsfördergesetzes erfolgen könnte. Das Geld ist also da. Beginnen Sie also jetzt mit der Beschaffung von Luftfiltergeräten für die Schulen!
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Dabei alleine darf es aber nicht bleiben. Es ist bei aller Vorsicht trotzdem nicht auszuschließen, dass in den kommenden Wochen einzelne Schulen bei extrem hohem Infektionsgeschehen zeitweise auf Distanzlernen und auf Hybridunterricht umstellen müssen. Anders als Frau Karliczek aber verkündet, sind die Schulen, Schüler und Lehrer darauf nicht vorbereitet, längst nicht flächendeckend. Flächendeckender Hybridunterricht scheitert letztlich an der fehlenden Tatkraft einer müden Ministerin.
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Denn noch immer fließt viel zu wenig Geld aus dem DigitalPakt Schule ab. Noch immer haben viel zu wenige Kinder aus sozial benachteiligten Familien digitale Endgeräte erhalten. Auch die Lehrerlaptops werden wohl allerfrühestens Anfang nächsten Jahres bei den Schulen eintrudeln.
Frau Karliczek, für diese Misere tragen Sie die volle Verantwortung. Wachen Sie endlich auf, und unterstützen Sie die Schulen mit Filtergeräten und digitaler Ausstattung! Es ist längst überfällig.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Suding, es macht ja fast Spaß, darauf zu reagieren, was Sie hier heute wieder vorgetragen haben.
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Aber ich will mal den Teil vortragen, der aus meiner Sicht dagegengestellt werden sollte; denn wir sind ja nicht zum Spaß hier.
„Filtern statt frieren“, so titelte der Hessische Rundfunk kürzlich zu Luftfilteranlagen in Schulen. Nicht ganz so schlüssig überschrieben steht es ja in den Anträgen der FDP und der Grünen. Der Bund sollte neben Lehrerlaptops und der Einstellung von IT-Administratoren zusätzlich zu den beschlossenen stationären Filteranlagen jetzt auch mobile Filteranlagen fördern. Wenn Sie nachgeschaut haben, sehen Sie: Seit dem 20. Oktober können Mittel für stationäre Anlagen beantragt werden, unter anderem auch für Schulen, durch Länder, Kommunen und entsprechende Einrichtungen.
Wissenschaftliche Studien hätten belegt, dass die mobilen Anlagen zur Reduktion der Verbreitung des Virus beitragen und damit die Gesundheit schützen; Sie sprachen es gerade an. Sicherlich ist es so. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle schätzen wissenschaftliche Untersuchungen. Diese müssen dann aber auch für uns alle eine wissenschaftliche Expertise darstellen, die belastbar ist, ob bei der Pandemiebekämpfung oder natürlich auch bei der Verbesserung der Bildungspolitik.
Aber in den Anträgen lese ich statt der wissenschaftlichen Erkenntnisse viel politischen Aktionismus. Nehmen wir als Beispiel die Studie der Frankfurter Goethe-Universität aus dem Antrag der FDP. Dort heißt es, dass Luftfilter der Filterklasse HEPA 13 die Aerosolkonzentration in einem Klassenzimmer in einer halben Stunde um 90 Prozent senken könnten; das ist das, was Sie gerade angesprochen haben. Dieser Erkenntnis liegt aber eine Studie zugrunde, bei der das Forscherteam eine Woche lang vier Luftreiniger in einem Klassenraum mit Lehrer und 27 Schülern getestet hat. Auf der Grundlage von einer Woche und einer Klasse wurde hier eine Studie erstellt. Klingt das, was Sie hier vortragen, nach einem stabilen Fundament für politische Maßnahmen mit erheblichen finanziellen Auswirkungen?
Im zweiten Beispiel der FDP führt die Universität der Bundeswehr München aus, dass Raumluftfilter der Klasse HEPA 14 – also eine Weiterentwicklung – eine sehr sinnvolle technische Lösung darstellen – ich glaube, diejenigen unter uns, die nicht Fachleute sind, würden das auch ungesehen bestätigen –, um in Schulen die indirekte Infektionsgefahr stark zu verringern. Wer die Studie liest – ich habe es getan –, kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass mobile Luftreiniger nur eine Notlösung darstellen und obendrein die Erkenntnisse nur in der Theorie vorliegen. Empfehlenswert ist laut Studie nämlich der Einbau bzw. die Aufrüstung von sogenannten raumlufttechnischen Anlagen. Dabei handelt es sich um die stationären Anlagen, die wir fördern und für die seit dem 20. Oktober Mittel beantragt werden können.
Zusätzlich fand die Studie unter Laborbedingungen statt. Kein Lehrer, kein Schüler befand sich zur Zeit der Messungen in diesem Raum. Theoretisch betrachtet geht natürlich auch vieles.
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Daneben betonen die Forscher, dass Raumluftreiniger, geöffnete Fenster und raumlufttechnische Anlagen zwar geeignet sind, um das indirekte Infektionsrisiko zu reduzieren; aber das direkte Infektionsrisiko können sie natürlich nicht verringern. Da sind die angesprochenen Maßnahmen, dass eben Masken getragen werden, völlig richtig. Wir sollten auch wirklich überlegen – wir können darüber nachdenken; die Länder haben es umzusetzen –, ob das Lehrpersonal und die Verantwortlichen vielleicht mit Masken ausgestattet werden. Das ist aber nicht unsere Aufgabe.
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Auch hier muss ich die kritische Frage stellen: Klingt das nach einem stabilen Fundament, liebe FDP, um die Zeit hier im Plenum heute wieder damit auszufüllen, dass wir alle zu diesem Antrag Stellung nehmen?
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– Ich weiß. Bildung liegt mir sehr am Herzen, Frau Suding. Deswegen rede ich ja so gerne dazu, weil Sie da Vorlagen schaffen, die aber ein bisschen zu überarbeiten sind.
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Die Leopoldina hat die vorliegenden Studien zu diesem Thema mehrfach einer kritischen Würdigung unterzogen. Das Ergebnis ist und bleibt deutlich: Die Wirksamkeit von mobilen Filteranlagen ist durch die vorhandenen Studien nicht gesichert. Im Gegenteil: Die mobilen Anlagen können sogar eine Gesundheitsgefahr darstellen, zum Beispiel wenn die Geräte falsch aufgestellt oder die Filter nicht sachgerecht bedient werden.
Die Kollegin Nicole Höchst würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Lassen Sie die zu?
Sehr gern.
Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie halten Ihren eigenen Ausführungen zufolge nichts von Luftfiltertechnik in Klassenräumen.
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Wie stehen Sie dazu, dass Abgeordnetenbüros seit Neuestem Filtertechnik, mobile Raumluftfilter bezahlt bekommen?
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Kollegin Höchst, ich habe in meinen Ausführungen deutlich gemacht, dass ich das trage, was wir beschlossen haben, nämlich die seit 20. Oktober zu beantragende Förderung von Luftfilteranlagen stationärer Art, und zwar in den verschiedensten Räumlichkeiten; da geht es nicht nur um Schulen. Ich denke, es ist richtig und wichtig, dies zu unterstützen, um sicherzustellen, dass wir dauerhaft Schulunterricht mit Anwesenheit machen können. Wenn dann der Einsatz von Luftfilteranlagen von den Ländern bzw. den Kommunen beschlossen wird, dann ist das ihre Angelegenheit. Aber wenn uns hier dadurch die Zeit geraubt wird, dass ein solcher Antrag eingebracht wird, obwohl der andere vorhandene noch nicht mal in Angriff genommen wurde, halte ich das für vertane Zeit.
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– Sehr viel, Herr Kollege.
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– Ich würde jetzt gerne weiterreden, wenn es in Ordnung ist.
Ich will es nur kurz ausführen – Sie sind wahrscheinlich sehr häufig in Schulen –: Ich kann auf zurückliegende und auch aktuelle Besuche an Schulen blicken. Ich weiß genau, was da abläuft, zum Beispiel wenn die Geräte falsch aufgestellt oder die Filter nicht sachgerecht bedient werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren hier gemeinsam völlig zu Recht über das Thema Bildung, das hier auch richtig platziert ist. Wir haben über digitale Fortbildungen für Lehrkräfte gesprochen und über mögliche zusätzliche IT-Administratoren. Wenn Sie hier aber letztendlich Fragen zu flexiblen Anlagen in den Raum stellen, wissen Sie, was dann passiert? Dann sind die Lehrkräfte an den Schulen und die Erzieherinnen und Erzieher in Krippen und Kindergärten nicht nur damit ausreichend belastet; dann müssen wir sogar aufpassen, dass sie ihrer Arbeit überhaupt noch wirklich nachgehen können und diese auch umfänglich betrachtet wird. Nein, wir belasten sie nicht nur damit, sondern wir wollen jetzt auch noch erwarten, dass sie vielleicht die Luftfilter wechseln.
Was haben wir dafür zu tun? Ich glaube, gar nichts. Es ist eine Anregung, die alle gern mitnehmen. Geben Sie die in die Bundesländer, wo Sie Verantwortung tragen! Geben Sie die in Ihre Wahlkreise! Da haben Sie, glaube ich, ausreichend Möglichkeiten. Wir stützen den sozialen Ort Schule. Wir halten die Schule offen und schützen sie. Wir wollen gesicherte Erkenntnisse für uns in den Vordergrund stellen.
„Filtern statt frieren“, titelt der Hessische Rundfunk. Ich sage: „Wirksam filtern statt frieren“, heißt die Devise.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Lage an unseren Schulen ist dramatisch, und sie ist auch deshalb dramatisch, weil Bund und Länder in den vergangen Monaten Entscheidendes versäumt haben und weil sie sich in den Jahren zuvor mit den falschen Projekten beschäftigt und die Weichen falsch gestellt haben.
Bereits Anfang März hat die AfD-Fraktion die kurzfristige – kurzfristige! – Schließung der Schulen und Grenzen gefordert. Zu diesem frühen Zeitpunkt hätten derartige Maßnahmen noch etwas gebracht. Die Bundesregierung hingegen hat wertvolle Zeit verstreichen lassen und dann viel zu spät und panikartig reagiert.
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Statt wenige Wochen waren die Schulen dann gleich mehrere Monate geschlossen. Meine Damen und Herren, das war vollkommen unverhältnismäßig und hat einer ganzen Schülergeneration schweren Schaden zugefügt.
Drei großangelegte Forschungsarbeiten kommen zu dem Ergebnis, dass der Fernunterricht – sofern er überhaupt durchgeführt wurde – dem schulischen Fortkommen keineswegs dienlich ist. In Mathematik wussten die Schüler nach dem Onlineunterricht – gemäß diesen Untersuchungen – sogar weniger als vorher.
Monatelang, meine Damen und Herren, haben Sie sich gemeinsam mit Ihren Parteifreunden in den Ländern mit einem Schaufensterprojekt namens DigitalPakt beschäftigt und dabei die Augen vor den eigentlichen Problemen verschlossen –
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vielleicht waren sie Ihnen auch zu groß –, und genau das fällt uns jetzt auf die Füße. Es fehlen die Lehrer, um kleinere Klassen einzurichten, und in maroden, zu kleinen Gebäuden mit kaputten Sanitäranlagen kann man kein vernünftiges Hygienekonzept hinbekommen.
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Um nicht missverstanden zu werden: Eine gute Anbindung der Schulen an das Internet ist wichtig und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und natürlich können digitale Lernmittel das Buch, die Tafel, den Füller ergänzen; Lehrer und Schüler machen das ja auch längst. In Wirklichkeit geht es aber doch um etwas anderes: Es geht um die Lufthoheit im Klassenzimmer. Die hat bislang der Fachlehrer, der sich an pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkten bei der Planung seines Unterrichts orientiert. Er steht den letztlich einerseits ideologischen, andererseits aber auch kommerziellen Interessen von Stiftungen und Konzernen im Wege, die unsere Schulen gerne zu einem Markt und Bildung zu einer mess- und handelbaren Ware machen möchten. Meine Damen und Herren, wir wollen das nicht, und die Eltern und Schüler wollen das auch nicht.
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Wir hören jetzt immer öfter, dass man gar keine Fachlehrer bräuchte. Diese seien leicht zu ersetzen durch Lernbegleiter oder, wie man auf Neudeutsch jetzt sagt, einen Coach. Der kann dann sozusagen die Computer anmachen und schauen, dass die Schüler auf die richtige Seite gehen. Auch das lehnen wir entschieden ab, weil es ein Irrweg ist.
An Berliner Grundschulen, meine Damen und Herren, werden inzwischen 70 Prozent des Mathematikunterrichts fachfremd unterrichtet. Beim Deutschunterricht ist es nicht ganz so schlecht, da sind es 55 Prozent – auch noch viel zu viel. Diese Lehrer haben das Fach nicht studiert. In Berlin werden immer mehr Lehrer ohne volle Lehrbefähigung eingestellt, einige, so lesen wir, haben nicht einmal das Abitur. Vergleichen wir mal, wie das in anderen Ländern aussieht, die bei den PISA-Vergleichen – die kann man kritisieren – an der Spitze stehen: Taiwan oder Singapur. Dort kann niemand Grundschullehrer werden, der nicht das Fach Mathematik mit seiner Didaktik studiert hat. Das sollten wir uns mal zum Vorbild nehmen.
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Meine Damen und Herren, die fachliche Kompetenz und das persönliche Band zwischen Schüler und Lehrer sind für den Lernerfolg von entscheidender und zentraler Bedeutung. Deshalb haben wir das in unserem Antrag, der insgesamt neun konkrete Punkte enthält, ganz an die Spitze gestellt. Weder der Computer noch selbstorganisiertes Lernen können das ersetzen. Wir wissen heute nicht, welche Anforderungen die Zukunft an unsere Schüler stellen wird. Deshalb ist eine breite und solide Allgemeinbildung das Wichtigste, und dafür stehen gut ausgebildete Lehrer.
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Deshalb sagen wir – ich zitiere abschließend den neuseeländischen Bildungsforscher, in Anlehnung –: Es kommt auf den Lehrer an und nicht allein auf die Technik.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Marja-Liisa Völlers, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sie ist auch ein Ort des Miteinanders; das muss sie auch in Zeiten einer Pandemie bleiben. Wir brauchen deshalb einerseits Lösungen, die die Belüftung der Klassenräume auch in den kälteren Monaten sicherstellen. Einige Bundesländer, zum Beispiel mein Heimatbundesland Niedersachsen, haben sich schon mit eigenen Förderprogrammen auf den Weg gemacht. Andererseits müssen wir weiter daran arbeiten, das digitale Lehren und Lernen voranzutreiben; denn auch wenn die meisten Schulen heute schon etwas besser aufgestellt sind als noch im Frühjahr, gibt es immer noch sehr viele Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Die Frage ist, wie wir diesen Herausforderungen begegnen wollen.
Wir haben den DigitalPakt Schule um insgesamt 1,5 Milliarden Euro aufgestockt: 500 Millionen Euro, um Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten zu versorgen, deren Eltern sich ein solches nicht so einfach leisten können; weitere 500 Millionen Euro für Laptops und Tablets von Lehrkräften; weitere 500 Millionen Euro – und das ist ein Punkt, der sehr, sehr wichtig ist – für die Administration und Anleitung in der Nutzung ebenjener neueren Technik. Damit adressieren wir viele Punkte, die in den Anträgen der Opposition heute in unterschiedlicher Art und Weise gefordert werden, über die wir heute diskutieren. Wir hören nicht auf, wir machen weiter. Wir haben die Technik. Nun sorgen wir auch für deren Verbreitung, für Beratung und für deren Einsatz.
Wir wollen bei den digitalen Bildungsinhalten allerdings noch ein bisschen nachlegen. Da gibt es nämlich noch viel zu tun, besser gesagt, viel zu sortieren. Denn es gibt bereits bundesweit viele Angebote an digitalen Bildungsmaterialien. Das Problem ist allerdings, dass das alles bislang noch nicht so richtig zusammenläuft. Hier möchte ich heute einen kleinen Schwerpunkt setzen. Die Länder, teilweise sogar einzelne Schulen arbeiten mit unterschiedlichen Lernplattformen. Das erschwert zum einen den Überblick, was verständlicherweise viele Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Arbeitsalltag frustriert. Zum anderen verschenken wir damit viel zu viel Potenzial, was im System ja vorhanden ist. Viele Lehrkräfte sind gerade wahnsinnig kreativ. Sie erstellen fantastische Lernvideos, Erklärvideos, Podcasts. Das kostet natürlich alles Zeit und in gewisser Weise auch Geld. Warum teilen wir diese Arbeit nicht? Warum sollte sie jede und jeder für sich alleine machen? Warum lassen wir die Menschen nicht stärker miteinander und voneinander lernen? Diese Synergieeffekte müssen wir – das ist meine persönliche Meinung, auch als Lehrkraft – noch viel stärker nutzen.
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Ein kleiner Exkurs zu den Kollegen der AfD: Sie stellen hier in den Raum, man wolle den Lehrer, die Lehrerin abschaffen. Ich habe in meiner ganzen Arbeit als Politikerin, aber auch als Lehrkraft noch nie so einen Blödsinn gehört wie das. Das ist nirgendwo belegt.
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In den Ausbildungszentren wird auf multiprofessionelle Teams hingewiesen. Niemand möchte Lehrkräfte absetzen oder in ihrer Funktion herabwürdigen zu irgendwelchen Lernbegleitern. Blödsinn ohne Ende!
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Zurück zum eigentlichen Thema. Wir wollen eine bundesweite Bildungsplattform an den Start bringen, die für diese Schnittstellen, die ich eben angesprochen habe, und einheitliche Qualitätsstandards sorgt. Qualität ist auch an der Stelle sehr relevant. Unsere Parteivorsitzende hat eine solche Bildungsplattform gegenüber der Kanzlerin bereits im Sommer dieses Jahres gefordert. Seit gestern steht fest, dass der Bund bis 2025 jährlich rund 135 Millionen Euro dafür in die Hand nehmen wird. Damit lässt sich viel bewirken.
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Das Bundesbildungsministerium muss diese Plattform jetzt an den Start bringen. Ich schaue mal rüber zu Staatssekretär Meister: Es wäre schön, wenn wir das jetzt ganz schnell miteinander starten könnten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß aus meiner Zeit als Lehrerin noch gut, wie schwer es war, passende Lernformate zu finden. Das undurchsichtige Angebot war das eine. Hinzu kam aber, dass vieles hinter der Bezahlschranke lag oder nicht so angepasst werden konnte, dass ich es im Arbeitsalltag so nutzen konnte, dass es für meine Lerngruppe passte.
Frau Kollegin, die Kollegin Höchst möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein. Frau Kollegin Höchst hat ja gleich selber die Möglichkeit, vom Rednerpult aus zu sprechen.
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Das bringt mich zu meinem nächsten Punkt. Die digitalen Bildungsinhalte sollten offen und frei verfügbar sein. Sie sollten weiterentwickelt werden können und qualitativ hochwertig sein. Sie sollten sogenannte Open Educational Resources sein, kurz: OER. Bislang wurden diese offenen lizensierten Medien überwiegend nur von einer kleinen Fachcommunity genutzt. Das wollen wir nun endlich ändern. OER muss endlich raus aus der Nische und rein in unsere Klassenzimmer.
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Darin steckt so viel Potenzial für individualisierte kooperative Lernkonzepte, für inklusive Bildungssettings und eben auch für das Lehren und für das Lernen aus der Ferne.
Ich will diese Potenziale nutzbar machen, und ich freue mich sehr, dass es der SPD-Bundestagsfraktion im Rahmen der Haushaltsberatungen gelungen ist – Dank auch an meine Kollegen Dennis Rohde und Swen Schulz –, den Mittelansatz um 4 Millionen Euro zu erhöhen und nun für die OER-Arbeit insgesamt 12 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
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Abschließend: Es wird Zeit, dass das Bildungsministerium die OER-Strategie umsetzt, dass es eine kluge OER-Strategie wird, die viele Akteurinnen und Akteure aus der Szene einbezieht, damit das an der Stelle vorhandene Know-how gut in unseren Schulen ankommt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Gehen wir es gemeinsam an.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste bei dem derzeitigen Krisenmanagement ist nicht, die Autoindustrie zu subventionieren, und ebenso nicht, den Militärhaushalt in ungeahnte Höhen zu puschen. Wichtig ist in Krisenzeiten,
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alles, und zwar wirklich alles, dafür zu tun, gute Bildung für Kinder und Jugendliche zu sichern, und zwar spätestens ab jetzt, und sozialer Ungleichheit endlich entgegenzutreten.
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Auch bei der Bildung gilt nämlich: Diejenigen, die ausreichend Geld und Ressourcen haben, kommen relativ gut durch diese Krise, und diejenigen, denen das genau versagt wird, die werden abgehängt. Das, meine Damen und Herren, ist die bittere Bilanz des Krisenmanagements der Bundesregierung.
„SOS“ kommt derzeit aus allen Klassenzimmern. Es fehlt an Lehrkräften, es fehlt an Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern, es fehlt an Räumen, es fehlt an Luftfilteranlagen, an Masken, an Schnelltests, es fehlt an Waschbecken,
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es fehlt an Griffen, um die Fenster zu öffnen, es fehlt an leistungsfähigem Internet, es fehlt an vernünftigen Geräten und, und, und.
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Der Verband Bildung und Erziehung sagt heute: „Die angemessene Ressourcenausstattung der Schulen ist nicht Kür, sondern Pflicht der Politik“.
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Für alle ist jetzt einmal mehr sichtbar: Deutschland ist eben kein Bildungsland, zumindest nicht gemessen an den Möglichkeiten. Deshalb muss schnellstens gehandelt werden. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, da hilft kein „Luftfilterantrag“, und da hilft auch keine „Luftfilterdebatte“.
Erstens. Es muss kurzfristig um den Schutz gehen. Das heißt, wir brauchen Geld dafür, dass Schulen Schutzmasken, idealerweise FFP2-Masken, kaufen können. Öffnen Sie das Förderprogramm des Wirtschaftsministeriums, um für Schulen mobile wie auch installierte Luftfilteranlagen beschaffen bzw. aufrüsten zu können, sodass Schulen eben nicht das letzte Rad am Wagen sind. Momentan sind es 14 – Klammer auf: 14; Klammer zu – Schulen, die davon profitieren.
Stellen Sie Schnelltests zur Verfügung, damit die notwendige Quarantäne beispielsweise verkürzt werden kann, auf wenige Tage begrenzt werden kann. Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte müssen im Impfkonzept – das geht an das Bundesgesundheitsministerium – nicht nur vorkommen, sondern müssen prioritär behandelt werden –, eine Forderung im Übrigen aus dem thüringischen Kultusministerium, von dem dortigen Minister Helmut Holter.
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Wenn ich einmal dabei bin: Ich soll mal einen schönen Gruß aus Thüringen sagen, weil die Thüringer wie auch wir echt keinen Bock darauf haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir miteinander in eine Situation geraten, dass am Ende alle Bundesligafußballer durchgeimpft sind, sich aber Schülerinnen und Schüler hinten an der Schlange – Klammer auf: freiwillig; Klammer zu – anstellen müssen.
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Meine Damen und Herren, das geht gar nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder und junge Menschen mit Behinderungen brauchen ganz besondere Aufmerksamkeit, und sie brauchen einen ganz besonders sensiblen Schutz. Das beginnt mit besonderen Kriterien für diese sogenannten vulnerablen Gruppen. Schülerinnen mit Behinderung gehören genau dazu; sie sind genau so zu behandeln wie Menschen, die in Gemeinschaftseinrichtungen als Risikogruppen leben und lernen.
Zum Zweiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mangel weit und breit darf im Krisenmanagement nicht als Begründung für alles Mögliche herhalten: für den Mangel an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern, für die chronisch unterfinanzierte Kinder- und Jugendhilfe und vieles andere mehr. Aber das ist ja gerade die heimliche Begründung, weshalb zum Beispiel viele, viele Angebote an Wechselmodellen momentan abgewehrt werden. Das ist die Begründung dafür, dass weiter volle Schulbusse fahren und dass das Angebot der Akteurinnen und Akteure der Kinder- und Jugendhilfe und der kulturellen Jugendbildung abgelehnt wird, eigene Räume zur Verfügung zu stellen, das dortige Personal durchaus zu nutzen, um tatsächlich in kleineren Gruppen zu lernen. Sie haben sich mit einem Brief an die Bundeskanzlerin gewandt, leider erfolglos.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bildung von Schülerinnen und Schülern wird – da bin ich mir echt sicher – keinen nachhaltigen Schaden nehmen, wenn über einige Wochen außerschulische Expertinnen und Experten, Handwerker, Künstlerinnen, Wissenschaftler Schülerinnen und Schüler beim Lernen begleiten und wenn über einige Wochen der Unterricht in außerschulischen Einrichtungen stattfinden kann. Ich würde sogar sagen: Im Gegenteil, Schülerinnen, Lehrkräfte, Eltern könnten Geschmack finden daran,
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weil sie nämlich dort einer neuen Lernkultur begegnen, nicht oder nicht nur orientiert an Tests, an Zertifikaten, sondern weil es Spaß macht.
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Ohnehin brauchen wir eine neue Lernkultur für die Schule der Zukunft, und man kann sich auf diese Art und Weise durchaus schon mal einen Vorgeschmack holen.
Das Kooperationsverbot ist so weit geöffnet, dass der Bund die Städte und Gemeinden und Landkreise unterstützen kann, um zusätzliche Räume anzubieten in Volkshochschulen, in Bibliotheken, in Maker Spaces, in Selbstlernwerkstätten. All das ist nutzbar und bezahlbar, und es bereichert unsere derzeitige Situation.
Wir brauchen, drittens, schnelle digitale Lernmittel; da bin ich mir mit Marja-Liisa Völlers absolut einig. Nur, das Problem ist, wir warten auf die neue OER-Richtlinie, und in dieser Zeit werden in vielen Landkreisen Tatsachen geschaffen, weil einfach Schulverwaltungen die Kompetenz dafür fehlt, zu beurteilen: Was kaufe ich, was nutze ich, um Abhängigkeiten von Abos und Lizenzen zu vermeiden?
Meine Damen und Herren, eines ist jetzt schon klar – ich komme zum Schluss –: Die Mittel aus dem DigitalPakt Schule und die Mittel, die auf Ihren Konten schmoren und noch nicht verplant worden sind, die brauchen wir dauerhaft. Auch wenn Sie es nicht gar so gerne hören: Ohne eine Reform des Bildungsföderalismus wird das hier nichts mehr.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine wichtige und richtige Entscheidung im Rahmen des Teil-Lockdowns war und ist die Vereinbarung, Schulen offen zu halten. Denn wie sehr sich mangelnder Kontakt zu den Lehrkräften auf den Lernerfolg auswirkt, das haben uns die Schulschließungen schmerzhaft vor Augen geführt.
Doch was bedeutet es für die Betroffenen, Schulen offen zu halten? Seit Monaten tragen, ertragen Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler alle Maßnahmen in großer Solidarität. Schulleitungen und Elternvertretungen haben über Monate geackert, Technik flottgemacht, Wege- und Raumpläne angepasst – viele Nächte lang und in ihrer Freizeit Filter zu wechseln, wäre das kleinste Übel. Für das, was sie geleistet haben, gebührt ihnen Respekt,
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Respekt verbal, aber auch in Form von sachlicher und organisatorischer Unterstützung.
Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte äußern aber inzwischen deutlich ihre Sorgen und beklagen zu Recht, dass sie kaum in Entscheidungen eingebunden werden; bei den Beschlüssen vom Mittwoch wären das etwa die Schülerkonferenz und der Elternrat gewesen. Bisher hat ja kaum Kommunikation stattgefunden. Gut, jetzt kann man sagen: Die Ministerin hört nicht einmal uns zu. – Aber trotzdem: Das ist unverantwortlich, unverständlich und schafft Misstrauen statt Akzeptanz.
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Deswegen appelliere ich hier an alle Verantwortlichen, vor allem an die Bundes- und Landesebene: Beziehen Sie endlich die Betroffenen in die Entscheidungen mit ein! Diskutieren Sie Regelungen! Und hören Sie auf die Nöte und Vorschläge von vor Ort! – Wie gut zum Beispiel Klassenteilungen organisiert werden können, welche Kinder geeignet sind und welche nicht, das hängt doch von den Verhältnissen vor Ort ab. Dort sollte dies dann auch entschieden werden. Zeigen Sie Respekt nicht nur verbal, sondern auch in Form von Kommunikation!
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Auch systemische Fehler sind nicht behoben. Der Bildungsföderalismus, wie wir ihn uns leisten, ist weder leistungsfähig noch krisenresilient. Keine Angst, heute behellige ich Sie einmal nicht mit dem Kooperationsverbot, auch wenn dessen Reform so wichtig wäre wie nie. Nein, ich möchte auf einen anderen Missstand hinaus, der die Bildungsungerechtigkeit hierzulande vergrößert statt schmälert. Das Beispiel „DigitalPakt – Zusatzmillionen für Endgeräte“ zeigt, dass „gut gemeint“ föderal umgesetzt nicht „gut gemacht“ ist. Eigentlich sollte den Kindern geholfen werden, deren Familien sich schultaugliche Endgeräte nicht leisten können – so weit, so richtig. Doch herausgekommen ist – und das hat inzwischen sogar die SPD verstanden – föderaler Murks erster Güte. Einigen konnten sich Bund und Länder nur auf die Ausschüttung der Millionen nach dem Königsteiner Schlüssel, der den Ländern am meisten gibt, die eh schon am meisten haben. Es ist niemandem zu erklären, warum pro Schülerin und Schüler in Bayern viermal so viele Mittel ausgeschüttet werden wie pro Kind in Bremen.
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Gießkanne wäre noch ein Fortschritt; denn jetzt haben wir eine Verteilung von unten nach oben. Das ist grundfalsch.
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Diesen Fehler wollen wir bei der Finanzierung weiterer Maßnahmen verhindern, die die Bildungsgerechtigkeit und den Schulbesuch sichern sollen. Untersuchungen zeigen – an die CDU: dazu gibt es inzwischen mehrere: Uni Frankfurt, Bundeswehr-Uni, Curtius/Granzin/Schrod –, dass mobile Luftfilter die Virenlast in den Räumen deutlich reduzieren können.
Frau Kollegin Stumpp, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der SPD.
Ja, bitte.
Herr Kollege.
Liebe Frau Kollegin Stumpp, was die unglückliche Verteilung der Endgeräte für die Schülerinnen und Schüler angeht, haben wir ja vollkommene Übereinstimmung. Aber wir sollten auch den Föderalismus sehr ehrlich diskutieren. Der heftigste Widerstand gegen eine kindgerechte Verteilung ist ja leider aus Bayern und Baden-Württemberg gekommen. Ich will jetzt gar nicht nennen, wer dort in der Regierungsverantwortung ist.
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Aber weil das ein Problem ist, sollten wir vor allen Dingen dafür werben, dass solche Fehler in Zukunft nicht wieder passieren.
Vielleicht können Sie Ihren klugen Gedanken auch hier noch mal zum Besten geben. Wir waren im Bundestag ja schon einmal weiter, nämlich als es um die Finanzierung von Hilfen für finanzschwache Kommunen ging. Dort hatten wir nicht einen pauschalen, an der Sache orientierten Schlüssel, sondern da ging es um Arbeitslosigkeit, da ging es um Finanzkraft, da ging es um soziale Indikatoren.
Ich werbe stark dafür, dass wir kein Bashing betreiben, sondern dass wir uns konstruktiv auf neue Wege begeben, und das mit der SPD, den Grünen, den Linken und hoffentlich auch mit anderen einsichtsfähigen Kräften zusammen.
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Herr Rossmann, da bin ich vollkommen bei Ihnen. Sie kennen das ja, wie leidgeprüft man unter Umständen in einer Koalition sein kann. Sie haben ja ein ähnliches Schicksal wie wir in Baden-Württemberg. Wir Grüne verfolgen eine andere Bildungspolitik und auch eine andere solidarische Politik.
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Aber Frau Eisenmann, CDU, hat die Ressorthoheit, und sie steht im Wahlkampf als Spitzenkandidatin. Sie wissen, welche Verwerfungen wir dadurch haben. Auch die Blockade der Mittel für den Ganztag können wir an der Stelle leider nicht aushebeln. Da teilen wir unser Schicksal; denn auch Sie kämpfen ja mit der Untätigkeit der Bildungsministerin hier auf Bundesebene.
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Wir waren bei den Luftfiltern. Geräte mit HEPA-Filtern scheinen sehr wirksam zu sein, und sie sind sofort einsetzbar. Einzelne Bundesländer haben dies erkannt. Das hilft der Mehrzahl der Schulen, die wegen baulicher Mängel und finanzieller Schwäche die Filter dringend brauchen, aber leider gar nicht. Jetzt kann man sich, wie gerade gehört, wortreich aus der Verantwortung ziehen oder eben handeln.
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Deshalb fordern wir 500 Millionen Euro für ein Förderprogramm „Mobile Luftfilter“ ausschließlich für finanzschwache Kommunen bzw. Quartiere. Der Verteilungsschlüssel, Herr Rossmann, soll sich an der Einwohnerzahl, dem Kassenkreditbestand und der Arbeitslosenzahl orientieren, damit das Geld genau dort ankommt, wo wir es am dringendsten brauchen.
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Ein Punkt ist mir dabei wichtig: Auch dieses Luftfilterprogramm – so nötig es ist – bekämpft nur Symptome, Symptome einer jahre- und jahrzehntelangen Miss- und Mangelwirtschaft an unseren Schulen. Wir haben allein in unseren Bildungseinrichtungen einen Investitionsstau von über 40 Milliarden Euro. Mancherorts schicken wir unsere Kinder in Schulen, die Bauruinen gleichen: stinkende Toiletten, bröckelnde Wände, Schimmelbefall – von wegen Einbau von Filtersystemen –, undichte Dächer, vernagelte Fenster. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
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Das ist beschämend; denn die Instrumente dagegen liegen auf der Hand. Zum einen ermöglicht uns der Kommunalinvestitionsförderungsfonds, Schulen zu einladenden und motivierenden Lernorten zu machen. Die Funktion des Raums als dritter Pädagoge muss endlich ernst genommen werden. Lassen Sie uns die Laufzeit des Fonds über 2023 hinaus verlängern und die Mittel deutlich aufstocken, damit Schulen baulich in der Gegenwart ankommen können.
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Zum anderen brauchen wir – das sage ich Ihnen als eine jahrelang aktive und engagierte Kommunalpolitikerin – endlich eine Gemeindefinanzreform, um die Kommunalfinanzen künftig für alle Städte und Gemeinden auskömmlich auszugestalten. Die Gemeinden müssen allzu oft das umsetzen und bezahlen, was wir hier beschließen, ohne dafür eine adäquate Gegenfinanzierung zu erhalten.
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Kolleginnen und Kollegen, geehrte Kultusministerinnen und Kultusminister, auch an Ministerin Karliczek appelliere ich: Beziehen Sie Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler in Ihre künftigen Entscheidungen mit ein. Machen Sie die Schulen endlich zu Orten des sicheren und modernen Lernens, und sorgen Sie dafür, dass kein Kind auf der Strecke bleibt. Das gilt besonders für die Pandemie, aber natürlich auch darüber hinaus.
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Nächster Redner ist der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ja heute Morgen ein richtiger Rundumschlag in dieser Debatte.
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Frau Bull-Bischoff, ich finde es schon allerhand, dass Sie meinen, der Thüringer Kultusminister würde gute Arbeit leisten. Den haben Sie uns geschickt. Der wurde in der Sowjetunion zum Kader ausbildet und treibt jetzt in Thüringen sein Unwesen.
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Seine Fähigkeiten, Frau Bull-Bischoff, können Sie ablesen beim Abrufen der Mittel aus dem DigitalPakt – ich habe es neulich schon gesagt: der Herr Holter beantragt wahrscheinlich beim Bund in Rubel –:
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Sachsen hat 105 Millionen Euro abgerufen, Thüringen 195 000 Euro.
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Das müssen Sie sich mal vorstellen. Und dann erzählen Sie uns hier, daran sollen wir uns ein Vorbild nehmen. Meine Güte!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Linke in einer Parallelwelt lebt, das wissen wir. Aber dass die FDP, liebe Frau Suding, da jetzt mitmacht, das finde ich schon allerhand. Ihre Rede heute ist wirklich eine Steilvorlage; meine Kollegin Tiemann hat das schon gesagt. Ihre Behauptungen, der Bund und die Ministerin seien tatenlos, sind schlichtweg völlig falsch. Frau Völlers hat dargestellt, welche Mittel bereitstehen: DigitalPakt Schule – 5 Milliarden Euro; drei Zusatzvereinbarungen à 500 Millionen Euro.
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Übrigens: Der Mittelabfluss bei den Endgeräten für bedürftige Schüler beträgt bis zum Jahresende 400 Millionen Euro. Wir haben gute Vorschläge gemacht, wie wir beim Mittelabruf für den DigitalPakt Schule besser werden können.
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Gehen wir mal weiter. Frau Suding, Sie behaupten, der Bund soll seine Verantwortung wahrnehmen. Liebe Frau Suding, der Bund unterstützt weit über seine Verantwortung hinaus. Wenn die KMK Beschlüsse zum Präsenzunterricht fasst – darum geht es ja heute hier –, dann müssen diese doch ganz selbstverständlich mit den Schulträgern abgestimmt sein; darüber müssen die sich doch Gedanken gemacht haben – Luftfilter hin, Luftfilter her. Ich kann Ihnen nur sagen: Was der Bund ausgibt – wir haben es gesagt: DigitalPakt Schule, die ganzen Zusatzvereinbarungen; ich komme gleich zu weiteren Maßnahmen, die wir ergreifen –, ist allerhand. Wir nehmen unsere Verantwortung über Gebühr wahr, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will Ihnen auch mal sagen, dass der Bund nicht nur hier hilft. Allein im ganzen Bereich Bildung – DigitalPakt, Kinderbetreuungsausbau, Ganztagsbetreuung – geben wir 14,4 Milliarden Euro zwischen 2008 und 2024 aus; so viel zum Jammerlied der Linken. Kommt der Verkehrsbereich hinzu, kommt der Städtebau hinzu, kommt der soziale Wohnungsbau hinzu, geben wir freiwillig, ohne Verantwortung zu tragen, 44 Milliarden Euro in die Länder und Kommunen. Zu sagen, der Bund würde nicht helfen, ist allerhand.
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– Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich freue mich dann über eine Kurzintervention der Freundin von Herrn Holter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sind die Projekte, die jetzt für die Koalition anstehen?
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Ich bin Frau Völlers dankbar, dass sie es schon gesagt hat. Wir haben im Koalitionsausschuss am 25. August beschlossen, dass wir Bildungskompetenzzentren für die digitale Bildung aufbauen. Eine bundesweite Bildungsplattform wurde angesprochen. 90 Millionen Euro stellt der Haushaltsgesetzgeber hier dem BMBF zur Verfügung. Ich denke, das ist eine tolle Ansage.
Im Vergleich zur SPD und auch im Vergleich zum BMBF hat die Union hier schon ganz konkrete Vorschläge erarbeitet. Diese Vorschläge haben wir am Dienstag beschlossen und am Mittwoch in den Medien entsprechend vorgestellt. Ich kann Ihnen das Papier „Digitale Bildungsoffensive Schulen“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehr empfehlen. Darin ist ein ganz genaues Konzept enthalten, wie diese Plattformen, wie die Bundesbildungskompetenzzentren aussehen sollen. Ich glaube, hieran kann sich das BMBF ein Beispiel nehmen, aber selbstverständlich auch der Koalitionspartner.
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– Wir schicken das auch dem Herrn Holter, genau. Das ist ein sehr, sehr guter Vorschlag.
Lassen Sie uns gemeinsam mal in dieses Papier reinschauen. Es geht ja nicht nur um die Bildungskompetenzzentren und die entsprechende Bildungsplattform. Vielmehr werden noch mal ganz konkrete Vorschläge aufgezeigt, wie wir die Mittel bei dem DigitalPakt schneller abfließen lassen können. Und dann möchte ich noch mal betonen: Es liegt nicht am Bund, sondern es liegt an den Ländern. Wir machen ganz konkrete Vorschläge, was die Länder unternehmen können.
Ich möchte gerne noch auf ein Thema aus dem Digitalbereich eingehen, nämlich den Datenschutz. Da höre ich immer: Das kann man nicht machen. – Daher haben wir keine digitale Bildung in den Schulen. Wir sprechen uns hier für eine einheitliche Unbedenklichkeitsprüfung bei der datenschutzrechtlichen Beurteilung aus. Das können die Kultusminister in ihrem Bundesland mit ihren jeweiligen Datenschutzbeauftragten klären. Das auf die Schulen runterzubrechen und dort abzuladen, ist ein großer Fehler.
Meine Redezeit geht zu Ende. Schauen Sie einfach mal in das Positionspapier rein; das sind elf ganz konkrete Vorschläge. Sie können das auf unserer Homepage einsehen und runterladen.
Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Birke Bull-Bischoff das Wort.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Dem Kollegen von der Ex-Blockpartei möchte ich gerne Folgendes in seine Rede hineinkorrigieren: Es wird ihm bekannt sein, dass es einen Unterschied gibt zwischen abgeflossenen Mitteln, beantragten Mitteln und bewilligten Mitteln. Um es klarzustellen: Von den 132,3 Millionen Euro, die für das Land Thüringen an Mitteln aus dem DigitalPakt zur Verfügung stehen, sind bereits fast 30 Millionen Euro – damit liegen wir über dem Schnitt – bewilligt. Vollständig sind die Mittel aus dem Sofortprogramm für mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler im Land Thüringen beantragt.
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Möchten Sie erwidern, Kollege Schipanski?
Wissen Sie, liebe Frau Kollegin, da will ich Ihnen nur eine einzige Zahl nennen, nämlich die Zahl eins. Ich habe in meinem Heimatlandkreis, in dem ich lebe, eine linke Landrätin, und in meinem Heimatland Thüringen habe ich einen linken Kultusminister.
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Ich habe in dem Landkreis, wo die Linke die Verantwortung trägt, eine einzige Schule, die diese DigitalPakt-Mittel abruft – eine einzige Schule! Sie können gerne mit Ihren Parteifreunden,
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dem Herrn Holter und dieser linken Landrätin, klären, wie viel Unfähigkeit dort herrscht.
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Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Zunächst muss ich erneut feststellen, dass die Probleme, an denen hier alle Anträge herumdoktern, seit langer Zeit von den Altparteien hausgemacht sind. Es zeigen sich abermals die fatalen Folgen des Kaputtsparens der Bildung.
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Seit ewigen Zeiten leiden die Schulen, und damit unsere Kinder, an Lehrermangel, zu großen Schulklassen und – Überraschung! – sanierungsbedürftiger Infrastruktur. Es ist traurig, wie drastisch die Realität in der Krisenzeit den Regierungsparteien allüberall das Desaster vor Augen führt, welches Schüler, Lehrer und Eltern seit Jahrzehnten beklagen, meine Damen und Herren.
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Wir könnten uns vermutlich viele Maßnahmen der Coronakrisenpolitik sparen, wenn man Bildung tatsächlich so prioritär sehen würde, wie Sie das alle so als Pose in sämtlichen Parlamenten immer wieder vortragen. Ihre Taten hingegen bzw. Ihre Unterlassungen sprechen jetzt für sich, und sie sprechen eine überdeutliche Sprache, meine Damen und Herren.
Bereits im Juni dieses Jahres forderte die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag „Qualitätspakt Schule – Humane und humanistische Bildung durch Schüler-Lehrer-Kontakt gewährleisten“ weitreichende und überfällige Maßnahmen. Unter anderem forderten wir genau das, worüber wir heute reden, nämlich die Entwicklung von Raumbelüftungskonzepten. Das wurde von Ihnen allen durch die Bank weg abgelehnt. Jetzt sprechen wir wieder darüber. Herzlichen Glückwunsch!
Frau Dr. Tiemann hält von Luftfilteranträgen nichts. Gleichzeitig bekommen Abgeordnete seit Neuestem mobile Raumfilter finanziert. Herzlichen Glückwunsch! So viel Bigotterie muss man erst mal bringen.
Die AfD-Fraktion steht mobilen Raumbelüftungssystemen offen gegenüber; denn momentan müssen wir nun einmal mit den überfüllten Schulklassen leben, wie die Politik der Altparteien vor der AfD sie hervorgebracht haben. Und es ist sicher jede Maßnahme besser, als unsere Kinder dauerhaft zum Tragen einer Gesichtsmaske zu zwingen oder im tiefsten Winter alle 20 Minuten die schneidende Kälte durch Stoßlüftung in die Klassenzimmer zu lassen.
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Die Links-Grünen schießen mit ihrem quasiparanoiden Antrag völlig über das Ziel hinaus. Es liest sich, als wollten Sie den Klassenraum zu einer Art Hochsicherheitslabor unter Reinraumbedingungen umfunktionieren.
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Neben Raumluftfiltern sollen FFP2-Masken und CO2-Messgeräte zum Einsatz kommen. Schüler sollen durch Plexiglaswände voneinander isoliert werden, und Schutzkleidung soll getragen werden.
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Vielleicht zeigen sich hier die Nebenwirkungen der Desinfektionsmitteldämpfe – ich weiß es nicht.
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Diesen Antrag lehnen wir jedenfalls ab. Für Eltern und für Bildung gibt es offensichtlich nur noch eine einzige echte Alternative und wirkliche Interessenvertretung hier in diesem Land: die Alternative für Deutschland.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Johann Saathoff das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Coronamaßnahmen bestimmen die öffentliche Debatte in Deutschland schon seit Monaten – und die Regelungen für den Rest des Jahres, die in dieser Woche gefunden wurden, noch mal in besonderem Maße.
Was uns noch bewusst wird, ist, dass es natürlich nicht nur Belastungen für die Wirtschaft gibt, für die Sportwelt oder andere Bereiche im gesellschaftlichen Zusammensein, sondern dass ganz besondere Belastungen durch die Coronamaßnahmen auch für die Familien, für die Kinder entstehen. Ich bin Vater einer 15-jährigen Tochter, die natürlich nicht sagen würde, dass sie gerne zur Schule gehen möchte, die aber schon spürt, dass es notwendig ist, zur Schule zu gehen, und dass es auch wichtig ist, in der Schule die Sozialkontakte zu pflegen. Belastungen entstehen aber auch für die Eltern, für die es eine echte Herausforderung ist, schon seit Monaten, Arbeit und Familie miteinander in Einklang zu bringen, irgendwie ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden und den Kindern zu erklären, was gerade eigentlich los ist.
Die Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind klar: Wir wollen die Schulen und die Kitas so lange wie möglich offen lassen, und wir wollen das Infektionsgeschehen im Griff haben. Diese beiden Ziele müssen gegeneinander abgewogen werden. Auf diese Fragen sind in dieser Woche, wie ich finde, sinnvolle Antworten gefunden worden. Es geht darum, einen vernünftigen, verantwortbaren Maskeneinsatz in den Schulen zu organisieren, und es geht darum, im Notfall Wechselunterricht oder Hybridunterricht festzulegen. Ich glaube, das sind gute Maßnahmen, die wir unterstützen können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Maßnahmen kommen auch rechtzeitig. Es reicht nicht, gute Maßnahmen zu haben, sondern man muss sie auch rechtzeitig treffen, so wie wir in Ostfriesland sagen: Beter dree Stünnen to froh as een Minüüt to laat.
Schule ist jetzt anders geworden. Ich will an dieser Stelle noch sagen: Herzlichen Dank an die Lehrerinnen und Lehrer, die sich darauf eingelassen haben, die bereit waren, in dieser Coronasituation zu unterrichten.
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Nicht zu vergessen: Dank auch an die Sozialpädagogen, die große Aufgaben vor sich hatten und die Großes geleistet haben, ebenso an die Hausmeister, die Dinge umorganisieren mussten, und das Verwaltungspersonal in den Schulen!
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Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass die Wirkung von mobilen Luftfiltern umstritten ist. Deswegen sind diese Luftfilter keinesfalls ein Allheilmittel. Ich habe ein bisschen Sorge, dass man mit dem Einsatz von mobilen Luftfiltern ein Stück weit den Anschein von Sicherheit erzeugt, die letztlich gar nicht gegeben ist. Es ist eigentlich klar: Lüften bleibt die wirkungsvollste Maßnahme.
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Als ehemaliger Bürgermeister will ich abschließend noch sagen: Die unterschiedliche Situation in den Schulen in Deutschland ist manchmal wirklich nicht zu ertragen. Wir haben auf der einen Seite Schulen mit einfachen Holzfenstern, und auf der anderen Seite haben wir Schulen mit vollautomatischen Lüftungsanlagen. Es darf eigentlich nicht länger von der Finanzsituation der betroffenen Kommune abhängen, unter welchen Rahmenbedingungen Schülerinnen und Schüler lernen dürfen oder müssen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Dafür wäre ein Schulinvestitionsprogramm wirklich angebracht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Peter Heidt für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen täglich feststellen, wie überfordert unser Bildungssystem mit der Bewältigung der Coronakrise ist. Auch hier wurde im Sommer leider nichts dafür getan, dass die Schulen winterfest gemacht werden. Wertvolle Zeit ist unnütz verstrichen. Und ich frage die CDU, wann Sie endlich mal auf den Trichter kommen, dass die fehlenden Mittelabflüsse vor allen Dingen an der überbordenden Bürokratie liegen, die Sie zu verantworten haben.
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Die Schulen gehören leider zu den Verlierern in dieser Krise. Das Homeoffice Schule funktioniert nicht, im Gegensatz zu vielen Bereichen der Wirtschaft. Das scheitert schon am fehlenden Internet in vielen Schulen.
Wir Freien Demokraten sind zutiefst davon überzeugt, dass das Offenhalten von Schulen eine extrem hohe Priorität hat. Wir müssen alles daransetzen, dass unsere Kinder trotz der Pandemie ihren Anspruch auf eine gute Bildung erfüllt bekommen. Wir wissen, wie dramatisch Schulschließungen für Schüler sind. Gerade Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern haben unter den Schulschließungen massiv gelitten. Das in Deutschland schon lange herrschende Problem der starken Abhängigkeit des Bildungserfolges vom Elternhaus wird durch die Schulschließungen noch einmal extrem verschärft.
Wir erleben doch jetzt genau dasselbe wie das, was wir im Frühjahr erlebt haben: Die Schulen mit funktionierenden Fördervereinen, also mit Schülern aus den besser situierten Elternhäusern, schaffen sich über die Fördervereine Luftfilter an. – Im Frühjahr waren es iPads.
Ein schönes Beispiel ist die Sophie-Scholl-Schule in Bad Nauheim. Die Luftfiltergeräte wurden über den Förderverein angeschafft, im Oktober installiert und sind seitdem im Einsatz. – Im Oktober! Sie leisten einen hervorragenden Dienst in der nassen und kalten Jahreszeit. Man muss jetzt nur noch vor dem Schulbeginn und in den Pausen durchlüften, frischen Sauerstoff reinlassen. Zugluft und Kälte bleiben draußen. Die Luftreinigung übernimmt der kleine mobile Helfer, dort liebevoll „R2-D2“ genannt.
Wir schließen in Deutschland aktuell sehr viele Einrichtungen wie Restaurants und zahlen dann Milliardenbeträge zum Ausgleich der Schäden. Wie viel sinnvoller ist es doch, dieses Geld dafür zu verwenden – und wir reden von einem überschaubaren Betrag –, dass eben die Einrichtungen nicht geschlossen werden müssen, dass sie mit diesen Maßnahmen in die Lage versetzt werden, offen bleiben zu können.
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Und genau hier setzt der Antrag der Freien Demokraten an. Wir wollen mit mobilen Luftfiltern für Schulen das Ansteckungsrisiko durch das Coronavirus für Schüler/-innen und Lehrer/-innen minimieren. Und wir wissen auch: Das ist kein Allheilmittel. Wer sagt denn das? Das ist ein Teil, ein Mosaikstein, um eben eine Lösung zu haben, und in der kalten Jahreszeit ist ein ständiges Lüften keine Alternative. Zudem gibt es ja leider in Deutschland viele Klassenräume, die Sie gar nicht lüften können. Was wollen Sie da machen?
Ich frage auch mal Frau Dr. Tiemann nach den wissenschaftlichen Studien, die Sie für Ihre ganzen Beschlüsse, für die Einschränkungen im Einzelhandel haben. Da gibt es überhaupt gar nichts an wissenschaftlichen Expertisen. Und wir haben wissenschaftliche Expertisen, und die eine oder andere Uni, die wir da genannt haben, gehören zu den renommiertesten Universitäten in Deutschland. Dass Sie denen nicht glauben, spricht sehr für Ihre Arroganz.
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Die Förderung der Bundesregierung von stationären Luftfilteranlagen greift zu kurz. Wir können heute mit diesem Antrag eine sinnvolle und schnell umsetzbare Maßnahme beschließen. Sie hilft unseren Schulen, sie hilft unseren Kindern. Insofern: Erkennen Sie endlich an, dass wir einen guten Antrag gestellt haben! Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie erkennen müssen, dass das, was Sie tun, nicht ausreicht.
Kollege Heidt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Einen letzten Satz. – Ich besuche sehr viele Schulen, ich spreche mit sehr vielen Eltern, eben nicht nur in den sonstigen Higher Classes, sondern in den sozialen Brennpunkten. Von daher weiß ich, was los ist.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Marco Wanderwitz.
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Seit 20. Oktober ist die Richtlinie „Bundesförderung Corona-gerechte Um- und Aufrüstung von raumlufttechnischen Anlagen in öffentlichen Gebäuden und Versammlungsstätten“ in Kraft; es geht um stationäre Anlagen. Sie liegt im Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, und deswegen spreche ich heute zu diesem Programm.
Antragsberechtigt sind Länder und Kommunen, Unternehmen, sofern die Finanzierung durch Beteiligung oder auf sonstige Weise zu mindestens 50 Prozent vom Bund, von Ländern oder Kommunen erfolgt, institutionelle Zuwendungsempfänger des Bundes sowie Hochschulen und Träger von öffentlichen Einrichtungen.
Ergo gehören auch Schulen zum Empfängerkreis, wenn sie über eine oben so genannte stationäre raumlufttechnische Anlage verfügen. Und das tun nicht wenige Schulen, insbesondere die, die neu gebaut worden oder saniert worden sind. Und diese Anlagen auf- und umzurüsten, das fördern wir mit einem Programmvolumen von 500 Millionen Euro, einer halben Milliarde. Damit rechnen wir uns aus, dass wir ungefähr 10 000 solcher Anlagen auch in Schulen kurzfristig um- und aufrüsten können.
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– Hören Sie doch erst mal zu, und schreien Sie nicht dazwischen. Sie können noch was lernen.
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Mittlerweile haben wir eine Vielzahl von Anträgen beim BAFA, beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, das dieses Programm administriert. Darunter sind auch Schulen. Das Programm ist, wie gesagt, gerade erst angelaufen; am 20. Oktober ist es gestartet. Wir sind sehr zuversichtlich, dass auch nicht wenige Schulen darunterfallen.
Wir können uns zudem vorstellen, wenn uns der Haushaltsgesetzgeber diesen Rahmen ermöglicht oder wir anderweitig Lösungen finden, dass wir in einer zweiten Stufe möglicherweise auch den Neubau solcher stationärer Anlagen fördern können und damit noch mehr Schulen die Möglichkeit hätten, hier zu beantragen.
Warum fördern wir nun nur feste raumlufttechnische Anlagen? Weil das Ziel dieses Programms ist, die Aerosole aus den Gebäuden zu befördern, ohne zwangsläufig in regelmäßigen kurzen Abständen lüften zu müssen, und mobile Geräte können genau das nicht. Sie wälzen die Luft nur um und bringen weder Frischluft von außen rein noch die Raumluft nach außen.
Deswegen sind es zwei Paar Schuhe. Das Paar Schuhe, das wir fördern, ist die wirksamere Maßnahme. Ein gewisser Nachhaltigkeitsgedanke spielt dabei natürlich mit; denn es geht ja nicht nur um Aerosole, sondern auch darum, beispielsweise CO2 aus der Luft filtern zu können und damit, wenn wir bei Schulen bleiben, den Schülerinnen und Schülern eine bessere Konzentration zu ermöglichen, wenn regelmäßiger Frischluft zugeführt wird. Deswegen haben die moderneren Schulen, von denen ich am Anfang sprach, beispielsweise die Oberschule in meiner Heimatstadt Hohenstein-Ernstthal, die wir vor wenigen Jahren neu errichtet haben, eine raumlufttechnische Anlage.
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Ich weiß ja nicht, wie das in Ihrem Bundesland ist. Bei uns in Sachsen funktioniert es ganz gut.
Die mobilen Raumlüfter versorgen, wie ich schon sagte, die Räume nicht mit Frischluft, sondern es ist Stoßlüften nötig. Die mobilen Anlagen sind aber auch kostengünstiger, und deswegen will ich an der Stelle auch mal etwas ansprechen, was hier in der einen oder anderen Debatte in den letzten Tagen im Haus ja auch eine Rolle gespielt hat.
Die Bewältigung der Coronapandemie ist eine gesamtstaatliche Aufgabe: Bund, Länder und Kommunen. Wir fördern jetzt in einem Bereich, für den die primäre Zuständigkeit nicht unbedingt beim Bund liegt, wenn wir uns mal die Schulen anschauen, die teuren festen Raumluftanlagen. Schulträger sind die Kommunen;
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die Hauptverantwortlichkeit für Schule liegt bei den Bundesländern. – Die Kommunen haben, anders als der Bund, die letzten Jahre regelmäßig Überschüsse im kommunalen Finanzierungssaldo gehabt.
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Deswegen sage ich als Bundestagsabgeordneter, als Mitglied dieses Gremiums, das der Haushaltsgesetzgeber ist: Wir müssen dieser gesamtstaatlichen Aufgabe gemeinsam gerecht werden. Und wenn es vor Ort Schulen gibt, an denen es sich auch wegen der räumlichen Situation lohnt – denn es geht doch genau darum, dass die Geräte entsprechend ordentlich bedient werden müssen; sie können nicht in jedem Raum angewendet werden –, dann ist es Aufgabe der Kommunen als Schulträger, solche mobilen Geräte, die deutlich kostengünstiger sind, anzuschaffen.
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Ein letzter Punkt, Frau Kollegin Höchst, weil Sie ja das Thema „Was macht der Deutsche Bundestag?“ angesprochen haben: Wir haben hier im Deutschen Bundestag die Situation, dass nahezu alle Büros über eine Raumluftumwälzung verfügen. Es gibt einige wenige Büros in einigen wenigen Liegenschaften, die das nicht haben, kleine Büros. Abgeordnetenbüros sind ja, wie wir alle wissen, nicht besonders groß. Und für diese kleinen Büros hat der Ältestenrat beschlossen, dass mobile Geräte angeschafft werden können. Da es kleine Zimmer sind, in denen es schnell auch durch ein Mobilgerät eine Luftumwälzung geben kann, ist das eine sinnvolle Maßnahme. Und der Zusammenhang, den Sie darstellen wollen, ist unredlich und unsachlich.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in Deutschland 40 000 Schulen mit 11 Millionen Schülerinnen und Schülern. Sie dürfen nicht die Verlierer dieser Pandemie sein.
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Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass flächendeckende Schließungen von Schulen verhindert werden. Ich bin froh darüber, dass die Ministerpräsidentenkonferenz daran festgehalten hat.
Fakt ist: Corona verschärft ein Grundproblem, und zwar soziale Ungerechtigkeit. Das dürfen wir nicht weiterhin hinnehmen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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So hat das Homeschooling viele Eltern und viele Schülerinnen und Schüler belastet, ganz besonders die Familien, die einkommensschwach sind und in denen die Kinder teilweise ganz auf sich gestellt waren. Das kann nicht der Weg sein. Der Ausfall von wenigen Wochen hat hier schwerwiegende Auswirkungen auf den Lernerfolg. Unser gemeinsamer Anspruch ist es aber, dass jedes Kind die beste und umfassendste Bildung bekommt, die unter den aktuellen Umständen möglich ist.
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Jedes Kind muss unter diesen schwierigen Umständen trotzdem die besten Entwicklungsmöglichkeiten bekommen und seine Potenziale entfalten können; denn Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Bildung, Teilhabe, Förderung und Schutz.
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Ich bin Vater eines schulpflichtigen Kindes, und ich weiß, dass die beste Wahl der Präsenzunterricht ist. Erst die zweite Wahl ist die Kombination aus Präsenz- und Onlineunterricht. Damit wir keinem Kind seine schulische Entwicklung erschweren oder faktisch unmöglich machen, ist der kurzfristige Verzicht auf Präsenzunterricht für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keine Lösung. Das Leben ist keine Videokonferenz. Das gilt auch für die Bildung, meine Damen und Herren.
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Das heißt aber nicht, dass wir die Schulen nicht digitalisieren sollten. Wir wollen weiterhin eine digitale Gerechtigkeit in unseren Schulen. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass wir die Medienkompetenz von Schülerinnen und Schülern sowie von Lehrkräften verbessern. Es gibt MINT-Akteure wie das „Haus der kleinen Forscher“, die genau solche Angebote haben und die Schulen, Jugendliche und Lehrkräfte dabei unterstützen können. Es ist zentral, dass wir weiterhin durch die Umsetzung des MINT-Aktionsprogrammes außerschulische Akteure untereinander und mit Schulen zusammenbringen und gemeinsam ein breites Angebot schaffen, von dem Schulen, Kinder und Lehrkräfte profitieren.
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Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass die Koalition auf Druck der SPD Folgendes bereits auf den Weg gebracht hat:
Erstens. Mit dem DigitalPakt Schule unterstützt der Bund die Länder und Gemeinden bei Investitionen in digitale Bildung und Infrastruktur mit 5 Milliarden Euro.
Zweitens. Diese Summe wird aufgestockt, und zwar um weitere 1,5 Milliarden Euro für die IT-Administration, für Werkzeuge, für die Erstellung digitaler Inhalte sowie für mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrkräfte.
Drittens. Wir wollen Kompetenzzentren für digitalen Unterricht schaffen. Sie sollen bei Schulentwicklungsplänen beraten. Mit den Beiträgen der Länder bzw. der Schulträger kommen wir insgesamt auf sage und schreibe 7 Milliarden Euro. Mein Land Sachsen-Anhalt erhält zum Beispiel 137 Millionen Euro, die in Schulbildungsinfrastruktur und in Lehrerfort- und ‑weiterbildung investiert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit können wir die digitale Gerechtigkeit im Schulbereich verwirklichen, und zwar für jeden und für jede, unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht und Herkunft der Eltern.
Danke schön.
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Dann die besten Wünsche, Kollege Diaby.
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Staffler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt darf ich diese Debatte abschließen. Am schönsten ist es, wenn man am Ende einer solchen Debatte ein kleines Fazit, einen Minimalkonsens findet, etwas, auf das wir uns alle einigen können. Wenn man die Debatte heute so verfolgt hat, könnte man fast meinen: Das ist bei diesem Thema schwierig. – Deswegen mag es ein wenig überraschend klingen, wenn ich sage: Es gibt einen solchen Minimalkonsens auch in dieser Debatte. – Denn wir sind uns am Ende des Tages, glaube ich, schon bei zwei Punkten einig.
Wenn man die letzten Wochen und Monate verfolgt hat, hat man, glaube ich, gesehen, dass diese für Eltern, für Kinder, für all diejenigen, die im Bildungsbereich tätig sind, eine unglaublich große Herausforderung waren. Es ist nicht einfach, den Kindern zu erklären, dass sie sich heute nicht mit ihren Freunden treffen können. Es ist auch nicht einfach, den Kindern zu erklären, was so ein Virus überhaupt ist, wie es sich verbreitet und was so schlimm daran ist. Es ist auch eine Riesenherausforderung für alle Familien, jeden einzelnen Tag wieder, irgendwie zu koordinieren, wie sie Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen, wie sie das irgendwie auf die Reihe bringen sollen, um durch diese Phase zu kommen. Deswegen ist es auch so wichtig – das ist uns allen klar –, dass die Schulen, die Einrichtungen jetzt offen bleiben.
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Da haben wir schon den ersten Konsens.
Gleichzeitig haben uns die Erfahrungen aus den letzten Monaten gezeigt, dass wir uns die Fragen stellen müssen, wie wir in dieser immer stärker digitalisierten Welt lernen wollen und müssen und welche Rahmenbedingungen es dafür braucht. Wir müssen jetzt den Schwung, den die Pandemie in die Digitalisierung der Bildung gebracht hat, nutzen, und wir dürfen eben nicht, sobald die Pandemie irgendwann besiegt sein wird, zu den alten Strukturen zurückkehren. Auch darin sind wir uns alle einig.
Dann hört der Konsens leider auch schon wieder auf, nämlich genau bei dem Wort „wir“. Ja, wir auf Bundesebene können der Ideengeber sein. Wir können die Positionen formulieren, die Ansprüche formulieren. Aber was wir auf Bundesebene eben nicht können, ist, dass wir diese Ideen am Ende des Tages auch umsetzen. Das können nämlich nur diejenigen, die primär dafür zuständig sind, und das sind – das ist heute schon oft genug gesagt worden – nicht wir, sondern die Länder.
Wenn wir das als Unionsfraktion immer wieder betonen, dann hat das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, nichts damit zu tun, dass wir die ganze Zeit nur mit dem Finger auf andere zeigen wollen; das ist schlichtweg dem Grundgesetz, den föderalen Zuständigkeiten geschuldet. Und es ist echt ermüdend, dass wir diese verfassungsrechtlichen Grundlagen immer und immer wieder in diesen Debatten wiederholen müssen.
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Begreifen Sie die Selbstständigkeit der Länder doch einfach mal als hohes Gut und nicht als einen, wie Sie es suggerieren wollen, nervigen Hemmschuh, der uns als Bund daran hindert, mit der Gießkanne das Geld über das ganze Land zu verteilen.
Ich war echt positiv erstaunt. Auf einer Podiumsdiskussion gestern Abend genau zu diesem Thema hat sogar die Kollegin Bull-Bischoff von den Linken ein flammendes Plädoyer dafür gehalten, was am Bildungsföderalismus an positiven Dingen zu vermerken ist. Ich war erstaunt. Ich habe kurz überlegt, ob ich falsch gehört habe, aber nein, das war der Fall. Es war durchaus positiv.
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– Doch, das war es. Insofern sollten wir uns darauf doch immer mal wieder berufen.
Abgesehen davon haben wir in den letzten Jahren den Ländern bei der Finanzierung von Bildungsaufgaben durchaus maßgeblich unter die Arme gegriffen, zum Beispiel – das ist schon angesprochen worden – durch den DigitalPakt Schule oder den Hochschulpakt. Aber gerade dieses letzte Beispiel zeigt doch eindrücklich, dass wir bei diesen Bund-Länder-Vereinbarungen sehr genau hinschauen müssen, dass die Gelder auch wirklich da eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden.
So. Das war für heute praktisch der Grundkurs Förderalismus, den wir in dieser Debatte abgehalten haben. Deswegen würde ich sagen: Lassen wir es damit gut sein. Kommen wir zurück zu den Ideen und Vorschlägen, die wir als Fraktion haben, wie wir die Schulen für die Zukunft wappnen.
Die Vorredner haben es in Teilen schon genannt: Uns geht es um einen Ansatz, der einer ganzheitlichen Logik folgt. Das heißt: Natürlich müssen wir erst mal die technischen Voraussetzungen schaffen. Und ja, es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir noch besser und vor allem auch schneller werden müssen. Deswegen müssen wir zweifelsohne den beschleunigten Mittelabfluss beim DigitalPakt Schule jetzt noch stärker in Angriff nehmen.
Aber es ist halt auch nicht nur die Technik alleine. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass zum Beispiel auch – zweites Thema – Fortbildungsangebote, Beratungsstrukturen für die digitale Bildung gestärkt werden. Weitere Themen sind die Lizenzierung von digitalen Lernmitteln, um einen einheitlichen Prozess zu etablieren – das ist ein Thema, das wichtig ist, aber heute noch gar nicht angesprochen wurde –, Digitalisierung in den Curricula abbilden usw. usf.
Ich würde das gerne noch weiter ausführen; meine Redezeit reicht dazu leider nicht. Deswegen schließe ich ab mit einem kleinen Appell: Lassen Sie uns doch bitte weiterhin mit Mut und Zuversicht diese Themen anpacken. Wenn wir das als Verantwortungsträger nicht tun, ja, wie sollen es denn dann die Menschen in unserem Land tun? Deswegen: Wir brauchen Fortschritt anstatt Rückschritt.
Kollegin Staffler, Sie haben richtig erkannt, dass Ihre Redezeit ausgeschöpft ist.
Ja, der letzte Satz. – Wir brauchen Lust auf Zukunft, und das kann gute Bildung schaffen. Deswegen: Lassen Sie uns das gemeinsam tun!
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Nach einer Schätzung des ZDF bearbeiten Inkassounternehmen in Deutschland jährlich 20 Millionen Mahnungen. Es mag überwiegend berechtigt sein, dass diese Forderungen bestehen, und überwiegend mögen die Inkassobüros auch seriös vorgehen. Aber es gibt eben auch Missbrauchsfälle in der Branche, wo die Rechtsunerfahrenheit der Schuldner wirklich ausgenutzt wird. Deswegen machen wir dieses Gesetz. Wir wollen keine Abzocke der Schuldner, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir stoppen mit diesem Gesetz, dass für Schuldner unnötige Belastungen dadurch entstehen, dass in bestimmten Fällen eine Geschäftsgebühr und eine Einigungsgebühr anfällt, und wir stellen klar, dass ein Gläubiger, der ein Inkassobüro und einen Rechtsanwalt beauftragt, grundsätzlich nur einmal eine Gebühr verlangen kann, es sei denn, es tritt die Ausnahme ein, dass der Schuldner die Forderung nach der Beauftragung des Inkassounternehmens bestritten hat. Und wir stellen klar, dass dieses Bestreiten wirklich durch ein aktives Tun erfolgen muss, damit es hier also keine Unklarheiten gibt. Wir wollen die Schuldner vor doppelten Gebühren schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wichtig war uns auch, dass wir bei den üblichen Vorgängen im Inkassogeschäft die Gebühren reduzieren. So stellen wir ausdrücklich klar, dass es keine erhöhte Einigungsgebühr mit einem Gebührensatz von 1,5 geben wird, wenn der Hauptanspruch anerkannt wird; bei Rechtsanwälten gibt es ja durchaus entsprechende Fälle. Hier stellen wir jetzt klar, dass der Gebührensatz von 1,5 nicht anfällt. Das war ein sehr großer Kostenfaktor in der Vergangenheit, und deswegen gehen wir hier dagegen vor. Und wenn der Anspruch anerkannt wird und eine Zahlungsvereinbarung getroffen wird, dann kann nur die niedrige Einigungsgebühr mit einem Gebührensatz von 0,7 abgerechnet werden.
Weil wir die Anwaltsgebühren zum Jahreswechsel vermutlich beim nächsten Tagesordnungspunkt erhöhen werden, wollen wir klarstellen, dass diese Erhöhung der Gebühren nicht dazu führt, dass die Reduzierung, die wir hier für die Schuldner erreichen wollen, wieder aufgefressen wird. Deswegen haben wir hier auch geregelt, dass die Geschäftsgebühr 10 Prozent niedriger als vorgesehen ausfällt, also nur noch eine Geschäftsgebühr von 0,9 abgerechnet werden kann. All das wird dazu führen, dass die Inkassogebühren für die Schuldner und Schuldnerinnen geringer ausfallen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir werden auch die Informationspflichten deutlich erweitern. Oft sind die Schuldner ja geschäftsunerfahren. Deshalb sind die Inkassounternehmen zukünftig verpflichtet, über ihre Auftraggeber genaue Daten anzugeben, etwa den Namen und den Forderungsgrund. Und damit kein Schuldner vorschnell im Wege eines Anerkenntnisses auf seine Rechte verzichtet, wird zukünftig ein Schuldanerkenntnis nur dann wirksam sein, wenn der Schuldner ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass er durch das Anerkenntnis die Möglichkeit verliert, Einreden und Einwendungen geltend zu machen.
Es gibt also ganz wichtige Verbesserungen für die Schuldnerinnen und Schuldner.
In unserem Entschließungsantrag greifen wir zwei Missstände auf, nämlich zum einen, dass die Aufsicht über die Inkassobüros erheblich zersplittert ist, und zum anderen, dass immer häufiger gerade beim Onlinehandel Identitäten gestohlen werden, also unter falschem Namen Bestellungen aufgegeben werden.
Es ist ein gutes Gesetz. Dank an das Justizministerium für die gute Vorlage und an die Kollegen für die gute Zusammenarbeit. Wir schützen mit diesem Gesetz wirklich die Schuldner vor Abzocke durch Inkassounternehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz egal, welche gesetzliche Lösung sich jetzt hier durchsetzt, eins ist klar: Der Dank für den Schutz von Verbrauchern vor Inkassoabzocke gebührt einzig und allein der AfD.
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Jeder Verbraucher, der künftig im Zahlungsverzug vor überzogenen Kosten geschützt wird, weiß, dass die gesetzlichen Änderungen auf die Initiative der AfD zurückzuführen sind.
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Es war die AfD, die schon im März 2019, also schon vor über anderthalb Jahren, auf die Problemstellungen, die mit dem Inkassobetrieb einhergehen, hingewiesen hat,
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was auch konsequent ist, denn das haben wir unseren Wählern im Wahlprogramm versprochen.
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Dazu gehörte eine Analyse der Lage in Bezug auf Überfallinkasso, die Geltendmachung zusätzlicher und unberechtigter Inkassokosten, erstattungspflichtige Doppelaufträge an Inkassobüros wie an Rechtsanwälte, sogenanntes Konzerninkasso, aber auch das Androhen von unbegründeten Maßnahmen wie unmittelbar bevorstehender Haft für den Schuldner, wenn er die Forderung nicht begleicht.
Es war die AfD-Fraktion, die vor anderthalb Jahren den ersten Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt hat, durch den mit einem Schlag sämtliche Verbraucher, die Bagatellbeträge schulden, von Inkassokosten freigestellt würden.
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Die Umsetzung unserer Vorschläge würde dazu führen, dass Inkassobüros die Schuldner zunächst durch eine kostenfreie und qualifizierte Mahnung vor weiteren Kosten warnen müssten. Unsere Initiative würde die Schuldner von Inkassokosten vollständig befreien, wenn die zugrundeliegende Hauptforderung entweder 100 Euro bei einer einzelnen Forderung oder 160 Euro bei mehreren Forderungen inklusive Umsatzsteuer nicht übersteigt.
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Für Schuldner von Bagatellforderungen wären damit in transparenter und verständlicher Weise alle mit Inkasso verbundenen Probleme gelöst. Besser geht es nicht.
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Zwar haben die Altparteien wieder einmal mit vorgeschobenen Gründen unsere Initiative boykottiert. Jedoch ist es eine Bestätigung für die Qualität unserer parlamentarischen Arbeit, wenn die Altparteien und auch die Bundesregierung unsere Initiative aufgreifen,
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auch wenn sie das Ganze als eigene Idee und dann noch in einer deutlich weichgespülten Variante präsentieren; das haben wir ja gerade gehört.
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Immerhin werden nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Inkassokosten für die Beitreibung von bis zu 50 Euro nach oben gedeckelt. Das ist zwar nicht ausreichend, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Auch § 288 BGB soll leider nur geringfügig angepasst werden. Damit wird dem Überfallinkasso anders als bei unserer Lösung kein Riegel vorgeschoben. Insgesamt bleibt die Bundesregierung beim Verbraucherschutz deutlich hinter unserer Vorlage zurück.
Zu guter Letzt komme ich noch auf die Initiativen von FDP, Grünen und Linken zu sprechen, die ja auch auf diesen Zug aufgesprungen sind. Es bleibt festzustellen, dass keine der genannten Fraktionen imstande oder willens gewesen wäre, einen eigenen Gesetzentwurf zu der Inkassothematik vorzulegen. Lediglich drei Anträge können sie vorweisen. Frau Amira Mohamed Ali, das ist die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, hat im März letzten Jahres hier an diesem Rednerpult großmundig geäußert:
Wir brauchen eine viel größere Lösung. Wir müssen an das System der Inkassoabzocke ran. Wir Linken sagen: Das Geschäft mit der Not darf sich nicht mehr lohnen.
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Heute, nach anderthalb Jahren, kann jeder sehen, was das Thema Inkassoabzocke der Linkspartei wert gewesen ist: einen Antrag mit dem Umfang von sage und schreibe zweieinhalb Seiten.
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Frau Wagenknecht hat recht, wenn sie äußert:
Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen.
... Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt.
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Im Unterschied dazu können die Bürger in unserem Land an diesem Beispiel sehen: AfD wirkt. Und vor allem: Wir halten Wort.
Besten Dank.
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Das Wort hat der Kollege Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Maier, es wird nicht richtiger, wenn man ständig was Falsches behauptet.
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CDU, CSU und SPD haben im Koalitionsvertrag 2018 vereinbart – ich zitiere wörtlich –, „die Aufsicht über die Inkassounternehmen“ zu verstärken „und die Regelungen zum Inkassorecht verbraucherfreundlich“ weiterzuentwickeln.
Dazu brauchen wir die AfD nun wirklich nicht.
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Dieses Gesetz ist ein Verbraucherschutzgesetz, und ich finde, dass es uns unter allen Gesichtspunkten gut gelungen ist. Kollege Maier, wenn wenigstens der andere Kollege Maier von Ihrer Fraktion da gewesen wäre! Dem haben wir das hier schon mehrfach erklärt: Die Umsetzung Ihrer Vorschläge ist rechtlich schlicht nicht möglich. – Verlautbarungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, der Grundsatz der Totalreparation im Schadensrecht bis hin zur Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – alle sagen: Der Gläubiger hat ein Anrecht darauf, dass seine Kosten erstattet werden. – So. Das könnten Sie sich doch irgendwann auch mal merken. Vielleicht schaffen wir es dann beim nächsten Mal in der Debatte.
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Wir haben – offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen – mit allen Beteiligten Gespräche geführt: Mit dem Inkassoverband, mit den Inkassounternehmen, mit Rechtsanwälten, mit der Verbraucherzentrale und auch mit einzelnen betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Wie Sie sich vorstellen können, sind da die Wünsche deutlich unterschiedlich. Einige wollen eigentlich fast gar nichts mehr bezahlen, und die Unternehmen möchten natürlich am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist. Das hat auch die Anhörung relativ deutlich gezeigt. Wir haben damals schon gesagt: Wenn man von beiden Seiten so viel wohlwollende Kritik bekommt, kann der Entwurf gar nicht so schlecht sein. – Aber wir haben uns trotzdem noch mal hingesetzt und seit dem September wesentliche Änderungen verhandelt. Ich glaube, deswegen können wir sagen, dass wir am Ende einen guten Entwurf zusammen hinbekommen haben.
Auf eins müssen wir vielleicht noch mal hinweisen: Inkasso ist für die Unternehmen ein ganz wesentlicher Faktor. Wir führen jährlich 5 bis 10 Milliarden Euro durch Inkassodienstleistungen zurück in den Wirtschaftskreislauf. Das ist wichtig, nicht nur für die großen Unternehmen, sondern gerade für die kleinen Unternehmen, die keine eigene Rechtsabteilung haben.
Nichtsdestotrotz – das ist schon von Anfang an unser Ziel gewesen – müssen wir die Verbraucherinnen und Verbraucher vor übermäßigen Inkassokosten schützen. Deswegen war es uns als Union besonders wichtig, dass wir die Kleinstforderungsregelung in diesem Entwurf haben. Die stand schon von Anfang drin. Wir schaffen endlich diese Unwucht ab, dass im Bereich unter 50 Euro die Kosten höher sind als die einzelne Forderung. Das war uns als Union sehr wichtig. Das haben wir durchgesetzt, und das ist ein ganz wesentlicher Faktor.
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Darüber hinaus – Kollege Fechner hat es gesagt – haben wir die Inkassogebühren noch mal angefasst. Wir haben noch mal nachjustiert, wir haben die unerwünschten Auswüchse, glaube ich, kontrolliert, wir haben den schwarzen Schafen einen Riegel vorgeschoben und helfen übrigens der Branche aus unserer Sicht deutlich dadurch, dass wir insgesamt die Transparenz erhöhen.
Klar ist, dass wir hier einen Interessenausgleich zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und den Unternehmen brauchen. Deswegen haben wir am Ende des Tages gesagt: Da natürlich die Änderung der Rechtsanwaltsvergütungen – das Thema RVG behandeln wir gleich – zu einem Aufwuchs der Gebühren führt, haben wir uns noch mal über die Geschäftsgebühr unterhalten und haben es für sachgerecht gehalten, über einen Gebührensatz von 0,9 anstatt 1,0 nachzudenken.
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Das ist übrigens noch mal eine deutliche Absenkung in diesem Bereich.
Was haben wir am Regierungsentwurf noch geändert? Wir haben – das mag was für juristische Feinschmecker sein – den § 288 Absatz 4 BGB noch mal angefasst; der steht der Verzugssystematik des BGB komplett fremd gegenüber. Ihn beizubehalten, hätte im Übrigen bedeutet, dass zum Beispiel bei deliktischen Forderungen allen Ernstes verlangt worden wäre, dass darauf noch mal hätte hingewiesen werden müssen usw. Das können wir nicht allen Ernstes fordern; gerade in diesem Bereich ist das völlig unzumutbar.
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Bei zwei Teilaspekten sind wir tatsächlich noch nicht zufrieden. Wir haben gefordert, im Bereich des Identitätsdiebstahls deutlich mehr zu machen. Da hat uns der Entwurf nicht gefallen, da ist man deutlich zu kurz gesprungen, wie wir feststellen mussten. Das war ein großes Thema. Deswegen haben wir den Entschließungsantrag hinzugefügt und mit einer Frist versehen, sodass wir noch in dieser Legislaturperiode Ergebnisse bekommen. Da müssen wir alle Bereiche durchprüfen: Strafrecht, Gewerberecht, Wettbewerbsrecht. Da sollte nichts ungeprüft bleiben. Die Entwicklung in diesem Bereich ist inakzeptabel; diese wollen wir als Union bekämpfen.
Das Thema „Zentralisierung der Aufsicht“ ist genannt worden; das war auch ein großes Thema. Da müssen wir deutlich sagen: Das – also einen Gleichklang mit dem RVG herzustellen – konnten wir in der Kürze der Zeit nicht mehr regeln; denn das fällt in die Zuständigkeit der Länder. Das muss man auch so deutlich sagen. Der Bund kann von daher nicht alleine entscheiden, ob und in welchen Bereichen zentralisiert wird. Aber das wäre ein wesentlicher Faktor, um einen Gleichklang herzustellen; denn die Unternehmen sind ja nicht nur in einem Bundesland tätig.
Zusammengefasst: Uns ist durchaus bewusst, dass es an dem Entwurf von beiden Seiten Kritik gibt – wir haben es gesagt –, und zwar sowohl von der Verbraucherzentrale, die sagt: „Das ist alles zu viel“, als auch von den Branchenverbänden, die sagen: „Das ist alles zu wenig.“ Deswegen bleibe ich dabei: Wenn wir bei so einem durchaus umstrittenen Thema von beiden Seiten so viel wohlwollende Kritik bekommen, ist es aus unserer Sicht ein sehr guter Entwurf geworden. Ich glaube, Sie können besten Gewissens zustimmen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katharina Willkomm das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schulden per se sind weder schlimm noch selten. Unser Wirtschaftssystem baut sogar darauf, dass wir Verbindlichkeiten eingehen. Kaum ein Haus würde in diesem Land gebaut werden, wenn die Menschen sich nicht trauten, Schulden zu machen. So paradox es klingt: Schulden schaffen Werte. Problematisch ist nur, wenn sie dem Schuldner über den Kopf wachsen. Dem Schuldner gegenüber steht der Gläubiger. Der hat buchstäblich schon geliefert, Dienstleistungen erbracht und darauf vertraut, dass der Schuldner auch bezahlt. Selbstverständlich will er sein Geld haben, und selbstverständlich darf er sich dafür auch eines Inkassodienstleisters bedienen. Das Verhältnis dieser drei hat der Gesetzgeber im Schuld- und Verfahrensrecht austariert. Dieses Gleichgewicht interessiert die Regierung nicht. Sie beschränken sich darauf, einseitig die Kosten zu drücken. Der Inkassodienstleister soll ausbaden, dass Ihnen nichts einfällt, um finanzschwache Verbraucher vor neuen Schulden zu bewahren.
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Hätten Sie, ach hätten Sie nur genauer den Antrag meiner Fraktion gelesen!
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Wir wollen die Höhe der Inkassokosten für die kleinen Forderungen im zweistelligen Bereich stärker ausdifferenzieren. Im Alltag nimmt das Bezahlen mit Kreditkarte, Handy oder sogar der Smartwatch immer mehr zu, genauso wie kleine Impulskäufe im Internet. Forderungen, die nicht sofort in bar beglichen werden, hat man schwer im Blick. Daher haben wir schon zu Beginn der Reform eine neue Niedrigstufe im Kostenrecht gefordert. Der Anwalt sollte nicht teurer sein als die Schuld. Das haben Sie übernommen; das begrüßen wir.
Noch besser wäre es für die Schuldner aber gewesen, wenn Sie auch unsere anderen Vorschläge übernommen hätten.
So könnte mit unserer Umkehrung der gesetzlichen Tilgungsreihenfolge nicht nur der Schuldner entlastet werden, der sich über Jahre an immer neuen Zinsen abarbeitet, ohne nennenswert die Hauptforderung zu senken, auch den unterfinanzierten Schuldnerberatungen wäre damit Arbeit abgenommen.
Ebenso hätte unser Vorschlag einer festen Inkassogebühr von 1,0 Vorteile für alle: Für Verbraucher würde es billiger, für die Aufsicht leichter, und kleine Inkassobüros hätten ein Auskommen, sodass der Markt sich nicht auf wenige große Anbieter konzentriert.
Wir schlagen außerdem vor, feste Fristen zwischen Rechnung, Mahnung und Inkasso einzuführen. Das verschafft dem Schuldner mehr Sicherheit,
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und wir unterbinden, dass Post vom Inkasso teilweise vor der Ware ankommt.
Ihr Entwurf ist vor allem weiße Salbe, ohne praktische Hilfe. Er soll nur Kosten senken, um das Schuldnerdasein erträglicher zu machen.
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Wir als FDP wollen den Menschen helfen, damit sie raus aus den Schulden kommen. Ihre Reduktion der Einigungsgebühr macht das nur schwerer. Ein weiterer Grund, warum wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden nicht das erste Mal über das Inkassounwesen. Das Problem ist seit Jahren bekannt; es wurde nicht beseitigt und wird leider heute auch nicht durch Ihren Vorschlag beseitigt, Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD. Dabei nimmt die Dringlichkeit zu. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat mitgeteilt, dass inzwischen 13 Millionen Menschen in unserem Land arm sind. Über 4 Millionen davon sind übrigens arm, obwohl sie in Vollzeit arbeiten. Ein absoluter Skandal, ein völliges Versagen der Bundesregierung!
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Wir wissen, dass aufgrund der Coronakrise immer mehr Menschen in die Armut abrutschen werden. Die Verbraucherzentralen warnen bereits heute, dass eine Welle an Insolvenzen auf uns zukommt, dass immer mehr Menschen in Zahlungsschwierigkeiten geraten werden, eben weil Einkommen zum Teil dramatisch einbrechen oder ganz weggefallen sind. Und was machen Sie mit Ihrer Regierungsverantwortung in dieser historischen Krise?
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Sie lassen die Betroffenen allein,
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und leider zeigt sich hier ein Muster. Ich möchte nur zwei Beispiele nennen: Seit Juli ist es wieder möglich, Mietwohnungen aufgrund von Zahlungsrückständen zu kündigen. Ebenso ist es wieder möglich, dass Menschen der Strom in den Wohnungen abgeschaltet wird, wenn sie die Rechnungen nicht bezahlen können: mitten in dieser Krise, mitten im Winter! Unglaublich ist das.
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Und genauso, wie Sie sich hier auf die Seite der Immobilienkonzerne, der Stromkonzerne stellen, anstatt auf die Seite der Bürgerinnen und Bürger, stellen Sie sich beim Thema Inkassounwesen nach wie vor pauschal auf die Seite der Inkassounternehmer. Und das ist unverantwortlich!
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Denn was unseriöse Inkassounternehmen tun, das hat nichts mit der Durchsetzung berechtigter Interessen zu tun.
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Diese Unternehmen schlagen ungehemmt Profit aus Menschen, die oft in tiefer Not sind, denen das Wasser wirklich bis zum Hals steht. Dabei ist ihnen oft jedes Mittel recht: Sie schreiben Drohbriefe, machen Telefonterror – unlautere Geschäftspraktiken sind leider an der Tagesordnung. Die Inkassoaufsicht endlich beim Bund anzusiedeln, um so eine einheitliche, effiziente Aufsicht zu gewährleisten, wie wir es seit Jahren fordern, schieben Sie weiter auf.
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Vor allem dürfen sie noch immer viel zu hohe Inkassogebühren erheben. Nach Ihren Vorschlägen dürfen sich die Inkassogebühren nach wie vor am Rechtsanwaltsvergütungsgesetz orientieren, und das ist wirklich absurd.
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Als Juristin möchte ich sagen: Inkasso ist keine komplizierte Tätigkeit, überhaupt nicht; das sind oft automatisierte Prozesse. Inkassounternehmen leisten keine seriöse Rechtsberatung, und sie sind – übrigens anders als Rechtsanwälte – nicht mal verpflichtet, zu prüfen, ob die Forderung, die sie da eintreiben, offensichtlich unbegründet ist.
Es ist dringend notwendig, die Inkassokosten klar auf deutlich niedrigerem Niveau zu deckeln. Wir fordern maximal 5 Euro bei Bagatellforderungen bis 50 Euro und maximal 100 Euro Inkassokosten bei allen anderen Forderungen.
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Außerdem brauchen wir endlich, besonders in diesen Zeiten, ein Recht auf kostenfreie Schuldnerberatung für alle, damit die Betroffenen in dieser Notlage schnell Hilfe bekommen.
Danke schön.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Tabea Rößner das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken aus dem Jahr 2013 wollte die damalige Bundesregierung den Verbraucherschutz beim Inkasso verbessern. 2018 kam der Evaluationsbericht. Er hat deutlich gezeigt: Dieses Gesetz hat dieses Kernanliegen ganz klar verfehlt; denn die Kosten, mit denen Schuldnerinnen und Schuldner durch die Inkassobranche belastet werden, sind immer noch viel zu hoch. Sie sind zum Teil sogar noch angestiegen. Damit hat die Bundesregierung die Verbraucherinnen und Verbraucher lange im Regen stehen lassen. Wir brauchen deutlich mehr Einsatz für Verbraucherschutz, und das auch gerade in Coronazeiten.
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Wir Grüne haben schon im Jahr 2018 Verbesserungen vorgeschlagen. Neben einer deutlichen Senkung der Inkassogebühren fordern wir vor allen Dingen eine stärkere Aufsicht; denn die greift kaum. Über zwei Jahre später legt nun die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor. Ein Schutz vor Abzocke ist das wahrlich nicht; das erkennen Sie, wenn Sie der Anhörung richtig gefolgt sind.
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Ich habe selten erlebt, dass Sachverständige einen Gesetzentwurf so zerrissen haben. Statt das Gesetz aber noch einmal richtig zu überarbeiten, kommen von der Koalition nur minimale Änderungen, obwohl doch glasklar ist, welche Verbesserungen nötig sind. Ihre Änderungen lösen das eigentliche Problem nicht.
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Ein Grundproblem – das wurde angesprochen – ist die Koppelung der Gebühren an die Rechtsanwaltsvergütung. Die Senkung des Gebührensatzes von 1 auf 0,9 ist gleich wieder hinfällig, sobald die Gebühren wie geplant angehoben werden. Der Effekt ist also eher minimal und nicht wirklich eine Verbesserung.
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Immerhin gibt es die 0,5er-Gebühr, aber nur für bestimmte Fälle. Die sollte aber Regel sein und nicht Ausnahme.
Nach wie vor ist es möglich, bei umfangreichen Fällen eine 1,3-Gebühr zu verlangen. Ich erinnere noch einmal, worauf die Sachverständigen in der Anhörung verwiesen haben: Beim Geschäftsfeld der Inkassounternehmen handelt es sich überwiegend um automatisierte Masseninkassoschreiben. Verbraucherinnen und Verbraucher werden also auch zukünftig im wahrsten Sinne des Wortes über Gebühr belastet. Wir Grüne fordern daher eine deutliche Senkung, insbesondere bei Standardschreiben, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich entlastet werden.
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Darüber hinaus braucht es eine zentrale und gestärkte Aufsicht. Auch davon steht nichts im Gesetzentwurf. Die Aufsicht bleibt zersplittert und ineffektiv. Der Verbraucherschutz läuft weiter ins Leere.
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Das Inkassowesen bräuchte eigentlich eine umfassende Modernisierung. Das wurde in der Anhörung ganz klar. Schade, dass Sie dem Appell der Sachverständigen nicht folgen. Sie haben immer mal wieder an kleinen Stellen etwas herumgedoktert. Gestärkt hat es den Verbraucherschutz wahrlich nicht.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als siebter Redner zu einem – in Anführungszeichen – sehr trockenen Thema wie den Inkassokosten an die Reihe kommt, könnte man denken, man müsste beginnen wie Karl Valentin: Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von mir. – Aber ich will, nachdem ich versucht habe, die vorherigen Rednerinnen und Redner zu verstehen, doch auf einige dieser Argumente eingehen.
Ich glaube, dass mit dem Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht und zur Änderung weiterer Vorschriften heute ein Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung zum Abschluss kommt, der gerade deshalb, weil er, wie die Kollegin Rößner sagte, von allen möglichen Seiten so zerrissen wurde, ein ganz guter Gesetzentwurf ist.
Denn: Wie war die Ausgangslage? Die Ausgangslage war doch so, dass aus bestimmen Teilen dieses Hauses und aus bestimmten Teilen der Gesellschaft eigentlich ein Ende der Inkassodienstleistungen für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte oder Inkassounternehmen vorgesehen war, eigentlich eine Zerschlagung oder Beendigung eines Geschäftsmodells oder eine Zerschlagung eines Rechtsgrundsatzes. Das ging so weit, dass aus diesem Hause Vorschläge unterbreitet wurden, hier rechts zu meiner Seite, die zum Gegenstand hatten, dass Forderungen bis 100 Euro überhaupt nicht mehr bezahlt werden müssen, was zur Folge hätte, dass – so würde ich als im Wirtschaftsleben Tätiger es zumindest verstehen – nur noch Forderungen ab einer Höhe von 101 Euro in Anspruch zu nehmen wären. Das heißt, die Brezel würde dann 101 Euro kosten, weil ich eine Forderung von 100 Euro nicht mehr durchsetzen kann.
Diese beiden sehr, sehr weit gespannten Forderungen waren es, die uns und die Sachverständigen in diesem Gesetzesvorhaben beschäftigt haben. Bereits im Koalitionsvertrag hatten wir festgelegt, Verbraucherrechte zu stärken und Inkassokosten zu senken. Auch das wurde in den Mittelpunkt gestellt.
Ich glaube, dass das, was viele Menschen in diesem Lande betrifft – dass sie in der Coronakrise keine Miete bezahlen können, dass ihnen der Strom abgestellt wird, dass ihnen das Wasser abgestellt wird –, mit Verlaub gesagt, liebe Kollegin Mohamed Ali, nichts mit dem Inkasso zu tun hat.
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Diese Forderungen bestehen, unabhängig davon, ob es Inkasso gibt oder nicht. Das Problem für finanzielle Schwierigkeiten geht aber viel tiefer.
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Und das müssen wir auch in diesem Hause angehen, aber bitte nicht mit dem Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht.
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Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir einen sehr guten Weg gegangen sind, indem wir zum einen die bisher sehr unterschiedliche kostenrechtliche Behandlung von Inkassodienstleistern und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten aufgehoben haben. Übrigens sehen das die Inkassodienstleister nicht so – das ist ein Plus auf deren Seite. Wir haben zum anderen die Erstattungsfähigkeit bei Doppelbeauftragung ganz klar geregelt. Sie darf nicht mehr stattfinden, von ganz wenigen Einzelfällen ausgenommen, die dann begründbar sind, weil entsprechende Einwendungen erst nach dem Inkassoverfahren erfolgten.
Wir sind hinsichtlich der Eignung und Zuverlässigkeit der Inkassodienstleister mit dem Entschließungsantrag einen guten Weg gegangen. Und den müssen wir gemeinsam mit unseren Ländern gehen. Hier darf ich ganz deutlich sagen, auch an Sie gerichtet, Frau Kollegin Rößner: Da brauchen wir die Länder, in denen die Grünen Verantwortung tragen, da brauchen wir die Länder, in denen die Gelben Verantwortung tragen, und da brauchen wir die Länder, in denen die Koalitionsfraktionen die Verantwortung tragen, um gemeinsam eine vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen.
Und: Wir haben verbraucherschutzrechtlich geregelt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher gut informiert werden, wenn Inkassodienstleistungen bei ihnen eingeholt werden. Wir haben für die Opfer von Identitätsdiebstahl mit dem entsprechenden Entschließungsantrag einen guten, so ich glaube, richtungsweisenden Weg gefunden; denn es wäre falsch gewesen, im Inkassorecht selbst strafrechtliche Vorschriften mit zu ändern.
Wir werden von allen Seiten gescholten. Aber mit dem Kostenrechtsänderungsgesetz im nächsten Tagesordnungspunkt werden wir die Kosten anpassen und dafür sorgen, dass alle in der Branche mit dem Gebührensatz von 0,9 leben können. Denn, wenn Sie rechnen können, wissen Sie: 0,9 plus eine Erhöhung um 10 Prozent ergibt die 1,0. Das ist eine ganz einfache Formel des Dreisatzes, also können Sie damit leben.
Ich danke recht herzlich für die Aufmerksamkeit – Frau Präsidentin, ich habe Ihr Zeichen vernommen –, wünsche den Beratungen weiterhin viel Erfolg und bitte um Zustimmung zu diesem sehr guten Gesetzentwurf. Ich bedanke mich bei der Union für die gute Zusammenarbeit und bei der Ministerin für die hervorragende Vorlage.
Danke schön.
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Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten und beschließen heute Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich einer Forderung ausgesetzt sehen. Wir verbessern den Verbraucherschutz im Inkassorecht. Aber klar ist – und ich will es noch einmal einordnen –: Wer etwas kauft oder etwas bestellt, der muss es bezahlen. Das ist nicht nur ein Grundsatz im bürgerlichen Recht, sondern das gebietet auch der Anstand.
Forderungsausfall ist übrigens keine Lappalie in unserer Volkswirtschaft. Er betrifft vor allen Dingen kleine und mittelständische Unternehmen oder auch Gläubiger, die ihrem Geld hinterherlaufen müssen. Der Betrag, der durch die Liquidität in die Volkswirtschaft zurückgespült wird, erreicht nach Schätzungen 5 bis 10 Milliarden Euro – Geld, das auch Arbeitsplätze sichert und Existenzen erhält. Klar ist aber auch, dass die Beitreibung von Forderungen zwar ein legitimes Ziel ist, aber es klarer und fairer Regeln, sozusagen Spielregeln, bedarf, die die Kleinen und die Schwachen nicht überfordern. Diese Spielregeln verbessern wir heute zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
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Wir wollen zukünftig gesichert sehen, dass Geschäftspraktiken, aber auch die Gebühren nachvollziehbar und angemessen sind. Es ist ein langjähriges Ärgernis, dass gerade bei kleinen Forderungen oftmals die Rechtsverfolgungskosten höher sind als der Betrag der Hauptforderung selbst. Gerade bei kleineren Forderungen bis 50 Euro ist es nach bisheriger Rechtslage so, dass bereits auf ein erstes Mahnschreiben hin Kosten in Höhe von über 58,50 Euro plus Auslagenpauschale fällig werden. Das ist nicht richtig. Das kann nicht verhältnismäßig sein. Deswegen führen wir eine neue gesonderte Wertstufe in Höhe von 30 Euro ein. Damit machen wir deutlich: Eine Forderung muss zwar bezahlt werden, es darf aber keine Überforderung stattfinden. Ich glaube, das ist ein guter und angemessener Kompromiss, ebenso wie die Absenkung des Gebührensatzes auf 0,9. Dieser Kompromiss macht deutlich: Rechtsverfolgung muss etwas kosten, aber sie darf die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht überfordern.
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Ich glaube, dass wir bei diesem Kompromiss bleiben sollten. Frau Kollegin, es ist nicht angemessen, sozialpolitische Erwägungen in diesem Gesetzentwurf zu diskutieren; denn die Frage, ob jemand etwas bezahlen kann oder nicht, spielt bei den Rechtsverfolgungskosten zunächst keine Rolle.
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Vielmehr geht es darum, dass eine Leistung erbracht worden ist, die man auch bezahlen muss. Wir begrenzen doch die Rechtsverfolgungskosten.
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Die Rechtsverfolgungskosten so abzusenken, dass eine Rechtsverfolgung nicht mehr möglich ist, würde letztlich dazu führen, dass das System von Leistung und Gegenleistung völlig aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Das wäre weder unserer Volkswirtschaft noch unserer Rechtsordnung angemessen.
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Ich will abschließend auf zwei wichtige Aspekte aus unserem Entschließungsantrag hinweisen. Zum einen wollen wir das Problem des Identitätsdiebstahls stärker angehen, also wenn jemand einfach etwas auf einen fremden Namen bestellt und die Verbraucher und Verbraucherinnen, deren Identität verwendet wurde, plötzlich die Rechtsverfolgungskosten zu tragen haben. Hier müssen die Inkassounternehmen stärker in die Pflicht genommen werden, zu prüfen: Handelt es sich wirklich um die Person, die hier angegeben ist?
Zum anderen müssen vor dem Hintergrund unseriöser Geschäftspraktiken einige schwarze Schafe – nicht alle sind schwarze Schafe – unter Kuratel der Aufsicht gestellt werden. Wir brauchen im Inkassobereich eine Verstärkung und Verschärfung der Aufsicht, gerne auch bundeseinheitlich zentral beim Bundesamt für Justiz. Das fordern wir in unserem Entschließungsantrag.
Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Guten Morgen – –
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– Ich war heute im Haushaltsausschuss und habe bis etwa halb fünf Uhr morgens in der Bereinigungssitzung gesessen. Deswegen sehen Sie mir diese Begrüßung nach, Entschuldigung.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Anwaltschaft! 1994, 2013, 2020: Das sind die Jahre, in denen die Anwaltsvergütung an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wurde bzw. zum 1. Januar 2021 angepasst wird. Wir haben eben schon gehört: Unsere Gesetze aus dem Bereich Justiz und Verbraucherschutz sind oft sehr trocken. Das kann ich Ihnen möglicherweise an dieser Stelle auch nicht ersparen. Ich werde versuchen, das Ganze nachher ein bisschen aufzulockern.
Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer versuchen seit Jahren, in diesem Bereich eine sogenannte dynamische Anpassung zu erreichen, die dann ständig neue Verhandlungen über die Rechtsanwaltsvergütung zum Teil ersetzen oder zumindest erleichtern würde. Heiko Maas hatte beim Parlamentarischen Abend der BRAK im Januar 2018 bereits für diese Legislatur in Aussicht gestellt, dass eine Anpassung der Rechtsanwaltsvergütung erfolgen solle, und hat das auch auf den Weg gebracht. Allerdings haben sich die Verhandlungen mit den Ländern als eine sehr zähe Angelegenheit entpuppt. Es bedurfte sicherlich nicht des Antrages einiger Fraktionen, um das ins Laufen zu bringen, sondern das lief wirklich im Hintergrund. Aber wir werden dazu sicherlich nachher noch was Gegenteiliges hören.
Die Länder müssen beteiligt werden, da sie einen Großteil der Kosten tragen. Sie fragen sich jetzt vielleicht: Wieso tragen die Länder die Kosten für die Vergütung eines Rechtsanwalts? Auf diese Frage komme ich später zurück und werde auch eine Antwort geben.
Zum 1. Januar 2021 wird diese Rechtsanwaltsvergütung erst mal um 10 Prozent angehoben. Im Gesetzentwurf – das kann man nachgucken – stehen viele einzelne Gebührentatbestände, zum Beispiel dass die Angabe „90 Euro“ durch „99 Euro“ ersetzt wird usw., dass also die einzelnen Gebühren angehoben werden. Das könnte man sich durch eine Dynamisierung natürlich ersparen, aber so weit sind wir noch nicht.
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Im sozialrechtlichen Bereich werden die Gebühren um 20 Prozent angehoben. Das bleibt weit hinter den Erwartungen der Anwaltschaft zurück.
Die Anwälte sind von Corona auch nicht verschont worden und hatten Umsatzeinbrüche zu verzeichnen, da einige Mandanten doch nicht so klagewütig waren oder überlegt haben: Wir warten vielleicht noch mit einer Beratung, bis das alles vorbei ist. – Die Fixkosten der Anwälte laufen jedoch weiter: Miete für Räume und Geräte, Personalkosten, Nebenkosten, Beiträge für die Versorgungswerke, Haftpflichtversicherung, Steuern etc. Die Tariflöhne hingegen sind seit 2013 um 19 Prozent gestiegen. Damit zeigt sich deutlich, dass das keine wirklich angemessene Anpassung ist. Deshalb war es uns umso wichtiger, diese Erhöhung jetzt nicht weiter zu verzögern und sie zum 1. Januar auf den Weg zu bringen.
Ich will jetzt auch keine gebührenrechtliche Vorlesung halten, sondern einfach mal das Ganze für diejenigen erläutern, die das als trockenes Thema empfinden: Wie kommt denn so eine Rechtsanwaltsvergütung überhaupt zustande? Der Mandant kommt zu mir. Dann frage ich ihn in der Regel – manchmal wird er vorher schon wie beim Arzt von meinen Mitarbeitern oder meinen Mitarbeiterinnen gefragt –: Sind Sie Selbstzahler? Oder haben Sie eventuell einen Anspruch auf Beratungshilfe oder Verfahrenskostenhilfe?
Die Rechtsanwaltsvergütung geht davon aus, dass wir eine Mischkalkulation haben. Eine Beratung in Familiensachen kann sich teilweise außergerichtlich über ein, zwei Jahre hinziehen, ohne dass wir irgendwann mal ein gerichtliches Verfahren einleiten. Dann kriegen wir für eine solche Beratung, bei der die Akten, bei mir jedenfalls, relativ dick werden, knapp über 100 Euro; viel mehr gibt es da nicht. Dazu sind wir verpflichtet, weil man davon ausgeht, dass wir in anderen Fällen eben auch für relativ wenig Aufwand eine viel höhere Vergütung erhalten können.
Das liegt daran, dass wir sogenannte Gebührentabellen haben. Wir gucken uns den Streitwert an. Das heißt, wir schauen: Wie viel ist eine Sache wert, nach der abgerechnet werden kann? Wenn ich eine Forderung geltend mache, zum Beispiel 5 000 Euro, die ich irgendwo einklage, dann ist der Gegenstandswert 5 000 Euro. Dann gucke ich in die Tabelle, um zu sehen: Was bekomme ich dafür an Gebühren?
Es gibt aber nicht überall diese Streitwerte. Ich nehme wieder das Familienrecht: Wie will ich das Sorgerecht in Kindschaftssachen bewerten? Was hat das für einen Wert? Ein anderes Stichwort ist hier das Umgangsrecht. Also hat der Gesetzgeber gesagt: Das müssen wir irgendwie bewerten. – Dafür hatte er mal 3 000 Euro angenommen; das war in meinen Augen auch etwas zu wenig. Wir werden diesen Betrag jetzt auf 4 000 Euro erhöhen. Im Ausschuss haben wir trefflich darüber diskutiert, ob wir das nicht auf 5 000 Euro hätten erhöhen können wie beim Regelstreitwert. – Frau Keul nickt schon. Ich glaube, wir als Kolleginnen sind uns da sehr einig. – Aber mit diesen 4 000 Euro können wir auch schon ganz gut leben, weil das wenigstens eine Anpassung ist.
Auch für die Länder ist diese Anpassung wichtig. Denn: Wenn ein Mandant selber nicht zahlen kann, dann kann Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe beantragt werden; das ist Sache der Länder. Die Länder müssen die Kosten tragen, wenn ein Mandant sich selbst einen Prozess nicht leisten und die Kosten für sein Verfahren nicht selbst übernehmen kann. Das sind nicht gerade geringe Kosten. Das sind große Millionenbeträge, die die Länder hierfür aufwenden müssen. Deswegen haben sie auch ein Interesse daran, da immer ein bisschen zu bremsen, um nicht zu viel Geld ausgeben zu müssen.
Die gesetzlichen Gebühren, um noch einmal darauf hinzuweisen, richten sich nicht nach dem Aufwand. Wenn mich eine Sache sehr, sehr viele Stunden beschäftigt, meine Kosten dafür aber nicht abgedeckt werden, habe ich in diesem Fall noch die Möglichkeit, eine Vergütungsvereinbarung mit dem Mandanten zu treffen. Ich komme aus dem ländlichen Raum. Ich muss sagen: Bei mir gibt es in 80 Prozent der Fälle Verfahrenskostenhilfe. Da werde ich keinen Mandanten dazu bringen können, mit mir eine Honorarvereinbarung zu schließen, nach der ich meinen Aufwand nach einem Stundensatz abrechnen kann, also 150 oder 250 Euro die Stunde, je nachdem, was die Anwälte für angemessen halten. In großen Städten muss man manchmal mehr bezahlen als bei uns auf dem flachen Land, wie ich jetzt wieder erfahren habe. Aber bei uns finde ich erst gar keinen oder nur wenige Mandanten, die mit mir eine Vergütungsvereinbarung schließen würden, schon gar nicht in Kindschaftssachen.
Jetzt können Sie vielleicht verstehen, warum Anwälte im Allgemeinen nicht die Großverdiener sind und weshalb dieses heute vorliegende Gesetz so wichtig ist, um unseren Rechtsstaat zu stärken und die Anwälte als Organe der Rechtspflege in ihrer Tätigkeit entsprechend zu honorieren.
Der SPD-Fraktion wäre es auch ein Anliegen, diese Anpassung der Anwaltsgebühren zu dynamisieren. Diese Auffassung teilen viele Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag, nicht aber die Länder. Wir hoffen daher, dass die nächste Gebührenanpassung nicht wieder so lange ausverhandelt werden muss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Brandner für die AfD-Fraktion.
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Meine Damen und Herren! Werte Frau Präsidentin! Die deutsche Sprache ist voller Sprüche und Kurzformeln: „Auf einen Weisen kommen tausend Narren“, habe ich gelesen. Im Bundestag sind es eher nur 620. Es gibt einen Spruch, der mir sehr gut gefällt: Rechts vor links! Es gibt den Spruch: Was lange währt, wird endlich gut. Und es gibt den Spruch: AfD wirkt!
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Je länger man die Debatten hier verfolgt, auch und vor allem im Rechtsbereich, desto eher merkt man: AfD wirkt. Der Kollege Maier hatte schon darauf hingewiesen, wie die AfD im Inkassorecht wirkt. Ich werde Ihnen jetzt darlegen, wie die AfD im Bereich der Rechtsanwaltsvergütung wirkt.
AfD wirkt: Was lange währt, wird endlich gut. Dazu im Einzelnen: Seit dem Jahr 2013, also inzwischen seit über sieben Jahren, gab es für Rechtsanwälte keine Gebührenanpassung, weder strukturell noch linear – und das Ganze trotz erheblich gestiegener Kosten.
Es geht bei der Gebührenanpassung, die wir heute vornehmen, nicht um die Spitzenverdiener, die 400, 500 oder mehr Euro die Stunde abrechnen können, sondern es geht um die Anwälte in der Fläche, um die Anwälte, die für alle Bürger den Zugang zum Recht sicherstellen; Anwälte also, die durch ihre Arbeit auch den ländlichen Raum stärken; Anwälte – wir haben es gerade in der Coronakrise erlebt –, die dafür da sind, den Rechtsstaat in Zeiten durchzusetzen, in denen der Rechtsstaat von den Altparteien weitestgehend aufgegeben wurde. Sehr viele Anwälte haben gekämpft und Dutzende von Urteilen gegen den Coronabekämpfungswahnsinn erstritten.
Meine Damen und Herren, was tun die Blockparteien für die Anwälte? Sie tun gar nichts, jedenfalls so lange gar nichts, wie die AfD nichts getan hat. Zur Historie: Nach langer Vorarbeit hatten Deutscher Anwaltverein und Bundesrechtsanwaltskammer im März 2018 einen Forderungskatalog vorgelegt, der im April 2018 der Bundesjustizministerin übergeben wurde. Danach passierte nichts. Es gab ein unambitioniertes Schreiben des Bundesjustizministeriums an die Länder. Daraufhin passierte erst einmal nichts, und zwar so lange nichts, bis die AfD im Januar 2019 das Thema aufgegriffen hat und erstmalig parlamentarisch in den Raum gestellt hat, nämlich in den Rechtsausschuss und danach auch in das Plenum.
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Erst dann nahm die Sache Fahrt auf. Eine Handvoll Stellungnahmen trudelte ein. Insbesondere die grünen Justizminister hielten sich sehr zurück, die wahrscheinlich keine Ahnung davon haben; denn wie wir alle inzwischen wissen, disqualifiziert es einen grünen Justizminister geradezu, Jurist zu sein. Wir schauen nach Thüringen; da haben wir einen Ofenbauer. Wir schauen nach Sachsen; da haben wir eine verkappte Linksextremistin. In Hamburg ist es auch nicht viel besser. Die Justizministerien der Länder entpuppen sich so langsam zum Abklingbecken für gescheiterte Linksextremisten bei den Grünen. Egal!
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Nun liegt nach etwa zwei Jahren der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. Er ist nicht perfekt, aber er bietet Anlass zur Hoffnung: 10 Prozent lineare Steigerung, einige strukturelle Verbesserungen für die Anwaltschaft. Noch besser, liebe Blockparteien, hätten Sie es machen können, wenn Sie unserem Änderungsantrag gefolgt wären, der interessanterweise gestützt wird von DAV und BRAK. Ich habe selten eine solche Zustimmung in der Anhörung im Rechtsausschuss erlebt. BRAK und DAV unterstützen die Brandner’schen Ideen. Das war für mich so ein kleiner innerer Bundesparteitag, der sich da abgespielt hat.
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Wenn Sie also heute unseren Änderungsantrag ablehnen, wie Sie es in den Ausschüssen getan haben, stimmen Sie gegen DAV und BRAK.
Aber auch die Grünen tragen noch ein bisschen zur Perfektion bei. Deshalb möchte ich um Unterstützung für den Antrag der Grünen werben. Der Justizabschlag ist nicht mehr hinnehmbar. Sachverständige und Dolmetscher sollten angemessen bezahlt werden, auch wenn die Grünen hier mit gespaltener Zunge reden: In den Ländern sind sie dagegen, im Bundestag sind sie dafür. Gleichwohl ist der Antrag nicht verkehrt. Er sollte unterstützt werden genauso wie der Antrag der Grünen, die Verpflichtung zur Nutzung des Anwaltspostfaches auszusetzen. Auch da folgen die Grünen unserem Ansatz. Wir hatten bereits im Oktober letzten Jahres beantragt, den Nutzungszwang aufzuheben. Die Grünen sind auch hier endlich auf dem rechten Weg. Deshalb können wir diesem Antrag auch zustimmen.
Meine Damen und Herren, es gibt das Sprichwort: „Wir immer recht hat, um den wird es sehr einsam.“ So ist es leider um die AfD hier im Bundestag bestellt. Gleichwohl sehen Sie auch an diesem Beispiel: AfD wirkt, AfD wirkt für Deutschland, –
Herr Brandner, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
– AfD wirkt für die Bürger, AfD wirkt für Freiheit, Grundrechte und Demokratie.
Vielen Dank.
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Könnten Sie bitte den Mundschutz aufziehen, Herr Brandner! – Das Wort hat Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Brandner, dass Sie sich jetzt hier als Anwalt der Anwälte aufspielen,
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ist wirklich hochnotpeinlich.
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Jeder, der sich ein bisschen in der Szene auskennt und mit Anwälten spricht, weiß um Ihr Verhältnis zu den Anwälten und zum Deutschen Anwaltverein. Damit meine ich nicht nur den Eklat, den Sie einmal bei einem Neujahrsempfang verursacht haben. Sie wissen ganz genau: Als wir Sie als Vorsitzender des Rechtsausschusses abgewählt haben,
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waren wir ganz auf der Linie des Deutschen Anwaltvereins, der genau das gefordert hatte, weil er der Meinung war, dass Sie der Würde dieses Amtes nicht gerecht werden. Genauso haben wir es dann gemacht. Dass Sie sich jetzt hierhinstellen als Anwalt der Anwälte, ist wirklich hochnotpeinlich, meine Damen und Herren.
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Was wir heute machen, ist ganz wichtig. Wir alle sagen: Ein starker Rechtsstaat braucht eine starke Anwaltschaft; denn die Rechtsanwälte sind diejenigen, die den Zugang zum Recht garantieren. Der Zugang zum Recht, meine Damen und Herren, ist vor allen Dingen für das Funktionieren und – viel wichtiger noch – für die Akzeptanz des Rechtsstaates unabdingbare Voraussetzung. Deswegen ist der Zugang zum Recht sogar in unserer Verfassung garantiert.
Es ist wichtig, dass wir nun das vorliegende Kostenrechtsänderungsgesetz – längst überfällig – auf den Weg bringen und die Gebühren der Rechtsanwälte erhöhen; denn – auch das ist eine Binsenwahrheit – Anwälte können nicht alleine von hehren Zielen und honorigen Worten, wie wir sie hier im Bundestag verwenden, leben. Sie können nicht von Luft und Liebe allein leben, sondern sie müssen natürlich auch wirtschaften. Sie müssen sich und ihre Familien ernähren und auch ihren Kanzleibetrieb aufrechterhalten. Wenn man sich einmal anschaut, was in den letzten Jahren so passiert ist, stellt man ganz schnell fest: Die Gehälter der Mitarbeiter sind gestiegen. Der Strompreis ist gestiegen. Kosten für Versicherungen und Software sind gestiegen. Natürlich sind auch die Kosten für die Räume der Kanzleien gestiegen. Deswegen ist es jetzt, nach über sieben Jahren, Zeit für eine Anhebung der Gebühren. Wir wollen auch zukünftig eine fundierte und qualitativ hochstehende Rechtsberatung garantieren. Auch das spiegelt sich in den Gebühren wider. Wie gesagt, die letzte Erhöhung ist sieben Jahre her. Es ist jetzt wirklich Zeit, dass das passiert.
Ich will an dieser Stelle auch sagen – Kollegin Dilcher hat das schon angesprochen –: Wir müssen darauf achten, dass die nächste Gebührenerhöhung nicht erst wieder in sieben Jahren erfolgt. Es darf sich nicht wieder aufstauen. Wir haben zwar keine gesetzliche Dynamisierung vorgenommen. Aber für uns ist ganz klar, dass wir regelmäßige Anpassungen in der Zukunft wollen. Das ist die Aufgabe, die wir alle miteinander haben.
Mir ist wichtig, noch einen anderen Punkt zu betonen. Wir heben die Rechtsanwaltsgebühren nicht alleine für die Anwälte in den großen Städten, in den Ballungsgebieten an. Die dort tätigen Anwälte haben häufig Mandate, die von der Struktur und der Höhe der Streitwerte her so sind, dass man dort gar nicht nach dem RVG arbeitet. Dort werden vielmehr Honorarsätze auf Stundenbasis vereinbart. Uns als Union ist aber wichtig, dass der Rechtsstaat auch in der Fläche präsent ist und dass auch die Anwälte in ländlichen und strukturschwachen Regionen auskömmlich wirtschaften können. Da hat man eine völlig andere Struktur als in den großen Städten, in den Ballungsgebieten. Die in ländlichen Regionen tätigen Anwälte haben es in den letzten Jahren unglaublich schwer gehabt, überhaupt noch ihren Kanzleibetrieb wirtschaftlich aufrechtzuerhalten. Ich zitiere einmal die Kollegin Keul, die einmal die schöne Formulierung verwendet: Die Anwälte sind sozusagen die Hausärzte des Rechts. – Das ist ein sehr schöner Ausdruck. Für uns ist ganz wichtig, die Hausärzte des Rechts, die Anwälte, in der Fläche auch weiter gehend zu unterstützen. Deswegen ist die Erhöhung notwendig.
Die lineare Erhöhung beträgt im Schnitt 10 Prozent. Wir haben an einigen Stellen strukturelle Anpassungen vorgenommen. Das war das, was möglich war. Es ist darauf hingewiesen worden: Wir müssen immer mit den Ländern gemeinsam Vereinbarungen treffen. An dieser Stelle will ich aber auf einen Wermutstropfen aufmerksam machen. Wir passen mit diesem Gesetz nicht nur die Höhe der Gebühren für die Rechtsanwälte an, sondern im gleichen Zug auch die Gerichtskosten. Das ist etwas, was den Zugang zum Recht natürlich ein Stück weit erschwert. Ich persönlich hätte mir auch einen nicht ganz so starken Anstieg der Gerichtskosten vorstellen können. Ich finde, gerade in Zeiten von Corona ist der Zugang zum Recht, ist ein starker Rechtsstaat unheimlich wichtig. Am Ende war mit den Ländern nichts anderes möglich. Das ist etwas, was ich mir noch hätte anders vorstellen können.
Unter dem Strich aber: ein gutes Gesetz! Es stärkt unseren Rechtsstaat, es stärkt die Anwaltschaft. Deswegen bitte ich Sie fraktionsübergreifend um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Helling-Plahr für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Bereits vor über anderthalb Jahren haben wir die Bundesregierung aufgefordert, ein konkretes Konzept zur Reform des RVG vorzulegen. Am 9. Mai 2019 haben die Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von FDP, Grünen und Linken bei Enthaltung der AfD unseren Antrag mit dem Titel „Rechtsanwaltsgebühren zukunftssicher gestalten“ abgelehnt. Heute liegt uns nun endlich der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts vor, der aber alles andere als perfekt ist.
Beispielhaft im Bereich der Rechtsanwaltsvergütung möchte ich die Anhebung des Verfahrenswerts für Kindschaftssachen anführen. Auch ein Verfahrenswert von 4 000 Euro wird der Wichtigkeit der Rechtssachen und dem auch meist erheblichen Arbeitsaufwand, wenn man als Anwalt seinen Job gut machen will, einfach nicht gerecht. Es geht bei Fragen des Sorge- und Umgangsrechts schließlich um existenzielle Fragen. Eine Anpassung an den sonst im Kostenrecht üblichen Auffangstreitwert von 5 000 Euro hätte eigentlich selbstverständlich sein sollen.
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Enttäuschend ist die Situation für die Dolmetscher und auch für die Sachverständigen. Die Streichung der Möglichkeit, Rahmenverträge mit Sprachmittlern zu vereinbaren, hat gar nicht erst Eingang in das Gesetz gefunden. Dabei war in einem früheren Entwurf noch gesehen worden, dass diese Verträge immer wieder als Druckmittel missbraucht werden. Wer keinen günstigen Rahmenvertrag schließt, dem wird der Zugang zu Aufträgen der Justiz von vornherein insgesamt verwehrt. Auch das Vorhaben, den Justizrabatt, den Sprachmittler und Sachverständige gewähren müssen, abzuschaffen, ist auf den letzten Drücker rausgestrichen worden.
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Wir hätten es richtig gefunden, wenn auch die Justiz Marktpreise zahlt,
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auch damit besonders qualifizierte Dolmetscher und Sachverständige sich nicht abwenden.
Aber trotz aller Mängel ist das Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung und sollte heute zügig verabschiedet werden. Dann müssen wir aber auch endlich weiterdenken. Da wir wissen, dass das nicht die Stärke der Koalition ist,
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haben wir als Serviceopposition dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt.
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Die Tatsache, dass wir als Gesetzgeber hier nach jahrelangem Ringen alle paar Legislaturperioden über Gebührenerhöhungen beraten, ist nicht gerecht und für alle Beteiligten äußerst unbefriedigend. Lassen Sie uns weiterdenken und die Gebühren für Anwälte, Sprachmittler und Sachverständige auf Räder stellen, sie indexieren und an die allgemeine Lohnentwicklung koppeln! Da haben ja auch die SPD, die Grünen und die Linken Zustimmung signalisiert. Herr Luczak, Sie haben gesagt, regelmäßige Anpassungen wären richtig. Wieso Sie sich da nicht auch an eine Indexierung trauen, verstehe ich nicht. Ich bin auf das Stimmverhalten jetzt gleich bei der Abstimmung zu unserem Entschließungsantrag gespannt.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir als Linke werden dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Justizvergütungs- und ‑entschädigungsgesetzes, kurz: JVEG, zustimmen, zum einen, weil wir für eine Anhebung der Sachverständigenhonorare sind, und zum anderen, weil eine Ungleichbehandlung zur ebenfalls erfolgenden Gebührenanhebung für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nicht zu rechtfertigen wäre. Wir halten auch die Anhebung der Gerichtsgebühren für gerechtfertigt.
Immerhin weist das deutsche Justizsystem im internationalen Vergleich einen besonders hohen Kostendeckungsgrad bei gleichzeitig sehr hoher Qualität auf. Das wollen wir als Linksfraktion erhalten.
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Ich will aber zu den Stundenhonoraren für Sachverständige etwas ergänzen. Diese wurden zuletzt 2013 erhöht. Eine Anhebung ist daher mehr als überfällig. Das belegt auch die 2017 durchgeführte Marktanalyse. Daher sehen wir Probleme, sollten die Stundensätze in der Zukunft nicht schneller an die allgemeinen Preissteigerungen angepasst werden. Eine Indexierung – eben ist es angesprochen worden – halten wir in diesem Bereich insgesamt für geboten.
An dieser Stelle ist es aber auch wichtig, noch einmal die Bedeutung der Sachverständigentätigkeiten für Prozesse hervorzuheben. Sachverständige sind oft eher in Kontakt zu Klägern und können durch diesen Kontakt die Akzeptanz auch negativer Begutachtungen und sogar Entscheidungen erhöhen. In sozialgerichtlichen Verfahren sind in hoher Zahl Gutachten einzuholen. Gerade als Richter am Sozialgericht war ich für die Beurteilung von komplexen medizinischen Sachverhalten sehr häufig auf solche Gutachten angewiesen. Ohne angemessene Vergütung ist es aber kaum möglich, ausreichend qualifizierte Sachverstände zu finden, insbesondere in ländlichen Regionen.
Wenn im Gesetzentwurf zum Beispiel ein Unterschied zwischen der Abrechnung von Röntgen- und Ultraschallleistungen gemacht wird, ist das nicht praktikabel. Hier empfehlen wir die Abrechnung sämtlicher Untersuchungen, angelehnt an die Gebührenordnung für Ärzte, zu einem festen Vergütungssatz. Das würde die Abrechnungen der Justizverwaltung erleichtern und den Verwaltungsaufwand dementsprechend verringern.
Dass die Vergütungssätze für Sprachmittlerinnen und Sprachmittler an marktübliche Honorare angepasst werden, ist zu begrüßen. Hier sehen wir aber immer noch das Problem der fehlenden Absicherungsmöglichkeit fürs Alter. Im Gegensatz zu medizinischen Sachverständigen, die häufig aus einer sicheren Haupttätigkeit heraus tätig werden, sind die Sprachmittlerinnen und Sprachmittler selbstständig tätig. Das bedeutet, mit dem Honorar muss eine eigene Alterssicherung aufgebaut werden. Dieser Mangel macht die Tätigkeit für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger aber unattraktiv, und wieder einmal verzeichnen wir eine strukturelle Ungleichbehandlung in einem Bereich mit sehr hohem Frauenanteil; denn der liegt in diesem Feld bei circa 80 Prozent.
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Vergütung und Entschädigung im Justizwesen ist insgesamt ein wichtiges Thema, das in seiner Bedeutung weit über die reine Frage der Vergütung hinausgeht. Es geht um faire Verfahren. Es geht um Qualität der Verfahren, und die bekommt man eben nur bei fairer Bezahlung.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach sieben Jahren passen wir heute endlich die Gebühren im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz an, und das ist gut so.
Für alle Berufe, deren Gebühren durch den Gesetzgeber geregelt werden, ist es jedes Mal ein Kraftakt, und es besteht ein Rechtfertigungsdruck, zumal die Anwaltschaft auch noch zwischen den politischen Fronten feststeckt: dem Bund, der die Zuständigkeit hat, und den Ländern, die erhöhte Kosten bei der Prozesskostenhilfe befürchten. Wir hätten uns daher auch endlich eine Dynamisierung der Gebühren gewünscht, die uns jeweils eine Gesetzesänderung ersparen würde.
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Wer jetzt an die gut verdienenden Anwältinnen in den Großkanzleien denkt, der muss wissen, dass die darauf gar nicht angewiesen sind, weil sie nach Stundensätzen abrechnen.
Auf die gesetzlichen Gebühren sind die Anwältinnen in der Fläche angewiesen, die den Menschen bei ihren rechtlichen Alltagsproblemen den Zugang zum Recht sichern – als Hausärzte des Rechtsstaats –, beispielsweise im Familienrecht. Hier hätten wir uns gerade in Kindschaftssachen mehr gewünscht. Statt der Einführung eines Regelstreitwerts von 5 000 Euro wurde der bisherige Wert von 3 000 Euro erst mal auf 4 000 Euro erhöht. Es ist aber nicht einzusehen, warum das Schicksal eines Kindes immer noch niedriger bewertet wird als das eines Erwachsenen, beispielweise im Betreuungsrecht.
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Neben der Rechtsanwaltsvergütung geht es heute auch um die Vergütung von Dolmetschern und Sachverständigen. Die werden jetzt doch nicht so erhöht, wie es im ursprünglichen Entwurf vorgesehen war. Aber was noch viel ärgerlicher ist: Die Ausnahmevorschrift des § 14 JVEG wurde wieder nicht gestrichen, wonach die Länder per Rahmenvereinbarung Dolmetschergebühren unterhalb der gesetzlichen Gebühr vereinbaren können. Gesetzliche Gebühren müssen auch gegenüber dem Staat wirklich Mindestgebühren sein.
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Auch hier schieben sich Bund und Länder gegenseitig die Verantwortung dafür zu, wer die Streichung wieder verhindert hat.
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– Das diskutieren wir an anderer Stelle aus.
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Jetzt noch mal zurück zur Anwaltschaft, der es ab dem 1. Januar 2022 per Gesetz verboten sein wird, einen eiligen Schriftsatz abends noch persönlich in den Briefkasten des Gerichts einzuwerfen oder per Fax zu übermitteln, weil das Internet gerade ausgefallen ist. Das haben wir im Jahr 2013 beschlossen. Sieben Jahre hören sich lang an; aber der faktische Probelauf war erheblich kürzer, weil das elektronische Postfach erst später an den Start ging und dann auch phasenweise wieder ausfiel. Anders als Behörden oder Gerichte haften die freiberuflichen Anwältinnen gegenüber ihren Mandanten mit ihrem gesamten persönlichen Vermögen dafür, dass der Schriftsatz fristgerecht übermittelt wird. Sie tragen gegebenenfalls auch die Beweislast für die technische Störung, wenn sie Wiedereinsetzung beantragen. Hier wird die Anwaltschaft mit den Risiken des elektronischen Rechtsverkehrs unverhältnismäßig belastet. Auch sind die Sicherheitsfragen noch nicht abschließend geklärt, und eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist nicht gewährleistet. Ja, man kann nicht einmal ausschließen, dass der ehemalige private Auftragnehmer Atos über die Schlüssel verfügt, um gegebenenfalls die gesamte Anwaltskommunikation entschlüsseln zu können. Daher beantragen wir, die Ausschließlichkeit der elektronischen Übermittlung für weitere drei Jahre zurückzustellen.
Für die Justiz ist das auch nicht unzumutbar, weil die Annahme von Papier ohnehin weiter gewährleistet sein muss in Verfahren ohne Anwaltszwang, wo Bürgerinnen und Bürger Klagen weiter auf Papier einreichen können. Letztlich gilt: Technik sollte dienen und darf Lösungen nicht behindern.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans-Jürgen Thies für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Kostenrechtsänderungsgesetz passen wir das Justizkosten- und das Rechtsanwaltsvergütungsrecht an aktuelle Entwicklungen an. Die Gebühren im Anwaltsbereich waren – das ist hier heute schon mehrfach gesagt worden – zuletzt 2013 geändert worden. Mit den Anpassungen, die wir jetzt vornehmen, werden die in den letzten sieben Jahren doch sehr deutlich gestiegenen Kanzleikosten zumindest teilweise kompensiert.
Die Erhöhung der RVG-Vergütung ist gerade für kleinere Anwaltskanzleien und für Einzelanwälte vor allen Dingen in ländlichen Regionen und in strukturschwachen Gebieten eminent wichtig. Dort sind Vergütungsvereinbarungen – auch das ist wiederholt schon gesagt worden – eben vielfach nicht durchsetzbar. Natürlich haben auch wir als Union uns weitere, insbesondere strukturelle Verbesserungen bei den RVG-Vergütungen gewünscht. So lassen sich PKH- und VKH-Mandate in der Regel nicht kostendeckend durchführen. Auch Pflichtverteidigungen in Strafverfahren sind in aller Regel nicht kostendeckend durchzuführen.
Ich gebe zu bedenken: Damit der Rechtsstaat funktioniert, sind wir flächendeckend auf eine gute anwaltliche Versorgung angewiesen. Deshalb müssen wir sehr genau auch die Ursachen in den Blick nehmen, weshalb in den letzten Jahren die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte in Deutschland sogar rückläufig war. Wir werden uns in Zukunft stärker mit der Frage befassen müssen und diese auch neu bewerten müssen – sie ist heute auch hier wieder gestellt worden –, ob nicht eine regelmäßige Dynamisierung der RVG-Vergütungssätze geboten wäre.
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Gegenstand des Kostenrechtsänderungsgesetzes ist ferner eine Anpassung der Vergütungssätze im JVEG für Sachverständige und Dolmetscher an die marktüblichen Honorare. Sachverständige und Dolmetscher sind ganz wichtige Gehilfen des Gerichts und der Behörden. Ihre Qualität wirkt sich unmittelbar auf die Qualität behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen aus. Deshalb war es unbedingt notwendig, die Honorare in diesem Bereich anzupassen. Dies wird mit der vorliegenden Gesetzesänderung geschehen. Die Dolmetschervergütungen werden um circa 20 Prozent angehoben werden und die Vergütungen für Sachverständige um 15 bis 30 Prozent, also auch nicht gerade gering.
Die vorgesehenen Stundensätze für die Sachverständigen und Dolmetscher bleiben aber immer noch hinter den marktüblichen Honoraren zurück. Genau deshalb hätten wir uns teilweise noch etwas höhere Stundensätze gewünscht. Auch einen Wegfall des sogenannten Justizrabattes und des § 14 JVEG hätten wir uns durchaus vorstellen können. Aber, meine Damen und Herren, leider haben sich da die Bundesländer quergestellt. Natürlich sind bei den Vergütungssätzen nicht nur für Rechtsanwälte, sondern auch für Dolmetscher und für Sachverständige ganz unmittelbar die Kosteninteressen der Justizhaushalte der Bundesländer betroffen. Mit der Behauptung, die Veränderungen im JVEG würden die Länderhaushalte jährlich mit 170 Millionen Euro zusätzlich belasten, haben die Bundesländer, und zwar unabhängig von der politischen Farbenlehre in den jeweiligen Bundesländern, ganz unverhohlen mit einer Ablehnung des Kostenrechtsänderungsgesetzes im Bundesrat gedroht. Dies hätte dazu geführt, dass das Gesetz nicht zum 1. Januar 2021 in Kraft treten könnte.
Deswegen waren wir gehalten, über einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen den Ländern zumindest in drei, vier Einzelpunkten noch ein klein wenig entgegenzukommen. Den Ländern war dabei insbesondere die Absenkung der Freigrenze für die PKH auf die bundesweiten Regelbedarfssätze wichtig. Ich kann nur hoffen, dass die Bundesländer dieses Entgegenkommen wertzuschätzen wissen und nunmehr ihre Blockadehaltung im Bundesrat auch wirklich aufgeben werden. Angesichts der Tatsache, dass in den letzten Monaten der Bundesgesetzgeber umfangreiche finanzielle Hilfen für die Länder auf den Weg gebracht hat, und angesichts der Tatsache, dass wir eine leistungsstarke Justiz benötigen, die in den Haushalten des Bundes und auch der Länder nur sehr kleine Etats beansprucht, rate ich den Ländern dringend: Überspannen Sie den Bogen jetzt nicht.
Die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen lehnen wir ab. Die aktive Nutzungspflicht des beA ist seit vielen Jahren eine beschlossene Sache. BeA funktioniert und wird inzwischen reibungslos von einer großen Mehrzahl der Anwälte genutzt. Eine besondere Haftungsträchtigkeit hat sich in diesem Bereich nicht ergeben. Deswegen sollte beA ab dem 1. Januar 2023 verpflichtend zum Einsatz kommen. Einen weiteren Aufschub, wie die Grünen ihn fordern, lehnen wir ab.
Gleiches gilt für den Antrag, das anwaltliche Berufsrecht zukunftsfest zu machen. Natürlich muss das anwaltliche Berufsrecht ständig evaluiert und weiterentwickelt werden; das ist doch überhaupt keine Frage. Die Vorschläge der Grünen haben sich aber mit dem heute zu beschließenden Kostenrechtsänderungsgesetz weitestgehend erledigt. Dies gilt auch für die Neuregelung des Berufsrechts; denn das Bundesjustizministerium hat dankenswerterweise vor gut einem Monat einen Referentenentwurf zur Neuordnung des Berufsrechts der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft vorgelegt. Darin soll verfassungskonform auch die interprofessionelle Zusammenarbeit geregelt werden. Ich bin gespannt auf die weiteren Beratungen.
Mit dem Kostenrechtsänderungsgesetz stärken wir – das ist ganz eindeutig so – den Justizstandort Deutschland. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rassismus ist für viele Menschen in Deutschland Alltag. Schon Kinder müssen dies früh erleben: Ihr Äußeres, ihre Namen und die Vorurteile, die damit verknüpft sind, verfolgen sie auf Schritt und Tritt. Schmerzlich müssen sie erfahren – ohne den Begriff bereits zu verstehen –, dass Rassismus ihr ständiger Begleiter ist. Das können und wollen wir nicht länger verantworten.
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Meine Damen und Herren, Rassismus behindert, grenzt aus, verletzt – sei es auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt oder auf der Schulbank. Rassismus führt dazu, dass viele Menschen nicht sicher sind. Die schrecklichen Anschläge in Lichtenhagen, Mölln, Solingen, die Mordserie des NSU, Halle und Hanau und der Mord an Walter Lübcke: Das sind traurige Höhepunkte rassistischer Gewalt. Das ist die Realität in Deutschland, auch noch im Jahr 2020. Das muss sich endlich ändern, meine Damen und Herren!
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Das sind wir den Opfern rassistischer Gewalt schuldig. Das sind wir aber auch jedem einzelnen Menschen, der in Deutschland Rassismus erfährt, schuldig. Es muss Schluss sein mit dem Weiter-so!
Meine Damen und Herren, deshalb war die Einsetzung des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein Meilenstein in der Geschichte der Bundesrepublik, ein Meilenstein ohne Frage,
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ein Meilenstein, den wir aber vor allem dem unermüdlichen Engagement der postmigrantischen Zivilgesellschaft zu verdanken haben. Dafür möchten wir von Herzen Danke sagen: Danke schön!
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat nun also einen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Die Begeisterung darüber – vor allem bei der SPD – verwundert mich aber, ehrlich gesagt, schon; denn der vielversprochene Paradigmenwechsel ist das sicherlich nicht. Mehr Rechte? Mehr Teilhabe? Mehr Schutz vor Diskriminierung? Fehlanzeige!
Rassismus ist tief in unseren Strukturen, in unserer Gesellschaft, in uns verwurzelt. Generalsekretär Lars Klingbeil verkennt deshalb das Problem, wenn er sagt, wir müssten uns gegen die Rassisten stellen. Wir dürfen hier nicht nur auf den rechten Rand zeigen – wir müssen bei uns anfangen, wir müssen unsere eigenen Strukturen und Muster konsequent hinterfragen.
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Ja, das ist oft unangenehm, keine Frage, aber notwendig – notwendig, wenn wir eine antirassistische Einwanderungsgesellschaft gestalten wollen.
Meine Damen und Herren, strukturelle Probleme lassen sich nur mit strukturell nachhaltigen Maßnahmen bekämpfen. Deshalb legt meine Fraktion hier heute einen Antrag im Parlament vor, eine kohärente Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rassismus. Ich möchte drei Punkte hervorheben, weil sie wirklich im Maßnahmenkatalog zu wenig oder gar nicht vorkommen:
Erstens, ein effektiver Schutz vor Diskriminierung. Wir brauchen endlich ein Antidiskriminierungsgesetz, das auch im öffentlichen Bereich schützt, ein AGG mit Verbandsklagerecht, damit die Betroffenen nicht nur auf sich selbst angewiesen sind. Wir brauchen eine Antidiskriminierungsstelle, die finanziell und personell endlich für ihre große Aufgabe gewappnet ist, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Unsere plurale Demokratie kann doch nur funktionieren, wenn endlich alle mit am Tisch sitzen, mitreden, mitbestimmen können. Ein Partizipationsgesetz, wie die Verbände es seit Jahrzehnten fordern, muss auch auf Bundesebene endlich durchgesetzt werden.
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Die interkulturelle Öffnung, die diversitätssensible Öffnung der Institutionen muss endlich gesetzlich verankert und aktiv gefördert werden.
Ja, und 20 Jahre nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erwarten wir eine Weiterentwicklung statt weiterer Rückschritte, meine Damen und Herren – dann braucht es auch keine Einbürgerungsoffensive mehr.
Meine Damen und Herren, wir legen heute auch eine Grundgesetzänderung vor, mit einem konkreten Vorschlag und Angebot für die Ersetzung des Wortes „Rasse“. Aus unserer Sicht muss diese Änderung allerdings Hand in Hand gehen mit einer Gewährleistungspflicht des Staates. Wir würden uns wirklich freuen, wenn dieses Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode mit breiter Mehrheit im Parlament verabschiedet wird, meine Damen und Herren.
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Mit unserem Antrag tragen wir erstmals eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rassismus in das Parlament, in die Herzkammer unserer Demokratie. Für diese Demokratie sind Antirassismus und die Gestaltung unserer Einwanderungsgesellschaft zentral. Denn Demokratie bedeutet doch letztendlich die ständige Aushandlung und respektvolle Diskussion – ja, auch mal im Streit –, um am Ende auf komplexe Fragen komplexe Antworten zu finden. Hierfür ist das Parlament der richtige Ort, meine Damen und Herren.
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Nach der Erleichterung über die Einsetzung des Kabinettsausschusses kam vorgestern die Ernüchterung. Aber heute habe ich, haben wir die Hoffnung, dass wir gemeinsam bei aller Debatte das gleiche Ziel erreichen wollen: eine antirassistische Gesellschaft. Deshalb freuen wir uns auf die Diskussion mit Ihnen. Denn wir Demokratinnen und Demokraten sind uns im Grunde einig. Um es mit den Worten von Frau Staatsministerin Widmann-Mauz zu sagen: Wir müssen Rassismus erkennen, benennen und bekämpfen. – Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten in dieser Debatte eine ganze Reihe von Anträgen rund um das Thema Bekämpfung von Rassismus, von Diskriminierung. Letztlich kann man das Bild auch größer zeichnen: Es geht um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, darum, dass wir gut miteinander leben können in dieser Gesellschaft.
Frau Polat, Sie haben zu Recht angesprochen, dass wir da nicht an einem Nullpunkt stehen, sondern, ganz im Gegenteil, in den vergangenen Wochen und Monaten sehr viel passiert ist, sowohl hier im Parlament als auch im Bereich der Regierung. Ich gehe davon aus, dass die Frau Staatsministerin nachher intensiv auch darauf eingehen wird, was der Kabinettsausschuss am vergangenen Mittwoch in 89 Punkten, Forderungen, Feststellungen und Entscheidungen dargelegt hat, wie wir Rassismus in unserer Gesellschaft effektiv bekämpfen können.
Ich möchte aber auch daran erinnern, dass wir natürlich auch hier im Parlament bereits – weil Sie das angemahnt haben – eine ganze Reihe von Debatten geführt – keine folgenlosen Debatten – und Gesetze verabschiedet haben, unter anderem das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Deshalb, glaube ich, können wir schon sagen, dass wir die vergangenen Monate intensiv genutzt haben, um gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Diskriminierung in unserer Gesellschaft klare Ausrufezeichen zu setzen. Und wir werden das fortsetzen, weil das eine Aufgabe ist, die nicht beendet ist – die auch nicht beendet sein wird mit dem Kabinettsbeschluss zu diesem Thema –, sondern es wird weitergehen, es wird weiteres Handeln von uns erfordern.
Sie haben in Ihrer Rede – wir haben ja auch entsprechende Anträge hier vorliegen – darauf hingewiesen, dass es sinnvoll sein könnte – Sie finden es sinnvoll –, den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz in Artikel 3 Absatz 3 zu ersetzen. Ich glaube, Folgendes ist klar, da können wir Gemeinsamkeiten definieren:
Erstens. Es gibt keine menschlichen Rassen. Die biologisch-naturwissenschaftliche Forschung ist in diesem Bereich so klar wie bei kaum einem anderen Thema. Zweitens. Trotzdem haben wir Rassismus in unserer Gesellschaft. Drittens. Wir müssen in jedem Fall eine Lösung finden, die am Ende nicht zu einer Verkürzung des absoluten Diskriminierungsschutzes führt, sondern – im Gegenteil – letztlich das hohe Niveau des Schutzes unseres Grundgesetzes erhält.
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In diesem Spannungsverhältnis sind wird unterwegs, und in diesem Spannungsverhältnis müssen wir eine Lösung finden.
Mir ist ganz wichtig, darauf hinzuweisen: Die Erkenntnis, dass es keine menschlichen Rassen gibt, ist nicht eine neue Erkenntnis von uns, sondern auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten diese Erkenntnis schon. Als sie sich vor 71 Jahren entschieden haben, diesen Begriff ins Grundgesetz zu übernehmen, war dieser nie affirmativ gemeint, sondern – ganz im Gegenteil – ablehnend, abgrenzend; es war die Antwort der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes auf den Rassenwahn der Nazis. – Das sollten wir im richtigen Kontext betrachten.
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Wir müssen hier immer auch die Frage beantworten, ob das, was wir tun, die Situation verbessert oder ob es sie eben nur verändert. Ich bin dafür, dass wir den ersten Weg wählen. Wir hatten vor etwa zehn Jahren hierzu schon einmal einen Antrag der Fraktion Die Linke und im Jahr 2012 eine Debatte hier im Deutschen Bundestag. Damals haben im Übrigen alle den Antrag der Linken abgelehnt, die damals eine Streichung dieses Begriffes im Grundgesetz gefordert und einen Vorschlag gemacht haben, wie man ihn ersetzen kann. Man muss, glaube ich, arg aufpassen, dass man diese Diskussion nicht nur unter Sozialwissenschaftlern führt, sondern auch den juristischen Aspekt mit einbezieht und darauf achtet, dass man die Dinge verbessert und nicht verschlechtert.
Wir sind ja schon weiter als damals, 2012. Ich glaube, es gibt niemanden mehr, der eine Streichung des Begriffes fordert, sondern es geht darum, ihn zu ersetzen. Wenn es so ist, dass sich viele Menschen in unserem Land von diesem Begriff beleidigt, abgestoßen oder in sonstiger Weise betroffen fühlen, dann finden wir dafür eine Lösung. Die muss aber den gleichen Grundrechtsschutz beinhalten wie den, den wir heute haben.
Lassen Sie mich darauf eingehen, dass im Antrag der Grünen beispielsweise eine entsprechende Gewährleistungsverpflichtung gefordert wird. Ich möchte mich gerne dagegen aussprechen; denn unser Grundgesetz und insbesondere der Grundrechtsbereich, also die Herzkammer unseres Grundgesetzes, ist auf eine Abwehrdimension gerichtet, gegen den Staat. Die kann sich im Einzelfall zu einer Schutzdimension verdichten; das ist wohl wahr. Aber, ich glaube, wir sollten aufpassen; denn wir machen, offen gestanden, hier im Parlament viel zu oft den Fehler, dass wir zu wenig Respekt vor unserem Grundgesetz haben, es zu oft ändern und die Änderungen im Regelfall keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des ursprünglichen Textes sind.
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Genauso ist es in diesem Fall.
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Es ist nicht so, dass es diese Schutzfunktion des Staates nicht gebe; die gibt es. Es gibt eine UN-Konvention für bürgerliche und politische Rechte. Die wirkt bei uns in Deutschland als einfaches Bundesgesetz. Deshalb ist es richtig, dass wir nicht weitermachen mit dem Trend, alles, wovon wir glauben, dass es wichtig ist, vom einfachen Gesetz zum Verfassungsrecht zu machen. Das ist eine falsche Motivation; denn es wird letztlich auch der Askese unseres Grundgesetzes nicht gerecht.
Wir diskutieren diese Fragen, wir greifen die Kritik auf, wir finden Lösungen – aber mit Maß, Mitte und Ziel.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frei. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundestagswahlen stehen vor der Tür. CDU und Grüne machen sich füreinander hübsch.
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Auch die Kanzlerkandidaten der CDU flirten schon auf offener Bühne mit Habeck und Co.
Aber wofür stehen die Grünen? Sie wollen nicht nur offene Grenzen – jeder kann kommen und gleich deutscher Staatsbürger werden –, heute legen sie einen Plan vor, wie sie Deutschland insgesamt umbauen wollen, und dann mithilfe der CDU. Die Einwanderung soll unser Land grundlegend verändern. Deutschland, wie wir es kennen, soll noch schneller abgeschafft werden; das müssen wir verhindern, meine Damen und Herren.
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Schon der erste Satz der Grünen: eine Frechheit. Sie behaupten, Rassismus und Menschenfeindlichkeit seien in der deutschen Gesellschaft zutiefst verwurzelt. – Allein das ist doch schon Unsinn.
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Kein Land der Welt nimmt so viele Migranten auf. Kein Land der Welt teilt mit so vielen Fremden so freigiebig seinen Sozialstaat. Meine Damen und Herren, in kein anderes Land der Welt sehnen sich die Menschen so sehr und drängen hinein. Ihr kalter Rassismusvorwurf an die Deutschen ist eine infame Lüge. Wie sehr müssen Sie dieses Land und seine Menschen hassen, meine Damen und Herren?
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Diese bösartige Verdammung der Deutschen dient aber einem Zweck: Die Grünen planen, unsere vertraute Heimat in eine anonyme Weltgesellschaft umzubauen
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mit maximaler Vielfalt. Damit weitere Masseneinwanderung rigoros durchgesetzt werden kann, soll das ganze Land, laut Antrag der Grünen, überzogen werden mit einem dichten Netzwerk von Antirassismus-, Melde- und Kontrollstellen. Auch alle Polizisten sollen gegen Rassismus permanent überwacht werden. Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes soll künftig als oberste Bundesbehörde die Deutschen auf Linie bringen. Ein neues Partizipationsgesetz soll erzwingen, dass in allen Behörden feste Migrantenquoten gelten, also Einstellung nicht nach Leistung, sondern nach Hautfarbe. Das ist noch schlimmer als die Frauenquote, meine Damen und Herren. Wie weit kann man den Wahnsinn denn überhaupt noch steigern?
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Und das ist noch nicht alles. Dazu kommen antirassistische Seminare für alle Lehrer, verpflichtende rassismuskritische Schulungen für alle Bundesbeamten. Jeder, der kritisiert, ist ausdrücklich Rassist oder Menschenfeind. Gegen solche Abweichler soll der Verfassungsschutz in Stellung gebracht werden, dafür soll er auf- und umgerüstet werden.
Das Ziel der Grünen ist letztlich eine neue Art von Erziehungsstaat, Umerziehungsstaat. Wie prahlte Grünenchefin Baerbock jüngst? „Wir können Wunder bewirken.“ – Das glaube ich auch.
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Wundern werden sich die CDU-Wähler nach der Wahl, wenn sie sehen, wem sie da zur Macht verholfen haben:
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nach außen hin friedensbewegte Naturfreunde und Klimaschützer, im Kern aber die alten Linksextremisten und radikalen Deutschlandabschaffer.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Baumann. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in die alten Dokumente, in die Entwürfe von Herrenchiemsee reinschaut, die die Grundlage für die Beratungen im Parlamentarischen Rat 1948/1949 gewesen sind, dann stellt man erst einmal erstaunt fest, dass im Ursprungsentwurf das Wort „Rasse“ noch gar nicht enthalten gewesen ist. Es ist erst in der sechsten Sitzung des Grundsatzausschusses am 5. Oktober 1948 eingeführt worden.
Daran hat sich eine Diskussion angeschlossen, die im Licht der damaligen Zeit geführt wurde und die richtig gewesen ist. Es ging nämlich um die klare Abgrenzung zum Rassebegriff der Nationalsozialisten, welcher geprägt war vom völkischen Prinzip, die Überlegenheit einer nordisch-arischen Herrenrasse postulierte und andere Menschen zu lebensunwertem Leben oder Untermenschen degradierte. Das führte dazu, dass die Begriffe „Auslese“ und „Ausmerzungen“ Leitbegriffe dieses Rassenwahns gewesen sind.
In dieser Sitzung am 5. Oktober 1948 war die Formulierung, dass alle Menschen gleich sind, fortschrittlich, und zwar als Gegenentwurf zu der Unrechtszeit der Nazis. Und es war damals richtig, diesen Begriff aufzunehmen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, was damals fortschrittlich war, kann heute berechtigte und richtige Diskussionen auslösen. Denn wir wissen, dass es keine Rassen gibt; wir haben das gerade gehört. Und diejenigen, die doch daran glauben, sind ehrlicherweise meist diejenigen, die den Entwurf der Mütter und Väter des Grundgesetzes sicherlich damals abgelehnt hätten und auch heute nicht auf dem Boden dieses Grundgesetzes stehen.
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Darum ist die Beschäftigung mit dem Thema Rassismus wichtig: weil sie uns immer wieder Althergebrachtes, bestimmte eingespielte Verhaltensweisen, auch Symbole hinterfragen lässt. Denn leider – und das gehört zur Wahrheit dazu – ist Rassismus immer noch allgegenwärtig. Und darum ist es richtig und gut, dass sich die Regierungskoalition darauf verständigt hat, eine Änderung des Grundgesetzes vorzunehmen. Es ist wichtig, dass wir hier gemeinsam diesen Punkt angehen. Aber ich will auch deutlich sagen: Das anzugehen und voranzubringen, wird nicht einfach.
Die Beschlüsse des Kabinettsausschusses vom Mittwoch zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus – sie sind angesprochen worden – sind richtig. Wir haben in den vergangenen Wochen hier im Bundestag auch zu Fragen der Kolonialzeit Debatten geführt. Dabei haben wir angesprochen, dass Straßenschilder mit kolonialem Bezug lange einfach so bei uns im Land standen. Wir sind an ihnen vorbeigelaufen, wir sind unter ihnen hergelaufen. Teilweise waren sie mit Namen von Tätern versehen, von Menschen, die aus rassistischen Motiven gemordet haben.
Auch darum ist es richtig, dass der Kabinettsausschuss jetzt noch einmal bestätigt hat, dass wir die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ vornehmen sollen. Ich will aber auch daran erinnern, dass es bereits kurz zuvor eine Einigung der Minister Olaf Scholz und Horst Seehofer gegeben hat; sie hatten sich bereits darauf verständigt.
Ich will heute sagen, dass ich den vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen richtig und wichtig finde. Ich glaube, unsere gemeinsame Herausforderung im Lichte der Beschlüsse vom Mittwoch wird jetzt allerdings sein, dass wir den Begriff „Rasse“ ersetzen, ohne – da hat Thorsten Frei völlig recht – das bestehende Schutzniveau zu senken.
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Diese Herausforderung – das will ich auch all denjenigen sagen, die jetzt schnell einen anderen Begriff zur Hand haben – wird juristisch nicht ganz einfach werden. Wir sollten uns gemeinsam die Zeit nehmen und uns fraktionsübergreifend dieser Aufgabe stellen – nicht nur vor dem Hintergrund, dass es zur Änderung des Grundgesetzes einer Zweidrittelmehrheit bedarf, sondern auch, weil diese wichtige Änderung sowieso von einer großen Mehrheit angegangen werden sollte. Da bin ich in großen Teilen bei dem Gesetzentwurf der Grünen und halte ihn für richtig. Ich kann allerdings heute – das möchte ich auch offen zugeben – noch keine Formulierung auf den Punkt bringen, mit der letztendlich rechtssicher das aktuelle Schutzniveau erhalten bleibt. Eine solche Formulierung zu finden, ist die Herausforderung, vor der wir in den nächsten Wochen stehen. Ich glaube jedoch, wir werden das übergreifend, aber auch getragen von der Regierungskoalition mit Elan und Engagement angehen; denn es ist richtig.
Ich will auch noch mal sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Regierungskoalition hat hier am Mittwoch geliefert. Die 89 Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sind wichtig. Es sind übrigens auch wichtige Punkte zur Auseinandersetzung mit dem Thema „Kolonialgeschichte und Kolonialismus“ drin; das will ich noch mal unterstreichen. Es soll ebenfalls zur Einsetzung eines Bundesbeauftragten gegen Rassismus kommen. Entscheidend ist auch: Wir werden gleichzeitig Richtern mit der Schließung von Lücken bei der Strafbarkeit von verhetzenden, antisemitischen, aber auch rassistischen Beleidigungen ein besseres Handwerkszeug in die Hand geben.
Von daher glaube ich: Es ist ein wichtiger Punkt, dass wir auch im Dialog mit einer breiten Zivilgesellschaft letztendlich diese Maßnahmen auf den Weg gebracht haben. Und ich kann nur sagen: Gehen wir gemeinsam dieses wichtige Verfahren an, gehen wir gemeinsam diese Grundgesetzänderung an.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wiese. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Von den fünf Vorlagen, die wir heute behandeln, möchte ich mich den beiden Gesetzentwürfen zum Artikel 3 Absatz 3 GG, dem Begriff der Rasse im Grundgesetz zuwenden. Dazu haben die Kollegen Frei und Wiese eben schon ausgeführt, dass es keine triviale sprachliche Aufgabe ist, das Problem zu beheben, ohne den Schutzraum zu verengen.
Momentan sagt Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz, dass niemand „wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. Auf den ersten Blick ist diese Unrechtskennzeichnung auch nicht zu beanstanden; aber – und das ist das Problem, das schon angesprochen worden ist – die Verwendung des Begriffes „Rasse“ im Grundgesetz setzt voraus, dass es Rassen gibt, derentwegen man eben nicht benachteiligt werden darf. Aber – Sie sagten es schon, Herr Kollege Frei – das entspricht nicht den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen; auch Frau Kollegin Polat hat dies ausgeführt. Menschenrassen gibt es eben nicht – im Gegensatz zu den anderen Kriterien in Artikel 3 Absatz 3 wie Sprache, Geschlecht, Abstammung, Herkunft, Glaube. Das sind Dinge, die es gibt, wohingegen es Menschenrassen eben nicht gibt, meine Damen und Herren.
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Deshalb müssen wir uns von diesem Begriff der Rasse lösen, ohne die Unrechtskennzeichnung von Rassismus aufzuheben und ohne den Schutzraum einzuengen. Das ist genau das Problem, um das es geht.
Es gab schon mal vor vielen Jahren den Ansatz, den Begriff der Rasse einfach zu streichen; aber damit würde die Unrechtskennzeichnung nicht mehr im Verfassungstext selber sichtbar sein. Das Merkmal muss gleichwohl weiterhin benannt werden, ohne sich die Rassentheorie anzueignen.
Deswegen gab es als Zwischenschritt die Überlegung, ob man das Verbot der Benachteiligung aus rassistischen Gründen ins Grundgesetz aufnehmen solle. Das löst aber das Problem auch nicht; denn es kommt ja eigentlich nicht darauf an, welche Gründe jemand für sein Verhalten hat, sondern ob objektive Kriterien jemandem einen Nachteil zuweisen, weil er einer bestimmten Volksgruppe zugewiesen wird oder weil er tatsächliche oder vermeintliche vererbbare Merkmale aufweist.
All das reflektieren zwar die beiden Gesetzentwürfe von Grünen und Linken, die wir heute beraten; aber in Wirklichkeit macht es die Sache nicht besser, nur von einer „Benachteiligung“ zu sprechen, wenn jemand rassistisch diskriminiert wird. Denn auch das entspringt ja einer Geisteshaltung; „rassistisch“ ist ein innerer Tatbestand. Wir müssen aber, um jetzt das Gute zu tun, ohne dabei den Verfassungstext zu verschlechtern, überlegen, ob es nicht auch Fallgruppen und Fallgestaltungen geben kann, in denen jemand wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit schlechtergestellt wird, das aber gar nichts mit einer inneren Geisteshaltung, also „rassistisch“ oder „Rassismus“, zu tun hat. Diese Fälle wollen wir nicht ausschließen, und das hinzubekommen, ist die nicht triviale Aufgabe, vor der wir hier stehen.
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Deswegen müssen wir gut überlegen und beraten, welche Formulierungen wir wählen, damit es nicht zu einer Verengung des Schutzraumes kommt. Genau das wollen wir eben nicht. Und hier bleibt festzustellen: Den Stein der Weisen hat noch keiner gefunden. Die Systematik, abstraktive Substantiva zu nutzen, die Tatsachen markieren, statt Adjektive oder Adverbien, die eben innere Haltungen, Eigenschaften, Bewertungen oder Beschreibungen enthalten – das ist das Problem, mit dem wir uns befassen müssen, und da sollten wir jetzt in Gespräche eintreten.
Es gab schon mal im Juni dieses Jahres einen Brief meines Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner an Ihre Fraktionsvorsitzenden, Frau Göring-Eckardt und Herrn Hofreiter, um Gespräche aufzunehmen. Wir freuen uns sehr, dass jetzt ein Beschluss des Kabinettsausschusses vorliegt, mit dem ebenfalls dieser Faden aufgenommen wird. Das heißt: Jetzt sollten die Beratungen beginnen, wie wir uns von diesem Begriff lösen, ohne im Grunde den Schutzraum zu verengen, den wir alle erhalten wollen. Das wird anspruchsvoll, aber ich freue mich sehr darauf.
Herr Kollege.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Thomae, herzlichen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über zwei wichtige Gesetzentwürfe zur Änderung des Grundgesetzes. In unserem Gesetzentwurf geht es darum, den Begriff „Rasse“ nicht nur zu streichen, sondern zu ersetzen. Der Begriff „Rasse“ sollte ersetzt werden durch ein Verbot von rassistischer Diskriminierung, sodass keine Schutzlücke entsteht; denn es gibt Rassismus, aber keine Rassen.
Zu Zeiten des Nationalsozialismus war der Diskurs um den Begriff „Rasse“ ganz anders als heute. Dieses Weltbild haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht einfach abgelegt. So spiegelt es sich auch heute in unserer Verfassung wider. Hermann von Mangoldt, einer der Väter des Grundgesetzes, war Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates. Er selbst vertrat jedoch ein rassistisches Weltbild. So veröffentlichte der Antisemit und Nationalsozialist Mangoldt 1939 die rechtsvergleichende Schrift „Rassenrecht und Judentum“, in welcher er unter Bezug auf Hitlers „Mein Kampf“ die rechtlichen Grundlagen der Nürnberger Gesetze mit den Verfassungen der angelsächsischen Länder verglich.
Die Diskussion um die Grundsatzfragen im Parlamentarischen Rat, an der sich Mangoldt, aber auch die anderen Berichterstatterinnen und Berichterstatter beteiligten, basierte oftmals auf rassistischen Ideologien. Ja, auch einige Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben selbst ein rassistisches Weltbild gehabt. In den Protokollen des Parlamentarischen Rates zeigt sich, dass die Berichterstatter selber beispielsweise das N-Wort verwendeten. Aber auch der vorhandene Antiziganismus wird erschreckend deutlich, wenn wörtlich von „asozialen Personen“ gesprochen wird und Sinti und Roma als „Plage“ bezeichnet werden. Ja, das kann man alles nachlesen.
Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland stellt bereits seit vielen Jahren die Forderung auf, einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung zu verankern. Dabei darf man sich nicht auf einen Begriff berufen, den rassistische Ideologien selbst hervorgebracht haben; denn das Grundgesetz sollte eigentlich einen Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Regime darstellen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Wunsiedel-Beschluss 2009 ausdrücklich entschieden. Umso wichtiger ist es, dass dieses Urteil Verfassungswirklichkeit wird.
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Einige Mitgliedstaaten der EU haben bereits im Zuge der Umsetzung der Antirassismusrichtlinie den Begriff „Rasse“ aus ihren nationalen Gesetzen verbannt. Wir als Linksfraktion haben bereits 2010 gefordert, den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz zu ersetzen. Einige Bundesländer haben ebenfalls ihre Landesverfassungen reformiert oder sind gerade noch dabei.
Dem Wortlaut „rassistisch“, den wir als Linksfraktion einfügen wollen, wohnt bereits eine Verurteilung von Rassismus inne. Dieses Bekenntnis sind wir in erster Linie den Opfern von Rassismus, aber auch unserer gesamten Gesellschaft schuldig. Struktureller und institutioneller Rassismus sind nach wie vor ein großes Problem in Deutschland, nicht erst seit dem rassistischen Mord an George Floyd. Aber die Reaktion auf seine Tötung hat das gesellschaftliche Problem aufgezeigt, indem sich Hunderttausende den Protesten der Black-Lives-Matter-Demos angeschlossen haben.
Für uns ist es wichtig, dass sich das Recht klar schützend vor die Menschen stellt, die rassistische Diskriminierung tagtäglich erfahren. Erst vor knapp drei Wochen hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung den Rassenbegriff in Anführungszeichen gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht distanziert sich also selber von dem Begriff. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Auslegung des Begriffs immer über die Notlösung einer Distanzierung von dem Begriff erfolgen muss, um den Diskriminierungsschutz herzuleiten. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen diese Entscheidung des obersten deutschen Gerichts haben wird.
Insgesamt besteht in der juristischen Literatur zwar Konsens darüber, dass es Rassismus gibt, aber kein Konsens darüber, dass es keine Rassen gibt. Das wird deutlich, wenn man beispielsweise einen Blick in die juristischen Kommentare wirft. Diese werden für die Auslegung und Deutung des Begriffs herangezogen. Nicht einmal dort wird von vielen Fachleuten verstanden, dass es keine Menschenrassen gibt. Teilweise finden sich sogar Rechtfertigungen des Rassenbegriffs in juristischen Werken wieder. Solche Kommentare würden infolge der Grundrechtsänderung entfallen, und alle Juristinnen und Juristen müssten sich mit dem Verbot rassistischer Diskriminierung auseinandersetzen. Das ist auch notwendig.
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Dass der Diskriminierungsschutz, den wir jetzt haben, nicht ausreicht, ist klar. Zahlreiche Organisationen und auch die Antidiskriminierungsstelle verzeichnen einen drastischen Anstieg rassistischer Diskriminierung. In Gesprächen mit Wissenschaftlern, Engagierten und Betroffenen wurde die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz teilweise als ein Vortäuschen von Diskriminierungsschutz gewertet. Damit diese Verfassungsänderung nicht nur zu einer Alibihandlung verkommt, fordern wir als Linksfraktion, eine zusätzliche Schutz- und Förderklausel im Grundgesetz zu verankern. Mit der Einfügung der Schutzklausel wird ein Gebot zum Schutz vor allen in Artikel 3 Absatz 3 GG genannten Diskriminierungsformen aufgestellt.
Die Grundgesetzänderung wird nur einer von vielen nötigen Schritten sein, bis wir insgesamt mehr Diskriminierungsschutz erreichen. Dennoch ist das ein wichtiger Schritt. Unsere Verfassung soll alle Menschen in diesem Land wirksam vor Ungleichbehandlung schützen, ohne selbst einen diskriminierenden Charakter zu haben.
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Zum Maßnahmenkatalog des Kabinettsausschusses kann ich nur sagen, dass wir viele Maßnahmen unterstützen. Für uns ist jedoch wichtig, dass die Maßnahmen dauerhaft finanziert werden, und vor allem, dass die Evaluation gemeinsam mit der Zivilgesellschaft gestaltet wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Akbulut. – Ich erteile nunmehr der Frau Staatsministerin Annette Widmann-Mauz das Wort.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ajla Kurtovic verlor bei der rassistischen Mordtat in Hanau ihren Bruder Hamza. Sie hat bei der Trauerfeier am 4. März gesagt: Deutschland ist unsere Heimat. Sorgen Sie dafür, liebe Politikerinnen und Politiker, dass sich so eine Tat nicht wiederholen kann. Verbannen Sie das Gift des Rassismus aus unserer Gesellschaft, damit wir alle friedlich in diesem Land leben können. – Ich war damals in Hanau, und ich verstehe diese Worte als einen Auftrag für uns alle, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Rassismus ist der Nährboden von Rechtsextremismus, Antisemitismus und jeder Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Und Rassismus hat viele Gesichter. Das ist ein Grund, warum der Kampf dagegen eine Daueraufgabe ist und auf so vielen Ebenen geführt werden muss: mit den Kräften der Zivilgesellschaft, mit der Wissenschaft und mit den staatlichen Institutionen und Behörden.
Genau dieses Bündnis müssen wir stärken, damit unsere Demokratie wehrhaft bleibt und sich das Gift des Hasses nicht weiter ausbreitet – ob in den sozialen Medien, auf vermeintlichen Widerstandsdemos oder hier in unserem Parlament. Denn das Grundprinzip der Entmenschlichung ist immer das gleiche: Erst kommt die Abgrenzung; Menschen werden in Schubladen eingeteilt, auf Herkunft und Hautfarbe reduziert. Es folgt die Stigmatisierung und Entwürdigung ganzer Bevölkerungsgruppen. Am Ende entsteht ein Feindbild, ein Sündenbock, der ohne Rücksicht bekämpft wird. Doch so weit lassen wir es nicht kommen.
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Wenn wir schauen, was Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte wirklich wichtig im Kampf gegen Rassismus ist, dann erkennen wir, dass es der Mehrheit nicht zuerst um Symbole geht. Ihnen geht es um ganz konkrete Lebenssituationen, ihnen geht es um Aufklärung, Bildung und Lehrpläne in den Schulen, um mehr Begegnungen und vor allen Dingen um gegenseitige Wertschätzung in einer vielfältigen Gesellschaft. Hier müssen wir ansetzen; denn nur so packen wir Rassismus an der Wurzel.
Genau das macht der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Wir haben am Mittwoch die Ergebnisse unserer Arbeit vorgestellt. Sie sind historisch ein echter Meilenstein; denn wir werden mit 89 Maßnahmen nicht nur Strafverfolgung, Sicherheitsbehörden und Programme zur Prävention und Demokratiearbeit mit über 1 Milliarde Euro in den nächsten vier Jahren stärken. Nein, wir werden der gesamtgesellschaftlichen Relevanz, die der Kampf gegen Rassismus hat, endlich gerecht.
Darum haben wir ganz bewusst die Perspektive der Opfer von Rassismus und der Migrantenorganisationen in den Kabinettsausschuss integriert. Wir schaffen ein Beratungszentrum als bundesweite niederschwellige Anlaufstelle mit einer Hotline, die für Opfer von Alltagsrassismus, aber auch für Angehörige, Lehrer oder Arbeitgeber schnell und unbürokratisch erreichbar ist, die hilft, die Betroffenen an bestehende Opferberatungs- und Antidiskriminierungsstellen weiterzuleiten.
Wir wollen das Wort „Rasse“ im Grundgesetz ersetzen, ohne den Schutzgehalt in Artikel 3 zu schmälern; denn Sprache prägt das Denken. Welch hässliche Blüten genau das treiben kann, haben wir heute hier im Haus, in dieser Debatte, schon erlebt.
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Wir richten einen Expertenrat für Integration und Vielfalt ein, damit die wichtige Expertise aus den Migrantenorganisationen und aus der Wissenschaft dauerhaft gehört und berücksichtigt wird. Und wir werden auch eine Diversitätsstrategie für den öffentlichen Dienst und die Bundesministerien mit zeitgemäßen Auswahlverfahren bei Bewerbungen und Einstellungen, mit Diversitätsleitlinien in den Ministerien entwickeln; denn Behörden müssen Spiegel unserer Gesellschaft sein. Das stärkt das Vertrauen in unsere staatlichen Institutionen, und das liefert nicht nur in der Wirtschaft nachweislich bessere Ergebnisse.
Klar ist aber auch: Mit staatlichen Maßnahmen und Gesetzen allein werden wir den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus nicht gewinnen. Wir brauchen die Mitwirkung der ganzen Gesellschaft. Es geht auch darum, dass wir ein Bewusstsein und eine Sensibilität dafür entwickeln, wo Menschen im Alltag, am Arbeitsplatz, im Supermarkt oder bei der Wohnungssuche bewusst oder unbewusst diskriminiert werden. Und wir brauchen ein Selbstverständnis in der Gesellschaft, das Vielfalt nicht nur als Realität, sondern auch als Normalität begreift, ein Selbstverständnis, das klar bekennt: Ja, auch Vielfalt, auch die 21 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben uns zu einem erfolgreichen und wohlhabenden Land in der Mitte Europas gemacht.
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Und nein, die Opfer von Rassismus und Diskriminierung sind keine Fremden; sie sind Teil dieses Landes, genau des Deutschlands, das wir kennen, sehr geehrter Herr Baumann. Es sind nämlich unsere Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen, die täglich ihren Beitrag für dieses Land leisten.
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Zusammen sind wir Deutschland, zusammen sind wir eins. Wenn wir das erkennen und das Einende wertschätzen, dann ist das die beste Prävention. Das schulden wir den Opfern, und das schulden wir Ajla Kurtovic.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatministerin. – Die Unionsfraktion kann sich schon mal überlegen, wem von den nachfolgenden Rednern ich eine Minute Redezeit abziehen darf. Eine Minute vierzig zu überziehen, das ist schon eine Menge.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antirassismus ist derjenige Missstand, für dessen Bekämpfung er sich hält. Zu keinem anderen Urteil kann man gelangen, wenn man die heutige Debatte hier verfolgt und die geradezu hysterischen und jedenfalls heuchlerischen Vorlagen der Grünen und Linken zum Antirassismus liest.
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Ein „friedliches und chancengerechtes Zusammenleben“ wollen Sie erreichen. In Wahrheit spalten Sie doch die Gesellschaft
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in die angeblich bösen rassistischen Einheimischen und die angeblich nur guten unterdrückten Migranten und Minderheiten.
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Dieses simple Schwarz-Weiß-Denken ist nicht getragen von Menschenliebe, wie Sie sich selbst und der Öffentlichkeit vormachen, sondern von einem tiefsitzenden antideutschen Ressentiment und von kulturellem Selbsthass. Die ethnischen Bruchlinien, deren Existenz Sie leugnen, vertiefen Sie in Wahrheit eben damit immer mehr.
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Die Folgen Ihres Rassismuswahns erleben wir doch schon. Die von Ihnen regelmäßig als rassistisch denunzierte Polizei wird angepöbelt, bespuckt, tätlich angegriffen. Kriminelle migrantische Jugendbanden und Linksextremisten verlieren jeden Respekt vor ihr und fühlen sich legitimiert von Ihnen. Bürger trauen sich kein Wort mehr dazu zu sagen, weil sie sich dann von der herrschenden Ideologie als rassistisch und menschenfeindlich denunziert sehen.
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Dass Sie die offen gewalttätige und aggressiv antiweiße Black-Lives-Matter-Bewegung, die übrigens auch Schwarze massiv geschädigt hat, mehrfach positiv erwähnen, spricht Bände und zeigt Ihre linksradikale Gesinnung.
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Der französisch-jüdische Philosoph Alain Finkielkraut hat die Ideologie des Antirassismus als den „Kommunismus des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet.
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Diese Ideologie strebe unter dem Deckmantel der Gleichheit nach der Zerstörung der europäischen Zivilisation. Den Beweis sehen wir auf den Straßen der USA und in erschreckendem Ausmaß auch schon hierzulande.
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Es ist ja interessant, dass der Rassismus nichtweißer Akteure, allen voran der arabisch-islamische Antisemitismus, von der antirassistischen Ideologie vollständig ausgeblendet wird.
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Kein Wort davon auch in Ihren Anträgen! Sie liefern die ideologische Legitimation für eine Migrationspolitik, die massenweise waschechte Antisemiten ins Land holt. Die Juden sind die ersten Opfer Ihres Antirassismus. Ihre Reden gegen den Antisemitismus sind daher pure Heuchelei.
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Zugleich wollen Sie jetzt das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz tilgen, nach dem Motto: Rassismus ohne Rassen. Wie das Geschlecht in der Genderideologie sollen auch alle sonstigen naturgegebenen Unterschiede zwischen den Menschen nur noch eine böswillige gesellschaftliche Konstruktion sein.
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Ob der Begriff „Rasse“ heute noch angemessen ist, darüber kann man zweifellos diskutieren. Aber es ist doch nicht bereits das Sehen und Benennen von natürlichen Unterschieden rassistisch; rassistisch ist, einen Überlegenheitsanspruch, eine Unterdrückung daraus abzuleiten. Zu diesem sachgerechten Rassismusbegriff müssen wir zurückkehren, meine Damen und Herren.
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Es ist ja schon gesagt worden: Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich vor dem Hintergrund der Nazibarbarei gegen jede Diskriminierung gewandt. Und das waren gewiss bessere Demokraten als Sie.
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Ihr Weltbild wird tagtäglich widerlegt. Wenn Deutschland so rassistisch ist, wie Sie behaupten, wieso gibt es dann Hunderttausende Migranten, die hier Einlass begehren und den Schleppern Tausende Dollar dafür bezahlen? In Wahrheit leben wir doch in dem am wenigsten rassistischen Deutschland aller Zeiten. Das zeigen auch die vielen gut integrierten Zuwanderer.
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Das ist der reale Kontrast zu Ihrer grotesken Gespensterseherei.
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Die Regierung ist aber leider keinen Deut besser als die Linksradikalen in diesem Haus. Während ringsum die Islamisten Köpfe abschneiden und Linksextremisten ganze Straßenzüge verwüsten, hat das Kabinett vorgestern einen Maßnahmenkatalog gegen Rassismus beschlossen
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und eine weitere Milliarde im Kampf gegen rechts, unter anderem für die „Stasi-Antonio-Stiftung“, für die Antifa. Das ist ein regelrechtes Umerziehungsprogramm für die Bevölkerung.
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Wenn Sie – ich komme zum Schluss – das Klima in diesem Land wirklich entgiften wollen, dann stoppen Sie den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, stoppen Sie auch dieses Programm,
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und kümmern Sie sich um die wirklichen Probleme in diesem Land.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sprachlosigkeit zeichnet mich in der Regel nicht aus, aber nach den Worten, die ich jetzt gehört habe, bin ich sprachlos – sprachlos darüber, wie wenig unser Grundgesetz seit 1949 bei Menschen gewirkt hat, mit denen ich im gleichen Atemzug als Kollege im Deutschen Bundestag genannt werden muss. Ich schäme mich dafür, dass es derartige Aussagen in diesem Parlament gibt.
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Ich schäme mich deshalb, weil ich hier als Abgeordneter des Deutschen Bundestages stehe, um gemeinsam für dieses Land gegen Diskriminierung von jedermann in dieser Gesellschaft zu arbeiten – für ein Deutschland, das nicht diskriminiert, für ein Deutschland, das nicht rassistisch ist, für ein Deutschland, das nicht antisemitisch ist, für ein Deutschland, das bunt und integrierend ist. Das haben 1949 die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes gewollt: nicht ausgrenzen, sondern integrieren in dieses schöne Land, in diese Bundesrepublik Deutschland, die uns seit 1949 in Frieden zu Freiheit und auch Wohlstand geführt hat.
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Nicht umsonst haben die Vorlagen der Grünen und der Linken, auch wenn es textlich Unterschiede gibt, eines gemein: Es geht darum, Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes nicht zu ändern, sondern einer Revision zu unterziehen und den Begriff „Rasse“ durch einen neuzeitlichen und der jetzigen wissenschaftlichen Kenntnis entsprechenden Begriff zu ersetzen. Ich bin froh, dass der Kabinettsbeschluss mit den 89 Maßnahmen am Mittwoch dieser Woche den Weg dafür eröffnet hat. Es geht zum einen darum, am Grundgesetz nicht final Hand anzulegen, sondern das Grundgesetz auszutarieren, und zum anderen darum, die vielen Maßnahmen zur Antidiskriminierung in diesem Land auf den Weg zu bringen, damit wir das, was in diesem Land Realität ist, nicht mehr erleben müssen.
Realität ist, dass wir wissen, wer zuerst kontrolliert wird, wenn in einem Omnibus oder einer U-Bahn eine Kontrolle durchgeführt wird.
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Sind es die zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben weißen, hellen, netten Deutschen, oder ist es die Gruppe von vier südländisch aussehenden Menschen? Ich kann es Ihnen sagen: Es sind die südländisch aussehenden Menschen. Wer bekommt die Wohnung, wenn man sich um eine Wohnung bewirbt? Das adrette weiße Paar oder das schwule Paar, das lesbische Paar, die Transe oder gar das eritreische Ehepaar mit zwei Kindern? Ich kann Ihnen sagen, wer sie in diesem Land bekommt. – Das alles ist Diskriminierung, die wir in diesem Lande beenden müssen, beenden wollen und – das sage ich auch – beenden werden.
Der aus der Nazizeit stammende Begriff der Rasse,
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welcher letztendlich in Artikel 3 unseres Grundgesetzes Eingang gefunden hat, hat zum Begriff des Untermenschen geführt, überspitzt dann zum slawischen Untermenschen, zum jüdischen Untermenschen, zum sexuellen Untermenschen – Begriffe, die wir in diesem Land nie wieder hören wollen. Deshalb bin ich froh, dass wir für diesen Begriff in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz parteiübergreifend eine Lösung finden wollen. Ich sage ganz deutlich, dass ich mir eine Änderung wünsche, bei der nicht nur die ethnischen Unterschiede, sondern auch die sexuellen Identitäten in diesem Lande berücksichtigt werden, also alle Menschen in diesem Land. Denn egal ob farbig, zugewandert oder schon immer in Deutschland lebend, ob trans, schwul oder lesbisch,
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alle diese Menschen gehören zu Deutschland. Dies ist unser Deutschland. Wir sind dieses Deutschland.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Und wir gestalten dieses Deutschland und nicht Sie.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Nächster Redner ist der Kollege Grigorios Aggelidis, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir diese Debatte im Parlament führen, und es ist gut, dass wir hier über das Thema „Antirassismus und Antidiskriminierung“ sprechen. Es darf in unserem Land keine Rolle spielen, woher jemand kommt und woher jemand abstammt. Entscheidend muss doch sein, wie wir hier alle zusammen leben wollen und wo wir alle zusammen hinwollen, meine Damen und Herren.
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Fast 70 Jahre, nachdem die ersten Gastarbeiter hergekommen sind, muss doch klar sein: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Es muss aber auch klar sein: Vielfalt unter der Klammer des Grundgesetzes ist eine Bereicherung und ist die Voraussetzung für Prosperität und eine gute Entwicklung, meine Damen und Herren.
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Antirassismus ist mir persönlich, muss ich Ihnen ehrlich sagen, nicht genug, auch nicht Antidiskriminierung. Wir müssen endlich, so viele Jahrzehnte später, zu einem respektvollen Umgang miteinander in aller Vielfalt kommen.
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Denn unser Grundgesetz fordert genau, dass es eben keine Rolle spielt, welchen Hintergrund Menschen haben. Und wir können Rassismus nur dann effektiv bekämpfen, wenn wir genau das tun: wenn wir Akzeptanz und Respekt vor Vielfalt nicht erst fördern müssen, sondern tatsächlich haben, wenn wir Identifikation mit dem Gemeinwesen stärken, aber auch die Herausforderungen, die eine Einwanderungsgesellschaft mit sich bringt, anpacken.
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Ich möchte ein persönliches Erlebnis nennen, das mich – gerade auch nach dem, was Frau Widmann-Mauz im Familienausschuss berichtet hat – noch 40 Jahre danach wirklich auf die Palme bringt. Vor 40 Jahren durfte sich ein kleiner Junge mit griechischem Migrationshintergrund von seiner Mathelehrerin anhören: Es ist echt schade, dass ich dir eine Drei geben muss und keine Vier geben kann. – Dass wir 40 Jahre später immer noch Studien darüber haben, dass Kinder mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungen – bei gleichen Leistungen! – schlechtere Noten und schlechtere Schulempfehlungen bekommen, ist aus meiner Sicht, meine Damen und Herren, ein Skandal
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und zeigt, warum diese Debatte ins Parlament gehört und nicht in Regierungszirkel. Deswegen möchte ich auch weit darüber hinausgehen, irgendwelche Parallelräte – ich nenne das jetzt mal so – zu fördern. Ich möchte, dass wir die Migrantenorganisationen nachhaltig stärken, damit sie selber Teil der aktiven Zivilgesellschaft unseres Landes sind.
Herr Kollege Aggelidis, eine kurze Unterbrechung. Der Kollege Rix bekommt von mir einen Ordnungsruf wegen Nichttragen der Maske. – Entschuldigung, Sie können jetzt weiterreden.
Danke. – Wir müssen faire und gleiche Chancen schaffen, damit sich alle Menschen hier in demokratische Strukturen einbringen und an ihnen teilhaben können.
Wer Vielfalt und Antirassismus will, für den, meine Damen und Herren auch von der CDU – das muss ich mit einem gewissen Bedauern sagen –, ist doch klar: Integration heißt eben nicht, dass man im Gleichschritt leben oder denken muss. Bei Integration geht es auch nicht um die Frage nach einer völlig überholten Leitkulturdebatte, sondern um die Frage: Nach welchen Regeln wollen wir leben?
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Wie wollen wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen? Und wie wollen wir unsere gemeinsame Heimat weiterentwickeln? Damit schaffen wir – letzter Satz, Herr Präsident – die Voraussetzungen für Respekt vor Vielfalt und respektieren endlich auch die Lebensleistung der Millionen Menschen, die hierhergekommen sind und dieses Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Und es ist eine Einladung an all jene, die wir hier haben wollen, meine Damen und Herren.
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Deswegen: Lassen Sie uns alle zusammenstehen – für Vielfalt und für Freiheit im Geiste unseres Grundgesetzes.
Danke.
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Kollege Aggelidis, vielen Dank. – Also, dass vier nicht eins ist, weiß man auch, wenn man in Mathe eine Drei bekommen hat.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rassismus ist eine Schande. Er entwürdigt und entmenschlicht. Er ist Gift für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Es ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte, Rassismus zu benennen, ihn zu ächten und mit aller Kraft zu bekämpfen.
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Rassismus ist etwas, das Menschen in ihren Alltagserfahrungen spüren, weil sie sich ausgegrenzt vorkommen, weil sie einen anderen Namen tragen oder eine andere Hautfarbe haben. Aber Rassismus war auch das Motiv für schrecklichste Verbrechen in unserem Land: für die Mordserie des NSU, für die Tat von Halle oder von Hanau. Deswegen macht es mich hier sehr betroffen – und das sage ich an die rechte Ecke des Hauses gerichtet –, von Ihnen rassistische Stereotype zu hören, aber kein Wort der Empathie den Opfern gegenüber.
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Wir sprechen heute über die Frage der Notwendigkeit einer Änderung des Begriffs „Rasse“ in Artikel 3 Grundgesetz. Es ist richtig, wie einige Vorredner deutlich gemacht haben, dass es keine Menschenrassen gibt, dass dies zu den größten Irrlehren der Geschichte gehört. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Kollege Jongen: Es ist nicht diskussionsfähig, ob es Rassen gibt oder nicht. Die gibt es nicht! Wer darüber diskutiert, bereitet einer rassistischen Ideologie den Boden.
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Der Begriff „Rasse“ im Grundgesetz ist die direkte Antwort auf die Nürnberger Rassegesetze, die den Weg gebahnt haben zu den schrecklichsten Menschheitsverbrechen bis hin zur Shoah. Der Begriff „Rasse“ ist aber auch Teil einer zutiefst antirassistischen Haltung. Der Schutz vor rassistischer Diskriminierung findet sich nicht nur im Grundgesetz, sondern im gleichen Zeitraum auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder in der UN-Charta. Und es hat sich in den letzten 50 Jahren immer gezeigt, dass dieser Begriff gemeint hat: Wir müssen gegen Rassismus vorgehen.
Gleichwohl kann ich verstehen, wenn Betroffene sagen: Wenn sich ein Sprachbild in der Gesellschaft ändert, lasst uns doch über diesen Begriff sprechen. – Ja, wir können und, ich meine, wir müssen über diesen Begriff sprechen. Aber worüber wir nicht sprechen dürfen, ist, dass es weniger Schutz gibt. Es muss in Artikel 3 Grundgesetz klar und deutlich gemacht werden, dass es ganz vorn in unserer Verfassung eine klare Ansage gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gibt. Das ist der Kern unseres Grundgesetzes und die Seele unserer Demokratie und des Zusammenlebens.
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Deswegen bitte ich, dass wir uns sehr klar und deutlich überlegen, mit welchem Begriff wir in Artikel 3 des Grundgesetzes diesen besonderen Schutz gewährleisten. Es ist wichtig, dass vor allen Dingen die Betroffenen deutlich sehen, dass das Grundgesetz sich hier um sie kümmert.
Wir wissen auch, dass eine grundgesetzliche Verankerung eines Worts allein das Problem nicht beseitigt, sondern dass wir nach wie vor in unserer Gesellschaft stark gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und gegen Antisemitismus aufstehen müssen. Das bedeutet, dass die Sicherheitsbehörden, dass der Staat gefordert ist. Aber das bedeutet auch eine Verantwortung von jedem Einzelnen. Das bedeutet Zivilcourage, das bedeutet Hinsehen, das bedeutet Toleranz und das bedeutet ein Einstehen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Rassismus zu bekämpfen, ist im Kern von demokratischen Kräften angelegt. Deswegen bitte ich, dass wir diese Grundgesetzänderung und die vielen anderen Themen, die im Kabinettsausschuss beschlossen worden sind, gemeinsam angehen, in einer gemeinsamen Haltung demokratischer Kräfte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich.
Ich nutze die Pause, um noch einmal auf die Allgemeinverfügung des Bundestagspräsidenten hinzuweisen. Die Mund-Nase-Bedeckung muss nicht getragen werden, wenn Sie sitzen oder von hier vorne reden. Sowie Sie sich in Bewegung setzen, ist die Mund-Nase-Bedeckung zu tragen. Ich sehe immer wieder, dass Kolleginnen und Kollegen aufstehen und durch den Saal laufen, ohne sie zu tragen. Ich bitte darum, das wirklich zu beachten, weil das Präsidium angesichts der allgemeinen Lage in Deutschland sich entschieden hat, jetzt auch hart durchzugreifen.
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Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist Dieter Nuhr ein Rassist? Ich überlasse es Ihnen, zu überlegen und zu entscheiden. Aber dieser aktuelle Fall sagt sehr viel darüber aus, wie wir in diesem Land mit Rassismus umgehen.
Ähnlich viel sagt darüber das Sprechen und Schreiben der AfD zu den Begriffen „Rassismus“, „Rasse“ und „Kultur“ aus. Aber noch viel mehr offenbart darüber das tagtägliche Erleben von Opfern von Rassismus, von schwarzen Menschen, von Musliminnen und Muslimen, von Roma, die tagtäglich buchstäblich Rassismus erfahren und das eben nicht abschütteln können.
Die AfD plädiert, um ihren Antrag zusammenzufassen, gegen das Konzept „Rassismus ohne Rassen“, das auf einen Begriff von Stuart Hall und Balibar Bezug nimmt, und auch gegen den „Kulturrassismus“. Letztlich plädieren Sie für einen Rassismus mit Rassen. Sie plädieren letztlich für Rassenlehre, und das muss klar so benannt werden. Dafür braucht es nicht siebenseitige Elogen. Sie hätten das in einem Satz machen können; Sie haben es eben vorgeführt.
Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Jongen aus der AfD-Fraktion?
Ich erlaube gerne eine Zwischenfrage von Herrn Jongen, weil die Beantwortung immer ein sehr lehrreiches Erlebnis für ihn ist.
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Vielen Dank, Herr Lindh, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich glaube, es wird vor allen Dingen ein lehrreiches Erlebnis für die Zuschauer unserer Debatte sein.
Sie haben gerade behauptet, wir würden hier für einen „Rassismus mit Rassen“ plädieren. Sie haben uns quasi unterstellt, Rassisten zu sein. Aus meiner Rede werden Sie das nicht ableiten können;
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aber das steht Ihnen natürlich sozusagen frei. Solche Unterstellungen sind wir ja gewohnt.
Ich möchte jetzt aber auf Ihren Rassismusbegriff zu sprechen kommen und Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass es in den USA – ich zitiere hier aus einer englischen Wikipedia-Seite, die darüber berichtet – „five racial categories“ gibt, nämlich „White American, Black or African American, Native American, Alaska Native, Asian American, Native Hawaiian, and Other Pacific Islander“? Das ist also offizielle US-Politik. Was man daraus ableiten kann: Die USA sehen hier sozusagen naturgegebene Unterschiede zwischen den Menschengruppen. Sie nennen sie „Rassen“, wir können sie anders nennen.
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Darum geht es nicht; es geht nicht um die Benennung. Es geht darum, die naturgegebenen Unterschiede zwischen den Menschen anzuerkennen und dann den Anspruch zurückzuweisen, dass eine Gruppe sich über die andere erhebt und sozusagen einen Unterdrückungsanspruch aus diesen Unterschieden ableitet. Das wäre ein vernünftiger Begriff von Rassismus.
Stimmen Sie dem zu, oder teilen Sie sozusagen die konstruktivistische, tendenziell linksradikale Meinung,
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dass es so was wie naturgegebene Unterschiede gar nicht gibt, dass das alles nur unsere gesellschaftliche Konstruktion sei?
Ich bin erst mal aus dem Grund dankbar für die Frage, dass ich jetzt das Thema noch breiter aufgreifen kann,
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obwohl Sie gerade selbst den Beweis geführt haben, dass Sie rassistischem Denken anhängen, wie Sie es gerade deutlich gemacht haben. Gleichwohl nutze ich die Gelegenheit zu einer Einführung, ohne Hoffnung auf Verständnis und Empathie bei Ihnen.
Jawohl, jeder mit einigermaßen Verstand sollte heutzutage, im Jahre 2020, begriffen haben, dass Rassen ein soziales Konstrukt darstellen. Man nennt das den „Prozess der Rassifizierung“. Nicht Rassen konstituieren Rassismus, sondern Rassismus konstituiert Rassen, was Sie ja in Ihrem Antrag und Ihren Ausführungen gerade bestmöglich demonstriert haben,
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was Sie mit Ihren Ausführungen, mit Ihrer Stimmungsmache, mit Ihrem siebenseitigen Sichabarbeiten am IKG, an dem Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, am Begriff „Rassismus ohne Rassen“ beweisen. Sie haben es ja noch weiter bewiesen: Sie haben eben fünf Kategorien aufgeführt, mit denen Sie genau zeigen wollten, dass es angeblich doch biologisch motivierte Rassen gebe.
Noch etwas. Ich höre Ihnen immer gut zu. Das ist Ihr Problem; denn Sie hören mir nicht genau zu, aber Sie sollten das. Sie zitierten am Anfang sinngemäß Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“, und haben das bewusst gesetzt.
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Auch das ist letztlich ein biologistisch-rassistisches Modell, in dessen Tradition Sie sich stellen.
Sie haben im Übrigen – erlauben Sie mir diese Zwischenbemerkung – so lange Ausführungen gemacht, dass es für Ihre Fans schwierig sein wird, das zu schneiden. Aber das ist nur eine Randbemerkung, und das war wahrscheinlich auch in der Sprachform etwas abgehoben.
Nichtsdestotrotz haben Sie selbst eben in Ihren Ausführungen, in Ihrer Rede noch einen weiteren Beleg geliefert, indem Sie – das machen Sie übrigens regelmäßig – darauf hinwiesen, dass der französisch-jüdische Philosoph Finkielkraut das und das sage. Wozu erwähnen Sie da „jüdisch“? Sie weisen in Ihren ganzen Ausführungen auch extra darauf hin, dass Jüdinnen und Juden durch Migrantinnen und Migranten besonders gefährdet würden.
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Das ist ein zutiefst rassistischer Ansatz, weil Sie auf diese billige Weise den Antisemitismus zu instrumentalisieren versuchen
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und Jüdinnen und Juden gegen Menschen, die aus anderen Gründen rassistisch verfolgt werden, in Stellung zu bringen versuchen.
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Herr Kollege.
Aber auf diese Masche fällt niemand herein, der mit Verstand ausgestattet ist.
Herr Kollege, ist das noch Teil Ihrer Antwort, oder ist das schon Ihre fortführende Rede?
Das war noch Antwort.
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Ich bitte darum, dass niemand mehr den Kollegen Lindh fragt, weil er jetzt vier Minuten auf eine Frage geantwortet hat.
Aber es gilt das Äquivalenzprinzip, und diese Frage oder Scheinfrage war auch vier Minuten lang.
Ich komme aber jetzt zurück zu meinem eigentlichen Thema. Ich hatte nicht nur auf die AfD bewusst verwiesen, sondern auch auf den Fall Nuhr, weil man aus diesem Fall sehr viel lernen kann. Da hat sich der Kabarettist über den Titel „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ des Buches von Alice Hasters aufgeregt. Er nannte ihn „reißerisch“ und „rassistisch“. In seinen weiter gehenden Erläuterungen betont er auch noch, dass er keineswegs Rassist sei; er tat das sehr leidend, selbstmitleidig und larmoyant und kritisierte übrigens, wie Sie auch, den Begriff eines „strukturellen Rassismus“. Wie muss sich eine solche Ausführung, eine solche Darlegung in den Ohren eines Menschen anhören, der erlebt, was es bedeutet, als Schwarzer hier aufzuwachsen? Wie fühlt es sich an für eine Frau mit Hidschab, die tagtäglich erlebt, dass man sie nach ihren Deutschkenntnissen fragt und ob sie selbstbestimmt lebe? Wie fühlt es sich für einen Marokkaner an, der permanent Kontrollen und rassistische Blicke erlebt?
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, worum geht es hier eigentlich? Menschen, die rassistisch verfolgt werden, müssen sich tagtäglich erklären, beweisen, mehr Leistung bringen, rechtfertigen. Und wenn sie es dann einmal wagen, wütend zu sein und zu widersprechen und Rassismus kenntlich zu machen, passiert dasselbe wieder: Sie müssen sich dafür rechtfertigen, erklären, beweisen. Dann kommt noch ein Nuhr oder die Nuhrs dieser Welt – das sind ganz viele; ich schließe mich ein – mehr oder weniger jeden Tag und sagen: Wie könnt ihr uns „rassistisch“ nennen? Dafür müssen sie sich dann auch noch entschuldigen.
All die Maßnahmen, die wir jetzt planen, ein Demokratiefördergesetz, eine Rassismusbeauftragte, ein Ministerium – so hoffe ich –, das sich um Diversität, Gleichstellung kümmern wird, und flächendeckende Meldestellen für Diskriminierungserfahrungen machen doch nur Sinn vor dem Hintergrund folgender Erkenntnis: Beim Kampf gegen Rassismus geht es doch verdammt noch mal nicht um die Befindlichkeiten und Bedürfnisse und Empfindlichkeiten von weißen Menschen. Begreifen Sie das nicht? Es geht um die Erfahrungen, die Befindlichkeiten und die Bedürfnisse der Opfer von Rassismus, der schwarzen Menschen, der Musliminnen und Muslime, der Roma und Romnija. Sie gehören in den Mittelpunkt!
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Wir brauchen keine AfD. Aber wir brauchen ein Bekenntnis zur Diversität: nicht als Gutmenschenaktion, nicht als Utopie oder Hoffnung, sondern als Anerkennung der Realität einer diversen Gesellschaft.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh, Sie hatten heute die absolut längste Redezeit.
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Nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Wir werden als Fraktion der CDU/CSU dem Gesetzentwurf der Grünenfraktion zur Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes nicht zustimmen. Das sage ich gleich einmal vorab, und damit wäre meine Redezeit eigentlich schon fast zu Ende, Herr Präsident.
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Aber ich will noch sagen, warum: weil wir uns im Ministerium in einem laufenden Besetzungsverfahren befinden, es sind Konkurrentenklagen anhängig; das ist alles nicht ausgestanden. Es ist in die nächste Instanz gegangen, und in einer solchen Situation kann man nicht grundsätzlich die Pferde wechseln. Das ist unsere Auffassung, und deswegen lehnen wir das erst einmal ab.
Gleichwohl sind auch wir der Überzeugung, dass es sich lohnt, über die Novellierung dieses Gesetzes nachzudenken, und das wollen wir mit Ihnen gemeinsam auch tun. Denn jedem, der mit offenen Augen und offenem Herzen durchs dieses Land geht, wird klar: Wir haben Diskriminierung rauf und runter, wir haben latente Diskriminierung, offensichtliche Diskriminierung, wir haben sie in struktureller Form und in persönlicher Form.
Wir müssen auch darüber nachdenken – lassen Sie mich ganz kurz darauf hinweisen; mir ist eine Minute Redezeit weggenommen worden –: Woher kommt denn eigentlich Diskriminierung? Woher kommt Rassismus? Es kommt daher, weil die meisten Menschen, Gruppen, Institutionen, Nationen eine wackelige Identität haben, weil sie glauben, sie müssen besser sein als die anderen, weil sie ihre Identität – das gilt auch zwischenmenschlich – immer dadurch definieren, dass sie dem anderen überlegen sein müssen und der andere ein bisschen weniger wert ist.
Ich wünsche mir – das ist ein Bekenntnis; ich fürchte überhaupt nicht um meine Identität, denn das ist meine Identität –, dass ich in eine Welt hineinwachse, in der der Tatsache, dass die Welt sich wandelt, Rechnung getragen wird, dass wir neue moralische Prinzipien von Zusammenleben aufstellen, die wir dann nach und nach auch in Gesetze überführen. So war das immer, und da sind wir auf einem guten Weg. Wir wollen den Menschen, die Angst um die Zukunft haben, weil sie nicht mehr tolle Deutsche sind, zuhören. Ich fühle mich wirklich als Deutscher, und ich freue mich, dass wir dieses Grundgesetz haben und dass wir mit diesem Grundgesetz tatsächlich an einer neuen Welt mitbauen, dass meine Enkel nicht mehr im Krieg leben müssen, weil sie sich besser fühlen als die anderen oder schlechter fühlen als die anderen.
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Wir sind auf dem richtigen Weg; wir haben noch viel vor. Lassen Sie es uns anpacken! Der Diskriminierungsbeauftragte darf kein Feigenblatt sein; es darf nicht so sein, dass wir diese Institution schaffen, mit ein paar Mitarbeitern und ein bisschen Geld ausstatten und dann sagen: Jetzt haben wir es gepackt. – Nein. Antidiskriminierung ist die Aufgabe von jedem in unserer Gesellschaft, angefangen bei uns selbst; mein Vorredner hat es gesagt: Wir müssen selber darauf achten. Wir sind oft diskriminierend, weil wir auch immer im Konkurrenzkampf stehen und entsprechend denken und fühlen. Das haben wir nicht nötig. Wir können kooperieren, wir können eine ganz neue Gemeinschaft von Menschen mithelfen aufzubauen. Ich werde es nicht mehr erleben; aber es geht voran.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege. Sie hätten offensichtlich die Minute, die nicht ich Ihnen weggenommen habe, sondern die Staatsministerin, gar nicht gebraucht; denn Sie hatten jetzt noch eine Minute Redezeit. Insofern, herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die traditionellen Minderheiten waren bisher das am besten bewahrte Geheimnis Europas. Die MSPI hat dieses Geheimnis gelüftet. Sie sind in Europa angekommen.
Das ist ein Zitat von Hans Heinrich Hansen, Ehrenpräsident der FUEN und einer der Initiatoren der MSPI.
Die europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack“ sammelte innerhalb eines Jahres 1,1 Millionen Unterschriften und ist aus Sicht der Antragstellerinnen und Antragsteller sicher die erfolgreichste Initiative der autochthonen nationalen Minderheiten in den letzten Jahren – eine großartige organisatorische Leistung!
Ich lebe in einer Region in Schleswig-Holstein, in der Minderheiten und Mehrheiten harmonisch zusammenleben. Wir sprechen unsere Sprache, meine Kinder sprechen die Sprache der dänischen Minderheit. Wir leben unsere Traditionen und Kulturen; die Minderheiten diesseits und jenseits der Grenze tun das ebenfalls. FUEN hat mit ihren vielfältigen Initiativen die Minderheiten sichtbar gemacht. Diese Vielfalt macht die Region lebens- und liebenswert. Der Verlauf der deutsch-dänischen Grenze hat sich über die Jahre mehrmals verändert, aber die Menschen nicht. 100 Jahre friedliches Zusammenleben ist das Motto im Jahre 2020.
Ich habe bereits im schleswig-holsteinischen Landtag diese Initiative, deren Ziel ein verstärkter Minderheitenschutz in Europa ist, von Anfang an unterstützt. Drei von vier nach dem Rahmenübereinkommen des Europarates geschützte Minderheiten in Deutschland – die Dänen, die Friesen und die Sinti und Roma – leben in Schleswig-Holstein. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Wir haben die Minderheiten unter den Schutz unserer Landesverfassung gestellt, und ihr Schutz und ihre Förderung ist fraktionsübergreifend Konsens in unserem Bundesland.
Die Minderheiten sind Brückenbauer. Sie leisten einen wichtigen Beitrag für gegenseitiges Verständnis und den Frieden in Europa. Sie können jedoch nur dann Brückenbauer sein, wenn ihre Rechte anerkannt und durchgesetzt werden und ihr Schutz und ihre Förderung in den einzelnen Staaten gewährleistet wird. Leider ist die Situation von vielen Minderheiten in europäischen Staaten bis heute eine andere.
Förderung und Schutz von Minderheiten sind keine Selbstverständlichkeit. Das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten sowie die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen sind die wirksamsten völkerrechtlichen Abkommen zur Regelung der Belange der nationalen Minderheiten in Europa. Sie sind im Rahmen des Europarates entstanden, jedoch nicht von allen Mitgliedstaaten, auch nicht denen der Europäischen Union, gezeichnet und ratifiziert worden.
Es ist daher notwendig, dass sich der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung für eine erstmalige umfassende Verankerung von Rechten zum Schutz und zur Stärkung der nationalen Minderheiten auf Ebene der Europäischen Union einsetzen. Der Einfluss der Minderheiten muss weiter gestärkt werden, zumal es in der EU gegenläufige Tendenzen dazu gibt. Dazu brauchen die Minderheiten ein unverwechselbares Gesicht, ein Zentrum, eine starke Vertretung, die auch für Brüssel sichtbar und schlagkräftig die Interessen der Minderheiten vertritt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass sich die Europäische Kommission, das Europäische Parlament wie auch der Rat der Europäischen Union auf institutioneller Ebene mit dem Schutz von Minderheiten befassen und Rechte zum Schutz der nationalen Minderheiten im Rechtsrahmen der Europäischen Union verankern.
Ich bitte um Unterstützung und danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa ist historisch gewachsen und kein Kontinent aus der Retorte von Sozialingenieuren. Es gibt 50 Millionen Angehörige nationaler Minderheiten, 24 Amtssprachen und 60 Regional- und Minderheitensprachen. Das ist auch der große Unterschied zwischen Europa und den USA. Margaret Thatcher hat gesagt, Europa wurde durch die Geschichte geschaffen und die USA durch die Philosophie. Wie wahr!
Europa braucht keine Vielfalt durch Einwanderung und Multikulti-Ideologie. Europa ist Vielfalt. Diese Vielfalt wollen wir erhalten.
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Gerade die traditionellen nationalen Minderheiten sind ein Gegengewicht gegen die Gleichmacherei der Globalisten. Die Debatte über die traditionellen nationalen Minderheiten ist eine sehr wichtige, nicht nur die konkreten einzelnen Punkte zu ihrem Schutz, sondern auch ihre grundsätzlichen Botschaften.
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Erstens. Die Anträge von Union, SPD und Grünen fordern, autochthone nationale Minderheiten und Volksgruppen zu fördern, die auf Herkunft, Sprache und Kultur beruhen – und eben nicht auf dem Pass. Damit bekennen Sie sich dazu, dass es nationale kulturelle Identität gibt, und das jenseits der Staatsbürgerschaft, und dass Sie das positiv sehen. Das war schon immer die Sichtweise der AfD. Ich freue mich, dass Union, SPD und sogar die Grünen sich jetzt mit ihren Anträgen unserer Auffassung anschließen.
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Zweitens. Wenn wir feststellen, dass Volksgruppen und nationale Minderheiten eine kulturelle Identität besitzen, die bewahrt werden soll, dann gilt das auch für nationale Mehrheiten. Sie können nicht behaupten, nationale Minderheiten wie die Sorben, Friesen und Dänen hätten eine kulturelle Identität, und gleichzeitig erklären, die nationale Mehrheit in Deutschland hätte das nicht, so wie Frau Özoğuz das gesagt hat. Das verstößt gegen die Gesetze der Denklogik. Beides, die kulturelle Identität nationaler Minderheiten und die kulturelle Identität nationaler Mehrheit, ist wertvoll. Beides muss bewahrt, beides muss geschützt werden.
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Drittens. Die Debatte straft auch das Bundesamt für Verfassungsschutz Lügen. Es sagt, es sei verfassungsfeindlich, von einer nationalen kulturellen Identität jenseits des Passes zu sprechen. Das sei, so der linke Kampfbegriff, völkisch. Wenn es völkisch und verfassungswidrig ist, von nationalen Identitäten jenseits der Staatsbürgerschaft auszugehen, dann wäre der Antrag von Union, SPD und Grünen auf gezielte Förderung der nationalen autochthonen Minderheiten und Volksgruppen völkisch und verfassungsfeindlich, was er nicht ist.
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Das Ziel, kulturelle Identität zu bewahren, ist aber eben keine verfassungsfeindliche völkische Ideologie. Es ist die Anerkennung gewachsener historischer Strukturen, oder, wie der Soziologe Émile Durkheim sagen würde, es handelt sich um soziale Tatsachen. Es ist eine infame Unterstellung, zu behaupten, wer die nationale Identität der Deutschen bewahren will, will Minderheiten ausgrenzen oder ihnen gar ihre staatsbürgerlichen Rechte nehmen. Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Und wir wollen die Kultur der autochthonen nationalen Minderheiten ausdrücklich schützen. Darum stimmen wir dem vorliegenden Antrag der Union und SPD zu, weil er unserer Überzeugung entspricht, und die heißt: Wir wollen ein Europa kultureller Vielfalt, kein sozialistisches Einheitseuropa und ganz gewiss keine „One World“.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Als nächste Rednerin hören wir die Kollegin Sylvia Lehmann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich habe meine Rede ganz bewusst als Fachvortrag vorbereitet, eigens und extra für die AfD. Ich hoffe, dass insbesondere Frau von Storch jetzt gut zuhört.
Ich beginne aber mit einem Zitat:
Sage mir, wie die Minderheiten in deinem Land behandelt werden, und ich werde Dir sagen können, in was für einem Staat du lebst.
Das ist ein Zitat des ehemaligen dänischen Parlamentspräsidenten Ivar Hansen.
In der Europäischen Union leben über 50 Millionen Angehörige nationaler Minderheiten. Jeder achte EU-Bürger gehört entweder einer Minderheit an oder spricht eine Minderheitensprache. Neben 24 Amtssprachen gibt es rund 60 Regional- und Minderheitensprachen. Der Europarat mit 47 europäischen und benachbarten Staaten spricht von 230 indigenen Sprachen und Sprachgruppen. Da laut UNESCO die Hälfte der über 6 000 Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht ist, kommt dem Erhalt von Vielfalt eine besondere Bedeutung zu.
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Die Wahrung und die Förderung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, ein wirksamer Schutz der Rechte nationaler Minderheiten sowie ihre gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe sind leider auch innerhalb der Europäischen Union nicht selbstverständlich, obwohl die Wahrung der Rechte der Angehörigen von Minderheiten in Artikel 2 als Grundwert der europäischen Verfassung definiert ist, obwohl Artikel 3 die EU zum Schutz und zur Entwicklung des kulturellen Erbes sowie zur Wahrung ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt verpflichtet, obwohl der Europäische Gerichtshof nach einer Klage entschied, dass Vielfalt sowohl die Vielfalt zwischen als auch die Vielfalt innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten beinhaltet. Daraus folgt: Die Europäische Union darf und muss bei Minderheitenfragen tätig werden, natürlich ohne in die Kompetenz ihrer Mitgliedstaaten einzugreifen.
Die FUEN – sie ist heute bei uns; ich darf sie herzlich begrüßen –, also die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, als hauptverantwortliche Dachorganisation der autochthonen Minderheiten schreibt mit der Minority-SafePack-Initiative inzwischen Erfolgsgeschichte. Die MSPI ist die fünfte europäische Bürgerinitiative überhaupt. Sie hat somit immer noch Pioniercharakter und schon bei der Registrierung hohe Anforderungen erfüllt. Der FUEN ist es zudem gelungen, in kürzester Zeit über 1 Million Unterschriften zu sammeln. Nach Beschlüssen der Landesparlamente in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg beschäftigen sich – wir erleben es heute – der Bundestag und später dann das Europäische Parlament mit ihr.
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Was ist nun die Minority-SafePack-Initiative? Sie fordert die Förderung und den Schutz der nationalen Minderheiten auf europäischer Ebene und schlägt hierfür ein Maßnahmenpaket vor. Darin geht es unter anderem um kulturellen und sprachlichen Schutz inklusive Förderung, um Gleichstellung von staatenlosen nationalen Minderheiten wie der Sinti und Roma – sie bilden mit 12 Millionen bis 14 Millionen Menschen die größte Gruppe der autochthonen Minderheiten –, aber es geht auch um die Entwicklung eines europäischen Sprachenzentrums und die Entwicklung von Förderprogrammen für kleine Sprachgemeinschaften sowie um die Einbindung von Minderheiten in den europäischen Regionalentwicklungsfonds.
Seit die MSPI mit überwiegend positivem Feedback vor dem EU-Parlament und der Kommission präsentiert wurde, tickt, liebe Kolleginnen und Kollegen, im wahrsten Sinne des Wortes die Uhr; denn bei europäischen Bürgerinitiativen beginnt mit der Präsentation eine Dreimonatsfrist. Die EU-Kommission hat nun bis zum 15. Januar nächsten Jahres die Möglichkeit, zu reagieren – oder die Initiative verstreicht. Just in diesem Moment bereiten unsere Kollegen in Analogie zu diesem Antrag eine fraktionsübergreifende Resolution des Europäischen Parlaments vor. Sie wird Mitte Dezember diskutiert und aller Voraussicht nach beschlossen, um ein eindeutiges Signal an die Kommission zu senden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heute Vorreiter sein. Stimmen Sie diesem Antrag zu! Denn wir sind verpflichtet, prekäre Lebenssituationen zu verbessern. Wir sind auch verpflichtet, Doppelstandards endlich abzuschaffen und das hohe Niveau zum Schutz von Minderheiten nicht nur von den Staaten zu fordern, die der EU beitreten wollen, sondern auch von jenen, die bereits Mitglied sind.
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Es ist höchste Eisenbahn, dass Staaten wie Frankreich, Belgien oder Griechenland die Sprachen- und Minderheitencharta des Europarates endlich ratifizieren; denn die Umsetzung der MSPI kann auch Nachzügler zu solch überfälligen Schritten motivieren. Und bitte tun Sie es mir gleich: Fordern Sie die Europaabgeordneten Ihrer Fraktionen auf, der geplanten EU-Resolution zuzustimmen!
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Alle Beteiligten wissen, wie hürdenreich der Weg bis hierher gewesen ist. Deshalb Dank an Petra Nicolaisen und Astrid Damerow von der CDU/CSU und an die Opposition für die regelmäßigen Kleinen Anfragen. Ich danke Herrn Bundesbeauftragten a. D. Hartmut Koschyk für die vorbehaltlose Unterstützung. Ich danke auch den Minderheitenverbänden wie der Domowina, dem Bund Lausitzer Sorben und vor allem der FUEN für die gute Zusammenarbeit.
Ich habe meine Rede mit einem Zitat begonnen, und ich möchte sie mit einem Zitat des Wissenschaftlers Martin Henry Fischer beenden: „Minderheiten sind die Sterne des Firmaments; Mehrheiten sind das Dunkel, in dem sie fließen.“
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen doch noch mal darauf hinweisen: Selbst ein Handy am Ohr befreit nicht von der Pflicht zum Tragen der Maske. Es ist mir schon wieder aufgefallen, dass zwei Kolleginnen und Kollegen den Saal mit einem Handy am Ohr verlassen haben, ohne die Maske zu tragen. Ich werde durchgreifen – in allem Ernst.
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– Am Platz können Sie machen, was Sie wollen, Frau von Storch;
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essen und trinken im Plenarsaal eigentlich auch nicht; aber das ist wahrscheinlich nicht ordnungsruffähig. Mit dem Tragen der Masken meinen wir es aber wirklich ernst.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sandra Bubendorfer-Licht, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unie dans la diversité, unita nella diversità, united in diversity, in Vielfalt geeint – derselbe Satz in 4 von 24 verschiedenen Sprachen, die in der Europäischen Union als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt sind. Die sprachliche Vielfalt ist aber um ein Vielfaches größer.
Es wird geschätzt, dass es rund 400 Minderheiten, Volksgruppen und Nationalitäten auf unserem Kontinent gibt. Jede siebte Person gehört einer Minderheit an, ob bewusst oder unbewusst. Diese Minderheiten haben alle ihre Besonderheiten, ihre Einzigartigkeit und sind vor allem eine besondere Bereicherung der Vielfalt.
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Mit dem Minority SafePack soll diese kulturelle, historische und sprachliche Diversität erhalten, gefördert und gestärkt werden. Das ist gerade deshalb wichtig, da Minderheit in der Realität leider nicht immer gleich Minderheit ist. Es gibt erhebliche Unterschiede im Umgang, in der Unterstützung und leider manchmal auch in der gesellschaftlichen Akzeptanz.
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Während die Sorben bereits einen Regierungschef in Sachsen stellten und die Dänen eine eigene Partei mit besonderen Privilegien in Schleswig-Holstein haben, arbeiten die Friesen hart daran, ihre Kultur zu retten, und bei Sinti und Roma kämpfen wir noch heute um mehr Akzeptanz und vor allem Verständnis.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Alle diese anerkannten Minderheiten in der gesamten EU haben ihre Herausforderungen, aber der jeweilige Umgang mit ihnen ist dennoch zum Teil sehr unterschiedlich. Hier gibt es noch großen Handlungsbedarf. Es geht um Sprache, um Traditionen, um Wissen, um Sagen, um Mythen, um Essen, um Gesellschaft, Kultur, Geschichte und vieles, vieles mehr; denn genau diese Diversität trägt einen starken Beitrag zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt Europas bei.
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Alle Europäer sollen die Möglichkeit bekommen, zu definieren, wohin die Zukunft Europas geht – eine Zukunft, in der nicht nur große Sprachen dominieren, sondern auch den Bedürfnissen von Minderheiten Rechnung getragen wird. Damit bleibt die kulturelle Identität bewahrt. Erst wenn etwas nicht mehr da ist, stellen wir schmerzlich fest, wie sehr es fehlt.
Der Minority SafePack ist zur wichtigsten von Minderheiten vorangetriebenen Initiative in Europa geworden. Über 1,2 Millionen Bürger haben diese Initiative aktiv unterstützt. Wir als FDP-Bundestagsfraktion unterstützen den Minority SafePack und werden daher selbstverständlich auch zustimmen.
Wir brauchen ein positives Signal nach Brüssel; denn gerade bei der sprachlichen Vielfalt ist vieles in Gefahr. Zum Überleben einer Sprache braucht es mindestens 300 000 aktive Sprecher. In Europa haben wir mittlerweile eine sehr kritische Grenze erreicht: 80 Prozent der europäischen Regional- und Minderheitensprachen sind gefährdet. Lassen wir das nicht zu! Bleiben wir in Vielfalt geeint!
Herzlichen Dank.
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Weil Sie so schön bayerisch geredet haben, habe ich gerade die Überschreitung der Redezeit zugelassen.
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Das ist in meinen Ohren auch eine Minderheitensprache; ich komme ja aus dem Norden.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Die Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Beschützerin der Minderheiten.“ Das sagte der Schriftsteller Albert Camus, und er hat recht, finde ich. Dem wird die Demokratie in der EU aber noch nicht gerecht. Das zeigt die Bürgerinitiative „Minority SafePack – eine Million Unterschriften für die Vielfalt Europas“. Wir haben es schon gehört: Mehr als 1 Million Unterschriften kamen zusammen. Ich muss sagen: Das ist ein großartiger Erfolg, und ich möchte jenen danken, die diesen Erfolg möglich gemacht und erkämpft haben.
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Fakt ist: Sprachen von Minderheiten drohen auszusterben, und das wäre ein nicht wiedergutzumachender kultureller Verlust. Es geht hier um die Sprachen von 8 Prozent der europäischen Bevölkerung, also um rund 50 Millionen Menschen, die sie sprechen. Nur mal zum Vergleich: Das entspricht in etwa der Bevölkerungszahl von Spanien. Man kann diese Minderheiten also nicht kleinreden.
Wenn die Grenzen unserer Sprache aber die Grenzen unserer Welt bedeuten, dann würden mit diesen Sprachen ganze Welten voller einzigartiger Perspektiven für immer verschwinden. Wie klein und wie arm wäre Europa dann?
Was wir brauchen – da sind wir uns fast alle einig, – ist mehr Vielfalt. Aber wir brauchen auch Akzeptanz. Wie aber soll Akzeptanz entstehen, wenn man nichts voneinander weiß, wenn also mit den Sprachen auch die Geschichte und die Geschichten verschwinden? Egal ob Sorbinnen oder Friesen, egal ob Däninnen oder Sinti und Roma: Nationale Minderheiten in Deutschland und in der ganzen EU müssen respektiert und unterstützt werden. Da darf es keine Unterschiede in der Unterstützung geben. Da darf es keine Zweiklassenminderheiten geben. Da darf es nicht mehr oder weniger Rechte geben, bessere oder schlechtere, unerwünschte oder erwünschte Minderheiten. Das darf nicht sein.
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Fakt ist – auch das wurde hier schon gesagt –: Sinti und Roma werden in Europa diskriminiert. Ihre so alte und so reiche Kultur wird weder von allen anerkannt, noch wird ihre Sprache angemessen gefördert. Sie werden ausgegrenzt, sie werden angefeindet. Es gibt unzählige erschütternde Beispiele für Hass und Hetze gegen diese Bevölkerungsgruppe. Das sind Vorurteile und althergebrachte Ressentiments. Die gleichen Gründe, die die Nazis benutzt haben, um diese Menschen zu ermorden, werden heute benutzt, um sie auszugrenzen. Das ist unsäglich.
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Das ist nicht nur falsch, es ist rassistisch. Es sind genau diese Ressentiments, die zu Antiziganismus, zu Ausgrenzung und Gewalt führen. Denn dass aus Gedanken Worte werden, haben wir hier heute wieder erlebt; dass aus Worten Taten werden, wissen wir auch. Der Anschlag mit einer brennenden Fackel auf den Wohnwagen einer Roma-Familie im baden-württembergischen Dellmensingen spricht Bände. Es gibt unzählige erschütternde Beispiele für die Folgen von Antiziganismus. Diese Menschen aber leben unter uns. Sie gehören zu uns, sie gehören zu Europa.
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Meine Fraktion schließt sich den Forderungen in den Anträgen von Koalition und Grünen an. Auch wir fordern eine schnelle Umsetzung auf EU-Ebene durch die Kommission. Es gibt noch verdammt viel zu tun. Lassen wir an dieser Stelle mal Worte zu Taten werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem Anlass entsprechend versuche ich mich mal in unseren Minderheiten- und Regionalsprachen – darin bin ich allerdings nicht gut –: Latscho dives! Dobry dźeń! Goddag!
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Ich bin froh, dass wir heute mit unseren Initiativen im Deutschen Bundestag die autochthonen Minderheiten in Deutschland und der Europäischen Union in ihrer Heterogenität würdigen. Denn Angehörige einer Minderheit verkörpern mit ihren pluralen Identitäten und Sprachen und Kulturen unsere europäische Vielfalt; das haben die Kolleginnen bereits gesagt. Auch wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, gratulieren dazu, dass Sie mit der europäischen Minority-SafePack-Initiative eine der erfolgreichsten Bürgerinnen- und Bürgerinitiativen in der Europäischen Union vorgelegt haben.
Es fehlt tatsächlich an einem wirkmächtigen, überprüfbaren und sanktionierbaren Schutzmechanismus für Minderheiten auf Ebene der Europäischen Union. Diese Lücke wollen wir schließen, und wir wollen ein kraftvolles Signal in Richtung Europäische Kommission senden, meine Damen und Herren.
Minderheitenschutz muss zum gemeinsamen Ziel aller Europäerinnen und Europäer werden; da sind wir uns einig. Es ist doch absurd, dass zur Aufnahme in die Europäische Union die Achtung und der Schutz von Minderheiten nach den Kopenhagener Kriterien von 1993 verwirklicht sein müssen, dass es aber innerhalb der Europäischen Union selbst keinen entsprechenden Schutzmechanismus für nationale Minderheiten gibt.
Das zeigt sich aktuell im Minderheitenschutz nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland. So fehlt es zum Beispiel an ausreichenden finanziellen Förderungen, an Möglichkeiten, die eigene Sprache zu sprechen und zu erlernen, und an der effektiven und gleichberechtigten Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen. Und Diskriminierung ist für viele Angehörige von Minderheiten leider noch bitterer Alltag. Das gilt es zu ändern, meine Damen und Herren.
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Als Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben wir uns immer – übrigens auch die Minderheitenorganisationen selbst – eine interfraktionelle Initiative als gemeinsames starkes Signal aus dem Deutschen Bundestag gewünscht. Dem hat sich die Union leider verweigert. Ich bin auch etwas irritiert, meine Damen und Herren, dass der Bundesbeauftragte für nationale Minderheiten nicht anwesend ist. Ich weiß nicht, ob er entschuldigt ist. Frau Lehmann hat es ja kurz erwähnt; sie hat ausdrücklich seinem Vorgänger für seine Initiative in dem Bereich gedankt. Ich hoffe, dass das auch für den aktuellen Bundesbeauftragten gelten wird. Alle wissen jetzt, was ich meine.
Trotzdem ist meiner Fraktion die breite parlamentarische Unterstützung der Minority-SafePack-Initiative wichtig. Deshalb stimmen wir auch dem Antrag der Großen Koalition zu und hoffen natürlich auch auf Zustimmung zu unserem Antrag.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Nächster Redner ist der Kollege Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle demokratischen Fraktionen in Landtagen und auch die hier im Bundestag sind sich einig, dass die Art des Umgangs eines Staates mit seinen Minderheiten ein Gradmesser für eine gelebte, vielfältige Demokratie ist. Nur wenn nationale Minderheiten toleriert, respektiert und auch gefördert werden, ist ihnen ein Leben und Überleben in einem anderen Kulturkreis möglich. Daher ist die Minderheitenpolitik ein wichtiges Instrument, um den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherzustellen.
Aus diesem Verständnis heraus hat die Union bereits 1988 – jetzt kommen wir zu Herrn Fabritius – das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten im Bereich des Bundesministeriums des Innern geschaffen. Die Berufung des erfahrenen Vertriebenenpolitikers Dr. Bernd Fabritius – so der Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 – unterstreiche, dass die „Bundesregierung in der Aussiedler- und Minderheitenpolitik eine Schwerpunktaufgabe sieht“.
Unsere Fraktion kann sich für die nächste Legislaturperiode sogar vorstellen, das Amt konzeptionell noch zu verstärken und aufzuwerten. Denn es gibt kein Land auf diesem Kontinent außer unserem, das in 27 Ländern Europas und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion deutschsprachige Minderheiten hat. Circa 1 Million Menschen sind lebendiger Teil unseres historischen Erbes, das wir gar nicht hoch genug schätzen können.
Die deutschen Minderheiten sind wertvolle Brückenbauer zwischen der Bundesrepublik und unseren Nachbarn. Ich erinnere nur an die Worte des Siebenbürgers Klaus Johannis, ehemaliger Bürgermeister von Hermannstadt, nach seiner Wahl 2014 zum Staatspräsidenten von Rumänien. Zitat:
Ich habe meine ethnische Zugehörigkeit … nie in den Hintergrund gespielt. Mein Deutschtum hat nichts mit der Bundesrepublik als Staat zu tun, sondern mit der Sprache und mit der Kultur.
Meine Damen und Herren, die Regelungen der bislang durch den Europarat geprägten Minderheitenpolitik haben sich nicht als ausreichend erwiesen. Dieses Problem greift der vorliegende Koalitionsantrag auf. Das Ringen um den muttersprachlichen Unterricht ist etwa für die deutsche Minderheit in bestimmten Ländern immer noch die größte Herausforderung.
In Rumänien leben knapp 40 000 Angehörige der deutschen Minderheit, deren Kinder mehrere Schulen besuchen können, darunter das berühmte Brukenthal-Gymnasium, wo Deutsch in allen Fächern die Unterrichtssprache ist. In Polen hingegen, wo die deutsche Minderheit mit knapp 150 000 Menschen mehr als dreimal so groß ist, gibt es keine einzige Schule mit Deutsch als Unterrichtssprache. In Slowenien wird die deutschsprachige Minderheit bis heute nicht offiziell anerkannt. Daher begrüßt unsere Fraktion sehr die Bemühungen des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz kürzlich bei seinem Besuch in Ljubljana.
Meine Damen und Herren, wir wollen den Minderheitenschutz stärken und unterstützen daher die Anliegen der europäischen Bürgerinitiative, die EU stärker in die Pflicht zu nehmen. Auch das Europäische Parlament muss sich damit befassen, dass heute über Minderheitenfragen neue Konflikte vom Zaun gebrochen werden sollen. Dies geschieht im Geiste von Abgeordneten einer Fraktion in diesem Hohen Hause. Das legen die deutschen Ermittlungen im Fall des Terroranschlags im Jahre 2018 auf das Kulturinstitut der ungarischen Minderheit in Uschgorod nahe. Die Täter sind mittlerweile zu Haftstrafen verurteilt und haben gestanden, dass das Ziel des Anschlags war, die Ukraine zu destabilisieren. Meine Fraktion wird nachfassen und nicht zulassen, dass sich Brandstiftung aus dem Bundestag heraus wiederholen wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Pols; genau auf die Sekunde. – Abschließende Rednerin ist die Kollegin Astrid Damerow, CDU/CSU-Fraktion und Schleswig-Holsteinerin.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste und Vertreter der FUEN! Ich freue mich außerordentlich, dass Sie hier sind. Ich freue mich außerdem – ich denke, das geht heute ganz vielen so –, dass wir über die Minority-SafePack-Initiative im Deutschen Bundestag diskutieren. Ich bedanke mich für die Initiative bei den Kolleginnen Frau Lehmann und Frau Nicolaisen. Ich freue mich auch deshalb, weil wir schon 2013 im schleswig-holsteinischen Landtag – damals war ich europapolitische und minderheitenpolitische Sprecherin – über diese Initiative diskutiert haben. In Schleswig-Holstein haben wir über alle Fraktionsgrenzen hinweg aktiv Stimmen gesammelt und auch mitunterzeichnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa steht für Vielfalt auch durch seine Minderheiten. Diese Vielfalt erlebe ich wie auch die Kollegin Nicolaisen täglich in meinem Wahlkreis. In Nordfriesland und Dithmarschen Nord leben Friesen, Dänen sowie Sinti und Roma. Allein in dieser kleinen Region leben drei der vier anerkannten nationalen Volksgruppen und Minderheiten. Die insgesamt fünf Sprachen in meiner Region – zählt man Romanes dazu, sind es sogar sechs –, die Geschichte und die Kultur bereichern unsere Gesellschaft. Hinzu kommt dann noch der enge Kontakt nach Dänemark, zur deutschen Minderheit, zu den Nordschleswigern.
Im Übrigen ist es die Volksgruppe der Friesen, die mit ihrer Dreigliedrigkeit – Nordfriesen in Schleswig-Holstein, Ostfriesen und Saterfriesen in Niedersachsen und Westfriesen in den Niederlanden – einen Beweis für die Qualität internationaler, interkultureller Zusammenarbeit und Verständigung liefern, und zwar über ganz viele Bereiche hinweg, nicht zuletzt auch in der Politik, Schwerpunkt Kommunalpolitik.
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Und selbstverständlich ist auch das sorbische Volk aus der Lausitz, in Sachsen und in Brandenburg mit seinem Staatsvertrag beispielgebend für eine bei uns, wie ich finde, durchaus gelungene Minderheitenpolitik.
Ich denke, wir können mit Stolz auf unsere Minderheitenpolitik schauen, wohl wissend, dass wir natürlich immer noch an vielen Stellen nachbessern müssen und auch nachbessern wollen. Wenn wir uns allerdings in Europa umschauen, müssen wir feststellen, dass es eben Mitgliedstaaten gibt, die entweder keine Minderheitenpolitik betreiben oder zumindest Nachholbedarf haben. Deshalb freue ich mich, dass wir dies heute diskutieren, dass wir mit unserem Antrag die Minority-SafePack-Initiative deutlich unterstützen.
Mein Dank gilt hier auch unserem Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Dr. Bernd Fabritius, für seine Unterstützung und auch für seine Arbeit. Er war bereits mehrfach bei unseren Minderheiten in Schleswig-Holstein und auch bei dem Volk der Sorben und hat sich dort sehr intensiv mit der Problematik, die vor Ort herrscht, auseinandergesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist viel dazu gesagt worden. Mit Ausnahme des Beitrages von Frau von Storch unterstütze ich dies alles auch.
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Deshalb möchte ich das hier nicht wiederholen. Ich möchte aber bei euch allen, bei Ihnen allen dafür werben: Setzen Sie sich mit der Minderheitenpolitik auseinander! Sie ist wirklich toll. Es ist ein Schatz, den wir in unserem Land haben. Dass man sich für Minderheitenpolitik einsetzen kann, ohne einer Minderheit anzugehören, sehen Sie an mir. Ich stamme aus dem Schwarzwald und bin zugezogen in Schleswig-Holstein. Aber ich kämpfe für meine Minderheiten, –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
– und meine Minderheiten haben mich stets freundlich aufgenommen. Dafür danke ich auch. In diesem Sinne: Lassen Sie uns weiterhin gute Minderheitenpolitik für unser Land machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow.
Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man das beste Deutschland aller Zeiten sehen will, dann genügt momentan ein Blick in die deutschen Innenstädte. Schwindende Attraktivität, zunehmende Verödung und oftmals auch ein latentes Gefühl der Unsicherheit, das ist es, was unsere Innenstädte mittlerweile ausmacht. Diese Situation ist nicht neu. Innenstädte sind vor allem Handelsplätze und Orte der Begegnung. Durch die Konkurrenz riesiger Einkaufszentren auf der grünen Wiese und den zunehmenden Onlinehandel verloren sie in den vergangenen Jahren beides: Kunden und Kaufkraft.
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Genau in dieser Situation gewinnen Internetkonzerne mit freundlicher Unterstützung der Kartellparteien immer mehr an Bedeutung, während die Läden in der Nachbarschaft vor die Hunde gehen. Und die freundliche Verkäuferin aus dem Buchladen darf demnächst bei Amazon Paletten hin- und herschieben.
Die Bundesregierung fördert also den unfairen Wettbewerb zulasten der Kleinunternehmer und Mittelständler. Da hilft es auch nicht, die sogenannte transformative Kraft der Städte zu beschwören. In der heutigen Zeit haben Innenstädte drei Grundlagen: eine städtische, eine nationale und eine internationale. Die städtische Grundlage habe ich soeben beschrieben. Mit ihr befasst sich unser Antrag „Innenstädte als Heimatraum“. Er enthält Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Attraktivität. Einkaufen muss wieder zum haptischen Erlebnis werden. Im Rahmen eines Bundesförderprogramms geht es um eine ausgeglichene Mischung gewerblicher und privater Nutzung inklusive Wohnraum, ungehinderte Erreichbarkeit und ausreichende kostenfreie Parkmöglichkeiten, eine größere Vielfalt von Handelsangeboten und die Koordinierung der Stadtplanung zwischen Nachbarstädten und Kommunen.
Die als Event- und Partyszene verharmlosten Gewalttäter sind inzwischen vielerorts die neuen Herren der Innenstädte. Sie verdrängen Bewohner, Besucher und Gewerbetreibende. Deshalb legt unser Antrag Wert auf Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten.
Die nationale Grundlage ergibt sich aus dem Coronahype. Seit gestern ist das Maskentragen an belebten öffentlichen Orten Pflicht, und jedem Kunden müssen in Geschäften 10 bzw. 20 Quadratmeter Platz zur Verfügung stehen. Gleichzeitig bewegen sich Bürger zum Beispiel in Bus und Bahn auf engstem Raum. Es sind genau diese schreienden Widersprüche, die den Unsinn der Coronamaßnahmen deutlich machen, und ich sage Ihnen: Schluss damit!
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Die Innenstädte sind mit Masken- und Abstandspflicht weder ein Raum zum Verweilen noch zum Erleben und Wohlfühlen und erst recht kein Heimatraum. Aber es ist nicht das Virus, das unsere Innenstädte zerstört. Es sind die völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen des Coronakabinetts. Wie es geht, zeigt ein Blick nach Schweden: kein Zwang, kein Denunziantentum, kein Polizeistaat, stattdessen entspannte Atmosphäre, vertrautes Miteinander, prosperierende Innenstädte.
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Wie man sieht, kann es doch so einfach sein. Weshalb dann die überzogenen Maßnahmen in Deutschland? Dazu äußerte sich die Bundeskanzlerin schon im Februar dieses Jahres in Davos. Zitat:
Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen …
Wer diese Politik für kopflos hält, der irrt. Sie ist geplant und wird gegen jeden Widerstand durchgesetzt, inzwischen mit Wasserwerfern, gewaltbereiten Polizisten, durch rechtswidrige Festnahmen unbescholtener Bürger, darunter sogar eines Abgeordneten meiner Fraktion.
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Warum nur setzt die Bundesregierung auf Verunsicherung und Panik?
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– Hören Sie ruhig zu.
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Selbst die Kanzlerin, ihr Kabinett und die Ministerpräsidenten der Länder müssen doch erkennen, was ihr Handeln bewirkt: fundamentale Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, Zerstörung unserer wirtschaftlichen und mentalen Lebensgrundlagen, Hass und Hetze gegen Andersdenkende und schließlich komplette Überwachung der Menschen. Wird das RKI etwa zur Stasizentrale?
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– Schön, Sie haben es gemerkt.
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Die internationale Grundlage ist der große Neustart. Wenn der gelingen soll, müssen vertraute Werte wie Familie, Nation, Bargeld und Eigentum ganz offensichtlich abgeschafft werden. The Great Reset ist eine real existierende Theorie. Das gleichnamige Buch des Herrn Schwab vom Weltwirtschaftsforum ist bereits auf dem Markt. Es geht nicht mehr um die Innenstädte; es geht um unser ganzes Land.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme jetzt zum Schluss. – Die AfD ist in der Herzkammer der Demokratie die Stimme der Vernunft. Die Menschen da draußen bitte ich: Lassen Sie sich keine Angst machen! Wehren Sie sich, und gehen Sie auf die Straße!
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Das Wort hat der Kollege Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Beste, was Sie gesagt haben, Herr Magnitz, war: „Ich komme ... zum Schluss.“
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Ganz ehrlich: Sie mussten über das Thema Corona reden, weil Ihr Antrag zum Thema Innenstädte nichts hergibt. Sie vermischen dort die Zuständigkeiten in unserem föderalen System. Sie vermischen die Verantwortung der Länder und die Planungshoheit der Kommunen. Das Interessante ist: Sie ignorieren auch das Eigentum der Menschen. Bei einer Innenortsentwicklung haben Sie sowohl die Kommunen als auch die Eigentümer als auch die Investoren an Bord. Das scheinen Sie in Ihrem Antrag komplett zu vergessen.
Das Schöne ist: Sie sprechen von Ordnung und von Innenpolitik. Sie sagen, Sie wollen Ordnung und Sicherheit haben. Was den Föderalismus angeht: Sie sind wahrscheinlich genauso lange im Bundestag wie ich und müssten daher eigentlich erkannt haben, wofür die Länder, wofür der Bund und wofür die Kommunen zuständig sind. Wenn Sie von Ordnung und innerer Sicherheit reden, dann reden Sie also von Länderverantwortung.
Zurück zum Antrag. Ich will gar nicht so sehr darauf eingehen, weil wir einiges, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, längst umsetzen und auch schon auf den Weg gebracht haben, und zwar zusammen mit unserem Koalitionspartner, der SPD. Die Städtebauförderung ist die zentrale Säule der Städtebauentwicklungspolitik des Bundes, und das schon seit fast 50 Jahren; nächstes Jahr werden es 50 Jahre sein. Deshalb stellen wir dort 1 Milliarde Euro für 2021 zur Verfügung. Davon gehen 110 Millionen Euro an den Investitionspakt Sportstätten und 790 Millionen Euro in die Städtebauförderung.
Der Unterschied zwischen unseren Städtebauprogrammen und denen, von denen Sie in Ihrem Antrag schreiben, ist, dass wir sowohl den demografischen Wandel als auch die gesellschaftliche Veränderung als auch den Klimawandel in unsere Programme aufnehmen und damit sozusagen auch die Querschnittsaufgabe mit abdecken.
Was wollen wir? Wir wollen lebendige, liebenswerte Orte mit einer attraktiven Innenstadt haben. Dafür haben wir verschiedene Maßnahmen. Wir wissen aber auch, dass die Kommunen aufgrund der Coronapandemie in eine gewisse finanzielle Herausforderung reinlaufen. Daher haben wir zusätzlich zur Städtebauförderung, die als Standard enthalten ist, auch kommunale Konjunkturpakete auf den Weg gebracht. Das heißt, es gibt zusätzlich zu der Städtebauförderung, um den Kommunen Luft zu geben und um sie entsprechend handlungsfähig zu machen, zum Beispiel die Kompensation der Gewerbesteuereinnahmen von rund 5,9 Milliarden Euro, 75 Prozent der Übernahme der KdU, was 4 Milliarden Euro ausmacht, sowie die Unterstützung des ÖPNV von 2,5 Milliarden Euro. Das sind enorme Summen, die wir den Kommunen zur Verfügung stellen, damit sie ihren Aufgaben vor Ort gerecht werden.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, man müsse den Individualverkehr in den Orten besser gestalten. Gleichzeitig schreiben Sie weiter unten aber, die Innenstädte müssen durch den ÖPNV leichter erreichbar sein. Wie wollen Sie das machen? Sind Sie mal durch unsere Städte gefahren und haben sich angeschaut, wie die Straßen und der ÖPNV genutzt werden? Ich muss sagen: Da sind Sie etwas auf dem Holzweg.
Ich glaube, dass wir unsere Kommunen darin unterstützen müssen, sich mithilfe eines Gesamtkonzepts zukunftsfähig und klimaresilient – das haben wir gestern gehabt – aufzustellen, um in der Lage zu sein, die Lebensqualität vor Ort nachhaltig sicherzustellen.
Zum Thema Innenstadt. Das BMI ist aktiv geworden und hat einen Beirat Innenstadt eingerichtet, wo betroffene Akteure zusammenkommen. Wir sagen also nicht: „Wir machen die bessere Politik“, sondern wir fragen vor Ort Experten, die sich auskennen, um daraus entsprechende Maßnahmen abzuleiten und die Städtebauförderung entsprechend aufzustellen. Dazu sind Vertreter von Handel, Gastronomie, der Immobilienbranche und von Städte- und Gemeindeebenen eingeladen.
Sie reden auch vom Leerstand; das steht in Ihrem zweiten Antrag. Wenn Sie hergehen und Gebäude des Einzelhandels einfach umnutzen wollen, zum Beispiel in Seniorenheime, dann müssen Sie auch die Emissionen – ich weiß nicht, ob Sie davon schon gehört haben – berücksichtigen, also Lärm, Verkehr. Wenn man einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan hat und eine andere Nutzung draufsetzen will, ist es also wichtig, dass man sich Gedanken macht, wie man das gestaltet, weil es einfach unterschiedliche Interessen gibt, die abgewogen werden müssen.
Kurz und gut: Ihr Antrag ist eigentlich eine Katastrophe. Wenn man ihn sich durchliest, sieht man: Da steht nichts von Städtebauförderung, und Sie vermischen die verschiedenen Ebenen. Es ist also eigentlich schade um die Zeit, die wir heute damit verbringen müssen.
Wichtig ist, denke ich, dass wir es gemeinsam mit unseren Kommunen und mit den Ländern schaffen, unsere Städte langfristig zu gestalten; Städtebauentwicklung ist ein langfristiges Projekt. Daher müssen auch die Gelder entsprechend lange zur Verfügung gestellt werden.
Wir sind auf einem guten Weg, die Haushaltsmittel auch im nächsten Jahr wieder zu gewährleisten. Ich freue mich auch auf die Haushaltsberatungen und darüber, dass das vorangeht. Herzlichen Dank an die SPD für die gute Zusammenarbeit, was die Städtebauförderung betrifft. Wir sprechen zusätzlich auch oft über die Digitalisierung – dieses Thema wird oft aufgerufen –; Digitalisierung hilft, die Städte nachhaltig zu gestalten.
Herr Magnitz, wenn Sie schon einen Antrag stellen, dann reden Sie auch darüber, und reden Sie nicht über so viel Unsinn.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Erste, was mir einfiel, als ich mir die Anträge durchgelesen habe, war: Etikettenschwindel. Da wir von den im Gleichklang rechts Marschierenden hier drüben nichts anderes gewohnt sind, hat es mich jetzt gar nicht gewundert, dass sie staatliche Kundenumerziehungsmaßnahmen organisieren wollen. Sie sind die Ersten, die aufschreien, wenn es um Planwirtschaft und Sozialismus geht. Wenn man sich den Antrag mal anschaut und guckt, wie Sie staatlich verordnet Innenstädte organisieren wollen, dann wird einem schon schlecht; denn mehr Planwirtschaft geht eigentlich gar nicht.
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Dann lese ich weiter und finde was über Sauberkeit und innere Ordnung. Da habe ich eigentlich nur noch darauf gewartet, dass ein Fahnengebot für Häuser in der Einkaufszone kommt. Das hätte das Ganze perfekt gemacht.
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Ich war entsetzt, ehrlich gesagt. Und dass jetzt Händler langfristig angesiedelt sein müssen, damit sie überhaupt in den Genuss der Förderprogramme kommen: Na ja, egal.
Aber wie oldschool die AfD ist, zeigt sich eigentlich an einem anderen Punkt. Nun habe ich überhaupt nichts gegen Bibliotheken. Aber Einkaufszentren ersetzen wir jetzt durch Bibliotheken? Ich bin mir nicht sicher, wie lange Bibliotheken in der jetzigen Struktur noch bestehen werden; aber ob das das Konzept der Zukunft ist, das wage ich zu bezweifeln.
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Gleiches ist mir aber, ehrlich gesagt, auch bei den Grünen aufgefallen. Sie sind die Ersten, die schreien: Wenn „gesund“ oder „Kirsche“ draufsteht, dann muss auch gesund oder Kirsche drin sein. – Das kann ich nachvollziehen. Aber wer in seinen Antrag schreibt, dass für kleinere und mittlere Unternehmen der § 313 BGB geändert werden soll, der muss auch die ganze Wahrheit sagen und darf nicht Etikettenschwindel betreiben. Das gilt dann natürlich auch für die großen Filialisten und für all diejenigen, die im März/April ratzfatz ihre Mieten gesenkt haben. Das gilt dann nicht nur für kleine und mittlere Unternehmen; in einem Rechtsstaat – es sei denn, Sie wollen ihn umgestalten; dann müssen Sie das mal ehrlich sagen – gilt das Recht immer noch für alle.
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Ich glaube, § 313 BGB ist extra so global gestaltet, damit er eine Vielfältigkeit abbilden kann. Ihr Vorschlag würde kein Problem lösen. Selbst wenn Sie festschreiben: „Corona ist eine außergewöhnliche Situation; es muss reagiert werden“, wer sagt denn dann, wie viel Prozent der Miete demnächst erlassen werden können? Das ist doch viel zu individuell. Entweder gehen Vermieter und Mieter aufeinander zu und einigen sich, wie es deutschlandweit tausendfach in der Coronakrise schon geschehen ist und auch aktuell geschieht, oder sie landen vor Gericht, weil sie sich nicht einigen können, wie hoch die Miete überhaupt ist. Den Gang vor Gericht ersparen Sie dadurch keinem. Schnellere Justizprozesse, das wäre das Richtige.
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Eine Justiz, die viel zu ausgedünnt ist, kann Rechtsstaatlichkeit nicht umsetzen. Das sollten wir jetzt angehen, mehr aber nicht.
Wenn wir etwas für den Handel in den Innenstädten tun wollen, könnten wir im Bereich der Baunutzungsverordnung so einiges machen. Solange wir Städte segmentiert in Wohnen, Arbeiten, Industrie und Handel aufteilen, ist keine Stadt der Zukunft in Sicht, sondern eine Stadt der Vergangenheit.
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Wenn Innenstädte belebt sein sollen, wenn Arbeit zurück in die Städte kommen soll, brauchen wir eine Änderung. Das ist doch logisch. Auch bei den Quadratmeterzahlen können wir etwas machen; denn die Aufteilung in Groß- und Einzelhandel funktioniert überhaupt nicht mehr; dazwischen liegen so viele Schritte. Die Baunutzungsverordnung kann angepackt werden. Los geht’s! Da ist eine ganze Menge Luft nach oben.
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Wenn wir alles – Gewerbe, Arbeiten, Wohnen – zurück in die Stadt holen wollen, müssen wir sehen, dass die TA Lärm das behindert. Eine Experimentierklausel wäre hilfreich. Sie könnte uns helfen, die Innenstädte zu beleben.
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Digitalisieren Sie die Innenstädte. Tun Sie was, damit wir Waffengleichheit zwischen Online- und Offlinehandel haben. Wenn Sie digitalisieren, dann werden die Leute, die durch die Städte laufen, über Apps auf Geschäfte und Angebote aufmerksam gemacht und können beim Gang durch die Innenstadt bestellen. So retten Sie den Handel vor Ort, wenn Sie das wirklich wollen. Waffengleichheit zwischen Online- und Offlinehandel, das ist das Gebot der Stunde.
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Setzen Sie die Umsatzsteuer überall im Internet durch. Erste Schritte wurden gemacht; das reicht aber noch nicht. Nur so sichern wir den Handel in Deutschland in Zukunft. Es gibt noch eine ganze Menge, was wir selber machen können. Das wäre richtig.
Solange die B-Pläne in Deutschland acht Jahre brauchen, nutzt das schönste Gesetz, das im Bundestag beschlossen wird, nichts, weil sich der Handel vor Ort dann gar nicht so schnell ändern kann.
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Kollege Reinhold, auch wenn Sie schon vermeiden, Luft zu holen, müssen Sie jetzt trotzdem Schluss machen.
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Das wollte ich gerade. – Ich wollte noch allen einen schönen Nachmittag wünschen. Das mache ich jetzt trotzdem, in der gegebenen Ruhe: Ich wünsche allen einen schönen Nachmittag und danke für die Redezeit.
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Manchmal macht man sich hier vorne auch Sorgen.
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Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Zukunft der Innenstädte hier schon von vielen Fraktionen thematisiert worden ist, kommt jetzt auch die AfD auf das Thema zu sprechen. Ich glaube, das ist nur ein Versuch der Anbiederung bei den Frustrierten; Herr Magnitz hat das gerade bewiesen. Inhaltlich steht nichts dahinter.
Zwei interessante Antworten werden gegeben:
Erstens will die FDP
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einen stärkeren motorisierten Individualverkehr und mehr Parkplätze. – Sie haben gar nichts verstanden, wenn ich das mal so sagen darf.
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– Was habe ich gesagt?
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– Entschuldigung! Ja, das stimmt. Ich meine die AfD, klar.
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Zweitens wird die Aufhebung von Masken und Abstandspflichten gefordert. Das ist angesichts der Lage allerdings verantwortungslos. Ich sage es mal ganz deutlich: Welcher Klientel Sie imponieren wollen, das haben Sie gezeigt, als Sie sich hier als Schleuser von „Demokratiefeinden“ und Verschwörungstheoretikern betätigt haben. Das ist sehr, sehr unangemessen.
In Ihrem zweiten Antrag fordern Sie Änderungen im Baurecht. Ich denke, Sie haben gar nicht mitbekommen, dass die Novelle zum Baugesetzbuch im Kabinett bereits beschlossen ist und dass wir die erste Lesung – Kai Wegner hat mir das ausdrücklich zugesichert – am 17. Dezember hier im Deutschen Bundestag haben werden. Das ist gut.
Deswegen lautet das Fazit zu den AfD-Anträgen genauso wie das Fazit zur AfD selbst: Hinter der Zeit und eigentlich überflüssig.
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Es wurden wichtige Entscheidungen getroffen, die ich ganz kurz nennen will. Ich finde, es ist ausgesprochen gut, dass der Haushaltsausschuss unsere Anregung aufgenommen hat, 25 Millionen Euro für Konzepte zur Zukunft unserer Innenstädte aufzunehmen. Wir wollen in Reallaboren Experimentierfelder schaffen, um Arbeit, Wohnen, Handel, Digitalisierung, kurzum: Lebensqualität in den Städten zu entwickeln.
Das ist aber nicht der Beginn. Wir haben einen runden Tisch im BMWi, bei dem es darum geht, Konzepte für Innenstädte – Digitalisierung und Ähnliches – zu entwickeln. Wir haben den Beirat Innenstadt, in dem alle Akteure an einem Tisch sitzen. Auch das ist, glaube ich, eine sehr vernünftige Angelegenheit, weil es uns nicht weiterbringt, wenn Onlinehandel und stationärer Handel dauerhaft nur als Gegensatz thematisiert werden.
Wir wollen mit einer Experimentierklausel im Baugesetzbuch auch Konflikte, beispielsweise im Zusammenhang mit Lärm und Gewerbe, entschärfen, beispielsweise im Sektor der Klubkultur. Wir wollen Vorkaufsrechte stärken. Wir wollen auch Zwischenerwerbe von Kommunen ermöglichen. Kurzum: Es gibt eine ganze Reihe von Baustellen, die ganz wichtig sind.
Es gibt einen Punkt, der – das will ich ganz offen sagen – ein Ärgernis ist, nämlich die Tatsache, dass wir das Kündigungsmoratorium seinerzeit nicht verlängert haben. Das war eine Fehlentscheidung. Das war ein falsches Signal, jedenfalls empfinde ich das so.
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Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass unsere Justizministerin Christine Lambrecht jetzt mit Hochdruck an der Änderung des Gewerbemietrechts arbeitet, damit die Pandemie als regelmäßige Störung der Geschäftsgrundlage bewertet werden kann, sodass man über die Miethöhe reden kann.
Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen: Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit 790 Millionen Euro Städtebauförderung, von denen alleine 300 Millionen Euro für lebendige Innenstadtzentren zur Verfügung stehen, machen wir sehr wohl eine sehr vernünftige Stadtentwicklungspolitik. Wir helfen den Ländern, wir helfen den Kommunen. Auf diesem Weg werden wir weiterarbeiten. Anträge der AfD – ich sage es noch mal – sind dazu vollständig überflüssig.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die AfD allen Ernstes eine Debatte zum Thema Innenstädte nutzt, um gegen die Maskenpflicht zu wettern, dann zeigt das nicht nur, dass Sie vom Thema keine Ahnung haben, sondern auch, dass Sie den Ernst der Lage in den Innenstädten nicht begriffen haben.
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In Ihrem Antrag finden sich viele bürokratische Ausführungen zum Thema. Aber was in Ihren Anträgen, ehrlich gesagt, völlig fehlt, das sind die Menschen: Menschen, die wegen steigender Mieten und sinkender Einkommen um ihre Wohnungen und um ihre Geschäfte fürchten müssen. Weder in Ihren jetzigen noch Ihren vergangenen Anträgen waren Sie da aktiv. Sie haben sämtliche Anträge von uns Linken und auch den Grünen abgelehnt,
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in denen es um besseren Kündigungsschutz für Mieterinnen und Mieter ging, und auch die, die in der Coronakrise darüber hinausgingen. Sie sind gegen den sozialen Wohnungsbau, Sie sind gegen mehr Mieterrechte. Aber jetzt spielen Sie sich hier als Retter der Innenstädte auf? Das ist doch wirklich absurd.
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Das Gleiche ist es übrigens beim Thema Gewerbemietrecht. Eine soziale Deckelung von Gewerbemieten lehnen Sie ab, ein Kündigungsmoratorium, selbst in der Krise, ganz genauso. Ihre Sorge gilt alleine den Vermieterinnen und Vermietern. Schön und gut, aber ohne die Menschen, die in diesen Häusern ein Geschäft betreiben, geht es ja wohl nicht.
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Meine Damen und Herren, ich bin in Ihren Anträgen nicht nur über den „Heimatraum“ gestolpert, sondern auch über Ihre Formulierung „deutschen Einzelhandel“. Auch wenn die AfD es nicht gerne hört: Dort, wo wir noch lebendige Innenstädte haben, mit kleinen Läden und lokalem Einzelhandel, verdanken wir das nicht selten Migranteninnen und Migranten.
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Was wären denn unsere Städte ohne den türkischen Einzelhändler oder den türkischen Schneider, ohne die vietnamesische Gemüsehändlerin? Was wären sie ohne den libanesischen Döner und die italienische Weinhandlung? – Ein ganzes Stück öder.
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Um im Bild zu bleiben: Sie alle haben hier ihre Heimat gefunden, und das ist doch gut so.
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Dass bei der AfD angekommen ist, dass die Einkaufszentren auf der grünen Wiese den Einzelhandel verdrängen, das freut mich; das finde ich gut. In der Konsequenz heißt das aber eben auch, nicht vor jedem Investor den Kniefall zu machen. Durch Spekulationen und Mietsteigerungen veröden die Städte. Aber das sehen Sie nicht.
Meine Damen und Herren, diese Miniänderung im Bauplanungsrecht, mehr Citymanager, das wird wirklich dem Ernst der Lage überhaupt nicht gerecht.
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Was wir als Linke fordern, ist ein Kündigungsmoratorium für die Dauer der Pandemie.
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Wir brauchen ein soziales Gewerbemietrecht – jetzt und auch danach. Auch während der Pandemie muss die Absenkung der Mieten rechtssicher sein; das muss geschehen, damit kleine Läden die Pandemie überleben.
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Zu guter Letzt. Der Bund muss die Kommunen finanziell unterstützen, damit sie ein gestärktes Vorkaufsrecht endlich wahrnehmen können.
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Schließlich kann es nicht sein, –
Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
– dass Haushaltswarengeschäfte Steuern zahlen müssen, aber Amazon fast nicht. Damit erhalten die Onlinehändler einen weiteren Standortvorteil. Das kann nicht sein. Also lassen Sie uns die Steueroasen endlich schließen! Und: Make Amazon pay!
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Claudia Müller das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits vor drei Wochen sprachen wir zum Thema der Innenstädte hier auf Antrag meiner Fraktion. Seitdem ist wenig passiert. Die Gewerbetreibenden leiden weiterhin unter der unfairen Risikoverteilung; denn mit den Überbrückungshilfen erhalten sie ja nur einen Teil der Mietkosten erstattet, schulden aber weiterhin den vollen Mietzins – ohne die rechtlich verbindliche Möglichkeit, hier zu reduzieren. Und warum? Weil sich die Koalition an dieser Stelle uneins ist, ob eine gesetzliche Klarstellung in § 313 BGB notwendig ist. Dabei ist doch ganz klar: Es braucht eine faire Risikoverteilung zwischen den Gewerbetreibenden und den Gewerbevermieterinnen.
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Im Justizministerium hat man dies erkannt. Deswegen arbeitet man da ja daran, klarzustellen, dass Betriebsschließungen und Nutzungsbeschränkungen aufgrund von behördlichen Coronavorgaben als schwerwiegende Veränderung der die Vertragsgrundlagen bildenden Umstände im Sinne des § 313 Absatz 1 BGB anzusehen sind und damit endlich ein Anspruch auf eine Mietanpassung bestehen würde. So weit, so schön.
Leider sehen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union, das weiterhin kritisch. Ich frage mich ehrlich: Warum wollen Sie weiter Gewerbetreibende in dieser rechtlichen Unklarheit lassen? Dabei wäre das doch eine Maßnahme, die gerade Gewerbetreibenden in den Innenstädten schnell helfen könnte – und übrigens nicht nur denen, sondern auch den Immobilienfondsmanagerinnen, die sich momentan vor Schadensersatzklagen fürchten, mit denen ihre Anlegerinnen drohen können, wenn sie aufgrund dieser unklaren rechtlichen Situation möglicherweise doch in Verhandlungen über Mietsenkungen treten. Deswegen brauchen wir an dieser Stelle die rechtliche Klarstellung, um hier zu helfen.
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Es kann doch nicht Ihr Interesse sein, das an dieser Stelle zu verhindern.
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Bevor es jetzt aber heißt, wir würden hier nur Vermieterinnen-Bashing machen: Es gibt natürlich auch noch andere, es gibt natürlich diejenigen, die ihre Gewerbetreibenden unterstützt haben, die Mietanpassungen vorgenommen haben, die sich dafür interessieren, was in den Innenstädten passiert. Diesen ist an dieser Stelle Danke zu sagen; denn auch sie unterstützen eine positive Entwicklung in den Innenstädten. Deswegen wollen wir genau diese Vermieterinnen und Vermieter, diese Eigentümerinnen, an dieser Stelle auch stärken.
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Folglich fordern wir, dass auch sie das Recht haben, Darlehensverträge anzupassen, wenn sie die Immobilien entsprechend finanziert haben. Es geht darum, dass sie aufgrund eines Entgegenkommens gegenüber ihren Mieterinnen keine Probleme bekommen, ihre Darlehensverträge bedienen zu können. Sie könnten sonst in die Situation kommen, dass sie diese Immobilien möglicherweise wieder veräußern müssen, womöglich an große Fonds, was zu einer weiteren Konzentration auf dem Immobilienmarkt führen könnte. Deswegen wollen wir auch diese Vermieterinnen unterstützen.
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Ganz kurz zu den AfD-Anträgen; dazu ist schon viel gesagt worden. Sie fordern ernsthaft, Abstands- und Maskenregelungen aufzuheben. Sie fordern mehr Luftverschmutzung durch mehr Verbrennungsmotoren in den Städten. Übrigens: Die Städte, die inzwischen sehr viele autofreie Zonen haben, haben da eine sehr positive Entwicklung gemacht.
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Sie fordern also mehr Zerstörung der Umwelt, mehr Gesundheitsrisiken. Das ist Ihr Konzept für die Entwicklung der Innenstädte. Das kann nicht Ihr Ernst sein – aber wahrscheinlich doch.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kommen wir jetzt mal zur Praxis. Ja, das sogenannte Kaufhaus Innenstadt hat massive Probleme, es befindet sich in einem Strukturwandel, aber das nicht erst seit Corona. Vielmehr sind diese Probleme schon seit Jahren sichtbar und spürbar: In den Innenstädten verschwinden immer mehr inhabergeführte Geschäfte; die klassischen Einzelhändler verschwinden aus unseren Stadtbildern. Die Gründe dafür sind vielfältig: erfolglose Nachfolgesuche, steigende Gewerbemieten, verändertes Kaufverhalten der Kunden, demografischer Wandel. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
Ich erlebe das auch gerade in meiner Heimatstadt Lüneburg: Mancher Einzelhändler – und ich gehöre dazu –, der gleichzeitig auch Hausbesitzer ist, sagt sich, dass er bei einer Vermietung seiner Immobilie an eine Ladenkette mehr verdient, als wenn er seinen eigenen Laden selber weiterbetreibt. Dabei stellt sich vor allem eine zentrale Frage, auch unabhängig von Corona, nämlich: Warum kommen Kunden nicht mehr in die Innenstädte? Eines der Hauptargumente, die ich in Bürgergesprächen immer wieder höre, ist: Ich komme mit dem Auto nicht mehr in die Stadt. – Frau Müller ist jetzt weg.
Wenn ich mal meinen ländlich geprägten Wahlkreis betrachte, kann ich das auch voll nachvollziehen. Wir erwarten vom Bürger, dass er mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV in die Stadt kommt. Teilweise fahren aber kaum Busse, oder sie fahren nur in großen Zeitabständen. Seien wir doch mal ehrlich: Wer von uns würde sich in einen Bus setzen, eine knappe Stunde in die Stadt fahren, um dort, sagen wir, einen Staubsauger zu kaufen, den zurück zur Bushaltestelle bringen, von dort – nach einer entsprechenden Wartezeit – wieder eine knappe Stunde zurück nach Hause fahren? Wenn ich alternativ mit dem Auto direkt zu einem Fachgeschäft fahren oder mir die gleiche Ware im Internet nach Hause bestellen kann, sind das leider oft bessere und einfachere Möglichkeiten.
Hier sollten gerade die Grünen und Linken einmal überlegen, ob es wirklich richtig und zielführend ist, die Innenstädte komplett autofrei zu machen. Ganz klar gesagt: Nicht jeder Kunde kann oder will mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV in die Innenstadt fahren.
Ich sehe hier übrigens nicht allein die Politik in der Pflicht. Der Einzelhandel hat gerade in der Coronapandemie bewiesen, dass es durchaus möglich ist, die Ware an den und zum Kunden zu bringen. In Lüneburg beispielsweise haben sich vor allem die kleineren Läden auf dem Onlineportal shop-lueneburg.de zusammengeschlossen; hier können die Bürgerinnen und Bürger verschiedenste Produkte, von Nahrungsmitteln über Schuhe bis zu Schmuck, bestellen, und die Ware wird ihnen dann noch am selben Tag ausgeliefert. Diese Initiative gab es schon vor Corona. Aber sie ist in diesem Jahr viel stärker gewachsen; denn die Leute kaufen viel regional ein. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Trend anhalten wird und so auch nach Corona für eine Stärkung der Innenstädte sorgen wird.
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Wenn die Innenstädte weiter, oder, besser gesagt, wieder Heimatraum werden sollen, muss meiner Meinung nach ebenso dafür gesorgt werden, dass auch nach Geschäftsschluss, also nach 18 bzw. 20 Uhr, Leben in der Stadt bleibt. Die sogenannten dunklen Augen der Geschäftshäuser, also die oberen Stockwerke über den Geschäften, müssen wieder zu Wohnraum werden. Auch hier gibt es schon Initiativen auf kommunaler Ebene und eigene kommunale Förderprogramme, die hier helfen sollen. Denn die Innenstädte stehen nicht nur für Gewerbe, sondern bieten auch Wohnraum.
Gleiches gilt für die Daseinsvorsorge. Je mehr von der Daseinsvorsorge der Bürger aus den Innenstädten herausgezogen wurde, desto mehr wurde dazu beigetragen, dass auch Bürger aus der Innenstadt an den Rand gezogen sind. Landesbehörden, aber auch kommunale Einrichtungen sind in den letzten Jahrzehnten verstärkt an die Ränder der Städte gewandert, was sich im Nachgang nun rächt. Früher waren die Bürgerinnen und Bürger bei diesen Gängen in der Innenstadt und haben gleich ihre Einkäufe erledigt. Natürlich leistet auch hier die Möglichkeit der Onlineerledigung ihr Übriges – was sich mit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes sicherlich noch beschleunigen wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin ein großer Fan der Innenstädte und fahre regelmäßig mit meiner Familie – natürlich mit dem Bus, der glücklicherweise fast direkt vor meiner Haustür hält – ins Stadtzentrum. Deswegen befürworte ich alle Maßnahmen, die zur Belebung bzw. Stärkung der Innenstädte beitragen. Ich meine aber, dass nicht der Bund hier der richtige Ansprechpartner ist, sondern die Akteure, die die Gegebenheiten vor Ort kennen: der örtliche Einzelhandel und Vertreterorganisationen wie IHK oder Handwerkskammer. Die Kommunalpolitik, das Stadtmarketing, die Wirtschaftsförderung, Freizeit- und Tourismusbranche, Kultur- und Kreativwirtschaft, diese sind es, die die Lösungen erarbeiten müssen. Die Menschen müssen spüren, eingeladen zu sein, ein Teil ihrer Stadt zu sein. Identifikation ist Heimat.
Wir als Bund können helfen, ja. Wir können aber nur den ganz großen gesetzlichen Rahmen abstecken. Und vor allem müssen wir als Bund dafür sorgen, dass die Einzelhändler, Gastronomen, Tourismusbetriebe, Künstler – und, und, und – die unverschuldete Krise wirtschaftlich überstehen. Das tun wir mit den bereits beschlossenen Maßnahmen, die auch laufend auf Wirksamkeit überprüft werden. Insofern halte ich die Anträge der AfD und der Grünen – übrigens liegt die Umsetzung vieler Forderungen in den Händen der Länder – weder für notwendig noch für zielführend.
An dieser Stelle danke ich unserem Wirtschaftsminister Peter Altmaier mit seinem Ministerium, der laufend überprüft, wo es zu welchen Verbesserungen kommen muss. Er hat auch immer ein offenes Ohr für Anregung und Kritik.
Vielen Dank.
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Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Claudia Tausend für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Stichworte sind gefallen: Die Innenstädte sind das Herz unserer Kommunen, Zentrum von Handel und Gastronomie, Orte der Begegnung und des sozialen Lebens. – Heute, in der Coronapandemie, stehen sie leider weitgehend still.
Die Innenstädte – auch das wurde gesagt – sind schon länger unter Druck. Auch hier kennen Sie die Stichworte – Onlinehandel, Filialisierung –; aber leider auch die Praxis mancher Kommunen, Gewerbegebiete für zentrenrelevante Nutzungen nach wie vor an den Stadträndern auf der grünen Wiese auszuweisen. Hier möchte ich auch an die Kommunen appellieren, mitzuhelfen, diese Praxis zu unterlassen und hier umzusteuern.
Herr Kollege Pols, ich fand Ihre Ausführungen zur autogerechten Innenstadt, einer Rückkehr dazu, wirklich interessant. Das verleitet mich eher zu der Einschätzung: Vielleicht sollten Sie etwas für den ÖPNV und die Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem ÖPNV in Lüneburg tun.
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Kolleginnen und Kollegen, tatsächlich ist München auch außerhalb von Pandemien längst nicht mehr umsatzstärkste Innenstadt. In der Coronapandemie verschärfen sich die Tendenzen des Strukturwandels; Geschäfte und Gastronomiebetriebe schließen, dauerhafte Leerstände drohen. Daher war es wichtig, dass wir die Situation der betroffenen Branchen mit dem Konjunkturprogramm, mit Überbrückungs- und Stabilisierungshilfen erleichtert haben und hier zu einer Besserung der Lage der Branche beigetragen haben.
Wir haben aber auch feststellen müssen, dass diese Überbrückungshilfen oftmals vollständig in die Miete fließen und so dazu beitragen, die Mieteinnahmen großer Immobilienfonds zu sichern – und das alles zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. So war das aber nicht gedacht, meine Damen und Herren!
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Die Lasten des Lockdowns müssen gerecht verteilt werden. Immobilienbesitzer, die bisher nicht bereit waren, ihren Gewerbemietern entgegenzukommen, müssen künftig auch ihren Beitrag leisten.
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Auch ich bin unserer Bundesjustizministerin Christine Lambrecht dankbar, dass sie einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen möchte, der den Pächterinnen und Pächtern eine Änderung ihres Vertragsverhältnisses erlauben wird, und zwar zu ihren Gunsten.
Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber auch, dass es trotz ähnlich gelagerter Problematik nicht die eine und einzige Lösung für die Innenstadt gibt. Wir sollten daher von Bundesseite unser Augenmerk vor allem darauf richten, Kommunen zu unterstützen und sie in die Lage zu versetzen, mit den Innenstadtakteuren passgenaue Lösungen zu entwickeln. Denn die Kommunen wissen selbst am besten, was zu tun ist. Es hat aber was mit Geld zu tun, und deshalb war es wichtig, dass wir einen Rettungsschirm nicht nur über die Wirtschaft aufgespannt haben, sondern auch über die Kommunen.
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Wir sehen uns hier weiterhin in der Pflicht, appellieren aber auch an die Länder als sogenannte Anwälte der Kommunen, ihren Beitrag zu leisten.
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Es wurde das Baugesetzbuch angesprochen. Auch ich freue mich, dass wir noch vor Weihnachten, liebe Kolleginnen und Kollegen, endlich, nach wechselvoller Geschichte, in die parlamentarischen Beratungen zur Novelle des Baugesetzbuches eintreten. Wir leisten auch hier einen Beitrag für bezahlbares Wohnen in den Innenstädten – Umwandlungsschutz für Mieterinnen und Mieter –; ich nenne auch den neuen Bebauungsplantyp. Vor allem geht es um sozial orientiertes und gefördertes Wohnen. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen – wie gesagt, noch vor Weihnachten.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier auf der Medienwand stand vor Kurzem übrigens noch „Reform der Wirtschaftsplanung“. Ich bin zwar von der Linken, aber es geht um die Reform der Wirtschaftsprüfung.
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Der Wirecard-Skandal ist der größte Finanz- und Bilanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte, der so eindrucksvoll in diesem Buch, das ich in der Hand halte, beschrieben ist. Wir wissen: Zahlen, Daten sind wichtig. Sie sind nicht nur wichtig in einer Pandemie, um Politik beurteilen zu können, sondern sie sind auch wichtig für Entscheidungen im Wirtschaftsleben. Deswegen sind Bilanzen ein öffentliches Gut.
Bei Wirecard haben Wirtschaftsprüfer wie EY sträflich versagt. Es sind Strafverfahren gegen Mitarbeiter von EY anhängig. 1,9 Milliarden Euro fehlen auf Treuhandkonten dieses Konzerns. Ich sage hier für meine Fraktion: Es gibt viele Prüfer, die einen guten Job machen; aber wir müssen die Macht der Big Four, der großen Wirtschaftsprüfungskonzerne, brechen.
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Denn es ist nicht nur EY, das von Interessenkonflikten geprägt ist. Wir haben gelernt, dass beispielsweise auch KMPG den ominösen Mauritius-Fonds, der wahrscheinlich dem flüchtigen Wirecard-Manager Jan Marsalek zugeschrieben werden kann, beraten hat, aber gleichzeitig auch Prüfungshandlungen bei Wirecard vorgenommen hat. Meine Fraktion möchte daher zentrale Reformen im Bereich der Wirtschaftsprüfung anstoßen:
Erstens. Der zentrale Interessenkonflikt ist, dass jene Unternehmen, die geprüft werden sollen, auch die Prüfer bezahlen. Deswegen wollen wir ein Poolsystem, ein Umlagesystem, aus dem die Prüfer bezahlt werden, damit sie unabhängiger werden.
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Zweitens brauchen wir eine strikte Trennung von Prüfung und Beratung. Die Prüfung ist gar nicht das Geschäft, mit dem sich das große Geld verdienen lässt, sondern die Beratungsaufträge sind lukrativ. Häufig wird nicht so genau hingeschaut in der Hoffnung auf zukünftige Beratungsaufträge.
Ich will hier einmal ansprechen, dass auch Abgeordnete der Großen Koalition in den vergangenen Tagen gesagt haben, man müsse doch darüber nachdenken, ob man EY zukünftig von öffentlichen Aufträgen ausschließen will. Ich will nur darauf hinweisen, dass zum Beispiel das Gesundheitsministerium beim Maskenchaos während der Coronapandemie freihändig Aufträge, auch über sehr lange Zeiträume, an EY ohne Ausschreibung vergeben hat. Ich denke, es wäre an der Zeit, dass wir uns hier ehrlich machen.
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Drittens brauchen wir dringend ein Vieraugenprinzip, also Joint Audits, in der Wirtschaftsprüfung, damit auch mittelständische Prüfer beteiligt werden. Denn ein Argument ist ja immer: Diese großen Konzerne können nur durch große Prüfungsunternehmen begutachtet werden. – Aber die kleinen können auch eine Rolle in speziellen Bereichen spielen; die sollten mit ins Boot genommen werden. Denn eine alte Weisheit sagt: Vier Augen sehen mehr als zwei.
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Weiterhin müssen wir endlich über das Prinzip der Haftung sprechen; denn es ist ja so, dass EY zum Beispiel jetzt nur für Schäden über 4 Millionen Euro haftet, wenn ihnen Vorsatz nachgewiesen werden kann, dass sie also vorsätzlich falsche Testate abgegeben haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies gelingt, ist jetzt durch die anhängigen Strafverfahren gestiegen. Aber der Nachweis des Vorsatzes ist eben sehr schwierig. Deswegen sagen wir: Was für Architekten oder Ärzte oder andere Berufsgruppen gilt, muss auch hier gelten; das Haftungsprivileg muss weg.
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Es ist natürlich keinem geholfen, wenn wir durch den Entzug des Haftungsprivilegs dann morgen statt Big Four auf einmal Big Three und noch mehr Konzentration im Markt haben.
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Deswegen muss das natürlich mit weiteren Reformen einhergehen.
Ich sage hier auch noch einmal für meine Fraktion: Wichtig ist natürlich auch, dass die deutsche Finanzaufsicht, die BaFin, selbst in der Lage ist, Bilanzen zu prüfen. Sie muss natürlich nicht die Bilanzen von zig Unternehmen prüfen. Aber wenn die Polizei ein Tempo-30-Schild an den Ortseingang stellt, dann muss sie eben auch bereit sein, jemanden, der mit 200 Sachen über die Kreuzung brettert, aus dem Verkehr zu ziehen,
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und die BaFin ist dazu heute überhaupt nicht in der Lage. Ich hoffe, dass wir mit dieser Debatte einen wichtigen Anstoß geben können.
Wir warten auch weiterhin gespannt auf die Debatte zum Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz.
Wir freuen uns. Wir sehen, dass es Zeit ist, zu handeln. Denn der Wirecard-Skandal zeigt: Kein Stein darf auf dem anderen bleiben.
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Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wirecard-Skandal – das wurde gerade schon gesagt – ist einer der größten Finanzskandale und Betrügereien der deutschen Nachkriegsgeschichte. Lieber Herr Kollege De Masi, 1,9 Milliarden Euro ist die Summe, die in Asien fehlt. Der Schaden für die Anleger und für die deutsche Volkswirtschaft ist um ein Vielfaches größer;
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er wird mit etwa 10 Milliarden Euro beziffert. Um das einmal in einen Vergleich zu setzen: 3,5 Milliarden Euro beträgt die jährliche Summe der Schäden, die durch Ladendiebstahl entstehen. Daran sehen wir, was hier für ein Schaden entstanden ist.
Der Schaden ist deshalb noch viel größer, weil das Vertrauen der Anleger, gerade unserer deutschen Anleger, in die deutsche Wirtschaft, in die deutschen Aktiengesellschaften fundamental zerstört worden ist. Wir haben die Sorge, dass jetzt plötzlich noch mehr Ausländer in unsere Gesellschaften investieren und diejenigen aus Deutschland, die eigentlich zur Altersvorsorge in solche Werte investieren sollten, es nicht mehr tun. Deshalb ist es angezeigt und richtig, dass wir hier über die Frage diskutieren, was zu tun ist, was vor allen Dingen im Bereich des Rechtsschutzes zu tun ist; denn da besteht jetzt in der Tat Handlungsbedarf.
Sie von der Linken haben eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt; auch in dem Grünenantrag ist eine ganze Reihe von Vorschlägen enthalten. Wir wissen, dass das Finanzministerium bereits einen Referentenentwurf vorgelegt hat, der in der Diskussion ist. Manches davon deckt sich, manches nicht. Lassen Sie mich einige Punkte aus dem, was jetzt schon angesprochen worden ist, herausgreifen:
Erstens. Es wird ganz einfach und relativ pauschal gefordert, die Haftung der Wirtschaftsprüfer müsse erweitert werden – von 1 Million bzw. 4 Millionen Euro auf 8 Millionen bzw. 20 Millionen Euro oder so etwas Ähnliches. Aber ehrlich: Bei einem Schaden von 10 Milliarden Euro ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Aus meiner Sicht wird damit das Problem nicht adressiert. Deshalb, glaube ich, müssen wir, was die Haftung angeht, ein bisschen differenzierter nachdenken.
Ein Ansatz, der im Raum steht, ist, zu sagen: Lasst uns doch die Haftung nach dem Umfang der Prüfungshonorare strukturieren – ein Vielfaches der Prüfungshonorare. Das ist eine angemessene Größendifferenzierung, die man mit einer moderaten Haftungserweiterung einhergehen lassen mag – ein Punkt, über den man meines Erachtens nachdenken muss.
Zweitens. Sie haben die sogenannte Dritthaftung angesprochen, nämlich nicht die Haftung gegenüber dem Auftraggeber, sondern gegenüber den geschädigten Anlegern; sie müsse unbegrenzt sein. 10 Milliarden Euro – das wird nicht funktionieren; denn dann müsste man sich dagegen versichern, die Prüfungshonorare würden ins Unermessliche gehen. Das kann nicht laufen.
Ich glaube, wir können über einen Punkt nachdenken, der in der Diskussion schon geäußert wurde: Eigentlich geht es um den Schutz der Kleinanleger. Das sind diejenigen, die sich nicht durch ein gestreutes Depot sozusagen selbst versichern können. Das heißt: Wer ein Depot hat, das kleiner ist als beispielsweise 100 000 Euro – das ist die Grenze der Einlagensicherung –, also nicht streuen kann, der mag möglicherweise als Adressat in Betracht kommen, und in diesen Fällen – das war falsch, was Sie gesagt haben – gilt schon jetzt nicht die Beschränkung auf Vorsatz. Vielmehr haben wir hier eine Deliktshaftung, die von der Rechtsprechung auf Leichtfertigkeit ausgedehnt wurde. So einfach ist es also nicht.
Drittens. Sie haben gesagt, wir müssten Prüfung und Beratung trennen. Ja, da können wir auf den europäischen Level zurückgehen. Aber der guten Ordnung halber ist wichtig, zu wissen: Das war bei Wirecard nicht das Problem.
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Und im Übrigen: Wenn man die Dinge dann so verlagern und miteinander vermischen würde, dass man sagt, man brauche allein externe Prüfer, dann fände man zu den Honoraren, die eigentlich gezahlt werden müssten, vielleicht keine qualifizierten Prüfer.
Richtig ist meines Erachtens der Ansatz, darüber nachzudenken, einen Joint Audit zu machen:
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ein großer Wirtschaftsprüfer plus ein kleiner oder mittelständischer Wirtschaftsprüfer zur Kontrolle. Da wäre dann die Frage, wer sie zu bestellen hätte. Und die entscheidende Frage ist, ob es teurer würde. Ich glaube, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, die im Augenblick eine Art Permanentprüfung macht, wäre dann vielleicht verzichtbar.
Das sind die Überlegungen, die aus meiner Sicht jetzt erörtert werden sollten. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und danke herzlich.
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Das Wort hat der Abgeordnete Tobias Matthias Peterka für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Heute, am Freitagnachmittag, unterhalten wir uns über die Reform der Wirtschaftsprüfung. Bis vorhin stand hier an der Medienwand noch „Reform der Wirtschaftsplanung“. Ich halte es durchaus für einen Freud’schen Versprecher der antragstellenden Linksfraktion.
Der hinlänglich bekannte Wirecard-Skandal, der dem Antrag zugrunde liegt, hat uns definitiv vor Augen geführt, dass nicht alles Gold ist, was im Bereich der Wirtschaftsprüfung glänzt. Da wird noch einiges, auch von Kay Gottschalk, meinem Kollegen, aufzuklären sein.
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– Kay Gottschalk ist heute krankgeschrieben.
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Wenn aber, wie vorliegend, im Antrag der Linken das Prinzip der freien Prüferwahl komplett abgeschossen werden soll, dann geht das – es tut mir leid – einfach viel zu weit. Umlagezahlungen in einen Gesamtfonds, zufällige Auswahl des Prüfers und alles unter staatlicher Zuteilung – das ist beinharter Struktursozialismus; da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
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Der AK Wirtschaft der Linken hat hier wohl gut bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgepasst oder gleich selber das Referat dort gehalten, alles nach der Agenda: Es muss nach freier Wirtschaft aussehen, aber wir müssen alles fest in der Hand haben. – Denn genau dafür – es tut mir einfach leid – wird mit dieser zusätzlichen Regulierungsbehörde der Grundstein gelegt. Die freie Preisfindung kann dann wohl gleich ganz weg.
Und ja, natürlich ist es ein Problem, wenn Prüfung und Beratung verquickt werden. Klar entstehen bei schlechter Compliance auch mal Filz oder strafrechtlich relevantes Verhalten in Unternehmen. Aber wissen Sie, wohin der Filz und das Gespräch beim Edelitaliener mit Ihrem Ansatz verlagert werden? Zu der Regulierungsbehörde.
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Dort entsteht eine ganz neue und ungesunde Unwucht hin zu staatlich gelenkter Wirtschaft.
Und nein, niemand will, dass jemand mit solchen Machenschaften wie bei Wirecard davonkommt, und auch eine volle Haftung für die Prüfer, eine deutlich gesteigerte, kann man ins Auge fassen.
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Aber dafür sind bei uns Zivil- und Strafgerichte da.
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Existierende Aufsichtsbehörden stärken? Gerne! Persönliche Haftung von Managern? Das wäre mal eine Idee; war ein Antrag der AfD.
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Aber der grundlegende Schalter unserer Wirtschaft bleibt bitte auf „freiheitlich“ und geht nicht auf „staatsgelenkt“.
Die Grünen gehen mit ihrem dazugestellten Antrag in eine deutlich sinnvollere Richtung. Die Marktkonzentration bei den vier großen Prüfungsgesellschaften ist ein Problem; auch die Quersubventionierung der Beraterleistungen ist ein Problem. Der Ansatz von Joint Audits, also das Vieraugenprinzip – es wurde schon erklärt –, mit mittelständischen Prüfern, die auch zum Zuge kommen können, würde durchaus zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: erstens allzu große – ich nenne es mal so – Vertraulichkeit zwischen Prüfern und Unternehmen, zweitens Abbau von Marktzugangshürden für die kleinen Prüfer. Konkurrenz belebt das Geschäft, verhindert auch Filz und Amigokumpanei.
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Diese sind, liebe Linke, keine Fehler eines freien Marktes; sie sind gerade der Ausdruck der Abwesenheit eines freien Marktes.
Den Antrag der Grünen können wir im Ausschuss diskutieren. Definitiv unschön bleibt bei dem Antrag jedoch das Andocken an die unsägliche Spitzelrichtlinie der EU. Der sogenannte Whistleblower ist ja ein grünes Steckenpferd, zusammen mit der Presselobby. Bis in kleine Unternehmen hinein sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegeneinander aufgehetzt werden; Vertraulichkeit wird zum Zufalls- oder Wegwerfprodukt. Das können wir so nicht stehen lassen.
Unternehmen gehören anständig geprüft, die Prüfer gehören anständig überwacht, und Entscheider müssen kongruent haften. Auf der Basis kommen wir dann schon zusammen.
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Das Wort hat Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, finde ich, eine gute Tradition geworden: Wir machen am Donnerstag im Wirecard-Untersuchungsausschuss bis in die Puppen durch, und am Freitagnachmittag treffen wir uns hier wieder, um das Ganze in einer zweiten Halbzeit fortzusetzen. Aber wenn ich auf die 15 Stunden, die wir gestern miteinander verbracht haben, zurückschaue, dann stelle ich fest, dass unsere Diskussion im Vergleich zu letzter Woche wieder einige neue Erkenntnisse gebracht hat, für mich unter anderem die, dass Abschlussprüfer gute Arbeit machen können, aber auch komplett versagen können. Das ist ungefähr die Bandbreite, die sich uns gestern im Untersuchungsausschuss dargestellt hat. Deswegen ist es wichtig, daraus jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Ich mache das an einer Sache fest: Im Jahr 2019 hatte die Wirecard AG eine Bilanzsumme von 5,9 Milliarden Euro. 1,9 Milliarden Euro lagen auf den Philippinen auf einem Treuhandkonto
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eines bestenfalls dubiosen Treuhänders. Man sieht schon an diesen Zahlen: Das Geld auf diesem Treuhandkonto hat einen wesentlichen Teil des Wertes dieses Unternehmens ausgemacht.
Dann hatten wir gestern eine interessante, sehr akademische und abstrakte Diskussion mit einem Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young, der uns über zwei Stunden – sehr belesen – klargemacht hat, warum es irgendwie doch Möglichkeiten gibt, dass man da vielleicht nicht so genau hinschauen muss und dass ein Atari-mäßiger Kontoausdruck als Beleg ausreicht, was nicht mal ein Zwölfjähriger glauben würde. Gleichzeitig lesen wir in Dokumenten eines anderen Wirtschaftsprüfers, der mit Ernst & Young in die Diskussion gegangen ist, der nachgehakt und gefragt hat: „Glaubt ihr denn wirklich, dass das ausreicht?“: Die haben bis zum Schluss geglaubt, dass das ausreicht.
Das ist ein Problem, meine Damen und Herren,
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und es ist vor allem deswegen ein Problem, weil es zeigt, dass es einen Kulturwandel in dieser Branche braucht. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
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Wir können mit den Maßnahmen, die Grüne, Linke und die Koalition in die Diskussion einbringen, mit Sicherheit einige wichtige Punkte machen. Aber wenn es in der Wirtschaftsprüferbranche keinen Kulturwandel gibt – wenn ganz offensichtliche Probleme sichtbar sind, darf man nicht blumig und mit hundert Vorschriften erklären, warum das schon so passt, anstatt einfach auszusprechen: hier existiert ein Problem; hier kann etwas nicht stimmen –, werden wir es mit unseren Reformen sehr schwer haben, solche Probleme wie bei Wirecard zu verhindern.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Hartmut Ebbing für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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– Danke.
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Besser so als andersherum, nicht?
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Mein Berufsstand ist mal wieder in der Öffentlichkeit. Und erneut stelle ich fest, dass viele in der Öffentlichkeit zwar wissen, was ein Anwalt macht, was ein Steuerberater so macht, aber nicht genau wissen, was ein Wirtschaftsprüfer macht, der einen Jahresabschluss zu prüfen hat. Es ist jedenfalls bisher nicht unsere Aufgabe, Betrug festzustellen; das ist, glaube ich, wesentlich. Wenn es so sein soll, dann gerne; aber bisher ist es nicht unsere Aufgabe.
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass sich Die Linke und die Grünen am Gesetzgebungsverfahren zum FISG beteiligen möchten. Aber waren es nicht auch die Grünen und die Linken, die selbst immer wieder gesagt haben: „Erst wollen wir aufklären, und danach wollen wir die Schlüsse ziehen“?
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Daran möchten wir von der FDP jedenfalls festhalten: Keine Schnellschüsse, sondern erst mal gucken, was der Untersuchungsausschuss bringt. Dann können wir gerne die Regularien, die wir haben, verbessern.
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– Ja, das ist mal einen Applaus wert, würde ich sagen.
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Der Großteil der in den Anträgen der Linken und der Grünen enthaltenen Vorschläge hätte den Fall Wirecard meines Erachtens nicht verhindert. Vielmehr würden sie dem Wirtschaftsstandort Deutschland auch noch massiv schaden. Auch die Verschärfung der Haftungsregeln hätte den Fall nicht verhindert. Vielmehr treffen strenge Haftungsregeln nicht nur die Kollegen der großen Prüfungsgesellschaften, sondern vor allem auch die kleinen und mittelständischen WP-Praxen.
Wollen wir in dieser ohnehin schweren Zeit den Mittelstand in Deutschland weiter belasten? Bei einem deutlichen Anstieg der Haftungssummen wird die Haftung bei kleineren Prüfungen das Honorar um ein Vielfaches überschreiten, während bei großen Prüfungen das Honorar weiterhin deutlich über der Haftungssumme liegen wird.
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– Deswegen war der Vorschlag ganz gut; das finde ich auch.
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Im Ergebnis würde dies zu einer weiteren Konzentration führen. Und ja, auch ich finde, eine Dynamisierung ist eine tolle Sache.
Auch eine noch so saubere Trennung von Prüfung und Beratung hätte den Fall Wirecard nicht verhindert. Es gibt bei der Prüfung von Unternehmen im öffentlichen Interesse jetzt schon sehr weitreichende Einschränkungen bei der Erbringung von Prüfungs- und Beratungsleistungen. Ein vollständiges Verbot der Erbringung von Nichtprüfungsleistungen würde meines Erachtens eindeutig zulasten der Prüfungsqualität gehen. Aber auch da gilt es meines Erachtens, die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses abzuwarten.
Was kann helfen? Wenn Betrug aufgedeckt werden soll, muss der Auftragsumfang der Abschlussprüfung erweitert werden – nämlich auf Betrug – und in der Folge natürlich auch der Umfang der Ausbildung. Die Corporate Governance muss eindeutig verbessert werden; das hat der Fall gezeigt. Und: Neben der Abschlussprüfung müssen verstärkt hoheitliche Eingriffsrechte bei einem Anfangsverdacht möglich sein.
Zum Schluss. Die Verschwiegenheit des Wirtschaftsprüfers ist ein hohes Gut; es muss aber eindeutige gesetzliche Regelungen geben, wann ein WP reden darf. Die jetzigen Unsicherheiten können nicht durch eine Entscheidung des BGH beseitigt werden. Wir sind die Legislative. Wenn es Unsicherheiten gibt, dann müssen wir die bisherigen Regelungen eindeutiger gestalten. Das sollten wir ganz schnell machen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wurde bereits darauf hingewiesen: Wir haben gestern viel Zeit im Untersuchungsausschuss verbracht, bis nachts um halb vier. Wir hatten sowohl einen Vertreter von KPMG als auch verschiedene Prüfer von EY zu Gast.
Man kann natürlich sagen – um Herrn Fritz Güntzler zu zitieren –: Ein Hauptproblem war, dass der PS 302, der Prüfungsstandard 302, des Instituts der Wirtschaftsprüfer nicht eingehalten worden ist.
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– Gut aufgepasst, genau. – Man kann natürlich sagen: Das war das Hauptproblem. Wenn das gemacht worden wäre, wenn EY vernünftig geprüft hätte, wenn auch EY der Meinung gewesen wäre, dass die Einholung von Drittbestätigungen auch einen konkreten Kontoauszug umfasst, auf dem tatsächlich 1,9 Milliarden Euro ausgewiesen sind, dass das wichtiger Teil der Prüfung ist, dann hätten wir den ganzen Skandal nicht gehabt, dann hätten wir die ganzen Probleme nicht, dann wären die 10 Milliarden Euro noch da, dann wäre alles kein Problem.
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Das wäre der Abschluss dieses Untersuchungsausschusses und der Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand, und dann bräuchten wir tatsächlich nicht mehr groß über Reformen bei der Wirtschaftsprüfung zu reden; denn im Kern bestünde doch eigentlich nur das kleine Problem: EY hat den PS 302 des Instituts der Wirtschaftsprüfer nicht eingehalten.
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So einfach ist es nicht, meine Damen und Herren. Vielmehr gibt es seit Jahren einfach eine massive Marktmacht und Konzentration im Bereich der Wirtschaftsprüfer. Man kann davon reden, dass ähnlich wie bei den Banken in diesem Bereich ein „too big to fail“ gilt. Es gibt ja jetzt schon große Panikattacken, dass wir aufgrund dieses Skandals bei EY plötzlich nicht mehr die Big Four haben, die alle DAX-30-Unternehmen prüfen – beim MDAX und beim SDAX sieht es nicht viel anders aus –, weil die anderen alle sagen: Das können wir gar nicht. – Also totale Marktkonzentration! Das Ergebnis dieses Skandals ist jetzt womöglich, dass wir dann nur noch drei haben, also nicht mehr einen Quadrupol, sondern nur noch einen Tripol. Das ist sozusagen das Ergebnis von Wirecard.
Wir müssen jetzt im Bereich der Wirtschaftsprüfung ganz dringend dafür sorgen, dass wir wieder Marktverhältnisse haben, damit in diesem Bereich auch vernünftig Prüfungen und Aufsicht stattfinden können, meine Damen und Herren.
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Deswegen hat eben auch meine Fraktion einen Antrag vorgelegt.
Wir brauchen erstens eine Trennung von Prüfung und Beratung.
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Die Quersubventionierung muss ein Ende haben. Sie ist zentral dafür, dass sich diese Marktmacht überhaupt etablieren konnte. Wir wissen sehr wohl: Das geht nicht von heute auf morgen; das ist ein Prozess. Aber gerade deswegen sagen wir: Fangen wir jetzt schon an, damit wir auch die Zeit haben, um das zu machen. Großbritannien hat es vorgemacht. Sie haben denen entsprechend Zeit gegeben. So schlagen wir es auch in unserem Antrag vor. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Pfad gehen, damit die Trennung dann auch tatsächlich stattfindet! Wir denken, bis 2024 ist ein realistischer Zeitraum, in dem das geschafft werden kann, meine Damen und Herren.
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Das Zweite wurde auch schon angesprochen: Wir müssen die Unabhängigkeit der Prüferinnen und Prüfer durch Joint Audits stärken, sodass es möglich wird, dass eben nicht eine Gesellschaft prüft, sondern zwei Gesellschaften prüfen. Es wird übrigens immer gesagt: Das macht alles teurer. – Es gibt wissenschaftliche Studien, die unterstreichen: Das Gegenteil ist der Fall. Das macht es in der Summe für alle Beteiligen günstiger.
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Auch deswegen, sagen wir, müssen wir das machen.
Dritter und heute letzter Punkt. Wir brauchen tatsächlich auch eine Veränderung der Haftungsgrenzen. Wir können gerne darüber reden, wie wir das genau ausgestalten, Herr Hirte. Sie haben unseren Antrag gesehen.
Kollegin Paus, das müssen Sie jetzt verschieben, bitte.
Wir sagen nicht einfach: „Alles rauf“, sondern wir müssen das staffeln. Aber auch da müssen wir ran, weil es völlig absurd ist, dass es in Deutschland einen Berufsstand gibt, bei dem es eine solche Ausnahme gibt, während es überall sonst anders ist. Das sollte auch bei den Wirtschaftsprüfern geändert werden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über die Wirtschaftsprüfung sprechen, dann bitte ich, zu differenzieren. Wir haben auf der einen Seite viele Hundert kleine und mittelständische Wirtschaftsprüfungskanzleien, die vor allen Dingen für das Handwerk und für den Mittelstand taugliche und kompetente Ansprechpartner sind, und auf der anderen Seite natürlich eine Konzentration von vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Diese Struktur dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Es waren übrigens mal fünf große Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Eine hat sich vor zwanzig Jahren wegen eines Betrugsfalls selbst aus dem Rennen genommen.
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Ich glaube, wir müssen sehr gut aufpassen, dass wir aus dem Oligopol der großen Vier durch Maßnahmen am Ende nicht ein Duopol oder ein Monopol machen.
Wir brauchen auch auf dem Prüfungsmarkt eine Vielfalt, und es muss vor allen Dingen natürlich auch die Möglichkeit für Unternehmen geben, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auszutauschen. Wenn die Kompetenz in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften so gebündelt ist, dass gerade große Mandate nur noch von ganz wenigen angenommen werden können, dann verfestigt sich möglicherweise eine Kultur – vielleicht auch eine Fehlerkultur –, die wir in dem Maße nicht gutheißen können. Deswegen, glaube ich, brauchen wir in der Tat eine sehr intensive Debatte darüber, wie wir die Wirtschaftsprüfung weiterentwickeln, und da müssen wir über ein paar Ansätze diskutieren, die wichtig sind.
Ich glaube, es ist gegen ein sogenanntes Joint Audit nicht viel einzuwenden, aber wenn ein Joint Audit nur dazu führt, dass aus den Großen Vier wiederum jeweils zwei die Mandate bekommen, dann hätten wir den Kleineren nicht geholfen.
Wir müssen auch darüber sprechen, ob die Trennung zwischen Prüfung und Beratung ein tauglicher Ansatzpunkt ist. Die Generierung von Wissen in den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und die Compliance in den Unternehmen selber müssen hier auch ein Stück weit gegengerechnet werden. Es soll ja einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft nicht generell verboten werden, anderweitig noch Beratungsgeschäft zu generieren. Nur, dieses Beratungsgeschäft darf eben nicht so auf das Prüfungsgeschäft durchschlagen, dass es hier zu Interessenkonflikten kommt. Diese Interessenkonflikte müssen wir ausräumen.
Wir müssen aber auch darüber sprechen, inwieweit die Wirtschaftsprüfung in Richtung einer stärkeren forensischen Prüfung fortentwickelt werden kann. Es geht also um die Frage: Werden Compliance-Verstöße ein Stück weit stärker verfolgt? – Hier wäre die Frage, ob man aufseiten der Aufsichtsräte nicht die Prüfungsausschüsse stärken sollte, damit sie auch ein Stück weit eine eigenständige Kompetenz erhalten.
Schließlich müssen wir darüber sprechen, ob die Regulierungsbehörde, die BaFin, ihre Aufsichtspflicht hier noch stärker wahrnehmen sollte bzw. muss.
Ich glaube, insgesamt lässt sich sagen, dass wir die Ergebnisse des Wirecard-Untersuchungsausschusses abwarten und bewerten sollten.
Wir müssen zudem dafür Sorge tragen, dass die Funktion der Wirtschaftsprüfung beibehalten und gestärkt wird, nämlich auf der einen Seite die Lauterkeit der Abschlüsse zu prüfen und auf der anderen Seite auch die Informationsfunktion für den Kapitalmarkt wahrzunehmen. Da kommt Wirtschaftsprüfern eine wichtige und auch gewichtige Rolle zu. Ich glaube, das ist nicht nur eine Frage der Vorschriften allein, sondern auch eine Frage der Kultur und der Fehlerkultur. Da wird es auch notwendig sein, dass sich hier am Bewusstsein etwas ändert.
Letztlich kann Wirtschaftsprüfung allein kriminelles Handeln von Vorständen und Aufsichtsräten nicht verhindern. Aber man kann dazu beitragen, dass das besser aufgedeckt wird und dass durch Frühwarnsysteme entsprechende Strukturen entdeckt werden.
In dem Sinne: Lassen Sie uns über diese Fragen mit sehr viel Sorgfalt diskutieren!
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Kiziltepe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu den notwendigen Reformen im Bereich der Wirtschaftsprüfung komme, möchte ich gerne noch etwas zum gestrigen Auftritt der Wirtschaftsprüfer im Untersuchungsausschuss sagen. Es war wie ein Schweigekloster. Ein Schweigekartell zog stundenlang durch den Ausschusssaal.
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– Alle außer ihn. Die Wirtschaftsprüfer!
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Eines will ich ganz deutlich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Gerade jetzt, nach diesem größten bandenmäßigen Bilanzbetrug, der unserem Wirtschaftsstandort Deutschland massiv geschadet hat, ist nicht eine Zeit der radikalen Stille angezeigt.
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Wir haben Vertreter von EY gesehen, die versucht haben, sich aus ihrer Verantwortung herauszuwinden. Das waren Wirtschaftsprüfer, die für eine der größten Wirtschaftsprüferkanzleien auf der Welt arbeiten. Ihr Motto „Building a better world“ schien ihnen eine Nachricht von einem anderen Stern zu sein. Statt aufzuklären, wie man Scheingeld testieren konnte, versteckt sich EY hinter fadenscheinigen Argumenten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit schadet EY nicht nur sich selbst, sondern dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer insgesamt.
Ja, die meisten Wirtschaftsprüfer gehen ihrem Beruf äußerst akribisch nach. Sie prüfen gewissenhaft die Bücher von Tausenden Unternehmen. Weil der Kollege Ebbing hier gesagt hat, es sei nicht Auftrag der Wirtschaftsprüfung, Betrug aufzuklären, muss man, meine ich, auch wissen: Wirtschaftsprüfung ist in diesem Land ein öffentlicher Auftrag. Auf ihr Urteil verlassen sich die Anleger, die Mitarbeiter, die Behörden und die Öffentlichkeit. – Der Fall Wirecard hat dieses Vertrauen massiv zerstört, und deswegen müssen wir die Wirtschaftsprüfung reformieren.
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Solange Prüfer und Prüfling jahrzehntelang gemeinsam in einen Jacuzzi steigen, können wir nicht von Prüfung sprechen, und deshalb müssen und werden wir die Rotationspflicht verschärfen.
Auch die Haftungsgrenze von 4 Millionen Euro, die es im Moment gibt, muss fallen. Es kann nämlich nicht sein, dass in diesem Land Hebammen unbegrenzt haften, während Wirtschafsprüfer sich auf ihren Haftungsprivilegien ausruhen können.
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Und im Entwurf des Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes stehen genau diese Maßnahmen alle schon drin. Aber das reicht noch nicht.
Auch bei der APAS, der Abschlussprüferaufsichtsstelle, müssen wir ran, müssen wir nachschärfen. Die Rechtsaufsicht hat hier komplett versagt; eine Fachaufsicht gab es in diesem Bereich gar nicht. Eine Behörde, die wie die APAS frei fungiert – hier hätte man eigentlich den Betrug erkennen und nachverfolgen sollen –, braucht kein Mensch. Und damit die APAS kein Buddy-Verein der Big Four bleibt, brauchen wir die Fachaufsicht durch das Bundeswirtschaftsministerium, und das werden wir auch angehen.
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Herr Altmaier – er ist heute nicht da – wollte in der Ressortabstimmung diese Punkte leider nicht. Ich bin aber zuversichtlich, dass die neuen Erkenntnisse aus dem Untersuchungsausschuss zur Einsicht beitragen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, anfangen sollten wir damit, dass EY keine weiteren öffentlichen Aufträge erhält, –
Achten Sie bitte auf die Zeit.
– bevor sie nicht umfangreich zur Aufklärung beigetragen haben. Wir wollen eine Wirtschafsprüferreform, die die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfung schärft. Das wollen wir nicht auf die lange Bank schieben und dabei totdiskutieren, sondern das wollen wir so bald wie möglich.
Danke.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was kann es Schöneres geben, als am Schluss einer Sitzungswoche über die Wirtschaftsprüfung zu debattieren,
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nachdem wir, wie es ja schon mehrfach erzählt wurde, 15 Stunden mit verschiedenen Kollegen aus der Wirtschaftsprüfung von der KPMG, von EY und auch von Baker Tilly im Untersuchungsausschuss verbracht haben? Also: ein spannendes Thema.
Ich glaube auch, dass der Wirecard-Skandal Grund genug ist, sich mit der Abschlussprüfung in Deutschland zu beschäftigen. Dieser Skandal hat erst mal dazu geführt, dass das Vertrauen in die Abschlussprüfung gestört wurde. Jetzt müssen wir gucken, ob es deshalb Maßnahmen geben muss.
Ich würde deshalb eindringlich davor warnen, dass wir jetzt in einen Aktionismus verfallen, dass ein Antrag dem anderen folgt – letzte Woche einer von der AfD, heute von den Grünen, dann von den Linken usw. usw. –,
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obwohl wir uns selber in den Untersuchungsauftrag, der hier beschlossen wurde,
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gerade mit den Stimmen der Oppositionsfraktionen, reingeschrieben haben, dass es die Aufgabe des Untersuchungsausschusses sein soll, Empfehlungen zu erarbeiten. Vielleicht sollte man die Aufklärung abwarten und dann kluge Vorschläge machen und diskutieren.
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Wenn ich mir die beiden Anträge angucke, dann stelle ich fest: Die Linken stellen gleich im ersten Satz die steile Behauptung auf: Es gibt ein Defizit in der deutschen Wirtschaftsprüfung. – Diese These ist, jedenfalls durch die Tätigkeiten im Untersuchungsausschuss, derzeit nicht belegt. Im Gegenteil – Herr Dr. Zimmermann hat ja auch darauf hingewiesen – können wir bis jetzt nicht feststellen, dass es ein absolutes Systemversagen in der Abschlussprüfung gegeben hat.
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Es gibt vielmehr den doch scharfen Verdacht, sag ich mal, dass hier Prüfer in einem Einzelfall die ihnen obliegenden Pflichten nicht eingehalten haben und die Prüfung nicht nach den geltenden Standards durchgeführt wurde. Und das ist ein Unterschied; da fragt man sich, ob ein ganzes System ausgehebelt werden muss, nur weil einer sich nicht an die Regeln hält. Außerdem leben wir in einem Rechtsstaat, und ich bin der Auffassung, dass eine Vorverurteilung vielleicht nicht ganz fair ist.
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Wir haben im Untersuchungsausschuss festgestellt und sind der Meinung: Die Verschwiegenheitspflicht wäre nicht gegeben für die Vertreter von EY, weil wir eine andere Rechtsauffassung haben als deren Rechtsvertreter. Aber ehrlicherweise muss man sagen: Man kann auch diese Rechtsmeinung – sie ist teilweise von OLG-Rechtsprechung gedeckt – vertreten. – Und wenn es hier ein Restrisiko gibt, dann kann man vertreten, dass man dies so vorträgt. Da bin ich beim Kollegen Ebbing, der gesagt hat: Wenn es diese Rechtsunsicherheit gibt, ist es eigentlich kein gutes Zeichen des Parlamentes, auf den BGH zu warten, sondern vielleicht sollten wir als Gesetzgeber auch an diesem Punkt tätig werden.
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Ein zweiter Punkt, der mir wirklich wichtig ist, auch als Vertreter einer mittelständischen Gesellschaft, die im Rahmen der Wirtschaftsprüfung tätig ist: Ich verstehe den Ansatz, dass man Konzentrationsprozesse verhindern will. Das war übrigens auch Thema der Abschlussprüferreform 2016. Ich befürchte nur – und darüber sollten wir wirklich ernsthaft diskutieren; die Zeit hierzu ist jetzt nicht da –, dass die Maßnahmen, die hier teilweise vorgeschlagen worden sind – Haftung, Trennung von Prüfung und Beratung sowie Rotation –, gerade zum Gegenteil führen,
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dass wir mehr Konzentration in den Markt kriegen. Wir würden das Kind mit dem Bade ausschütten und würden genau das Gegenteil erzielen. Das sollte nicht unser gemeinsamer Wille sein. Von daher sollten wir das sehr sorgfältig diskutieren und keine Schnellschüsse machen. Sorgfalt vor Eile!
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Jetzt wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.