Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/26/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen, am 28. Oktober, haben die Regierungschefinnen und ‑chefs des Bundes und der Länder angesichts eines damals dramatischen exponentiellen Anstiegs der Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus weitreichende Kontaktbeschränkungen beschlossen. Diese sind seit dem 2. November in Kraft. Sie waren unausweichlich, weil die Gesundheitsämter in weiten Teilen unseres Landes trotz personeller Verstärkung und Unterstützung durch Bund und Länder nicht mehr ausreichend in der Lage waren, die Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen und die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Genau daraus resultierte auch das exponentielle Wachstum. Ich habe dann in meiner Regierungserklärung am 29. Oktober dieses Jahres erläutert, dass und warum die Maßnahmen, die wir ergreifen mussten, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind und dass und warum es insbesondere kein anderes, milderes Mittel als konsequente Kontaktbeschränkungen gibt, um das Infektionsgeschehen zu stoppen und umzukehren. Heute, vier Wochen später, können wir feststellen: Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Kontakte um circa 40 Prozent zurückgegangen sind. Das dramatische exponentielle Wachstum der Zahl der Neuinfektionen konnte gestoppt werden. Es ist nicht auszudenken, wo wir heute stünden, wenn wir vor vier Wochen, als es buchstäblich fünf vor zwölf war, nicht zu dieser nationalen Kraftanstrengung bereit ({0}) und in der Lage gewesen wären. ({1}) Zu dieser nationalen Kraftanstrengung gehörte auch – dafür möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal danken – die Abstimmung zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz hier im Deutschen Bundestag in der vergangenen Woche. Unsere parlamentarische Demokratie, sie ist leistungsfähig, sie kann Entscheidungen sehr schnell treffen, und sie ist für die Bürgerinnen und Bürger ein Anker des Vertrauens, gerade in Zeiten wie diesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schlimmste, die Überforderung unseres Gesundheitssystem mit allen medizinischen und in der Folge natürlich auch mit allen wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und ethischen Folgen, konnte also bislang verhindert werden. Das ist ein erster Erfolg. Aber es ist noch kein nachhaltiger Erfolg; denn die bisherigen Kontaktbeschränkungen haben zwar zu einer Seitwärtsbewegung der Infektionszahlen geführt, noch nicht aber zu der so dringend notwendigen Trendumkehr nach unten. Anders gesagt: Die Fallzahlen stagnieren auf einem hohen, einem viel zu hohen Niveau, und noch immer steigen die Infektionszahlen in einigen Regionen unseres Landes an, anstatt zu sinken. Außerdem wächst die Zahl der Menschen, die wegen einer Covid-19-Erkrankung intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Erst vorgestern mussten wir einen traurigen Rekord bei der Zahl der an oder mit Covid-19 verstorbenen Menschen verzeichnen. Das muss uns mit Sorge erfüllen. Denn unverändert gilt: Wenn wir mit konsequenten Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens warten würden, bis die Intensivstationen unserer Krankenhäuser voll belegt sind – belastet sind sie schon jetzt –, dann wäre es zu spät. Diese Prämisse galt bei den Beratungen von Bund und Ländern am 28. Oktober, und diese Prämisse galt auch bei den Beratungen und Entscheidungen gestern, und zwar medizinisch, wirtschaftlich, sozial und ethisch. Ein Blick in manche unserer Nachbarländer müsste eigentlich auch genügen, um davon überzeugt zu sein, dass wir uns eine Überforderung unseres Gesundheitssystems und unserer Krankenhäuser ersparen sollten. Was im Übrigen ein sogenannter Lockdown tatsächlich ist und was ihn tatsächlich umfasst, das sehen wir nicht bei uns; da können wir uns glücklich schätzen. Allerdings – das will ich auch sagen – sehen wir inzwischen bei einigen unserer Nachbarländer auch deutlich fallende Zahlen in einem sehr hohen Tempo. Ich weiß, wenn ich davon rede, dass wir nicht den härtesten Lockdown haben, welche Härten schon unsere Maßnahmen in Deutschland für viele Menschen bedeuten, welche Existenzängste sie hervorrufen. Viele Menschen, zum Beispiel aus der Kultur, der Gastronomie und dem Hotelbereich, können ihren Beruf kaum oder gar nicht ausüben. Sie machen sich große Sorgen, wie die kommenden Monate aussehen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Bund mit verschiedenen Überbrückungshilfen viele Milliarden in die Hand nimmt, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. ({2}) Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: In der Pandemiebekämpfung geht es nicht um Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung, Gesundheit oder Kultur, Gesundheit oder Soziales. In solchen Gegensätzen zu denken, ist ein häufiges Missverständnis. Immer geht es um beides: um Gesundheit und Wirtschaft, Gesundheit und Bildung, Gesundheit und Kultur, Gesundheit und Soziales. Denn was in der Pandemiebekämpfung dem Ziel dient, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, das dient auch allem anderen und damit ganz besonders dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. ({3}) Unser Ziel ist und bleibt es also, die Infektionszahlen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter wieder in der Lage sind, Infektionsketten zu erkennen und zu durchbrechen, das heißt eine Inzidenz kleiner als 50 Infizierte pro 100 000 Einwohner in 7 Tagen. Unser Ziel ist und bleibt es, dass alle Menschen, die wegen einer Covid-19-Erkrankung oder wegen anderer Erkrankungen behandelt werden müssen, die medizinische Versorgung bekommen können, die sie brauchen. Wir haben ein starkes Gesundheitssystem, das der Pandemie bis jetzt standgehalten hat, und wir müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt. ({4}) Vor diesem Hintergrund haben Bund und Länder gestern beschlossen, dass – erstens – Lockerungen der seit dem 2. November geltenden Kontaktbeschränkungen noch nicht möglich sind. Sie wären nicht verantwortbar. Zweitens. Die seit dem 2. November geltenden Kontaktbeschränkungen müssen über den 30. November hinaus fortgesetzt und an einigen Stellen durch zusätzliche Maßnahmen präzisiert und ergänzt, auch verstärkt werden. – Auf dieser Grundlage haben wir gestern unsere Beschlüsse gefasst. Das setzt an, dass wir die Bürgerinnen und Bürger noch einmal aufrufen, jeden nicht notwendigen Kontakt zu vermeiden. Dazu gehören auch private Reisen, touristische Reisen, die nicht stattfinden sollten. Es naht die Skisaison: Wir werden uns in Europa um eine Abstimmung dahin gehend bemühen, alle Skigebiete schließen zu können. ({5}) Es sieht leider nicht so aus, wenn man die österreichischen Verlautbarungen hört, dass uns das so einfach gelingen könnte. Aber wir werden es noch einmal versuchen. Die am 28. Oktober 2020 beschlossenen Maßnahmen werden also verlängert. Für den Groß- und Einzelhandel, der geöffnet bleibt, gilt, dass für Verkaufsflächen ab 800 Quadratmetern in Zukunft eine Zugangsbeschränkung auf einen Kunden pro 20 Quadratmeter notwendig ist. ({6}) Das gilt insbesondere für Einkaufszentren, wo die Gesamtverkaufsfläche angesetzt wird. Hier wird regelmäßig gesagt: Ja, es gibt doch eine Maskenpflicht, und wenn diese Maskenpflicht da ist, dann ist das Einkaufen doch ungefährlich und ohne jedes Risiko. – Da möchte ich noch einmal eine Bemerkung machen. Das Tragen von Masken – ich bin allen Bürgerinnen und Bürgern dankbar, die sich daran sehr gut halten – senkt das Risiko einer Infektion; es ist ein Schutz. Aber solange es keine medizinische Maske von der Qualität FFP2 oder 3 ist, ist es keine Sicherheit, dass es nicht doch zu Ansteckungen kommen kann. Das genau ist der Grund, warum wir auch große Menschenmengen in Einkaufszentren vermeiden müssen. Ich finde, wir haben hier alle eine wirkliche Aufklärungspflicht. Wir dürfen die Menschen auch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Mund-Nasen-Schutz plus Abstand, das ist das Allerbeste. Und ansonsten ist es ein Schutz für mich und für andere, wenn alle es tun. Aber es ist keine Sicherheit; das muss man auch immer wieder aussprechen. ({7}) Wir haben gestern auch eine Prognose über das angestellt, was zu Weihnachten und zum Neujahrstag sein wird. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens gehen wir davon aus, dass die Beschränkungen, die jetzt vor Weihnachten gelten, bis Anfang Januar weiter gelten müssen, jedenfalls für die allermeisten Teile der Bundesrepublik Deutschland. Sollte sich die Infektionszahl in den nächsten Wochen dramatisch verringern – wir werden das vor Weihnachten noch einmal überprüfen –, dann können wir andere Schlussfolgerungen ziehen. Aber die Menschen haben ein Recht darauf, eine Erwartung zu haben. Da müssen wir leider sagen, dass wir für Weihnachten und Neujahr keine Entlastung versprechen können. ({8}) Wir haben dann gestern noch einmal darüber gesprochen, dass wir in Deutschland ein sehr unterschiedliches Infektionsgeschehen haben. Wir haben jetzt eigentlich nur noch eine sehr kleine Zahl von Kreisen, in denen die Infektionsrate, die Inzidenz, unter 50 liegt. Wir haben aber inzwischen 62 Kreise und den Stadtstaat Berlin, in denen im Durchschnitt die Infektionsraten über 200 liegen. Deshalb ist neben der weiter geltenden Hotspot-Strategie, die immer für alles über 50 gilt und weshalb wir auch die umfassenden Maßnahmen gemacht haben, die im Augenblick gelten, noch einmal gesagt worden, dass zusätzlich zu den umfassenden allgemeinen Maßnahmen noch andere, weiter gehende Maßnahmen eingebracht werden können. Sie wissen von Kreisen – zum Beispiel von Hildburghausen in Thüringen –, wo die Inzidenz sehr hoch ist und wo man dann bis hin zu Ausgangsbeschränkungen, Ladenschließungen, Schul- und Kitaschließungen gegangen ist. Ich kann nur sagen: Wir können nicht vom Durchschnittswert in Deutschland reden. Wenn Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern gut dastehen, aber in Thüringen und Sachsen die Infektionszahlen weiter steigen, dann hilft uns der Durchschnitt nicht, sondern dann muss man lokal angepasst reagieren. ({9}) Deshalb glaube ich oder hoffe ich, dass die Länder, deren Wunsch es war, bei einer Inzidenz von über 200 noch weiter gehende Maßnahmen zu ermöglichen, dann wirklich auch Gebrauch davon machen, damit wir zu einer insgesamt gesenkten Inzidenz kommen können. ({10}) Wir haben gestern noch einmal herausgearbeitet, dass es das A und O des Umgangs mit dem Virus und des Verhinderns einer Infektion ist, Kontakte zu reduzieren und, wenn sie stattfinden, sie unter den allgemeinen Regeln stattfinden zu lassen. Deshalb kommt natürlich den Zusammenkünften im privaten Raum eine ganz besondere Bedeutung zu. Mit Ausnahme von Weihnachten und der Zeit des Jahreswechsels verschärfen wir deshalb noch einmal die Ansagen und sagen, dass private Zusammenkünfte nur von einem Haushalt mit einem anderen und mit bis zu fünf Personen stattfinden dürfen. Nicht mitgezählt werden dabei Kinder unter 14 Jahren, weil sie für das Infektionsgeschehen nicht so relevant sind. ({11}) Das ist die Erkenntnis. Fünf Personen also aus zwei Haushalten mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren! Es wird der Mund-und-Nasen-Schutz in allen Innenstädten und außen noch einmal verstärkt. Die Pflicht dazu wird von den Ländern noch einmal verordnet. In Arbeits- und Betriebsstätten ist ein Mund-und-Nasen-Schutz sowieso verpflichtend, sofern der Abstand von 1,5 Meter nicht eingehalten werden kann. ({12}) Hochschulen und Universitäten sollen zu digitaler Lehre übergehen, mit wenigen Ausnahmen. Für Weihnachten und den Jahreswechsel, vom 23. Dezember bis zum 1. Januar, haben wir Sonderreglungen vereinbart. Hier soll es möglich sein, dass Menschen aus dem engeren Familienkreis und engeren Freundeskreis sich bis zu zehn Personen treffen können, maximal. ({13}) Ich will ausdrücklich sagen: Es muss jeder mit sich abmachen, ob dieses Maximum immer ausgeschöpft werden muss oder ob man auch darauf verzichtet. ({14}) Dazugehörige Kinder werden wieder nicht mitgezählt. ({15}) Wir werden die Ferien in allen Bundesländern am 19. Dezember beginnen lassen. Es wird darum gebeten, dass bei denjenigen, die Verwandte und Familie besuchen, insbesondere ältere Mitglieder der Familie, also Großeltern zum Beispiel, dann eine Woche des Schutzes vorgeschaltet wird, in der alles darangesetzt wird, die Kontakte wirklich zu minimieren, damit Weihnachten ein sicheres Weihnachten ist; denn wir wollen nicht, dass über die Feiertage die Infektionszahlen hochschnellen, meine Damen und Herren. Ich glaube, das ist unser gemeinsamer Wunsch. ({16}) Wir, Bund und Länder, werden mit den Religionsgemeinschaften sprechen, um möglichst Vereinbarungen für Gottesdienste und andere religiöse Zusammenkünfte zu treffen. ({17}) Großveranstaltungscharakter dürfen solche Veranstaltungen nicht haben. Wir werden im öffentlichen Bereich in Deutschland keine Feuerwerke haben, ({18}) und auch auf bestimmten Plätzen und Straßen wird das örtlich dann verboten sein. Es wird insgesamt empfohlen, auf Silvesterfeuerwerk zu verzichten. Wer das in kleinem Umfang im privaten Bereich machen will, kann das tun; das wollen wir nicht völlig verbieten. Aber auch hier appellieren wir an die Verantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger. Wir bitten die Arbeitgeber und Betriebsstätten, zu prüfen, ob man zwischen Weihnachten und Neujahr großzügige Homeoffice-Regelungen oder Betriebsferien anordnen kann, um auch hier sicherzustellen, dass wir in diesem Bereich möglichst wenig Kontakte haben, weil wir für diese Zeit ja im privaten Bereich etwas mehr Kontakte wollen. Wir wollen, dass in Einrichtungen wie Seniorenheimen und Behinderteneinrichtungen es kein Weihnachten der Einsamkeit wird, ({19}) sondern dass Menschen auch dort die Möglichkeit haben, Besuch zu empfangen. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht nur an unsere eigene Familie denken, sondern auch an die, die es in dieser Zeit wirklich sehr, sehr schwer haben. Das sollten wir alle nach außen ganz deutlich sagen. ({20}) In diesem Zusammenhang lassen Sie mich noch ein Wort zum Schutz vulnerabler Gruppen sagen. Wir haben uns überlegt, dass wir eine bestimmte Zahl von FFP2-Masken an die vulnerablen Gruppen für die Winterzeit geben. Der Bundesgesundheitsminister hat jetzt mit dem Bundesausschuss, der dafür zuständig ist, einmal definiert, wer dafür infrage kommt. Das sind 27 Millionen Menschen. Deshalb sollte niemand so tun, als könnte man vulnerable Gruppen in einem Land schützen – es sind 27 Millionen Menschen! –, indem man sie einfach aus dem öffentlichen Bereich herausnimmt. Das wird bei uns nicht gehen. Ich halte das auch nicht für ethisch vertretbar, um das ganz klar gesagt zu haben. ({21}) Einen langen Zeitraum in unseren Beratungen hat gestern noch einmal das Thema „Schule und Kitas“ eingenommen. Wir wollen, dass Kitas und Schulen offen sind; dabei bleibt es auch. Wir haben die Pflicht zum Maskentragen verschärft. Darüber haben wir Einvernehmen erzielt. Wir haben gesagt – wir haben die Empfehlungen des RKI, wir haben die Empfehlungen der Leopoldina gerade für die älteren Schüler –, dass zumindest in den Bereichen, wo die Inzidenz über 200 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in 7 Tagen liegt, Formen wie Hybridunterricht und Wechselunterricht durchgeführt werden. Ich halte das für absolut notwendig. Ich weiß, dass der Bund für Schulen keine direkte Verantwortung hat, aber wir haben eine Verantwortung für das gesamte Infektionsgeschehen. Wir können nicht so tun, als ob ältere Schüler gar keinen Beitrag dazu leisten. Deshalb: Schule und Kita offen, aber da, wo wirkliche Hotspots der Hotspots sind – man muss ja sagen, bei über 200 pro 100 000 Einwohner sind es extreme Infektionslagen; wir wollen auf 50; ich will daran erinnern –, muss gehandelt werden. Wir haben darüber gesprochen, dass Schülerverkehre entzerrt werden sollen, dass die Anfangszeiten der Schulen gestaffelt werden sollen, damit es eben nicht zu so vielen Kontakten kommt. Wir haben eine neue Kontrollstrategie für Schulen entwickelt. Ich weiß, dass auch Karl Lauterbach daran mitgearbeitet hat. – Ich weiß nicht, ob er da ist, aber Sie werden es ihm weitersagen. ({22}) Auf jeden Fall haben viele Menschen daran gearbeitet: Wie können wir in Schulen gut reagieren? Es soll eine sogenannte Clusterisolation geben. Das heißt: Das Gesundheitsamt stellt eine Gruppe fest, wenn ein Schüler infiziert ist. Diese Gruppe geht geschlossen, ohne dass man jeden einzelnen Kontakt nachverfolgt, fünf Tage lang in eine häusliche Clusterquarantäne, um dann durch Antigen-Schnelltests, die uns sowieso mehr Möglichkeiten bieten, nach fünf Tagen freigetestet zu werden. Das ist ein überschaubarer Zeitraum. Die Gesundheitsämter werden dadurch entlastet. Ich glaube, das ist eine gute Sache. Wir werden insgesamt, weil wir jetzt die Antigen-Schnelltests in viel größerer Zahl zur Verfügung haben, auch die Quarantäneanordnung insgesamt verändern, auf zehn Tage verkürzen, mit Freitestung mit einem Antigen-Schnelltest nach diesen zehn Tagen. Das wird die Akzeptanz für Zeiten der häuslichen Quarantäne auch verbessern. Das soll ab 1. Dezember gelten. Meine Damen und Herren, wir haben natürlich auch über die wirtschaftlichen Hilfen gesprochen. Hier möchte ich mich nun, wie gesagt, bei diesem Hohen Hause in besonderer Weise bedanken. Die Bundesregierung hat Novemberhilfen vorgeschlagen. Ich weiß, welche Belastung das jetzt auch für die Bundestagsfraktionen in den Haushaltsberatungen ist. Die werden ergänzt werden müssen durch Dezemberhilfen. Wir machen das; aber ich sage natürlich: Auch hier gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. ({23}) Das heißt, bestimmte Kontaktbeschränkungen, bestimmte Maßnahmen müssen sein, damit wir dann auch die Kraft aufbringen für diejenigen, die die Last für uns tragen. Es sind jetzt bestimmte Branchen, die die Last für die ganze Gesellschaft tragen. ({24}) Damit Schulen offen sind, damit Kitas offen sind, damit wir wirtschaften können, damit Betriebe offen sind, tragen die Gastronomie, die Hotellerie und die Kultureinrichtungen eine große Last. Deshalb müssen wir ein gemeinsames Interesse vereinbaren, die Anzahl der Kontakte wirklich so zu reduzieren, dass wir auch Wirkungen sehen; denn es ist ja klar, dass wir diese Art von Hilfen nicht bis Ultimo fortführen können. Das ist ein riesiger Beitrag mit großer Verschuldung unserer Bundeshaushalte 2020 und 2021. ({25}) Das ist geboten. Das ist notwendig. Aber es muss auch hier immer darüber geredet werden, wie die Dinge alle miteinander zusammenpassen, meine Damen und Herren. ({26}) Wir haben natürlich auch über die Überbrückungshilfe III gesprochen, die neben den November- und Dezemberhilfen da ist. Wir haben Hoffnung, dass im Bereich der Impfstoffe sehr schnell Zulassungen erteilt werden. Das wird das Problem nicht sofort lösen; aber es ist ein Licht am Ende des Tunnels. Wir werden die Wintermonate sicherlich noch mit einer großen Zahl an Menschen, die nicht geimpft sind, so durchstehen müssen. Aber ich glaube, dass wir da im nächsten Jahr doch einen deutlichen Fortschritt erleben. Es kann sein, dass noch vor Weihnachten Impfstoffe eintreffen. Wir haben verabredet, dass diese Impfstoffe dann den Menschen angeboten werden, die im medizinischen, pflegerischen Bereich arbeiten, und sie als Erste Zugriff darauf haben. Ich glaube, das entspricht auch dem Risiko, das diese Menschen eingehen werden. ({27}) Meine Damen und Herren, ich werbe noch einmal für die Corona-Warn-App. Wir haben einige Verbesserungen durchgeführt. Ich weiß, dass dazu eine rege Diskussion entstanden ist, die auch weitergeführt werden soll. Dazu wird es ein Treffen der Ministerpräsidenten mit Fachleuten geben, weil auch unter den Landesministerpräsidenten darüber sehr intensiv diskutiert wurde. Über 23 Millionen Menschen haben diese App heruntergeladen. Ich lade jeden ein, der uns zuhört und der sie noch nicht hat, doch diese App zu nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronaviruspandemie ist und bleibt die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg: für Deutschland, für die Europäische Union und für die ganze Welt. Aber es gibt eben auch Anlass zur Hoffnung, und das verbindet sich mit den Impfstoffen. Hoffnung macht auch, dass wir heute ein so viel größeres Wissen über das Coronavirus und seine Wirkung haben als zu Beginn der Pandemie. Dieses Wissen ermöglicht uns manches. Dieses Wissen ernüchtert uns aber auch sehr, weil wir wissen: Dieses Virus lässt sich nicht betrügen und nicht umgehen. Es ist so, wie es ist, und hat seine Verhaltensweisen. Ich finde es unglaublich beeindruckend, wie anhand der einfachen Zahl der Kontakte Simulationen in der Wissenschaft heute ausrechnen können, welche Infektionszahlen wir nach einer bestimmten Zeit haben, wenn wir uns wie verhalten. Deshalb weiß man, dass man keinen Bogen um dieses Virus machen kann und nicht glauben sollte, man könnte es irgendwie dazu zwingen, sich anders zu verhalten, nur weil es in Deutschland ist oder weil es vor einer Schule ist oder weil es an irgendeinem Platz ist. Also: Es macht uns Hoffnung, dass wir mehr wissen, und es macht Hoffnung, dass die große Mehrheit der Menschen in Deutschland sich an die Dinge hält, die wir vereinbaren, und damit auch eine Eindämmung möglich macht. ({28}) Ich sage ganz deutlich: Wir haben es in der Hand. Wir sind nicht machtlos. Wir haben ganz ohne Zweifel noch einmal schwierige Monate vor uns. Aber so wie wir Menschen schon so viele große Probleme in der Geschichte der Menschheit bewältigt haben, so kann auch jetzt in der Pandemie jeder und jede aktiv dazu beitragen, dass wir diese Zeit gut durchstehen. In meiner Regierungserklärung am 29. Oktober habe ich gesagt – ich möchte das wiederholen –: Der Winter wird schwer, aber er wird enden. – Gerade jetzt, da wir so viel an Weihnachten und an den kommenden Jahreswechsel denken, wünsche ich mir und wünsche ich uns allen, dass wir mehr denn je miteinander und füreinander einstehen. Wenn wir das beherzigen, werden wir aus der Krise kommen. Herzlichen Dank. ({29})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Fraktionsvorsitzenden der AfD, Frau Dr. Alice Weidel. ({0})

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Kollateralschäden Ihrer Coronapolitik sind jetzt schon größer als die Schäden, die das Virus selbst anrichtet. Den größten Schaden haben Sie unserer Wirtschaft, unserem Mittelstand und unserer Rechts- und Verfassungsordnung durch das Dritte – sogenannte – Bevölkerungsschutzgesetz zugefügt. In rekordverdächtiger Eile haben Sie sich einen Blankoscheck für fundamentale und einschneidende Grundrechtseingriffe ausstellen lassen. ({0}) Dagegen haben die Menschen letzte Woche demonstriert, die Sie mit Wasserwerfern und Gewalt aufgerieben haben – ein Tiefpunkt für die demokratische Verfasstheit unseres Staates. ({1}) Notstandsmaßnahmen müssen klaren, überprüfbaren und streng begrenzten Kriterien folgen und enger parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Sie aber haben einfach Ihre zweifelhaften Maßnahmen in ein Gesetz hineingeschrieben, damit Sie möglichst, von Gerichten nicht belästigt, weitermachen können wie bisher. Das Parlament ist auch weiterhin Zaungast. Wieder hat also eine von der Verfassung nicht vorgesehene Kungelrunde aus Kanzleramt und Ministerpräsidenten im virtuellen Hinterzimmer getagt, ({2}) und wieder hat diese Runde Beschlüsse ausgehandelt, die tief in das Leben und in die Rechte von Bürgern und Unternehmen eingreifen. Was Sie den Bürgern zumuten, ist inkonsistent, widersprüchlich, von zweifelhaftem Nutzen und durchtränkt vom undemokratischen Geist obrigkeitsstaatlicher Bevormundung. ({3}) Es geht den Staat schlichtweg nichts an, wer in seinen privaten Wohnräumen wann wen trifft und mit wem und in welchem Rahmen jemand Weihnachten mit der Familie, Angehörigen oder engen Freunden feiert. Das ist ungehörig, und das ist übergriffig. ({4}) Begreifen Sie wirklich nicht, wie herablassend und verletzend es auf erwachsene mündige Bürger wirkt, wenn der Staat Gouvernante spielt und sich anmaßt, gnädig zuzuteilen, was an Festtagen noch erlaubt sein soll und was verboten? Die staatliche Einmischung in Privatangelegenheiten und Familienleben vergiftet das gesellschaftliche Klima und fördert Erscheinungen wie Spitzeltum und Denunziation, ({5}) so wie Anfang der Woche im Söderland Bayern, als die Polizei auf einen Hinweis hin ein Rentnerkaffeekränzchen stürmte. Ganz ehrlich, unsere Polizeibeamten haben wirklich Besseres zu tun. ({6}) Keinem vernünftigen Menschen kann man das Chaos erklären, in das Sie Schulen und Bildungseinrichtungen stürzen, obwohl die Infektionsgefahr, die von ihnen ausgeht, nur gering ist. Statt zu lernen, müssen Kinder sich mit fragwürdigen Maskenpflichten herumschlagen und in ständig gelüfteten Klassenzimmern frieren. Hat irgendjemand bei diesem planlosen Geschacher um Ferienverlängerungen an die Eltern gedacht, die oft gar keine zusätzlichen Urlaubstage übrig haben, um sich um ihre Kinder zu kümmern? Wer soll verstehen, dass es in Ordnung sein soll, in vollen Bussen und U-Bahnen zur Arbeit zu fahren, aber das Essen in Gaststätten mit weit auseinanderstehenden Tischen ein untragbares Risiko sein soll? ({7}) Was ist das für ein Treuebruch gegenüber all den Gastronomen, Einzelhändlern, Selbstständigen und kleinen Gewerbetreibenden, die bislang die Zähne zusammengebissen und durchgehalten haben? Viele haben in gutem Glauben nicht wenig investiert, um Hygienekonzepte umzusetzen, nur um sich wieder in einem Lockdown wiederzufinden. Dieser Lockdown wird viele endgültig um ihre Existenz bringen und lässt den Einzelhandel in verödeten Innenstädten am ausgestreckten Arm verhungern. Die Regierung bestraft also genau diejenigen, die alles richtig gemacht haben. ({8}) Dabei geben nicht einmal die Zahlen des RKI einen Beleg dafür her, dass das Schließen der Gastronomie nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen hätte. Lockdowns ohne Ende stärken den Staatssektor und zerstören auf Dauer den Mittelstand und die Vielfalt selbstständiger Gewerbetreibender und Freiberufler, auf denen die Stärke unserer Marktwirtschaft beruht. Gerade deshalb kommt es auf Eigenverantwortung der Bürger an, wenn wir einen Weg finden wollen, mit dieser Situation umzugehen. Dauergängelung durch den Staat ist wirklich keine Lösung. Unterschätzen Sie die Bürger nicht, und überschätzen Sie sich selbst nicht! ({9}) Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens aufrechterhalten und investieren, die Kapazitäten, wo erforderlich, ausbauen und die Funktionsfähigkeit sicherstellen. Darüber hinaus – darauf habe ich bereits im März hingewiesen – muss er Vorkehrungen für den Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen und des medizinischen Personals treffen. Rechtzeitige Prävention wäre der richtige Weg gewesen. ({10}) Krisenbewältigung verlangt nüchterne, verlässliche Informationspolitik und muss auf klare, nachvollziehbare Kriterien gegründet sein. Das bekommen Sie bis heute nicht hin. Vor allem aber brauchen wir einen offenen, ehrlichen und unaufgeregten Dialog über das, was zu tun ist, ({11}) und zwar bevor die Entscheidungen fallen und nicht nachher, so wie wir das heute hier tun. ({12}) – Es ist mir schon klar, dass Sie das trifft. ({13}) In diese Debatte müssen alle sachlichen und gesellschaftlichen Positionen und Belange einfließen, ({14}) und nicht nur diejenigen, die der Kanzlerin und einigen Ministerpräsidenten genehm sind. Kehren wir also zurück zur demokratischen Normalität. ({15}) Vielen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz sind angemessen, nachvollziehbar und lebensnah. Meine Fraktion unterstützt die Ergebnisse. ({0}) Es war richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Woche noch abzuwarten. Wir brauchten Klarheit über die Folgen der Beschlüsse, die wir Anfang dieses Monats gefasst hatten. Wir mussten wissen, wie sich die Zahlen entwickeln, und wir müssen leider feststellen: Die Zahlen bleiben zu hoch. Die Intensivkapazitäten und das Gesundheitssystem werden wahrscheinlich noch zusätzlich belastet. Und deswegen, meine Damen und Herren, war das der Zeitpunkt, so zu handeln. Deswegen will ich auch sagen: Die Überlegungen, die gestern und in den Tagen zuvor angestellt worden sind, sind immer eine Güterabwägung, nicht mehr und nicht weniger. Ich möchte davor warnen, zu glauben, dass es die eine Entscheidung gibt, die alles besser macht. Diese eine Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es nicht. Andere Länder in Europa haben dies in diesen Wochen schmerzlich feststellen müssen. Bei der Bewertung dieser Ergebnisse gelten die Schlüsselbegriffe fort: Verhältnismäßigkeit auf der einen Seite und Verantwortung auf der anderen Seite. Ich bin der festen Überzeugung, dem wurde gestern Rechnung getragen. Bedrückend, meine Damen und Herren, ist die große Zahl der Menschen, die infolge bzw. an dem Virus gestorben sind. Hinter dieser Zahl verbergen sich tragische Momente. Sie werden weder durch Zynismus noch durch absurde Vergleiche kleiner. ({1}) Ich muss sagen, Kollegin Weidel, der Tiefpunkt in der vergangenen Woche war nicht der Beschluss eines wichtigen Infektionsschutzgesetzes, ({2}) der Tiefpunkt in der Geschichte der parlamentarischen Demokratie war Ihr Verhalten. ({3}) Sie haben es erlaubt, dass es einen Angriff auf ein Verfassungsorgan gegeben hat. ({4}) Ich kann nur noch mal sagen: Sie sind nur noch provokativ und bösartig. Anders ist Ihre Politik nicht mehr zu erklären. ({5}) Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Zuversicht ist angebracht. Frau Bundeskanzlerin hat dies gesagt. Ich will an erster Stelle an die vielen, an die Mehrzahl der Menschen erinnern, die bereit sind, vernünftige Regeln, wenn sie dann erklärt werden, einzuhalten. Solidarität und Nachbarschaften existieren fort, und die Menschen werden auch in den nächsten Tagen und Wochen vor dem Weihnachtsfest zeigen, dass Solidarität in diesem Land möglich ist. Die wichtigste Nachricht, die wir in den letzten Tagen erhalten haben, ist doch, dass es offensichtlich Impfstoffe gibt, die schützen, und dass sie bald zur Verfügung gestellt werden können. Deutsche Wissenschaftler, deutsche Kenntnisse, deutsches Wissen waren mit dafür verantwortlich, dass wir diese Hoffnung bekommen haben. Das bestätigt doch noch mal, dass dieses Land es schaffen kann, sich auch aus dieser Krise herauszubewegen. ({6}) Die entscheidende damit verbundene Botschaft ist, dass wir gleichzeitig gesagt haben, dass wir nicht dem nationalen Reflex nachgeben, sondern auf internationale Hilfe setzen, dass wir im Rahmen einer Impfstoffallianz helfen wollen, damit eben auch die Menschen in anderen Ländern, die nicht diese Voraussetzungen haben, in Zukunft über diesen Impfstoff verfügen. Das ist gelebte internationale Solidarität, meine Damen und Herren. ({7}) Ich sage auch: Die Vorbereitungen zur gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz waren überzeugend und weitgehend konstruktiv. Es gab wenige öffentliche Zwischenrufe, zumindest waren sie auf nur wenige hyperaktive Akteure begrenzt. ({8}) Das gibt auch Grund zur Hoffnung. Deswegen sage ich: Es gibt Ernsthaftigkeit in den Beratungen, auch wenn sie gestern etwas länger gedauert haben. Aber das zeigt doch – ich sage es noch mal –, dass es wichtig gewesen ist, in einem System, das die föderale Machtbegrenzung kennt, zu Verbindlichkeit und Rechtssicherheit zu kommen. Deswegen will ich mich noch mal dafür bedanken, dass es in der letzten Woche gelungen ist, in einem breiteren Konsens Rechtssicherheit und letztlich Verbindlichkeit herzustellen, nämlich beim Bevölkerungsschutzgesetz. Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die trotz mancher Bedenken am Ende diesem Gesetzentwurf zugestimmt hat. Ich hätte mir gewünscht, dass auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, das getan hätten. ({9}) Bei uns war der Ministerpräsident Ramelow, der einige Wochen vorher um diese Rechtssicherheit gebeten hat. Ich bin dankbar, dass das Land Thüringen am Ende im Bundesrat diesem Gesetz zugestimmt hat. ({10}) Ich sage zum Schluss: Ich glaube, dass wir gerade durch die Herstellung dieser Möglichkeiten, dieser Beschlüsse, aber auch durch großzügige Hilfen Hoffnung schöpfen können. Gleichzeitig wollen wir die soziale Demokratie in Deutschland erhalten. Das machen die Maßnahmen deutlich: auf der einen Seite für den Arbeitsmarkt, aber auf der anderen Seite auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich bin überzeugt, dass wir im Rückblick – hoffentlich – erkennen werden, dass wir verantwortungsvoll und mit dem richtigen Maß gehandelt haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ernsthaften gesundheitlichen Risiken der Coronapandemie bestehen fort. Die Infektionszahlen sind unverändert hoch, und leider müssen wir auch schwere Krankheitsverläufe und tödliche Krankheitsverläufe beklagen. In dieser Lage kann es keinen Zweifel geben, dass die Beschränkung unserer Kontakte, das Tragen von Masken und das Halten von Abständen genauso wichtig sind, wie die Beachtung der Regeln zur Hygiene notwendig ist. Unser aller Disziplin entscheidet über den Gang dieser Pandemie. Deshalb stimmen Regierung und Opposition überein beim Appell an die Bevölkerung, das Leben weiter mit Verantwortungsgefühl, mit Vernunft und gegenseitiger Rücksichtnahme zu führen. ({0}) Der bayerische Ministerpräsident Söder hat gestern die tägliche Zahl der durch und mit Corona Verstorbenen mit Flugzeugabstürzen verglichen. Zu diesem Sprachbild mag sich jeder seine Meinung bilden. Den Blick auf die besonders Gefährdeten zu richten, ist aber notwendig. Aus Hessen haben wir die Statistik gehört, dass zwei Drittel der Sterbefälle Pflegeeinrichtungen zugeordnet werden mussten. Generell konzentriert sich das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs auf ältere Menschen und Menschen mit einer Vorerkrankung. Letzte Woche habe ich meine 91 Jahre alte Oma besucht, in einer Einrichtung. Natürlich wurde auf alles geachtet: Maske, Abstand, man musste sich anmelden. Und dennoch war der Unterschied zu einer Medienproduktion augenfällig, zu der ich ebenfalls jüngst eingeladen worden war. Dort wurden die Teilnehmer nämlich zuerst in einer Schleuse separiert und einem Schnelltest unterzogen, und zwar zusätzlich zu Abstand und Maske. Ich behaupte nicht, dass die gesamtstaatliche Krisenstrategie die vulnerablen Gruppen vergisst. Aber im Kern ist doch der Ansatz, mit großem Aufwand, mit hohen Kosten, mit besonderer Strenge in der Breite Maßnahmen zu verhängen, um ein Übergreifen auf besonders Gefährdete zu verhindern. Von der Wirksamkeit beispielsweise eines Böllerverbots bin ich dabei allerdings nicht überzeugt und auch nicht von der diskutierten pauschalen Halbierung des Schulunterrichts – was in dieser Form abgewendet werden konnte. Die Qualität der Coronapolitik misst sich nicht an der Strenge der Verbote oder an der Höhe der Schulden für Finanzhilfen – die Qualität der Coronapolitik muss sich daran bemessen, wie gut sie die wirklich Gefährdeten schützt, ({1}) und hier besteht Nachholbedarf. Wie wäre es daher, die beschworene nationale Kraftanstrengung darauf zu konzentrieren, einen Schutzschirm für besonders gefährdete Menschen aufzuspannen? Ja, das ist ein großer Teil der Bevölkerung; allein 850 000 Menschen sind in stationären Pflegeeinrichtungen. Frau Merkel hat die vom Gemeinsamen Bundesausschuss genannte Zahl – 27,35 Millionen Menschen – ebenfalls erwähnt. Die Herausforderung ist fraglos groß; sie ist auch deshalb groß, weil ja aus Schutz nicht Isolation werden darf. Dennoch: Kosten und Aufwand wären gerechtfertigt, weil wir dort die schweren Krankheitsverläufe sehen und weil es zugleich ein Baustein sein könnte, um insgesamt wieder mehr öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu öffnen. ({2}) Nicht ohne Regeln, aber mit klar definierten und behördlich überwachten Regeln wäre es eine Chance für Teile der Gastronomie, für die Kultur und den Sport und andere Betriebe. FFP2-Masken werden jetzt zur Verfügung gestellt, Testkapazitäten auch. Aber dabei und darüber hinaus wäre mehr möglich und nötig. Wir bieten gerne einen Gedankenaustausch darüber an, was Bund, Länder, Gemeinden und Zivilgesellschaft zum Schutz vulnerabler Gruppen noch zusätzlich auf den Weg bringen könnten. Stattdessen gibt es nun aber verlängerte und neue Einschränkungen, beispielsweise im Handel. Die einst von den Gerichten verworfene 800-Quadratmeter-Regel ist in neuer Form zurück. Zukünftig stehen die Menschen also eng im Bus nebeneinander und danach in der Schlange vor dem Geschäft, um hernach, nach dem Einlass, 20 Quadratmeter für sich allein zu haben. Ist das sinnvoll? Wo ist die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass das Virus mit zunehmender Verkaufsfläche gefährlicher wird? Frau Merkel, Sie haben über die Maskenpflicht gesprochen. Natürlich bringt die Alltagsmaske keinen Ausschluss eines jeden Risikos. Aber es geht auch nicht um das Risiko null, sondern es geht um das verantwortbare Risiko. Und wenn man die Alltagsmaske für ein nicht verantwortbares Risiko hält, dann müssen wir die Bevölkerung flächendeckend mit medizinischen Masken ausstatten können. ({3}) Oder wie wäre es, wenn wir für die besonders Gefährdeten Taxigutscheine ausgeben würden, damit sie nicht mit dem Bus fahren müssen, oder exklusive Zeitfenster für den Einkauf ermöglichen würden? ({4}) Unsere Befürchtung ist jedenfalls, dass Ihre Maßnahmen nur ein Beitrag zur Verödung der Innenstädte und zur Erhöhung der Marktanteile von Amazon sind, ohne für die Pandemiebekämpfung wirklich wirksam zu sein. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung prägt die gesamtstaatliche Krisenstrategie. Sie tut dies teilweise mit anderen Ansätzen, als wir sie empfehlen würden. Ich habe in den letzten Tagen wahrgenommen, dass die Unionsfraktion sich stärker in die Krisenbewältigung einschaltet und dabei eher auf Verschärfung drängt. Es kann also kein Zweifel bestehen, dass die Krisenpolitik der Regierung voll parlamentarisch durch die Mehrheit legitimiert ist, und das akzeptieren wir. Aber dann müssen Sie auch die Konsequenzen aus Ihrer Politik vollständig ziehen. Sie haben zumindest die Kompensation der Schäden durch Hilfen angekündigt. Von der Novemberhilfe ist indessen aber noch nichts ausgezahlt. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit sollten also die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die nun notwendigen Dezemberhilfen unbürokratisch fließen, am besten dadurch, dass nicht ein neues Antragsverfahren für den Dezember erfolgt, sondern die Novemberhilfe einfach verdoppelt ausgezahlt wird. ({6}) Unverändert bliebe zudem richtig, die Verluste des Jahres 2020 bei der Steuer mindestens gegen die Gewinne der Jahre 2019 und 2018 voll anzurechnen. Die Regierung und die sie tragende Mehrheit müssen der Bevölkerung zudem die Frage beantworten, unter welchen Bedingungen und wie und wann der Stillstand im Land aufgehoben werden kann. Der Gesundheitsminister hat gesagt, das Virus habe eine lange Bremsspur. Umgekehrt gilt aber auch, dass das erneute Hochfahren des Landes einen Anlauf benötigt, etwa in der Kultur. Stillstand geht sofort, Neustart braucht Vorbereitung. Es wurde im Vorfeld der gestrigen Bund-Länder-Runde angekündigt, es werde eine langfristige Gesamtstrategie vorgelegt, die Planbarkeit erlaubt. Das Resultat ist dagegen hinsichtlich der Langfristigkeit auch ernüchternd. Unsere Befürchtungen – hier Ende Oktober vorgetragen – haben sich bewahrheitet: Aus dem Novemberwellenbrecher, zeitlich eng befristet, ist ein Dezemberstillstand geworden. Und wie lange muss dieser dauern, bis wir von der aktuellen Inzidenzzahl auf unter 50 oder sogar auf unter 35 kommen? Im Januar sicher nicht. ({7}) Eine hinreichende Zahl von Impfungen werden wir vermutlich auch im Frühjahr nicht erreichen. ({8}) Der Kanzleramtsminister sagte nach der Runde im Kanzleramt heute Morgen in den Medien, dass man bis mindestens März mit diesem Stillstand rechnen müsse. Gibt es demnach dann auch im Januar, Februar und März Hilfen aus dem Bundeshaushalt für die von Schließung betroffenen Unternehmen? Heute ist eine Bereinigungssitzung für den Bundeshaushalt 2021, und am Morgen dieser Bereinigungssitzung wird angedeutet, dass der Stillstand bis März 2021 andauern könnte, vielleicht sogar noch länger. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Pandemiebekämpfung explodieren. Jedenfalls ist das keine langfristig durchhaltbare Strategie, die Sie verfolgen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf Anmerkungen zum gestrigen Gipfel. Lassen Sie mich als erste Anmerkung einfach noch mal Dank aussprechen – weil man das gar nicht oft genug sagen kann –: Viele Menschen in diesem Land kämpfen, viele Menschen in diesem Land kämpfen erfolgreich, und gerade in den letzten vier Wochen gab es eine besondere Belastung auch für viele Branchen. Das waren nicht nur die Gastronomen, das waren nicht nur die Hotelbesitzer, sondern – wir kriegen das hier als Abgeordnete täglich mit – das waren die Brauereien, das war der Einzelhandel, das waren viele, viele Zulieferer für diese Bereiche. Sie haben echt eine Last, wie die Bundeskanzlerin gesagt hat, auch für das ganze Land getragen, und dafür müssen wir einfach noch mal Danke sagen an dieser Stelle. Das ist nicht selbstverständlich. ({0}) Ich möchte auch noch mal Danke sagen an die Menschen, die im Ehrenamt tätig sind, im Sport und im Kulturbereich, die jetzt auch alles runterfahren mussten und die versuchen, irgendwie diese Zeit zu überbrücken und zu überwinden. Auch da ist Großartiges geleistet worden – wie übrigens auch vom Großteil der Bevölkerung, die unglaublich diszipliniert mit einem unglaublichen Beharrungsvermögen mitmacht. Was ich sehr, sehr schade finde, meine Damen und Herren, ist, dass die kleine, aber laute Minderheit in der Öffentlichkeit mehr vorkommt als die übergroße Mehrheit der Menschen, die dieses Konzept mitträgt. ({1}) Natürlich ist Widerspruch in einem demokratischen System notwendig; das ist klar. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass die Grenze zwischen Widerspruch, der notwendig ist, und dem politischen Geschäftsmodell, das daraus gemacht wird, ziemlich verschwommen ist. ({2}) Das finde ich sehr, sehr schade, und das finde ich sehr, sehr unangemessen, weil es der Situation überhaupt nicht angemessen ist und überhaupt nicht passt. ({3}) Zweite Bemerkung. Am Ende entscheiden die Zahlen, und die Zahlen sind immer noch schlecht. Ja, sie sind besser geworden. Ja, wir haben den Anstieg der Dynamik gestoppt. Aber trotzdem reicht es nicht. Wer sich heute Morgen die RKI-Zahlen und insbesondere die Zahl der Menschen, die gestorben sind, angeguckt hat, der weiß: Wir sind noch lange nicht am Ende beim Kampf gegen die Pandemie, ({4}) auch wenn der eine oder andere da was anderes behauptet, meine Damen und Herren. Dieser Kampf geht auch ins medizinische System hinein. Ich weiß nicht, wer von Ihnen Kontakte zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem medizinischen System gehabt hat. Die machen sich Sorgen, in den Hausarztpraxen, die Helferinnen, die Krankenpfleger, die Ärzte und insbesondere die Menschen, die jeden Tag diesen Dienst auf den Intensivstationen leisten. Auch dafür ein Dankeschön! Auch ihnen sind wir es schuldig, dass wir diese Pandemie bekämpfen, meine Damen und Herren. ({5}) Deswegen ist es auch richtig, dass sich die Ministerpräsidenten gestern mit der Bundesregierung getroffen haben, um Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Ganz ehrlich – ich weiß, es lag nicht an der Bundesregierung –, ich hätte es mir zwei Wochen früher gewünscht. Hier haben wir zwei Wochen verloren; auch das gehört zur Wahrheit dazu. Aber gut, dass was geschehen ist. Dritte Bemerkung. Was ist die Währung, die im Kampf gegen die Pandemie entscheidend ist? Das ist natürlich die Reduktion von Kontakten. Wenn wir uns darüber einig sind, dass die Reduktion von Kontakten Infektionen vermeidet, weil wir aufgrund der Zahlen nicht mehr jeden Einzelfall nachverfolgen können, weil wir nicht mehr bei jedem Einzelfall wissen, wo sich die Leute angesteckt haben, dann haben wir drei Bereiche, wo wir Kontakte reduzieren können: Der erste Bereich ist die Wirtschaft, von der Fabrik bis zum Einzelhandel. Zu dem zweiten Bereich, Schule und Kita, sagen wir zu Recht: Wir wollen die Schulen und Kitas so lange wie möglich offen halten. Und der dritte Bereich ist der Freizeit- und Privatbereich. Wenn ich im ersten Bereich – Wirtschaft – und im zweiten Bereich – Schule und Kitas – so viel wie möglich offen halten möchte, dann muss ich im dritten Bereich die Kontakte reduzieren. Das ist eine sehr einfache Rechnung. Deswegen sind diese Maßnahmen, die beschlossen worden sind, auch richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Bei der vierten Bemerkung geht es um die Bewertung der gestern beschlossenen Maßnahmen im Einzelnen. Verlängerung der Maßnahmen: Ja, das ist richtig, und das ist notwendig. Ich habe schon Anfang November gesagt, dass wir keine Garantie haben, dass wir im Dezember die Maßnahmen nicht verlängern müssen. Das wurde nicht gerne gesehen. Es war aber leider wahr. ({7}) Was ich mir gewünscht hätte, wäre vielleicht, dass man nicht um jeden Quadratmeter – bei allem Verständnis für den Einzelhandel – gefeilscht hätte. Ich weiß nicht, ob das am Ende richtig war. Was ich mir vor allen Dingen gewünscht hätte, wäre, dass wir die sogenannte Hotspot-Strategie ein bisschen einheitlicher organisiert hätten, als das gestern im Papier der Fall war. Denn eines ist auch richtig: Ein Landkreis, der ein Hotspot ist, trägt nicht nur die Verantwortung für die eigene Bevölkerung, sondern auch für die Nachbarlandkreise, für die Nachbarbundesländer. Insofern ist es eine überregionale Aufgabe, diese Hotspots einzudämmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Ein weiterer Bereich – da sind zusätzliche Maßnahmen auf den Weg gebracht worden – sind die Wintermaßnahmen. Darüber, ob die jetzt erst zum 1. Dezember kommen sollten oder nicht vielleicht schon früher hätten in Kraft treten müssen, kann man sich streiten. Es ist richtig, dass wir die Zahl der Kontakte noch mal reduzieren. Und es ist richtig, dass die Maskenpflicht noch mal erweitert wird. Insofern waren das gestern gute Beschlüsse. Dann ist auch über Weihnachten gesprochen worden; ein unglaublich emotionales Thema: Weihnachten als Fest der Familie. Ich würde mir wünschen, dass auch mal mehr über Weihnachten als christliches Hochfest geredet würde; aber okay, das ist vielleicht schwierig. Das hat eine Bedeutung. Und natürlich ist es gut, dass gesagt wird: Ja, wir wollen da mehr Kontakte zulassen. – Ich finde es aber ambitioniert, das heute schon zu versprechen, weil wir nicht wissen, wie sich die Situation im Dezember entwickeln wird. Und ob man Weihnachten und Silvester zusammen mit Lockerungen belegen muss, weiß ich nicht. Das ist ein doppeltes Risiko. Und ganz ehrlich, meine Damen und Herren: Wir sind in der schwersten Krise in dieser Republik seit 75 Jahren. Da ist es wohl auch mal zumutbar, dass man Silvester nicht böllert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Dementsprechend sollte man wirklich gucken, über was man sich an der einen oder anderen Stelle unterhält. Jetzt kommen wir zu dem Bereich Schule. Wir alle wollen die Schulen und Kitas so weit wie möglich offen halten. Da sind wir uns auch, glaube ich, alle einig. Aber zwischen „offen halten“ und „ganz schließen“ gibt es Zwischenstufen. Dazu gehört Wechselunterricht. Dazu gehört ein vernünftiges Schulbusmanagement. Dazu gehören auch Konzepte für das Distanzlernen. Die Bundesländer – es tut mir leid, wenn ich das jetzt sagen muss – hatten monatelang Zeit und Geld dafür, das umzusetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Dementsprechend würde ich mich wirklich freuen, wenn wir im Bereich Schule noch etwas differenzierter an die ganze Sache herangehen; denn ich glaube, da ist noch Potenzial. Ich finde es gut, dass wir über vulnerable Gruppen, wie es so schön heißt, reden. Sie sind ja übrigens viel größer, als das hin und wieder dargestellt wird. Es ist gut, dass es Masken für diese vulnerablen Gruppen gibt. Trotzdem finde ich: Wir haben noch keine flächendeckende, überzeugende Strategie für Pflegeheime. ({11}) Das ist einfach so. Wir haben keine flächendeckende, überzeugende Strategie für Schnelltests. Auch das ist einfach so. Und wir brauchen ganz schnell – der Bundesgesundheitsminister hat angekündigt, dass das jetzt erfolgt – eine Strategie, wer zuerst geimpft wird; denn das sind die Fragen, die die Menschen – mir zumindest – im Wahlkreis stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Kommen wir zu einem weiteren Bereich: die Rolle das Parlamentes. Ich glaube, in den Sachmaßnahmen ist die Rolle des Parlamentes angemessen. Wir haben die Gesetze beschlossen, im Rahmen derer die Bundesregierung und die Landesregierungen handeln können. Wir haben die Gesetze durch das Infektionsschutzgesetz noch mal geschärft. Wir debattieren darüber nicht nur heute hier, sondern wir haben mehr als 70-mal über dieses Thema debattiert. Insofern ist das auch alles in Ordnung. Aber es gibt einen Bereich, Frau Bundeskanzlerin – das gilt auch für die Bundesratsbank bzw. die Länder –, der nicht in Ordnung ist: dass dort finanzielle Beschlüsse getroffen werden, ohne den Bundestag zu konsultieren. Das Haushalts- und Budgetrecht hat der Deutsche Bundestag. Ich frage mich, auf welcher Rechtsgrundlage dort entschieden wird, dass Hilfen verlängert werden. ({13}) Ich will nicht in Zweifel stellen, dass Hilfen verlängert werden; das ist überhaupt keine Frage. Wir wollen diese Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern auch nicht auf Kosten der Gastwirte und Hoteliers austragen. Aber ich finde es nicht in Ordnung, wie die Lastenteilung im Bereich Finanzen zwischen Bund und Ländern ist. ({14}) Die Länder und die Kommunen kriegen über die Hälfte der Steuereinnahmen. Ich erwarte von den Ländern, dass sie sich jetzt endlich mal finanziell in diese Sache einbringen und nicht immer nur Beschlüsse fassen und die Rechnung dann dem Bund präsentieren. Das ist schlichtweg nicht in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({15}) Kommen wir zur letzten und fünften Anmerkung; das ist nämlich die entscheidende. Reicht das alles? Erst mal muss man eines sagen: Diejenigen, die da gestern gesessen haben, diejenigen, die auch in den letzten Wochen gerungen haben, tun das mit viel Verantwortung. Ich habe großen Respekt davor. Ich habe auch großen Respekt vor der föderalen Ordnung, und ich habe großen Respekt vor der Arbeit der Ministerpräsidenten. Es ist gestern mal das passiert – zumindest weitestgehend –, was wir immer angemahnt haben, nämlich dass es Einigkeit gab. Das ist gut, und das ist richtig. Aber trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass die Maßnahmen nicht ausreichen, um diese Welle wirklich nachhaltig zu brechen und die Zahlen nach unten zu treiben. Ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren. Ich persönlich hätte mir konsequentere Maßnahmen gewünscht; denn eines ist nämlich auch richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dieses scheibchenweise Immer-einen-Draufsetzen zermürbt uns doch alle. Wir müssen jetzt eines hinkriegen: dass wir schnell aus dieser Krise herauskommen, dass wir konsequent herauskommen, dass wir das Licht am Horizont sehen und konsequent darauf zulaufen. Das ist natürlich schwierig, weil es Widerstände gibt. Das ist auch aus politischen Gründen schwierig. Es gibt die eine oder andere Landesregierung, die eine problematische Koalition hat. ({16}) Das ist alles richtig. Es ist schwierig, weil es Widerspruch gibt. Und es ist schwierig, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil man den Menschen was zumuten muss. Aber eines ist auch richtig: Führen in der Krise heißt eben auch, den Menschen was zuzumuten. Danke schön. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In großer Regelmäßigkeit wird darüber geredet, dass wir vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind. Ja, ich würde sagen, das stimmt für einige sehr. Es ist so, dass man feststellen kann: Je höher die Einkommen, desto besser kommen die Menschen durch die Krise. Nehmen Sie das wirklich empörende Beispiel der Supermarktketten. Die Löhne der Kassiererinnen und Kassierer, denen wir alle hier im Frühjahr Applaus gezollt haben, die wir als Heldinnen und Helden bezeichnet haben, sind trotz der Rekordumsätze gefallen, und bei Lidl, Aldi und Co gab es frische Milliarden Euro auf die Konten. Das ist unfassbar, meine Damen und Herren. ({0}) Der Bundespräsident ruft auf, dass das Virus das Land nicht spalten möge. Er wird Gründe dafür haben. Wir leben jetzt seit fast einem Jahr mit der Krise. Die Bundeskanzlerin sagt: Wir wissen mehr. – Rolf Mützenich sagt: Es gibt nicht nur die eine Maßnahme. – Das ist alles in Ordnung. Aber der Umgang mit der Krise muss doch mit der Zeit professioneller, nachvollziehbarer und vorausschauender werden, und das ist wirklich nicht der Fall. ({1}) Wir erleben vor jedem Beschluss, der von der Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gefasst wird, das gleiche Schauspiel: Da ist der bayerische Ministerpräsident, der den Schlauberger gibt, der Ratschläge erteilt und der immer neue Vorschläge macht. Geplante Maßnahmen kann man dann zuallererst über die Medien lesen – auch ein Verfahren, das völlig inakzeptabel ist –, und dann wird Angst verbreitet. Am Sonntag sagt Herr Söder auf einmal: Maskenpflicht für alle in den Kitas. – Jetzt redet er sogar von einem „Flugzeugabsturz“. Im Gegensatz zu Christian Lindner sage ich hier deutlich: Diese martialische Sprache sollte man in dieser Situation wirklich nicht anwenden. ({2}) Ehrlich gesagt, wenn man das Verfahren sieht, wie hier Politik gemacht und kommuniziert wird: Da fassen sich die Leute doch an den Kopf. So geht das nicht! So wird nicht Vertrauen gewonnen, sondern so wird Vertrauen gestört, meine Damen und Herren. Der bayerische Ministerpräsident scheint genauso wenig die Kontrolle über seine Worte zu haben wie über das Virus in Bayern. Das ist die Wahrheit! ({3}) Dann entscheidet das Gremium der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin. Ja, wir zeigen Respekt gegenüber den Ministerpräsidenten, überhaupt keine Frage. Es ist auch richtig, dass entschieden wird. Aber es wird immer auch über die Einschränkung von Grundrechten entschieden. Es tut mir leid, aber dafür ist dieses Gremium nicht legitimiert – es ist dafür nicht legitimiert! Und der Bundestag darf dann im Nachhinein, also heute, noch ein bisschen darüber debattieren. Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie Ihre Erklärung nicht nach, sondern vor diesen Zusammenkünften abgeben. ({4}) Ansonsten ist das eine Missachtung des Parlaments. Was den Begriff „Regierungserklärung“ angeht, liegt bei Ihnen offensichtlich ein Missverständnis vor. Sie haben hier nicht zu erklären, nein, sondern hier muss Regierungspolitik begründet und gerechtfertigt werden, aber nicht nach dem Motto: Die Klassenlehrerin erklärt uns allen die Welt. – So geht das nicht. Ich freue mich im Übrigen, dass Herr Brinkhaus zu Recht darauf hingewiesen hat, dass hier im Parlament die Hoheit über Finanzentscheidungen liegt. Das kann nicht mal so eben nebenbei passieren. Das, finde ich, geht so nicht, und da muss es Veränderungen geben. ({5}) Ich habe die große Sorge, dass es dank des Bevölkerungsschutzgesetzes, das vergangene Woche hier beschlossen worden ist, bei diesem Vorgehen bleibt und dass es im Dezember noch weniger Debatten hier im Deutschen Bundestag gibt. Ich fordere Sie auf, vor der nächsten Runde hier zu erklären, was Ihre Herangehensweise ist. Es bleibt dabei: Bei schweren Grundrechtseinschränkungen muss der Bundestag entscheiden, egal wie sehr Sie das nervt. Hier ist das Gremium, das darüber entscheidet. Alles andere ist demokratieschädigend, ist inakzeptabel und reduziert das Vertrauen der Bevölkerung in die Akzeptanz der Maßnahme. ({6}) Meine Damen und Herren, nicht nur das Verfahren ist problematisch. Wir erleben zunehmend eine Kluft zwischen dem, was die Bundesregierung leistet, und dem, was Sie den Bürgerinnen und Bürger abverlangen. An zentralen Stellen der Pandemiebekämpfung zeigen Sie sich offensichtlich überfordert. Sie wurden Ihrer Verantwortung in vielen Fragen seit dem Sommer nicht gerecht und schieben alles auf die Bürgerinnen und Bürger und vielfach auch auf das Private. Frau Karliczek, Sie sprechen über warme Pullover in Schulklassen – Wochen nachdem die Kinder schon mit der Situation umgehen müssen. Wo aber sind denn die Luftfilter in den Schulen? ({7}) 9 Milliarden Euro für die Lufthansa und nicht 1 Milliarde Euro für ein Bundesprogramm für Luftfilter, das ist doch nicht in Ordnung! Herr Scheuer, wann sind Sie das letzte Mal Bus oder Bahn gefahren? In den S-Bahnen und in den Regionalbahnen ist so gut wie nichts passiert nach der Pandemie; die sind voll. In den Schulbussen ist teilweise weniger Platz als in Ölsardinenbüchsen. Dass Sie da jetzt endlich etwas tun, dass Sie das entzerren wollen: Na Donnerwetter, kurz vor dem Dezember! Das hätte schon längst passieren müssen! ({8}) Frau Grütters, wann helfen Sie der Kultur? Wann fließt das Geld an die Theater und in die Veranstaltungsbranche? Nach deren Pleite? ({9}) Da herrscht Alarmstufe Rot. Ohne Kultur wird es still und düster in unserem Land, und der Winter, der kommt erst noch. Herr Altmaier – beste Grüße in die Quarantäne; Sie werden sicherlich bei Phoenix der Debatte zuschauen –: Wie lange braucht Ihr Ministerium, um eine Homepage zu programmieren? Offenbar länger, als andere für die Entwicklung eines Impfstoffes brauchen. Sie hatten aber zugesagt, dass das umgehend passiert, und erst gestern ist es umgesetzt worden. Bis heute ist kein Cent ausgezahlt; die Novemberhilfen werden frühestens im Dezember kommen, aber nur als Abschlagszahlung. Was ist denn das für eine Professionalität? Das muss doch schneller gehen. Genauso ist es mit den Restaurantbetrieben. Denen ist Ende Oktober erzählt worden: befristete Schließungen bis Ende November, und Hilfen sofort. Aber beides ist nicht eingetreten. Jetzt wird verlängert. Ich will überhaupt nicht an der Maßnahme zweifeln. Aber: Wer schließt, der muss auch umgehend helfen. Das aber schaffen Sie nicht, und das ist eben nicht in Ordnung. ({10}) Herr Seehofer – nicht nur aufs Handy gucken! –: Ich habe Ihr Ministerium gefragt, wie viele Menschen aus Risikogebieten nach Deutschland eingereist sind und getestet wurden. Antwort: Sie haben keinerlei Kenntnisse. – Wie will man eigentlich die Pandemie bekämpfen, ohne zu wissen, wie viele Menschen aus Risikogebieten ungetestet einreisen? Es sind doch die Grenzregionen, wo wir so große Probleme haben. Das ist für mich unfassbar. Herr Spahn – um ihn auch noch zu erwähnen –: Wann kommen denn nun die flächendeckenden Schnelltests in den Pflegeheimen? Jetzt sollen sichere FFP2-Masken an Risikogruppen verteilt werden. In Bremen ist das im Übrigen schon passiert. Das ist eine richtige Maßnahme. Aber warum sind die Masken nicht vor der zweiten Welle verteilt worden? ({11}) Wo ist die Impfstrategie, die endlich entwickelt und vorgelegt werden muss? Warum erhalten die Pflegerinnen und Pfleger nicht deutlich mehr Geld, damit auch frühere Pflegeaussteiger zurückkommen? Das muss doch möglich sein; da muss man doch die Attraktivität erhöhen! ({12}) Ob in Schulen, in Zügen, in Pflegeheimen oder Krankenhäusern, die Bundesregierung hat in den vergangenen acht Monaten deutlich zu wenig getan. Jedes Theater hat sich besser auf den Coronawinter vorbereitet als die Bundesregierung. ({13}) Appellieren Sie nicht nur, sondern machen Sie Ihre Hausaufgaben; sonst verspielen Sie die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Und das ist unser wichtigstes Gut: nicht die Runde, sondern die Akzeptanz und das Mittun der Bürgerinnen und Bürger. ({14}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben für diese Woche ein mittelfristiges Konzept gegen Corona versprochen; das wollten Sie vorlegen. Ich zitiere Sie: „eine geschlossene, gemeinsame Antwort“, das haben Sie versprochen. Wo ist denn nun der Plan bis zum Frühjahr, über die Krise hinaus? Oder ist es das, was Herr Braun mitteilt: „Bis März bleibt alles zu“? Wir brauchen einen Stufenplan. Wir brauchen für die Menschen Planungssicherheit. Ich weiß, dass man nicht alles prognostizieren kann. Aber wir brauchen wenigstens ein paar Leitplanken, wohin die Entwicklung gehen könnte, festgemacht an Zahlen, und das fehlt hier ausdrücklich. Das geht so nicht. ({15}) Die Menschen in unserem Land handeln vielfach diszipliniert und weitsichtig. Das ist gut, ja. Der Begriff der Solidarität spielt wieder eine andere Rolle in unserem Land, und das ist wirklich gut. Ja, es gibt Hoffnung, auch im Hinblick auf den Impfstoff. Ich sage aber auch ganz deutlich: Die Bundesregierung muss auf dieses Niveau erst noch kommen. Denn nur gemeinsam können wir Corona besiegen. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dunklen Zeiten ist Hoffnung etwas Unerlässliches, und die Hoffnung zeigt sich jetzt das erste Mal in dieser Pandemie als konkrete Perspektive. Voraussichtlich werden noch dieses Jahr mehrere Impfstoffe zugelassen, und das ist für uns alle ein sehr gutes Zeichen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist es gelungen, einen Virus so schnell zu entschlüsseln und so schnell wirkungsvolle Impfstoffe zu entwickeln. Das ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, welche Kraft Forschung und Wissenschaft entfalten kann und wozu wir Menschen fähig sind, wenn wir wollen. ({0}) Das Licht am Ende des langen Tunnels wird heller, wie WHO-Chef Tedros Anfang dieser Woche sagte. Wir werden diese Pandemie überwinden. Wir werden die Dinge zurückgewinnen, die uns lieb und teuer sind: Nähe, Begegnung, Feiern, Reisen und vieles mehr. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, so wie die Entwicklung des Impfstoffs eine wissenschaftliche Großtat war, so wird die Verteilung, insbesondere die globale Verteilung, eine Bewährungsprobe, und zwar eine ganz entscheidende Bewährungsprobe. Es wird sich nämlich die Frage stellen, ob das globale Recht oder Unrecht des Stärkeren gilt oder ob wir die Impfstoffe solidarisch verteilen. ({1}) Da sich die Pandemie so heftig in fast allen Ländern dieses Planeten auswirkt, wird es sich in die Milliarden von Köpfen von Menschen einbrennen, wie wir damit umgehen: Machen wir das solidarisch? Machen wir das gerecht? Machen wir das gemeinsam? Oder machen wir es nach nationalen Egoismen? – Das wird die internationale Ordnung für die nächsten Jahre entscheidend prägen. Wir als reiche Länder, als Westen haben da eine große Chance, für Solidarität zu sorgen. ({2}) Und, sehr geehrte Frau Kanzlerin, es war gut, dass Sie beim G-20-Gipfel davon gesprochen haben, dass es eine gerechte Verteilung braucht. Aber es genügt nicht, das nur anzukündigen, sondern wir erwarten, dass sich Deutschland, dass sich die Europäische Union darum kümmert, dass das wirklich auch der Fall ist; denn es macht einen Riesenunterschied für ärmere Länder, ob sie von Demokratien unterstützt werden oder ob sie in die Fänge von autokratischen Regimen wie Russland oder China geraten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir so gute Chancen haben, in den nächsten Monaten einen Impfstoff zu haben – das wird noch dauern; man muss den produzieren; man muss nach und nach durchimpfen; aber die Perspektive ist erkennbar –, sollte uns das doch alle motivieren, für die restlichen Monate dieser Pandemie auf Solidarität zu setzen, darauf zu setzen, dass man mit den Einschränkungen leben kann, auch wenn es noch so schwerfällt – aus Solidarität mit den schwächeren Gruppen, mit den vulnerablen Gruppen, die, wenn man sie alle zusammenzählt, ein Drittel bis die Hälfte dieser Bevölkerung umfassen. Das, glaube ich, sollte eine Motivation für uns alle sein. ({4}) Wenn ich mir die Infektionszahlen anschaue, dann stelle ich fest, dass durch den sogenannten Wellenbrecher-Lockdown im November, der ein sehr milder war, zwar die exponentielle Entwicklung gebrochen worden ist, dass die Zahlen aber dennoch viel, viel zu hoch sind. Durch die täglichen Neuinfektionen besteht nämlich immer noch die Gefahr, dass unser Gesundheitssystem überlastet wird. Und man kann da nur den Pflegerinnen und Pflegern, den Ärztinnen und Ärzten für das danken, was sie in den immer häufiger volllaufenden Intensivstationen leisten. ({5}) Die Nachverfolgung der Kontakte kann nicht funktionieren bei diesen hohen Zahlen. Es besteht vor allem das Risiko – es ist eigentlich kein Risiko mehr; es ist längst eingetroffen –: Die hohen Zahlen führen zu viel zu viel menschlichem Leid. Es sterben im Moment im Schnitt über 200 Menschen am Tag – gestern sogar 400 Menschen – mit und an Corona. ({6}) Alle diese Menschen haben Angehörige, alle diese Menschen haben Freunde, und es ist einfach viel zu viel menschliches Leid. Tausende und Abertausende infizieren sich und haben schwere Folgen. Dieser Virus ist nämlich nicht einfach nur eine Lungenerkrankung. Es ist ein systemischer Virus, wo man monatelang mit den Folgen kämpfen kann, wenn man Pech hat. Deshalb müssen diese Zahlen endlich runter! ({7}) Insofern sind die Maßnahmen, die ergriffen worden sind, insbesondere die Verlängerung und die Verschärfung, richtig. Klar sind diese Maßnahmen eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag. Sie sind insbesondere hart für die Branchen, die davon betroffen sind: für die Gastronomie, für Kulturschaffende, für die Freizeit- und Tourismusbranche. Selbstverständlich sind die hart. Aber die Maßnahmen sind notwendig, und im Vergleich mit Frankreich oder Italien sind die Maßnahmen auch noch ziemlich mild. Wenn wir mal ehrlich sind: Diese Maßnahmen sind eine ziemliche Gratwanderung. Ich wäre nämlich, meiner naturwissenschaftlichen Intuition folgend, mal sehr vorsichtig, ({8}) ob diese Maßnahmen ausreichen werden, damit die Zahlen ausreichend sinken. Deshalb sage ich: Diese Maßnahmen sind das Mindeste, was notwendig ist, und vor allem müssen diese Maßnahmen konsequent durchgesetzt werden. ({9}) Wir teilen die Priorität, dass Schulen und Kitas offen gehalten werden sollen. Aber dann müssen Schulen und Kitas auch unterstützt werden. Da darf man Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer nicht alleine lassen, ({10}) sondern dann muss man dafür sorgen, dass die Schulen nicht bei der gleichen überlasteten Nummer eines Gesundheitsamtes – ja, das geht auch an die Länder – anrufen müssen wie jemand, der sich Sorgen macht, weil sein Hals ein bisschen kratzt. Man muss dafür sorgen, dass bei den Schulbussen was passiert. Man muss all das organisieren, und da braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung. – Ja, wir sind für Bildung nicht zuständig. Aber es braucht trotzdem eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, dass es in den Schulen besser läuft, dass man die Zeit für Vorbereitungen nutzt. Es sind viele Monate vergangen; aber wenigstens jetzt sollte man die Zeit nutzen, damit Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer nicht weiter alleine gelassen werden. ({11}) Herr Brinkhaus, ich gebe Ihnen ja recht: Wir brauchen einen Stufenplan. Wir brauchen eine Hotspot-Strategie. Das ist viel zu wenig, was da beschlossen worden ist. Das alles ist wieder zu sehr Auf-Sicht-Fahren. Das ist viel zu wenig Planbarkeit und Vorausschau. Wenn Sie das alles so beschreiben, dann bieten wir Ihnen an: Dann beschließen wir es doch hier im Parlament, ({12}) eine Hotspot-Strategie, durch die klar wird, was bei einer Inzidenz von 50 passiert, was bei der Inzidenz von 100 und was bei einer Inzidenz von 200 passiert. Dann beschließen wir das hier gemeinsam und transparent und beschließen es im Bundesrat, damit wir endlich eine vorausschauende Strategie haben. Die Kanzlerin hat es vor zehn Tagen versprochen. Wieder ist nichts umgesetzt worden; wieder finden sich da eh nur allgemeine Worte. Deshalb: Wir sind hier der Gesetzgeber. Ich gebe Ihnen in vielen Punkten recht. Dann lassen Sie uns das gemeinsam beschließen. Lassen Sie uns einen Antrag einbringen. Es ist möglich. Lassen Sie uns das Gesetz verändern, und dann lassen Sie es uns im Bundesrat diskutieren. Bundestag und Bundesrat beschließen all das, was Sie angemahnt haben, hier gemeinsam. Dann setzen wir es um, und dann sind die Möglichkeiten da. ({13}) Es muss nicht noch mal so passieren, dass man die Monate verstreichen lässt. Nach einer zweiten Welle kann es nämlich zu einer dritten Welle kommen. Daher sollte man vorbeugen. Deshalb kann ich Sie nur noch einmal auffordern: Lassen Sie uns das gemeinsam tun! Genauso gehört dazu, dass man gemeinsam diese Hilfen schnell und konsequent beschließt. Ich habe eigentlich keine Zeit mehr. Daher nur noch ganz kurz: Endlich einen Unternehmerlohn, endlich automatische Hilfen, endlich Abschlagszahlungen und endlich Geld, wenigstens temporär, für die Ärmsten in unserem Land. Das heißt für die Hartz-IV-Empfänger eine temporäre Erhöhung. Das wäre einfach sinnvoll und gerecht. Wir geben gerade so viel Geld aus. Geben Sie sich einen Ruck! Ja, wir als Haushaltsgesetzgeber sind auch für diese finanziellen Dinge zuständig. Lassen Sie uns das gemeinsam beschließen. Das würde für die Menschen Planbarkeit und Sicherheit bedeuten. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast, SPD. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde gut, dass wir heute hier diese Debatte führen. Diese Debatte gehört in das deutsche Parlament, in den Deutschen Bundestag; denn Demokratie braucht Debatte. ({0}) Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland. Wir müssen darüber reden, wie wir dieses Land solidarisch zusammenhalten. Wir müssen darüber reden, wie wir Familien im Fokus behalten in dieser Pandemie. Und wir müssen darüber reden, wie wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen können. Genau das tun wir in dieser Debatte, und genau das ist der richtige Zeitpunkt dafür. ({1}) Corona betrifft alle Lebensbereiche; kein einziger Lebensbereich ist ausgenommen. Da gibt es natürlich große Fragen: Es gibt die Frage nach den sozialen Folgen. Es gibt die Frage, ob das Gesundheitssystem alldem standhält. Es gibt die Frage, wie wir Arbeit und Wirtschaft schützen. Und ja, wir fragen uns auch, was Corona für unsere Demokratie bedeutet. Genau der letzte Punkt treibt mich dabei ganz besonders um; alle anderen natürlich auch. Wir erleben doch eine Polarisierung in dieser Gesellschaft. Wir erleben auf der einen Seite, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Maßnahmen steht, die wir in den Parlamenten verabschieden. Sie sagen: Wir finden das richtig; wir gehen diesen Weg mit. – Auf der anderen Seite erleben wir wie in der letzten Woche, dass Tausende von Menschen auf Demonstrationen ihre Sorgen zum Ausdruck bringen – das müssen wir gemeinsam auch ernst nehmen –, wobei diese Demonstrationen aber auch geprägt sind von Gerüchten, von Lügen und davon, dass Rechtsextreme mitdemonstrieren. ({2}) Ich will nur auf ein paar Punkte eingehen, die einfach schlichtweg falsch sind: Da wird von „Impfpflicht“ gesprochen; da wird von „Gleichschaltung der Parlamente“ gesprochen; da wird von „dauerhafter Aussetzung der Grundrechte“ gesprochen. Das alles ist falsch: F – A – L – S – C – H! ({3}) Wir müssen diese Dinge hier auch aussprechen, um gemeinsam klare Linien zu ziehen. Ja, auch die AfD verbreitet diese Falschmeldungen. Sie tut das auch hier im Parlament. Und wenn die AfD Menschen die Hand reicht, damit frei gewählte Abgeordnete im Deutschen Bundestag durch sie bedrängt und auf dem Weg zu wichtigen Entscheidungen unter Druck gesetzt werden, dann reicht es nicht, dass man sich hier entschuldigt; dann erwarte ich, dass es in der AfD Konsequenzen gibt. Die gibt es nicht. ({4}) Also versammelt man sich dahinter, dass es hier Angriffe auf das Verfassungsorgan gab. ({5}) Das, was da passiert ist, zersetzt unsere Demokratie. ({6}) Während Sie von der AfD pöbeln und aufwiegeln, suchen wir hier nach Lösungen, und wir sind Problemlöserinnen und Problemlöser in unterschiedlichen Funktionen, in unterschiedlichen Rollen. Aber darum geht es: Es geht darum, Lösungen für Probleme zu finden, damit dieses Land solidarisch zusammenbleibt. Das unterscheidet uns fundamental von Ihnen. ({7}) Ja, wir halten dieses Land zusammen. Mit dem Kurzarbeitergeld schützen wir Arbeitsplätze und Arbeit. ({8}) Mit dem Überbrückungsgeld und den Überbrückungshilfen schützen wir Existenzen. So sorgen wir auch konkret für die Familien. Wir wissen, dass Familien dieses Land durch die Krise tragen. Sie sind die kleinste Keimzelle der Solidarität. Deshalb ist das ja so wichtig. Wir wissen auch, wie es ist, wenn Kinder jetzt nur wegen einem kleinen Schnupfen zu Hause bleiben müssen und nicht mehr in die Schule oder in die Kita gehen können. Wir müssen daher dafür sorgen, dass die Eltern unsere Unterstützung haben – weit über das hinaus, was vor Corona möglich war. Das alles haben wir gemeinsam berücksichtigt bei der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes. Ich glaube, es ist so wichtig, dass wir klarmachen, was da eigentlich sonst noch so drinsteht. Wir wissen, Familien wollen Weihnachten feiern. Wir alle wollen Weihnachten feiern, und zwar nicht nur, weil es ein christliches Fest ist, sondern weil es in Deutschland eine Tradition ist, eine Zeit der Stille, der Familien, der Besinnung, der Gemeinschaft und der Solidarität. Es ist unsere Aufgabe, dafür einen Rahmen zu schaffen. Das wurde gestern getan, und das finde ich auch gut so. Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam gestärkt aus dieser Krise herauskommen können, wenn wir solidarisch zusammenhalten, wenn wir die Probleme lösen, auf die Corona den Scheinwerfer wirft, zum Beispiel bei den Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie; um mal ein anderes Thema anzusprechen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Redezeit vorüber ist.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Satz noch. Danke. – Wenn wir die Prioritäten auf eine gerechte Gesellschaft legen und die Pflegenden, die Paketzusteller und die Verkäuferinnen in den Fokus rücken, dann ist das eben kein Stillstand, sondern ein solidarisches Miteinander, das wir gemeinsam organisieren müssen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Landsleute! Es ist viel passiert in den letzten Tagen. All diese Ereignisse werfen Fragen auf, die mich als Politiker, Unternehmer, Familienvater und Staatsbürger umtreiben und nicht mehr ruhig schlafen lassen. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich bin bestürzt über die Verlängerung der Maßnahmen. Sie legen Deutschland damit sprichwörtlich still. ({0}) Und bitte, wir sind uns darüber im Klaren, dass die gefährdeten Gruppen geschützt werden müssen; das haben wir hier ja auch oft genug gefordert. ({1}) Aber welchen Wert hat für Sie die Lebensleistung derer, die Sie mit Ihren Entscheidungen abhängen? Wo ist Ihr Respekt vor der Würde der Menschen, vor unserem Grundgesetz? ({2}) Wirtschaftlich und mental hinterlässt diese Bundesregierung ein Trümmerfeld. ({3}) Nun, Frau Dr. Merkel, haben Sie den gesamten Prozess wirklich vom Ende her gedacht? Das entspricht doch eigentlich Ihrem Credo. Warum werden nicht auch für Sie kritische Stimmen in die Entscheidungsfindung einbezogen? Wie wissenschaftlich ist dieses Vorgehen? Als Oppositionspartei streiten wir als AfD für vernünftige und verhältnismäßige Lösungen. ({4}) Sie diffamieren uns an jeder Stelle mit allen Mitteln; Herr Mützenich hat heute wieder das beste Beispiel gegeben. Wir sind gewählte Abgeordnete. Wir repräsentieren die Teile der Bevölkerung, die uns ihre Stimme gegeben haben. Als Mitglied der größten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag kann ich nur sagen: Das sind über 12 Prozent oder 6 Millionen Wähler. Mit Ihrem Vorgehen diffamieren Sie also nicht nur die AfD; Sie spalten unsere Wähler von der Gesellschaft ab und bieten ihnen trotzdem keine überzeugenden Konzepte an. ({5}) Wir alle, liebe Kollegen, sind hier, um als Politiker gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu gestalten. Dabei sollten wir die breiten gesellschaftlichen Diskurse einbeziehen. Aber Sie, Frau Bundeskanzlerin, entscheiden nur zwischen Schwarz und Weiß. Und dabei glauben Sie sich immer im Recht. Sie und Ihre Bundesregierung setzen sich über die parlamentarische Demokratie hinweg. ({6}) Die Mitglieder dieses Hohen Hauses erfahren schon am Dienstagmittag aus der Presse, auf welche Maßnahmen sich die Ministerpräsidenten geeinigt haben. Es erscheint wie aus einem Drehbuch, dass diese am darauffolgenden Tag hier nur noch durchgewunken werden. Apropos Drehbuch, Herr Bundesfinanzminister: Den wievielten Nachtragshaushalt wollen Sie eigentlich noch stricken? Wer bezahlt die immer neuen Rechnungen für die erkauften Hilfsleistungen? Es sind wieder – ich kann es Ihnen sagen – die Arbeiter, der Mittelstand und die kleinen Handwerker – heute, morgen und in der Zukunft. Es ist mir wirklich schleierhaft, wie ein Sozialdemokrat so unsozial den Arbeitern gegenüber sein kann. ({7}) Eines steht fest: Europa, das Ihnen ja so am Herzen liegt, schaden Sie damit nachhaltig. Herr Linnemann, als Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU haben Sie doch im letzten Jahr richtigerweise darauf hingewiesen: Der Mittelstand benötigt Planungssicherheit. Wie erklären Sie den Gewerbetreibenden, den Unternehmern und den Gewerken die Entscheidung Ihrer Partei? Spielt die soziale Marktwirtschaft überhaupt noch eine Rolle in Ihrem Denken und Handeln? Angesichts der Aussetzung der Insolvenzpflicht bis 31. März 2021 spricht man mittlerweile von über 800 000 Unternehmen, die irgendwie künstlich am Leben erhalten werden. Wie planen Sie, das aufzufangen, Herr Bundeswirtschaftsminister? Auch werden schon Hilfen bis Mitte 2021 avisiert. Herr Altmaier, ein erfolgreiches Unternehmen braucht Kapital, Kunden, Umsatz und Mut. Wie möchten Sie die alten und neuen Unternehmen eigentlich motivieren, weiterzumachen? Für mich als Unternehmer ist Motivation die treibende Kraft. Auf Ihre Garantien hingegen – das haben Sie bewiesen – sollte man sich als Selbstständiger wirklich nicht verlassen. ({8}) Werte Kabinettsmitglieder, wer oder was ist für Sie eigentlich systemrelevant? Und womit unterstützen Sie diese Menschen, beispielsweise das medizinische Fachpersonal, das seit Jahren funktioniert und heute in völliger Unterbesetzung die Umsetzung Ihrer unverhältnismäßigen Maßnahmen garantieren soll? Herr Brinkhaus, Sie haben heute x-mal Danke gesagt. Die Menschen haben ihre Schränke voll mit „Danke“. Mein Vorschlag: Schaffen Sie endlich Entlastung, indem das systemrelevante Personal aller Branchen ab sofort von der Lohnsteuer befreit wird. Ich garantiere Ihnen: Diese Menschen halten das Geld nicht fest. Sie bringen es nicht in Steuerparadiese. Sie werden es sofort wieder im eigenen Land ausgeben. Denn sie brauchen es, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und ihre Familien zu unterstützen. Mit solchen Maßnahmen würden Sie eine wahre Verbundenheit dem Volk gegenüber zeigen. ({9}) Frau Bundeskanzlerin, eines muss ich Ihnen ja zugestehen: Sie scheinen Ihren Willen bedingungslos durchzusetzen. ({10}) Aber Ihr Handeln hat Unsicherheit und Ängste bei den Menschen unseres Landes erzeugt. Nicht Corona hat dieses Land in eine tiefe Depression versetzt; das waren Sie, Frau Merkel, Sie mit Ihrer Politik, die Sie als alternativlos ansehen. ({11}) Aber geschieht das wirklich noch zum Wohle des deutschen Volkes? Sind das nicht nur verzweifelte Versuche, die eigene Macht zu erhalten? Und werden Sie eigentlich dem Anspruch noch gerecht, dieses Land zu führen? Das sollten Sie sich wirklich fragen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Natürlich ist es so, dass sich viele Menschen dieses Jahr 2020 anders vorgestellt haben. Es ist natürlich so, dass auch wir uns dieses Jahr ganz anders vorgestellt haben. Und natürlich ist es für viele ein Eingriff in ihr persönliches Leben, wenn sie mit den Entscheidungen der Politik zurechtkommen müssen. Sehr viele empfinden es als Belastung, ihr Leben jetzt nicht vollkommen frei und selbstbestimmt wie gewohnt führen zu können. Viele sind wirtschaftlich belastet, ja. Viele fühlen sich und sind emotional belastet, ja. Aber genau deswegen wollen und müssen wir die Perspektive für einen uneingeschränkten Alltag geben. Das gibt uns die Zuversicht und die Kraft, jetzt die Einschränkungen zu akzeptieren. Wir wollen 2021 zu dem Jahr machen, in dem wir Corona hinter uns lassen, und die Erfolge bei der Impfstoffentwicklung geben uns genau diese Perspektive, meine Damen und Herren. ({1}) Wir wissen, dass wir das Virus besiegen werden. Aber der Kampf ist noch nicht gewonnen. Auf dem Weg dahin ist das Schutzgut, das all diesen Belastungen gegenübersteht, die Gesundheit und das Leben vieler Menschen, und die Gesundheit und das Leben dieser Menschen wollen wir jetzt besonders achten. Kollege Chrupalla, das ist der Respekt vor der Würde des Menschen, nicht das Ignorieren eines Virus. ({2}) Als Fraktion haben wir vorgeschlagen, dass es eine offensive Strategie geben muss, auch im Dezember. Wir haben sie eingefordert, weil wir erkennen müssen, dass die Novembermaßnahmen nicht so erfolgreich waren, wie wir es erhofft haben. Wir haben ein stärkeres Abflachen der Kurve erwartet. Wir sehen eine Seitwärtsbewegung. Aber wir wissen: Wenn wir das Infektionsgeschehen wirklich kontrollieren wollen, dann brauchen wir niedrigere Infektionszahlen, als wir sie in weiten Teilen Deutschlands sehen. Deswegen: Ja, wir unterstützen die Entscheidungen der Ministerpräsidentenkonferenz von gestern. Wir hätten uns an der einen oder anderen Stelle auch etwas mehr vorstellen können, vor allem in der Beschreibung der Hotspot-Strategie, weil es genau darum geht: Da, wo Infektionsherde entstehen, müssen wir in der Lage sein, konsequent zu handeln und die Ausbreitung der Pandemie zu verhindern. Deswegen werden wir auch sehr genau hinschauen, wie die Länder jetzt mit der Möglichkeit einer erweiterten Hotspot-Strategie umgehen und ob sie die Maßnahmen, die auch im Infektionsschutzgesetz vorgesehen sind, dann ausführlich nutzen. Dazu gehört übrigens auch der Bereich der Schule. Ich weiß, dass darüber intensivst gestritten und gerungen worden ist. Aber wenn wir über eine Hotspot-Strategie reden, dann wird auch die Schule ein Thema sein müssen, dann wird es eine Betroffenheit der Schule geben, um Infektionszahlen zu verringern. Meine Damen und Herren, da darf man schon mal die Frage stellen: Wo sind die Konzepte und Instrumente für den digitalen Unterricht? Auch wenn man nicht in die Schule gehen kann, muss ein Unterricht möglich sein. Wir reden von „Hotspot“; das heißt, dass man in sehr schnellen zeitlichen Abläufen zu hohen Infektionszahlen kommt und sehr schnell handeln muss. Wo ist eigentlich der Schalter, mit dem man dann auf einen hybriden Unterricht umstellen kann? ({3}) Da sei schon mal daran erinnert: Der Bund hat den DigitalPakt Schule auf den Weg gebracht. Er hat noch mal deutlich mehr Geld zur Verfügung gestellt. Er hat Tablets für die Schüler beschafft. Er hat das Geld für die Laptops für die Lehrer zur Verfügung gestellt. Ich darf hier schon klar festhalten: Es gibt keine Zeit mehr für Ausreden an dieser Stelle. ({4}) Dass die wirtschaftlichen Hilfen jetzt auch im Dezember notwendig sind und nicht hinter denen des Novembers zurückbleiben dürfen, ich glaube, das ist richtig und notwendig. Wir als Bund haben einen sehr großen Willen, für finanzielle Unterstützung zu sorgen. Wir dürfen aber auch sagen, dass die finanziellen Möglichkeiten, Herr Bundesfinanzminister, nicht unbeschränkt sind. Wir sind in den Haushaltsverhandlungen, und wir werden in zwei Wochen einen Haushalt beschließen. Die Dezemberhilfen sind in den aktuell zu beratenden Haushaltszahlen wohl noch nicht untergebracht. ({5}) Das heißt, da muss nachgesteuert werden. Um dies sehr deutlich zu sagen: Es wird dann wahrscheinlich für 2021 eine Neuverschuldung in Höhe von deutlich über 160 Milliarden Euro notwendig sein. Ich bitte, sehr schnell entsprechend Klarheit zu schaffen und auch zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns an diese Zahlen nicht gewöhnen dürfen. Es kommt nach der Krisenbekämpfung die Zeit der Haushaltskonsolidierung. Aber diese Haushaltskonsolidierung kann nicht mit einem Coronasoli erreicht werden, sondern nur mit mehr wirtschaftlichem Wachstum, meine Damen und Herren. ({6}) Den Coronasoli – das sei all denjenigen ins Stammbuch geschrieben, die darüber diskutieren – haben unsere Bürgerinnen und Bürger schon längst bezahlt. Mit all dem, was wir an wirtschaftlichen Erfolgen, an Steuereinnahmen, an Senkung der Gesamtverschuldung in der Vergangenheit hatten, ist die Grundlage erbracht worden, damit wir jetzt die finanziellen Beiträge leisten können, um diese Pandemie zu bekämpfen. Diese Beiträge der Bürger sind schon geleistet worden und können nicht für die Zukunft noch mal verlangt werden. ({7}) Ich will hier noch meinen ausgesprochenen Dank an diejenigen Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck bringen, die sich in den letzten Monaten engagiert haben, dass wir die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Forschung massiv unterstützen, damit eine schnelle Gewinnung des Impfstoffes möglich ist. Der Bund hat Milliardenbeträge dazu aufgewandt. Jetzt geht es noch um einen anderen Bereich, der uns sehr wichtig ist, nämlich das Thema „Therapeutika“, das Thema „Medikamente gegen Covid“, um den Verlauf der Krankheit entsprechend zu lindern. Ich will ausdrücklich ein Dankeschön richten an die Haushälter, an Ecki Rehberg, an Dennis Rohde, die aktuell dafür kämpfen, dass wir bei den Verhandlungen noch die nötigen Mittel in den Haushalt hineinbekommen, damit wir die Therapeutikaentwicklung machen können. ({8}) Es sind zwei Strategien. Die eine betrifft den Impfstoff, der notwendig ist. Aber wir brauchen auch die Medikamente gegen Covid, damit wir den Verlauf so einer Krankheit lindern und in den Griff bekommen können. Herzlichen Dank für die große Kraftanstrengung! ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, es gibt keine Entwarnung bei Covid-19. Aber umso wichtiger ist doch eine langfristige, differenzierte Strategie zur Bekämpfung der Coronapandemie. Ich bleibe dabei: Die Bundesregierung ist gerade auch nach dem gestrigen Beschluss meilenweit von so einer differenzierten und langfristig angelegten Strategie entfernt, meine Damen und Herren. ({0}) Ich bin stolz auf mein Bundesland Schleswig-Holstein, das sich von Anfang an klar für eine regionale, differenzierte Betrachtungsweise eingesetzt hat. Schleswig-Holstein bleibt bei den bewährten Kontaktregeln. Eine Verschärfung für den Einzelhandel gibt es in Schleswig-Holstein nicht. Das ist verantwortbar, wenn ich von den Sieben-Tage-Inzidenzwerten in meinem Kreis Rendsburg-Eckernförde von 18 oder im Kreis Schleswig-Flensburg von 7 ausgehe. Das ist Politik, die nah an den Menschen ist und die zum Beispiel jetzt wieder ermöglicht, dass Tierparks, Zoos und weitere solche Einrichtungen besucht werden können. Das ist Politik, die verantwortbar ist. ({1}) Das ist Politik, die die richtige Balance zwischen dem nötigen Gesundheitsschutz und den verantwortbaren Öffnungsmöglichkeiten hält, meine Damen und Herren. ({2}) Ich finde – und ich glaube, da sind wir uns hier alle einig –, es ist schwer zu ertragen, dass wir letzte Woche gehört haben, dass zwei Drittel der Covid-19-Todesfälle in Hessen in Pflegeeinrichtungen aufgetreten sind. Und es ist schwer zu ertragen, wenn wir wissen, dass 88 Prozent der Todesfälle Menschen über 70 Jahre betreffen; bei den über 80-Jährigen wird es noch schlimmer. Aber ich frage mich: Wo ist denn in Ihrem Beschluss die Strategie für diese besonders gefährdete Gruppe? Herr Brinkhaus, Sie haben es ja auch angemahnt. Aber warum wird denn da nichts getan? ({3}) FFP2-Masken sind ja richtig; aber der 1. Dezember ist viel zu spät. Antigen-Schnelltests, die durch das Personal in den Pflegeeinrichtungen, das sowieso schon überlastet ist, selbst vorgenommen werden müssen, sind doch auch nicht der richtige Weg. Haben Sie schon mal an den Einsatz mobiler Schnelltestteams gedacht? Haben Sie schon mal an zentrale Teststellen für das Personal in Pflegeeinrichtungen oder ambulanten Pflegediensten gedacht? Das ist doch der richtige Weg. ({4}) Wir müssen doch das Ansteckungsrisiko dieser Risikogruppen auch außerhalb von Pflegeeinrichtungen reduzieren. Christian Lindner hat dazu konkrete Vorschläge gemacht, meine Damen und Herren. Im Einzelhandel bei 800 Quadratmetern Verkaufsfläche weniger Kunden zuzulassen oder ein Böllerverbot hilft diesen Gruppen überhaupt nicht. ({5}) Wenn wir die Risikogruppen konsequent schützen, dann sorgen wir gleichzeitig dafür, dass die Überlastung der Intensivkapazitäten in den Kliniken reduziert wird, meine Damen und Herren. Das ist doch unser gemeinsames Ziel. Also lassen Sie uns das mit differenzierten Strategien gemeinsam anpacken! Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Dittmar, SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit fast vier Wochen befinden wir uns im Lockdown light. Das waren vier Wochen, in denen uns allen erneut viel abverlangt worden ist. Aber dank der Disziplin, der Solidarität und der Rücksichtnahme der allermeisten Mitbürger und Mitbürgerinnen ist es uns gelungen, den exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen zu stoppen. Wir haben eine Stabilisierung, wir haben eine Seitwärtsbewegung der Zahl der Neuinfektionen erreicht. Das ist ein wichtiger Etappensieg. Dafür sage ich herzlichen Dank. ({0}) Aber ich sage auch: Es war die erste Etappe; das Ziel haben wir noch nicht erreicht. Die Neuinfektionen müssen signifikant weiter sinken, um unser Gesundheitssystem nicht an seine Grenzen zu führen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die gestern beschlossenen Vereinbarungen, die nun in Länderverordnungen transparent, begründet und befristet umgesetzt werden. Das haben auch wir als Gesetzgeber in der vergangenen Woche in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes so bestimmt. ({1}) Wir haben aktuell nur zwei Werkzeuge zur Hand: das konsequente Einhalten der Hygieneregeln AHA+A+L und die Kontaktreduzierung. Das Virus hat nur die Chance, sich zu verbreiten, wenn wir es durch unser Verhalten zulassen. Deshalb ist es weiterhin notwendig, uns im privaten und im beruflichen Bereich kontaktmäßig einzuschränken. So schwer es auch ist, wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wir können nur gemeinsam gewinnen, durch verantwortungsvolles und solidarisches Verhalten. ({2}) Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit wünschen wir uns alle unseren Alltag zurück, so wie wir ihn kannten. Aber ich glaube, es ist auch jedem klar: Dieses Weihnachten wird anders. – Ich habe Verständnis für die gelockerten Kontaktbeschränkungen während der Feiertage; Weihnachten hat für viele von uns eine ganz besondere Bedeutung. Aber als Medizinerin weiß ich auch: Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Das Virus kennt kein Weihnachten und kein Silvester. Es muss uns deshalb allen klar sein: Wir haben es in der Hand, nicht nur Weihnachten zu retten, sondern auch die Wochen und Monate nach Weihnachten. ({3}) Wir bestimmen durch unser Verhalten, wie sich die Zahl der Neuinfektionen, der Krankenhauseinweisungen und die Auslastung der Intensivstationen entwickeln. Deshalb mein eindringlicher Appell: Bleiben Sie eigenverantwortlich und solidarisch! Uns alle eint doch die Sorge um Erkrankte, chronisch Erkrankte und ältere Angehörige. Deshalb: Nutzen Sie, wann immer möglich, die Vorquarantäne! So verringern wir das Risiko, Infektionen da einzutragen, wo sie besonders fatale Folgen hätten. Wir alle müssen einen verantwortungsvollen Weg des Miteinanders finden, auch an den Festtagen. Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt aber auch gute Nachrichten. Die Antigen-Schnelltests werden immer zuverlässiger in ihrer Aussagekraft und unkomplizierter in ihrer Anwendung. Das ist eine gute Perspektive. Auch im Bereich der Impfstoffentwicklung tut sich Gewaltiges. Einige Impfstoffe durchlaufen derzeit die üblichen klinischen Studien, die notwendig sind, um einen Impfstoff auf Verträglichkeit und Wirksamkeit zu testen, und die Ergebnisse sind vielversprechend. Wenn alles gut läuft, haben wir noch in diesem Jahr die ersten Chargen eines Impfstoffes zur Verfügung. Das wäre ein Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. ({4}) Leider werden immer wieder bewusst Fehlinformationen über die Impfungen verbreitet. Deshalb will ich es noch einmal ganz klar und deutlich sagen: Nein, es wird keine Impfpflicht geben. Das Gegenteil wird der Fall sein: Wir werden sehr genau überlegen müssen, wer zuerst geimpft wird; denn der Bedarf wird in der ersten Phase wesentlich höher sein als die Verfügbarkeit der Impfstoffdosen. Die Ständige Impfkommission, der Deutsche Ethikrat und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben Empfehlungen erarbeitet, und an diesen haben wir uns in der Gesetzgebung orientiert. Menschen, die Covid-19-Erkrankte versorgen und sich damit selbst einem Infektionsrisiko aussetzen, alte und chronisch kranke Menschen, also die für schwere und tödliche Krankheitsverläufe besonders anfällige Bevölkerungsgruppe, und Personen, die für das Gemeinwesen besonders relevante Funktionen erfüllen, werden die Impfung als Erstes angeboten bekommen, und das ist richtig so. ({5}) Bund, Länder, Öffentlicher Gesundheitsdienst und Ärzteschaft bereiten sich aktuell mit großem Engagement auf die Umsetzung der nationalen Impfstrategie vor. Ab Mitte Dezember sollen die Impfzentren in allen Bundesländern aufgebaut sein, damit es dann auch direkt losgehen kann, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht. Das ist eine enorme logistische Herausforderung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bürgerinnen und Bürger, jetzt und in den nächsten Monaten ist die Solidarität gefragt. Gemeinsam können wir die Pandemie überwinden. Bleiben Sie gesund! Schützen Sie sich und andere! Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist hart. Es ist eine Advents- und eine Weihnachtszeit, wie wir sie nicht kennen: ohne Weihnachtsmarktbesuche, ohne Besuch vom Nikolaus, ohne Treffen von Freunden, die man lange nicht gesehen hat. Ja, es ist hart. Der Dauerausnahmezustand in den Familien: Ständig ist ein Kind krank und kann nicht in Schule oder Kindergarten, oder es ist ein Kind in Quarantäne, oder die Arbeitskollegen sind krank oder in Quarantäne. Der Druck auf der Arbeit und in den Familien nimmt zu, und die üblichen Betreuungsmöglichkeiten, die zur Entlastung dienen, wie die Omas und Opas fallen auch noch weg. Das ist hart. Es ist hart für Jugendliche, die ins Ausland wollten, sich ausprobieren wollten, die in einem Lebensalter sind, wo man Freunde trifft, wo man Neues entdeckt, wo man sich auch auf die Abschlüsse vorbereitet. All das ist nicht möglich. Es gibt Kinder, die diffuse Ängste haben, es gibt Senioren, die einsam sind, und es gibt vor allem Frauen und Kinder, die zu Hause Gewalt erfahren. Das ist schrecklich. Und Ihre Antwort, Frau Weidel, ist jetzt: Genau das alles ist der Grund dafür, die Maßnahmen nicht zu ergreifen. – Das Gegenteil ist aber der Fall. Das Virus ist da, und wir müssen mit dem Virus umgehen und es bekämpfen. Wenn wir nichts tun, werden wir mehr Infektionen haben, mehr Quarantänen, mehr Überforderungen und mehr Todesfälle. Deshalb müssen wir die Maßnahmen, die gestern beschlossen wurden, durchführen, damit die Zustände, die wir alle nicht wollen, nicht noch schlimmer werden. ({0}) Es geht – das wurde gestern gesagt – um eine empathische Balance; es geht um lebensnahe und möglichst ausgewogene Lösungen. Und wenn ich dann die Reden heute von der Opposition höre, muss ich sagen: Da ist vieles nicht lebensnah. Herr Lindner, Ihr Vorschlag, die Kinder mit dem Taxi zur Schule zu bringen, funktioniert vielleicht noch ein bisschen in Berlin-Mitte; aber in meinem Flächenlandkreis, wo es, glaube ich, 20 Taxibetriebe gibt, die dann mehrere Tausend Schüler in die Schulen bringen sollen, funktioniert das nicht. Das ist nicht lebensnah. ({1}) – Alles gut. Sie haben außerdem gefordert, dass wir die vulnerablen Gruppen besonders schützen. Das ist auch das Konzept der AfD; falls man es überhaupt „Konzept“ nennen kann. Ich frage mich: Wie soll das denn funktionieren? Vulnerable Gruppen sind für mich die Seniorinnen und Senioren, natürlich diejenigen in den Pflegeheimen, aber auch diejenigen, die zu Hause leben, das sind die Menschen in den Behinderteneinrichtungen. All diese Menschen kann man ja nicht unter einer Käseglocke einsperren. ({2}) Da sind überall Menschen. Sie arbeiten in den Pflegeheimen, in den Behinderteneinrichtungen; sie haben selbst Familie, Kinder, Kontaktpersonen, bei denen sie sich anstecken können. Diese Menschen kann man nicht aussperren. Deshalb brauchen wir eine Strategie, um diese Gruppe besonders zu schützen, aber zusätzlich zu diesen Maßnahmen und nicht stattdessen. ({3}) Die Maßnahmen, die gestern beschlossen wurden, sind lebensnah. Das eine oder andere, was im Vorfeld diskutiert worden ist, war es nicht. Man kann einem Kind nicht erklären, dass es morgens mit 20 Kindern in der Kindergartengruppe zusammen ist, aber nachmittags nur noch ein Kind sehen kann. Es ist gut, dass man darüber eine Diskussion führen kann und solche Vorschläge auch verworfen werden. ({4}) Es ist gut, dass die Quarantänezeit auf zehn Tage reduziert wird; das erspart auch einiges. Auch in den Schulen darf es nicht nur Schwarz oder Weiß geben, nicht nur Präsenz oder digital. Wir müssen die Möglichkeiten, die die Digitalisierung uns bietet, ausnützen, und zwar jeder so, wie es zu seinem Standort passt. Es gibt Schulen, da geht es besser, und es gibt Schulen, da geht es nicht so gut. Und unser Bestreben muss doch sein, dass wir alles, was irgendwie möglich gemacht werden kann, auch möglich machen. Wir als Bund bringen uns da ein. Wir haben den DigitalPakt Schule entschlackt; wir haben außerdem noch mal jeweils eine halbe Milliarde Euro draufgesattelt für Lehrerlaptops, Schülerlaptops und auch für die Administratoren. ({5}) Wir tun und unterstützen, wo wir können, und gemeinsam können wir es schaffen, dass wir auch in Schulen zu besseren Zuständen kommen, als es derzeit der Fall ist. ({6}) Als Bund unterstützen wir all die betroffenen Gruppen und vor allem die Familien. Wir können nicht jede Belastung nehmen; aber wir haben dafür gesorgt, dass die größten finanziellen Belastungen wegfallen, dass es in den Familien Kurzarbeitergeld gibt, dass die Familien mit besonders kleinem Einkommen den Kinderzuschlag beantragen können, den wir noch mal entbürokratisiert haben. Das wird auch rege genutzt. Wir haben dafür gesorgt, dass es mehr Tage gibt, an denen man für die Betreuung der Kinder zu Hause bleiben kann. Die Lohnersatzleistungen im Infektionsschutzgesetz haben wir eingeführt. Wir haben die Familienpflegezeit und die Pflegetage angepasst für die Familien, die zu pflegende Personen zu Hause haben. Und wir tun alles – das ist mir besonders wichtig –, und vor allem die Kommunen tun alles, um die Jugendhilfe aufrechtzuerhalten. Die Jugendhilfe aufrechtzuerhalten, die Betreuung von Familien mit Schwierigkeiten sicherzustellen, das muss unser Ziel sein; das muss an oberster Stelle stehen. Das sind eben auch vulnerable Gruppen, und um die müssen wir uns besonders kümmern; deshalb tun wir gemeinsam alles, um die Jugendhilfe offen zu halten. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind empathische Lösungen; den Satz will ich unterstreichen. Es ist trotzdem hart, vor allem für die Familien in unserem Land. Deshalb bedanke ich mich bei allen, die das mittragen, die gemeinsam durch diese schwere Zeit gehen, die vielleicht auch mal das Positive darin sehen: die Ruhe, die Zeit und auch die Muße, sich um diejenigen zu kümmern, die es besonders schwer haben. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe in den nächsten Wochen bis Weihnachten und darüber hinaus. Da sollten wir zusammenstehen und nicht spalten. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Kaczmarek, SPD. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Regierungschefs von Bund und Ländern in ihren Beschlüssen von gestern dem Offenhalten von Schulen und Kitas höchste Priorität einräumen, dann ist das auch ein Bekenntnis zum Recht auf Bildung. Das ist auch notwendig; denn wir wissen, dass, wenn Schulen geschlossen werden, Lernrückstände bei Schülerinnen und Schülern eintreten, die langfristig zu Nachteilen führen. Wir wollen dagegen ankämpfen, dass es eine Coronageneration gibt; deswegen ist es wichtig, die Schulen offen zu halten. ({0}) Es ist auch wichtig, weil wir wissen, dass, wenn wir die Schulen schließen, diejenigen am meisten davon betroffen sind, die es im Alltag und in der Schule ohnehin am schwersten haben. Es geht jetzt nicht um irgendwelche Metaphern, sondern es geht darum, dass tatsächlich kein Kind in dieser Krise zurückbleibt. Deshalb lohnt es sich, für das Recht auf Bildung zu kämpfen. ({1}) Wir wissen: Wir müssen dafür gute Rahmenbedingungen schaffen. Und wir wissen genauso gut, dass wir das noch nicht ganz geschafft haben. Das hat damit zu tun, dass Deutschland zu spät mit der Digitalisierung in den Schulen angefangen hat, und zwar nicht nur der Bund, sondern auch die Länder. In den Landesregierungen sind ja auch ziemlich viele Parteien beteiligt, die auch hier vertreten sind. Jetzt nehmen wir aber sehr viel Geld in die Hand – darüber ist hier gerade referiert worden –: Der DigitalPakt Schule wurde von 5 auf 6,5 Milliarden Euro aufgestockt. Im Übrigen: Zu Beginn der Wahlperiode waren wir bei 0 Euro. Das ist ein enormer Schub, den wir der Digitalisierung geben. Wir sind getragen von der Einsicht, dass das digital unterstützte Lernen auch nach der Krise bleiben wird. Es wird den Schulalltag, den Unterricht positiv verändern und erweitern. Wir hoffen, dass der DigitalPakt mit 6,5 Milliarden Euro jetzt in der Krise schnell hilft; aber wir verbinden damit auch die Hoffnung, dass in Deutschland das digital unterstützte Lernen nachhaltig gefördert wird und wir auf Augenhöhe mit anderen Ländern kommen. Das ist auch notwendig, damit wir Schule positiv in die Zukunft entwickeln können. ({2}) Ich habe in den Beschlüssen von gestern gelesen, dass auch Einzelentscheidungen der Länder und Schulen möglich sind, wie sie, je nach Infektionsgeschehen, den Unterricht gestalten. Ich verstehe das als Bekenntnis der Länder zum Präsenzunterricht. Wir von der SPD hätten uns mehr gewünscht im Hinblick auf Wechsel- und Hybridunterricht. Wir sind auch überrascht, dass in den Ländern die entsprechenden Vorkehrungen noch nicht getroffen worden sind. Wenn die Schulen jetzt tatsächlich in die Verantwortung gehen, selbst Entscheidungen treffen, weil sie wissen, was für ihre Schülerinnen und Schüler gut ist, dann müssen die Länder und die Schulaufsicht als ihre Partner agieren. Schulen dürfen damit nicht alleingelassen werden. Die Länder sind jetzt gefordert, dafür die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. ({3}) Über 8 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen können jeden Tag trotz vieler Quarantänefälle ihr Recht auf Bildung wahrnehmen; sie können jeden Tag in die Schule gehen. Es sind übrigens auch mehr als dreieinhalb Millionen Kinder, die jeden Tag in den Kindergarten gehen. Das ist eine großartige Leistung, die unsere Schulen und Kitas jeden Tag aufs Neue erbringen. Dafür, dass das gelingt, herzlichen Dank an Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, die sich für unsere Kinder in dieser schwierigen Situation einsetzen! ({4}) Eine andere Anmerkung: Der erste Impfstoff weltweit mit Erfolgsaussicht wurde in Deutschland von deutschen Forschern entwickelt. Das hat nicht die Große Koalition gemacht, sondern das haben Forscherinnen und Forscher gemacht; aber das hat etwas mit langfristig angelegter Forschungspolitik zu tun, die jetzt über mehr als zwei Jahrzehnte von verschiedenen Regierungskoalitionen getragen worden ist. Sie gibt der Forschung Sicherheit, übrigens auch dem Unternehmen, das in Rede steht, das in der Frühphase – was, glaube ich, noch wichtiger als jetzt ist – auch mit Mitteln des Bundes gefördert worden ist. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in dieser Koalition dafür gesorgt haben, dass der Rahmen für Forschung auch im nächsten Jahrzehnt gut bleibt. Denn – das ist für uns wichtig, das ist auch für die SPD besonders wichtig – Forschung ist auch in Krisen kein Schmuck, sondern ein Fundament für unsere Gesellschaft, ein Fundament für den Fortschritt unserer Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass wir weiterhin eine hohe Priorität auf Forschung legen und Geld für Forschung bereithalten. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kaczmarek. – Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen hat digital, nicht wie sonst hier in Berlin, die 32. Konferenz der Fachberufe im Gesundheitswesen stattgefunden. Vor den 40 beteiligten Organisationen hat das Mitglied des Präsidiums des 3. Ökumenischen Kirchentages 2021 in Frankfurt, Herr Professor Eckhard Nagel, daran erinnert, was Gesundheit eigentlich ist. Gesundheit ist wie Frieden, Sicherheit und Freiheit ein besonderes, ein transzendentales, ein konditionales Gut. Konditionale Güter sind die Bedingung der Möglichkeit zum Genuss aller anderen Güter. Der Einzelne kann selbst zum Erhalt seiner Gesundheit beitragen, allerdings nur bedingt und nur in dem Umfang, in dem auch andere auf den Erhalt seiner Gesundheit Rücksicht nehmen. Und eine Gesellschaft ohne ausreichende Versorgung mit konditionalen Grundgütern ist keine gerechte Gesellschaft. Deshalb bedarf es gesellschaftlicher Regelungen. Laufenlassen, ob im Allgemeinen oder ob in dieser konkreten Situation der Coronapandemie, ist ein Verstoß gegen diesen Gedanken. Was wir brauchen, sind Solidarität und Subsidiarität. Das sind die Grundprinzipien im deutschen Gesundheitswesen. Solidarität und Subsidiarität sind auch die Grundprinzipien unseres Kampfes gegen Corona. Laufenlassen ist keine Antwort, die geht. ({0}) Ich sage nicht, dass die USA es laufen lassen würden, weil ja auch in den USA viele, viele Maßnahmen ergriffen worden sind. Aber ich will einmal die 262 000 Coronatoten bei 328 Millionen Einwohnern in den USA mit den Verhältnissen hier vergleichen. Wenn das die Verhältnisse hier wären, dann hätten wir bei 82 Millionen Einwohnern 65 000 Tote statt der – schlimm genug und in jedem Einzelfall kaum zu ertragen – 15 000 Toten. Deswegen haben wir dank der Maßnahmen mindestens diese Differenz von 50 000 Menschenleben. Ich glaube, gegenüber dem, was an uns herangetragen wird, dass wir es eigentlich machen sollten – alles laufen lassen –, haben wir hunderttausend Menschenleben in diesem Jahr gerettet. Dafür bin ich allen dankbar, die daran mitgewirkt haben: ({1}) den Menschen, die sich an die Regeln halten, den Menschen in den Praxen, den medizinischen Fachangestellten, den Ärztinnen und Ärzten, die dafür sorgen, dass nicht jeder ins Krankenhaus geschickt wird, denen, die in den Krankenhäusern ihren Dienst tun, denen, die in den Gesundheitsämtern ihren Dienst tun, aber auch denen, die im politischen Raum, im Bundesministerium für Gesundheit, in den Länderministerien, im RKI und wo auch sonst noch überall, ihre Leistung dafür erbracht haben, dass hunderttausend Menschen in diesem Jahr das Leben gerettet worden ist. Ich finde, das ist Teil einer guten Bilanz. ({2}) Jetzt stellt sich die Frage: Wie wird es denn in Zukunft sein? Machen wir weiter mit einem Lockdown nach dem anderen? – Ja, es ist wahr: Wir waren im ersten Lockdown innerhalb von sechs Wochen von dem Schwellenwert 50 Infizierter pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen bei Verhältnissen von unter 5 – innerhalb von sechs Wochen. Jetzt haben wir es in den vergangenen sechs Wochen geschafft, dazu zu kommen, dass wir eine Seitwärtsentwicklung haben. Das weist darauf hin, dass wir eine Erfahrung gemacht haben, die wir jetzt vielleicht noch einmal umsetzen sollten, aber nicht als dauerhafte Perspektive. Die dauerhafte Perspektive besteht vielmehr darin, dass wir uns vorbereiten auf die Impfkampagnen, mit denen wir die Situation ändern können. Die Impfstoffe an die Menschen zu bringen, wird, wenn es genügend Dosen gibt, kein Hexenwerk sein. Es wird sehr davon abhängen, welche Impfstoffe in welcher Menge verfügbar sind. Aber im Kern sind wir in Deutschland mit den niedergelassenen Ärzten, mit denen in den Krankenhäusern und mit den Betriebsärzten natürlich in der Lage, am Tag bis zu 500 000 Menschen zu impfen. Wir können in kurzer Zeit einen Immunitätsschutz für eine hohe Zahl von Menschen zustande bringen. Weil diese Perspektive da ist, sollten wir nach allem, was wir über die erlangbaren Dosierungen wissen, in der Lage sein, die 27 Millionen Menschen, die besonders gefährdet sind, und die Menschen, die im Gesundheitswesen, im Pflegewesen, in Behinderteneinrichtungen besonders exponiert sind, auch in einer kurzen Zeit zu impfen. Wir haben ja jetzt in wenigen Monaten über 20 Millionen Menschen gegen Grippe geimpft. Warum soll das bei der Coronaimpfung nicht möglich sein? Natürlich ist das in wenigen Monaten stemmbar. Und dann ändert sich die Situation. Deswegen trete ich dafür ein, dass wir bis dahin, möglichst noch in diesem Jahr, einen neuen Coronaindex entwickeln, in dem wir nicht nur Infektionszahlen auflisten, sondern mindestens auch die Zahl jener, die aus dem Kreis der Gefährdeten und aus dem Kreis derer, die in Berufen arbeiten, wo sie mit Menschen in Kontakt kommen und sich besonders exponieren, bereits Immunitätsschutz genießen. Wenn uns das gelingt, haben wir ein gutes Steuerungsinstrument in der Hand: Dann können wir die Maßnahmen erstens an der Infektionshäufigkeit –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– und zweitens an der Zahl der in der Impfkampagne Immunisierten orientieren. Dann wird es besser, und es ist Licht am Horizont. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Am Ende der Debatte will ich noch einmal unterstreichen, dass – jedenfalls meiner Wahrnehmung nach – eine breite Mehrheit in diesem Hohen Haus der Meinung ist, dass die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz verantwortlich, verantwortbar und in ihren Konsequenzen auch zumutbar sind. Nur, meine Damen und Herren, entscheidend ist, dass all das durch die Eigenverantwortung der Menschen mit begleitet wird. Wir werden nicht in der Lage sein, an Weihnachten schon gar nicht, zu kontrollieren, wie viele Menschen sich letztendlich treffen – bis ins Letzte. Wir werden darauf setzen müssen, dass die Menschen all das nachvollziehen und verstehen. Deshalb ist es unsere Verantwortung, meine Damen und Herren, das auch richtig zu erklären und den Nebelkerzen, die ganz rechts ständig gezündet werden, auch entschlossen entgegenzutreten. Bei mir steht ganz oben ein hehres gesundheitspolitisches Ziel. Unserem Gesundheitswesen, meine Damen und Herren, ist eine Rationierung fern; Gott sei Dank. Wir überlegen uns nicht: Ist der alte, ist der multimorbide Mensch die Maßnahme, den Eingriff noch wert? Und das muss so bleiben, auch in der Pandemie. Das halte ich für ganz wesentlich. Deshalb freue mich, dass es uns jedenfalls mit den bisher getroffenen Maßnahmen gelungen ist, zu verhindern, dass die Ärzte eine Triage durchführen und entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht, wer sterben muss und wer leben darf. Das halte ich für ganz zentral. Wenn man das den Menschen erklärt, dann verstehen sie auch unser Engagement an dieser Stelle. Zweitens. Wir haben immer über ein Ziel gesprochen, das heute von manchen als Licht am Ende des Tunnels qualifiziert wurde, nämlich über das Ziel, impfen zu können. Nun tun einige ganz gezielt so, als sei das Licht am Ende des Tunnels der entgegenkommende Zug. Das ärgert mich; denn das Entscheidende, meine Damen und Herren, ist doch, dass wir letztendlich mit Viren nur auf diese Art und Weise umgehen können. Wir müssten mittlerweile doch eigentlich wissen, dass Impfen die große gesundheitsstrategische Leistung der Menschheit ist. ({0}) Ich füge hinzu: Ich bin immer ein bisschen skeptisch, wenn in der politischen Debatte neue Subziele nach oben geschoben werden. Ob es uns in absehbarer Zeit gelingt, mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit, unter den Wert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner zu kommen, das sei dahingestellt. Ich sage auch: Wenn man den Menschen erklären will, warum wir das tun, dann ist es schon wichtig, dass man alles ganz genau abwägt. Ich sage offen: Die 800-Quadratmeter-Grenze im Einzelhandel ärgert mich schon allein deshalb, weil man diesen Versuch schon einmal unternommen hat und schon einmal vor dem Verwaltungsgericht bei ähnlicher Ausgestaltung gescheitert ist. ({1}) Das wird uns an dieser Stelle wieder blühen. Darum verstehe ich nicht, warum man so etwas wiederholen muss. ({2}) Das Gleiche betrifft die Thematik Böllerverbot. Ich meine jetzt nicht die vorgesehene Ausgestaltung – mit der kann man umgehen – sondern die Vorschläge, die ursprünglich im Raum standen. Da haben wir letzte Woche über das Thema „Geeignetheit, Verhältnismäßigkeit“ diskutiert, und dann kommt so ein Vorschlag, der offenkundig ganz wenig mit der Thematik zu tun hat. Das dient geradezu dazu, das Thema zu verunglimpfen. Das Thema, dass ein Kind nur ein weiteres Kind am Nachmittag treffen darf, hat die Kollegin Schön vorhin schon richtig ausgeführt. Und deshalb weise ich an dieser Stelle ganz nachdrücklich darauf hin. Ich verstehe den Pandemieverdruss der Menschen. Ich verstehe, dass manche nervös werden. Deshalb müssen wir bei unserer Argumentation schon sehr genau aufpassen, was wir tun. Insbesondere verstehe ich es bei denen, die ökonomisch maßgeblich von den Maßnahmen betroffen sind. Und davon gibt es eine Menge. Die Bundeskanzlerin hat es heute vollkommen richtig formuliert: Etliche tragen hier eine besondere Last, und das tun sie für uns. Deshalb sind die Hilfen, meine Damen und Herren, keine Almosen; vielmehr ist es unsere verdammte Pflicht, die Einbußen dann auch entsprechend zu entschädigen. Und Entschädigungsleistungen müssen beizeiten ankommen. Mich ärgert dann schon, wenn die Diskussion mit der Europäischen Kommission letztendlich dazu führt, dass sich die Einleitung der Maßnahmen verzögert. ({3}) Das ärgert mich schon deshalb, weil, ich gerade gesagt habe, dass es Schadensersatz ist und logischerweise keine Beihilfe. ({4}) Und deshalb glaube ich, meine Damen und Herren, dass wir etwas auf dem Tisch liegen haben, das richtig und wichtig ist, das uns in den nächsten Wochen helfen wird, gerade gesundheitspolitisch helfen wird, das uns aber ökonomisch logischerweise weiter in Schwierigkeiten bringt und das natürlich eine Menge an Geld kostet. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen auch über die Frage diskutieren müssen: Wie ist eigentlich der Anspruchsrahmen rechtlich zu gestalten?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und insbesondere: Welchen Beitrag haben die Bundesländer an der Stelle zu leisten? Vielen herzlichen Dank. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Gesellschaft, in der immer weniger Kinder geboren werden, zeigt einen Mangel an Zuversicht. Der Mut zu Kindern, der Mut zur Zukunft sind eng miteinander verknüpft. In Deutschland gibt es leider wenig Mut zur Zukunft, wenig Zuversicht; denn unter den 226 Ländern weltweit sind wir bei der Geburtenrate auf Rang 213. Mit unserem Antrag für ein zinsloses und ab dem dritten Kind nicht rückzahlbares Baby-Willkommensdarlehen wollen wir besonders jungen Paaren in Deutschland Mut machen: Mut zur Zukunft mit Kindern, Mut zur Zukunft Deutschlands. ({0}) Nachdem Sie unseren Antrag auf Mehrwertsteuersenkung für Kinderprodukte abgelehnt haben, fordern wir heute, wenigstens die Mehrwertsteuer für Babywindeln auf 7 Prozent zu reduzieren. Damit wollen wir die Diskriminierung von Babys beenden. Dies ist wichtiger als Ihre feministische Tamponsubvention. ({1}) Seit 1972 gibt es in Deutschland ein Geburtendefizit. Das heißt, es werden weniger Kinder geboren, als Menschen sterben. Im vergangenen Jahr sind 170 000 Menschen mehr gestorben, als geboren wurden. Deutschland überaltert, und das hat weitreichende Folgen für unsere Sozialsysteme, für unsere Rentenkasse und damit für den sozialen Frieden in Deutschland. Sie reden von Überalterung, nicht von Kinderlosigkeit. Das ist kein Wunder; denn leider scheint die Eingangsqualifikation für unsere politischen Eliten zunehmend die Kinderlosigkeit zu sein. Leider kümmern sich die Merkels, Roths, Spahns und Scholz’ nicht genügend um Kinder. Auch der heute vielzitierte Fachkräftemangel ist eine Folge der Kinderlosigkeit. Er ist nicht zu bekämpfen, indem man anderen Ländern die Fachkräfte entzieht, sondern indem man den Kinderwunsch in Deutschland endlich unterstützt. ({2}) Deutschland braucht mehr Kinder. Dazu brauchen wir – ich zitiere hier Markus Söder von 2004 – „eine aktive Bevölkerungspolitik“. Bevölkerungspolitik heißt aber auch, den Menschen offen zu sagen, dass wir mehr Kinder brauchen. Das heißt auch, dass kinderfeindliche Aktivisten, die propagieren, dass der Verzicht auf Kinder gut für das Klima sei, nicht ins Kanzleramt eingeladen werden, meine Damen und Herren. ({3}) Sie sollten diesen Aktivisten lieber erklären, dass nicht geborene Kinder auch nicht für die Rente der heutigen Fridays-for-Future-Generation einzahlen werden. Das Verleugnen der Auswirkungen auf unsere Zukunft ohne genug Kinder ist das größte politische Versagen der letzten Jahrzehnte. Das Hinnehmen des Geburtenrückgangs ist nur eine von mehreren – laut Regierung – alternativlosen Positionen deutscher Politik. Das Dogma in Deutschland heißt leider Einwanderung statt Kinder: Einwanderung in die Sozialsysteme, Einwanderung von Gewalt und Frauenfeindlichkeit. Eine aktive Bevölkerungspolitik für ein kinderfreundliches Deutschland: Dafür müssen wir alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam bündeln. Dabei geht es nicht nur um Betreuungsplätze, auf die die Regierungen der letzten Jahre hauptsächlich ihr Augenmerk gelegt haben. Nein, es geht auch um die soziale Wertschätzung von Familien. ({4}) Aus einem halben Jahrhundert deutscher Familienpolitik sind Eltern und Kinder leider mit dem Image von Almosenempfängern hervorgegangen. Die Wahrheit aber ist eine andere: Das Kindergeld, das der Staat auszahlt, wird bereits durch die Familien selbst über indirekte Steuern wieder aufgebracht. Die Wahrheit ist, dass Eltern Transferleistungen für Kinderlose erbringen; denn ihre Kinder zahlen die Renten von denen, die – vielleicht auch mit Blick aufs Klima – keine Kinder haben wollen. Eine Gesellschaft, die immer weniger Kinder bekommt, zeigt einen Mangel an Zuversicht, zeigt einen Mangel an Mut zur Zukunft. Wir als AfD haben Zuversicht, wir haben Mut, wir haben Mut zur Zukunft mit Kindern. ({5}) Für ein familienfreundliches Deutschland! Für mehr Kinder! Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Reichardt. – Mir ist soeben vom Sitzungsdienst mitgeteilt worden, dass der Kollege Magnitz den Saal ohne Maske verlassen hat. ({0}) – Wir prüfen jetzt, ob er ein gültiges Attest hat. Sollte er kein gültiges Attest haben, bekommt er nicht nur einen Ordnungsruf, sondern die Androhung eines Ordnungsgeldes. Ich sage noch einmal: Nehmen Sie das bitte ernst. Wir werden die Maskenpflicht durchsetzen, notfalls auch durch Sitzungsausschluss. Wenn es Mitglieder des Hauses gibt, die ihre Maske vergessen haben sollten: Wir sind in der Lage, auszuhelfen – sowohl hier vorne als auch durch die Bediensteten des Deutschen Bundestages vor dem jeweiligen Zugang zum Plenarsaal. Herr Kollege, vielen Dank für Ihren Beitrag. ({1}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Pohlmann, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Ingrid Pahlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich heiße Pahlmann, aber das ist okay; das wird öfter mal falsch gesagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Schauen wir uns einmal genau an, welche Familienpolitik die AfD-Fraktion mit ihren heute zu beratenden Anträgen propagiert. Ist es eine zeitgemäße, positive und zukunftsweisende Familienförderung, die unsere moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert auch verdient? Oder haben Herr Gauland und Frau Weidel mal wieder tief in die Mottenkiste gegriffen? Ich gebe zu, die Antwort auf meine Fragen kann man wahrscheinlich schon erahnen – leider; denn das scheint konstant zu bleiben. ({0}) Lassen Sie uns dennoch mal ins Detail gehen: Welche familien- und frauenpolitischen Maßnahmen schlägt denn die AfD-Fraktion vor? Ein Vorschlag bezieht sich auf weitergehende Regelungen zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Die AfD überhöht dabei die Austragungspflicht der Schwangeren und zielt mit ihrem Antrag darauf ab, Abtreibung weiter zu erschweren. ({1}) Wie sieht denn die rechtliche Situation zurzeit aus? Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1993 klar entschieden, dass das Grundgesetz den Staat verpflichtet, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Menschenwürde komme schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. ({2}) Das sehe ich natürlich ganz genauso. Selbstverständlich folge ich deshalb der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, dass sich daraus dann auch eine Schutzpflicht des Staates ergibt. So hat der Gesetzgeber im Jahr 1995 entsprechend reagiert und Vorkehrungen getroffen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Schwangerschaftskonfliktberatung zu. So legt § 219 Strafgesetzbuch fest – ich zitiere –: Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Und dann heißt es weiter: Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Nach dieser Beratung muss die schwangere Frau eine Überlegensfrist von mindestens drei Tagen einhalten. Wenn sie sich nach der umfassenden ermunternden und Hilfe bietenden Beratung und der Bedenkzeit dennoch zum Schwangerschaftsabbruch entscheidet, ist dieser persönliche und sicherlich wohlüberlegte Entschluss auch zu respektieren. Die betroffene Frau hat offensichtlich ihre schwerwiegenden Gründe dafür. Die AfD unterstellt den Frauen aber generell, dass sie diese verantwortungsvolle gewissenhafte Entscheidung nicht treffen können oder vielleicht bestenfalls zu leichtfertig treffen. Ja, sagen Sie mal, welches Bild von Frauen haben Sie eigentlich? Denken Sie wirklich, dass Frauen leichtsinnig mit ihrer Sexualität umgehen, leichtfertig ungewollt schwanger werden und Abtreibungen einfach so billigend in Kauf nehmen, dass sie es sich mit so einer Entscheidung insgesamt leicht machen? Ich glaube, Sie haben sich die polnische Rechte zum Vorbild genommen, die wieder einmal den Versuch unternimmt, den eh schon minimalen Handlungsrahmen für ungewollt Schwangere noch restriktiver zu gestalten. ({3}) Obwohl Polen ein ausgesprochen strenges Abtreibungsrecht hat, liegt die Geburtenrate dort unter der Fertilitätsrate in Deutschland. Vielleicht merken Sie daran, liebe Kollegen der AfD, dass weitergehende Restriktionen und tiefgreifendes Misstrauen gegen unsere Beratungsinstitutionen ganz sicher nicht der richtige Weg sind, dem demografischen Wandel zu begegnen. ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine weitere familienpolitische Maßnahme, die uns die AfD schmackhaft machen will, betrachten. Die Volksrepublik China hatte schon mal die Einkindpolitik. Die AfD will nun anscheinend eine Dreikindpolitik. ({5}) Damit schießt sie sich vollends ins familienpolitische Abseits. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich habe selbst drei Kinder, und ich finde das superklasse. Aber: Paare entscheiden eigenverantwortlich, ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen wollen. ({6}) Dabei kann und muss ihnen Politik natürlich eine Vielzahl von Unterstützungsmaßnahmen flankierend zur Seite stellen. Und genau das hat die Koalition in den vergangenen Jahren getan. Unsere familienpolitischen Leistungen helfen nämlich Kindern, helfen Eltern bei der Entscheidung für ein Kind. So werden wir zum Beispiel gleich morgen hier im Plenum einen Gesetzentwurf zur Änderung der Elterngeldregelung in erster Lesung beraten. ({7}) Das Elterngeld ist eine zentrale Familienleistung und ein unerlässlicher Baustein moderner Familienpolitik. Es ermöglicht Müttern und Vätern, sich Zeit für Familie und Zeit für den Beruf zu nehmen, so wie es sich viele junge Eltern wünschen. Die geplanten Änderungen sollen die Angebote zur Nutzung des Elterngeldes noch flexibler und passgenauer machen. Eltern von Frühchen erhalten weitergehende Unterstützung. Die allermeisten Paare in Deutschland wollen ihr Familienleben mit ihrer Berufstätigkeit unter einen Hut bringen. Frauen wollen sich nicht zwischen Kindern und Beruf entscheiden müssen. Sie wollen beides, und das ist ihr gutes Recht. ({8}) Dazu schaffen wir den nötigen Rahmen. Nach dem Ausbau der Kinderbetreuung im Krippen- und Kitabereich ist ein weiteres Instrument der Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter. Genau vor einer Woche haben wir als Deutscher Bundestag beschlossen, dass der Bund den Ländern dazu eine Finanzhilfe in Höhe von 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Das ist ein eindeutiges und starkes Bekenntnis des Bundes für Familien, für Kinder und für Alleinerziehende. ({9}) Darüber hinaus kümmern wir uns auch um die Digitalisierung von Familienleistungen. Damit wollen wir die frischgebackenen Eltern von Bürokratie entlasten; denn die knappe Zeit soll den Familien, den Kindern zugutekommen und nicht bürokratischen Handlungen. Solche Maßnahmen helfen Paaren, sich den Wunsch nach Nachwuchs zu erfüllen. Auch in der Pandemie haben wir zahlreiche Initiativen ergriffen, um Familien mit Kindern gezielt zu unterstützen. Wir haben den Zugang zum Kinderzuschlag stark vereinfacht. Analog zum erhöhten Kindergeld wird ein Kinderbonus in Höhe von 300 Euro pro Kind gezahlt. Alleinerziehende werden steuerlich entlastet. Wir haben die Dauer der Entschädigungszahlung für Eltern verlängert und Anpassungen beim Elterngeld vorgenommen. In den Jahren 2020/21 stellen wir 1 Milliarde Euro zusätzlich für den Kitaausbau zu Verfügung usw. Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Meine Damen und Herren, so sieht krisenfeste, zukunftsweisende, aufbauende Familienpolitik aus. Wir schaffen den erforderlichen Rahmen, der auf die Bedürfnisse unserer modernen Gesellschaft zugeschnitten ist. Ich kann nur sagen: Auf die Union können sich die Familien verlassen. Sie können selber beurteilen, was es mit den Vorschlägen der AfD auf sich hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Pahlmann. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie falsch aufgerufen habe. Aber auch der beste Präsident ist auf die Mitwirkung der Schriftführer angewiesen. ({0}) Der Kollege Donth kann es bezeugen: Der Name war falsch notiert – nicht vom Kollegen Donth. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. ({1}) – Ja, klar. Wir wollten uns wenigstens einmal auf die Solidarität verlassen. Schon ist es schiefgegangen, um es einmal so zu sagen. ({2}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion. ({3})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familie ist für uns Freie Demokraten überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Egal ob Vater, Mutter, Kind oder Alleinerziehende, ob Patchwork- oder Regenbogenfamilie: Für uns sind sie alle wertvoller Teil unserer Gesellschaft. Es ist eine höchst individuelle Entscheidung und nicht Aufgabe des Staates, vorzuschreiben, welches Familienmodell besser ist. Wir möchten die Vielfalt der Lebensentwürfe stärken. ({0}) Was für Familien zentral ist, ist, in die Zukunft vertrauen zu können. Dafür brauchen sie sichere Rahmenbedingungen und gleichzeitig größtmögliche Wahlfreiheit. Finanzielle Entlastung und Unterstützung sind wichtig. Deshalb fordern wir Freie Demokraten das Kinderchancengeld, um Zukunftschancen für alle Kinder zu ermöglichen, unabhängig in welchem Elternhaus sie geboren wurden. Das hilft Familien wirklich, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Doch noch nachhaltiger ist es, Familien selbst die Möglichkeit zu geben, aus eigenen Kräften für sich zu sorgen. Deshalb wollen wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Familien brauchen nicht nur Geld, sondern mehr Zeit; denn in einer modernen Gesellschaft wie der, in der wir uns befinden, muss beides möglich sein. Deshalb fordern wir beste Kinderbetreuung, flexiblere Arbeitsmodelle und eine Reform des Arbeitszeitgesetzes. ({2}) Nur wenn Eltern wissen, dass ihre Kinder gut aufgehoben sind, können sie mit einem guten Gefühl motiviert ihrer Arbeit auch entsprechend nachgehen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass ich als Mutter oder als Vater selbst entscheiden kann, wie viel Zeit ich mit meinen Kindern nachmittags verbringe, um mich abends noch mal an den Schreibtisch zu setzen, während die Kleinen schlafen. Gesetze dürfen das nicht länger verhindern, sondern sie müssen es künftig viel mehr ermöglichen. ({3}) Als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion möchte ich noch einen wesentlichen Punkt in die Debatte einbringen. Selbstbestimmung in der Familienplanung: Sie ist wesentliche Grundlage für die Gleichberechtigung. Ob oder wie viele Kinder jemand bekommt, ist eine höchst individuelle Entscheidung. Deshalb brauchen wir einerseits für ungewollte Kinderlose eine Chance, sich den Kinderwunsch zu erfüllen. Dafür müssen wir die Grundlagen schaffen. Wir Freie Demokraten fordern, Kinderwünsche unabhängig vom Wohnort zu fördern. Dazu haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt. Sie von der AfD-Fraktion könnten den mal lesen: Das wäre wenigstens konstruktiv, während Ihr rassistischer Humbug definitiv in die falsche Richtung geht. ({4}) Andererseits ist es genauso notwendig, Schwangerschaftsabbrüche weiterhin zu ermöglichen; denn wir wollen nicht die Zustände wie in Polen auf unseren Straßen. ({5}) Seit Tagen kämpfen dort die Frauen gegen das neue Abtreibungsurteil des polnischen Verfassungsgerichtes und für ihre Rechte. Ich stehe hier ganz klar ({6}) für die mutigen Frauen in Polen. Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die Rechte dieser Frauen müssen verteidigt werden, in Polen, weltweit, aber auch bei uns. ({7}) Was Sie uns aber hier mit Ihren Anträgen zumuten, ist einmal mehr frauenfeindlich, fremdenfeindlich und rückwärtsgewandt. So was wollen wir nicht, so was brauchen wir nicht. ({8}) Wir leben in einer modernen Gesellschaft mit mündigen Bürgern, die freiheitlich entscheiden können, was sie wollen. Deshalb werden wir ganz klar Ihre Anträge hier ablehnen. ({9}) Danke schön. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Ministerin Franziska Giffey, heute Vormittag befassen wir uns mit einem bunten Strauß familienpolitischer Anträge der AfD. In keinem einzigen Antrag geht es darum, das Leben der Menschen einfacher zu machen, sondern in den Anträgen geht es darum, gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zurückzudrehen und sich im Mief der 50er-Jahre zu suhlen. Das Bild ist ein wenig so wie in der Sanella-Werbung: Mama, Papa und zwei Kinder, gerne auch drei, deutsch; vielleicht christlich, hellhäutig, blond wäre nett. Papa arbeitet. Mama bleibt bei den Kindern. Sie bekommt das Haushaltsgeld zugeteilt. Eigenes Konto? – Fehlanzeige! Eigene Rentenansprüche? – Wozu? Partnerschaftliche Teilung der Erwerbs- und der Hausarbeit? – Nicht vorgesehen! ({0}) Das bisschen Haushalt macht sich schließlich von allein. Wenn er abends nach Hause kommt, wartet auf ihn ein harmonisches Heim. Diesem Bild, das vor allem in der Werbung vorkam, hechelt die AfD nach. Trennungen, Krisen, Aufbrüche, gar andere Partnerschaftsmodelle sind nicht vorgesehen. Auch Menschen aus anderen Kulturkreisen stören das schöne Bild, genauso wie sich überhaupt die Politik und die Anträge der AfD in allen Lebensbereichen gegen die Selbstbestimmung der Frauen richten. Man hetzt tatsächlich gerne so, wie es in Polen geschieht. Man kann es auch hier im Parlament nicht oft genug sagen: Ich erkläre mich ausdrücklich solidarisch mit dem Kampf der Frauen in Polen um Abtreibung, mit dem Kampf, dass Verhütungsmittel auch unter 18-Jährigen verschrieben werden können, mit dem Kampf, dass Sexualaufklärung in Schulen nicht unter Strafe gestellt wird. Da geht es um Selbstbestimmung, und das ist das, was wir wollen. Und das ist das, was Sie nicht wollen. Da schielen Sie nach Polen. ({1}) Die AfD verpackt unter dem Deckmäntelchen Familienpolitik ihre eigentlich völkische, nationale Bevölkerungspolitik. Maß und Maßstab sind die heterosexuelle Liebe zwischen Männern und Frauen, aus der auch Kinder hervorgehen. Das ist für sie die einzige politisch schützenswerte Form der Partnerschaft. Ja, Frauen bekommen und vor allem erziehen dann Kinder. Ich brauche nicht zu suchen, wo die benötigten Fachkräfte sind, wenn wir nicht dafür sorgen, dass wir Rahmenbedingungen für Erwerbsarbeit haben, unter denen die Frauen nicht kaputtgehen. ({2}) Entweder sie haben – das hat die Tage jemand so nett formuliert – nur Kinder – dann ist nicht vorgesehen, dass sie berufstätig sind –, oder sie sind berufstätig; dann ist nicht vorgesehen, dass sie Kinder haben. Unser Job ist hier, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir brauchen nicht über den Fachkräftemangel zu jammern, wenn wir es schaffen, die Frauen in den Berufen arbeiten zu lassen, die sie tatsächlich gelernt haben. ({3}) Zu einem richtigen Frauenbild gehören aber nicht nur Beruf und Kinder, sondern auch Ehrenamt und Politik und vieles andere mehr. Aber der AfD gefällt es, zum Beispiel in Sachsen dieses Jahr nachzuzählen, wie viele Frauen es im gebärfähigen Alter gibt – das wird die dortige Landesregierung gefragt –, aufgeschlüsselt nach Nationalität. Klar, Kinder sollen ja deutsch und blond sein. Jetzt arbeite ich mich nicht länger an Ihnen ab. ({4}) Ich finde, wir könnten mal darüber reden, was Familien bei uns brauchen. Was Familien brauchen, das ist einfach Unterstützung. ({5}) Das ist das, was wir machen. Das ist das, was unsere Ministerin macht, und zwar mit dem Starke-Familien-Gesetz für Familien mit kleinen Einkommen und für Alleinerziehende, mit dem Gute-Kita-Gesetz für mehr Qualität und weniger Gebühren bei der Kinderbetreuung, mit dem Bundesprogramm „Mehrgenerationenhaus“, mit dem Aktionsprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“, mit dem Notfallkinderzuschlag während der Pandemie, mit dem Kinderbonus in der Pandemie, mit Sonderregelungen zur Lohnfortzahlung wegen Schul- und Kitaschließungen, mit der Digitalisierung von Familienleistungen, mit der Elterngeldreform, mit dem Recht auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Die Förderung von Frauen in Führungspositionen ist nun der letzte große Schritt, den wir jüngst gemacht haben. Denn auch Frauen in Führungspositionen sind Frauen, die Kinder wollen. Deshalb ist es gut, dass wir da eine Quote machen. Das ist praktische Politik der Sozialdemokratie, die sich an den Notwendigkeiten und an den Lebensrealitäten der Familien orientiert, und nicht ein Wunschkonzert von Schlagern aus den 50er-Jahren. Lassen Sie uns die Fenster weiter aufmachen! Lassen Sie uns den Mief rauslassen! Lassen Sie uns Politik machen für Familien, für Frauen, für alle Lebensformen, die wir gerne unterstützen! Besten Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Norbert Müller. ({0}) Entschuldigung, Herr Kollege, bevor Sie mit Ihrer Rede beginnen: Frau Gminder, Ihr Zwischenruf „Als Nichtmutter sind Sie nicht berechtigt, hier zu sprechen“ ist einen Ordnungsruf wert, weil es eine Unverschämtheit ist. ({1}) Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat das Recht, zu jedem Thema hier zu sprechen. Herr Kollege Müller, Sie haben das Wort.

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielen Dank für die Klarstellung gerade. Die AfD unternimmt heute den Versuch, mit einer Vielzahl von Anträgen uns ihre Familienpolitik zu beschreiben. Dabei lässt sich die Haltung dieser Fraktion kurz zusammenfassen: Hilfe, wir sterben aus! – Die AfD sorgt sich um den – Zitat aus diesen Anträgen – „Erhalt des deutschen Volkes“ und um die fehlende Kinderfreundlichkeit. Mit Kinderfreundlichkeit ist bei der AfD – das haben wir gerade gehört – nur die Freundlichkeit gegenüber deutschen Kindern gemeint, was immer das in den Augen dieser rassistischen Partei nun so genau ist. Auf nichtdeutsche Kinder wollen Vertreterinnen und Vertreter der AfD – das ist bekannt – an der Grenze ja schließlich schießen lassen, und das ist nun nicht allgemein kinderfreundlich. ({0}) Die Annahme, dass Deutschland bald entvölkert sei, ist ja auch ganz offensichtlicher Unsinn. Versuchen Sie mal, in einer größeren Stadt einen Kitaplatz zu ergattern, einen Platz in einer Musikschulgruppe oder ihr Kind neu bei einem Kinderarzt anzumelden. Oder fragen Sie zum Beispiel in meiner Heimatstadt Potsdam nach, was die Landeshauptstadt Potsdam in den letzten Jahren allein für Kita- und Schulneubauten ausgegeben hat. Da reden wir über eine halbe Milliarde Euro für eine Stadt mit 180 000 Einwohnern, vermutlich, weil die Deutschen gerade aussterben. In Wahrheit ist die Geburtenziffer, also die durchschnittliche Zahl von Geburten je Frau, im Alter von 15 bis 49 Jahren so hoch wie seit den frühen 70er-Jahren nicht mehr. In Brandenburg ist sie zuletzt 1988 so hoch gewesen, und sie ist doppelt so hoch wie in Ostdeutschland Anfang der 90er-Jahre. Das kann man ja vielleicht auch einfach mal zur Kenntnis nehmen. ({1}) Im Familienausschuss hat die AfD vor einem Jahr beantragt, dass der Ausschuss eine Reise nach Ungarn unternehmen solle, weil die Familienpolitik der Orban-Regierung dort so interessant sei. Ich habe daraufhin im Ausschuss, während das vorgetragen wurde, die Stichworte „Familienpolitik Ungarn“ gegoogelt und bin auch sogleich fündig geworden. Erster Treffer bei Google – oder auch einer anderen Suchmaschine; probieren Sie es aus – ist ein Artikel aus der „Welt“ vom 22. Mai 2019 mit der Überschrift „Orbans Familienpolitik erinnert an die NS-Zeit“. Schnell zusammengefasst: Die ungarische Regierung hat Sorge, dass die Ungarn aussterben, weswegen sie Ehestandsdarlehen einführen – so was Ähnliches wollen Sie auch –, die abgekindert werden, und sie geht repressiv gegen Schwangerschaftsabbrüche vor. Einen unabhängigen öffentlichen Rundfunk in Ungarn gibt es übrigens auch nicht mehr. Wie der Zufall es so will, beantragen Sie all das genau heute auch. Vielleicht haben Sie diese Reise ja eigenständig durchgeführt. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen Sie einmal mehr zum Propaganda-Rundfunk umbauen, der Kinderlosigkeit als etwas Negatives darstellen und den Wunsch nach Kindern wecken soll. Offenbar halten Sie die Menschen für ziemlich dumm und manipulierbar. Gefährlich wird es dann, wenn Sie den Öffentlichen ernsthaft mit Ihren Anträgen untersagen wollen, Sexualaufklärung zu betreiben. Informationen über Verhütungsmittel und Familienplanung wollen Sie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbieten. Das ist völlig absurd, und das ist auch absolut unverantwortlich. ({2}) Wer drei Kinder bekommt, soll mit 10 000 Euro für das erste oder sogar für jedes Kind – das steht nicht ganz genau in Ihrem Antrag – belohnt werden. Nicht zuletzt wollen Sie die Mehrwertsteuer für Windeln senken, um Kinderarmut zu bekämpfen. ({3}) Letzteres ist bemerkenswert, weil die AfD ja bisher im Bundestag mit ihrem Redner Thomas Ehrhorn mehrfach bestritten hat, dass es Kinderarmut überhaupt gibt. Jetzt wollen Sie sie bekämpfen? Sie haben sich dabei zieltreffend das untauglichste und wirkungsloseste Mittel ausgesucht: den Mehrwertsteuersatz auf Babywindeln. ({4}) Ich war gestern selber Windeln kaufen und habe das direkt mal an der Kasse überschlagen: Würde dieser Mehrwertsteuersatz von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden, ergäbe es pro gewickeltem Kind und Jahr round about 25 Euro. Sie würden also pro Kind und Jahr jeder Familie ungefähr 25 Euro wiedergeben. Da ist selbst die Koalition mit ihrer Kindergelderhöhung zehnmal mutiger. Das muss man erst mal schaffen, bei der Bekämpfung von Armut zehnmal weniger mutig zu sein als Angela Merkel. ({5}) Sinnvoller zur Bekämpfung der Kinderarmut wäre dagegen eine Kindergrundsicherung. Die lehnen Sie natürlich ab. Natürlich wäre auch ein höherer Mindestlohn sinnvoll. Den wollen Sie auch nicht. Kampfstarke Gewerkschaften, die hohe Tarifabschlüsse durchsetzen können? Der blanke Horror im Weltbild der AfD.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, ich möchte keine Zwischenfrage; vielen Dank. – Die AfD findet nicht nur die Familienpolitik von Viktor Orban und den Nazis klasse, sondern auch sonst manch anderes aus dieser Zeit. Dass dabei ihre Anträge in sich unschlüssig und widersprüchlich sind, überrascht wohl hier im Hause niemanden mehr. Ich will Ihnen nur ein Beispiel geben. Sie fordern – Zitat –, „der Stigmatisierung … von Mehrkindfamilien … entgegenzutreten“. Jetzt weiß ich nicht genau, an welche Stigmata Sie denken. Vielleicht haben Sie einfach zu viel Thilo Sarrazin gelesen. ({0}) Leider führen Sie das auch nicht genau aus. Jedenfalls fordern Sie zwei Absätze später, dass insbesondere Akademikerinnen bitte mehr als zwei Kinder bekommen sollen. Dieser Logik nach hätten also alle Nichtakademikerinnen drei oder mehr Kinder. Merken Sie was? Sie selbst stigmatisieren Mehrkindfamilien als mehr oder minder bildungsfern. Das ist nämlich der logische Schluss aus Ihrem Antrag. Als Vater von drei Kindern sage ich Ihnen: Herzlichen Dank dafür! So bleibt mir, zum Ende nur zu sagen: Ich habe eine schlechte Nachricht für die AfD. ({1}) Sie haben hier nicht zu entscheiden, wer wie viele Kinder bekommt. ({2}) Und Sie haben auch überhaupt nicht zu entscheiden, wie diese Kinder sind, und haben darüber auch kein Werturteil zu fällen. Unsere Kinder werden mal wie wir. Und selbst wenn Sie bei den Sozis oder – Gott bewahre – bei FDP und Union landen – Menschen machen ja Fehler –, dann wüsste ich wenigstens, dass ich mit denen hinterher noch vernünftig reden kann. ({3}) – Hören Sie zu, Herr Grosse-Brömer. Wir können ja auch miteinander vernünftig reden. – Bei Ihnen von der AfD habe ich diese Hoffnung schon lange aufgegeben. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! „Hilfe, wir sterben aus!“ – Norbert Müller hat es gerade gesagt –, schreien Sie hier populistisch in die Welt und fordern Dinge, die wirklich ins letzte Jahrhundert gehören. Wir reden hier anscheinend über eine Willkommenskultur für Kinder, und ich sage: Kindern – allen Kindern – eine Zukunft zu geben, optimale Bedingungen dafür zu schaffen, dass sie gut ins Leben starten können, und ein gutes Aufwachsen sicherzustellen, das ist für uns Grüne eine der zentralen Aufgaben unserer Zeit. ({0}) Was brauchen Kinder und ihre Eltern? Welche Rahmenbedingungen muss die Politik schaffen, damit das gelingt? Wir müssen auf die Menschen schauen, die heute in Familien leben, und nicht zurück auf ein vermieftes und veraltetes Modell. ({1}) – Sie können ruhig laut gähnen. Es ist schlimm, dass Sie solche Sachen überhaupt im Kopf haben. Ein großes Thema ist die Kinderarmut. Ich sage hier in aller Offenheit: Frau Ministerin, ich hätte mir gewünscht, dass wir dieses Problem noch stärker angehen. Mindestens jedes siebte Kind lebt in Armut. Das ist in einem doch so reichen Land sehr schade. Ich finde, da kann man wirklich noch zulegen. ({2}) Diesen Zustand wollen wir nicht länger hinnehmen. Es darf auch nicht länger ein großes Armutsrisiko sein, mehr als ein Kind zu haben oder Kinder allein zu erziehen. Alle Eltern und Familien brauchen Unterstützung. Sie müssen darauf vertrauen dürfen, dass wir sie nicht im Regen stehen lassen. Wir vergessen eines nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen: Kinderarmut ist immer auch Ausdruck der Armut der Eltern. Und eine Windelsteuer hilft dagegen sicher nicht. ({3}) Wir müssen etwas ändern, und zwar dringend. Wir wollen faire Chancen für jedes Kind. Familienförderung muss bei allen Familien ankommen. Wir fordern deshalb eine Kindergrundsicherung, die auf einer Neuberechnung der Bedarfe von Kindern basiert. Gute Familienpolitik – wir haben es heute oft gehört – beinhaltet auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Kinder brauchen die Zeit und die Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Ein Großteil der Eltern von Kindern im Alter zwischen einem und drei Jahren – das betrifft immerhin ca. 1,7 Millionen Familien – beklagt die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf in unserem Land. Unsere Lösung, damit Eltern beim Spagat zwischen Beruf, Kindern, Meetings, Einkaufen, Kochen, Hausaufgabenbetreuung und Homeschooling nicht völlig die Puste ausgeht, heißt KinderZeit Plus. Wir wollen das bestehende Elterngeld weiterentwickeln. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen sicherstellen, dass junge Eltern sich wirklich um ihre Kinder kümmern können, dass die Rushhour des Lebens entzerrt wird und Familien mehr Zeit füreinander bekommen; denn das ist das, was Kinder in Deutschland sich am meisten wünschen, wenn man sie befragt. Mit der grünen KinderZeit Plus hätten Eltern größere Entscheidungsspielräume, sie könnten schneller wieder in den Job einsteigen, und schließlich unterstützt unsere KinderZeit Plus auch eine vollzeitnahe Teilzeit beider Elternteile nach dem ersten Lebensjahr des Kindes. Das ist es doch, was Familien wirklich helfen würde. Wir brauchen außerdem hochwertige Betreuungsangebote und Öffnungszeiten, die sich an den Realitäten der Familien anpassen, nicht umgekehrt. Das ist etwas ganz Wichtiges, was aber noch nicht so gegeben ist. Wir müssen Fortschritte machen, um diese Vereinbarkeit zu ermöglichen. Dazu brauchen wir Ganztagsangebote für alle Kinder im Grundschulalter, weil sie mehr Bildungsgerechtigkeit und bessere Startchancen garantieren. ({5}) Leider sehen wir diesen Rechtsanspruch noch nicht mit höchster Priorität umgesetzt. Das ist ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen. Da stehen Bund und Länder gemeinsam in der Verantwortung. Die Kommunen müssen für diese Langzeitaufgaben gut ausgestattet werden und Angebote mit hoher pädagogischer Qualität sicherstellen können. Zu einer guten Familienpolitik, die diesen Namen verdient, gehört auch, dass wir Politik für ein kindergerechtes Land machen. Damit Rechte, Interessen und Perspektiven von Kindern in Deutschland tatsächlich ausreichend berücksichtigt werden, wollen wir die Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen. ({6}) Für uns bedeutet gute und gerechte Familienpolitik natürlich auch zeitgemäße Familienpolitik, die den gesellschaftlichen Wandel im Blick hat. Immer mehr Kinder leben in Patchwork- und Regenbogenfamilien. Immer mehr Erwachsene leisten elterliche Fürsorge, obwohl sie mit den Kindern nicht verwandtschaftlich oder rechtlich verbunden sind. Soziale Eltern übernehmen über Jahre Verantwortung, geben Halt und sind emotionale Anker für ihre Kinder. Deshalb brauchen sie die gleichen Rechte. Sie lieben diese Kinder, unterstützen sie – Blutsverwandtschaft ist nicht der Hauptpunkt in einer Eltern-Kind-Beziehung –, ({7}) aber bei alltäglichen Entscheidungen in der Kita, in der Schule, beim Arzttermin, da bleiben sie außen vor. Dadurch entsteht große Unsicherheit, auch bei den Kindern. Da fehlen dann Stabilität und Vertrauen. Wir Grüne fordern, den gesellschaftlichen Entwicklungen endlich gerecht zu werden und soziale Elternschaft rechtlich eindeutig abzusichern. ({8}) Es wird deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema ist sehr komplex und erfordert ein ganzes Bündel an wirkungsvollen Maßnahmen. Mit populistischen Schnellschüssen ist es hier nicht getan. Es ist auch nicht damit getan, „Nicht-Eltern“ den Mund zu verbieten. Das, was Sie fordern, erschüttert das Vertrauen von vielen Hunderttausend Familien in eine seriöse und wirklich lösungsorientierte Politik. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Walter-Rosenheimer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Pantel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Walter-Rosenheimer, als Erstes möchte ich klarstellen: Kinderrechte sind im Grundgesetz vorhanden, weil Kinder Grundrechtsträger sind; ihre Rechte werden, solange sie selber nicht sagen können, was sie wollen, von ihren Eltern wahrgenommen, und ansonsten wacht die Allgemeinheit darüber. ({0}) Das möchte ich hier noch mal klarstellen: Kinder sind Grundrechtsträger. Als Nächstes möchte ich sagen: Ich finde es sehr schwer zu verstehen, wenn die AfD hier behauptet, dass Großfamilien derzeit vom Staat keine Anerkennung bekommen. Ich kann das nicht bestätigen. Ich habe fünf Brüder, ich bin also in einer großen Familie aufgewachsen. Ich habe selber auch fünf Kinder großgezogen mit meinem Mann. Insofern weiß ich, worauf wir damals verzichten mussten – wir waren trotzdem glücklich – und was wir bis heute an familienpolitischen Leistungen vorangebracht haben. Ich finde, wir alle können sehr stolz auf das sein, was wir mittlerweile alles für unsere Familien in Deutschland leisten. ({1}) Mittlerweile gibt es wieder mehr Familien mit drei oder mehr Kindern in Deutschland. Ich bemerke einen spürbaren Mentalitätswechsel, auch in der Politik. Vielen Kolleginnen und Kollegen ist die Bedeutung von Familien, gerade auch von Familien mit vielen Kindern, sehr wohl bewusst; hier möchte ich ganz klar auch diejenigen einbeziehen, die selber keine Kinder haben, aus welchen Gründen auch immer. Eine allgemeine Stigmatisierung und Herabwürdigung von Mehrkindfamilien, von der die AfD in ihrem Antrag schreibt, stelle ich gerade derzeit in unserer Gesellschaft nicht fest, eher eine Wertschätzung von Familienarbeit. Im Jahre 2015 gab es 871 000 Haushalte mit Mehrkindfamilien. Im Jahre 2019 sind es schon 977 000 Haushalte. Auch die Geburtenziffer entwickelt sich im langfristigen Trend positiv. 1995 hatten wir in Deutschland den historischen Tiefstand von 1,25 Geburten pro Frau, 2005 waren es schon 1,34 Geburten pro Frau, und im Jahre 2019 lagen wir bei 1,54 Geburten pro Frau. Im langfristigen Vergleich steigt also die Geburtenrate in Deutschland. Das ist ein Erfolg gegen den demografischen Wandel, und das hat auch etwas mit einer guten, verlässlichen Familienpolitik zu tun. ({2}) Der Antrag der AfD „Aktive Familienpolitik durch Baby-Willkommensdarlehen“ wäre hingegen keine kluge Familienpolitik. Warum sollten sich Eltern zusätzlich mit 10 000 Euro auf fünf Jahre beim Staat verschulden? Wir hingegen haben ab 2021 erneut eine Erhöhung des Kindergeldes durchgesetzt. Das sind bei einem Kind auf fünf Jahre gerechnet 13 000 Euro, bei zwei Kindern 26 000 Euro und bei drei Kindern fast 40 000 Euro, und von diesem Geld fordert der Staat kein bisschen zurück. ({3}) Damit entlasten wir Familien wirklich. Darüber hinaus steigt 2021 auch die Gesamthöhe der Freibeträge, der Kinderfreibetrag sowie der Freibetrag für Betreuung, Erziehung, Ausbildung. Werden die Eltern gemeinsam veranlagt, steigen die Freibeträge für 2021 insgesamt um 576 Euro auf 8 388 Euro im Jahr. Auch das Elterngeld hat sich als Familienleistung in Deutschland bewährt. Von der Bevölkerung wird es sehr geschätzt. Unsere Varianten – Basiselterngeld, Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus – bedeuten eine große Wahlmöglichkeit für die Familien. Elterngeld bekommen Mütter und Väter, die nach der Geburt ihres Kindes nicht oder vorerst nur wenig berufstätig sind. Der Staat unterstützt die Familien mit mindestens 300 Euro und maximal 1 000 Euro im Monat, abhängig vom jeweiligen Nettoeinkommen. Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell. Gerade in diesem Haushalt haben wir den Etat des Elterngeldes um 88 Millionen Euro auf nunmehr über 7 Milliarden Euro erhöht. ({4}) Mit dem Schulbedarfspaket entlasten wir Eltern nicht nur beim Schulstart. Wir bieten einen Zuschuss für den Kauf von Schulmaterialien. Eltern und Alleinerziehende haben Anspruch auf 150 Euro Unterstützung pro Schuljahr, wenn sie den Kinderzuschlag oder Wohngeld erhalten. Nicht nur junge Schüler haben einen Anspruch auf dieses Geld und diese Unterstützung, sondern auch Jugendliche bis 25 Jahre, wenn sie eine Berufsschule oder eine allgemeinbildende Schule besuchen. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unterstützen, fördern wir den Kitaausbau bis 2021 mit insgesamt bis zu 5,4 Milliarden Euro. Für die Ganztagsbetreuung in den Grundschulen stellen wir von 2020 bis 2021 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Für die Eigentumsbildung haben wir das Baukindergeld eingeführt – nun gibt es für den Zeitraum bis März 2021 insgesamt 10 Milliarden Euro –, und das nehmen sehr, sehr viele Familien in Anspruch. Meine Damen und Herren, das sind finanzielle Unterstützungsleistungen, die zeigen, dass uns die Familien wichtig sind. Wir leisten viel für unsere jungen Familien und unterstützen die Wahlfreiheit in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So treten wir auch dem demografischen Problem wirklich wirksam entgegen. Mit unseren familienpolitischen Leistungen sind wir im EU-Vergleich gut aufgestellt. Die AfD lobt Frankreich besonders. Aber das französische Kindergeld wird erst ab dem zweiten Kind gewährt. Zwar ist die Geburtenrate in Frankreich noch höher; aber seit 2014 sinkt sie kontinuierlich. Unsere Familienleistungen sind deutlich höher und besser als die in Frankreich, gerade für einkommensschwache Familien sind wir Spitze in Europa. Lassen Sie mich zuletzt auf den Antrag auf Einführung eines ermäßigten Steuersatzes für Babywindeln eingehen. Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem eine Gesamtkonzeption, die bereits Grundbedürfnisse des Familienkonsums umsatzsteuerlich begünstigt. Also sind wir nicht „familienblind“, wie Sie schreiben, sondern wir sehen sehr wohl genau hin. Dabei werden – das ist besonders bedeutsam – kindbezogene Dienstleistungen wie zum Beispiel die Tagesbetreuung im Kindergarten oder die Leistungen der Jugendhilfe ({5}) nach dem SGB VIII grundsätzlich von der Umsatzsteuer befreit. Die Lieferungen von Lebensmitteln, Schulbüchern und Malbüchern unterliegen ebenfalls dem ermäßigten Steuersatz. Der Europäische Gerichtshof hat aber in seinem Urteil bereits festgestellt, dass wir bei der Umsatzsteuerermäßigung wie zum Beispiel bei Säuglingsbekleidung und Kinderschuhen gegen die vereinheitlichten Vorgaben der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen. Deshalb wäre die Begünstigung von Lieferungen von Babywindeln, Kinderbekleidung oder Spielzeug ebenso nicht zulässig. Es ist nicht eine einzelne Maßnahme, die gute Rahmenbedingungen für Familien schafft. Wir bieten ein vielfältiges Angebot und unterstützen unsere jungen Eltern. Wir wollen ihnen mit unseren Rahmenbedingungen Lust auf Familie machen, und das zeigen wir; das habe ich gerade ausgeführt. Deshalb lehnen wir, wie Sie sich denken können, die AfD-Anträge ab. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel. – Eine Maske! ({0}) Schönen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir Ihnen! Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Mariana Harder-Kühnel. ({1})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mehr Kinder braucht das Land, und die Deutschen wollen Kinder kriegen. Statistisch gesehen wünschen sich 37 Prozent aller Männer und 40 Prozent aller Frauen zwei Kinder. 44 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen wünschen sich sogar mindestens 3 Kinder. Nur etwa 7 Prozent möchten kinderlos bleiben. Und dennoch ist die Geburtenrate zu niedrig; sie liegt mit circa 1,5 Kindern pro Frau deutlich unter dem bestandserhaltenden Niveau. Woran liegt das? Liegt es daran, dass sich viele Deutsche Kinder schlichtweg nicht leisten können? Liegt es daran, dass Abtreibungen mittlerweile als etwas völlig Normales oder gar Gutes propagiert werden, für das Ärzte nach Meinung vieler hier im Hause sogar werben dürfen? Liegt es daran, dass im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unverhohlen für die Sterilisation junger Frauen geworben wird, dass Kinder dort als karrierehemmender und freiheitseinschränkender Ballast dargestellt werden? Oder liegt es daran, dass die ARD sogar die Frage aufwirft, ob man künftig auf Kinder verzichten sollte, um das Klima zu retten? ({0}) Meine Damen und Herren, Deutschland ist nicht von einer klimatischen, sondern von einer demografischen Katastrophe akut bedroht, ({1}) einer Katastrophe, die dafür sorgt, dass unser Renten-, Gesundheits- und Sozialsystem kurz vor dem Kollaps steht. Kinderreichtum wird in Deutschland mittlerweile mit Armut bestraft. Kinder sind im reichen Deutschland zum Luxusgut geworden. Dabei sind Kinder eigentlich vor allem eines: das Schönste, was es gibt, und unser aller Zukunft. ({2}) Familien mit Kindern waren, sind und bleiben systemrelevant; sie umfassend zu fördern, ist Verpflichtung und Auftrag zugleich. Eine aktivierende Familien- und Bevölkerungspolitik muss daher wieder zu den vorrangigen Aufgaben von Parlament und Regierung gehören; denn unsere primäre Aufgabe ist es, Politik für das eigene Volk zu machen. ({3}) Deshalb brauchen wir eine Familienpolitik, die diesen Namen auch verdient und junge Menschen ermutigt und es ihnen wirtschaftlich möglich macht, sich auf dieses Abenteuer Familie einzulassen, eine Familienpolitik, die dafür sorgt, dass die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung endlich wieder steigt. ({4}) Eine Kultur des Todes lehnen wir ab. Ein Menschenrecht auf Abtreibung gibt es für uns nicht. Wir stehen stattdessen für eine Kultur des Lebens. Also heißen wir Babys willkommen! Erleichtern wir die Entscheidung für ein drittes Kind! Entlasten wir Familien! Sorgen wir für einen Wertewandel in den Medien, und starten wir Imagekampagnen für ein positives Familienbild! Schaffen wir so eine Willkommenskultur für Kinder! Denn Zukunft geht nun einmal nur mit Kindern.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Deutschland muss für Familien und Kinder wieder attraktiv werden; denn die bevölkerungspolitische Antwort auf die demografische Katastrophe, auf die wir zusteuern, darf nicht länger und allein Zuwanderung heißen. Machen wir neue –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende!

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– Deutsche lieber selber. Sagen wir Ja zum Leben! Sagen wir Ja zu Kindern! Und sagen wir Ja zur Familie! Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gleich vorweg: Meine Vorrednerin hat gerade von einer Klimakatastrophe gesprochen, die ja verschärft in unserer Gesellschaft stattfindet. Es ist fatal, wie Sie mit Beiträgen aus Ihren Reihen zu einem Klima beitragen, das zur Spaltung führt. Und wenn Sie sich wünschen, dass Ehepaare und Paare wieder mit gutem Gewissen Familien gründen, dann sollten Sie dazu beitragen, dass das Klima in diesem Land nicht zu Spaltung und Hass beiträgt. ({0}) Ich will auf etwas hinweisen – und ich bitte Sie, Frau Präsidentin, dass Sie Ihrem Vorgänger im Präsidium mitteilen, dass ich ihm dankbar bin, dass er der Kollegin der AfD einen Ordnungsruf erteilt hat –: Wir reden hier über Familienpolitik. In diesem Zusammenhang finde ich den Hinweis auf Mitglieder in der Bundesregierung – es ist übrigens auch schon im Ausschuss passiert, dass Sie die Kollegin Schauws darauf hingewiesen haben, dass sie eigentlich gar keine Ahnung von Familienpolitik hat, weil sie ja keine Kinder hat –, ({1}) auf die kinderlosen Minister und den Zwischenruf vorhin wieder an Frau Breymaier eine ganz perfide Art. Sie spalten, Sie säen Hass. Sie sind wirklich widerlich mit Ihrer Art, wirklich widerlich! ({2}) – Ja, widerlich sind Sie mit Ihrer Art, einfach widerlich. ({3}) Und dann will ich noch etwas zu Ihren Anträgen sagen. Da schreiben Sie davon, dass gezielt dazu beigetragen werden soll, dass Akademikerinnen und Akademiker Familien gründen. Was ist das wiederum für eine Spaltung! Sie gerieren sich hier als Partei der angeblich Schwachen und der sozial nicht so gut Gestellten; aber den Kinderwunsch wollen Sie nur bei den Akademikern stärken. Und was ist mit den anderen Familien? Was ist mit den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern? Was ist mit den Erzieherinnen und Erziehern? Den Polizisten? Das sind keine Akademiker. Deren Kinderwunsch ist Ihnen egal. ({4}) Das ist wiederum eine Spaltung, die Sie vorantreiben. ({5}) Dann schreiben Sie in Ihrem Antrag von einem Wertewandel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sie wollen einerseits dazu beitragen, dass da ein Wertewandel passiert. Andererseits beschweren Sie sich, dass Ihre Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit eingeschränkt werden. ({6}) Wir haben das hohe Gut der Meinungs- und Pressefreiheit, und wir als Bundestag sollten nicht in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk reinregieren, sondern wir sollten auch da die Presse- und Medienfreiheit hochhalten und keinen Wertewandel in Ihrem Sinne fordern! ({7}) Und dann schreiben Sie davon, dass Sie quasi eine – so wird hier suggeriert – staatlich verordnete Bevölkerungspolitik haben wollen. Lassen Sie sich vielleicht noch mal – vielleicht von Ihren Kindern oder Enkelkindern – erklären, wie das ist mit den Bienen und den Blumen! Nicht wir sind diejenigen, die dazu beitragen, dass Kinder geboren werden, sondern das wird schon ganz allein in den Familien und von den Paaren entschieden. Das ist auch gut so, und da wollen wir gar nicht reinregieren. ({8}) Aber wir wollen die Voraussetzung für vernünftige Rahmenbedingungen für Familien schaffen. ({9}) Da will ich auch mit einer Mär aufräumen. Sie behaupten immer, dass die Familien keine Wahlfreiheit haben, dass wir sie in bestimmte Richtungen stoßen. Nein, wir sorgen dafür, dass die Familien Wahlfreiheit haben, ({10}) indem wir Infrastruktur ausbauen, damit sie sich entscheiden können für Familie und Beruf oder eben auch nur Familie. ({11}) Aber sie müssen sich entscheiden können. Deshalb sorgen wir für eine gut ausgebaute Kinderbetreuung, meine Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Zu guter Letzt: Kinderrechte ins Grundgesetz. Frau Pantel, Sie hatten gesagt: Die sind ja quasi schon drin. – Nein, sie sind noch nicht ausreichend drin. ({13}) Wir formulieren sie noch mal deutlicher. Ich appelliere deshalb auch an dieser Stelle an die Unionsfraktion: Bitte sorgen Sie dafür, dass das, was wir im Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, auch umgesetzt wird mit konkreten Formulierungen, die tatsächlich dazu beitragen, dass die Kinderrechte gestärkt werden. Wir halten uns an die Abmachung im Koalitionsvertrag. ({14}) Mit gestärkten Kinderrechten schaffen wir auch gute Bedingungen für Familiengründungen. Danke schön. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sönke Rix. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion legt heute ein Konvolut an Papierchen vor, (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das trifft es: „Papierchen“! die wohl alle irgendetwas mit Familie zu tun haben sollen. Worum geht es der AfD wirklich, wenn sie vorgibt, Familienpolitik machen zu wollen? Sie schreibt es selbst in einem der Papiere: Dem Gesetzgeber obliege es – es ist heute schon zitiert worden –, „den Erhalt des deutschen Staatsvolkes zu sichern“. Aha! Meine Damen und Herren. Und wie will die AfD das machen? Mit Einschnitten in die freie Presse; denn es passt ihr nicht, wenn medial Lebenswege ohne Kinder diskutiert werden. Mit einem staatlichen Zwangsdarlehen, das beim ersten Kind ausgezahlt wird und erst nach fünf Jahren zurückgezahlt werden darf. Ist dann das Geld weg, können die Darlehensschuldner einfach zwei weitere Kinder bekommen, dann gibt es den Schuldenerlass. Und natürlich, indem sie versucht, die Möglichkeit zur Abtreibung einzuschränken. Meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, Sie wollen, dass die Leute Kinder kriegen, weil sie nicht umfassend informiert sind, weil sie kein Geld haben oder weil sie nicht abtreiben dürfen. Wir Freie Demokraten möchten, dass die Menschen Kinder bekommen, die sich das aus tiefstem Herzen heraus wünschen. ({0}) Wir möchten Menschen darin unterstützen, den für sie richtigen Weg zu gehen – mit wie vielen Kindern auch immer. Wir möchten, dass Menschen Kinder bekommen, weil sie ein unglaublich großartiges Geschenk sind und es großartig ist, sie beim Aufwachsen und bei ihrem individuellen Weg ins Leben begleiten zu dürfen. Wir stehen deshalb an der Seite derjenigen, die sich ganz selbstbestimmt sehnlichst ein Kind wünschen. Wir setzen uns dafür ein, dass die Kosten für Kinderwunschbehandlungen wieder vollumfänglich von der Krankenversicherung getragen werden; denn die Verwirklichung eines Kinderwunsches darf nicht am Geldbeutel scheitern. ({1}) Wir wollen die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin auch in Deutschland zugänglich machen. Wir wollen Eizell- und Embryonenspenden, die fast überall in Europa bereits legal sind, erlauben. Wir möchten die Möglichkeit zu nichtkommerzieller Leihmutterschaft, die aus reiner Nächstenliebe erfolgt, schaffen. Es kann nicht sein, dass wir Betroffene ins Ausland verweisen und hier so tun, als gäbe es all das nicht. Wir müssen endlich das veraltete Embryonenschutzgesetz durch ein zeitgemäßes Chancengesetz ersetzen. ({2}) Wir wollen das Adoptionsrecht auf die Agenda nehmen und das Familienrecht ganz grundsätzlich der heutigen Lebensrealität anpassen, beispielsweise das Wechselmodell als Leitbild implementieren. Lassen Sie uns diejenigen unterstützen, die Eltern sein wollen! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Helling-Plahr. – Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Bettina Wiesmann. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute Vormittag ein vertrocknetes Sträußchen an Wünschen der AfD an die Familienpolitik zu besprechen, das Sie erkennbar unter großen Mühen zusammengepflückt haben. ({0}) Zumeist sind es schlappe Wiederholungen des immer Gleichen. Ihr Wunsch nach Umsatzsteuerabsenkung für Babywindeln war ja schon Teil Ihres Antrags vom März 2019, den der Bundestag abgelehnt hat. Auch Ihr Wunsch nach Zensur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wenn Ihnen eine Sendung – genauer gesagt: ein kleiner Teil, eine Meinungsäußerung innerhalb eines größeren Formats – nicht passt, ist nicht neu. Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir hier eine Aktuelle Stunde gehabt, weil Ihnen die Kindersendung „logo!“ nicht gepasst hat. Deshalb dazu nur wenige Worte. ({1}) Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Der Rundfunkstaatsvertrag wurde inzwischen vom Medienstaatsvertrag abgelöst. Wenn man bei einer Rundfunksendung Verdacht auf entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte hat, dann wendet man sich an den Rundfunkrat des Senders oder an die Seite programmbeschwerde.de. ({2}) Im Übrigen gilt: Nicht nur in der Schule, sondern auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk macht der Beutelsbacher Konsens Sinn. Er verlangt, unterschiedliche Meinungen darzustellen, zu diskutieren und zu reflektieren, ({3}) nicht überwältigend von vorne, sondern schülerorientiert und kontrovers. Das ist übrigens das, was in anderen Medien, auf denen Sie fleißig unterwegs sind, eher nicht passiert. ({4}) Diskussion statt Hate Speech. Vielfalt statt Einfalt. Deshalb wird – zu einem anderen Thema, das Sie interessiert – zum Beispiel im hessischen Lehrplan Sexualerziehung sowohl auf die Vielfalt sexueller Orientierungen als auch – und das ist sehr wichtig – auf die Bedeutung des Schutzes des ungeborenen menschlichen Lebens eingegangen. Was Sie hier fordern, gibt es längst schon. Aber wichtiger als Ihre Einzelanträge ist das Bild vom Menschen, von Familie und vom Staat, das Sie uns hier immer wieder präsentieren und das sogar manche vielleicht nachvollziehbare Frage in eine Sphäre zieht, in die sie nicht gehört. Auch ich möchte noch mal aus Ihren Anträgen ein paar Dinge zitieren: „Eine Gesellschaft kann nur fortbestehen, wenn sie aus sich heraus gedeiht“, schreiben Sie. Nein, eine Gesellschaft gedeiht im Austausch mit anderen. ({5}) Sie behaupten, Bundesregierung und Koalition würden dem demografischen Wandel – Zitat – „ausschließlich mit gesteuerter oder ungesteuerter Zuwanderung … begegnen“. Sie würden das Thema ignorieren und über Lösungen nicht nachdenken. Schon einmal vom Bericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ gehört? Lohnt, gelesen zu werden. ({6}) Sie behaupten weiter, kinderreiche Familien würden hierzulande herabgewürdigt und stigmatisiert. Einiges ist dazu schon gesagt worden. Eine genaue Betrachtung der Studie von Bujard und anderen, die Sie erwähnen, zeigt: Die Vermutung, Kinderreiche würden gering geschätzt, hegen 82 Prozent der Befragten, aber lediglich knapp 10 Prozent stimmen der Aussage selber zu. Ich selbst habe mich mit vier Kindern – ganz im Gegenteil – oft besonders anerkannt gefühlt. Also hören Sie doch bitte auf, zum Schlechtreden beizutragen. ({7}) Verlangen Sie nicht in einem Antrag, Eltern beim dritten Kind 10 000 Euro zu schenken, und im nächsten Antrag, Eltern sollten aus eigener Leistung ihre Kinder versorgen können. Ihre Agenda ist offensichtlich, etwas schlechtzureden und dann irgendwelche widersprüchlichen Forderungen zu erheben. ({8}) Wahrscheinlich – und das ist noch die mildeste Interpretation – wissen Sie selber nicht, was Sie wirklich wollen. ({9}) Deshalb – sehr gutes Stichwort – sollten wir hier einmal klarstellen, was dieser Staat für Familien tut. Er unterstützt sie nämlich jährlich mit über 120 Milliarden Euro, wenn man die ehebezogenen Leistungen, die wir sehr wichtig finden, noch dazu nimmt, sogar mit über 200 Milliarden Euro. Die kommen teilweise in Form von finanziellen Leistungen, teilweise als Infrastrukturangebote. Zu den Details haben wir hier schon wirklich viel Wichtiges gehört. ({10}) Was tatsächlich aber fehlt, haben Sie bestimmt nicht im Blick. Es gehört nämlich Vertrauen in die eigene Stärke und in die unterstützende Solidarität der Gesellschaft dazu, ein Kind großzuziehen. Es gehört auch Zeit dazu, die man haben oder sich nehmen muss. Hier sehe ich die große Aufgabe für die Familienpolitik der nächsten Jahre, die auch noch nicht vollständig erledigt ist: Zeit zu gewinnen für Familie, für Erziehung, für Sorge in der Familie, für die man Verantwortung hat, ({11}) und Eltern zu ermöglichen, Kinder als Teil ihrer Familie zu erleben und umgekehrt. Sie alle wünschen sich das nämlich. Das geht nur schwer mit permanenter, unflexibler Doppel-Vollerwerbstätigkeit. Deshalb müssen Familien flexibler als bisher ihre Zeit einteilen können und das über den gesamten Lebensverlauf. Viele Arbeitgeber bieten hier schon Spielräume, übrigens in den meisten Gehaltsstufen. Dafür gibt es auch Rechtsansprüche. Es fehlen aber noch Instrumente – damit beschäftigen wir uns als Unionsfraktion –, die bewirken, dass sich junge Paare nicht vor familiären Verpflichtungen fürchten müssen. Das sind erstens Familienzeitkonten, die es erlauben, dass ein Teil der geleisteten Arbeitszeit zurückgelegt werden kann, zum Beispiel die geleisteten Überstunden, die man dann später für weniger Arbeit bei gleichem Lohn einsetzen kann. Das wäre ein Konzept, wie die Familie sich aus eigener Leistung versorgen kann. Es verspricht Wahlfreiheit und bietet Flexibilität und Verlässlichkeit. Dazu gehören zweitens digitale Familienleistungen und Familienbüros, in denen über diese Leistungen informiert wird und wo auch direkt die Beantragung erfolgen kann. Das schont die Nerven und bringt Zeit für die Familien. Die Koalition hat diesen Weg begonnen, und jetzt muss er kraftvoll fortgesetzt werden. Familienpolitik ist für uns nicht Bevölkerungspolitik. Sie soll Familien dort entlasten, wo sie es brauchen. Familien wollen sich frei entfalten – ohne Bevormundung, ohne für andere Zwecke in Anspruch genommen zu werden. Das macht – es ist schon gesagt worden, aber man kann es nicht oft genug sagen, liebe Sylvia – Lust auf Familie. Familien haben Anerkennung verdient, egal ob sie ein, zwei, drei, sechs oder mehr Kinder haben. Sie haben Anspruch auf Unterstützung, um nicht in Notlagen zu geraten. Genauso müssen sich Kinderlose nicht entschuldigen; denn sie tragen in aller Regel überproportional zur Gesamtleistung der Gesellschaft bei, und auch sie haben selbstverständlich die freie Wahl. ({12}) Für uns heißt Familienpolitik auch: Eltern stärken, Kindern mehr zuhören, Kinder und Jugendliche systematisch und altersgerecht beteiligen, zum Beispiel über die von der Bundesregierung dankenswerterweise vermehrt geförderten Jugendparlamente. Familienpolitik bedeutet aber auch, das Engagement für andere zu stärken, und das beginnt bereits in der Familie. Ich will hier nur das Stichwort „Freiwilligendienste“ erwähnen. Das ist unser Bild von Familie und vom Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie von der AfD dagegen grenzen aus, Sie spalten, Sie vergiften, und zwar jeden Tag mit anderen Überschriften, aber meist in derselben Tonart. Es geht Ihnen nicht ums deutsche Volk, das sich nach den furchtbarsten Erfahrungen den besten Staat gegeben hat, der je existiert hat, ({13}) der weltoffen und bescheiden, in vielem vorbildlich für die Welt ist, der aber nicht auftrumpft.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Letzter Satz. – Deutschland ist ein Land, das seit Jahrhunderten von Einwanderung, Handel und Austausch profitiert und dessen Reichtum ohne die Vielfalt seiner Gruppen und Regionen nicht zum Vorteil des Ganzen hätte nutzbar gemacht werden können. ({0}) Familien sind das Herz dieser Gesellschaft, die zusammenhält; ihre Vielfalt ist ein Bollwerk gegen Vereinnahmung, wie Sie sie wohl wollen, eine ständige Quelle von Zukunft – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin!

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit können wir getrost in die Zukunft blicken. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Bettina Wiesmann. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Gülistan Yüksel für die SPD-Fraktion. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren vor den Bildschirmen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich freue ich mich immer, wenn wir hier im Deutschen Bundestag zu prominenter Stunde über wichtige frauen- und familienpolitische Themen diskutieren. Was mich aber weniger freut, ist, wenn die AfD unsere Zeit damit vergeudet, eine rassistische Bevölkerungspolitik zu propagieren. ({0}) Schon aus dem AfD-Grundsatzprogramm und auch aus Ihren Anträgen in Landtagen und hier im Deutschen Bundestag wird immer wieder deutlich: Sie hängen einem völkischen Weltbild nach. Sie schwadronieren von einer „aktivierenden Familienpolitik“ als „einzige tragfähige Lösung“, um „eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung“ zu bewirken. Sie schreiben vom „Erhalt des deutschen Staatsvolkes“. ({1}) Ihr AfD-Verband aus meinem Wahlkreis schrieb unlängst, dass ich nicht die Belange der deutschen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vertreten könne. ({2}) „Der letzte Deutsche wird von einem Moslem beerdigt“, wurde da öffentlich getönt. ({3}) Nun, meine Herrschaften von der AfD, ob Sie wollen oder nicht: Deutschland ist meine Heimat, und das seit mehr als 50 Jahren. ({4}) Als gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages vertrete ich ohne Wenn und Aber die Interessen aller Menschen hier in Deutschland, und ich mache im Gegensatz zu Ihnen keine Unterschiede zwischen den Menschen. ({5}) Sie wollen die Selbstbestimmung der Frauen einschränken, insbesondere die reproduktiven Rechte. Sie reden über Frauenrechte, geben ihnen aber keine. Sie wollen mit Ihrem frauenfeindlichen Populismus Frauen zurück in traditionelle Geschlechterrollen zwingen. Wir aber halten dagegen – hier im Parlament und auch in unserer Gesellschaft. ({6}) Wir unterstützen Frauen und Männer in ihrem Kinderwunsch, weil sie es selbst wollen, und nicht, weil es eine Bevölkerungsideologie ist. Wir arbeiten für mehr Unterstützungsangebote für Frauen und Familien, also mehr Hilfen für Alleinerziehende, mehr kostenlose Kitaplätze und Betreuungsangebote, mehr Teilzeitmöglichkeiten auch in Führungspositionen. Das ist gute Familienpolitik. Es ist auch gute Frauenpolitik, wenn es neben den Unterstützungsangeboten für junge Mütter und Familien auch Hilfen für Frauen gibt, die ungewollt schwanger geworden sind. ({7}) Um es klarzustellen: Wenn sich ungewollt Schwangere für einen Abbruch entscheiden, fällen sie diese Entscheidung nicht leichtfertig. Als SPD ist für uns klar: Betroffene Frauen und ihre Ärztinnen und Ärzte brauchen Rechtssicherheit und eine flächendeckende Versorgungslage. ({8}) Um Frauen in einer Not- und Konfliktsituation beiseitezustehen, haben wir in unserem Land gute Beratungsangebote und gute Beratungsstellen. Wir haben ein Hilfetelefon „Schwangere in Not“, das rund um die Uhr anonym und kostenfrei erreichbar ist. Wir haben die Bundesstiftung Mutter und Kind, die Müttern in Notlagen mit Erstausstattung oder Betreuungskosten hilft. Wir haben die Frühen Hilfen, die Hilfsangebote von der Schwangerschaft bis in die ersten Lebensjahre bieten. Wir haben ein Informationsportal für Familienplanung und den Wegweiser für Familien. Das ist gute Familien- und Frauenpolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({9}) Wir stellen uns gegen ein diskriminierendes Frauenbild, gegen Antifeminismus und gegen ein völkisches Weltbild. ({10}) Wir stehen für Frauenrechte, für Gleichstellung und Freiheit für alle. Herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gülistan Yüksel. – Damit schließe ich die Aussprache.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist nichts anderes als ein Spiegel der Weltpolitik, und die hat ganz sicherlich das Prädikat „schwierig“ in den letzten Jahren mehr als verdient. Nicht anders kann man auch die Arbeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen selbst beschreiben. Der Rückzug der USA aus multilateralen Strukturen unter Donald Trump, der wachsende amerikanisch-chinesische Gegensatz auf allen Ebenen und die Missachtung des Völkerrechtes, und zwar auch durch ständige Mitglieder: Das alles ist nicht spurlos am Sicherheitsrat vorbeigegangen. Und natürlich ist der Raum für Fortschritte und Kompromisse in dieser Zeit aus diesen Gründen auch mehr als geschrumpft. Dennoch: Wer nun den Abgesang auf den Sicherheitsrat anstimmt, dem will ich beispielhaft mal eine Zahl entgegenhalten, und diese Zahl lautet: 101. So viele Resolutionen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trotz aller Kontroversen und trotz schwieriger Rahmenbedingungen während unserer Mitgliedschaft verabschiedet – von Afghanistan bis Jemen, von Sudan bis zur Zentralafrikanischen Republik –, und oft waren es die Europäer im Sicherheitsrat, die immer wieder Kompromisse vorgeschlagen haben, in unendlichen Gesprächen nach Lösungen gesucht haben, aber auch, wo es nötig gewesen ist, ganz entschieden dagegengehalten haben. Ich erinnere mich noch gut an die schwierigen Gespräche etwa mit Sergej Lawrow, dem russischen Außenminister, als Russland und China während unserer Präsidentschaft im Juli damit drohten, die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe in Syrien auslaufen zu lassen. Und natürlich war es schmerzhaft, dass wir den Zugang für die humanitären Helfer in Syrien am Ende auf einen Grenzübergang beschränken mussten. Aber der Unterschied zwischen diesem einen und keinem Grenzübergang ist für Tausende von Syrerinnen und Syrern ein Unterschied zwischen Leben und Tod gewesen. Deshalb haben wir – und das ist nur ein Beispiel – Tage und Nächte über dieses eine Thema durchverhandelt, und so ging es bei vielen anderen auch. Und deshalb haben wir am Ende auch, und zwar zusammen mit anderen, einen Kompromiss erzwungen. Gleiches gilt etwa für den Sudan. Manch ein Sicherheitsratsmitglied hatte schon auf die endgültige Abwicklung der UN-Mission in Darfur spekuliert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom Kollegen Dr. Neu aus der AfD, Entschuldigung, von der Linken? – Entschuldigung! ({0})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Von wem jetzt?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vom Kollegen aus der Fraktion Die Linke, von Dr. Neu.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Dr. Neu, bitte, sehr gerne.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigung.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Außenminister Maas, ein kleiner Blick nach links reicht aus, und Sie können mich erkennen. Ich hatte vor Kurzem schon mal beim Auswärtigen Amt herauszufinden versucht, wie viele Resolutionsentwürfe von Russland, China oder den USA oder Großbritannien, also den ständigen Mitgliedern, jeweils abgelehnt worden sind, mit einem Veto oder einem Hidden Veto sozusagen verhindert worden sind. Eine solche Auflistung wurde mir vom Auswärtigen Amt verweigert. Meine Frage: Würden Sie sich in Ihrem Haus dafür einsetzen, dass wir als Abgeordnete mal einen Überblick über die abgelehnten oder Hidden Vetoes der Sicherheitsratsmitglieder seit 2010 bis heute bekommen? Das würde für die Politikwissenschaft, für die Geschichtswissenschaft und für die Parlamentarier in diesem Hause sicherlich dazu beitragen, einen Überblick zu bekommen. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Herr Minister, bitte.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen zusichern, dass ich mich mit Nachdruck in meinem Hause und auch bei der Vertretung in New York dafür einsetzen werde, dass man dem Genüge tut. Das ist eine ganze Menge, zurückblickend bis 2010. Aber ich bin mir sicher, dass wir in absehbarer Zeit eine solche Übersicht für Sie zustande bringen, und ich hoffe, dass sie dazu führt, dass Sie in Zukunft bei dem einen oder anderen Thema vielleicht auch zu anderen Schlüssen kommen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Meine Damen und Herren, ich würde gerne auf einige Beispiele zurückkommen, bei denen man sehen kann, dass der Sicherheitsrat zumindest nicht gänzlich seine Handlungsfähigkeit verloren hat. Ich habe Syrien angesprochen und würde gerne auch den Sudan und insbesondere die UN-Mission ansprechen, die für viele schon beendet gewesen ist. Doch letztlich durften wir im Sudan nach der Absetzung al-Baschirs einen neuen demokratischen Sudan mit all dem, was es an Hoffnung in diesem Land gibt, eben nicht im Stich lassen. Und so haben wir es auch gemeinsam mit Großbritannien geschafft, eine völlig neue UN-Mission aus der Taufe zu heben, die nun den politischen Reformen Unterstützung leistet und auch den laufenden Friedensprozess begleitet. Das alles sah am Anfang der Diskussion ganz anders aus. Das gilt auch für Libyen. Ohne den Berliner Prozess, den wir ja hier mit der Libyen-Konferenz zu Beginn des Jahres gestartet haben, und ohne unser ständiges Nachhalten der eingegangenen Verpflichtungen im Sicherheitsrat und auch im Sanktionsausschuss würden wir heute nicht über eine politische Friedenslösung und freie Wahlen im Dezember in Libyen sprechen. Was der Sicherheitsrat als Ergebnis von Berlin, der Libyen-Konferenz hier in Berlin, indossiert hat, bildet heute die Basis für das Libysche Politische Dialogforum. Und dass wir trotz aller Polarisierung des Sicherheitsrates in der Lage gewesen sind, solche Fortschritte zu erzielen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir Kurs gehalten und uns an dem orientiert haben, was wir als Zweijahresprogramm dort vorgelegt hatten. Wir hatten von Beginn an immer großen Wert darauf gelegt, dass wir eine starke europäische Stimme im Sicherheitsrat sein wollen. ({0}) Wir haben uns nicht nur täglich mit unseren europäischen Partnern abgestimmt, wir haben auch gemeinsam Sondersitzungen einberufen, gemeinsam abgestimmt und damit der Weltöffentlichkeit auch gemeinsam erklärt, worum es uns geht, nämlich darum, das Gewicht Europas und vor allen Dingen der Europäischen Union im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu stärken. Und ich bin froh, dass uns mit Norwegen und Irland ab Januar zwei Länder nachfolgen, die diesen Weg ganz konsequent weitergehen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch inhaltlich sind wir uns in diesen zwei Jahren treu geblieben. In jeder einzelnen der 101 Resolutionen der letzten Monate haben sich unsere Kolleginnen und Kollegen in New York und Berlin immer für einen vorausschauenden umfassenden Sicherheitsbegriff eingesetzt, der zum Ziel hat, dass sich der Sicherheitsrat nicht immer erst dann mit Themen befasst, wenn vor Ort bereits geschossen wird, sondern viel früher, um solche Konflikte möglicherweise zu verhindern. Also, Menschenrechte, die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen, ihr Schutz vor sexueller Gewalt, all das wäre ohne diesen Einsatz oft schlicht und einfach unter den Tisch gefallen, weil nicht alle Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – auch permanente Mitglieder des Sicherheitsrates – bereit sind, diese Prioritäten und damit auch diese Realitäten in der internationalen Politik anzuerkennen. Wegen der gravierenden Folgen für die Menschen, die unter Kriegen und Konflikten leiden, ist das Thema, dass der Sicherheitsrat auch viel mehr präventiv arbeitet, ganz besonders wichtig. Und genau diese Menschen, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, haben wir im Rat zu Wort kommen lassen. Häufiger als irgendein anderes Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir immer wieder Zivilorganisationen, Menschenrechtsorganisationen als Briefer im Sicherheitsrat vortragen lassen. Gemeinsam mit Frankreich haben wir den sogenannten Call for Humanitarian Action angestoßen. Er steht für unseren Einsatz zum Schutz des humanitären Völkerrechts und zum Erhalt des humanitären Raumes. Meine Damen und Herren, auch das Thema „Abrüstung und Nichtverbreitung“ haben wir erstmals seit acht Jahren überhaupt wieder auf die Tagesordnung im Sicherheitsrat gesetzt. Darüber ist acht Jahre lang im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht gesprochen worden. Es gab viel Skepsis auch wiederum bei permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates, ob man überhaupt wieder über dieses Thema reden sollte. Dass das in einer Zeit notwendig ist, in der wieder an der Rüstungsspirale gedreht wird, ist uns, glaube ich, allen klar. Wir haben auch berechtigte Hoffnungen, dass sich dies in den nächsten Monaten auszahlt, etwa bei der Vorbereitung der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages, die im nächsten Jahr stattfinden wird. Meine Damen und Herren, wir haben natürlich nicht immer alles erreicht, schon gar nicht so, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber unter unserer Präsidentschaft ist im Juli endlich der Aufruf zu einer weltweiten Waffenruhe während der Coronapandemie beschlossen worden. Bedauerlicherweise hat es viel zu lange gedauert, nämlich komplette vier Monate, bis sich der Sicherheitsrat dazu überhaupt durchringen konnte. Und auch eine ambitionierte Resolution zu den Folgen des Klimawandels für Frieden und Sicherheit war mit der Trump-Administration bedauerlicherweise überhaupt nicht machbar gewesen. Doch wir haben erhebliche Vorarbeit geleistet, erstmals eine informelle Expertengruppe des Sicherheitsrates ins Leben gerufen und sogenannte Referenzdokumente zusammengetragen, die die sicherheitspolitischen Risiken des Klimawandels eindeutig belegen, und darauf wird die Arbeit unserer irischen und norwegischen Freunde ab dem nächsten Jahr aufsetzen. Meine Damen und Herren, ich bin auch froh, dass unsere Nachfolger im Sicherheitsrat nicht nur darauf aufbauen können, sondern auch auf eine Biden-Administration, die sich endlich wieder zum Multilateralismus bekannt hat. Nicht nur die ersten Personalvorschläge des künftigen amerikanischen Präsidenten machten uns Hoffnung, dass die USA ihre Rolle als überzeugter Multilateralist und Stütze der internationalen Ordnung endlich wieder einnehmen. Das Wissen aus einer Lektion der letzten Jahre sollten wir als Europäer dennoch bewahren, nämlich dass es – darüber müssen wir uns alle klar werden – viel stärker als früher auch auf uns ankommen wird, in dieser Welt Regeln zu verteidigen und neue zu setzen, Regeln, die eben allen Menschen zugutekommen. Auch Deutschland muss sich dieser Verantwortung weiter stellen – in den Vereinten Nationen und natürlich auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dass wir einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch auf Dauer auszufüllen wissen, das haben wir in den letzten beiden Jahren bewiesen. Deshalb wollen wir nicht nur in acht Jahren erneut für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat kandidieren, sondern wir wollen bis dahin ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen werden. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Anton Friesen. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! „Die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten“, sagte einst einer der herausragenden Generalsekretäre der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld. Diese Bundesregierung jedoch will die Menschheit über die Vereinten Nationen in den Himmel ihrer utopistischen Vorstellungen führen. Das beste Beispiel dafür ist die deutsche Agenda während der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, also dem zentralen Gremium der UN, in dem es um existenzielle Fragen wie Krieg und Frieden geht. Und was macht diese Bundesregierung? Sie setzt das Thema „Frauen, Frieden und Sicherheit“ auf die Agenda. ({0}) „Frauen, Frieden und Sicherheit“, das ist ein ideologisch getriebenes Wohlfühlthema. ({1}) Es trägt nichts zur Sicherheit bei, umso mehr zu Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit. ({2}) Die NGOs der sogenannten Zivilgesellschaft können jubeln, wenn unter dem Deckmantel des Einsatzes für die VN-Agenda 1325 ihre radikalfeministischen Ziele umgesetzt werden. ({3}) So sollen nach dem Willen Deutschlands, Frankreichs und Schwedens die Geschlechterstereotype hinterfragt werden, worunter sich die Zerstörung der traditionellen Familie und der Einsatz für die lautstarke LGBTQ-Lobby verbergen. Die sogenannte Zivilgesellschaft, die von Heiko Maas getätschelten NGOs klatschen da in die Hände. Dutzende Staaten auf dieser Welt wenden sich angewidert ab. Sie wollen zu Recht keinen deutschen Werteimperialismus, sie wollen zu Recht die Konzentration auf klassische sicherheitspolitische Themen, von denen es auch mehr als genug gibt auf dieser Welt. ({4}) Wenn es allerdings um die wirklich wichtigen Themen geht, dann versagt diese Bundesregierung. Sind wir durch unsere Mitgliedschaft im Sicherheitsrat etwa dem Ziel eines ständigen deutschen Sitzes nähergekommen? Wohl kaum. Dabei heißt es im deutsch-französischen Aachener Vertrag in Artikel 8 Absatz 2 – ich zitiere –, dass die „Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen … eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie“ sei. Wo war Deutschland denn im Sicherheitsrat, als es um Bergkarabach ging? Bekanntlich gab es erst dann eine vorläufige Lösung, als sich die Russen und die Türken bilateral zusammensetzten. Bei all den 101 Resolutionen, wo bleibt die eine Resolution, die die Gefährdung des internationalen Friedens, der internationalen Sicherheit durch die Türkei ganz klar verurteilt – in Libyen, in Syrien, in Bergkarabach und in der Ostägäis? ({5}) Zu guter Letzt noch eine Bemerkung zu Israel. Bekanntlich war es dieses Land, das durch das Zurückziehen der eigenen Bewerbung die deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat überhaupt erst ermöglicht hat. Im November hat Deutschland Israel bei sieben gegen Israel gerichteten UN-Resolutionen im Stich gelassen. Bis Dezember wird es bis zu 20 Israel-feindliche Resolutionen geben, denen Deutschland fast immer zugestimmt haben wird. Insgesamt hat Deutschland in der UN-Generalversammlung in 73 Prozent aller Fälle – also fast immer – gegen den jüdischen Staat gestimmt. ({6}) Herr Maas, Sie sind ein Heuchler. Sie meinten einmal, Sie seien wegen Auschwitz in die Politik gegangen. Dort, wo es allerdings wirklich um die Unterstützung Israels geht, da versagen Sie auf ganzer Linie. ({7}) Treten Sie ab, und überlassen Sie die Außenpolitik denen, die es wirklich können, der AfD! Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Johann Wadephul. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland wird regelmäßig mit großer Mehrheit in den Sicherheitsrat gewählt. Das beweist das große Vertrauen, das unser Land genießt. Die Vereinten Nationen bilden für uns das Herzstück der auf multilateralen Vereinbarungen gegründeten regelbasierten Weltordnung, deren Stärkung in unserem deutschen Interesse liegt. Die Mitgliedschaft war erfolgreich. Mein Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes in der Vertretung in New York und im Haus hier in Berlin sowie in Bonn. ({0}) Ich möchte in Sonderheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herrn Botschafter Christoph Heusgen danken, der diese Position in herausragender Art und Weise ausgefüllt hat und seit vielen Jahren im Auswärtigen Dienst für die Bundesrepublik Deutschland wie auch als außenpolitischer Berater der Bundeskanzlerin Herausragendes für unser Land geleistet hat. ({1}) Während der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat standen Themen wie die Stärkung des humanitären Völkerrechts in den blutigen Auseinandersetzungen dieser Welt sowie akute Konflikte und Bürgerkriege wie in Syrien und Libyen im Mittelpunkt. Wir mussten in den letzten Jahren miterleben, wie die Bedeutung, die Handlungsfähigkeit und erst recht die Strahlkraft der Vereinten Nationen infrage gestellt und unterminiert wurden, insbesondere durch Russland und China. Wir haben zudem in den letzten knapp vier Jahren mit Fassungslosigkeit mitansehen müssen, wie die amerikanische Regierung diese Ordnung, die sie einst selbst geschaffen hat, Schritt für Schritt infrage stellte und schwächte; ich nenne nur die Beispiele Klimaabkommen, WHO und WTO. Um es deutlich zu sagen: Die Vereinten Nationen sind heute nicht zuletzt deswegen in einem äußerst schlechten Zustand, in einem so schlechten Zustand wie schon lange nicht. Wo liegen die Hauptprobleme? Das möchte ich etwas deutlicher ansprechen, Herr Außenminister, als Sie das getan haben. Russland und China blockieren im Sicherheitsrat immer wieder in entscheidenden Momenten. Die Kriege in Syrien, Libyen oder der Konflikt um das iranische Atomwaffenprogramm, immer sind es diese beiden Vetomächte, die echte multilaterale Lösungen im VN-Rahmen verhindern. Russland hat – Herr Kollege Neu, Sie haben nach Statistiken gefragt – in den letzten zehn Jahren 20-mal formell Veto eingelegt, davon 15-mal in Bezug auf Syrien, wo Russland einen Krieg führt, der humanitären und Völkerrechtsgrundsätzen nicht entspricht, bei dem Krankenhäuser und Zivilisten bombardiert werden. Das ist ein Verhalten, das wir in jedem Fall verurteilen und das überhaupt nicht vereinbar ist mit einer an Humanität ausgerichteten multilateralen Ordnung. China hat zehnmal Veto eingelegt. Nach meiner Rechnung haben die USA fünfmal ihr Veto eingelegt, Großbritannien und Frankreich – insofern teile ich die Auffassung des Herrn Außenministers – kein einziges Mal. Das heißt, Europa zeigt sich als Kraft, die dieser wichtigen Institution wirklich Strahlkraft verleihen will. ({2}) Die Herausforderungen sind größer. China bekennt sich zwar in Worten zur multilateralen Ordnung, höhlt diese aber de facto immer wieder aus und schwächt diese Weltordnung. Herr Außenminister, ich hätte mir gewünscht, dass Sie dies auch ansprechen; denn es ist keine Kleinigkeit, dass China versucht, die Werte und Regeln der Vereinten Nationen umzudefinieren. Beispielsweise versucht China, den Demokratiebegriff neu zu definieren und an soziale Rechte zu binden, die wichtiger seien als der Rechtsstaat, oder die Souveränität des Staates über das Völkerrecht zu setzen; Stichwort: Einmischung in innere Angelegenheiten. Vor allem aber lehnt China die Universalität der Menschenrechte als politisches Konzept ab, obwohl China das Regelwerk der Menschenrechtscharta eigentlich mitaufgebaut hat. Wir begrüßen deshalb sehr, dass auf Initiative Deutschlands 39 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen am 6. Oktober die schweren Einschränkungen der Religions-, Versammlungs-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit in China und insbesondere die grausame Behandlung und willkürliche Internierung der Uiguren als eklatante und inakzeptable Verstöße gegen elementare Menschenrechte verurteilt haben. China muss hier klar die Grenzen aufgrund einer werte- und regelbasierten internationalen Ordnung aufgezeigt bekommen. ({3}) Selbstverständlich haben wir die Erwartung und die Hoffnung, dass wir mit der neuen Administration die Vereinigten Staaten von Amerika wieder an der Seite haben, um die Wirksamkeit der Vereinten Nationen zu stärken. Die USA müssen wissen: Sie haben uns dann an ihrer Seite. Das gilt auch für wichtige internationale Herausforderungen, die wir nur dort lösen können. Wir begrüßen, dass der zukünftige Präsident Biden angekündigt hat, wieder ins Klimaabkommen einzusteigen. Wo, wenn nicht in den Vereinten Nationen, in diesem Forum der Staaten der Welt, können wir die globale Herausforderung des Klimawandels annehmen und Gegenstrategien entwickeln und durchsetzen? Wo, wenn nicht gemeinsam dort? Wo können wir den Herausforderungen von Pandemien wie der jetzigen Covid-19-Pandemie entgegentreten, wenn nicht in der Weltgesundheitsorganisation? Und wo können wir für fairen und gerechten Handel und faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, wenn nicht in der WTO? Das heißt: Deutschland sollte gemeinsam mit seinen europäischen Partnern mutig dafür eintreten, dass die Vereinten Nationen, dass der Sicherheitsrat, aber auch alle internationalen Ordnungen gestärkt werden und dass die Amerikaner, dass die Vereinigten Staaten hier wieder einsteigen und ein positiver, konstruktiver Partner werden. Das sollte unsere Politik sein. Wenn wir uns in dem Sinne engagieren, glaube ich, werden wir auch für mehr Strahlkraft sorgen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Ohne Frage gehört die Gründung der Vereinten Nationen mit zu den größten Leistungen der Menschheitsgeschichte. Zu ihrem maßgeblichen Gremium gehört der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Er ist unverzichtbar für den Erhalt und die Förderung von Frieden, Sicherheit und Stabilität. Theoretisch werden in seinen Sitzungen Entscheidungen von globaler Tragweite getroffen, wird über Krieg und Frieden entschieden, wird um Kompromisse gerungen. Deutschland hatte in den letzten gut zwei Jahren die Gelegenheit, einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die Krisen, Kriege und Konflikte, für die im Sicherheitsrat Lösungen gesucht werden, haben sich in ihrer Komplexität in den vergangenen Jahrzehnten stets gewandelt. Vom Kalten Krieg über islamistischen Terror und um sich greifende autokratische Regime: Ein Patentrezept für Frieden hat es nie gegeben. Entsprechend sehen heute die Antworten auf Konflikte anders aus als vor 50 Jahren. Vor diesen Realitäten stand auch die deutsche Mitgliedschaft. Und auch wenn viele Studien besagen, dass die Welt immer friedlicher wird, immer mehr Menschen in Wohlstand leben, mehr Freiheiten genießen, so stehen die Vereinten Nationen nach wie vor vor einer Mammutaufgabe. Denn nicht nur die Auseinandersetzungen werden komplexer, sondern auch das Erreichte scheint fragiler. Das haben zuletzt die US-Wahlen gezeigt, das sehen wir in Hongkong, in Bergkarabach und auf eine Art und Weise auch durch die Covid-19-Pandemie. ({0}) Deshalb, meine Damen und Herren, liegt es in der Natur der Sache, dass wir alles dafür tun müssen, um die Vereinten Nationen und insbesondere den VN-Sicherheitsrat zu stärken. Dringend nötige Reformen dürfen nicht länger verschoben werden. Der Sicherheitsrat muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen. ({1}) Zu hoch ist die Anzahl der Konflikte, bei denen sich die internationale Gemeinschaft nicht einigt. Zu hoch ist das Leid, wenn der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist. Syrien, Libyen, Afghanistan, Ukraine – die Liste der Konflikte, zu deren Lösung der Rat nur geringe Beiträge leisten konnte, ließe sich weiter fortführen. Und da, wo es in letzter Zeit Fortschritte gab, konnten die Erfolge oft einzelne Staatsregierungen verbuchen. Der Sicherheitsrat hat leider ganz eindeutig ein Glaubwürdigkeitsproblem. Seine zahlreichen Resolutionen werden leider nur selten eingehalten. Daran hat sich auch während der deutschen Mitgliedschaft nicht viel verändert. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem haben Staaten wie China und Russland längst erkannt. Sie weiten ihre Einflussräume vor den Augen der Weltöffentlichkeit aus, verletzen internationales Recht, treten Menschenrechte mit den Füßen. China baut systematisch seinen Einfluss innerhalb internationaler Gremien aus; zuletzt wurde das am Beispiel der WHO ganz deutlich. Auch auf solche Entwicklungen muss dringend reagiert werden. Denn abgesehen davon, dass der wachsende chinesische Einfluss eine Herausforderung für unsere Sicherheit und Interessen darstellt, darf es nicht möglich sein, multilaterale Organisationen zu unterwandern. ({2}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hätte auch mehr über die Reform des Sicherheitsrates sprechen müssen. Die Sitzverteilung im Sicherheitsrat ist nicht repräsentativ und kein Spiegelbild der heutigen Welt. Man könnte aus dem ständigen französischen Sitz einen europäischen Sitz machen. Herr Macron hält regelmäßig historische Reden; aber über dieses konkrete Thema möchte er nicht reden. ({3}) Meine Damen und Herren, es müssen viele Hausaufgaben gemacht werden, um der Mammutaufgabe des Sicherheitsrates ansatzweise gerecht zu werden. Auch im Nachgang zur deutschen Mitgliedschaft muss die Bundesregierung im Interesse unserer Sicherheit den Druck zu Reformen erhöhen. Gerade jetzt, nach der US-Präsidentschaftswahl, könnte ein guter Zeitpunkt sein, um dem Multilateralismus frischen Wind zu verleihen und Frieden und Freiheit weltweit eine neue Chance zu geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bijan Djir-Sarai. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Heike Hänsel. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland war nun zwei Jahre Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Bilanz fällt aus friedenspolitischer Sicht jedoch sehr mager aus. Nach Angaben der Bundesregierung war ja einer der Schwerpunkte Abrüstung, Krisenprävention und der Erhalt der internationalen Ordnung. Deutschland bekennt sich auch zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Umso unverständlicher ist es, dass ausgerechnet die Bundesregierung den Atomwaffenverbotsvertrag, die wichtigste Abrüstungsinitiative der Vereinten Nationen für eine atomwaffenfreie Welt, immer noch nicht unterzeichnet hat. ({0}) Dieser Vertrag wird von mehr als 120 Ländern unterstützt. Nachdem ihn nun 50 Länder ratifiziert haben, kann er im Januar 2021 in Kraft treten. Deutschland ist nicht dabei. Was für ein Armutszeugnis! ({1}) Stattdessen erneuerte die Bundesregierung ihr Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe der NATO. Heiko Maas – wo ist er jetzt eigentlich? - ({2}) – er wählt gerade; oh, Entschuldigung – erteilte ja sogar dem Vorstoß aus den eigenen Reihen der SPD, nämlich des Fraktionsvorsitzenden und der Parteivorsitzenden, für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland eine klare Absage. Solche einseitigen Schritte sind seiner Meinung nach eine Schwächung unserer Bündnisse. ({3}) Herr Außenminister, mit solch einer Politik schwächen Sie vor allem atomare Abrüstungsbemühungen. ({4}) Deutschland sollte in den Vereinten Nationen mit gutem Beispiel vorangehen und die US-Atomwaffen endlich aus Deutschland abziehen lassen, statt diese auch noch zu modernisieren. ({5}) Die USA haben sich seit der Jahrtausendwende aus fünf völkerrechtlichen Abkommen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zurückgezogen und damit die Welt erheblich unsicherer gemacht. Es droht eine neue Runde atomarer Aufrüstung. Jüngst haben sich die USA sogar die Wiederaufnahme von Nukleartests vorbehalten. Statt diese Politik der US-Administration öffentlich klar zu verurteilen und zur Rückkehr zur Rüstungskontrolle aufzufordern, hat sich die Bundesregierung sehr schnell die Argumentation der Trump-Regierung zu eigen gemacht, Russland zum Beispiel die Schuld für das Aufkündigen des INF-Vertrages zu geben, ({6}) und damit leider, leider eine wichtige Vermittlerrolle verspielt. Nun sind das zum Teil bilaterale Verträge. Trotzdem hätte Deutschland das im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf die Tagesordnung setzen können; denn es gibt ja mittlerweile den Vorschlag Russlands für eine freiwillige Selbstverpflichtung, keine atomaren Mittelstreckenraketen auf eigenem Boden zu stationieren, wenn auch die USA und andere NATO-Staaten mitziehen. Statt diesen Vorschlag aufzugreifen und zu prüfen, lehnte die Bundesregierung den Vorschlag als unglaubwürdig ab, noch bevor die USA ihn abgelehnt haben. Da muss ich sagen: Ein ernsthaftes Bemühen um Rüstungskontrolle und Abrüstung sieht anders aus. ({7}) Es geht hier nämlich um unsere Sicherheit in Europa, und wir dürfen nicht in einen neuen Kalten Krieg schlittern. Leider sprechen auch die aktuellen Militärausgaben der Bundesregierung eine andere Sprache als Abrüstung. Der Verteidigungshaushalt wurde seit 2014 um sage und schreibe 44 Prozent erhöht. ({8}) Im bevorstehenden Dezember soll der neue Haushalt nochmals um rund 1,3 Milliarden Euro erhöht werden. Die Friedensbewegung ruft deshalb bundesweit für den 5. Dezember zu dezentralen Aktionen auf: „Abrüsten statt Aufrüsten“. Die Linke unterstützt diesen Aufruf; denn auch wir wollen Abrüstung. ({9}) Dieses Geld benötigen wir gerade in Zeiten der Pandemie dringend für Schulen, Pflegekräfte und das Gesundheitssystem. Eine politische Initiative der Bundesregierung bei den Vereinten Nationen ist die neu geschaffene Allianz für den Multilateralismus. Dies ist ein informelles Netzwerk lose mitarbeitender Staaten. Die Bundesregierung sieht es als ein Vehikel für die Durchsetzung einer regelbasierten Ordnung. Es gibt aber bereits eine regelbasierte Ordnung; das sind die UN-Charta und das Völkerrecht. Dieses muss endlich wieder gestärkt werden. Dazu könnte auch die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag leisten: durch den Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO, deren Mitgliedstaaten für völkerrechtswidrige Kriege und auch für Militärinterventionen verantwortlich sind. ({10}) Dazu gehört auch das NATO-Mitglied Türkei, das Völkerrecht bricht und als ein Aggressor in Syrien, Irak, Libyen und im Mittelmeerraum auftritt. Dafür sollte die Türkei nicht noch mit deutschen Waffenlieferungen belohnt werden. ({11}) Auch bereits genehmigte Rüstungsexporte in die Türkei müssen gestoppt werden. Deutsche Rüstungsexporte in alle Welt sind leider auch ein großes Hindernis für den als Resolution verabschiedeten Appell des UN-Generalsekretärs António Guterres für eine globale Waffenruhe angesichts der Covid-19-Pandemie. UN-Generalsekretär Guterres wird am 18. Dezember im Bundestag sprechen. Ich denke, das wäre die beste Gelegenheit, einen Stopp deutscher Waffenexporte zu verkünden. ({12}) Auch Appelle der Hohen Kommissarin der UN Bachelet für ein Aussetzen aller Wirtschaftssanktionen angesichts der Coronapandemie wurden von der Bundesregierung in den Vereinten Nationen nicht aufgegriffen und aktiv vorangebracht. Dabei wäre es so wichtig, dass endlich diese tödlichen Sanktionen beendet werden, die die Bevölkerung in vielen Ländern wie zum Beispiel Kuba, Venezuela und Syrien hart treffen. Das Fazit: Der Gründungsgeist der UNO „Frieden durch Diplomatie“ muss endlich wieder gestärkt werden. Die Bundesregierung hat leider mit ihrer Politik in den Vereinten Nationen mehr geostrategische NATO-Politik denn eine aktive UNO-Friedenspolitik betrieben. Dazu braucht es unseres Erachtens keinen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Danke. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschlands Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat fiel in sehr schwierige Zeiten, Zeiten, in denen die internationale Ordnung erodiert, in denen die Pandemie wütet. Genau deswegen kam und kommt Deutschland eine besondere Verantwortung zu. Kurz vor dem Ende dieser Mitgliedschaft lohnt es sich, Bilanz zu ziehen. In den letzten zwei Jahren gab es viele Ankündigungen, viel Symbolpolitik und leider ganz wenig vorzuweisen. Das sieht man an den Schwerpunkten, die auch von dieser Bundesregierung selbst gesetzt worden sind. Zum Beispiel: die vollmundig angekündigte Allianz für den Multilateralismus – ein schöner Titel, zweifelsohne. Was ist denn damit eigentlich erreicht worden? Mal wieder fehlt es einer Initiative an Tiefgang und auch an finanziellem Unterbau. Wenn man genau hinschaut, erweist sie sich als reine Luftnummer. Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben in einer Kleinen Anfrage gefragt: Was ist das eigentlich? – Die Antwort aus dem Auswärtigen Amt ist – ich zitiere –: Diese Initiative treibe „mit einer Vielzahl von Staaten in wechselnder Zusammensetzung ... konkrete Initiativen voran“. Mit Verlaub, das ist keine Initiative, sondern das, was das Alltagsgeschäft von Diplomatie sein sollte. ({0}) Meine Damen und Herren, nun hören wir von der Bundesregierung: Es war so schwierig, auch wegen Corona. – Ja, das stimmt; aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Bundesregierung vor Corona nicht aktiver war. Der Herr Außenminister hat gerade gesagt, entscheidend sei, dass im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beraten wird, bevor beschlossen wird. Es gibt vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung eine sehr lange Liste von Konflikten, die die Bundesregierung nicht einmal auf die Tagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt hat, unter anderem Konflikte, die den Weltfrieden bedrohen, wie zum Beispiel die Eskalation an der Straße von Hormus, wie beispielsweise die Krise in Kaschmir. Es drängt sich also die Frage auf: Wenn Sie als GroKo sowieso nichts wollten, warum haben Sie dann eigentlich die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat angestrebt? ({1}) Das sieht man aktuell an vielen Orten. Ein Beispiel ist der Westsahara-Konflikt. Seit zwei Wochen eskaliert die Lage dort. Ein fast 30 Jahre alter Waffenstillstand ist nun aufgekündigt. Zuletzt hat der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler dankenswerterweise als UN-Sonderbeauftragter in dem Konflikt vermittelt. Aus gesundheitlichen Gründen musste er leider im Mai 2019 von diesem Posten zurücktreten, fast ein Jahr, bevor die Pandemie eskaliert ist. Was ist seitdem passiert? Nichts. Es gibt keinen neuen Sonderbeauftragten und auch sonst hat die Bundesregierung dieses Thema im Sicherheitsrat völlig verschlafen. Weitere Beispiele sieht man bei anderen Schwerpunkten. Herr Außenminister Heiko Maas hat, bevor die Mitgliedschaft begann, gesagt, dass das Thema Jemen ein Schwerpunktthema sein würde und dass politische Lösungen von Deutschland im Sicherheitsrat entschieden vorangebracht werden würden. Zwei Jahre später ist die Bilanz eher ein Scherbenhaufen. Der Jemen bleibt laut den Vereinten Nationen der derzeit schlimmste humanitäre Katastrophenfall der Welt mit knapp einer Viertelmillion Toten. Die humanitäre Lage ist verheerend. Sicher liegt es nicht in der Verantwortung des Außenministers, dass es gerade dort weiterhin eskaliert; aber es ist offensichtlich nicht geschafft worden, ein stabiles Dialogformat zu schaffen, bei dem die Konfliktparteien miteinander sprechen. Das liegt natürlich auch am Willen der Konfliktparteien. Aber wenn hier ein Schwerpunkt gesetzt worden ist, dann muss man sich als Bundesregierung daran messen lassen. Die Messlatte ist da hart gerissen worden. ({2}) Ein anderes Beispiel ist die Schwerpunktsetzung bei der Gewährleistung des humanitären Zugangs in Konfliktregionen. Im Jemen sieht man das: Die Blockade für humanitäre Güter ist nicht nur nicht aufgehoben; sie hat sich in den letzten Monaten sogar verschlimmert. Aber das ist ja nicht alles. Es ist noch dramatischer: Die Bundesregierung hat in dieser Zeit weiter Waffen an Staaten geliefert, die am Jemen-Konflikt beteiligt sind. Mit Verlaub, das ist eine Bankrotterklärung, vor allem für eine sozialdemokratische Partei, die angetreten ist, um eine restriktivere Rüstungsexportpolitik durchzusetzen. ({3}) Im Übrigen ruiniert die Bundesregierung auf dieselbe Art und Weise ihre eigene Libyen-Initiative. Kern dieser Initiative ist es, dass keine Waffen mehr ins Land kommen. Die Embargobrecher werden benannt, aber Deutschland liefert weiterhin Waffen an die Türkei, an die VAE und an Ägypten. Das ist schlicht verheerend. ({4}) Einen weiteren Schwerpunkt will ich noch benennen. Er ist vollkommen richtig gesetzt. Der Herr Außenminister hat gesagt, dass die feministische Außenpolitik ein Schwerpunkt der Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat sein würde. Zwei Jahre später: Substanz – Fehlanzeige, ganz viel PR. Die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ war und ist ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte. Die von Deutschland vorangebrachte Resolution 2467 ist es eher nicht. Aus dem Entwurf sind auf Druck der Trump-Administration, die wiederum von den radikalen Evangelikalen im Hintergrund unter Druck gesetzt wurde, elementare Teile gestrichen worden, vor allem zu reproduktiven und sexuellen Rechten von Frauen in Konfliktsituationen. Das, was erreicht worden ist, ist beschämend und keine feministische Außenpolitik. ({5}) Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden, die medizinische Versorgung zu verweigern, die zur Vermeidung weiterer Traumata physischer und psychischer Art unerlässlich ist, ist schlicht unmenschlich. Ich verlange von der Bundesregierung nicht, dass sie sich gegen Trump hätte durchsetzen müssen; aber ich frage Sie: Wo blieb da Ihr Aufschrei? ({6}) Das ist doch die zentrale Frage. Das gilt auch im Hinblick darauf, dass LGBTIQ-Rechte keine Erwähnung finden oder dem Internationalen Strafgerichtshof aberkannt wird, die Strafverfolgung sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten anzugehen. Ich schließe mich der Bewertung von Medica Mondiale an, die feministische Außenpolitik hätte eine Agenda, und die Agenda sei nicht nennenswert vorangebracht worden von der Bundesregierung. Diese Bewertung gilt für die gesamte Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Ich bedaure das zutiefst; denn gerade gekoppelt mit der Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union hatte diese Bundesregierung eine Fülle an Möglichkeiten zur Gestaltung, die nicht genutzt worden sind. So ist Ihre Bilanz schlicht ungenügend. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Nouripour. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Christoph Matschie. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht auch Aufgabe der Opposition, zumindest keine Überraschung, immer ein besonders kritisches Bild zu zeichnen; ich finde aber, die Farben waren etwas sehr düster. Diese Mitgliedschaft im Sicherheitsrat fiel in eine schwierige Zeit; das ist klar. Sie war insbesondere deshalb schwierig, weil die amerikanische Administration, die in der Vergangenheit eine wesentliche Stütze des internationalen Systems war, als Partner eigentlich ausgefallen ist. Trotzdem ist es gelungen, den Sicherheitsrat in wichtigen Fragen handlungsfähig zu halten. Der Außenminister hat hier beschrieben, bei wie vielen Resolutionen der Sicherheitsrat trotz schwerwiegender Konflikte zu Einigkeit gefunden hat und wichtige Wege geebnet hat. Ich will nur ein Beispiel aufgreifen: Es macht am Ende einen Unterschied, ob es gelingt, im Sicherheitsrat zu beschließen, einen humanitären Korridor für Syrien offenzuhalten, oder ob das nicht gelingt. Es ist gelungen, auch durch den Einsatz der Bundesregierung. Ich finde, das ist eine starke Leistung. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ja, neben der unmittelbaren Konfliktdebatte sind die strategischen Aufgaben im Sicherheitsrat wichtig. Herr Kollege Nouripour, ich finde, es war richtig – Sie haben das hier angegriffen und kritisiert –, die Rolle von Frauen in Konflikten, die Rolle von Frauen bei der Friedenssicherung wieder auf die Agenda zu setzen. ({1}) Und wenn es unter den gegenwärtigen Umständen nicht gelingt, den gleichen Text wieder zu verabschieden ({2}) – wir haben das Ringen miterlebt –, dann muss man zumindest das möglich machen, was im Moment geht, und das hat der Sicherheitsrat hinbekommen. Ich glaube, das ist mehr wert, als einfach abzuwarten. ({3}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen Gedanken aufgreifen. Die Bundesregierung hat sich mit den europäischen Partnern sehr eng abgestimmt. Ich glaube, das ist auch eine strategische Entscheidung. Die Aufgabe, weiter eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu formulieren und dafür die notwendigen Institutionen zu schaffen, weist weit über die Sicherheitsratsmitgliedschaft hinaus. Die Debatte um einen europäischen Sicherheitsrat, die Debatte um ein Mehrstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik ist längst nicht beendet; sie hat begonnen und muss jetzt konsequent weitergeführt werden. Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist ja kein Geheimnis: Der Sicherheitsrat ist nur dann stark, wenn die Mitglieder konstruktiv zusammenarbeiten, wenn sie ein Interesse an der Durchsetzung gemeinsamer Regeln haben. Das war in den letzten Jahren oft nicht der Fall. Deshalb, finde ich, war es richtig, zu schauen, ob man eine Allianz von Staaten bilden kann, die eine regelbasierte Ordnung unterstützen. Auch wenn die Allianz für den Multilateralismus nicht alle Probleme lösen kann, ist sie doch ein wichtiges Instrument der Absprache und des gemeinsamen Handelns in den Vereinten Nationen und ist alle Anstrengungen wert. ({4}) Nach der Wahl in den USA bekommt diese Allianz in Zukunft vielleicht wieder einen starken Verbündeten. Ich finde, die Wahl von Joe Biden zum nächsten US-Präsidenten verändert die Möglichkeiten von Außenpolitik fundamental. ({5}) Damit werden nicht alle Konflikte hinfällig, die wir mit den Vereinigten Staaten haben, damit wird nicht der geopolitische Wettbewerb wegfallen, der die globale Politik prägt; aber es öffnet sich ein neues Fenster der Zusammenarbeit. Dieses Fenster müssen wir jetzt nutzen, um gemeinsam etwas gegen die globale Pandemie Covid-19 zu unternehmen, um gemeinsam etwas für mehr Klimaschutz, für eine gerechte Welthandelsordnung zu tun. Das sind die Aufgaben, die jetzt vor uns liegen, auch jenseits der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat. Es gibt einen schönen Satz in der politischen Erklärung zu 75 Jahre VN und damit möchte ich schließen: Wir sind nicht hier, um zu feiern. Wir sind hier, um zu handeln. Das ist auch der richtige Satz für die deutsche Außenpolitik. Wir sind hier, um zu arbeiten; denn nur im Handeln kann man die Welt besser machen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Abgeordnete Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ganz entspannt! ({0}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die UN-Charta benennt es in ihrer Präambel einfach und klar: Es sind „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können“. Diesem gemeinschaftlich erklärten Ziel und Gedanken müssen sich alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterordnen. Der Kollege Dr. Friesen hat eben richtigerweise darauf hingewiesen, dass durch die Aufnahme immer neuer Themen wie Genderziele, Compact for Migration, Frauenrechte, Klima- und Energiewende die ursprüngliche Bedeutung der VN verwässert und damit geschwächt wird. ({1}) Deutschlands Ziele sind ganz klar: Wir wollen eine umfassende Reform der UN, finanziell, strukturell und personell. Das bedeutet auch eine Konzentration auf die von mir erwähnten Kernziele der Vereinten Nationen. Genauso wichtig ist eine Neustrukturierung des Weltsicherheitsrates. Der Kalte Krieg ist spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vorbei. Im Weltsicherheitsrat müssen diejenigen Länder vertreten sein, die nicht nur militärisch, sondern eben auch wirtschaftlich zu den stärksten unseres Globus gehören. Für uns Deutsche ist es aber genauso wichtig – meine Fraktion hat es immer wieder gefordert –, dass sich die Bundesregierung endlich für die ersatzlose Streichung der Feindstaatenklausel einsetzt. ({2}) Die Bundesregierungen haben in den letzten Jahrzehnten bei diesem Thema völlig versagt. Unser Anspruch muss sein, gemeinsam mit Japan und Italien diesen völlig anachronistischen Passus zu streichen. Die Feindstaatenklausel, meine Damen und Herren – ich erinnere daran –, besagt nach wie vor, dass die alliierten Siegermächte ohne einen UN-Beschluss politisch wie militärisch intervenieren können, wenn sie es denn für richtig halten. ({3}) – Jetzt kommen Sie mir mit: Das ist obsolet. – Obsolet, Herr Kollege, ist kein juristischer Begriff; das müssten Sie wissen, Graf Lambsdorff. ({4}) Ich darf Sie übrigens darauf hinweisen, dass es nach wie vor zur Ausbildung in West Point, USA, gehört, zu üben, wie man militärisch und politisch reagieren will, wenn eine nicht genehme Regierung in Deutschland an der Macht ist. Die Krönung haben uns in diesen Tagen aber die Grünen beschert, indem sie das Vetorecht des Weltsicherheitsrates, so es denn missbraucht wird, dahingestellt sein lassen und auf ihrem Parteitag für eine aktive Rolle Deutschlands ohne ein UN-Mandat votiert haben. Damit legitimiert die Partei, mit der Sie von der Union in Zukunft gemeinsam Regierungsverantwortung übernehmen wollen, Einsätze deutscher Soldaten in Kriegsgebieten ohne Mandat der Vereinten Nationen. Meine Damen und Herren, das ist ein Tabubruch und ein einzigartiger Vorgang in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands! ({5}) Oskar Lafontaine hat es gesagt: Die Kriegsgeilheit der Grünen ist nicht zu überbieten. – Mittlerweile wollen die Grünen den völkerrechtswidrigen Krieg zur Regel machen. Ich stimme dem ehemaligen Staatssekretär Willy Wimmer zu: Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass die ehemalige Partei der eingesammelten Friedensfreunde in Zukunft zu einer Kriegspartei wird. – Meine Damen und Herren von der Union, mit denen wollen Sie in den nächsten Jahren eine Koalition eingehen! Ich kann Ihnen nur zurufen: Hier sitzen keine Nazis. ({6}) Hier sitzen viele ehemalige CDU-Mitglieder und -Wähler. Nicht sie haben Ihre Union verlassen, Sie haben Ihre Werte und Ihre konservativen Fundamente verlassen. Deshalb sitzt die AfD im Deutschen Bundestag. Merken Sie sich das. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte jetzt mit Herrn Hampel kein kleines Seminar über Völkerrecht halten – ({0}) die Rede, die wir gerade gehört haben, war intellektuell eine ziemliche Tiefflugübung –, sondern mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Deutschland hat in den zwei Jahren Mitgliedschaft im Sicherheitsrat aus meiner Sicht die hohen Erwartungen, ({1}) die die Partnerinnen und Partner der UN an uns gerichtet haben, erfüllt. Wir haben mit dem hervorragenden Ergebnis der Wahl zum nichtständigen Mitglied Erwartungen geweckt. Ich glaube, dass wir diesen Erwartungen trotz aller Schwierigkeiten gerecht geworden sind. Die eine Schwierigkeit besteht darin, dass wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten verstärkt erleben, dass Vetomitglieder des UN-Sicherheitsrates dieses Veto rücksichtslos nutzen, wenn sie selbst betroffen sind. Ich denke da an den Konflikt in Syrien, die Situation im Südkaukasus, an Libyen und natürlich an den Konflikt in der Ukraine. Die Vereinten Nationen sind nur so stark, wie die fünf ständigen vetoberechtigten Mitglieder im Sicherheitsrat ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Vereinten Nationen sind der Ort, wo internationale Konflikte möglichst auf friedliche Weise beigelegt werden. Wenn man dies durch den Missbrauch von Veto bzw. einen vetogestützten Einfluss schwächt, untergräbt man das Fundament dieser Institution. Wir dürfen nicht müde werden, das in den einzelnen Fällen zu benennen, wenn dem so ist. Ich glaube im Übrigen, dass Deutschland sich anschicken sollte, eine Reform der Vereinten Nationen weiter offensiv zu unterstützen, aber für den Fall, dass uns das in den nächsten Jahren nicht gelingt, sich durchaus wieder um einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat bewerben und dazu mit entsprechenden Partnernationen Absprachen treffen sollte. Ich glaube, dass die Vereinten Nationen in den nächsten Jahren in einem Punkt deutlich gestärkt werden könnten. Wir hatten bisher einen amerikanischen Präsidenten, der offen gegen multilaterale Lösungen von Weltkonflikten war. Wir werden zukünftig einen Präsidenten haben, der nicht in Worten, sondern auch durch das, was er bereits als Vizepräsident gezeigt hat, klar zu diesen multilateralen Lösungsansätzen steht. Dass die designierte UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten von Amerika Linda Thomas-Greenfield wieder einen Kabinettsrang in Washington bekommen soll, ist, glaube ich, ein klares positives Zeichen in diese Richtung. Ich finde, dass es Deutschland gut gelungen ist, die europäische Geschlossenheit sicherzustellen. Wir haben mit unseren europäischen Partnern, auch mit den nichtständigen Mitgliedern Belgien und Estland, vertrauensvoll zusammengearbeitet. Das ist auch Teil der Antwort, die wir unseren Freunden in Israel geben, wenn es um entsprechende Resolutionen geht. Wir haben leider eine starke Mehrheit gegen Israel, die von außen orchestriert und organisiert wird, auch mit Druck auf Staaten. Wir sind uns mit vielen politischen Kräften in Israel einig, dass Deutschlands Rolle auch darin bestehen muss, zu erreichen, dass entsprechende Resolutionen abgeschwächt oder gar verhindert werden. Dafür muss Deutschland erstens sicherstellen, dass es idealerweise eine gemeinsame europäische Position gibt, und zweitens im Zweifel auch bereit sein, den einen oder anderen Kompromiss einzugehen. Ich bin sicher, dass wir jedes einzelne Abstimmungsverhalten Deutschlands zum Thema Israel in den Gremien der UN gegenüber unseren israelischen Freunden guten Gewissens begründen können. Der nächste Punkt, der mir wichtig ist – das ist hier in mehreren Redebeiträgen angeklungen –, ist das Thema „Frauen in der Außenpolitik“ bzw. die Rolle der Frauen, wenn es um den Frieden in der Welt geht. Wenn wir auf die Länder der Erde gucken, die politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich unter ihren Möglichkeiten bleiben – um es einmal vorsichtig zu formulieren –, sind es allermeist Länder mit patriarchischen Gesellschaften, in denen die Frauen nicht ihren gebührenden Anteil an der gesellschaftlichen Entwicklung haben. ({2}) Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir die Frauen der Welt ermutigen – damit blicke ich zum Beispiel in den Mittleren Osten, aber auch nach Afrika, ja auch nach Lateinamerika –, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen und sich in die politischen Prozesse in ihren Ländern und in der Weltpolitik einzumischen, dann werden wir eher zu einer guten und friedlichen Welt kommen, als das heute der Fall ist. Deswegen, glaube ich, ist es eine richtige Themensetzung gewesen, die wir da vorgenommen haben. ({3}) Deutschland wird in der internationalen Politik weiter aktiv entscheidende Rollen übernehmen. Wir haben gegenwärtig den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates. Wir bemühen uns um personelle Verstärkung aus Deutschland für die OSZE. Und wir werden übernächstes Jahr bei der G 7 die Präsidentschaft haben. Es gibt international viel zu tun. Dem Außenminister und der Bundesregierung alles Gute dafür! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Hardt. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem Kollegen Hampel empfehle ich meine letzte Rede zur UN, in der ich mich dezidiert zur Feindstaatenklausel geäußert habe. Da kann man einfach einmal nachschauen, und zwar wunderbarerweise unter www.bundestag.de in der Mediathek. Das geht ganz hervorragend. Dann erfährt man, was eigentlich Sache ist. – Außerdem noch ein Kommentar zu Ihnen: In dem Moment, in dem Sie Ihre Reden frei halten, sind diese meistens besser. So verkorkst und vermurkst, wie sie heute war, kam sie offensichtlich von irgendeinem Redenschreiber. Bevor ich zur Bilanz der UN-Mitgliedschaft komme, möchte ich zunächst einmal meinen herzlichen Dank an alle, die daran mitgewirkt haben, richten. Es gab ein wunderbares Team in New York. Die beiden Botschafter Heusgen und Schulz haben dort gute Arbeit geleistet, ebenso wie bei uns die Ministerialdirektorin Baumann samt Team; das war alles wunderbar. Sie haben auch dem Unterausschuss Vereinte Nationen in der ganzen Zeit sehr gut Bericht erstattet. Wir haben dort in jeder Sitzung über den Sicherheitsrat gesprochen. – Botschafter Schulz wünsche ich bei seiner neuen Aufgabe in Ankara viel Erfolg. Das ist ein Posten, der auch Kraft und Diplomatie erfordert. Ich glaube, dass wir den Richtigen dort hingeschickt haben. Die Messlatte, die wir uns gelegt haben, war natürlich für zwei Jahre Sicherheitsrat sehr hoch. Es wurde hier schon oft darüber gesprochen, dass es Schwierigkeiten gegeben hat. Sie liegen im System der Vereinten Nationen, und daran werden wir relativ wenig ändern können. Dass eine Reform notwendig ist, ist uns allen klar. Aber wir wissen ebenfalls, dass man die Staaten, die in der UNO organisiert sind, mit Sicherheit nicht dazu bekommen wird, einem europäischen Weg zu folgen. Genauso wird es Europa und auch unserem Verbündeten USA wohl kaum gelingen, China und Russland davon zu überzeugen, dass unsere Vorstellung von Demokratie und Frieden in der Welt besser ist. Kollegin Hänsel sage ich, dass es wieder sehr faszinierend war, zu hören, dass alle sozialistischen Staaten dieser Welt wunderbar sind und dass am Ende des Tages natürlich der Kreml immer alles richtig macht, ({0}) dass die Politik Russlands in den Vereinten Nationen ja offensichtlich großartig ist und wir das alle unterstützen müssen. Das sehe ich als FDPler natürlich schlicht und ergreifend anders. ({1}) – Auch bei der Friedenspolitik. Also bitte, Frau Kollegin Hänsel, als ob Russland in den letzten Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg jemals dafür gesorgt hätte, dass auf der Welt irgendwo Frieden herrscht. Das ist ja der lächerlichste Kommentar, den ich hier im Bundestag bei einer Rede von mir jemals gehört habe. ({2}) Also so weit kommt es noch. Es ist unglaublich, wie immer wieder die Kolonnen von Moskau durchkommen. Das ist wirklich fürchterlich. Ich freue mich auf die Allianz für den Multilateralismus. Wir werden das fortführen müssen. Ich hoffe, der Minister hat eine Vorstellung davon, wie er das fortführen möchte, da die Allianz am Ende des Tages dazu führen muss, dass der Multilateralismus von der Intensivstation herunterkommt. Wir haben große Hoffnung, dass Biden ein paar Probleme auf der Welt lösen wird. Alles auf einmal, das wird nicht klappen; das ist uns allen klar. Ich hoffe auch, dass die neue US-Regierung und die neue Bundesregierung, die wir im kommenden Jahr bilden werden, für Frieden und Sicherheit in der gesamten Welt zusammenarbeiten werden. Es ist unsere Aufgabe, auch in diesem Haus, dies zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat hat die Bundesregierung klare und ambitionierte Schwerpunkte gesetzt. Neben dem Kerngeschäft der Behandlung aktueller Konflikte – wir waren federführend für die Erstellung der Dossiers über Syrien und Sudan zuständig – ging es ausdrücklich darum, im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs ganz bewusst auch solche Themen auf die Agenda zu bringen, die unter den ständigen Mitgliedern durchaus umstritten sind. Ich will bewusst beginnen mit der Resolution 2467 zur Beendigung sexueller Gewalt in Konflikten. Was ich hierzu heute gehört habe, ist wirklich beschämend. Das ist eine knallharte Menschenrechtsverletzung und nicht Gedöns, wie Sie es hier versucht haben darzustellen. ({0}) Wir haben im Juli eine Grundsatzdebatte über Klima und Sicherheit auf den Weg gebracht. Die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat eine Sitzung zu Peacekeeping und Menschenrechten geleitet. Auch die Indossierung der Berliner Konferenz zu Libyen war eine wichtige Errungenschaft dieser Präsidentschaft. Unser herzlicher Dank gilt Botschafter Christoph Heusgen, aber auch seinen Stellvertretern, Botschaftern Jürgen Schulz und Günter Sautter, sowie dem gesamten Team der Ständigen Vertretung in New York und natürlich auch den zuständigen Kollegen hier in der Zentrale des AA mit Frau Baumann an der Spitze. ({1}) Als Deutscher Bundestag haben wir die Aktivitäten des Sicherheitsrates auch parlamentarisch aufmerksam begleitet in mehreren Plenardebatten, insbesondere in Vorsitzmonaten, durch einen ständigen Tagesordnungspunkt zum Sicherheitsrat im Unterausschuss Vereinte Nationen und – solange das vor Corona möglich war – durch die Begleitung des Außenministers nach New York zu Sitzungen des Sicherheitsrates, zuletzt im Februar. Es ist schon angesprochen worden: Ein besonderes strategisches Ziel war die Europäisierung unseres Auftritts in den Vereinten Nationen. Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien, aber auch mit den anderen nichtständigen Mitgliedern Polen, Belgien und Estland haben wir dies, finde ich, gut erreicht. Das sollte in den kommenden Jahren verstetigt werden, damit Europa in den Vereinten Nationen weiterhin mit einer deutlichen und vernehmbaren Stimme spricht. Denn für uns ist klar: Die Bewahrung und die Weiterentwicklung dieser regelbasierten internationalen Ordnung ist und bleibt das überragende strategische Interesse unseres Landes und aller Europäer. Während es die USA unter Präsident Trump in den vergangenen Jahren an internationalem Engagement schmerzlich haben vermissen lassen, haben wir viel investiert, um die Strukturen einer regelbasierten internationalen Ordnung zu erhalten und zu festigen, zum Beispiel mit der Allianz für den Multilateralismus, die auch Wertepartner aus Lateinamerika und dem Indopazifik umfasst. Auch wenn sich Multilateralismus stets an einer gemeinsamen Grundlage zum Interessenausgleich und Kompromiss orientieren muss, ist er wesentlich mehr als punktuelle Zusammenarbeit. Es geht darum, mit gleichgesinnten Partnern gemeinsam zur Lösung konkreter globaler Probleme und Herausforderungen beizutragen. Es ist daher wichtig, dass das Auswärtige Amt derzeit ein Weißbuch „Multilateralismus“ nach norwegischem Vorbild entwickelt. Die Beteiligung von Bevölkerung und Parlament an diesem Prozess kann aber sicher noch umfassender gestaltet werden. Laut einer Umfrage der Körber-Stiftung konnten 2019 zwei Drittel der Bevölkerung mit dem Begriff „Multilateralismus“ noch nichts Greifbares anfangen. Es gibt aber einen großen Konsens – jedenfalls unter den demokratischen Fraktionen in diesem Haus –, dass Multilateralismus für unser Land als Mittelmacht ein geradezu schicksalhafter Handlungsimperativ ist. Demokratische Außenpolitik benötigt den Rückhalt der Bevölkerung. Lassen Sie uns daher gemeinsam mit Regierung und Parlament noch stärker für die Bedeutung des Multilateralismus auch hierzulande werben. Meine Damen und Herren, vor einigen Wochen, als wir hier anlässlich des 75. Jahrestages der UN-Charta diskutierten, habe ich klar gesagt: Wir brauchen einen starken Westen in handlungsfähigen Vereinten Nationen. – Mit dem Ergebnis der Wahl in den USA können wir hoffen, dass sich die Vereinigten Staaten künftig wieder konstruktiv in die Arbeit der Vereinten Nationen einbringen. Die Benennungen von Antony Blinken als Außenminister und von Linda Thomas-Greenfield als VN-Botschafterin mit Kabinettsrang sind vielversprechend, genauso wie die von Joe Biden angekündigte Initiative für einen „global summit of democracies“. Uns muss klar sein: Nur wenn sich die P 5 als Hüter einer gemeinsamen Ordnung verstehen, können Effektivität und Legitimität der Vereinten Nationen insgesamt wieder gestärkt werden. Dazu müssen wir Europäer gemeinsam mit den USA und gleichgesinnten Partnern in der Welt in Zukunft einen erheblichen Beitrag leisten, auch und vor allem durch entschlossenes wie vorbildhaftes Handeln. Deutschland wird sich auch weiterhin konstruktiv und kreativ in die Arbeit der VN einbringen. Ob das in einigen Jahren als ständiges Mitglied oder spätestens in acht Jahren im Zuge einer Bewerbung um einen nichtständigen Sitz sein wird, bleibt abzuwarten, aber klar ist: Das Engagement für die Vereinten Nationen ist Kern unserer Außenpolitik. Herzlichen Dank.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Andreas Nick. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es geht um 75 Jahre Vereinte Nationen in diesem Jahr, aber auch um zwei Jahre deutsche Sicherheitsratsmitgliedschaft. Ich möchte mich vorneweg dem Dank an jene anschließen, die, angeführt von Botschafter Christoph Heusgen, in einer intensiven Art und Weise die Resolutionen, die Sie, Herr Außenminister, angesprochen haben, im Wesentlichen mitgestaltet haben. Ich will die Diskussion über die Sorge, wie Zugang für humanitäre Hilfe in Gebiete Syriens gewährleistet werden kann, herausgreifen. Ja, dazu gab es unterschiedliche Auffassungen; manche haben blockiert. Es wurde über die Frage diskutiert, ob es einen, zwei oder drei Grenzübergänge geben soll. Es blieb bei nur einem, aber der wurde gut orchestriert. Es wäre ohne die Leistungen der Bundesregierung und unserer Diplomaten schwer gewesen, diesen Weg im Sinne der Humanität zu öffnen. Deswegen ausdrücklich: Herzlichen Dank an alle, die daran gearbeitet haben! ({0}) Natürlich ist die Frage: Zwei Jahre Sicherheitsratsmitgliedschaft, und was kommt dann? Diese Frage stellt sich nach 75 Jahren immer noch. Wenn Sie so wollen: Wir sind an einem Punkt, an dem wir das Zurückblicken sein lassen sollten, lieber Herr Kollege Hampel. Zum Thema der Feindstaatenklausel kann ich Ihnen sagen, dass die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits im Rahmen dessen, was ohne eine Chartaänderung möglich war, eine „non-binding resolution“, also eine nichtbindende Resolution, verabschiedet hatte ({1}) und dass der politische Wille überall vorhanden ist, dass diese obsolete Regelung gestrichen wird. ({2}) – Ja, ja, ja. Wenn Ihnen das noch nicht reicht, dann nehmen Sie die Aussage des großen Völkerrechtlers, des polnischen Außenministers und späteren Richters am IGH, Krzysztof Skubiszewski, zur Kenntnis, der bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1993, übrigens in seinem Beitrag auf Deutsch, in New York gesagt hat: Lasst uns gemeinsam politisch die Feindstaatenklausel dorthin werfen, wo sie hingehört, auf den Müllhaufen der Geschichte. – Nachdem Sie, Herr Hampel, kein Müllhaufenwühler sind, sollten Sie sich anderen Dingen zuwenden. ({3}) Wir kommen beim Blick in die Zukunft an Samuel Huntington nicht vorbei. Man muss kein Anhänger seiner Theorie vom Zusammenprall der Zivilisationen sein. Aber man spürt, dass die Ausgangsvoraussetzungen des Jahres 1945, die unbedingte Anerkennung der Rechte der Individualität, der Respekt und der Schutz des Einzelnen – das wurde in der Charta der Vereinten Nationen beim Gewaltverzicht mitgenannt –, infrage gestellt werden. Wenn wir in 20 Jahren oder, sagen wir, in acht Jahren, wo wir dann hoffentlich ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sein werden, einen Blick auf die Vereinten Nationen werfen, dann könnte es sein, dass das Verständnis für das, was Menschenrechte, individuelle Rechte, subjektive, soziale, ökonomische Rechte sind, von dem heutigen Verständnis sehr stark divergiert. Alleine ein Blick nach China zeigt bei den Verantwortlichen eine Mentalität und eine Situation, in der nicht mehr erkannt wird, dass Individualität auch in Asien genau die gleiche Rechtsgrundlage hat, nämlich die Charta der Vereinten Nationen. Lassen Sie uns bei dieser Gelegenheit an den kräftigen und beachtlichen Widerstand der kämpfenden Studenten, die den Rechtsstaat in Hongkong erhalten wollen, erinnern und darauf hinweisen, dass hier für uns natürlich ein ganz großes Handlungsspielfeld besteht. Das Handlungsspielfeld heißt, dass wir als ein Land, das von Anfang seiner Mitgliedschaft an, also seit 1973, immer den Weg des Multilateralismus gegangen ist und die Notwendigkeit des ausgleichenden Zusammenführens – nicht die 100-Prozent-Lösung, sondern die Reduzierung von Konfliktherden – gesehen und dies massiv unterstützt hat, die Menschenrechte und die Rechte der Charta der Vereinten Nationen verbessern. Das heißt, dass wir diese gesellschaftspolitischen Punkte, die theoretischen Grundlagen ernst nehmen und wieder zusammenführen müssen. Das heißt auch, dass wir die Reform der Vereinten Nationen, so wie sie uns Kofi Annan 2005 vorgelegt hatte, endlich wieder vorantreiben und umsetzen sollten. Pérez de Cuéllar hat einmal in einer speziellen Konfliktsituation seiner Zeit gesagt: Der Patient liegt auf der Intensivstation, aber er lebt. – Wir müssen alles dafür tun, dass der Patient wieder von der Intensivstation herunterkommt. Das bedarf einer Reform der Vereinten Nationen mit neuen Mitgliedern im Sicherheitsrat, zum Beispiel den G 4 und damit auch der Bundesrepublik Deutschland. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schmidt. – Ich schließe die Aussprache.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kanzlerin hat heute neue Coronamaßnahmen vorgestellt. Aber was darin fehlt – mal wieder –, sind Hilfen für Mieterinnen und Mieter. Deswegen freue ich mich sehr, dass ein Bündnis von Mieterbund, von Gewerkschaften, von Sozialverbänden und Verbraucherzentralen gefordert hat, dass wenigstens ein neues Kündigungsmoratorium für Mieterinnen und Mieter kommt. ({0}) Ich finde, das ist das Mindeste: Niemand soll während der Pandemie seine Wohnung verlieren; ({1}) erst recht nicht, wenn der Lockdown dazu führt, dass man eben keinen Job mehr hat oder weniger Einkünfte hat. Ich finde es einfach unverantwortlich, dass die Union dieses Thema seit Monaten aussitzt. ({2}) Wir als Linke wollen einen besseren Kündigungsschutz während der Pandemie, aber nicht nur da. Wir wollen an das Thema grundsätzlich ran. Warum? Ein paar Beispiele. Eine Familie aus Frankfurt mit drei Kindern erhält eine Eigenbedarfskündigung, als das vierte Kind unterwegs ist. Eine bezahlbare Wohnung für sechs Personen kurzfristig in Frankfurt zu finden, ist nahezu aussichtslos. ({3}) Die junge Familie musste die Wohnung räumen und rutschte in die Wohnungslosigkeit. Oder eine alleinerziehende Mutter in Stuttgart: Ihre Wohnung wurde an eine neue Eigentümerin verkauft. Diese forderte eine deutlich überzogene Miete. Als sich die Mieterin wehrte, wurde auch sie per Eigenbedarfskündigung rausgeschmissen. Am Ende zog aber nicht die neue Eigentümerin ein, sondern ein Mieter, der bereit war, den überzogenen Preis zu zahlen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Mietervereine könnten mit solchen Beispielen von unfairen Kündigungen und vorgetäuschtem Eigenbedarf Bände füllen. Das können wir nicht länger akzeptieren. ({5}) Der Mieterbund geht inzwischen von 80 000 Kündigungen wegen Eigenbedarfs aus, und das in einem einzigen Jahr. ({6}) Das ist die Größenordnung einer ganzen Stadt. ({7}) – Herr Luczak, Sie rufen dauernd dazwischen, ich darf Sie beruhigen: Wir als Linke wollen die Möglichkeit der Eigenbedarfskündigung nicht abschaffen. Aber dieser ausufernde Missbrauch ist das Problem, und das müssen wir endlich angehen. ({8}) Da waren auch die Gerichte in den letzten Jahren nicht besonders hilfreich. Allerlei Unrecht wurde da meiner Auffassung nach gesprochen. Eigenbedarfskündigungen wurde stattgegeben: wegen des Zweitwohnsitzes, weil ein Au-pair-Mädchen einziehen wollte, weil in der Wohnung ein nur gelegentlich genutztes Arbeitszimmer oder eine gelegentlich – zwei Wochen im Jahr – genutzte Ferienwohnung eingerichtet werden sollte. Aus all diesen fadenscheinigen Gründen verlieren Menschen ihr Zuhause und nicht selten ihr Dach über dem Kopf. Das können wir nicht akzeptieren. ({9}) Eigenbedarf wird nicht nur wegen der eigenen Kinder und Eltern – so weit, so gut –, sondern auch wegen der Neffen, wegen des Schwagers, wegen der Ex-Frau geltend gemacht oder auch dann, wenn ein Mitglied eines Unternehmens, einer GbR, für sich Eigenbedarf anmeldet. Das ist doch wirklich absurd. ({10}) Auch an anderer Stelle ist der Kündigungsschutz in Deutschland mangelhaft. Wenn ein Mieter Schulden beim Vermieter hat, kann er eine fristlose Kündigung abwenden, wenn er nachzahlt, eine ordentliche Kündigung, die dann gerne hinterhergeschoben wird, aber nicht. Das heißt, wer nur einmal nicht pünktlich gezahlt hat, fliegt raus. Das kann nicht sein. Auch diese Gesetzeslücke müssen wir endlich schließen. ({11}) Und warum das Ganze? Lassen Sie uns doch auf die Gründe zu sprechen kommen. Wohnungskonzerne und Rentenfonds, Spekulanten und Glücksritter: Sie alle wollen ihr Geld auf Kosten der Mieterinnen und Mieter vermehren. Wo sonst kann man denn so hohe Renditen machen wie auf dem Mietwohnungsmarkt? Aber das Einzige, was bei diesem beispiellosen Beutezug stört, sind eben die Altmieter, also Menschen mit alten, mit günstigen Mietverträgen. Diese ausufernden Kündigungen haben System. Wir wollen dem einen Riegel vorschieben. ({12}) Deswegen wollen wir die Eigenbedarfskündigung auf die engsten Familienmitglieder im Hauptwohnsitz einschränken. Wer die Miete zurückzahlt, dem darf nicht gekündigt werden. ({13}) Die Möglichkeit, jemandem aufgrund eines Mietrückstandes von nur zwei Monaten zu kündigen, muss zukünftig ausgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, am unwürdigsten finde ich dieses ganze Kündigungssystem dann, wenn es um ältere Menschen geht, die wegen Ihrer unfairen Rentenpolitik ohnehin mit dem Rücken an der Wand stehen, und dem gleichzeitig ungebremsten Mietenwahnsinn in den Großstädten. ({14}) So musste eine 93-jährige Schlaganfallpatientin aus Bonn ihre Wohnung nach 30 Jahren wegen Eigenbedarfs räumen. Auch eine 80-jährige Demenzkranke aus Berlin darf aus ihrer Wohnung geschmissen werden. Mal ganz im Ernst: Würden Sie Ihre Oma auf dem Mietwohnungsmarkt in Bonn oder in Berlin suchen lassen? Doch wohl kaum! ({15}) Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir auch diese vulnerablen Gruppen, müssen wir vor allen Dingen ältere Menschen besser schützen. ({16}) Ich finde, so kann man mit den Leuten, die hart gearbeitet haben, die dieses Land mit aufgebaut haben, nicht umgehen. ({17}) Diese Leute werden an ihrem Lebensabend aus ihren Wohnungen geschmissen. Das ist einfach unsozial. ({18}) Deswegen sagen wir als Linke: Niemand, der über 70 ist, darf aus seiner Wohnung geschmissen werden. ({19}) Denn nicht umsonst heißt es doch im Volksmund: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. – Das sollten wir uns zu Herzen nehmen und das Mietrecht endlich nachbessern. Vielen Dank. ({20})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Lay, ich muss wirklich sagen: Was Sie hier präsentiert haben, das war unter aller Kanone. ({0}) So wie Sie das darstellen, das ist so was von der Realität entfernt. Sie sagen – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Antrag Ihrer Fraktion –, dass der mietrechtliche Kündigungsschutz so verbessert werden muss, „dass Mieterinnen und Mieter besser vor Willkür geschützt und nicht länger unverschuldet in die Wohnungslosigkeit gedrängt werden“. ({1}) Sie wissen doch ganz genau – das finde ich richtig –, dass wir ein wirklich außerordentlich soziales Mietrecht haben, dass wir starke soziale Leitplanken haben, dass wir wahrscheinlich das beste Mietrecht in ganz Europa haben, weil es genau das tut, was Sie nicht machen. Wir spielen die Menschen nicht gegeneinander aus. Wir spielen nicht die Alten gegen die Familien aus. Wir spielen auch nicht Mieter gegen Vermieter aus, sondern wir versuchen, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Das, was Sie hier präsentiert haben, ist genau das Gegenteil davon. ({2}) Sie argumentieren, wir dürften die älteren Menschen nicht aus den Wohnungen drängen. Da bin ich sofort bei Ihnen. Aber was machen Sie denn mit der Familie, die fünf Kinder hat und eine neue Wohnung sucht? Die steht jetzt bei Wohnungsbesichtigungen in der Warteschlange, die immer länger wird, weil Sie mit Ihrer Politik verhindern, dass mehr Wohnungen gebaut werden und dass wir nachhaltig an der Lösung dieses Problems arbeiten. Sie machen das Gegenteil. ({3}) Sie argumentieren auch mit völlig falschen Zahlen. Sie haben gerade gesagt, dass der Deutsche Mieterbund von 80 000 Eigenbedarfskündigungen ausgeht. In Ihrem Antrag ist hingegen von 13 389 Fällen die Rede. Was ist denn jetzt richtig? Sie sagen im Übrigen: Das sind Gerichtsprozesse. – Dann sagen Sie aber auch, wie die Gerichtsprozesse ausgegangen sind. Nur weil eine Kündigung ausgesprochen wird, heißt das noch lange nicht, dass sie am Ende durchgeht. ({4}) Das ist auch richtig so. Unsere Gerichte sind zu Recht streng. Auch wir als Union wollen nicht, dass die Menschen ihr Dach über dem Kopf verlieren. Das ist in unserem Mietrecht auch sehr gut abgebildet. Die Gerichte machen eine umfassende Interessenabwägung und schauen sich sehr genau an, wie lange jemand in einer Wohnung wohnt, wie der Betreffende im Kiez verwurzelt ist und wie es um seine gesundheitliche Situation bestellt ist. Das wird den Interessen des Eigentümers gegenübergestellt, der die betreffende Wohnung möglicherweise nutzen will. Das kann man als Gesetzgeber nicht pauschal für alle Fälle festschreiben. Es gibt natürlich 70-Jährige, die krank sind, schon lange in einer Wohnung leben und in ihrem Kiez verwurzelt sind. Das berücksichtigen die Gerichte auch bei der Interessenabwägung. Aber es gibt auch 70-Jährige, die noch richtig fit sind und die auch finanziell richtig gut dastehen. Jetzt sagen Sie diesen Menschen: Ihr dürft in jedem Fall dort wohnen bleiben. – Aber die Familie mit den fünf Kindern muss dann draußen bleiben? Das ist doch keine soziale Politik, Frau Lay. Das ist das Gegenteil davon. ({5}) Ich wende mich dagegen, dass Sie hier mit falschen juristischen Dingen argumentieren. Sie haben als Beispiel genannt, dass eine Eigenbedarfskündigung ausgesprochen wird, dass dann aber nicht derjenige einzieht, für den Eigenbedarf geltend gemacht wurde, sondern jemand ganz anderes. Das ist heute schon vorgetäuschter Eigenbedarf, und das ist verboten. Das führt am Ende zu Schadensersatzansprüchen; das ist auch richtig. Wenn Sie aber jetzt den Menschen so entgegentreten und sagen – das schreiben Sie auch in Ihrem Antrag –, dass Vermieter mehr oder weniger willkürlich agieren können, dann verkaufen Sie die Menschen draußen für dumm. Ich finde es unredlich, dass Sie so etwas machen. ({6}) An dieser Stelle muss man auf unsere Rechtsprechung verweisen. Sie hält die Rechte von Mieterinnen und Mietern zu Recht hoch. Sie alle kennen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, die besagt: Mieter haben wegen der starken sozialen Stellung, die wir ihnen durch das Gesetz eingeräumt haben, sogar eine eigentümerähnliche Position. – Das ist absolut richtig; denn Wohnen ist nicht ein Gut wie jedes andere. Es geht auch immer um ein Stück persönlichen Rückzugraum, es geht um ein Stück Heimat, und deswegen ist das gut. Aber natürlich gibt es auch die Rechte der Eigentümer. Das ist ebenfalls ein schützenswertes Gut. Das Eigentum wird in Artikel 14 des Grundgesetzes gewährleistet, was auch Freiheitsraum gegenüber staatlicher Einflussnahme ist. Diese beiden Dinge muss man gegeneinander abwägen. Sie sagen nun: Wir wollen das Recht auf Eigenbedarfskündigung ja nicht abschaffen. – Schauen Sie sich doch einmal an, was Sie in Ihrem Antrag fordern! Damit meine ich noch nicht einmal den von Ihnen geforderten absoluten Schutz vor Eigenbedarfskündigungen ab einer Altersgrenze von 70 Jahren. Wenn man sein gesetzlich verbrieftes Recht ausübt, eine Eigenbedarfskündigung geltend macht und nachweist, dass man Eigenbedarf hat, das am Ende auch gerichtlich durchsetzt und ein Gericht im Rahmen der beschriebenen Interessenabwägung feststellt: „Ja, die Familie mit fünf Kindern hat das Recht, ihre eigene Wohnung zu beziehen“, dann sagen Sie: Die Mieter müssen aber dafür entschädigt werden. – Da ist zukünftig ein Entschädigungsanspruch fällig wegen der Umzugskosten, der Maklerkosten und der neuen Wohnung, die möglicherweise teurer ist. Wozu führt denn das am Ende? Die Familie mit den fünf Kindern überlegt sich dann sehr genau, ob sie eine Eigenbedarfskündigung ausspricht, weil sie sich das am Ende vielleicht gar nicht leisten kann. Damit höhlen Sie das Recht auf Eigenbedarfskündigung faktisch aus, und Sie höhlen damit am Ende das Eigentumsrecht aus. Genau das ist es, was Sie wollen. Sie sind damit eigentumsfeindlich, und das machen wir an dieser Stelle nicht mit, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, vom Kollegen Meiser immer gerne.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es freut mich sehr, Herr Luczak, dass Sie die Zwischenfrage zulassen und sich, wie ich vermute, innerlich sehr darauf gefreut haben. Sie haben in Ihrem Redebeitrag im Grunde sehr stark die Position der Eigentümer deutlich gemacht, die darunter leiden würden, wenn man die Möglichkeit der Eigenbedarfskündigung einschränken würde. Wir wollen sie nicht komplett abschaffen – das hat Frau Lay schon deutlich gemacht –, sie aber missbrauchsunanfälliger machen. Ich frage mich schon, warum Sie sich überhaupt nicht auf diese Logik einlassen. Mir ist eine Sache eingefallen, die das möglicherweise begründen könnte. Ihnen ist wahrscheinlich Ihr Parteifreund Herr Ernst Brenning bekannt. Er ist – für die, die ihn nicht kennen – der Justiziar der Berliner CDU. Er hat in meinem Wahlkreis in Kreuzberg mehrfach mit vorgetäuschtem Eigenbedarf Mieterinnen und Mieter, die dort seit Jahren wohnen, gekündigt und sie aus ihren Wohnungen geworfen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, was ist Ihre Frage?

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich darf mir, wenn ich recht informiert bin,-

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ja, aber nicht ewig lang, zwei Minuten.

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– zwei Minuten Zeit lassen. Meine Frage ist, Herr Luczak: Ist Ihnen das bekannt? Könnte es sein, dass Ihre Position, die Position der CDU Berlin, die sich gegen die Einschränkungen von Eigenbedarfskündigungen ausspricht, möglicherweise damit zu tun hat, dass der Justiziar der Berliner CDU auch sehr davon profitiert, wie die momentane Rechtslage ist?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe davon in der Zeitung gelesen; mehr weiß ich darüber nicht. Was ich aber gelesen habe, war, dass die Gerichte am Ende den Mietern recht gegeben haben. Das zeigt doch genau, dass wir eine gute Rechtslage haben und dass die Gerichte in der Lage sind, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Wenn ein Vermieter – ganz egal, wer es ist – Eigenbedarf vortäuscht, dann bekommen die Mieterinnen und Mieter am Ende recht. Genau so muss es auch sein, lieber Kollege Meiser, und nicht anders. ({0}) Ich habe leider nicht mehr viel Zeit. Deswegen kann ich zum Antrag der Grünen leider nicht mehr so viel sagen. Er beschäftigt sich mit einem anderen Thema, dem Kündigungsausschluss im Zuge von Corona. Dazu will ich nur ganz kurz sagen: Natürlich wollen wir den Mietern helfen, auch und gerade in Coronazeiten. Genau das haben wir als Große Koalition gemacht. Wir haben die Kündigung für die ersten drei Monate ausgeschlossen, und wir haben vor allen Dingen umfassende Hilfen auf den Weg gebracht. Ich nenne als Beispiele Wirtschaftshilfen und Kurzarbeitergeld. Wir haben des Weiteren das ALG II flexibilisiert. Wir haben Soloselbstständigen und Unternehmen geholfen. Ich will Ihnen sagen: Diese Maßnahmen wirken. Denn was sind denn die konkreten Zahlen? Ich nenne als Beispiel BBU, ein großes Wohnungsunternehmen hier in Berlin, ein Verband mit 700 000 Wohnungen. Gerade einmal 0,3 Prozent der Mieterinnen und Mieter mussten sich mit ihren Vermietern in Verbindung setzen, weil sie Schwierigkeiten hatten. Dann hat man am Ende auch Lösungen gefunden. Deswegen, liebe Grüne, geht euer Antrag einfach an der Realität vorbei. Wir helfen den Mieterinnen und Mietern mit unseren Wirtschaftshilfen und wollen hier keine Dominoeffekte erzeugen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Abgeordnete der AfD-Fraktion Jens Maier. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Winston Churchill soll das Zitat stammen: Wer mit 18 kein Kommunist war, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand. ({0}) Genau in diese Kiste kann man das packen, was die Linken hier wieder zum soundso vielten Male zum Thema Mieterschutz in die Plenardebatte eingeführt haben, wobei darauf hinzuweisen wäre, dass beide Anträge der Linken vom Mai 2019 stammen und damit als überholt angesehen werden müssen, weil sie die aktuelle Problemlage gar nicht erfassen. Corona war im Mai 2019 noch kein Thema. Nach den Vorstellungen der Linken soll eine Kündigung eines Wohnraummietvertrages bei über 70-jährigen Mietern wegen Eigenbedarfs ausgeschlossen sein. Da wird jeder sagen: Ältere Menschen aus der Wohnung zu setzen, das ist aber gemein; das gehört sich nicht. – Ich glaube, es dürfte hier niemanden mit gutem Gewissen geben, der ältere Menschen auf die Straße setzen will. Hier spricht das Herz: Das wollen wir nicht. – Nun kommt aber der Verstand, der sagt: So etwas generell gesetzlich zu regeln, das ist aber sehr unklug. – Warum? Ganz einfach: Wer wird denn an einen 65-Jährigen noch eine Wohnung vermieten, wenn man befürchten muss, dass man den Mieter bei Erreichen des 70. Lebensjahres nicht mehr loswird, vor allem dann, wenn zu erwarten ist, dass man die Wohnung für sich selber benötigt? Bei einer Lebenserwartung von mittlerweile deutlich über 80 Jahren kann das eine lange Wartezeit nach sich ziehen. Es wird bei bestehenden Mietverhältnissen dann auch das Bestreben gefördert, Mieter vor Erreichen des 70. Lebensjahres aus der Wohnung zu setzen, um gar nicht in diese Problematik hineinzukommen. Hier zeigt sich wieder, was dabei herauskommt, wenn man so wie die Linken denkt und allein von der Gesinnungsethik ausgeht, die zwar den guten Willen oder moralische Kategorien in den Vordergrund stellt, die Folgen aber gar nicht bedenkt und ausblendet. Wir als AfD gehen nicht von der Gesinnungsethik, sondern von der Verantwortungsethik aus. ({1}) Wir fragen nicht danach, was gut und was böse ist, wir fragen danach, was richtig und was falsch ist, und vor allem fragen wir danach, was dabei herauskommt. Da kann man bezogen auf diesen generellen Kündigungsschutz für über 70-jährige Mieter nur sagen: Es kommt dabei das Gegenteil von dem heraus, was man will, nämlich älteren Mietern die Wohnung zu erhalten. Darum kann man auch diesen Antrag der Linken einfach nur in die Tonne treten. ({2}) Eine gesetzliche Regelung ist im Übrigen gar nicht notwendig, weil die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt hat, die eine Kündigung des Mietvertrages bei älteren Menschen erschweren. So hat das Landgericht Berlin in einem Berufungsurteil vom März 2019 festgestellt: Der kündigungsbedingte Verlust der gemieteten Wohnung stellt für Mieter hohen Alters grundsätzlich eine Härte i. S. d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB dar, die – im Regelfall – die Fortsetzung des Mietverhältnisses … gebietet. Im Regelfall! Damit ist an diesem Beispiel auch widerlegt, was in dem anderen Antrag der Linken suggeriert wird, nämlich dass eine generelle Überarbeitung des Kündigungsschutzes geboten sei, weil die Rechtsprechung sich als zu vermieterfreundlich entwickelt habe. Wir brauchen keine generelle Überarbeitung des Kündigungsschutzes. Die bestehenden Regelungen reichen aus und werden von der Rechtsprechung auch sachgerecht angewendet. ({3}) Das Einzige, was neu geregelt werden sollte – die AfD hat dazu selbst einen Gesetzentwurf vorgelegt –, ist, dass auch bei ordentlichen Kündigungen die Möglichkeit einer Schonfristzahlung im Gesetz eingeführt werden soll, um Widersprüche in den Rechtsfolgen zwischen einer ordentlichen und einer außerordentlichen Kündigung auszuräumen; das war ja hier beim letzten Mal das Thema. Bei dem Antrag der Grünen wird im Ausschuss zu prüfen sein, ob der Schutz der Mieter und Verbraucher während der staatlich verordneten Coronamaßnahmen in dem behaupteten Umfange benötigt wird. Die Erfahrungen im Sommer dieses Jahres deuten darauf hin, dass befristete Moratoriumslösungen eher nicht benötigt werden. So haben die Mieter nur in ganz wenigen Ausnahmefällen den Kündigungsschutz nach dem Coronarecht in Anspruch genommen. Daran kann sich jetzt nach dem zweiten Lockdown aber etwas geändert haben. Wir werden sehen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mieterinnen und Mieter, die uns jetzt hier zuhören! Ganz unabhängig von der Coronapandemie ist die Lage in vielen Gemeinden und nicht nur in Großstädten dramatisch, was den Wohnungsmarkt angeht. In meiner Heimatregion etwa ist es mittlerweile so, dass im Schnitt in vielen Gegenden und Stadtvierteln die Hälfte vom Nettoeinkommen für die Miete ausgegeben werden muss. Das sind dramatische Zahlen. Das kann nicht so bleiben, und deswegen müssen wir mehr für bezahlbaren Wohnraum hier in Deutschland tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Dazu gehört nicht nur Bauen, sondern dazu gehört auch, dass wir das Mietrecht verbessern. Da hat die SPD in den letzten Jahren schon eine Menge auf die Beine gestellt. Zum Beispiel haben wir die Mietpreisbremse geliefert. Es war richtig, dass wir die Mietpreisbremse in dieser Wahlperiode noch verbessert haben. Wir haben nämlich dafür gesorgt, dass in Zukunft nicht erst ab der Rüge, sondern 30 Monate nach Abschluss des Mietvertrages Überzahlungen vom Vermieter zurückzuzahlen sind. Das war, glaube ich, ein ganz wichtiges Signal und ein wichtiges Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir haben dafür gesorgt, dass die Berechnungsgrundlage für die Mietspiegel ausgeweitet wurde: bisher vier Jahre, jetzt sechs Jahre. Auch das hat den Mietenanstieg gedämpft. Und es war enorm wichtig, dass wir die Umlage der Modernisierungskosten deutlich begrenzt haben. Ich will Sie nicht mit Zahlen langweilen; aber es ist doch wirklich wichtig, das hier mal zu sagen: In sechs Jahren darf die Miete wegen Modernisierungskosten nur 3 Euro pro Quadratmeter steigen, und bei günstigen Wohnungen, die 7 Euro pro Quadratmeter oder weniger kosten, sind es nur 2 Euro pro Quadratmeter. Auch im WEG-Recht haben wir viel für die Mieter getan: dass die Mieter jetzt einen Rechtsanspruch darauf haben, für eine E-Ladestation, Einbruchschutz oder einen barrierefreien Zugang die Zustimmung vom Vermieter zu bekommen. Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiges Gesetz. Da hat die SPD eine Menge für Mieterinnen und Mieter durchgesetzt; das will ich hier ausdrücklich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Aber ganz klar – den Vorwurf muss ich den Kollegen von der Union durchaus machen –: Wir hätten mehr gemacht, und es wäre mehr nötig gewesen, ({3}) zum Beispiel den alten SPD-Vorschlag umzusetzen, den Wucherparagrafen, § 5 Wirtschaftsstrafgesetz, endlich zu schärfen, damit er anwendbar ist. Da gab es in der Union – überraschenderweise – leider nur von der Bayerischen Landesregierung Unterstützung. ({4}) Ich finde, bei Wucher können wir als Staat die Mieter nicht alleinlassen. ({5}) Da ist es staatliche Aufgabe, Sanktionen festzusetzen, damit Mietwucher nicht stattfindet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Leider gilt auch die Mietpreisbremse nicht bundesweit. Auch das müssen wir regeln; denn die Mietpreisbremse wirkt dort, wo sie gilt. Das zeigen die Urteile. Da konnten Mieterinnen und Mieter mit unserer Mietpreisbremse den Anstieg stoppen. Deswegen sollte sie bundesweit gelten, damit nicht, wie in Schleswig-Holstein durch die Grünen und Robert Habeck geschehen, die Mietpreisbremse in einem Bundesland einfach abgeschafft werden kann. Chris Kühn, den Vorwurf müsst ihr euch hier gefallen lassen. ({7}) Zum Berliner Mietendeckel will ich eines festhalten: Er wirkt ja ganz offensichtlich. ({8}) Wir schauen auch gespannt darauf, wie das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeiten beurteilen wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass nur der Bund eine solche Regelung treffen kann, dann sollten wir das auch hier im Bund machen, zumindest in den Gegenden, wo Wohnungsnot herrscht. Dort sollte das Modell des Berliner Mietendeckels gelten, weil es offensichtlich dazu beiträgt, dass die Mieten nicht ansteigen. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Luczak?

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne. Wir haben ja so wenig Gelegenheit, uns auszutauschen. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, lieber Kollege Fechner, dass Sie die Frage zulassen. – Es ist ja ein bisschen unüblich, innerhalb der Koalition Zwischenfragen zu stellen. Sie haben aber gerade auf den Berliner Mietendeckel abgehoben, was ja ein Projekt der rot-rot-grünen Koalition hier in Berlin ist, das ja auch sehr streitig ist und verfassungsrechtlich angezweifelt wird, und sagten, dieser Mietendeckel wirke in Berlin. Wie bringen Sie das denn damit zusammen, dass gerade eine Studie gezeigt hat, dass im letzten Jahr die Angebotsmieten in 28 von 50 Städten gesunken sind – nicht nur in Berlin –, also mindestens 27 Städte dabei sind, in denen der Mietendeckel nicht gilt?

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kenne die genannte Studie nicht; aber offensichtlich ist es der Mix aus Mietendeckel und Mietpreisbremse – beides SPD-Projekte –, der dazu führt, dass in Berlin die Mieten nicht so stark ansteigen, wie sie ohne diese beiden Instrumente angestiegen wären. ({0}) Ich bin ein bisschen enttäuscht. Ich dachte, Sie nutzen die Frage, um mir recht zu geben und anzukündigen, dass wir jetzt manche Projekte umsetzen. Dennoch herzlichen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege Luczak. ({1}) Wenn wir hier über Wohnungsmieten diskutieren, ist das richtig und gut. Aber ich möchte dabei auch die Gewerbemieten in den Blick nehmen; denn ich finde: Gerade die kleinen Gewerbetreibenden, die Soloselbstständigen müssen wir in den Blick nehmen, weil die nicht nur seit Corona, sondern auch vorher schon Probleme hatten. Ich glaube, wir müssen mehr für deren Schutz im Kündigungsrecht tun. ({2}) Beginnen sollten wir wirklich damit, dass wir schnell und glasklar im Gesetz regeln, dass eine Betriebsschließung wegen einer Pandemie eine Störung der Geschäftsgrundlage ist, ({3}) die einen Rechtsanspruch auf die Minderung der Miete gibt. Das sollten wir schnell und zügig ins Gesetz hineinschreiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Eine gravierende Ungerechtigkeit möchte ich auch noch nennen: Ich finde, es geht nicht, dass der Mieter eine fristlose Kündigung aus der Welt schaffen kann, indem er die Mietrückstände bezahlt, aber die ordentliche Kündigung eben nicht. Das, finde ich, ist nicht gerechtfertigt. Das sollten wir auch ändern. ({5}) Das ist im Übrigen auch im Sinne der Vermieter; denn es gibt ja dadurch einen Anreiz für den Mieter, dass er die Mietrückstände bezahlt. Gerade wenn die Mieter erhebliche Zahlungsschwierigkeiten haben oder gar zahlungsunfähig sind, kann das ein Anreiz sein, das Geld zusammenzukratzen, damit man die Wohnung behält. ({6}) Also ist das auch im Sinne der Vermieter, liebe Kolleginnen und Kollegen. Unterm Strich: Ich glaube, dass der Markt alleine nicht für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen wird. Deswegen brauchen wir im Mietrecht in einer sozialen Marktwirtschaft Leitplanken. Die müssen wir verbessern. Auch wenn wir hier schon einiges getan haben, gibt es einiges, was wir noch tun müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darauf hinweisen, dass wir in acht Minuten die Wahlen schließen. Wer also noch nicht gewählt hat, möge jetzt bitte die Gelegenheit nutzen. Das gilt auch für die Kollegen, die jetzt in ihren Büros sitzen. Sie sollten sich auf den Weg machen. Die nächste Rednerin: für die FDP die Kollegin Katharina Willkomm. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger ein hohes Alter erreichen. Ende 2019 waren rund 16 Prozent der Bevölkerung 70 oder älter. Das sind rund 13 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Ein guter Teil davon ist Mieter. Mancher zieht in diesem Alter noch mal um, etwa weil das Haus ohne die Kinder zu groß geworden ist. Andere bleiben gerne in der Wohnung, zum Beispiel, weil die Nachbarschaft lebendig und die Infrastruktur gut ist. Die Gründe für das Gehen und für das Bleiben sind so verschieden wie die Menschen. Aber für die Linken sind sie alle gleich, und allen geht es schlecht. In Ihrem Weltbild sind auf der einen Seite ein paar superreiche Raffkes, alles Vermieter, und auf der anderen Seite gibt es ein Heer von les Misérables in tristen Mietskasernen. Diese Weltansicht ist einseitig und unterkomplex. ({0}) Genauso einseitig und unterkomplex ist Ihr Antrag.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bayram?

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. – Stellen Sie sich für einen Moment vor, das Weiße Haus wäre ein Mietshaus, für das Ihr Mietrecht gilt. Joe Biden bekäme Donald Trump, einfach weil er über 70 ist, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nicht aus dem Weißen Haus – und dabei würden noch nicht einmal Sie Eigenbedarf bestreiten. ({0}) Mich ärgert die gedankliche Schlichtheit hinter Ihrer Kündigungsgrenze bei einem Alter von 70 Jahren. Was würde denn gerade der Miethaivermieter, an dem Sie sich so sehr abarbeiten, Ihrer Vorstellung nach machen? Wenn er nicht für immer und ewig über den 70. Geburtstag hinaus an seinen Mieter gebunden bleiben will, ({1}) dann überreicht er wohl rein prophylaktisch zum 69. Geburtstag die Kündigung. ({2}) Solch ein Geschenk lehnen wir Freien Demokraten ab. ({3}) Der Gesetzgeber hat mit § 574 BGB bereits eine Regelung geschaffen, die die sozialen Belange der Mieter berücksichtigt. Das Gericht, bei dem die Sache landet, muss abwägen. Der Mieter kann die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung für ihn, seine Familie oder andere Haushaltsangehörige eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Für die über 70-Jährigen tauschen Sie also das Abwägungsgebot des § 574 BGB gegen ein Kündigungsgebot für den Vermieter. Das ist nicht im Sinne Ihrer vermeintlichen Zielgruppe, meine Damen und Herren. ({4}) Ihr zweiter Antrag enthält zusätzliche Forderungen von gleicher Qualität. Dieser Antrag will letztlich eines: die Erstarrung des Wohnungsmarktes und die Beschneidung des Eigentumsrechts. Jetzt gilt eine zehnjährige Kündigungsbeschränkung bei Wohnungsumwandlung. Sie wollen daraus eine Ewigkeitsgarantie machen. Jetzt gilt eine fixe monatliche Mietzahlungsfrist. Sie wollen daraus einen schwammigen Achtwochenkorridor machen. Zugleich aber erwarten Sie, dass der Vermieter seinen Zahlungspflichten gegenüber Handwerkern, Gärtnern und anderen Dienstleistern für das Mietshaus pünktlichst nachkommt. Und wenn es zum Streit kommt, fordern Sie, dass der Vermieter dem gekündigten Mieter den Mietrechtsprozess ebenso bezahlt wie bei Erfolg die Umzugskosten und die überschießenden Neumietkosten. Ihre Anträge zeigen nur eins: Sie verachten das Privateigentum. Um die Mieter geht es Ihnen nicht. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Christian Kühn. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Selten zuvor war eine Wohnung als Schutz- und Lebensort so wichtig wie in dieser Zeit der Coronapandemie. Jetzt seine Wohnung zu verlieren, ist eine wahre Katastrophe. Viele Mieterinnen und Mieter in Deutschland sind im Augenblick in Kurzarbeit oder haben ihren Job schon verloren. Es ist klar: Wer jetzt auf den Wohnungsmarkt geht, findet keine günstige Wohnung; es ist nahezu unmöglich, eine günstige Wohnung zu finden. Deswegen, weil wir in dieser Pandemie sind, weil das Virus da draußen tobt, weil wir nicht wollen, dass ein Mieter oder eine Mieterin auf die Straße gesetzt wird, braucht es jetzt ein Kündigungsschutzmoratorium; das ist unerlässlich. ({0}) In Zeiten der Pandemie darf niemand seine Wohnung verlieren – dieses Versprechen haben wir alle gemeinsam im März gegeben. Ich verstehe nicht, was an diesem Lockdown jetzt anders ist als an dem Lockdown im März. Ich verstehe nicht, warum wir dieses Versprechen nicht auch jetzt aussprechen, gerade in dieser kalten Jahreszeit. Ich glaube, wir sollten das Versprechen aus dem März erneuern: Kein Mieter darf jetzt seine Wohnung verlieren. ({1}) Es ist doch ganz klar: Dieser Lockdown ist sozial noch härter als der erste, weil die Reserven aufgebraucht sind. Die Löhne in Deutschland sinken, und zwar dramatisch, und die Mietentwicklung in den großen Ballungsräumen ist sehr stabil. Der Gap zwischen Mietentwicklung und Lohnentwicklung wird größer. Auch deswegen braucht es jetzt dieses Kündigungsschutzmoratorium, weil die Gefahr, dass Menschen jetzt ihre Wohnung verlieren, viel größer ist als im Frühjahr. Lassen Sie uns dieses Moratorium deswegen gemeinsam schnell auf den Weg bringen und den Menschen in unserem Land Sicherheit geben. ({2}) Wir haben das im Fachausschuss, im Bau- und Wohnungsausschuss, besprochen, aber auch im Rechtsausschuss. Ihre Argumente, Herr Luczak, sind immer wieder vorgebracht worden. Ich sage Ihnen eines: Wir dürfen doch nicht warten, bis die Kündigungszahlen und die Zahl der Wohnungslosen steigen. Wir müssen vorher handeln. Wir müssen dafür sorgen, dass das Kind erst gar nicht in den Brunnen fällt. ({3}) Und wir brauchen eine Erneuerung des sozialen Charakters des Mietrechts. Ich glaube, das ist ganz notwendig. Es wurde in den Vorreden schon sehr viel über die Frage der Eigenbedarfskündigung gesprochen. Darauf möchte ich jetzt auch eingehen. Herr Luczak, Sie haben gesagt, da gibt es gar kein Problem. Das ist sozusagen Ihre Standardleier: Wir haben doch schon alles; alles ist rechtlich wunderbar; es funktioniert. Sie als Koalition ringen doch gerade um die Frage, wie es bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen weitergeht. Das ist sozusagen Ihr großer Streitpunkt im Augenblick. Es ist völlig absurd, dass Herr Seehofer einen Gesetzentwurf einbringt und danach kurz erklärt, dieser müsse aber jetzt noch durch den Bundestag aufgeweicht werden, und Sie gleich darauf reagieren. Ich sage Ihnen eines: Die andere Seite der Medaille ist der Kündigungsschutz bei Eigenbedarf, weil man die Mieter aus diesen umgewandelten Wohnungen nur dann loswird, wenn man wegen Eigenbedarf kündigt. Das ist doch das Geschäftsmodell, das dahintersteht. Ich verstehe natürlich, dass Sie hier auf die Bremse treten. Aber das ist ein Problem in Deutschland; das können Sie an der Zahl der Eigenbedarfskündigungen in Deutschland sehen. Das Geschäftsmodell der Umwandlung wollen wir als Grüne beenden. Wir wollen den Eigenbedarf auf einen tatsächlichen Eigenbedarf zurückführen. ({4}) Eigenbedarf muss auf Familienmitglieder ersten und zweiten Grades zurückgeführt werden. Ich verstehe nicht, warum eine Gesellschaft bei Wohnungen Eigenbedarf anmelden kann. Ich finde, das macht keinen Sinn. Hier braucht es dringend eine Reform des Mietrechts. ({5}) Wir brauchen aber auch – auch das wurde eben schon ausgeführt – eine Erneuerung des sozialen Schutzes im Mietrecht, und zwar gerade für besonders schutzbedürftige Menschen. Auch ich bin dagegen, dass wir starre Altersgrenzen in die Regelung hineinschreiben, aber dass wir das Alter der Menschen oder Vorerkrankungen oder die Tatsache, dass es sich um einen Haushalt mit minderjährigen Kindern handelt, als Gründe in das Gesetz schreiben, damit die Gerichte besser abwägen können, das ist dringend notwendig. Das wollen wir als grüne Fraktion machen. ({6}) Wir brauchen zudem die Möglichkeit, eine ordentliche Kündigung bei Zahlungsrückständen zu heilen, gerade in der heutigen Zeit. Ich habe die soziale Situation beschrieben: ({7}) Immer mehr Menschen rutschen im Augenblick in die soziale Sicherung hinein. Deswegen brauchen wir hier eine Klarstellung, auch weil viele Ämter gerade nicht in der Lage sind, die Mieten pünktlich zu zahlen. Dass dadurch Mieterinnen und Mieter unverschuldet ihre Wohnung verlieren, muss dringend unterbunden werden. Deswegen braucht es auch hier eine Klarstellung im Gesetz. Ich glaube, das wird von allen geteilt in diesem Haus, Herr Luczak, außer von Ihnen in der Unionsfraktion und in der FDP-Fraktion. ({8}) Deswegen muss sich hier etwas ändern. ({9}) Ich finde es unerträglich, dass Familien in Deutschland in dieser Pandemie zwangsgeräumt werden. Auch da, finde ich, sollten wir uns als Bundestag einen Ruck geben und sagen: Eine Zwangsräumung von Familien in dieser Phase darf es nicht länger geben. Es wurde viel über die privaten Wohnverhältnisse gesprochen. Der Kollege Fechner hat aber auch noch mal die Gewerbemieten angesprochen. Wir als grüne Fraktion unterstützen Sie da gerne, eine Klarstellung für die Gewerbetreibenden in Deutschland hinzubekommen, die im Augenblick unter dieser Coronapandemie massiv leiden. Ich verstehe überhaupt nicht, dass die Unionsfraktion das Gewerbe und den Einzelhandel dermaßen aus dem Blick verloren hat. ({10}) Es geht hier nicht um irgendein Geschenk, sondern darum, dass die Lasten dieser Pandemie richtig verteilt werden, und zwar zwischen den Mieterinnen und den Eigentümern auf der gleichen Seite. Deswegen braucht es die Reform des § 313 im BGB. Hier braucht es eine gesetzgeberische Klarstellung. Wenn das Justizministerium hier einen guten Vorschlag machen wird, werden wir als grüne Fraktion dem natürlich zustimmen, weil wir das Gewerbe im Blick haben, weil wir die Innenstädte im Blick haben und weil wir glauben, dass jetzt Menschen geholfen werden muss, bei den privaten Mieten und bei den Gewerbemieten. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück zu den Tagesordnungspunkten 7 und 8. Die Zeit für die Wahl ist jetzt gleich vorbei. Ich darf fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse gebe ich Ihnen später bekannt. Wir setzen die Aussprache fort mit dem Kollegen Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wohnen hat im Leben eine ganz zentrale Bedeutung. Wir haben in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich über kein Thema so häufig geredet wie über Wohnen, Bauen, Mieten. Ich wollte eigentlich sagen, dass es in diesem Hause absolut unstrittig ist, dass man das Problem am besten löst, wenn man einfach mehr baut. Das muss ich korrigieren: Weite Teile dieses Hauses kommen gar nicht auf die Idee, dem Bedarf durch mehr Angebot zu begegnen. Das gilt leider auch für die Kollegen des Koalitionspartners SPD. ({0}) Deswegen will ich darauf noch etwas Zeit verwenden. Meine Damen und Herren, die Koalition hat mit Blick auf den Mietwohnungsmarkt eine ganze Menge angefasst. Wir haben die Mietpreisbremse verlängert – Sie haben verfolgt, dass das kein leichtes Thema für die Unionsfraktion war –, wir haben das Mietrechtsanpassungsgesetz auf den Weg gebracht, und wir haben vor allen Dingen – das will ich noch mal ausdrücklich erwähnen – eine kräftige Erhöhung beim Wohngeld beschlossen. Die dadurch gewonnene Zeit hätte in weiten Teilen – in Sonderheit im Übrigen auch in Berlin, wo Sie die Verantwortung mittragen – dazu genutzt werden müssen, neu zu bauen, schneller zu bauen, ansprechend zu bauen und soziale Not zu lindern. Nur mit mehr Wohnungen kommen wir dem Thema des steigenden Wohnraumbedarfs insbesondere in den Ballungsräumen entgegen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe mir mal die Begründungen der Linkenanträge durchgelesen. Da wird auf das sogenannte Wiener Modell rekurriert. Da ist es lohnenswert, sich mit diesem Wiener Modell genauer zu beschäftigen. ({2}) Wodurch ist es denn gekennzeichnet? Es ist dadurch gekennzeichnet, dass Mieträume sozusagen dynastisch weitervererbt werden. Es entsteht in Wien der sogenannte Mietadel. Es gibt jahrelange Wartelisten. ({3}) Es gibt dramatische Mietpreissteigerungen auf dem privaten Wohnungsmarkt, um über 50 Prozent seit 2008. Im Übrigen gibt es auch auf dem öffentlichen Wohnungsmarkt dramatische Mietpreissteigerungen: über 20 Prozent in diesem Zeitraum. Darüber gehen Sie einfach hinweg. Neuankömmlinge, junge Familien, sozial Schwache haben praktisch keine Chance, in Wien eine Wohnung zu finden. Das ist Ihr Wunsch – unser Wunsch ist es nicht. Ich habe überlegt: Woran liegt es, dass Sie diesem Modell so zusprechen? Und da habe ich eine Erklärung gefunden: weil der Schlüssel zu einer neuen öffentlichen Mietwohnung in Wien bei der Partei liegt, und zwar der Partei, die in Wien schon seit vielen Jahrzehnten regiert, und das ist ein System, an das Sie gut gewöhnt sind: Wohnungsvergabe über Parteibeschluss. Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. ({4}) Ich komme jetzt gar nicht auf die Frage, in welchem Zustand sich dieser öffentliche Wohnraum befindet, weil wir dann sehr schnell auch das Erreichen der Klimaziele diskutieren müssten. Ich will allerdings auf ein paar andere Punkte zu sprechen kommen. Meine Damen und Herren, Sie zeichnen ein Zerrbild des Verhältnisses zwischen Mieterinnen und Mietern auf der einen Seite und Vermietern auf der anderen Seite, weit weg von der Realität. In der Regel sind die Vertragsverhältnisse weitgehend unproblematisch. Im Übrigen besteht schon heute ein hochwirksamer Rechtsschutz, gekennzeichnet von Ausgewogenheit. Es gibt auch andere Beispiele: Da gibt es die Fälle, dass Heuschrecken über den Markt gehen. Ich will Ihnen eines nennen: 2004 in Berlin, eine rot-rote Landesregierung verschleudert 65 000 Wohnungen für 400 Millionen Euro an Finanzinvestoren. So weit, so verantwortungslos. ({5}) Und 2019 holt eine rot-rot-grüne Landesregierung weit aus und kauft ein Zehntel dieser Wohnungen zum zweieinhalbfachen Preis zurück. Meine Damen und Herren, diese Kapitalvernichtung ist schlimm genug. Es wurde keine neue Wohnung geschaffen. Das Ganze ist verantwortungslose Haushaltspolitik, gesponsert im Übrigen über den Länderfinanzausgleich. Das ist das Gegenteil von vorbildlicher Wohnungsbaupolitik, Herr Kollege Fechner – weil Sie hier eben einen anderen Eindruck erwecken wollten –; da müssten Sie noch mal genau hingucken. Meine Damen und Herren, ich will einen ganz kurzen Augenblick noch verwenden auf den Grünenantrag, der außergewöhnlich kurzfristig vorgelegt worden ist, und sagen: Der Weg der Union ist es, den Mieterinnen und Mietern direkt zu helfen, beispielsweise über die außergewöhnliche Ausweitung des Kurzarbeitergeldes. Das hat gewirkt. Der Kollege Luczak hat Ihnen die Zahlen genannt. Sie wussten dazu nichts zu entgegnen. Welche Lehre ziehen wir aus dieser Debatte? Wohnungsbaupolitik und Mieterinteressen, das kriegt man nicht mit links hin und schon gar nicht mit linken Ideen. Deswegen werden wir Ihren Anträgen nicht zustimmen können. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Marc Bernhard. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie von den Linken fordern heute angebliche Nachbesserungen im Mieterschutz. ({0}) – Na, ganz so wichtig kann es Ihnen damit allerdings nicht sein; denn obwohl Sie die Anträge bereits im Mai 2019 gezeichnet haben, haben Sie sie anschließend eineinhalb Jahre in der Schublade verschwinden lassen – um sie dann heute doch noch zu stellen. Entweder sind Sie sich im Hinblick auf die Qualität Ihrer eigenen Anträge selbst nicht so sicher, oder es zeigt ganz deutlich Ihre Scheinheiligkeit und dass es Ihnen überhaupt nicht darum geht, den Menschen da draußen wirklich zu helfen. ({1}) Nach Mietpreisbremse, Mietpreisbindung, Mietenspiegelsimulation, Mietendeckel versuchen Sie es heute mit angeblichem Mieterschutz. Dabei haben alle, aber wirklich alle Ihre sozialistischen und planwirtschaftlichen Instrumente immer nur ein einziges Ergebnis: dass weniger Wohnungen gebaut werden und weniger Wohnungen vermietet werden. Allein Ihr Mietendeckel führt dazu, dass hier in Berlin 12 000 dringend benötigte Wohnungen nicht gebaut werden. Ihre angeblich soziale Politik führt also dazu, dass weitere 12 000 Familien keine bezahlbare Wohnung finden. ({2}) Heute wollen Sie einen Eigenbedarfskündigungsschutz für über 70-Jährige einführen. Das hört sich auf den ersten Blick sozial an. Aber zu was führt es denn wirklich? Zu was führt es? ({3}) In Deutschland sind 24 Millionen Menschen im Rentenalter. Und genau diese Menschen drängen Sie mit Ihren Anträgen aus dem Wohnungsmarkt hinaus. ({4}) Es führt nämlich dazu, dass niemand mehr an einen 70-Jährigen vermieten wird – aus Angst davor, ihm nicht mehr kündigen zu können, falls die Wohnung tatsächlich einmal dringend selbst gebraucht wird. Mit Ihrem Vorschlag würden Sie also nichts anderes erreichen als eine faktische Diskriminierung von älteren Menschen. ({5}) Grund für die wohnungspolitische Katastrophe in Deutschland sind aber nicht die bei Ihnen so verhassten Vermieter, sondern ein jahrzehntelanges Regierungsversagen, gescheiterte Wohngipfel, überbordende Bürokratie und vor allem ein Staat, der der größte Kostentreiber des Bauens und Wohnens ist. ({6}) Ihr Antrag würde einzig und allein dazu führen, dass noch weniger Menschen das Risiko des Bauens eingehen würden. Was wir jedoch brauchen, ist eine echte Wohnraumoffensive, die die Menschen unterstützt, Wohnungen zu bauen. Dazu müssen die Grunderwerbsteuer gesenkt, die Grundsteuer abgeschafft und bürokratische Regeln entrümpelt werden. ({7}) Denn gegen Wohnungsnot hilft einzig und allein nur bauen, bauen, bauen und nochmals bauen und nichts anderes, meine sehr geehrten Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Abgeordnete Mechthild Rawert. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Mieterinnen! Liebe Mieter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal als Berlinerin: Ich freue mich ja so, dass Sie sich so intensiv mit meiner Regierung hier, Rot-Rot-Grün, ({0}) auseinandersetzen und vor allen Dingen mit unserem Mietrecht. Ich kann Ihnen versichern: Wir wissen nicht nur, „bauen, bauen, bauen“ zu schreiben, sondern auch mehr: Wenn Sie in Ihrem Zweitzuhause herumgehen, sehen Sie, dass was passiert. Herr Kollege Müller, ich habe mich gerade erst mal erkundigt, woher Sie kommen; das weiß ich nicht immer bei jedem. Ich zitiere – mit Genehmigung des Präsidenten –: In einigen Ballungsräumen in Niedersachsen werden laut einer Studie viel zu wenige Wohnungen gebaut. ({1}) So sei der jährliche Bedarf an Neubauwohnungen in Braunschweig ({2}) seit 2016 nur zu rund einem Drittel gedeckt … ({3}) – Ich weiß, dass dort die SPD regiert. ({4}) Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Sie alle nicht so tun sollten, als hätten Sie kein eigenes Zuhause, sondern nur Ihre Zweitwohnsitze hier in Berlin. ({5}) Wir als SPD treten schon seit Langem für ein soziales Mietrecht ein. Es geht um Kündigungsschutz, um bezahlbare Mieten, um den Kampf gegen Mietwucher und Verdrängung. Corona macht doch letztendlich Probleme nur noch deutlicher, Probleme, die wir auch vorher schon hatten, und zwar sowohl im Hinblick auf den Wohnungsmarkt als auch auf Gewerberäume. Wir als SPD-Fraktion sind der Meinung, dass eine Verlängerung des Mietmoratoriums dringend notwendig gewesen wäre. Aber es hat nicht geklappt; andere standen auf der Bremse. ({6}) Wir als SPD-Fraktion setzen uns aber auch weiterhin für einen nachhaltigen Schutz für Mieterinnen und Mieter ein. Alle Menschen brauchen angemessenen und bezahlbaren Wohnraum. ({7}) Niemand darf Angst haben, aus der Nachbarschaft verdrängt zu werden. Als 63-Jährige sage ich Ihnen: Ich möchte, dass das auch für unter 70-Jährige gilt. ({8}) Ich bin zwar keine Mutter, fünf Kinder habe ich auch nicht, aber 16 Nichten und Neffen; deswegen kenne ich mich mit Großfamilien also durchaus aus. Wir sind vor allen Dingen auch dafür, dass Mieterhöhungen nach Modernisierungen nicht mehr möglich sind. Sie müssen untersagt werden. Wir wollen in angespannten Wohnungsmärkten auch weiterhin vor allen Dingen überhöhte Neuvertragsmieten verbieten, und wir wollen Mietpreisbremsen selbstverständlich ausbauen. Wer meint, das wäre nur ein wirksames Instrument für Berlin, ist sehr herzlich eingeladen, es im jeweils eigenen Zuhause durchaus noch weiter auszubauen. Bevor mich der Präsident hier abmahnt, muss ich leider Gottes aufhören. ({9}) Ich sage aber: Wir machen weiter an der Seite der Mieter und der Mieterinnen. Wir wollen ein Risikoverhältnis, das auch im Sinne des § 313 BGB gerecht ist. Deswegen: Verlassen Sie sich auf die SPD, liebe Mieter und Mieterinnen und liebe sozial engagierte Vermieter. Danke. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An diesem Nachmittag ist das schon ein beachtliches Schaulaufen der verschiedenen ideologischen Konzepte zur Rettung und Glücklichmachung der Mieter. ({0}) Nur: Die gesamten ideologischen Konzepte – das hat die Geschichte gezeigt – haben bisher den Mietern in der Regel nichts geholfen, eher im Gegenteil. ({1}) Wir alle wollen, dass Mieter angemessen versorgt sind mit Wohnraum, mit günstigem Wohnraum. Und wir alle wollen auch nicht, dass Eigenbedarfskündigungen missbraucht werden. Frau Lay, was Sie als Beispiele gebracht haben, um Eigenbedarfskündigungen unzulässig erscheinen zu lassen, ist sämtlich bereits jetzt rechtswidrig. Das war Missbrauch und wird auch Missbrauch bleiben; daran ändert sich durch Ihre Vorstellungen überhaupt nichts. Was Sie gleichzeitig vorschlagen, ist aber bemerkenswert – das ist hier noch nicht angesprochen worden –: eine Prozessklausel. Danach soll eine Kündigung erst dann ausgesprochen werden können, wenn unterschiedliche Rechtsauffassungen zwischen Mieter und Vermieter rechtlich abschließend – das heißt unter Umständen durch alle Instanzen – geklärt sind. Was heißt das? Der Mieter muss nur behaupten, er sei einer anderen Rechtsauffassung als der Vermieter, und schon begeben wir uns in einen mindestens drei, vier, fünf Jahre lang währenden Prozessmarathon mit ungewissem Ausgang. Erst dann darf der Vermieter kündigen. – Wenn das keine Einladung zum Missbrauch ist, dann weiß ich auch nicht weiter. ({2}) Ihre Vorschläge erscheinen eher als Teil eines hochideologischen Gesamtkonzeptes zur Bekämpfung privaten Wohnungseigentums, meine Damen und Herren. Darin hat Die Linke bzw. die SED historisch schon eine gewisse Expertise entwickelt; ({3}) das ist richtig. Die Ergebnisse konnte man sehen. Ja, es war tatsächlich ideologisch begründetes Ziel, privates Wohneigentum zurückzudrängen. Entsprechend sah die DDR 1990 aus, meine Damen und Herren. ({4}) Ich sage nicht, dass Sie Gleiches hier vorhaben. Aber ich warne vor den Nebenwirkungen einer verfehlten Mietpolitik, meine Damen und Herren. ({5}) – Das gilt auch für den Antrag der Grünen. Eines ist besorgniserregend. Sie werden mit diesem Antrag hier keine Mehrheit finden; das wissen Sie. ({6}) Aber vielleicht haben Sie nicht daran gedacht, was aufgrund dieser Anträge draußen passiert, wie viele Vermieter verunsichert sind und wie viele Mieter nicht mehr wissen, was nun in Zukunft passieren wird. Könnte es sein, dass sich Vermieter in der Zwischenzeit überlegen: „Moment mal, bevor so etwas kommt, kündige ich meinen Mietern, solange sie noch 69 und nicht 70 Jahre sind“? Oder könnte es sein, dass Vermieter überhaupt auf die Idee kommen, zu sagen: Sowie jemand 70 Jahre oder auch nur in der Nähe der 70 Jahre ist, vermiete ich ihm überhaupt keine Wohnung mehr. ({7}) Damit hätten Sie den Mietern wirklich einen Bärendienst erwiesen, alleine mit der Diskussion. Man sollte sich auch immer vor Augen halten, was man mit einer Diskussion in diesem Haus unter Umständen anrichten kann, nämlich genau das Gegenteil von dem, was man vorgibt, erreichen zu wollen. Wir werden Ihren Anträgen sicherlich nicht zustimmen. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Mechthild Heil ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mieterschutz ist auch ganz unabhängig von Corona wirklich ein wichtiges und auch ernstes Thema: wichtig, weil es in Deutschland viele angespannte Wohnungsmärkte gibt – da ist es egal, ob das in Göttingen, in Braunschweig oder hier in Berlin ist –, und ernst, weil Mietwohnungen für jeden von uns natürlich auch ein Stück Zuhause, ein Stück Heimat sind. Es ist nicht richtig, wenn man aus einer Mietwohnung – und zwar ungerechtfertigt oder leichtfertig – herausgeworfen wird. ({0}) Allerdings werden vor allen Dingen die Linken mit ihren Anträgen der Ernsthaftigkeit des Themas überhaupt nicht gerecht. Das finde ich nicht nur schade – darüber könnte man hinwegsehen –, sondern das ärgert mich auch richtig, weil es vertane Zeit ist, sich mit so einem Kram hier zu beschäftigen. ({1}) Ich mag diesen Ausdruck nicht, aber ich nenne ihn: Was Sie hier vorlegen, das sind Schaufensteranträge. Ich beweise Ihnen auch gerne meine Aussage dazu. Schauen wir uns jetzt mal wirklich den Antrag der Linken an: Keine Kündigungen für Mieterinnen und Mieter über 70 Jahre. Die Kollegen haben hier schon erklärt, wie unlogisch diese Grenzziehung ist, die Sie hier vornehmen; es wurde ausreichend dargelegt. Die wohlhabende 71-Jährige, die ist schutzbedürftig, aber die 68-Jährige oder 69-Jährige, die vielleicht sogar Sozialhilfeempfängerin ist, die ist nach Ihrer Lesart nicht schutzbedürftig. Sie akzeptieren keinen Kündigungsgrund; das kann man hier nachlesen. Es könnte aber Kündigungsgründe geben, zum Beispiel die pflegebedürftige Mutter, die eine Wohnung braucht. Davon liest man in Ihren Anträgen nichts. Man liest nichts davon, dass es auch nur einen Grund gibt, warum es wirklich gerechtfertigt sein kann, eine Wohnung zu kündigen. Bei Ihnen ist man mit 70 hilfsbedürftig, oder, wie Sie gesagt haben, Frau Lay: Man steht mit dem Rücken an der Wand. Ich wundere mich wirklich, was das für ein Menschenbild und was das auch für ein Gesellschaftsbild ist. ({2}) Ihr Antrag umfasst eine einzige Seite. Der Antrag ist in jeder Hinsicht dünn. Sie haben dann noch einen zweiten Antrag vorgelegt: „Kündigungsschutz für Mieterinnen und Mieter verbessern“. Der Antrag hat drei Seiten, und Sie gehen im Schweinsgalopp durch alle wichtigen und weniger wichtigen Themen rund um den Kündigungsschutz. Darin finden sich ein paar wirklich gute Punkte, die diskussionswürdig sind und über die wir hier im Plenum und auch in den Ausschüssen schon oft und zahlreich diskutiert haben. Dazu haben wir schon ganz viele Beschlüsse gefasst. Dieses Thema ist wirklich der Betrachtung wert. Was aber Ihre Anträge so unglaublich unglaubwürdig macht, ist: Legt man die Anträge mal nebeneinander und schaut sich beide gleichzeitig an, zeigt sich erstaunlicherweise, dass ganze Sätze, ganze Passagen in beiden Anträgen komplett gleich sind. Die Forderung, Mieter und Mieterinnen über 70 zu schützen, ({3}) steht in beiden Anträgen wortgleich drin. Ich selbst komme aus einer Weinregion. Bei mir würde man sagen: Das ist der gleiche Wein mit zwei verschiedenen Etiketten. Man könnte auch sagen: Das ist Etikettenschwindel. ({4}) Ich will das jetzt gar nicht so hart rüberbringen, sondern ich will Ihnen nur sagen: Das ist das, was Sie wollen: Ihnen kommt es aufs Etikett an, Ihnen kommt es aber nicht auf den Inhalt an. Sonst würden Sie anders mit diesen Themen umgehen. ({5}) Der Antrag der Grünen ist anders: Er ist viel substanzieller; er setzt sich auch mit der Pandemie und dem Mieterschutz auseinander. Es sei mir ein kleiner Hinweis zu Ihrem Antrag erlaubt: Nach meiner Überzeugung muss man die Not da lindern, wo sie entstanden ist, und man sollte nicht anfangen, die Probleme durch die ganze Wertschöpfungskette und durch die ganze Wirtschaftskette hindurch zu verlängern. Die Kollegen haben es schon angesprochen: Wir haben das so gemacht mit dem Wohngeld oder dem Kurzarbeitergeld. Das sind spezifische Lösungen an Stellen, wo man wirklich anpacken muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mieterschutz ist ein wichtiges Thema. Aber hören wir doch endlich auf, ständig dieses Zerrbild zu malen, dass auf der einen Seite immer nur die bösen Vermieter stehen und auf der anderen Seite immer nur diese hilfsbedürftigen, armen Menschen, die Mieter, die wirklich keinen Schutz haben und die wirklich immer nur Opfer sind. Das ist nicht meine Sicht der Dinge. Wenn wir das mal hinbekommen könnten, dass das auch Ihre Sicht ist, dann können wir auch wieder substanziell über solche Themen sprechen wie Wohnungen, Rückzug in das eigene Zuhause und Heimat. Diese Themen haben wirklich etwas Besseres verdient als diese Anträge, die uns hier vorliegen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Mechthild Heil, auch für das punktgenaue Einhalten der Redezeit. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion die Abgeordnete Ulli Nissen. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Unter Coronabedingungen haben wir jetzt umso mehr festgestellt, wie wichtig die eigene Wohnung, unser Zuhause ist. In der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurden 17 Nachhaltigkeitsziele – SDGs – festgelegt, und Ziel 11 fordert nachhaltige Städte und Gemeinden. Dazu gehört auch bezahlbares Wohnen; das ist ein elementares Bedürfnis, ein Grundbedürfnis. ({0}) Deshalb war es der rot-schwarzen Bundesregierung auch extrem wichtig, in der Coronapandemie schnell zu handeln. ({1}) Wir haben die Bedingungen für das Kurzarbeitergeld deutlich verbessert, und wir haben den Zugang zum Wohngeld erleichtert. Um den Antrag fristgerecht zu stellen, reicht ein Telefonanruf oder eine Mail. Besonders wichtig ist mir auch der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung. Die Vermögensprüfung ist weitgehend ausgesetzt; sie findet nur statt, wenn jemand über mehr als 60 000 Euro Vermögen verfügt, das kurzfristig verwertbar ist. Für jede Person im Haushalt erhöht sich dieser Betrag um 30 000 Euro. Zusätzlich bleiben Altersvorsorgeanlagen wie Renten- und Lebensversicherung unabhängig von der Höhe frei. Viele wissen das nicht und stellen deshalb keinen Antrag. Die Wohnkosten, also Miete plus Heizung, werden übernommen, ohne dass die Angemessenheit der Wohnung überprüft wird. Bitte geben Sie diese Information zur Grundsicherung weiter, damit die Menschen das erfahren. Wohngeld und Grundsicherung sind in Frankfurt stark nachgefragt. Bei den Anträgen zum Wohngeld gab es einen Anstieg um 60 Prozent. Bei der Grundsicherung gab es gegenüber dem Vorjahr gut 10 000 Anträge mehr, und trotzdem lag die Bearbeitungsdauer nur bei etwa sieben Tagen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohngeldstellen, der Arbeitsagenturen und der Jobcenter leisten Großartiges. Dafür gilt allen mein großer Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir hatten für Mieterinnen und Mieter ein Kündigungsmoratorium bis zum 30. Juni 2020 erlassen, wenn sie pandemiebedingt ihre Miete nicht zahlen konnten. Die SPD hätte dieses Moratorium gerne verlängert; aber leider hat unser Koalitionspartner da nicht mitgemacht. Es gibt natürlich auch Erfreuliches. Das Bundeskabinett hat das Baulandmobilisierungsgesetz verabschiedet. Die Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen sollen deutlich reduziert werden. Das bedeutet, dass dann das neoliberale Vertreiben von Mieterinnen und Mietern erschwert wird, und das ist auch gut so. Das trägt nicht zur Freude bei den Vermietern bei, die Häuser aufgekauft und dann die Mieter drangsaliert haben, um die Wohnung freizubekommen. Ziel war, die Wohnungen dann teuer als Eigentumswohnung zu verkaufen. Das wollen wir deutlich erschweren. ({3}) Schon im letzten Jahr hatten wir die Möglichkeit der Umlage von Modernisierungskosten auf die Mieterinnen und Mieter reduziert; jetzt sind es maximal 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren. In Frankfurt hatten wir eine Erhöhung von 14 Euro pro Quadratmeter pro Monat – grausig! Die deutliche Reduzierung war sehr wichtig und hat vielen Menschen geholfen. Mein Ziel besteht darin, dass nur noch warmmietenneutral erhöht werden darf. Wenn man also eine Heizkostenersparnis von 50 Euro hat, darf dann die Miete auch nur um 50 Euro erhöht werden. ({4}) Gut ist auch, dass wir bei der Mietpreisbremse 30 Monate rückwirkend zu viel gezahlte Miete zurückfordern können. Jetzt werden sich Vermieterinnen und Vermieter genau überlegen, ob sie noch eine erhöhte Miete fordern. Vorher konnte die Miete erst ab dem Zeitpunkt des Widerspruchs reduziert werden; das bedeutete kein Risiko für Vermieterinnen und Vermieter. Wir müssen aber noch mehr tun, um die Menschen vor dem Verlust ihrer Wohnung zu schützen. Eigenbedarfskündigungen darf es maximal noch für engste Familienangehörige geben. Außerdem soll der Ausgleich eines Mietrückstandes – neben der fristlosen Kündigung – auch durch die fristgerechte Kündigung unwirksam werden. Das haben schon mehrere angesprochen; das kann ich nur unterstützen. Aktuell erhielt ich die Anfrage einer Vermieterin: Ich sollte ihr einen vernünftigen Grund nennen, warum sie die Miete nicht einfach so erhöhen darf, wie es ihr gefällt. Die Antwort war einfach: In Deutschland gilt das soziale Mietrecht, und in Artikel 14 unseres Grundgesetzes steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ ({5}) Gerade in der Coronapandemie wird bei vielen Menschen das Geld knapp; deshalb sind Mieterhöhungen zurzeit das völlig falsche Signal. Das gilt nicht nur für private Vermieterinnen und Vermieter, sondern natürlich auch für öffentliche Unternehmen. Die AGB Frankfurt Holding und die Nassauische Heimstätte wollen aktuell die Mieten bis zu 3,5 Prozent erhöhen. Das geht gar nicht! Die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften müssen mit gutem Beispiel vorangehen und auf Mieterhöhungen verzichten. Dies gilt nicht nur für Frankfurt, sondern überall. Die SPD ist auf der Seite der Mieterinnen und Mieter. Wir setzen uns dafür ein, dass die geplanten Mieterhöhungen ausgesetzt werden. Ich selber bin seit 2006 Vermieterin und habe bisher ein einziges Mal bei Neuvermietungen die Miete um 20 Euro angehoben, aber nie im Bestand. Deshalb verlassen mich die Mieter wohl auch nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns alles dafür tun, dass die Menschen ihre Wohnung, ihre Heimat nicht verlieren. Darum bitte ich Sie alle. Lassen Sie uns das gemeinsam tun. Danke für die Aufmerksamkeit, und bleiben Sie alle gesund! ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder liegen uns hier Anträge der Grünen und der Linken zum Mietrecht vor. Die Anträge haben seit Monaten immer ein gleichbleibendes Niveau, und deswegen wird es Sie nicht überraschen, dass unsere Gegenargumente eigentlich immer dieselben sind. Zunächst einmal sind die Anträge handwerklich einfach schlecht gemacht. Die Linken wollen für Mieter ab einem Alter von 70 Jahren die Eigenbedarfskündigung ausschließen. Sie bleiben jedwede Erklärung schuldig, warum ausgerechnet ab 70, warum nicht ab 65, warum nicht ab 75. Das müssen Sie aber erklären können, um später dem Verdacht einer Diskriminierung vorbeugen zu können. Und das macht die aktuelle Rechtsprechung in diesem Bereich eben sehr viel besser, die Sie ja kritisieren, weil sie diese Fälle sehr einzelfallgerecht abarbeitet. Der Antrag von den Grünen geht tatsächlich noch weiter: Keine Zwangsräumungen mehr, zunächst befristet – so steht es drin – bis zum 30. April. – Das ist schon, muss man sagen, harter Tobak. Nehmen Sie mal den Fall, dass der Mieter mit einem Beil auf seinen Vermieter losgeht – das ist ein Kündigungsgrund; das wird jetzt hier niemanden überraschen –, und dann geht es an die Zwangsräumung, weil der Mieter die Wohnung nicht verlassen will. Die Umsetzung Ihres Vorschlages würde dazu führen, dass man ihn nicht einmal zwangsräumen lassen kann. Bei dem Beispiel merkt man eigentlich, was Sie Vermietern in diesem Land tatsächlich zuzumuten bereit sind. Der zweite Kritikpunkt – auch immer derselbe –: Mit all dem, was Sie regeln, erzeugen Sie eigentlich exakt das Gegenteil von dem, was wir haben wollen, nämlich bezahlbaren Wohnraum. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mittlerweile habe ich ernsthaft Zweifel, ob Sie das Problem unbezahlbarer Mieten in Deutschland tatsächlich lösen wollen. Anders kann man Anträge dieser Art nämlich nicht mehr erklären. Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie das Thema weiterhin brauchen und gar kein Interesse an einer Verbesserung der Situation haben. Denn das, was hier als Problem aufschlägt, das liegt doch jedem auf der Hand. Wenn Sie jetzt sagen: „Ab 70 keine Eigenbedarfskündigung“, und wir das heute beschließen, was glauben Sie, welcher 69-Jährige dann morgen in diesem Land noch eine Mietwohnung bekommt? Denn jeder Vermieter sagt doch: Da nehme ich lieber den 40-jährigen Mitbewerber, weil ich da das Problem nicht habe. Der dritte Kritikpunkt. Man bemerkt bei Ihnen keinerlei Lernprozess. Da will ich Ihnen schon sagen: Das ist genau das, was wir Ihnen abverlangen. Wir werden nachher noch über Berlin reden. Wir erwarten schon – hier verändert sich etwas auf dem Markt –, dass Sie mal hingucken und überlegen, ob die Instrumente, die Sie dort etablieren, tatsächlich zum gewünschten Ziel führen. Aber erst noch mal ganz kurz zu den Grünen. Die Grünen haben ja die Gewerbemieter für sich entdeckt. Die Kollegin Rottmann und auch der Kollege Kühn vergießen im Rechtsausschuss hin und wieder, wenn wir über Gewerbemieter reden, eine Krokodilsträne und sagen, wie wichtig es ist, diese Mieter zu schützen. Da gebe ich ihnen auch recht. Aber gehen wir doch mal in die Länder und vor allem in die Kommunen, wo die Grünen Mitentscheidungskompetenz in Kommunalparlamenten haben. Was ist denn da? Da poppen Pop-up-Radwege auf, Einbahnstraßenregelungen gibt es, das Auto wird aus der Innenstadt verbannt, und Parkplätze werden zugunsten von Grünflächen geopfert. Da habe ich – Entschuldigung – noch nicht erlebt, dass Sie tatsächlich ein offenes Ohr für Ladenbetreiber in der Innenstadt haben, die nämlich darauf angewiesen sind. ({0}) Weil wir bei dem Begriff des Lernprozesses sind, sage ich Ihnen: Es wird ab jetzt jedes Mal geschehen, dass wir dann, wenn wir von Ihnen solche Anträge bekommen, die neuesten Nachrichten aus Berlin durchgehen. Eine breite Auswahl habe ich Ihnen mal mitgebracht. In Berlin kann man nämlich sehen, wie Ihre Mietenpolitik wirkt. Die Schlagzeilen sind erschreckend. Da heißt es zum Beispiel einmal – Herr Präsident, Sie gestatten –: „Studie enthüllt: Der Mietendeckel deckelt nur die Zahl der Wohnungsinserate“. Herzlichen Glückwunsch! ({1}) Sie bekommen Leserbriefe in Berlin. Dort heißt es in der Überschrift: „Wer saniert denn noch für 6 Euro Kaltmiete?“ Herzlichen Glückwunsch! Sie bekommen Kommentare in Berlin. Der Mietendeckel bleibt falsch. Nicht am beeindruckendsten, sondern am erschreckendsten finde ich eigentlich die Zahlen, und das sind Ihre Zahlen von Rot-Rot-Grün. Darin steht: Um 72 Prozent gehen die Investitionen zurück, um 61 Prozent die geplanten Sanierungen und um 59 Prozent die Modernisierungen. Ich glaube, wir erreichen einen Punkt, an dem Sie ernsthaft nachweisen müssen, dass Sie ein echtes Interesse haben, dieses Problem zu lösen. Also, hören Sie auf mit solchen Anträgen! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stehe heute hier als Vertreterin des Petitionsausschusses und spreche zu einer Petition, die uns alle sehr beschäftigt hat. Menschen, die mit ihrem Ehrenamt uns allen einen Dienst erweisen, dürfen dadurch beim Elterngeld nicht benachteiligt werden. Genau das ist passiert. Die Petentin, eine Stadt- und Kreisrätin aus meinem Wahlkreis, hat vor der Geburt ihres Kindes eine Gehaltserhöhung bekommen. Darüber hat sie sich auch gefreut, weil sich das ja gut und positiv auf das Elterngeld auswirkt. Nur ist dann bei der Berechnung das passiert, was nicht hätte passieren dürfen: Die Vergütung für ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Stadt- und Kreisrätin ist angerechnet worden, und es ist zu einer Mischkalkulation gekommen. Das hat dazu geführt, dass nicht die Einkünfte aus den letzten zwölf Monaten, sondern das Einkommen aus dem Vorjahr zugrunde gelegt wurde. Wir haben uns gedacht: Das darf eigentlich nicht sein. Menschen, die ein solches Amt ausüben, leisten alle wertvolle Arbeit für uns. Wir müssen uns gerade für diese Menschen einsetzen; denn es kann, wie gesagt, nicht sein, dass sie dadurch einen Nachteil erleiden. Wir wissen bis heute aber nicht, ob der Fehler bei der bayerischen Behörde lag, ob es ein Sonderfall des Finanzamtes war oder ob das Elterngeld nicht gut genug ausgestaltet ist. Deswegen wollen wir diese Petition einstimmig mit dem stärksten Votum überweisen und gucken mal, was am Ende des Tages dabei herauskommt. Morgen werden wir ja eine Novelle des Elterngelds beraten. Wir werden auch an der Stelle die Benachteiligungen von Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, ansprechen und noch einmal klarstellen, dass diese Tätigkeit nicht zu einer Reduzierung des Elterngelds führen darf. Darauf werden wir extra noch einmal hinweisen. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, dass wir dies jetzt einstimmig so beschließen können. Vielen Dank. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich nehme die Wahl an, und ich bedanke mich ganz herzlich. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Und ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Präsidium. Herzlichen Glückwunsch! – Das hat man mir dankenswerterweise aufgeschrieben: Im Namen des Hauses und persönlich wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg für Ihr verantwortungsvolles Amt.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hochwertige pflegerische Versorgung zu sichern, ist die große gesellschaftspolitische Aufgabe der kommenden Jahre. Wir müssen dafür den Pflegeberuf insgesamt stärken. Wir wollen mehr Pflegekräfte gewinnen, indem wir die Rahmenbedingungen verbessern. Es geht natürlich um Bezahlung, um eine angemessene, um eine regelhafte Tarifbezahlung, es geht aber auch um die Arbeitsbedingungen. Es ist ein Beruf, in dem an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden den Pflegebedürftigen, den Patientinnen und Patienten geholfen wird. Das macht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwieriger als in vielen anderen Berufen. Es ist auch ein Beruf, in dem die Menschen Entlastung brauchen, um Zeit zu haben für die Patienten und die Pflegebedürftigen. In der Pflege zu arbeiten, wird dann attraktiver, wenn es mehr Kolleginnen und Kollegen gibt, die mit anpacken können. Damit, einen entsprechenden Rahmen zu setzen, haben wir schon vor Corona begonnen. Es ist richtig, es ist wichtig, dass in dieser Pandemie, in diesem Stresstest für unser Gesundheitswesen, die Pflege und das, was dort jeden Tag von den Pflegekräften geleistet wird, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Aber gleichzeitig ist eben auch wichtig, zu sehen, dass wir schon weit vor dieser Pandemie, schon weit bevor die Pflege im Fokus der Öffentlichkeit war, begonnen haben, die Rahmenbedingungen zu verbessern. ({0}) Wir haben mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bereits 13 000 zusätzliche Stellen für Pflegefachkräfte in der Altenpflege geschaffen. Ich weiß, dass einige sagen: Die Stellen sind doch noch gar nicht besetzt. – Das stimmt! Sie sind noch nicht alle besetzt, weil der Arbeitsmarkt so leergefegt ist. Aber ein entscheidender Unterschied zum Zustand von vor einigen Jahren – und der gilt übrigens für die Krankenhäuser wie für die Langzeitpflege – ist: Die Stellen sind mittlerweile verlässlich finanziert; das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Das gibt Verlässlichkeit, und die haben wir sichergestellt. ({1}) Mit diesem Gesetz finanzieren wir jetzt zusätzliche 20 000 Stellen für Pflegeassistenzkräfte in der Altenpflege. Mehr Hände, die mit anpacken, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Zufriedenheit für die Beschäftigten – jede Pflegeeinrichtung in Deutschland wird davon profitieren. Mir ist wichtig, eins zu sagen, weil ich schon wieder einige öffentliche Äußerungen dazu höre: Wir regen mit diesem Gesetz übrigens auch an, verpflichtend ein Personalbemessungsverfahren auf Basis von wissenschaftlichen Gutachten zu entwickeln. Das ist nicht wie bisher Personalbemessung in der Pflege mit Fachkraftquoten, die irgendwie über den Daumen gepeilt festgelegt worden sind, sondern sie werden wissenschaftlich hergeleitet von Professor Rothgang und vielen anderen in den letzten Jahren. Sie sind zu dem Befund gekommen: Ja, es braucht mehr Pflegefachkräfte in den nächsten zehn Jahren. Es braucht aber vor allem viel mehr Pflegeassistenzkräfte, weil die Zusammenarbeit im Team am Ende alle, die in der Pflege arbeiten, entlastet. Dort machen wir einen ersten wichtigen Schritt mit 20 000 Pflegeassistenzstellen – voll finanziert, ab dem 1. Januar. ({2}) 20 000 zusätzliche Stellen, voll finanziert, nicht zulasten der Pflegebedürftigen und ihrer Eigenanteile ist, finde ich, ein Punkt, der es wert ist, erwähnt zu werden. Er ist vor allen Dingen deswegen wichtig: Wenn wir Pflegekräfte, die der Pflege – aus welchen Gründen auch immer – den Rücken gekehrt haben, ermuntern wollen, zurückzukehren, wenn wir Pflegekräfte ermuntern wollen, gegebenenfalls, wenn sie können, auch die Stundenzahl wieder zu erhöhen, aber im Moment das nicht tun, weil sie sagen: „Das ist mir zu stressig“ – auch davon gibt es durchaus viele, die uns täglich begegnen –, oder wenn wir Menschen ermuntern wollen, in der Pflege zu bleiben, dann ist es wichtig, dass das berechtigte Gefühl da sein kann, dass die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, nicht Entscheidungen sind, die mal getroffen werden, für ein Jahr gültig sind und in zwei Jahren wieder infrage gestellt werden. Es ist wichtig, dass es begründetes Vertrauen in die Verlässlichkeit unserer Entscheidungen gibt. Genau das machen wir mit diesem Gesetz und den Regelungen der letzten Jahre. Es ist wahnsinnig viel Vertrauen in der Pflege verloren gegangen, über viele Jahre, in einer Spirale, die sich immer weitergedreht hat. Dieses Vertrauen zurückzugewinnen, die Spirale umzukehren, das braucht Zeit, das braucht beständiges Dranbleiben. Wir haben das Gefühl: Wir halten sozusagen mit Wasser aus allen Rohren auf das Problem. Und die, die in der Pflege arbeiten, haben das Gefühl: „Das sind Tropfen auf den heißen Stein“, weil es eben erst Zug um Zug wirksam wird. Deswegen ist für die Schaffung von Verlässlichkeit und Vertrauen dieses Gesetz so wichtig, für das ich Sie heute um Zustimmung bitte. ({3}) Ein zweiter wichtiger Bereich in diesem Gesetz ist die Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser schwierigen wirtschaftlichen Zeit. Wir haben jetzt fast zehn Jahre wirtschaftliches Wachstum, Wachstum bei Arbeitsplätzen, eine gute Lohn- und Rentenentwicklung hinter uns und sehen jetzt in dieser wirtschaftlich schweren Zeit, wie schnell sich, wenn die Wirtschaft nicht mehr gut läuft, das dann in den sozialen Sicherungssystemen durch weniger Einnahmen und zusätzliche Ausgaben bemerkbar macht, insbesondere natürlich in dieser Pandemie. Da heißt es dann, dass wir die Lasten auf mehrere Schultern verteilen müssen. Das eine ist ein ergänzender Bundeszuschuss für 2021 – ich bin gleich dazu auch im Haushaltsausschuss, der heute seine Bereinigungssitzung hat – von 5 Milliarden Euro für das nächste Jahr, damit ein Bundeszuschuss von fast 20 Milliarden Euro im nächsten Jahr, und das andere sind die 8 Milliarden Euro von den 20 Milliarden Euro Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen, die wir dazunehmen. Ja, diese Reserven sind von den Kassen für schlechtere Zeiten gebildet worden; aber es sind jetzt schlechtere Zeiten. Ja, es ist Geld der Beitragszahler; aber das Geld wird eben auch eingesetzt, um die Beitragszahler zu entlasten und vor allem nicht zusätzlich zu belasten in dieser wirtschaftlichen Krise. Und ja, manche sagen, das sei Sozialisierung. Nein, das ist solidarisch! Es ist das System der gesetzlichen Krankenversicherung, dass man füreinander einsteht, und das gilt am Ende in schwieriger Zeit dann auch für die Rücklagen. ({4}) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist dieses Gesetz ein wichtiger und notwendiger Schritt, um Pflegekräfte entlasten, halten und gewinnen zu können und den Pflegeberuf attraktiver zu machen, noch attraktiver in schwerer Zeit. Und es ist ein wichtiges Gesetz für die Stabilität der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Pandemie und in dieser Wirtschaftskrise. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Spahn. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Herr Minister Spahn, wir hatten einer Überweisung des Gesetzentwurfs in den Ausschuss zur wirklichen Verbesserung zugestimmt. Doch leider hat das Gesundheitsministerium diese Chance nicht genutzt. Dieses Gesetzeskonvolut enthält nach wie vor gute Ansätze, die wir für sinnvoll und empfehlenswert halten. Aber leider steht mit der angeblichen finanziellen Unterstützung der gesetzlichen Krankenkassen der Zugriff aufs Sparbuch der Versicherten, also die staatlich verordnete Verwendung der Rücklagen, als Kernanliegen im Gesetzentwurf. Durch diesen Abbau der Rücklagen machen Sie den gesetzlich Krankenversicherten zum Zahlmeister Ihrer Coronapolitik. Diese monetären Fehlentscheidungen der Regierung können nicht auf dem Rücken der Solidargemeinschaft abgeladen werden. Beim Stichwort „Fehlentscheidungen“ fallen mir die Hamsterkäufe von zig Millionen Masken bei chinesischen Herstellern ein. Herr Spahn, wie Sie gestern Morgen im Ausschuss einräumten, ist es richtig, dass eine Stoffmaske oder ein Schal vor dem Gesicht wenig Nutzen haben. ({0}) Ihre Chefin Frau Merkel hat genau diesen Fakt in ihrer heutigen Regierungserklärung bestätigt – ich zitiere –: Eine Alltagsmaske bietet „keine Sicherheit“ vor Ansteckung. – Wie Sie wissen: Um eine echte Schutzwirkung zu erzielen, muss mindestens eine FFP1-Maske vorgesehen werden; denn die hat einen Abscheidegrad von 80 Prozent, besser noch FFP2 mit 94 Prozent oder gar FFP3 mit 99 Prozent. Auch diese Tatsache wurde von Frau Merkel bestätigt. ({1}) Aber gerade die Masken mit chinesischer KN95-Abnahme entsprechen nicht der europäischen FFP-Norm und sind als FFP-Derivat überhaupt nicht zulässig. Damit wiegen Sie unsere Bürger in trügerischer Sicherheit. Offenbar haben Sie das gemerkt; denn gestern haben Sie uns im Ausschuss erläutert, dass Sie beabsichtigen, 27 Millionen Risikopatienten mit zugelassenen FFP2-Masken auszustatten. Bravo, dass Sie nun endlich den Antrag der AfD aufgreifen und Risikogruppen gezielt schützen wollen! Denn genau das ist der richtige Weg. ({2}) Diese Erkenntnis und Entscheidung fordert aber in der logischen Konsequenz Folgendes: Sofortige Abschaffung der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung für die allgemeine Bevölkerung! Denn Sie tragen ja beim Pkw-Fahren auch nicht zusätzlich noch einen Integralhelm. Es geht um ein verantwortbares Risiko. Somit: Maskenschutz für Risikogruppen und Maskenfreiheit für den Rest der Bevölkerung! Das ist genau der richtige Weg. Wenn ich gerade noch beim leidigen Thema Masken bin: Für Menschen, die aufgrund eines ärztlichen Attestes von der Maskentragepflicht befreit sind, gelten weder Datenschutz noch ärztliche Schweigepflicht. Denn in diesen Attesten müssen zukünftig Diagnose, Anamnese und Begründung so verfasst werden, dass sie von medizinischen Laien verstanden und beurteilt werden können. Das bedeutet: Somit mutiert der Supermarktfilialleiter Herr Müller zum Facharzt und entscheidet, ob Frau Schmidt sein Geschäft betreten darf oder nicht. ({3}) Eine Schweigepflicht gilt für diesen Gesundheitsexperten natürlich auch nicht. Mit dieser Regelung verletzen Sie, Herr Spahn, massiv das Grundgesetz. Nichts ist in diesen Zeiten so wichtig wie transparente Zahlen und Werte. Niemand weiß, ob Verstorbene einer Infektion mit SARS-CoV-2 erlegen sind oder ob sie nur Träger des Virus waren. Unser Antrag „Einführen, Aufbau und Betrieb eines nationalen Mortalitätsregisters für Forschungszwecke“ greift diese Schwachstelle auf. – Herr Präsident, ich komme zum Ende. Deutschland braucht verlässliche Daten, die auch verifizierbar sind. In und vor allem nach der Coronaphase müssen wir endlich wieder zu dem Punkt zurückkommen, dass Fakten die politischen Entscheidungen bestimmen ({4}) und nicht Annahmen, Mutmaßungen oder Einflüsterungen aus dubiosen Beraterkreisen. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Witt. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich komme wieder zurück zu dem Gesetz, das wir heute verabschieden. Damit verbessern wir in vielen Bereichen die Versorgung von Patienten und Pflegebedürftigen, und wir sorgen für finanzielle Stabilität in diesen unsteten Krisenzeiten. Um Schwangere besser betreuen zu können und um gleichzeitig die in der stationären Geburtshilfe tätigen Hebammen zu entlasten, legen wir ein dreijähriges Hebammenstellen-Förderprogramm auf. Vom nächsten Jahr an erhalten die Krankenhäuser jährlich bis zu 65 Millionen Euro, um zusätzlich sowohl Hebammen als auch hebammenunterstützendes Fachpersonal einstellen zu können. ({0}) Damit verbessern wir die Personalausstattung in den Kreißsälen, und wir ermöglichen es den Hebammen, sich wieder auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren: die Begleitung der Gebärenden. Um mehr Zuwendung und bessere Versorgung geht es auch bei den Regelungen für die vollstationären Pflegeeinrichtungen. Mit dem Gesetz werden 20 000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte geschaffen und von der Pflegeversicherung vollständig finanziert, ohne – das ist wichtig – die Pflegebedürftigen finanziell weiter zu belasten. ({1}) Besonders freue ich mich, dass wir bedarfsnotwendige Krankenhäuser im ländlichen Raum ebenfalls mit zusätzlichen Finanzmitteln stützen. Künftig werden Zuschläge von 400 000 bis 800 000 Euro pro Jahr gezahlt. Damit sorgen wir dafür, dass an diesen Krankenhäusern Fachabteilungen, die für die Basisversorgung relevant sind, erhalten bleiben. Bereits ab dem nächsten Jahr werden auch Kinderkrankenhäuser und Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin eine Förderung erhalten. Das war uns von der SPD besonders wichtig. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die öffentliche Debatte über das Gesetz wurde jedoch weniger von den vielfältigen Verbesserungen in der Versorgung bestimmt, sondern vielmehr von den Finanzierungsaspekten dominiert. Fakt ist: Wir befinden uns in der schwierigsten Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Wir werden deshalb alle verfügbaren Mittel einsetzen müssen, um diese Krise gemeinsam zu bewältigen. Um die Stabilität der Kassenfinanzen zu gewährleisten, verteilen wir die Lasten auf mehrere Schultern. Dazu leisten der Bund, die Beitragszahler und die Krankenkassen jeweils ihren Beitrag. Das ist notwendig, das ist gerecht, und das ist verkraftbar. Leider hat bei einigen die Empörung über die eigene Betroffenheit den Blick auf das Gemeinwohl und die Sachlichkeit der Argumentation getrübt. Deshalb möchte ich noch einmal klarstellen: Die Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung werden nicht mit den finanziellen Lasten der Pandemie alleingelassen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung selbst schätzt die pandemiebedingten Mehrausgaben auf 3,4 Milliarden Euro. Deshalb sollte der um 5 Milliarden Euro erhöhte Bundeszuschuss mehr als ausreichend sein, um die Mehrausgaben zu decken. Darüber hinaus finanziert der Bund diverse Schutzschirme und freigehaltene Krankenhausbetten. Er wird auch die Kosten für die Impfstoffe und für die Schutzmasken für besonders anfällige Bevölkerungsgruppen bezahlen. Aber wir verschulden uns dafür in erheblichem Umfang. Das sollte jeder berücksichtigen, der mit leichter Hand immer noch höhere Bundeszuschüsse fordert. ({3}) Die gesetzliche Krankenversicherung ist eine große Solidargemeinschaft, und natürlich ist es schmerzlich, wenn Krankenkassen nun ihre Rücklagen an den Gesundheitsfonds abführen müssen. Aber im Sinne des Gemeinwohls ist es in der Krise allemal besser, die Rücklagen wieder in die Versorgung fließen zu lassen, damit alle Beitragszahler, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die Rentnerinnen und Rentner, vor weiteren Beitragssatzsteigerungen geschützt werden. Das entspricht jedenfalls unserem Verständnis von Solidarität. ({4}) Im parlamentarischen Verfahren konnten wir durchsetzen, dass kleine Kassen ein Schonvermögen von 3 Millionen Euro zusätzlich zur Mindestrücklage behalten dürfen. Es konnte auch mehr Flexibilität für die Beitragsgestaltung erreicht werden. Kolleginnen und Kollegen, jetzt und in den nächsten Monaten ist Solidarität gefragt. Gemeinsam können und werden wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie überwinden, wenn jeder seinen Beitrag leistet. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Nächster Redner ist der Kollege Professor Andrew Ullmann, FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Birgit, alles Gute zum Geburtstag von dieser Stelle aus! Das musste ich einfach mal sagen. – Im GPVG findet sich für jeden etwas. Vieles begrüßen wir auch in unserer Fraktion; denn gerade in der Covid-19-Krise ist es wichtig, Klarheit in der Versorgung der Menschen herzustellen. Doch größere Störgefühle gibt es. Drei Punkte möchte ich gerne dabei ausführen: Erstens. Die Regierung enteignet mit ihrem Gesetz pauschal die gesetzlichen Krankenversicherungen. Sie begründet es relativ einfach: Wir haben mehr Kosten wegen der Covid-19-Krise; deswegen müssen diese Kosten irgendwie gedeckt werden. – Nein, liebe Bundesregierung, das ist nicht richtig. Die Bekämpfung dieser Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das müssen auch alle Fraktionen in diesem Raume verstehen. ({0}) Sie bestrafen die Krankenkassen, die gut gewirtschaftet haben. Klar für uns Freie Demokraten ist: Rücklagen gehören den Versicherten. Die Rücklagen müssen den Versicherten zugutekommen. Diese Rücklagen müssen in zusätzliche Leistungen, zum Beispiel in die Prävention, investiert werden. Das wäre gerecht, und das wäre auch richtig. ({1}) Natürlich dürfen Rücklagen nicht als Spareinlagen verstanden werden. Ihre Argumentation ist jedoch auch scheinheilig: Beitragsstabilität erhalten. – Diese wird nach Berechnungen von Experten übrigens nur bis zur nächsten Bundestagswahl halten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Zweiter Punkt: 20 000 neue Pflegestellen in der Altenpflege schaffen. – Wir sind sofort dafür zu haben. Das ist eine gute und eigentlich eine überfällige Vorgabe – auf den ersten Blick. Vieles ist, wie so oft, versprochen worden. Aber wie wollen wir dorthin? Mit einer echten Ausbildungsoffensive schaffen wir nachhaltig mehr Personal. Damit müssen wir jetzt auch anfangen. ({2}) – Ja, aber nur ein bisschen. Drittens. Ähnlich gilt das für die notwendigen Hebammenstellen. Nach Expertenaussagen in der öffentlichen Anhörung kann die Arbeitssituation so leider nicht nachhaltig verbessert werden. Meine Damen und Herren, wir haben viele Herausforderungen im Gesundheitswesen. Doch anstatt immer mehr kleinteilig zu agieren, wäre es an der Zeit, mutig voranzuschreiten, die Sozialgesetzbücher kritisch unter die Lupe zu nehmen und ihnen ein Upgrade zu gönnen. Mit unserem Entschließungsantrag bieten wir Ihnen einiges an, gerne auch für Copy-and-paste. In eine Ihrer nächsten Initiativen können Sie den Inhalt gerne einfügen, wie Sie es auch in der Vergangenheit ab und an gemacht haben. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Pia Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Präsident! Eines muss man Ihnen lassen, Herr Spahn: Sie bleiben sich treu. Es ist wieder nur eine Reihe von Einzellösungen statt einer kompletten Strategie. Auch das GPVG ist ein Kessel Buntes. 20 000 zusätzliche Pflegeassistenzkräfte sollen jetzt den Pflegenotstand abmildern. Meine Damen und Herren, das sind in Pflegegrad 2 gerade mal 4,2 Minuten Pflegezeit mehr am Tag, im Pflegegrad 5 sind es 9,5 Minuten Pflegezeit mehr am Tag. Das reicht doch vorne und hinten nicht, Herr Minister. ({0}) Meine Damen und Herren, die Versorgung verbessert sich doch nicht, wenn der Prozess noch mehr zerlegt und auf noch mehr Hände verteilt wird. Das ist doch das Gegenteil von ganzheitlicher Pflege und führt durch die Hintertür wieder zur Einführung der Verrichtungspflege. Das ist nicht das, was wir wollen, und auch nicht das, was die Pflegekräfte wollen. ({1}) Außerdem haben wir einen Fachkräftemangel in der Pflege. Einen Mangel von Fachkräften beheben Sie aber nicht, indem Sie Assistenzkräfte einstellen, die vielleicht auch noch weitergebildet werden, sondern einen Fachkräftemangel verhindert oder behebt man mit Fachkräften. Und Pflegekräfte brauchen endlich das Vertrauen, dass sich tatsächlich etwas an ihren Arbeitsbedingungen ändert. Was die Pflege braucht, ist mehr Personal und besser bezahltes Personal. ({2}) Die Bedingungen müssen endlich nachhaltig verbessert werden, sonst verlassen noch mehr ausgebildete Pflegekräfte den Pflegeberuf, spätestens nach der Pandemie. Und das ist nicht verwunderlich. Schauen wir nach Niedersachsen: Dort können die Pflegekräfte wieder 60 Stunden pro Woche arbeiten. So stellen sich die Pflegekräfte die Zukunft nicht vor. Es entspricht auch nicht der Vorstellung der Pflegekräfte, dass sie, wenn sie infiziert, aber symptomfrei sind, trotzdem pflegen dürfen. Praktische Wertschätzung ist das schon gar nicht, und gute Arbeitsbedingungen, meine Damen und Herren, sehen anders aus. Gute Arbeitsbedingungen sind: kürzere und flexiblere Arbeitszeiten und höhere Bezahlung sofort und überall. ({3}) Hinzu kommt: Gute Arbeitsbedingungen in der Pflege sind auch der beste Schutz für besonders pflegebedürftige und schutzbedürftige Menschen. Appelle an die Solidarität der Pflegekräfte und Appelle an die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger sind unredlich, wenn Sie die Versorgung nicht endlich solidarisch finanzieren wollen, ({4}) und solidarisch heißt, alle Einkommensarten in die Beitragszahlung einzubeziehen. Heben Sie die Beitragsbemessungsgrenze an, oder heben Sie sie am besten gleich auf, erheben Sie die Beiträge auch auf Spekulationsgewinne, nehmen Sie die private Kranken- und Pflegeversicherung in eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung! Es wird keine bessere Versorgung geben ohne diese veränderten Weichenstellungen. Wir Linke bleiben dabei, weil es so ist. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum ein Thema ist so nah an uns Menschen wie unsere gesundheitliche Versorgung. Viele fragen sich: „Wie organisiere ich, wenn es so weit ist, die Pflege für meine Eltern? Klappt es mit der Weiterbehandlung nach einem Krankenhausaufenthalt? Finde ich eine Hebamme?“, aber auch, ob die Beiträge in der Krankenkasse stabil bleiben. Nun macht sich das hier vorliegende Gesetz zur Aufgabe, einige dieser Fragen anzugehen. Das ist ja erst mal anzuerkennen. Doch Sie, Minister Spahn, bleiben auf halber Strecke stehen, und die Flickschusterei nimmt kein Ende. ({0}) Es reicht eben nicht, Stellen in der Pflege, in der Geburtshilfe auf dem Papier zu haben; diese Stellen müssen auch besetzt werden. Der Pflegeberuf muss attraktiver werden: Arbeitsbedingungen verbessern, Akademisierung voranbringen, Belastungen in der Pflege abbauen. Schwangere sollen guter Hoffnung sein dürfen, eine Hebamme für die Geburtsvor- und ‑nachbereitung finden und während der Geburt gut, sicher und mit voller Aufmerksamkeit begleitet werden. Die Finanzierung von mehr Hebammenstellen und neuen Hilfskräften in den Kliniken ist natürlich gut; aber sie ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. ({1}) Wir brauchen nichts weniger als einen Kulturwandel in der Geburtshilfe. Frauen und Kinder gehören in den Mittelpunkt; denn auf den Anfang kommt es an. ({2}) Verbindliche Zusammenarbeit heißt auf Gesundheitspolitisch „sektorübergreifende Versorgung“. Die unzureichende Verzahnung der Versorgung muss endlich überwunden werden; denn sie macht es den Patientinnen und Patienten schwer, sie schadet. Qualität muss der Maßstab sein, Kooperation zur Regel werden. Wir Grüne schlagen deshalb einen Aufbruch in Gesundheitsregionen vor. ({3}) In Sachen GKV-Finanzierung ist der Gesetzentwurf ein Offenbarungseid. Sie hinterlassen uns zum Ende dieser Wahlperiode ein historisch einmaliges Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Und das ist nicht vornehmlich den Kosten der Pandemie geschuldet, sondern Folge von erheblichen, dauerhaften, strukturellen Mehrausgaben, die durch Ihre undurchdachten Gesetze entstanden sind. Ich erinnere nur an das Terminservice- und Versorgungsgesetz: sehr teuer, aber leider ohne Verbesserung der Versorgung. ({4}) Ein paar Trippelschritte in die richtige Richtung, aber längst nicht der erhoffte Weitsprung, um mutig eine zukunftssichere Gesundheitsversorgung anzugehen – wir werden uns zu diesem Gesetz enthalten. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther. – Nächste Rednerin ist die Kollegin, Karin Maag CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will es an dieser Stelle gerne noch mal betonen: Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz stellt wichtige Weichen für eine bessere medizinische und pflegerische Versorgung. Das sage übrigens nicht nur ich, sondern zum Beispiel auch die Caritas zu Beginn ihrer Stellungnahme. Kurz: Wir in der Union und in der SPD reden, wir machen und kündigen nicht nur an, was wir machen könnten. ({0}) Ich freue mich jedenfalls über 20 000 neue Assistenzstellen in der Altenpflege. Für uns ist das ein wichtiger Schritt hin zur Einführung einer verbindlichen Personalbemessung, Frau Kollegin Zimmermann. Und ich freue mich auch über eine bessere Versorgung der Schwangeren auf den Geburtsstationen. Die Krankenhäuser können mit diesem Förderprogramm jetzt Hebammen neu einstellen, Teilzeitstellen aufstocken, unterstützendes Fachpersonal einstellen. Wir reden nicht nur darüber, sondern schaffen durch unser Gesetz tatsächliche Verbesserungen. Selbstverständlich kümmern wir uns auch weiterhin um den ländlichen Raum. Vor allem können nun auch die Kinderkrankenhäuser und die Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin von den Sicherstellungszuschlägen profitieren. Wir erweitern die Möglichkeit für Krankenkassen, innovative Versorgungsverträge anzubieten; auch da geht es insbesondere darum, regionale Innovationen zu fördern. Wenn wir die Selektivverträge so ausrichten, dass künftig auch andere Sozialleistungsträger einbezogen werden können, dann wird das künftig Versorgungsbrüche gerade verhindern. Wir reden auch über Schutzschirme, über Hilfen für viele im Gesundheitssystem tätige Berufsgruppen und Betroffene. Da geben wir nicht einfach Geld aus; vielmehr ist das notwendige Hilfe in Coronazeiten. Ich nenne ausdrücklich – und bedanke mich herzlich für ihre Arbeit – die stationären und ambulanten Vorsorge- und Rehaeinrichtungen, selbstverständlich einschließlich des Müttergenesungswerks. Die Heil- und Hilfsmittelerbringer profitieren, Pflegeeinrichtungen profitieren. Ebenso haben wir die Familienpflegezeit flexibilisiert und verlängert. Und schließlich ermöglichen wir es auch den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, sich um junge Zahnärztinnen und Zahnärzte zu kümmern, die sich neu niedergelassen haben und coronabedingt zu wenig Patienten versorgen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen – für einige war das tatsächlich das wichtigste Thema –, ja, 2021 zeichnet sich bei den gesetzlichen Krankenkassen ein Defizit von rund 16 Milliarden Euro ab. Genau deshalb haben wir die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen neu justiert. Wir sorgen dafür, dass auch 2021 ausreichend Mittel zur Verfügung stehen und gleichzeitig der Zusatzbeitrag stabil bleibt. Wir haben in den Verhandlungen darum gerungen – ja, das ist richtig – und haben ein Bündel von Maßnahmen im Angebot, mit dem es gelungen ist, auch die Sozialgarantie bis 2022 einzuhalten. Wir erhöhen den Steuerzuschuss – ja – um 5 Milliarden Euro auf jetzt 19,5 Milliarden Euro. Finde ich nicht zu wenig. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen auch ihren Beitrag leisten. Wir alle leisten unseren Beitrag. Sie haben Rücklagen in stark ungleicher Verteilung von gut 20 Milliarden Euro noch im Sommer gehabt. 8 Milliarden Euro davon müssen die Kassen mit den hohen Rücklagen jetzt abgeben, in den Gesundheitsfonds zurück, damit dieses Geld wiederum für die Versorgung, für die Gesundheit der Versicherten zur Verfügung steht. Finde ich vollkommen in Ordnung. ({1}) Die Kassen mit den hohen Rücklagen dürfen übrigens 2021 ihre Zusatzbeiträge so lange nicht anheben, bis die Rücklagen in Richtung des Doppelten der Mindestrücklage abgesunken sind. Klar, die Kassen sehen das kritisch. Man begrüßt natürlich, dass eine pandemiebedingte Finanzierungslücke geschlossen werden soll. Man begrüßt natürlich auch das Ziel der weiteren Stabilisierung des Zusatzbetrags. Aber, wie es gemacht werden soll, wer sich beteiligen soll, dazu kam nichts. Wir sind den Kassen in den Verhandlungen entgegengekommen. Wir haben gestattet, dass einmalig zum 1. Januar ein höherer Zusatzbeitrag anfallen darf. Wir haben dafür gesorgt, dass das Rücklagenpolster nicht ganz abgeschmolzen wird. Wir haben 100 Prozent auf das, was aus dem BMG kam, draufgeschlagen. Wir haben bei den kleinen Kassen ein Schonvermögen von 3 Millionen Euro angesetzt. Ich finde, das sind sinnvolle Vorschläge, von denen ich übrigens weder von den Krankenkassen noch von der Opposition in irgendeiner Form etwas gehört habe. ({2}) Am Ende des Tages danke ich all denen, die diesen Staat am Laufen halten. Ihnen wollen wir helfen und, ich glaube, ihnen kommen wir mit diesem Gesetz ein gutes Stück entgegen. Dieses Gesetz ist ein gutes Gesetz. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt wird sein: die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die intensiven Verhandlungen zu diesem Gesetzentwurf haben sich gelohnt. Unser hartnäckiges Bohren hat dafür gesorgt, dass die Rehakliniken sowie die Kureinrichtungen des Müttergenesungswerks weitere Hilfen erhalten und endlich auch die ambulante Reha einbezogen wird. ({0}) Eine gute Nachricht für alle, die auf gut funktionierende Rehabilitationsmaßnahmen angewiesen sind, eine gute Nachricht vor allem auch für stark belastete Familien; denn gerade sie brauchen in diesen Krisenzeiten Rat und Unterstützung. ({1}) Mehrkosten und Mindereinnahmen, die durch Corona entstehen, können nun ausgeglichen werden. Wir erwarten von den Krankenkassen, dass sie diese Kosten nun auch entsprechend anerkennen. Hartnäckig bleiben wir als SPD auch weiter bei der Pflege; denn mehr Personal ist dringend notwendig. Erst haben wir gemeinsam für mehr Fachkraftstellen gesorgt, die aus der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden, und heute bereiten wir den Weg für 20 000 zusätzliche Hilfskraftstellen, die aus der Pflegeversicherung finanziert werden und damit die Pflegebedürftigen nicht zusätzlich finanziell belasten. ({2}) Das ist ein guter Schritt hin zur bedarfsgerechten Personalbemessung in den Pflegeheimen. Wir investieren auch 12 Millionen Euro für die modellhafte Erprobung des Personalbemessungsverfahrens; denn Personal muss mit besseren Organisations- und Personalentwicklungen verbunden werden. Und hier möchte ich nur sagen, Frau Zimmermann und Frau Kappert-Gonther: Personal fällt nicht vom Himmel, ({3}) sondern es muss gewonnen, es muss ausgebildet werden. Dafür stellen wir die Weichen, damit wir Schritt um Schritt bei diesen Dingen vorankommen. ({4}) Feststellen will ich an der Stelle aber auch: Auch Hilfs- und Assistenzkräfte sind qualifizierte Kräfte. Um Fachkräfte zu entlasten und Pflegebedürftige gut zu versorgen, müssen sie ordentlich ausgebildet sein. Deswegen braucht es jetzt eine breite Qualifizierungsoffensive. Deshalb appellieren wir an die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in der Pflege: Nutzen Sie jetzt die Chance, in der Breite Personal zu gewinnen, investieren Sie in hochwertige Aus- und Weiterbildung; denn gute Pflege gelingt nur mit engagierten und gut ausgebildeten Menschen. ({5}) Der Bund hat geliefert. Nun müssen endlich auch die Bundesländer nachziehen und die Ausbildung der Pflegehilfs- und Assistenzkräfte forciert ausbauen. Die längst überfällige Harmonisierung zwischen den Bundesländern muss endlich kommen. Herr Präsident, vielen Dank für das Signal, ich komme zum Schluss und möchte nur noch sagen: Wir sind auch stolz, dass es in den Verhandlungen gelungen ist, auch die pflegenden Angehörigen weiter zu entlasten. Frau Maag hat das eben angesprochen. Denn auch hier ist nicht nur Applaus gefragt, sondern echte Anerkennung dessen, was in Familien und in Nachbarschaften geleistet wird. Wir als SPD werden uns weiter hartnäckig für gute Reha und Pflege einsetzen. Darauf kann man sich verlassen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens, auch für den Hinweis, dass Sie das Signal wahrgenommen haben. Ich kann Ihnen aus allgemeiner Lebenserfahrung sagen: Wenn Sie bei einer Kreuzung das rote Signal überfahren, kann es zu Kollateralschäden kommen. ({0}) Ich schließe die Aussprache.

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie planen also die Gründung einer Bank. Wie man weiß – der Linken ist das vielleicht geläufiger –, braucht es dazu Profis. ({0}) Nein, Spaß beiseite! Sie wollen eine neue Institution in der Europäischen Union schaffen, eine Bank, die sich zur nachhaltigen Entwicklung und zum Klimaschutz bekennt. Das an sich ist eine löbliche und auch eine gute Anregung, ({1}) aber Sie kommt, Graf Lambsdorff, einfach einen Schritt zu früh. Insofern sollte man, was die Professionalität angeht, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Es geht – und das ist, glaube ich, ganz wichtig für die Einordnung – um ein systematisches Vorgehen in der Frage, wie wir die europäische Entwicklungsfinanzarchitektur kohärenter und besser abgestimmt ausgestalten können. Dazu haben einige sogenannte Wise Persons schon einmal verschiedene Optionen vorgelegt. Diese verschiedenen Optionen werden jetzt in einer Machbarkeitsstudie genauer durchleuchtet. Wenn wir diese Machbarkeitsstudie vorliegen haben – damit wird im kommenden Jahr gerechnet –, sind wir auch in der Lage, uns qualifizierte Gedanken dazu zu machen. Gleichwohl halte ich es für richtig, Kollegen von der FDP, dass wir diese Zielsetzung, besser abgestimmt und kohärenter in Europa vorzugehen, sehr ernst nehmen. Man muss sich aber Folgendes fragen: Was bedeutet „Schritt für Schritt vorgehen“? Wir haben zunächst unsere Entwicklungsgelder aus einem bisher multilateralen Fonds, aus dem Europäischen Entwicklungsfonds, in den Haushalt der Europäischen Union gegeben. Dieses Geld ist für das neue Außeninstrument der Europäischen Union vorgesehen. Jetzt muss man schauen: Wie soll das Geld eigentlich verteilt werden? In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu erwähnen, dass wir auch eine neue EU-Afrika-Strategie auf den Weg bringen wollen. Die Frage, ob das, was Fachleuten unter dem Stichwort „Post-Cotonou-Verfahren“ geläufig ist, zu einem Abschluss kommt, sei noch mal dahingestellt. Was ich sagen will, ist: Wir haben auf der nationalen Ebene, etwa mit der KfW, jahrzehntelang erfahrene, hochqualifizierte Einrichtungen mit vielen, vielen Hundert Mitarbeitern, die sich vor Ort sehr gut auskennen in den ganz spezifischen Fragen, die sich dort jeweils stellen. Die Frage, ob eine europäische Institution – insbesondere wenn sich Ihre Vorstellung Durchsetzung verschafft, diese als Tochtergesellschaft bei der EIB zu verankern – diese Kompetenz in absehbarer Zeit überhaupt entwickeln kann, sei noch mal dahingestellt. Diese Frage halte ich aber für außerordentlich wichtig. Ich möchte jedenfalls nicht, dass wir eine neue Institution schaffen und damit dann noch eine zusätzliche haben. Ich möchte aber sehr wohl, dass wir eine möglicherweise zu schaffende europäische Entwicklungsbank mit den nationalen Einrichtungen integrativ verbinden. Das ist etwas anderes als das, was in Ihrem Vorschlag drinsteht. Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn wir im Verlauf der Diskussion, in die wir jetzt reingehen, schauen würden, ob wir nicht die nationalen Instrumente einbeziehen. Es ist auch denkbar, dass zum Beispiel die KfW, um nur unsere deutsche nationale Einrichtung zu nennen, Mitgesellschafter, Shareholder, Teilhaber einer solchen künftigen Institution werden könnte. Das würde auch deren Einbindung und die Absicht, gemeinsam voranzugehen, stärken. Ihr Vorschlag entspricht einer Option, die im Rahmen der verschiedenen Optionen der Wise Persons Group genannt worden ist. Aber die Wise Persons Group hat auch ausgeführt, dass der Ansatz, das innerhalb oder unterhalb der EIB aufzubauen, auch kritische Aspekte aufweist, was die strukturellen Implikationen angeht. Die sollte man sich anschauen. Noch ein Punkt – Sie sind ja die Partei der Marktwirtschaft –: ({2}) Es geht nicht um ein marktwirtschaftliches Instrument, sondern es geht um ein von den Mitgliedstaaten getragenes Instrument, hinter dem die Garantie der Mitgliedstaaten, gegen Ausfallrisiken abzusichern, steht. Insofern ist es ein Triple-A-Instrument. Man muss natürlich auch schauen, ob dieses Instrument geeignet ist, wettbewerbliche Gleichheit zwischen nationalen und europäischen Instrumenten herzustellen, oder ob es Wettbewerb eventuell verzerrt. Ich finde, das ist eine von vielen Fragen, die wir uns stellen müssen, wenn wir nach vorne gehen, um hoffentlich gemeinsam – vom Grundsatz her finden wir die Idee in der Unionsfraktion ja nicht verkehrt – die bestmögliche Struktur einzurichten. Zum Abschluss will ich sagen – und das ist mir schon wichtig –: In erster Linie geht es nicht darum, für Geldschwemmen zu sorgen, sondern es geht um die Bedingungen vor Ort, die Investitionsbedingungen, die Rahmenbedingungen. Wir können noch so viel Geld ins Fenster hängen; aber wenn die Bedingungen vor Ort für Investoren nicht gegeben sind, dann nützt das Ganze nichts. Deswegen bin ich schon einigermaßen stolz, dass wir in Deutschland mit der GIZ, aber auch mit den generellen Ansätzen zur Entwicklungszusammenarbeit wie Good Governance, gute Regierungsführung, ordentliche Bedingungen vor Ort schaffen, um überhaupt erst die Grundlage für Investitionen zu schaffen. Das soll auch in Zukunft unsere Aufgabe sein, statt erst mal Hunderte von Milliarden ins Schaufenster zu stellen, die dann gar nicht abgerufen werden können. Aber lassen Sie uns trotzdem gemeinsam diesen Weg gehen. Ich bin gespannt auf die Diskussion, die wir haben werden, wenn diese Machbarkeitsstudie vorliegt. Im Übrigen freue ich mich natürlich, wenn Ihr Parteifreund Werner Hoyer ein weiteres expansives Instrument der Geldpolitik zur Verfügung hat, um damit die Märkte zu beglücken; ({3}) aber das nur mal am Rande gesagt, Herr in der Beek. Ich habe jedenfalls Ihren Beitrag mit Herrn Hoyer in der „Welt“ aufmerksam studiert. Also gut: Das ist eine Initiative, die aus Ihrer Fraktion kommt, und das ist mir auch recht. Wir werden diese aufmerksam, kritisch, aber selbstverständlich europafreundlich und mit dem Willen zur Integration begleiten. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Marschall. – Ich darf fürs Protokoll erwähnen: Auch Sie haben sich Ihrer Maske bedauerlicherweise erst auf der Hälfte des Weges zum Platz erinnert. Daran sieht man: Es ist keine Altersfrage. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD-Fraktion. ({1})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Parlamentarier haben wir die Aufgabe, den Bürgern unseres Landes komplexe politische Sachfragen zu erklären. Eine wichtige Frage, die wir den Bürgern ehrlich beantworten müssen, ist: Wer macht in Deutschland eigentlich die Entwicklungshilfe? Und darauf gibt es leider keine echte oder klare Antwort. Der Bund, die Länder, die Gemeinden, die EU, die Kirchen, die Stiftungen und mehrere Ministerien der Bundesregierung: Sie alle sind in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Wenn Sie in einem Medizinhandbuch unter „multiple Persönlichkeitsstörungen“ nachschlagen, finden Sie Definitionen wie: Die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit existieren nebeneinander und wechseln einander ab; in der Regel wissen sie nichts voneinander. – Genauso ist es mit der deutschen Entwicklungshilfe: Zahlreiche Akteure fuhrwerken im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit nebeneinander rum und wissen nicht, was der andere macht. ({0}) Nur sagen wir nicht, dass die Entwicklungspolitik in Deutschland einen kleinen Dachschaden hat, sondern benutzen dafür den etwas sperrigen Begriff der Fragmentierung. Die FDP hat heute einen Antrag vorgelegt, um diese Fragmentierung zu reduzieren. Das ist das erklärte Ziel des FDP-Antrags. Aber wie will die FDP das anstellen? Indem sie eine sogenannte Europäische Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Klimaschutz errichtet? Im engen Dickicht des Waldes der Entwicklungshilfe soll ein weiteres zartes Pflänzchen gepflanzt werden, indem man kurzerhand eine Greta-Thunberg-Weltbeglückungsbank errichtet. ({1}) Bei nahezu jeder Gelegenheit höre ich von den Vertretern der FDP, wie sie sich über die Fragmentierung in der deutschen Entwicklungspolitik beklagen. Aber anstatt dass Sie wie die AfD sagen: „Entwicklungspolitik muss von einem Ministerium, einer Durchführungsorganisation und einem Evaluierungsinstitut geleitet werden“, befördern Sie mit Ihrem Antrag noch eine stärkere Fragmentierung. Und obendrein – wir sind auch nichts anderes gewohnt – stoßen Sie die Tür zu noch mehr Multilateralismus auf. Gerade Sie als sogenannte liberale Partei sollten doch verstehen: Dort, wo es keine Verantwortlichkeit gibt, da wird mit Geld im Zweifel schlampig umgegangen. ({2}) Nichts ist unverantwortlicher, als Milliarden an Steuermitteln durch eine der breiten Öffentlichkeit vollkommen unbekannte Großbank verteilen zu lassen, die von 27 EU-Mitgliedstaaten getragen wird. Die EU, die noch nicht einmal in der Lage ist, einen gemeinsamen Haushalt zu beschließen, soll jetzt also eine kohärente Entwicklungsinvestitionspolitik betreiben. Meine Damen und Herren, das wird doch nicht funktionieren. ({3}) Im Übrigen haben wir bereits eine eigene deutsche nationale Entwicklungsbank, nämlich die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, mit einer Bilanzsumme von über 500 Milliarden Euro und fast 7 000 Mitarbeitern weltweit eines der größten Finanzinstitute. Die Arbeit der Europäischen Investitionsbank beschränkt sich überwiegend auf Investitionen innerhalb der Europäischen Union. Im Globalen Süden hat die Bank doch keinerlei Erfahrung. Hier wird Ihre Spielart des Globalismus, nämlich globale Institutionen über das Interesse Deutschlands zu erheben, ganz besonders deutlich. In unserem nationalen Interesse ist es gerade nicht, einen zusätzlichen Konkurrenten zur KfW auf europäischer Ebene zu etablieren. Wir wollen die KfW stärken und erhalten. Sie wollen hier also Bundesliga durch Kreisliga ersetzen. Das verbietet sich, wenn man Investitionen in Entwicklungsländer effizienter gestalten möchte. ({4}) Zum Abschluss eine kleine Anmerkung, Herr von Marschall. Der Entwicklungsminister hat gestern diesen Antrag der FDP im Ausschuss begrüßt. Vielleicht sollten Sie sich in der CDU/CSU besser abstimmen. Das war schon ein wenig irritierend. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frohnmaier. – Herr Kollege Frohnmaier, auch für Sie gilt die Bitte – ich kann es nur als Bitte wiederholen –, die Maske aufzusetzen. – Als nächste Rednerin erteile ich der neugewählten Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, der Kollegin Dagmar Ziegler, SPD, das Wort. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank für Ihre Stimmen. – Ich möchte das, was zu diesem Antrag zu sagen ist, in drei Worte bzw. Sätze fassen: zu früh, der Nutzen nicht nachgewiesen und ein wenig Geschmäckle. – Gerade das sollten wir in unserem Haus verhindern. Wir beraten heute in abschließender Lesung einen Antrag, der vordergründig die Schaffung einer Europäischen Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Klimaschutz für unabdingbar erklärt; das ist so weit gut und richtig. Es ist eine umfassende institutionelle Reform der europäischen Entwicklungsfinanzarchitektur gewollt; auch dem kann man nichts entgegensetzen. Das sollte dann unter dem Dach der Europäischen Investitionsbank geschehen. Und diese Reform bräuchte, so steht da, weder langwierige Verhandlungen noch Änderungen der Verträge der Europäischen Union. Und weiter heißt es: eine „AKP-Investitionsfazilität, unabhängig von der Budgetierung des Europäischen Entwicklungsfonds, im Rahmen des kommenden Mehrjährigen Finanzrahmens fortgeführt“. Und man darf raten, durch wen: Unter dem Dach der EIB. Das klingt erst einmal gut. Wir haben im Ausschuss darüber beraten, dass Optimierungen von Finanzstrukturen gut und richtig sind. Es ist nur der falsche Zeitpunkt. Herr Hoyer, der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete und der heutige Präsident der EIB, war im Ausschuss und hat die Vorteile, die eintreten würden, wenn er über diese Finanzierungen herrschen würde, deutlich gemacht. Er hat auch gesagt, dass es richtig ist, wenn er eine Tochtergesellschaft hat, unter der das laufen soll. Wir haben aber noch keine Gegenmeinung im Ausschuss hören dürfen. Wir warten darauf, dass auch andere, die im Januar zu uns in den Ausschuss kommen, die Finanzstruktur, die sie sich vorstellen, bei uns diskutieren können. Es wurde schon gesagt: Der Diskussionsprozess zum weiteren Verfahren nach dem Ende des jetzigen mehrjährigen Finanzrahmens ist zwar schon sehr weit fortgeschritten, aber es besteht noch keine Einigung der EU-Mitgliedstaaten. Deshalb ist auch eine Positionierung hier und heute überhaupt nicht richtig, da wir ja in der EU-Präsidentschaft nicht vorgreifen wollen, sondern als – in Anführungsstriche – ehrliche Makler den Prozess nicht unterlaufen und die Konsensbildung in der Ratsarbeitsgruppe nicht erschweren wollen. ({0}) In Gesprächen mit dem Europäischen Parlament über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen bilden ihre Mittelrückflüsse eine wichtige Verhandlungsmasse. Auch deshalb sollten wir im Moment keine weitere politische Diskussion über deren Verwendung aufmachen. Unser Bundesminister hat sich im September 2020 im Europäischen Parlament und bei der EU-Entwicklungsministerkonferenz für den Erhalt der bisherigen Strukturen ausgesprochen. Es ist also im Kern die Frage: Brauchen wir eine eigene Entwicklungsbank der EU, ja oder nein? Wir haben im Moment das bestehende System des Zusammenwirkens von europäischen, multilateralen und nationalen Finanzeinrichtungen, und wir sagen: Sie entsprechen den Anforderungen. Natürlich brauchen wir Optimierungen, wie so immer, und vor allen Dingen mehr Möglichkeiten in der parlamentarischen Kontrolle; denn transparent sind sie fast alle nicht. Das System wird geführt unter dem Namen „Team Europe Approach“. Es leistet zumindest sehr gute Arbeit bei der Überwindung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und hat eben auch deshalb eine eindeutige Präferenz der EU-Kommission. Im Gegensatz zu den Befürwortern einer europäischen Entwicklungsbank mit Monopolstellung, wie das zum Beispiel Herr Hoyer möchte, hatten eben auch Fürsprecher des „Teams Europe Approach“ bislang überhaupt keine Gelegenheit, mit uns im Fachausschuss darüber zu diskutieren. Das müssen wir Anfang des nächsten Jahres unbedingt nachholen. Wir brauchen das für das Gesamtbild, um auch unser Meinungsbild abzurunden. Wenn Anfang nächsten Jahres der Zwischenbericht über die Machbarkeitsstudie zur europäischen Finanzstruktur diskutiert wird, haben wir dazu auch die Gelegenheit. Fazit: Aus den Mitteln der auslaufenden AKP-Investitionsfazilität in Höhe von 3,5 Milliarden Euro sind der humanitären Hilfe bereits 1 Milliarde Euro zugesagt worden. Wir werden uns natürlich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft dafür einsetzen, dass auch die übrigen circa 2,5 Milliarden Euro der Entwicklungszusammenarbeit zugutekommen. ({1}) Auch vor dem Hintergrund der jüngsten Gespräche der Bundeskanzlerin mit der WHO und mit GAVI müssen wir darauf Wert legen, dass gerade die Verteilung des Covid-19-Impfstoffes gerecht vonstattengeht. Vor allen Dingen gibt es dafür, wie wir im Ausschuss gehört haben, noch nicht einmal richtige Pläne. Unser vorrangiges Ziel sollte im Moment sein, Covid-19 zu bekämpfen und die ärmsten der armen Länder dabei zu unterstützen. Das ist die Priorität in der Diskussion. ({2}) Das Aufsetzen einer weiteren europäischen Finanzstruktur, von deren Nutzen wir im Moment gar nicht überzeugt sein können, weil uns die Fakten nicht vollständig vorliegen – wir wissen nicht, ob sie effizienter arbeiten wird als die derzeitige Finanzstruktur –, macht also keinen Sinn. Der Sinn der von Ihnen beantragten namentlichen Abstimmung dazu erschließt sich uns – ohne Unterstellungen – ebenfalls nicht. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Vizepräsidentin. – Nächster Redner ist der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion. ({0})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohin wir auch seit Monaten schauen, das Covid-19-Virus hält die Welt in Atem. Der Klimawandel macht aber keinen Corona-Lockdown, und der globale Lockdown gefährdet die Entwicklungserfolge der vergangenen Jahrzehnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pariser Klimaziele und die globalen Nachhaltigkeitsziele dürfen auch in der Coronapandemie nicht in den Hintergrund geraten. Sie werden darüber entscheiden, in welcher Welt wir in Zukunft leben. ({0}) Wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen müssen Hand in Hand mit dem Klimaschutz gehen, gerade in Entwicklungsländern. Alle Maßnahmen zu Bildung, Gesundheitsförderung, nachhaltigem Wirtschaften und zur Schaffung von Lebenschancen in Entwicklungsländern werden nichts nutzen, wenn wir die Folgen des Klimawandels nicht eindämmen und damit Überlebenschancen sichern. ({1}) Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir die geeigneten Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit. Wenn wir auf 19 nationale Entwicklungsbanken, vier bilaterale Banken unterschiedlicher Größe, die global agierende Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung als regionale Bank schauen, dann zeigt uns allen diese Zerklüftung der Entwicklungsfinanzierung, dass dringender Handlungsbedarf besteht. ({2}) Der Flickenteppich der Entwicklungsfinanzierung geht auf Kosten von Effizienz, Sichtbarkeit, aber auch von Glaubwürdigkeit der EU in der Welt. ({3}) Dass wir in der Entwicklungszusammenarbeit nicht mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, obwohl gemeinschaftlich der größte Geber von Entwicklungsmitteln die EU weltweit ist, wird der internationalen Rolle der EU nicht gerecht. Wir haben aber nicht nur unser eigenes Schicksal in der Hand, sondern müssen auch Motor für eine nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz weltweit sein. Wir sind der demokratische und humanitäre Gegenpol zu menschenrechtsfeindlichen, autokratischen Regimen, die ihren Einfluss gerade in Entwicklungsländern unerbittlich weiter ausbauen. ({4}) Um die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit zu steigern, brauchen wir mehr Kooperation, und vor allen Dingen brauchen wir mehr finanzielle Mittel. Angesichts endlicher Ressourcen von staatlichem Geld müssen wir – besser gestern als heute – den Privatsektor in die Entwicklungs- und Klimafinanzierung einbeziehen. Ohne Privatinvestitionen in Entwicklungs- und Klimamaßnahmen werden weder die Pariser Klimaziele noch die globalen Nachhaltigkeitsziele erreichbar sein. Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, fordern wir die Gründung einer Europäischen Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Klimaschutz. Lieber Herr Matern von Marschall, darüber wird seit Jahren gesprochen. Wenn Sie unseren Antrag richtig gelesen hätten, dann sollte Ihnen auch die KfW untergekommen sein, die mit am Tisch sitzen soll. Das alles steht da drin. Eine solche Bank unter dem Dach der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Investitionsbank schafft ein gemeinsames Auftreten, finanziellen Mehrwert und Kontrollmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten. Mit Blick nach Brüssel, wo gerade der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU kurz vor dem Abschluss steht, wird deutlich, dass wir dringend handeln müssen. Wann, wenn nicht jetzt, ist der beste Zeitpunkt dafür, Verantwortung zu beweisen und die Entwicklungsarchitektur der EU endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen? ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wir müssen raus aus dem Klein-Klein und rein in nachhaltige gemeinschaftliche und strategische Entwicklungs- und Klimafinanzierung. Ihr Entwicklungsminister Gerd Müller fordert – das kann ich Ihnen nicht ersparen – genauso wie wir eine europäische Entwicklungsbank. Gestern hat er im Ausschuss sogar für die Unterstützung unseres Antrags geworben. Jetzt können Sie zeigen, dass Sie nicht nur den Anspruch haben, zu verwalten, sondern dass Sie tatsächlich auch Zukunft gestalten wollen. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege in der Beek. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Helin Evrim Sommer, Fraktion Die Linke. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal, glaube ich, will uns einer für dumm verkaufen. Da schlägt die FDP vor, die bisherige Europäische Investitionsbank zu einer Entwicklungsbank auszubauen, und siehe da: Ganz zufällig steht seit 2012 ein Parteifreund von Ihnen an der Spitze. „Chapeau!“ kann ich nur sagen. Mehr Lobbyeinsatz für Ihre Parteifreunde geht wohl nicht. ({0}) Grundsätzlich sperren wir uns nicht gegen neue Institutionen und bessere Koordination für Entwicklungspolitik auf europäischer Ebene. Aber wir sind für eine klare Linie und fragen immer: Was bezweckt die FDP damit? Und spätestens an dieser Stelle driften die Vorstellungen meilenweit auseinander. Kurz zu unseren Grundsätzen als Linke. Wir sehen die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und den internationalen Klimaschutz als Menschheitsaufgaben. Sie betreffen den Fortbestand unseres Planeten und somit der ganzen Menschheit. Das sind für uns Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge, und da hat ein Markt gar nichts zu suchen, meine Damen und Herren. ({1}) Aber die FDP verfolgt eine andere Strategie. Die Freien Demokraten fürchten nämlich, dass sich deutsche Unternehmen gegen die Konkurrenz aus China und den USA nicht mehr behaupten können. Um diesen Konkurrentennachteil auszugleichen, soll die Europäische Union einspringen. Unter dem Deckmantel des Exports von europäischen Werten sollen die Länder des Südens gefälligst deutsche Produkte und deutsches Know-how verwenden. Liebe Abgeordnete der FDP, Sie machen die Arbeit der AfD. Wir sind da auf jeden Fall raus. Die Linke sagt Nein. – Ja, so ist es. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer die Gesellschaften im Globalen Süden unterstützen will, der muss ihre Abhängigkeit von den Ländern des Nordens verringern. Neue Kredite erhöhen doch nur die Schulden und verringern den Gestaltungsspielraum. Das war die deutsche Entwicklungspolitik der letzten Jahrzehnte, und die ist gescheitert, meine Damen und Herren. ({3}) Stattdessen brauchen wir einen Schuldenerlass für die Länder, die am meisten zu kämpfen haben. ({4}) – Gibt es nicht. ({5}) Das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit muss Selbstbestimmung sein, und dafür sind möglichst direkte Budgethilfen nötig. ({6}) – Wenn Sie nicht der Meinung sind, können Sie sich ja zu einer Zwischenfrage melden. Liebe FDP-Fraktion, nur auf der Grundlage könnten wir uns als Linke mit dem Gedanken einer neuen europäischen Entwicklungsbank anfreunden. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Sommer. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Kekeritz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was Sie hier mit der FDP machen, geht zu weit. Ich muss jetzt einmal positiv anfangen: Die Motivation ist doch wirklich gut. ({0}) Sie wollen einen besseren Überblick. Sie wollen mehr Effizienz und Transparenz schaffen. Die Entwicklungspolitik soll schlagkräftiger werden. Was ist dagegen einzuwenden? Allerdings versäumt die FDP leider, zu erklären, warum die Gründung einer weiteren Bank – wir haben schon 19 Entwicklungsbanken – da tatsächlich einen Beitrag leisten kann. Erstens. Es gibt ja viele Vorschläge und Empfehlungen zur Restrukturierung des europäischen Finanzsystems der Entwicklungsfinanzierung. Die Kommission – das wurde schon ein paar Mal gesagt – lässt diese gerade evaluieren, und das Ergebnis wird in vier Monaten vorliegen. Das, Herr Olaf in der Beek, sollten Sie uns mal erklären: Was ist die Motivation, diese Zeit nicht abzuwarten? Das ist unbegreiflich, und das verwundert einen schon sehr. ({1}) Zweitens. Solange es keine weitgehende gemeinsame oder eventuell sogar vergemeinschaftete Außen- und Entwicklungspolitik gibt – und ich sehe nicht, dass diese kommt –, kann eine neue Bank oder eine Banktochter ihre Ziele ja nicht erfüllen; das ist überhaupt nicht möglich. Oder stellen Sie sich etwa vor, dass die Bank dann die Politik der Mitgliedstaaten der EU lenkt? Na ja, es ist ja schon angeklungen, man könnte sich das bei der FDP vorstellen. Dagegen sollten Sie sich aber mit aller Vehemenz wehren. Das funktioniert nämlich auf keinen Fall. Drittens. Jawohl, wir brauchen private Investitionen. Aber Investitionen wirken nicht per se nachhaltig. Im Antrag jonglieren Sie mit zwei Begriffen. „Pariser Erklärung“ und „Nachhaltigkeit“ setzen Sie ganz oft rein in diesen Text. Aber Sie gehen mit keinem Wort auf die Themen Menschenrechte, regionale Entwicklung, Gemeinwohl und soziale Verantwortung ein. Sie versuchen nicht mal, Kriterien für ein verantwortungsbewusstes Investieren zu beschreiben. Sie nennen auch nicht die notwendigen Sorgfaltspflichten, die bei Investitionen einzuhalten sind. Das alles ist einfach nicht überzeugend.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kekeritz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Köhler?

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber selbstverständlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das verlängert auch Ihre Redezeit.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Herr Präsident. – Lieber Herr Kekeritz, danke dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich wollte Sie nur mal fragen: Sie haben ja gerade die Sustainable Development Goals erwähnt, die auch im Antrag explizit erwähnt werden.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, die sind nicht drin.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie sprachen gerade von den Menschenrechten und der Frage regionaler Verantwortung. Sind die aus Ihrer Sicht in den Sustainable Development Goals nicht ausreichend erwähnt, oder sind die gar nicht erwähnt? Und warum wäre das als Kriterienkatalog nicht ausreichend genug?

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe diesen Antrag zweimal gelesen und habe ihn dann auch noch nach bestimmten Begriffen durchsuchen lassen. „Sustainable Development Goals“ habe ich nicht gefunden; das ist ein Problem. Was ich mehrmals gefunden habe, sind die Begriffe „Pariser Erklärung“ und „Nachhaltigkeit“. Aber wissen Sie, die beiden Begriffe allein reichen nicht aus. Ich muss Kriterien definieren; ich muss sagen, wie ich das umsetze, und das fehlt hinten und vorne. Hier ist einfach nur von Investitionen die Rede, und die sollen dann die Veränderung bewirken. Nein, Investitionen gibt es schon genug. Wir brauchen Investitionen, die eben den Sorgfaltspflichten Genüge leisten. ({0}) Viertens. Wie kommen Sie, liebe FDP, eigentlich darauf, dass die EIB insgesamt die geeignete Einrichtung ist? Sie wissen ganz genau, dass die EIB in den Ländern des Globalen Südens überhaupt nicht vertreten ist. Sie hat keine Manpower dort. Sie hat keine Niederlassungen dort. Sie hat kein Know-how. Und dort, wo sie trotzdem mal versucht hat, zu investieren, da sind die Ergebnisse sehr betrüblich; Sie kennen auch die Studie dazu. Ich frage mich: Warum ignorieren Sie das eigentlich? Ich gehe jetzt mal davon aus, Herr Olaf in der Beek, dass Sie die Kritikpunkte, die auch meine Kolleginnen und Kollegen hier vorgetragen haben, ganz genau kennen. Warum ignorieren Sie die eigentlich? Aber es ist auch die Frage gestellt worden, warum hier eine namentliche Abstimmung erfolgt. ({1}) Eigentlich finde ich die Idee süß. Wissen Sie, es geht doch darum, dass Minister Müller – da liegt er übrigens falsch – für Ihre Initiative ist, und Sie wissen ganz genau, dass diese CDU/CSU-Fraktion in den letzten acht Jahren niemals den Minister Müller unterstützt hat.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist die Motivation. Sie wollen nachweisen, dass sie das auch in diesem Fall nicht tut. Aber ausgerechnet jetzt, wo der Minister Müller mal falsch liegt, kommen Sie mit diesem Antrag. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. – Letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kekeritz, Ihre letzte Bemerkung kann ich natürlich nicht so stehen lassen, weil nämlich unsere Fraktion ihren erfolgreichen Entwicklungsminister Gerd Müller die letzten Jahre massiv unterstützt hat. ({0}) Allein wenn wir uns den Aufwuchs beim Haushalt anschauen, sehen wir: Da sprechen Zahlen Bände. ({1}) Gerade als letzter Redner in so einer Debatte hat man es nicht so leicht; denn eigentlich ist schon alles gesagt – nur noch nicht von mir. Es ist fast ein bisschen schwierig, hier mit Zahlen zu Banken und Finanzen zu operieren. Deswegen möchte ich mal ganz kurz einen Blick darauf werfen, für wen wir denn eigentlich die Entwicklungspolitik machen. Wenn wir uns anschauen, dass über 760 Millionen Menschen weltweit in Armut leben, Hunger haben, kein Dach über dem Kopf haben, kein weiches Bett, keine Dusche oder Toilette zur Verfügung haben, und dass 150 Millionen Kinder nicht in die Schule gehen können, sondern arbeiten – und das nicht, weil sie wollen, sondern weil sie müssen –, dann ist das natürlich ein Punkt, der uns auch interessieren muss. Warum? Weil beispielsweise der afrikanische Kontinent direkt in der Nachbarschaft zu Europa liegt. Die kürzeste Entfernung – Luftlinie – sind 20 Kilometer. Deshalb muss es uns interessieren, dass wir strukturschwache Regionen in der direkten Nachbarschaft zu Europa stärken, stabilisieren und auch weiterentwickeln. Wir können uns natürlich über das Wie trefflich streiten; das ist ja auch in Ordnung. Die FDP sagt, wir brauchen jetzt auch eine neue Finanzierungsstruktur. Auch das kann man natürlich diskutieren; das ist ganz klar. Wir haben in Europa derzeit – das ist angesprochen worden – 19 Entwicklungsbanken. Ob das effektiv ist, da kann man auch unterschiedlicher Meinung sein. ({2}) Aber das Positive, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch eines: dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Entwicklungspolitik noch effektiver, noch effizienter gestalten können, und dass es vor allem – das zeigen auch die 19 Entwicklungsbanken – einen gewissen Grundkonsens in Europa gibt, dass Entwicklungspolitik wichtig ist. Ich stimme ja in Teilen der FDP zu, was die Problemanalyse betrifft, und ich bin wie unser Entwicklungsminister der Ansicht, dass es durchaus mehr Engagement in der Europäischen Union braucht beim Thema Entwicklungszusammenarbeit. Es braucht aber vor allem auch – darauf weist unser Minister auch immer wieder hin – privates Kapital, nämlich privates Kapital von Unternehmen nicht nur für Afrika, sondern auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer in Asien und Lateinamerika. ({3}) Inwieweit dort eine europäische Entwicklungsbank hilfreich sein kann, muss man sehen. Aber – und es sind ja schon einige Themen angesprochen worden –: Ihr Antrag kommt einfach zu früh, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Machbarkeitsstudie soll 2021 vorgelegt werden. Diese sollten wir doch abwarten. Sie wissen genauso, dass gerade bei einer neuen Institution der Teufel im Detail steckt. Das muss richtig ausgestaltet sein. Deswegen sollten wir diese Machbarkeitsstudie einfach abwarten. Auf viele kritische Punkte in Bezug auf die Europäische Investitionsbank sind Sie nicht eingegangen; auch das ist schon gesagt worden. Ich vermeide jetzt die Spekulation, dass es vielleicht daran liegt, dass der Chef FDP-Mitglied ist. Aber es ist auf jeden Fall so, dass man diese Kritikpunkte eben auch anschauen muss. Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, es braucht mehr Entwicklungszusammenarbeit. Es braucht mehr Miteinander auch bei diesem Thema. Aber gut gemeint ist noch nicht gut gemacht, und deshalb sollten wir die Ergebnisse des Expertengremiums abwarten. Deswegen heute ein Nein zu Ihrem Antrag. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Angriffskrieg in Europa, völkerrechtswidrig, selbstverständlich, ein Angriffskrieg nach vielen Jahren scheinbarer Beruhigung, die aber natürlich immer von Widersprüchen gekennzeichnet war, begonnen am 27. September und beendet am 9. November 2020: 44 Tage voll Tod – mehrere Tausend Tote auf beiden Seiten –, voll von Vertreibung, voll von Verletzungen, voll von Verwüstungen. Unter der Ägide von Russland ist es zu einem Waffenstillstand gekommen, den die Kriegsparteien Aserbaidschan und Armenien zusammen mit Russland unterzeichnet haben. Das ist der erste Schritt, um voranzukommen in dieser schwierigen Region. Damit ist aber noch längst nicht alles erledigt. Es werden weiter Kulturgüter zerstört, aktuell wohl insbesondere religiöse armenische Kulturgüter. Aber früher, vor etwa 25 Jahren, gab es eben auch Kulturgutzerstörung von anderer Seite an aserbaidschanischen Kulturgütern. Diejenigen, die nach dem Waffenstillstandsabkommen jetzt die Regionen, die Provinzen verlassen müssen, die vor etwa 25 Jahren von Armenien erobert worden waren, hinterlassen zum Teil verbrannte Erde, wie man dazu wohl sagt. Es werden Häuser angezündet, es werden Bäume gefällt, es wird Infrastruktur zerstört. Und die Menschenwürde geht auf beiden Seiten verloren. Ich glaube, das ist der Punkt, den wir hervorheben müssen. Es kann so nicht weitergehen. ({0}) Was können wir jetzt tun? Deutschland unterstützt das Internationale Rote Kreuz bei der Bereitstellung der benötigten humanitären Hilfe. Das findet zum Glück statt: Es werden Tote geborgen, es werden Gefangene ausgetauscht, es findet eine Erstversorgung der Bevölkerung statt, derjenigen, die wieder zurückkehren nach Bergkarabach. Die OSZE-Minsk-Gruppe muss ihre Versäumnisse aus der Vergangenheit schnellstmöglich kritisch überprüfen. Deutschland muss unter Federführung der Minsk-Gruppe der OSZE zeitnah an der Schaffung eines dauerhaften, friedensichernden Rechtsstatus mitarbeiten, der ein dauerhaft friedliches und gleichberechtigtes Miteinander der dort lebenden Menschen ermöglicht. Deutschland muss sich für eine unabhängige Untersuchung von Kriegsverbrechen einsetzen. Und wir können wahrscheinlich auch durch Bildung und Aufklärung sowie die Unterstützung möglichst niederschwelliger zivilgesellschaftlicher Kontakte ein friedliches Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidschanern fördern. ({1}) Wir wollen Armeniens Transformations- und Reformprozess weiterhin unterstützen, und wir setzen uns für einen Wiederaufbaufonds der Europäischen Union für das gesamte Konfliktgebiet ein, für den Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur, die im Krieg – von 1991 bis 1994 und jetzt 2020 – zerstört wurde. Ja, wir können dies alles tun mit unseren Möglichkeiten, die gleichwohl natürlich beschränkt sind. Dies alles wird nur gelingen, wenn die Menschen in der Region bereit sind, die sogenannte Erbfeindschaft, wie wir sie aus unserer Geschichte ja auch kennen, zu überwinden, wenn sie bereit sind, gegenseitig ihre Menschenwürde und ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und auf ein Leben in Frieden zu akzeptieren. Nur dann wird alles das, was wir und was auch Europa eventuell leisten kann, tatsächlich fruchtbringend sein. Es geht also darum, dass die politisch Verantwortlichen und die Bürgerinnen und Bürger beider Länder endlich zur Vernunft kommen. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Dr. Hendricks. – Nächster Redner ist der Kollege Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, Frau Hendricks, das war die übliche Phrasendrescherei der Regierungskoalition, wenn es um die Konfliktgebiete dieser Welt geht. ({0}) Gegen die Inhalte ist nichts zu sagen. Hilfe, menschliche Hilfe, fein, aber Sie haben eines vergessen. Sie haben in Ihrer Rede nämlich nicht erwähnt, wer es möglich gemacht hat, dass nicht mehr geschossen wird am Hindukusch, ({1}) nein, im Kaukasus: die Russen. Die Russen haben das gemacht, was notwendig war. Sie haben die Türken in die Schranken gewiesen, und sie haben innerhalb kürzester Zeit, als die Lage zu eskalieren drohte, Machtpolitik betrieben und den Druck auf beide Länder so stark erhöht, dass es dann relativ schnell zumindest zu einem Waffenstillstand kam. ({2}) In Moskau haben wir längst jegliches Vertrauen verspielt. Deswegen spielen wir auch nicht mehr in dieser Liga mit. Wichtig wäre es gewesen, auf die Druck auszuüben, die den Konflikt – das wurde ja von allen Fraktionen in diesem Hause unterstrichen – angeheizt haben, nämlich auf Herrn Erdogan und die türkische Regierung. Das ist das Entscheidende. ({3}) Wenn wir heute nicht mehr in der Lage sind, auf diese Regierung Druck auszuüben, dann werden wir auch in Bergkarabach mit allen humanistischen Ansprüchen, die Sie eben ausgedrückt haben und denen ich ausdrücklich zustimme, nicht weiterkommen. Von unserem Engagement in der Vergangenheit kann übrigens kaum eine Rede sein. Wir sind gerade mal Mitglied der Minsk-Gruppe unter den Co-Vorsitzenden Frankreich, USA und Russland. Moskau war in den letzten Jahren der aktivste Mediator. Es unterhält zu beiden Ländern die besten Beziehungen. Als einfaches Mitglied hat Deutschland nicht mal Einblick in die konkreten vertraulichen Verhandlungsergebnisse der Co-Vorsitzenden-Staaten. Meine Damen und Herren, die deutsche Außenpolitik muss an Ernsthaftigkeit zurückgewinnen. Während die starke armenische Minderheit in Frankreich, die Nachfahren Charles Aznavours, den Druck auf Macron erhöht haben, betrachtet Erdogan die drei Millionen Türken in Deutschland als innenpolitisches Druckmittel gegenüber der deutschen Regierung, und er spielt diese Karte ja auch nach allen Regeln der Kunst aus. Eine unabhängige deutsche Außenpolitik ist aufgrund dieses Verhältnisses, meine Damen und Herren, gar nicht mehr möglich. ({4}) Die zögerliche Haltung der Kanzlerin auf EU-Gipfeln, wenn es um Sanktionen gegen die Regierung Erdogan geht, spricht Bände. Meine Damen und Herren, meine Fraktion legt heute einen klaren Fahrplan vor aus Forderungen und einer Haltung, die die Bundesregierung gegenüber Herrn Erdogan einnehmen muss, um seinen neoosmanischen Großmachtträumen wirksam entgegenzutreten: Keine weiteren Heranführungshilfen in Milliardenhöhe für einen EU-Beitritt der Türkei – müsste der erste Schritt sein. ({5}) Wir brauchen eine Neuverhandlung des Assoziierungsabkommens – wenn wir es denn überhaupt noch fortführen wollen. Und vor allen Dingen darf es keine weiteren 6 Milliarden aus dem Flüchtlingsdeal für Herrn Erdogan geben – das finanziert die türkische Politik auch in Bergkarabach, Armenien und Aserbaidschan. Wir wollen eine finanzielle und personelle Stärkung von Frontex-Einheiten, die in Griechenland unsere EU-Außengrenzen wirksam schützen; das entzieht Herrn Erdogan ein weiteres Druckmittel. Im Übrigen sollten wir als Allererstes türkischen Staatsbeamten die Visafreiheit entziehen, sie nur noch Diplomaten geben. Sie glauben gar nicht, was für eine beträchtliche Wirkung das in Ankara erzeugen würde. Und zum Schluss, last, not least sollten wir – wir haben ja so gute Beziehungen zum Weltsicherheitsrat und den Vereinten Nationen – eine Resolution einbringen in den UN-Sicherheitsrat, die das aggressive Verhalten der Türkei deutlich verurteilt. Meine Damen und Herren, der Politik eines Herrn Erdogan, der sich nach Süden – nach Norden übrigens auch – und nach Westen ausdehnt, dieser Politik muss Einhalt geboten werden! Wenn Sie einmal, wie ich in den letzten Jahren, den Balkan bereist haben, dann werden Sie feststellen, dass in Bulgarien, in Bosnien und anderswo ein massiver Einfluss der türkischen Staatsregierung stattfindet, genauso wie jetzt in Armenien und schon längst in Syrien, Libyen; das kennen Sie alle allemal. Den Großmachtträumen eines Herrn Erdogan muss Einhalt geboten werden, und dass erreichen Sie nur mit einer klaren, auch diplomatisch deutlichen Sprache. So muss deutsche Außenpolitik gestaltet sein! Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hampel. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Ihnen meine Stimmung völlig egal ist – das akzeptiere ich –, aber bitte: Ein Mund-Nase-Schutz – ich meine gar nicht Sie, Herr Hampel – ist nur dann ein Mund-Nase-Schutz, wenn Mund und Nase bedeckt sind; ansonsten wäre es nur ein Mundschutz. Ich bin von den Schriftführerinnen und Schriftführern darauf hingewiesen worden – ich sehe das ja selbst –: Wenn hier 30 Kolleginnen und Kollegen im Saal herumlaufen, die nur ihren Mund bedecken, dann ist das Prinzip nicht eingehalten, dass wir eine Mund-Nase-Bedeckung tragen müssen. Also noch einmal der wirklich pädagogische Appell von mir, das wirklich zu beachten, sonst muss ich zu härteren Maßnahmen greifen. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Nikolas Löbel, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hampel, ich möchte ganz kurz darauf eingehen, was Sie gesagt haben und was Sie hier vorlegen; denn Ihre Rede und Ihr Antrag sind diametral verschieden. Es geht um Bergkarabach und wie wir dort nun den erzielten Waffenstillstand und Frieden sichern können. ({0}) Aber Sie haben einen Antrag vorgelegt, der sich rein mit der Türkei beschäftigt, der inhaltlich auf DITIB eingeht, der inhaltlich auf türkischstämmige Menschen, die in Deutschland leben, Menschen mit Migrationshintergrund, eingeht. ({1}) Und Sie sind wieder auf das Thema Flüchtlinge eingegangen. Nur ein kleiner Absatz von zwei Seiten Begründung Ihres Antrages dreht sich überhaupt um das eigentliche Thema Bergkarabach. Das Beste ist: Von acht Forderungen, die Sie aufstellen, geht keine einzige auf das Thema Friedenssicherung in Bergkarabach ein, sondern es sind alles nur grundsätzliche, aus dem Parteiprogramm abgeschriebene Forderungen. Das zeigt, dass sich dieser Antrag überhaupt nicht mit der Sache befasst, und deswegen müssen wir uns auch nicht weiter mit ihm befassen. ({2}) Wesentlich ist: Der Konflikt im Südkaukasus ist ein jahrhundertealter Konflikt, und leider ist er aktueller denn je. Der Krieg im Südkaukasus in den zurückliegenden sechs Wochen war ein Stück weit auch ein Armutszeugnis für die internationale Gemeinschaft, weil er in unvergleichlicher Weise gezeigt hat, wie Staaten, wie die Türkei, aber auch der Iran und vor allen Dingen Russland, unverhohlen geopolitische Interessen vertreten ({3}) und die NATO und die Europäische Union ohnmächtig zusehen müssen. Wir müssen feststellen, dass dieser Konflikt einmal mehr aufgezeigt hat, dass Diplomatie wichtig ist, aber dass Diplomatie auch verbunden sein muss mit Durchsetzungswillen und einem klaren Problemlösungsbewusstsein. ({4}) Wir müssen deutlich machen, dass Diplomatie immer der bessere Weg ist als militärische Konfliktbereitschaft. Militärische Konfliktbereitschaft darf nicht das erfolgversprechendere Mittel sein. Und das ist die traurige Bilanz dieses Krieges, dieses Konflikts – das bleibt –: Was wir in 27 Jahren internationaler Verhandlungsbemühungen nicht erreicht haben, wurde binnen sechs Wochen in Teilen erreicht. Das ist nicht gut für die Minsker Gruppe innerhalb der OSZE, es ist nicht gut für die internationale Gemeinschaft und die NATO. Das darf sich nicht wiederholen. Dennoch ist dauerhafter Frieden in den Regionen um Bergkarabach im Südkaukasus strategisches Interesse der Europäischen Union, ist auch unser Interesse hier in diesem Hause; denn wir pflegen enge kulturelle, enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Armenien und mit Aserbaidschan. Was uns auch deutlich werden muss, ist: Wir reden dort über einen sogenannten Frozen Conflict. Aber es ist eben kein Frozen Conflict, und wir haben gesehen, wie schnell aus einem Frozen Conflict ein ganz aktueller Krieg werden kann. Das Tragische daran ist, dass der jetzt gefundene Waffenstillstand eigentlich auf den Madrider Basisprinzipien basiert, die wir 2007 vereinbart haben. Aber seit 2007 ist eben viel zu wenig passiert. Jetzt können wir nicht mehr darüber reden. Der Status quo ist jetzt ein anderer, und wir werden hinter diesen Status quo auch nicht mehr zurückkommen. Deswegen müssen wir in die Zukunft blicken, deutlich machen: Armenien ist ein weltoffenes, christlich geprägtes Land. Aserbaidschan ist ein weltoffenes, muslimisch geprägtes Land. ({5}) Dort geht es um Glaubenspluralität, und um diese Glaubenspluralität muss es jetzt auch in den Regionen um Bergkarabach gehen. ({6}) Dort wollen und müssen Menschen jeder Herkunft – aus Armenien und aus Aserbaidschan, Flüchtlinge und Binnenvertriebene aus den beiden Ländern aus den letzten Jahrzehnten – künftig in ihrer alten Heimat eine neue Zukunft finden. Dazu braucht es Toleranz, Freiheit und stabile politische Rahmenbedingungen. Wir als Deutschland wollen und müssen uns dort aktiv einbringen. Es geht um die Sicherung von Kulturgütern, aber es muss auch um die dauerhafte Friedenssicherung gehen. Lassen Sie mich enden: Ich glaube, Russland war der Dealmaker. Aber die Europäische Union und die NATO müssen jetzt der Garant für dauerhaften Frieden in der Region werden. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns jetzt in den nächsten Jahren dort aktiv einbringen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Löbel. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Renata Alt, FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Wochen sagte Bundesaußenminister Maas zu Bergkarabach – ich zitiere –: Eine bessere Verhandlungsposition lässt sich nicht auf dem Schlachtfeld erringen. Herr Staatsminister Annen, ich glaube, die Präsidenten Alijew und Erdogan sehen das anders. Der Konflikt in Bergkarabach ist zwar immer noch nicht gelöst, aber es wurden militärisch Fakten geschaffen – wohlgemerkt: während Deutschland und die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft zugeschaut haben. ({0}) Deutschland hat die heiße Phase des Konflikts – anders kann man es nicht sagen – erfolgreich ausgesessen. Mit Ihrem Antrag rufen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, die Bundesregierung dazu auf, endlich zu handeln. Ihre Forderungen kommen aber verspätet und sind halbherzig und zaghaft. ({1}) Ja, es sind sinnvolle Maßnahmen in Ihrem Antrag enthalten. Er geht uns Freien Demokraten aber an vielen wichtigen Stellen nicht weit genug. Sie fordern, dass das Rote Kreuz Zugang zur Konfliktregion bekommen soll. Das kann man nur begrüßen. Aber warum fordern Sie nicht auch, dass der UNHCR, die UNESCO und andere Strukturen der Vereinten Nationen in und um Bergkarabach aktiv werden? Meine Damen und Herren, sogar Wladimir Putin und Sergej Lawrow plädieren für mehr internationale Hilfe in der Konfliktregion – das muss man sich einmal vorstellen! Mit Ihrem Antrag akzeptieren Sie, dass Deutschland und die EU nichts, aber wirklich gar nichts im Südkaukasus zu sagen haben. Die OSZE kann und sollte in diesem Konflikt eine größere Rolle spielen. Wir brauchen unbedingt eine OSZE-Beobachtermission. Wir brauchen internationale Experten, die das Einhalten des Waffenstillstands dauerhaft und genau überwachen. ({2}) In Ihrem Antrag keine Spur davon. Frau Dr. Hendricks, Sie sagen, Transformationsprozesse in Armenien müssten weiterhin unterstützt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armenien befindet sich in einer tiefen politischen Krise. Es braucht dringend humanitäre Hilfe. Die Chance, Reformprozesse in Armenien zu unterstützen, haben Sie längst verpasst. ({3}) Russland und die Türkei stellen im Südkaukasus die Weichen. Deutschland und die EU wurden zu Kommentatoren degradiert. ({4}) Lieber Herr Staatsminister, setzen Sie sich jetzt endlich für die Stabilisierung von Nagornij Karabach ein. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Alt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Wochen haben wir schon einmal im Plenum über den Krieg um Bergkarabach gesprochen. Immerhin gibt es jetzt einen Waffenstillstand, das heißt keine weiteren Toten, keine weiteren Verletzten, keine weiteren Zerstörungen, was an sich zu begrüßen ist. Aber Aserbaidschan hatte massiv aufgerüstet und unterstützt von der Türkei militärische Fakten geschaffen. Der völkerrechtswidrige Zustand um Bergkarabach durch Armenien wurde von Aserbaidschan und der Türkei wiederum auf völkerrechtswidrige Art und Weise mit einem Krieg, der Tausende Opfer gekostet hat, nahezu beendet. Es hat sich wieder mal das Recht des Stärkeren statt eines Interessenausgleichs und der Diplomatie durchgesetzt. Gewiss kann man Armenien vorwerfen, dass es eine politische Lösung des Konflikts verzögert hat, um den Status quo zu erhalten. Aber zu den Waffen griff Aserbaidschan; Material und Söldner dafür lieferte die Türkei. Die Bundesregierung hat dabei zugeschaut und die Türkei, einen NATO-Verbündeten, gewähren lassen. Außenminister Maas hat auf eine neutrale Haltung gesetzt, wo eine klare Ansage nötig gewesen wäre. ({0}) Die Bundesregierung muss auch gegenüber Verbündeten klare Kante zeigen, um endlich für ein wirksames Völkerrecht zu streiten. ({1}) Das Problem ist, dass das Völkerrecht von viel zu vielen missachtet wird. Aber am schlimmsten ist – das wollte ich noch sagen –, dass in den türkischen Kampfdrohnen, die Aserbaidschan auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzte, Bauteile verwendet wurden, die von deutschen Firmen hergestellt werden. Deutsche Rüstungsexporte werden damit erneut grundsätzlich infrage gestellt. ({2}) Immerhin spricht aus dem Antrag der Koalition nun ein schlechtes Gewissen, wenn auch Ihre Kritik an der Türkei immer noch eher zurückhaltend formuliert wird. ({3}) Dass Sie Russland und die Türkei hier auf eine Stufe stellen, ist irreal und zeigt den Grad Ihrer Voreingenommenheit. ({4}) Im Auswärtigen Ausschuss hat ein Staatssekretär aus dem Auswärtigen Amt die Türkei viel klarer verurteilt und Russland für die Vermittlung zum Waffenstillstand sogar gewürdigt. Schon wegen dieses Widerspruchs können wir Ihrem Antrag mit Sicherheit nicht zustimmen. ({5}) Russland hat mit dem Aushandeln einer Vereinbarung zwischen Armenien und Aserbaidschan etwas geschafft, zu dem sich weder die OSZE noch die EU oder gar die NATO in der Lage sahen. Dass es überhaupt noch Raum und nun fünf Jahre Zeit für Überlegungen zu einer langfristigen Friedenslösung um Bergkarabach gibt, verdanken wir auch Russland. ({6}) Sie wollen doch auch die langfristige und tragfähige Friedenslösung für Bergkarabach; sehr richtig. Das geht aber nur mit Russland als Partner und nicht als Gegner oder Konfliktpartei. ({7}) Und natürlich ist es höchste Zeit, dass sich Deutschland und die EU nicht mehr von der Türkei vorführen lassen. Waffenlieferungen an die Türkei müssen komplett gestoppt werden, und keine neuen Lieferungen dürfen mehr genehmigt werden. ({8}) Die sechs U-Boote sind völlig daneben, kann ich sagen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Gysi, kommen Sie zum Schluss.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wer friedliche Lösungen will, muss den Kriegswilligen die Waffen verwehren. Anders geht es nicht. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Dr. Gysi. – Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass nicht mehr geschossen wird. Aber Elemente von Krieg sind immer noch vorhanden, sie bleiben: Flucht, Angst, Vertreibung, Zerstörung, Feuer. Das wird meiner Ansicht nach im Antrag der Koalition nicht genügend gewürdigt. Diese Vereinbarung, dieser Waffenstillstand, ist eine gefährliche Vereinbarung. Sie verletzt die völkerrechtlichen Prinzipien des Gewaltverzichts. Sie missachtet das Prinzip der multilateralen Konfliktlösung als Mittel der Wahl für die Lösung sowohl kurz- wie langfristig. Sie verletzt das Prinzip der Aussöhnung als Grundlage für einen dauerhaften Frieden. Sie verletzt aber auch die Madrider Prinzipien, Herr Löbel, durch eine andere Beziehung in Bezug auf die vorherige autonome Region Bergkarabach. Und sie schützt neue Prinzipien, nämlich Revanchismus und Nationalismus, die einseitige Rückkehr von Vertriebenen von vor 23 Jahren, die Gewalt als Mittel der Politik in der Östlichen Partnerschaft und nicht zuletzt die Unterminierung der Reformpolitik in Armenien. Dieser Waffenstillstand ist gut, weil nicht mehr geschossen wird, aber insgesamt gefährlich und der falsche Weg für einen dauerhaften Frieden in der Region. ({0}) Was ist passiert? Die EU ist abgemeldet; Frau Alt hat es zutreffend dargestellt. Der Kreml hat Fakten geschaffen, wie Herr Gysi richtig dargestellt hat. Aber es gab einen Moment, wo auch die russische Regierung nicht in der Lage war, Zugriff auf beide Parteien zu haben. In diesem Moment hat Europa darauf verzichtet, selber tätig zu werden. ({1}) So ist Putin der wahre Sieger dieses Krieges. Die Steigerung des russischen Einflusses auf beiden Seiten des Konflikts ist das Resultat. Das ist schlecht für die europäischen Interessen. ({2}) Seien wir doch mal ehrlich: Können wir es wirklich zulassen, dass in der Östlichen Partnerschaft als Konkurrent Russlands nicht die EU, sondern die Türkei auftritt? Ist es unser Interesse, die Rolle der Konkurrenz zu russischen Großmachtinteressen im südlichen Kaukasus der Türkei zu überlassen? Oder ist es notwendig, dass auch wir dort im Sinne europäischer Souveränität aktiver werden? Verlierer sind die Menschen in der Region. Es droht in diesem Winter – das wurde richtig dargestellt – eine schwere humanitäre Notlage. Verlierer sind auf allen Seiten aber auch diejenigen, die für Versöhnung und Frieden eingetreten sind. Auf beiden Seiten sind jetzt die Nationalisten und die Hardliner tonangebend. Verlierer ist aber auch die Hoffnung auf Reform und Demokratie, vor allem in Armenien. Deswegen – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – möchte ich festhalten: Für die Bundesregierung muss jetzt gelten: Die Samtene Revolution in Armenien darf nicht umsonst gewesen sein! Dieser Frieden à la Putin darf nicht zum Ergebnis haben, dass die Hoffnung auf Demokratie zu beerdigen ist. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sarrazin. – Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem furchtbaren Krieg in Bergkarabach schweigen endlich die Waffen. Es sterben keine Menschen mehr in Kampfhandlungen, und humanitäre Hilfe ist endlich wieder möglich. Der Austausch der sterblichen Überreste von Gefallenen hat begonnen. Die Bilanz dieses Krieges, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erschütternd: mehrere Tausend Getötete auf beiden Seiten, Zehntausende von Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten, erschütternde Bilder von Begräbnissen von 18- und 19-jährigen Gefallenen. Barbara Hendricks hat auf diese Dramatik und auf diese Tragik hingewiesen. Die Berichte über mögliche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und mögliche Kriegsverbrechen sind einfach erschreckend. Armenien wie Aserbaidschan sind aufgerufen und ihnen obliegen Pflichten, humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte zu respektieren und zu schützen und mögliche Verstöße aufzuklären und zu ahnden. Dauerhafte, verhandelte und umfassende Konfliktbewältigung und ‑beilegung sind jetzt möglich. Armenien und Aserbaidschan sollten jetzt substanzielle Verhandlungen für friedliche und dauerhafte Lösungen des Konfliktes aufnehmen. Das Format für diese Verhandlungen bleibt die OSZE-Minsk-Gruppe; deren Co-Vorsitzenden haben das umfassende Mandat für die Beilegung des Konfliktes. Die Minsk-Gruppe sollte auch weiterhin im Prozess eine zentrale Rolle spielen. Russland ist aufgerufen, die Präsenz seines Militärs in der Region nicht zu politisieren. Die EU hat die Bereitschaft erklärt zur Stabilisierung, zum Wiederaufbau und dazu, vertrauensbildende Maßnahmen in der Region zu leisten, falls dies möglich ist. Ich bin überzeugt: Dauerhaft ist nur der Frieden, der von allen Beteiligten gewollt wird. Dafür müssen Menschen und Gesellschaften miteinander ins Gespräch kommen und letztlich erkennen, dass sie mehr verbindet als sie trennt. ({0}) Zugegeben, die Rhetorik, die wir aus den beiden Ländern in diesen Tagen vernehmen, ist zumeist schrill. Feindbilder werden gepflegt und wie schon seit Jahrzehnten weiter zugespitzt. Versöhnliche Stimmen sind eher selten. Ist da eigentlich eine Verständigung möglich zwischen Armenien und Aserbaidschan? Erinnern wir uns: Eine ähnliche Situation gab es bei uns in gar nicht so ferner Vergangenheit – schrille Rhetorik über Jahrzehnte, aufgebaute Feindbilder, nur selten versöhnliche Stimmen, drei Kriege gegeneinander in nicht einmal 80 Jahren. Ich spreche über die lange sogenannte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Heute sind Deutschland und Frankreich engste Partner in Europa, wirtschaftlich stark verbunden. Die Gesellschaften sind schon fast miteinander verwachsen. Die Feindbilder von einst sind für Menschen in Emden oder in Brest heute unvorstellbar. Die Menschen haben erkannt: Es gibt mehr Verbindendes als Trennendes, und nur die Friedensperspektive ist eine lohnende für sie. Die deutsch-französische Aussöhnung brauchte mutige Initiativen, und das Zusammenwachsen der Zivilgesellschaften musste durch Begegnungen und durch gemeinsame Projekte erfolgen. Die Menschen müssen diesen Weg gemeinsam gehen. Wir in Ostfriesland können nur sagen: Wi könen de Patt wiesen, man gahn moten se hüm sülvst. Es liegt an den Zivilgesellschaften, hier zu zeigen, dass ein Weg der friedlichen Zusammenarbeit möglich ist. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Saathoff, achten Sie bitte auf die Zeit, und kommen Sie zum Schluss.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Oh, Herr Kubicki hat sich aber verändert. – Guten Tag, Frau Präsidentin! Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen und Frau Präsidentin, es ist ein dickes Brett, das zu bohren Jahrzehnte dauern kann, aber es bleibt richtig, dieses Brett zu bohren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? Dann bitte ich, dies jetzt zu tun. – Ich lasse während des nächsten Redebeitrags noch die Möglichkeit zu, dies nachzuholen, und dann schließe ich die Abstimmung. Das Wort hat der Kollege Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Konflikt in Bergkarabach hat eine lange Geschichte und hat schon viele Menschenleben gefordert, viele Existenzgrundlagen vernichtet und viele Kulturgüter zerstört. In Bergkarabach kämpfen überwiegend muslimische Aseris gegen überwiegend christliche Armenier, verstärkt durch Söldner aus Syrien – Söldner, keine Dschihadisten –, im Dienste der Türkei und Aserbaidschans. Ist das nun ein Religionskrieg? Auch wenn man das zunächst meinen könnte, würde ich nicht von einem Religionskrieg sprechen. Der Konflikt hat aber starke religiöse Komponenten, und mit jedem Tag spielen religiöse Gefühle und Symbole eine stärkere Rolle. Ich habe Bilder vor Augen von einer Moschee, die zum Schweinestall umgenutzt wurde, oder Bilder der Kathedrale von Schuscha – „Schuscha“ ist der aserbaidschanische Name, „Schuschi“ der armenische Name –, die stark zerstört und aktuell von Vandalen mit Graffiti verschmiert wurde, oder auch die Kirche Johannes des Täufers, Kanatsch Scham. Diese Kirche hat eigentlich zwei Kirchtürme. Auf aktuellen Bildern sind die beiden Kirchtürme weg, und sie sind sicherlich nicht wegretuschiert worden. Es geht um Land, um Interessen, um Einfluss und Macht, so wie in vielen anderen Konflikten auch. Das Problem: Der Konflikt verläuft entlang ethnischer und religiöser Gruppen. Er trifft ganz besonders die armenischen Christen, und es besteht die Gefahr, dass es wieder eine Vertreibung von Christen gibt, wie es so viele Vertreibungen zum Beispiel im Nahen und im Mittleren Osten gibt. Dabei leben die christlichen Armenier schon seit Jahrhunderten in Bergkarabach und dem Umfeld. Karabach ist seit dem 4. Jahrhundert ein Zentrum des Christentums; aber auch die Aseris haben dort schon jahrhundertelang ihre Weidegründe. Mir ist eines ganz wichtig: Religion ist zwar nicht die Ursache für den Konflikt, aber sie darf auch nicht zum Verstärker und Brandbeschleuniger werden. In Aserbaidschan herrscht im regionalen Vergleich ein bemerkenswertes Maß an Religionsfreiheit. Diese Religionsfreiheit gilt aber nur sehr eingeschränkt für die Armenisch-Apostolische Kirche. Deshalb müssen wir darauf achten, dass der Konflikt nicht weiter religiös aufgeheizt wird. Wir müssen verhindern, dass ethnische oder religiöse Säuberungen stattfinden, und wir müssen auch das Potenzial der Religionen für das friedliche Miteinander erkennen und nutzen. Es muss zudem eine schnelle Rückkehr der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen geben, auf der Grundlage der Madrider Prinzipien, sonst verfestigen sich Flucht und Vertreibung. Die armenischen christlichen Kirchen, Klöster und Kunstschätze, aber auch die Moscheen müssen geschützt und wiederhergerichtet werden. Die religiöse Vielfalt, gerade an dieser Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, muss bestehen bleiben. Armenier und Aseris können friedlich miteinander leben; das zeigt die Situation in Georgien. Aber auch dort besteht die Gefahr, dass die Spannungen überspringen, gerade in Gegenden, die gemischt bewohnt werden. Der Waffenstillstand ist jetzt ein erster wichtiger Schritt, aber wie geht es weiter? Die USA und Frankreich als Co-Vorsitzende der Minsk-Gruppe waren in den letzten Monaten viel zu sehr mit sich selber beschäftigt. Das muss sich ändern. Aber auch die Europäische Union und damit Deutschland müssen sich stärker einbringen. Ich will nicht, dass wir Ländern wie Russland oder der Türkei, die die Freiheitsrechte und die Demokratie schwächen, die Lösung allein überlassen. Unsere Rolle ist auch nicht, nur mit Geld die Schäden zu beseitigen, die andere angerichtet haben. Sicherlich werden hier für eine dauerhaft friedvolle Lösung alle Seiten Zugeständnisse machen müssen. Ich werbe eindringlich um eine breite Zustimmung zu unserem Antrag, zum Antrag der Koalition. Vielen Dank. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es schweigen die Waffen, aber die Bilder der letzten Tage sind bedrückend: Armenier, die ihre Häuser verbrannten, damit sie nicht in die Hände der Aseris fallen, zerbombte Kirchen, Klöster und Moscheen, und zuletzt leider auch Soldaten, die im Freudentaumel Kirchen schändeten. Lassen Sie mich das hier klar und deutlich sagen: Das fördert Hass und provoziert Rachegelüste. Das ist der Stoff, aus dem die nächsten Kriege entstehen. So ist kein Frieden in der Region möglich. ({0}) Deshalb die klare Botschaft: Dieses Vergehen an Religions- und Kulturschätzen muss gestoppt werden! ({1}) Wir müssen uns im Klaren sein, dass andere Fakten schufen, während wir hier debattierten. Vor einem Monat haben wir in einer Aktuellen Stunde den Krieg verurteilt und die Parteien zur Mäßigung aufgerufen. Das war und bleibt richtig. Aber wir müssen auch zu einem Punkt kommen, wo wir in Europa weniger reaktiv unterwegs sind, sondern proaktiv agieren. Kein Frozen Conflict wird ewig halten. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir als Europäer genug Gewicht in der Region haben, um nicht nur zu appellieren, sondern auch entschiedener zu wirken. Meine Damen und Herren, Deutschland und Europa müssen jetzt noch mehr als in der Vergangenheit dafür tun, um Wege zu einer dauerhaften und friedlichen Lösung der Bergkarabach-Frage zu finden – die Madrider Prinzipien sind hier weiterhin die Grundlage –, und die Türkei muss ihr Zündeln in der Region lassen. Das muss klar sein. Und lassen Sie mich hier abschließend noch eines unterstreichen: Für den langfristigen Frieden wird ein rein politisches Abkommen alleine nicht ausreichen. Wir müssen vor allem darauf hinwirken, dass Frieden auch zwischen den beiden Zivilgesellschaften entstehen kann. Auch die Vorstellung, dass es nur rein ethnische Nationalstaaten im Kaukasus gibt, ist abwegig. Ein friedliches Zusammenleben muss möglich sein. Dieses Bewusstsein muss auch in den Diasporagemeinden gestärkt werden. Deutschland muss in diesem Aussöhnungsprozess einen größeren Beitrag leisten. Wir haben ein starkes Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die hier wirken können. Wir wollen uns für Frieden in der Region einsetzen. Unterstützen Sie deshalb bitte unseren Antrag. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man müsste es hier eigentlich denkbar kurz machen, weil die Tatsache, dass wir uns heute überhaupt noch einmal mit der Frage der Ratifizierung des Übereinkommens über ein einheitliches europäisches Patentgericht durch Deutschland befassen, einzig und allein dem Umstand geschuldet ist, dass die AfD hier ein Schauspiel veranstaltet hat, was leider vor dem Bundesverfassungsgericht Gehör finden musste, weil wir bei der Verabschiedung die rein zähltechnische Mehrheit hier nicht hatten. ({0}) – Nein, das tue ich überhaupt nicht. Ich verhöhne es überhaupt nicht. Ich finde es heftig, wie Sie das Verfassungsgericht für Ihre Zwecke missbrauchen. Das will ich an dieser Stelle erwähnt haben. ({1}) Das Ganze passiert nur, weil Sie eben die Gunst der Stunde genutzt haben, dass damals in der Nacht nur wenige an der Abstimmung teilgenommen haben. ({2}) Wir behandeln eben manchmal auch nachts Tagesordnungspunkte; das ist nun mal so bei vielen Fraktionen und vielen Anträgen. Wir versuchen das ja auch schon über die Woche zu strecken. Aber es ist nun mal so, dass es manchmal auch nachts Tagesordnungspunkte mit Abstimmungen gibt. Zudem ist es ein Ratifizierungs-, ein Zustimmungsgesetz gewesen, an dem wir auch nicht groß etwas ändern konnten, weil es einfach ein zustimmendes Votum des Deutschen Bundestages brauchte, um das Einheitliche Patentgericht in Kraft zu setzen. Aber Sie haben dann mal eben durchgezählt, gesehen: „Ups, das könnte passen, dass die Zweidrittelmehrheit nicht zustande kommt“, und dann haben Sie einfach die Gunst der Stunde genutzt und das Verfassungsgericht bemüht, was natürlich dann rechtmäßigerweise entscheiden muss und durchzählen musste, und dann lief das so, wie Sie das geplant haben. Aber Sie haben das Verfassungsgericht insofern missbraucht, als ja die gegebene Mehrheit in den Fraktionen, in den Zustimmungswerten sehr wohl da war, und das wussten Sie auch die ganze Zeit. Aber Sie haben das trotzdem so gewählt, und das Verfassungsgericht musste dem dann eben so auch entsprechen, weil es eben zähltechnisch so war, wie Sie das erzielen wollten. Insofern müssen wir heute formal die Zustimmungswerte, die im Plenum mit den Fraktionen gegeben waren, jetzt noch einmal abgeben. ({3}) Diese Zweidrittelmehrheit wird natürlich heute erreicht werden. Wir werden ja auch eine namentliche Abstimmung darüber haben. Insofern wird das heute ratifiziert werden. Es ist eine Blamage, die Sie damit uns zuschreiben wollen. ({4}) Das ist keine praktische Niederlage, die wir eingeheimst haben. Sie wollen uns das zuschreiben. Insofern ist es peinlich, weil es letztendlich jetzt allein an Deutschland hängt, dass das europäische Patentgericht noch nicht eingesetzt werden konnte. ({5}) Und Sie haben auch nur Häme und höhnisches Lachen übrig. Das merke ich jetzt auch wieder an der Debatte. Diese Kommentare, die jetzt kommen, sind einfach nur peinlich. ({6}) Tatsache ist, dass es aufgrund der vielen Patente, die es in Deutschland gibt, jetzt auf die deutsche Zustimmung und Ratifizierung ankommt. Mindestens 13 Staaten müssen ratifiziert haben. Unter diesen 13 Staaten müssen eben auch jene sein, die besonders viele Patente haben. Deswegen: Wenn Deutschland seine Stimme jetzt nicht abgibt, dann können wir das nicht ratifizieren. Es bedeutet eine Erleichterung, ein Patentgericht zu haben. Erst einmal ersetzt ein europäisches Patentgericht nicht die deutschen Patentgerichte, sondern schafft eine Bündelung für die europäischen Patente, die sonst eine Summe aus verschiedenen Patenten sein müssten. Mit dieser Institution ist eine europäische Patentierbarkeit möglich, die dann übrigens mit einem Standort in Deutschland für diejenigen leicht erreichbar sein wird, die sich an dieses Gericht wenden wollen. Insofern möchte ich jetzt hierauf auch nicht weitere Worte verwenden, ({7}) weil wir im Bundestag damit durch waren. Wir haben es schon längst ratifiziert. Wir formalisieren diesen Schritt jetzt auch noch mit der heutigen Abstimmung. Und Sie können weiter brüllen, Sie können uns weiter beschädigen und Deutschland mit Ihrer Manier beschädigen, ({8}) etwas anzukreiden und das Verfassungsgericht zu bemühen. Lassen Sie sich davon nicht abbringen, wenn Sie das nötig haben. Das ist ein schlechter Politikstil. Ich hoffe, dass die Wählerinnen und Wähler das auch bald merken werden, die Ihnen bisher die Treue geschworen haben. ({9}) Ich finde es nur noch peinlich und hoffe auf eine breite Zweidrittelmehrheit und darüber hinausgehende Stimmen. Die Ankündigungen aus dem Ausschuss lassen das hoffen. Vielen Dank. ({10})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Also, Frau Kollegin Dr. Scheer, jetzt haben Sie mich wirklich sehr überrascht; denn zu viel der Ehre: Das waren nicht wir. Wir haben uns nicht an das Verfassungsgericht gewandt. Das war eine Verfassungsbeschwerde. Als das Gesetz beschlossen wurde, mit dem zum ersten Mal ratifiziert wurde, waren wir noch gar nicht im Bundestag. Ganz im Gegenteil: Bei der letzten Debatte über die Ratifizierung hatten wir beantragt, das Gesetz aufzuheben, mit dem Sie ratifiziert haben, um dem Bundestag diese Blamage zu ersparen, die dann eingetreten ist. ({0}) Sie haben es ganz allein zu verantworten, dass es dazu gekommen ist. Hätten Sie auf uns gehört, wäre das alles glimpflicher abgelaufen. ({1}) Nun sollte man meinen: Aus Schaden wird man klug. Hier geschieht dies aber scheinbar nicht. Unbeirrt wird fortgefahren. Bisher gab es zu dieser Sache noch keine Anhörung im Rechtsausschuss. Wir machen im Rechtsausschuss alle möglichen Anhörungen, zum Beispiel über das – wie heißt das? – Containern von Lebensmitteln, aber nicht über hochkomplexe Fragen wie diese. Seit Beginn des Projektes „Europäisches Patentgericht“ werden in der Literatur erhebliche Angriffe dagegen geführt: unionsrechtliche Unverträglichkeit, Verfassungswidrigkeit; es soll völlig überflüssig sein, so heißt es, mittelstandsfeindlich. All diese Angriffe von ernstzunehmenden Leuten hätte man sich im Rechtsausschuss doch wohl mal anhören müssen, um eine informierte Entscheidung zu treffen. ({2}) Das ist nicht geschehen. Noch letzten Mittwoch haben alle Fraktionen unseren Antrag im Rechtsausschuss auf Durchführung einer Sachverständigenanhörung abgelehnt. Hinzu kommt, dass wir durch den Brexit eine völlig neue Sachlage haben. Nach bisheriger Übung gab es nach meiner Information zwei Länder, deren Gerichte so etwas wie die Leitfunktion für alle anderen hatten: Das waren deutsche und englische Patentgerichte. Nun sind die Engländer durch den Brexit weg; jetzt sind also die deutschen Gerichte übrig, die eine Leitfunktion einnehmen könnten. Wo ist das Problem? Weswegen muss man da noch ein europäisches Gericht einrichten? Aber selbst wenn man Gründe sucht und findet, das zu machen, dann gibt es noch ein nächstes Problem, das aus dem Brexit folgt: Ein Sitz dieses Patentgerichts sollte ja in Großbritannien sein. Das ist weggefallen. Jetzt ist ein deutsches Interesse, ihn nach München zu holen; aber es gibt keinerlei Vereinbarungen, das ist längst nicht in Sack und Tüten. Und jetzt wollen wir hier ratifizieren und damit den einzigen Trumpf, den wir noch in der Hand haben, um das Ding sicher nach München zu holen, aus der Hand geben. Weiß das der Söder Markus, wie hier mit bayerischen Interessen umgegangen wird? Ich denke mal, bayerische Abgeordnete täten jetzt gut daran, diesem Gesetz heute nicht zuzustimmen. ({3}) Dann hätte die Bundesregierung nämlich noch die Chance, das zu reparieren. Wir werden nicht zustimmen. Den anderen wünsche ich einen fröhlichen Ritt über den Bodensee – Augen zu und durch, wie Sie es gerne machen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Ingmar Jung das Wort. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir ratifizieren heute hoffentlich mit Zweidrittelmehrheit das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht. Das Übereinkommen ist 2013 geschlossen worden. Tatsächlich ist es hier bereits einmal ratifiziert worden. Ich war damals noch nicht im Bundestag; ich glaube aber, es war sogar einstimmig. Das Bundesverfassungsgericht hat nun im Februar dieses Jahres die Auffassung vertreten, dass es dann, wenn man Rechtssprechungskompetenzen an ein supranationales Gericht abgibt und damit auch gewisse Kompetenzen deutschen Gerichten entzieht, zwar keine formelle Verfassungsänderung ist, weshalb das formelle Verfassungsänderungsverfahren nicht durchgeführt werden muss, aber die entsprechenden Mehrheiten gleichwohl da sein müssen, also eine klar festgestellte Zweidrittelmehrheit. Die war damals nicht erreicht. Es ist natürlich in Ordnung, dass das vor einem Gericht überprüft wird. ({0}) Das ist das Recht eines jeden. Es ist auch in Ordnung, dass das Bundesverfassungsgericht es so entschieden hat. Aber es ist genauso in Ordnung, dass man richtige Verfahren dann noch mal durchführt und wir heute die Ratifizierung vornehmen, meine Damen und Herren. ({1}) Vielleicht sprechen wir doch auch mal über den Inhalt: Warum ist das Übereinkommen eigentlich so wichtig? Wie war denn die Situation in den letzten Jahren und Jahrzehnten? Letztlich ist es ja ein ganz langer Prozess der europäischen Patentreform, den wir heute zumindest in einem Abschnitt hoffentlich abschließen; denn in Kraft treten kann das Übereinkommen in der Tat nur mit einer Ratifizierung durch Deutschland. Denken wir in die Zeit vor 1977 zurück: Da war es so, dass es im Patentrecht in Europa überhaupt keine Vereinheitlichung gab. Wenn Sie dann eine Erfindung zum Patent anmelden wollten, zum Beispiel in fünf Staaten, dann mussten Sie fünf Anmeldeverfahren durchlaufen, möglicherweise in fünf Sprachen die Anmeldung verfassen, fünf unterschiedliche Voraussetzungen erfüllen. Wenn Sie Glück hatten, haben Sie dann fünf Patente bekommen. Wenn Sie die Patente gegen einen Wettbewerber durchsetzen wollten, hatten Sie fünf verschiedene Verletzungsverfahren, und wenn Sie sie verteidigen wollten, fünf Nichtigkeitsverfahren. Das war in einem zusammenrückenden Europa nicht besonders effizient, wie man sich vorstellen kann. Deswegen gibt es seit 1977 das Europäische Patentamt mit seinem Hauptsitz in München. Seitdem haben Sie die Möglichkeit, bei einem Amt mit einem Anmeldevorgang ein Patent für ganz Europa oder für die Mitgliedstaaten, in denen Sie es beantragen wollen, zu beantragen und dann auch zu erwerben. Das ist auf der Anmeldeseite ein großer Schritt nach vorne gewesen; aber es hat auch einen weiteren Effekt: Die Situation ist dann nämlich so, dass dieses Patent, wenn Sie es denn bekommen, in dem Moment, in dem Sie es bekommen, unmittelbar wieder in ein sogenanntes Bündelpatent zerfällt und Sie somit, wenn Sie es in zehn Staaten angemeldet haben, zehn nationale Einzelpatente haben. Das wäre an sich nicht so schlimm. Das Problem ist: In einem zusammenrückenden Binnenmarkt oder in einem vollendeten Binnenmarkt, wie wir ihn eigentlich heute haben, haben Sie dann auch in dem Fall, dass ein Wettbewerber auf den Plan tritt, wenn Sie es durchsetzen wollen, zehn Verletzungsverfahren vor zehn nationalen Gerichten und zur Verteidigung zehn Nichtigkeitsverfahren. Und wenn dann das Ergebnis ist – das kann bei unterschiedlichen Rechtsordnungen rauskommen –, dass Sie fünfmal gewinnen, dreimal verlieren, sich zweimal vergleichen, haben Sie einen Flickenteppich innerhalb des europäischen Binnenmarkts, der Forschung und Innovation nicht fördern kann und nachteilig ist. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es gut, dass wir heute eine neue Regelung treffen. Sie haben, wenn es heute funktioniert, in Zukunft die Möglichkeit, weiterhin nationale Patente zu beantragen, Sie können auch weiterhin ein Bündelpatent beantragen, aber Sie haben zusätzlich die Möglichkeit, ein europäisches Einheitspatent zu beantragen – bei einem Amt, mit einem Anmeldevorgang und vor allen Dingen mit einem Verfahren zur Verteidigung und zur Durchsetzung, und dann mit Geltung in allen Mitgliedstaaten, für die Sie das beantragt haben. Dass das Vorteile hat, meine Damen und Herren, das liegt doch nun wirklich auf der Hand. Letztlich ist es der nächste Schritt zur Vollendung oder zur Weiterentwicklung eines europäischen Binnenmarkts für Forschung und Innovation, und es stärkt doch unsere Wettbewerbsfähigkeit. Stellen Sie sich das Start-up in Deutschland vor, das eine Idee hat, das eine Innovation hat, das diese zum Patent anmelden will, und einen Investor sucht. Der Investor kann sich aussuchen, ob er in den USA, in Asien oder aber in Deutschland investiert. Und wenn das junge Start-up mit einer guten Idee ihm dann erklärt: „Pass auf, wir haben so fünf, sechs, sieben, acht, zehn Länder um uns herum, in denen wir das Patent anmelden wollen; wir können dir aber nicht sagen, ob wir am Ende in fünf gewinnen, in drei gegen den Wettbewerber verlieren, den wir möglicherweise schon kennen, und uns noch dreimal vergleichen“, dann ist das doch nicht attraktiv. Wenn wir hier dauernd alle gemeinsam erzählen, dass Innovation und Forschung die Stärken Deutschlands sind, wenn wir die entsprechenden Gelder, die Förderungen erhöhen, dann müssen wir doch, verdammt noch mal, in einem zusammenrückenden Binnenmarkt denen, die die Erfindungen machen und die Forschung voranbringen, die Möglichkeit geben, ihre Erfindungen wirksam innerhalb dieses Binnenmarktes zu schützen, und zwar einheitlich. Deswegen ist es ein großer Schritt nach vorne, wenn wir heute diese Ratifizierung vornehmen, meine Damen und Herren. ({2}) – Ich muss mal Luft holen. Der Vortrag war etwas länger. Das kann man natürlich am Ende anders sehen – etwa so, wie wir es tatsächlich auch schon einmal diskutiert haben –; aber ich glaube, dass dieses Übereinkommen nur von Vorteil sein kann, meine Damen und Herren. Wenn wir am Ende in der Welt konkurrenzfähig bleiben wollen, wenn wir voll im Wettbewerb bleiben wollen, dann muss doch unser Binnenmarkt einheitliche Regeln und einheitlichen Schutz bei Erfindungen bieten. Ich bin der festen Überzeugung, meine Damen und Herren, dass am Ende der Forschungs- und Innovationsstandort Europa davon profitiert, insbesondere der Innovationsstandort des größten Mitgliedstaats mit starken Innovationen, und das ist Deutschland. Wenn man es anders sieht, kann man populistisch das Lied des Protektionismus singen, wie wir es beim letzten Mal gehört haben. Ich glaube aber, es ist besser, wir verabschieden jetzt das Übereinkommen und machen den nächsten Schritt im europäischen Patentrecht. Ich wäre dankbar, wenn am Ende mindestens zwei Drittel zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Roman Müller-Böhm das Wort. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute hier beraten, ist nicht neu. Ganz im Gegenteil: Bereits seit den 60er-Jahren wird eine Reform im europäischen Patentsystem angestrebt. Es gab – das wurde vorhin bereits gesagt – am 10. März 2017 wirklich einen einstimmigen Beschluss der damals hier vertretenen Fraktionen. Allerdings nahmen zu dem Zeitpunkt nur 38 Abgeordnete an der Sitzung teil. Das Bundesverfassungsgericht machte jüngst – im Februar – mit seinem Urteil sehr deutlich, dass die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Artikel 23 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 2 Grundgesetz in der Form der Zustimmung einer Zweitdrittelmehrheit des Deutschen Bundestages bedurft hätte. Insofern ist ein Formfehler unterlaufen. Der muss heute behoben werden, und das ist auch gut so. Wenn ich mir heute die Reihen hier anschaue, dann stelle ich erfreut fest, dass es ein großes inhaltliches Interesse an diesem Thema gibt. ({0}) Deswegen mache ich mir auch keine Sorgen, dass wir heute ein Problem mit der Zweidrittelmehrheit bekommen werden. Es wurde ja bereits gesagt, dass sich am Inhalt des Gesetzentwurfs bis auf ein paar Feinheiten und Aktualisierungen nichts geändert hat. Deshalb möchte ich noch mal unterstreichen, warum es richtig ist, heute zuzustimmen. Das neu zu schaffende Einheitliche Patentgericht soll für die Verletzung und Rechtsgültigkeit von europäischen Patenten in einem einheitlichen Verfahren zuständig sein. Derzeit ist es so – das wurde bereits gesagt –, dass oftmals die nationalen Gerichte und Behörden über die Verletzung und Rechtsgültigkeit von europäischen Patenten entscheiden. Das kann in der Praxis zu den genannten Problemen führen, beispielsweise zu einer unterschiedlichen Rechtsprechung in den einzelnen Mitgliedstaaten, und dazu, dass alle an den Verfahren beteiligten Akteure enorm hohe Kosten haben, weil in vielen Ländern die gleiche Klage erhoben werden muss. Das führt darüber hinaus zu dem Problem des sogenannten Forum Shoppings. Das heißt, es wird sich oftmals das Land für die Klageerhebung ausgesucht, in dem die Situation für die eigenen taktischen Interessen vermeintlich am besten ist. Insofern dient das Einheitliche Patentgericht also auch der Rechtsharmonisierung, und das ist ganz im Sinne des europäischen Gedankens. Das ist aber nicht nur abstrakt generell gut, sondern auch gut für Deutschland; denn im europäischen Vergleich ist Deutschland – Stand 2019 – Spitzenreiter mit gut 26 000 europäischen Patenten. Das heißt, man kann sagen, dass wir hier nicht nur etwas für die Europäische Union und den fairen Wettbewerb tun, sondern durchaus auch für Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen sorgen, und das ist gut. Patente und ihr Schutz sind ein wichtiger ökonomischer Faktor und Grundlage für eine innovative und prosperierende Gesellschaft. Daher stimmen wir Freien Demokraten dem Gesetzentwurf heute zu. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die Vorlage der Bundesregierung zu einem Gesetz zum Übereinkommen vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches Patentgericht. Der gesetzliche Handlungsbedarf ist gegeben, da beim letzten Mal die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag ignoriert wurde und das Bundesverfassungsgericht das Gesetz folgerichtig kassierte. Vorab gesagt: Meine Fraktion wird hier zustimmen. Das Projekt, den Patentschutz in der Europäischen Union zu vereinheitlichen, ist wirtschafts- und rechtspolitisch sinnvoll. Als Linke würden wir uns allerdings wünschen, dass Sie auch in Fragen der humanitären europäischen Asylpolitik und bei gemeinsamen Steuerfragen zur Vermeidung der Steuerflucht von Großkonzernen mal zu brauchbaren Ergebnissen kommen würden. ({0}) Nun einige kritische Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Seit 2013 ist in der EU einiges passiert. Durch den Brexit fällt mit dem Vereinigten Königreich ein für den Bereich des Patentwesens maßgebliches Land aus der EU heraus. Die Europäische Union ist auch darüber hinaus mal wieder zerstritten. Ich frage mich daher, ob die Bundesregierung wirklich gewährleisten kann, dass die angestrebte Harmonisierung auch realisiert wird. Es wäre jedenfalls ärgerlich, wenn das Thema mangels ausreichender Sondierungen mit den anderen Mitgliedstaaten sogar ein drittes Mal hier im Bundestag landen würde. Gerade der Wegfall der Abteilung des Patentgerichts am Standort London dürfte bei den anderen Mitgliedstaaten Diskussionsbedarf wecken. Wenn die Bundesregierung hierüber Kenntnisse haben sollte, die geeignet sind, diese Bedenken zu zerstreuen, hätte sie diese im Gesetzentwurf auch nennen sollen, um uns hier im Parlament vollständig zu informieren. ({1}) Ich habe natürlich Verständnis, dass die Bundesregierung dieses große Projekt noch in dieser Wahlperiode abschließen will, und will nicht abstreiten, dass das in der Sache sinnvoll ist. Der mühsame Prozess der Validierung eines Patents in jedem Mitgliedstaat ist längst nicht mehr haltbar. Dass die dadurch entstehenden Lücken im Patentschutz möglicherweise durch private Schiedsgerichte gefüllt werden, kann auch niemand wollen. ({2}) Weiterhin möchte ich zu bedenken geben, dass die in der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht erhobenen materiellrechtlichen Einwände aufgrund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in diesen Fragen bisher nicht gewürdigt wurden. Ich persönlich habe hier zwar keine großen Bedenken, hätte mir aber von der Bundesregierung durchaus gewünscht, dass sie auf diese Einwände in der Begründung des Gesetzentwurfs näher eingeht. ({3}) Meine Fraktion wird diesem Gesetzentwurf trotz der Tatsache, dass hier und da offenbar mit heißer Nadel gestrickt wurde, zustimmen. Wir sind davon überzeugt, dass es einen vernünftig geregelten Patentschutz, der gleichzeitig auch Kreativität fördert, braucht. Nun ist allerdings die Bundesregierung gefordert, aus der Zweitdrittelmehrheit auch inhaltlich etwas zu machen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir das Einheitliche Patentgericht heute verfassungskonform auf den Weg bringen. Es ist wertvolle Zeit verstrichen, wertvolle Zeit, die besser genutzt worden wäre, Europa als Technologiestandort zu stärken; denn nur damit sind wir wettbewerbsfähig gegenüber den aufstrebenden Regionen Asiens und Technologienationen wie den USA. Deshalb ist das Einheitliche Patentgericht wichtig und muss endlich kommen. ({0}) Warum ist es wichtig? Mit dem europäischen Einheitlichen Patentgericht kann nun auch der Patentschutz in allen teilnehmenden Staaten geltend gemacht werden. Das schafft mehr Rechtssicherheit und erspart Rechteinhabern einiges an Aufwand und vor allen Dingen auch an Geld; denn wenn beispielsweise ein Patent nach geltendem Recht in mehreren Ländern mit Nichtigkeitsklagen überzogen wird, birgt das aufgrund der verschiedenen Gerichtsbarkeiten ein hohes Prozessrisiko und kann sehr teuer werden. Damit der europäische Patentschutz seine Wirkung entfaltet und gegen Patentverletzer durchgesetzt werden kann, muss das Patent im Anschluss an die Erteilung noch validiert werden. Die neuen Regelungen stellen sicher, dass das in den Vertragsstaaten nicht mehr einzeln erfolgen muss. Zukünftig können alle erforderlichen Schritte in einem einheitlichen Verfahren erledigt werden, vom Einreichen von Übersetzungen bis hin zum Bestellen von Vertretern. Trotz etwas höherer Kosten rechnet sich das am Ende, nämlich sobald ein Patentschutz in zwei oder drei Ländern angestrebt wird. Und es führt zu höherer Rechtssicherheit. Davon profitieren gerade die kleinen und mittleren Unternehmen. Mit dem Übereinkommen werden also entscheidende Weichen für die fortschreitende europäische Integration und den gemeinsamen Binnenmarkt gestellt. Mit der heutigen Zustimmung stärkt der Bundestag die multilaterale Zusammenarbeit und beendet ein weiteres Stück nationaler Kleinstaaterei, die auf Kosten der Rechtssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit von erfolgreichen Unternehmen und erfolgreichen Forscherinnen und Forschern geht. ({1}) Gerade für die deutsche Wirtschaft bietet das europäische Einheitspatent große Vorteile. Warum die AfD genau das verhindern will, ist mir unbegreiflich. Schließlich kommen 40 Prozent der Patentanmelder aus Deutschland. Sie sind also nicht nur europafeindlich, sondern auch noch deutschlandfeindlich. ({2}) Mit dem Rückzug Großbritanniens hat sich die Ausgangslage für das Übereinkommen verändert; das ist richtig. London fällt als Standort weg. Daher müssen wir die damit verbundenen Problemstellungen angehen, wie übrigens auch weiter gehende Fragestellungen, zum Beispiel zu Software im Patentrecht. 16 Staaten haben das Übereinkommen bereits ratifiziert. Jetzt fehlt nur noch Deutschland. Wir Grüne sagen daher Ja zu mehr Europa. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Das europäische Einheitliche Patentgericht hat jetzt schon eine bewegte Historie hinter sich, obwohl das Gericht noch gar nicht errichtet ist. Deutschland hat das Übereinkommen darüber schon 2013 unterzeichnet. Das Vertragsgesetz zu dem Übereinkommen und dem Protokoll ist 2017 in diesem Haus schon einmal beschlossen worden. Heute brauchen wir – so hat es uns das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben – eine Zweidrittelmehrheit, um es wirksam zu beschließen. Ich will ein paar Sätze über die Ausformung des Gerichts sagen, weil das gerade im Hinblick auf die Darstellung vom Kollegen Reusch wichtig erscheint. Geplant ist eine internationale Institution, die ihren Sitz in Luxemburg hat. Es wird drei Bestandteile geben: ein Gericht erster Instanz, ein Berufungsgericht und eine Kanzlei. Bei der Frage, wo was liegen soll, wird es, Herr Reusch, für Deutschland schon interessant, weil eine Abteilung der Zentralkammer beim Gericht der ersten Instanz sehr wohl nach München kommt. Dann gibt es auch beim Gericht erster Instanz Lokalkammern, die nach Düsseldorf, nach Hamburg, nach Mannheim und noch mal nach München kommen. Deswegen kann ich Ihnen versichern: Der Söder Markus kommt damit sehr gut zurecht und ist heute auch froh, wenn wir das mit Zweidrittelmehrheit beschließen. ({0}) Die Zielsetzung, die dahintersteckt – auch das ist angeklungen; man muss sich das mal vorstellen –, gibt es schon seit den 1960er-Jahren. Damals war schon klar, dass der Wirtschaftsstandort Europa nur dann für Unternehmen attraktiv wird, wenn er bei vielen Fragestellungen zusammenwächst. Es geht um bessere Rahmenbedingungen für innovative Unternehmen. Wir brauchen ein flächendeckendes einheitliches System des Patentschutzes in der Europäischen Union, und das vor allem in einem Verfahren, das kostengünstig ist, das effizient ist und das möglichst zügig funktioniert. Deswegen muss man sagen, dass das, was wir heute beschließen, ein wesentlicher Bestandteil nicht nur für den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern vor allem für den Wirtschaftsstandort Europa ist. An der Stelle möchte ich schon etwas zur globalen Situation von Freihandel und Welthandel sagen, weil man ehrlicherweise sagen muss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Seit Mitte November ist im Bereich „Welthandel und Freihandel“ eigentlich nichts mehr so, wie es mal war. Wir haben schon lange einen Wettbewerb der Wirtschaftsräume. Mitte November ist ein neues Freihandelsbündnis in der Asien-Pazifik-Region zustande gekommen. Man muss sich das mal vorstellen: ein Bündnis, bei dem Australien dabei ist, Thailand, Singapur, Malaysia und viele andere Staaten, insgesamt 14 Staaten mit 2,2 Milliarden Verbrauchern. Wenn man sich überlegt, dass wir in der Europäischen Union circa 500 Millionen Einwohner haben, kann man sich schon vorstellen, was das für ein Ungleichgewicht der Kräfte bedeutet, meine Damen und Herren. Da hat sich kräftig etwas verschoben. Wenn wir dann zur Kenntnis nehmen, dass wir hier einen echten Wettbewerb der großen Wirtschaftsräume haben, stellen wir relativ schnell fest, dass die AfD mit ihrer Politik der nationalen Brötchen scheitern wird. Aber, meine Damen und Herren, zur Wahrheit auch, dass diejenigen scheitern, die – so ist es auch passiert – mit Feuer und Schwert Freihandelsabkommen wie CETA oder TTIP bekämpfen; denn das wird die Zukunft sein – das erlaube ich mir hier zu sagen –, wenn wir in dieser globalisierten Welt im Bereich von Freihandel und Welthandel bestehen wollen. ({1}) Das war jetzt ein kleiner Ausflug zur globalen Situation. Ich will aber am Ende noch etwas zum Ausstieg Großbritanniens sagen; auch das ist angeklungen. Es gibt Bedenken gegen die Wirksamkeitsvoraussetzungen des Abkommens, weil tatsächlich vorgesehen ist, dass vor allem die drei patentintensiven Nationen Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland an diesem Abkommen teilnehmen. Aber – das ist juristisch auch überprüft worden – es wird davon ausgegangen, dass die Vereinbarung war, dass die drei deshalb teilnehmen, um frühzeitig zu starten; denn ein Einheitliches Patentgericht macht keinen Sinn, wenn nicht alle drei patentintensiven Nationen mit an Bord sind. Im Umkehrschluss bedeutet das aber – das legt die Auslegung des Gesetzestextes nahe –, dass das Ausscheiden Großbritanniens keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist, sondern dass letztendlich, auch was die Frage der Standorte angeht, jemand anderes nachrückt. Ansonsten könnte ja der einfache Ausstieg eines europäischen Staates ein ganzes Abkommen zu Fall bringen, und das widerstrebt den europäischen Verträgen. Stimmen Sie zu, dann machen Sie alles richtig! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eröffnete in der vergangenen Woche die Debatte zum Infektionsschutzgesetz mit der Aussage, dass die gegenwärtige Pandemie ein Naturereignis, eine Naturkatastrophe sei, die schicksalhaft über uns gekommen ist. Nun kann man über den Begriff „Schicksal“ möglicherweise lange diskutieren; aber diese Pandemie ist definitiv keine Naturkatastrophe. Sie ist menschengemacht. Es ist eine Katastrophe mit Ansage. ({0}) Wir wussten, dass das auf uns zukommt. Wir wussten es spätestens seit der SARS-Pandemie 2003, eine meldepflichtige Krankheit in Deutschland. Wir wussten es, seit die WHO einen internationalen Pandemieplan aufgestellt und von den Nationalstaaten nationale Pandemiepläne gefordert hat. Und wir wussten es spätestens, seitdem auch Deutschland über das RKI einen Nationalen Pandemieplan vorgelegt hat. Trotzdem haben wir dieses Problem vernachlässigt. Wir waren schlecht vorbereitet, als diese Pandemie im letzten Winter nach Europa gekommen ist. Fakt ist, dass die Pandemie menschengemacht ist, dass nicht die Natur die Ursache ist, sondern eher die Naturzerstörung. Menschliches Tun ist die Ursache dieser Pandemie. Es ist richtig, dass wir uns gegenwärtig im Bundestag, in den Ländern und in den Kommunen auf die Pandemiebekämpfung konzentrieren und auf die Hilfen für die Wirtschaft, Lösungen im Bereich Schulen und auf die Vorbereitung möglicherweise weiter steigender Infektionszahlen. Aber wenn wir diese Katastrophe nicht gleichzeitig zum Anlass nehmen, mehr und bessere Vorsorge zu treffen, dann haben wir, glaube ich, immer noch nicht verstanden, was gerade passiert. ({1}) Dazu gehört erstens eine vertiefte Risikoanalyse über Pandemien, auch wenn wir möglicherweise den Ursprung der letzten Pandemie nie erfahren werden. Wir wissen, dass das Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Wildtiermarkt oder von Marderhundfarmen in Asien stammt. Auf die Analyse muss als zweiter Schritt die Risikominimierung folgen. Wir werden das Risiko von Pandemien nicht völlig ausmerzen können; das ist nicht mehr möglich. Unsere Aufgabe, der wir uns jetzt parallel zuwenden müssen, ist, zu überlegen, welche Risiken wir zu welchem gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Preis schnell und auch langfristig reduzieren können. Wenn wir bis zur nächsten Pandemie damit warten, ist es zu spät. ({2}) Uns liegt das IPBES-Arbeitspapier aus dem letzten Monat vor, das eine so deutliche Sprache spricht, wie ich es persönlich nicht erwartet hatte. Ohne Prävention werden Pandemien in Zukunft häufiger auftreten, und sie werden noch schneller und noch tödlicher verlaufen und einen größeren wirtschaftlichen Schaden mit sich bringen. Das ist ein so glasklarer Handlungsauftrag an alle Regierungen in Europa und natürlich darüber hinaus, dass ich mich wundere, dass sich dieses Thema im gegenwärtigen Handeln so wenig niederschlägt; darauf komme ich gleich noch zurück. ({3}) 70 Prozent der momentan neu entstehenden Krankheiten sind Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen und umgekehrt übertragen werden können. Alle bekannten Pandemien sind Zoonosen. Deshalb muss die Verdrängung und Zerstörung von Natur reduziert werden. Ich sage gar nicht: „innerhalb kurzer Zeit beendet werden“; ich bin ja nicht illusionär. Ich weiß, dass wir die Vernichtung des Regenwalds nicht im nächsten Jahr komplett stoppen werden. Aber diesem Thema muss im internationalen Handeln eine höhere Priorität beigemessen werden. ({4}) Ein weiteres Thema, das wir mit dieser Debatte adressieren, ist der internationale Wildtierhandel, der zum Schutz der Biodiversität, aus Tierschutzgründen und – jetzt neu – zum Schutz vor weiteren Pandemien dringend begrenzt und eingeschränkt werden muss. ({5}) An dieser Stelle hat die Bundesregierung ihren Handlungsauftrag bisher komplett verschlafen. Die Koalitionsfraktionen legen heute endlich einen Antrag vor, den sie seit Jahren angekündigt haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber wir brauchen mehr Tempo und mehr Handeln, nicht bloß Absichtsbekundungen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle drei Anträge beschreiben im Prinzip drei Kernprobleme: a) das Problem des Artenschutzes, b) das Problem des Tierschutzes und c) das Problem der Zoonosen. Ich möchte mich in meinem Beitrag auf den Artenschutz konzentrieren. Der Handel, vor allen Dingen der illegale Handel, mit Exoten, die als Wildtiere aus irgendwelchen Regionen dieser Erde entnommen werden, ist ein ernstzunehmendes Problem, wenn es darum geht, Tierarten zu schützen. Dieser internationale Handel bedroht Reptilien- und Amphibienarten, aber auch Vögel, Säugetiere, Insekten. Der internationale Handel ist weitgehend unreguliert und stark abhängig von Wildfängen. Die EU ist ein Hauptabsatzmarkt für den legalen, aber auch für den illegalen Handel mit Wildfängen. Man kann sich das auf der Wildtierbörse in Hamm, die viermal im Jahr stattfindet, sehr genau anschauen. ({0}) Ich habe das zweimal gemacht. Es ist schon interessant, wie das dort abläuft: Wenn der Veterinärmediziner die Kontrolle beendet hat, werden Kisten mit Arten, die illegal nach Deutschland geholt wurden, auf die Verkaufstische gelegt ({1}) – gucken Sie es sich an; ich habe es gesehen – und dann gehen Arten über den Tisch, die in den Ursprungsländern unter Schutz stehen. ({2}) Hinzu kommt, dass dort Summen im mittleren vierstelligen Bereich gezahlt werden; einen Kassenbon gibt es natürlich nicht. ({3}) Mit unserem Antrag wollen wir diese Börsen nicht verbieten, aber regulieren, und das ist dringend erforderlich. ({4}) Das Landwirtschaftsministerium hat bereits in der letzten Legislatur eine Studie in Auftrag gegeben. ({5}) Diese liegt seit 2018 vor, und daraus leiten sich einige Handlungsverpflichtungen für uns ab. Es ist richtig, Frau Kollegin Lemke, dass es etwas länger gedauert hat. Der Antrag war im Wesentlichen Anfang des Jahres fertig; aber die Pandemie hat uns gezwungen, diesem Thema größere Aufmerksamkeit zu schenken. ({6}) Wir wollen die Empfehlungen der Exopet-Studie umsetzen, und dazu ist es erforderlich, dass in allen Bereichen die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Leider – und das ist aus meiner Sicht sehr bedauerlich – wird es nicht gelingen, den Lacey Act, der beispielsweise in Nordamerika üblich ist, in Europa umzusetzen. Das ist aus meiner Sicht ein Handicap. Ich weiß, dass unser Bundesumweltministerium seit längerer Zeit versucht, dies in Europa umzusetzen. Leider machen eine Reihe von Ländern nicht mit. Abschließend möchte ich auf einige Beispiele eingehen, die deutlich machen, welche Rolle der illegale Handel mit Arten spielen kann. Der Borneo-Taubwaran, eine seltene Art, galt viele Jahrzehnte als ausgestorben. Er wurde im Jahr 2012 wiederentdeckt und zwei Jahre später auf der von mir benannten Börse gehandelt. Ein anderes Beispiel ist der Persische Streifenskink. Diese neue Art wurde im Oktober 2017 erstmalig in einer wissenschaftlichen Publikation beschrieben; drei Monate später wurde das Tier in Deutschland gehandelt. Hier wird deutlich, mit welchem Einsatz die Händler unterwegs sind, um Arten heranzuholen, über die wir noch keine Kenntnisse haben. Ich könnte die Reihe der Beispiele fortsetzen. Der FDP-Antrag nennt auch das Bunthörnchen, an dessen Biss drei Kleintierzüchter aus Sachsen-Anhalt verstorben sind. Als letztes Beispiel möchte ich den Salamanderpilz nennen. Auch er ist in Europa aufgetaucht, weil illegal eingeführte Schwanzlurche aus Ostasien diesen Pilz mitgebracht haben. Dieser Hautpilz, an den sich die Arten in Ostasien über viele Millionen Jahre anpassen konnten, schlägt bei uns jetzt mit Vehemenz zu. In den Beneluxstaaten sind die Schwanzlurche so gut wie ausgestorben. Der Feuersalamander ist dort verschwunden. Mittlerweile gibt es in Deutschland in einer ganzen Reihe von Bundesländern diese Tendenz. Das BfN macht zurzeit eine Untersuchung zu diesem Thema. Ich denke, dass bis zum Jahresende die Ergebnisse vorliegen. ({7}) Dieses Beispiel macht deutlich, was passiert, wenn es uns nicht gelingt, diesen illegalen Artenhandel einzudämmen und zu verhindern. Die Anträge von FDP und Grüne beinhalten viele gute Vorschläge, unser Antrag ist allerdings komplexer. Ich lade Sie ganz herzlich ein: Folgen Sie unserem Antrag! Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während das Pult gereinigt wird, wofür ich mich übrigens bedanke, mache ich noch einmal darauf aufmerksam, dass der Mund-Nase-Schutz so genannt wird, weil auch die Nase mit ebendiesem bedeckt sein soll. Ich bitte, das zu berücksichtigen, auch wenn Sie Gespräche im Stehen am Rande des Plenums führen. Das Wort hat der Abgeordnete Jan Nolte für die AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können uns heute keinem der hier vorgelegten Anträge anschließen. Die Grünen zum Beispiel definieren nicht einmal, was sie mit „Wildtieren“ meinen. Auch die unterstellte Zoonosegefahr ist in dieser pauschalen Form schlicht unwissenschaftlich. Hier wäre eine Fokussierung auf Fledertiere, Primaten und Nager verständlicher gewesen. ({0}) Wer Angst vor Salmonellen bei Reptilien hat, dem sei gesagt: Waschen Sie sich die Hände, halten Sie Kleinkinder von Reptilien fern, und nehmen Sie zur Kenntnis, dass in Nordrhein-Westfalen nur 0,13 Prozent der Salmonellenfälle auf Reptilien zurückgehen! Die Forderung nach dem Sachkundenachweis für Halter ist vollkommen abwegig. Wer allen Ernstes veranlassen möchte, dass jeder, der sich einen Aquarienfisch kauft, vorher einen dreitägigen Kurs machen muss und 500 Euro bezahlen muss, der schafft auf kreative Weise die Exotensparte unserer Heimtierbranche ab. ({1}) Solche Ideen, genau wie pauschale Börsenverbote, können Sie sich direkt sparen, liebe Kollegen. Das greift in die Berufsfreiheit ein und hält keiner verfassungsrechtlichen Überprüfung stand. Auch von den Forderungen der GroKo bin ich schockiert. Gewerbliche Händler, die dem § 11 des Tierschutzgesetzes unterliegen und besser kontrollierbar sind als Hobbyzüchter, wollen Sie von den Börsen ausschließen. Das ist eine Forderung nicht nur gegen den gesunden Menschenverstand, sondern auch gegen geltendes Recht. ({2}) Natürlich muss es das Ziel sein, Wildfänge zunehmend durch Nachzucht ersetzen zu können; gar keine Frage. Aber Wildfänge pauschal für Börsen, deren Standard Sie ja verbessern wollen, und auch für Onlinehändler verbieten zu wollen, ist ein Ansatz, bei dem man wirklich keine Logik erkennen kann. Bitte setzen Sie sich hier noch einmal mit den Fachverbänden zusammen, und bessern Sie das nach. ({3}) Ich bitte generell darum, diese Debatte von naiven PETA-Narrativen freizuhalten. Exotenhalter sind gerade nicht der Grund für Artenschwund. Das Gegenteil ist der Fall; sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Arterhaltung. Unscheinbare Tiere wie Schlangen, Echsen, kleine Fische und Wirbellose sind für Zoos eher weniger interessant. Das kann man sich vorstellen. Was glauben Sie eigentlich, in wie vielen Ländern der Erde man vor Bauprojekten fragt, ob in dem Gebiet irgendwelche Schlangen oder Vogelspinnen leben? Das ist doch realitätsfremd. Solche Tiere werden in vielen Ländern der Erde kurzerhand getötet. Die zunehmende Zerstörung der Lebensräume ist das Problem. Arten wie etwa der Hochlandkärpfling gäbe es ohne private Liebhaber überhaupt nicht mehr. Andere, wie der Kronengecko, sind in der Natur selten geworden, werden aber sehr erfolgreich nachgezüchtet. ({4}) Vom Chytridpilz bedrohte Frösche werden mit großer Hingabe von Privatleuten gezüchtet, um sie vor der Ausrottung zu bewahren und Zuchtstämme zur späteren Auswilderung zu schaffen. Hätten wir schon vor Jahren das gemacht, was GroKo und Grüne heute fordern, dann wären viele Arten jetzt unrettbar verloren. ({5}) Private Halter leisten – übrigens ohne einen Cent Steuergeld – einen Beitrag zum Arterhalt, den Zoos alleine so nicht leisten können. Natürlich muss das alles sinnvoll geregelt und artgerecht sein; überhaupt keine Frage. Aber hören wir auf, die Exotenfreunde in Deutschland als Risiko zu betrachten. Sie sind eine Chance, eine Chance für den Arterhalt. ({6}) Wir werden, weil die Anträge, die hier vorliegen, so nicht in Ordnung sind, einen eigenen Antrag zu diesem Thema einbringen. Wir fordern dann ein bundesweites Melderegister für Exotenhalter und Züchter. Die Pflicht zur Ausgabe von Merkblättern nach § 21 des Tierschutzgesetzes bei Tierverkäufen wollen wir auch auf den privaten Bereich ausdehnen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie hat uns fest im Griff. Täglich reden wir in diesem Haus darüber, wie wir die Gesundheit schützen können, wie wir die Folgen für die Menschen abfedern können. Vielleicht geht es Ihnen so wie mir, dass man sich die Frage stellt: Wie konnte es so weit kommen? Was ist passiert, dass wir von einem solchen Virus bedroht werden? Ich bin der Bundesumweltministerin dankbar, dass sie bereits im Frühjahr dieses Jahres wertvolle Hinweise gegeben hat. Das Coronavirus ist mit großer Wahrscheinlichkeit vom wilden Tier auf den Menschen übergesprungen. Übrigens ist es nicht die einzige Geißel der Menschheit, bei der das passiert ist. Auch das HI-Virus stammt ursprünglich aus dem Tierreich, wie rund 70 Prozent der Krankheitserreger generell. Deswegen ist es richtig, dass wir im Nachgang zur SARS-Frage, die Frau Lemke angesprochen hat, viel getan haben, um die nationalen Schutzmaßnahmen zu verbessern. Aber es ist auch dringend notwendig, dass wir über den Ursprung der Problematik reden. Das ist nun einmal die verstärkte Nutzung bislang ungestörter Lebensräume, das ist die damit verbundene Nähe zu wildlebenden Tieren, und das ist der Handel mit diesen Wildtieren auf Wildtiermärkten. Das alles trägt zu einer erheblichen Erhöhung des Risikos bei, dass das Virus auf den Menschen überspringt. Je enger der Mensch der Natur und den wilden Tieren auf den Leib rückt, desto größer ist die Gefahr für den Menschen. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, ist Naturschutz, deshalb ist vom Mensch unberührte Natur auch für uns so wichtig. ({0}) In dem Antrag, den wir heute vorlegen, fordern wir sowohl nationale als auch internationale Maßnahmen. Auf die nationale Komponente, zum Beispiel auf den angesprochenen Sachkundenachweis, wird meine Kollegin Susanne Mittag eingehen. Ich möchte mich auf den Artenschutz konzentrieren. Es ist so: Internationale Mühlen mahlen leider langsam, aber wir haben eine globale Problematik. Das ist ein komplexes Problem. Deshalb sind Lösungen auch nur multilateral und in Gemeinsamkeit möglich. Ich möchte drei Forderungen herausheben. Die erste ist, dass wir endlich auf europäischer Ebene ein Gesetz brauchen, das den Import von Arten verbietet, die in ihren Heimatländern unter Naturschutz stehen. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das ist leider nicht der Fall. Deswegen hat der Kollege Schulze recht, dass wir weiterhin für eine europäische Analogie zum US-amerikanischen Lacey Act kämpfen müssen. Die Amerikaner sind hier besser als wir. ({1}) Zweitens fordern wir die Schließung von Wildtiermärkten, die für die konsumtive Nutzung abgehalten werden, auch auf internationaler Ebene. Konsumtive Nutzung ist der Verzehr, und das ist die sogenannte traditionelle medizinische Verwendung. Das ist nicht nötig. Wir machen hier nur Ausnahmen, strenge Ausnahmen, für indigene Lebensgemeinschaften, sonst wollen wir ein generelles Verbot. Als letzter Punkt, Frau Präsidentin, ist mir wichtig, dass wir die Wildtierkriminalität, die es in hohem Maße gibt, die großes Leid verursacht und die ähnliche Ausmaße wie Drogenhandel oder Menschenhandel hat, endlich auch international durch Strafverfolgungsbehörden verfolgen und bekämpfen können. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Träger, setzen Sie jetzt bitte den Punkt.

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dazu ist es nötig, dass wir eine entsprechende Regelung ins Strafrecht aufnehmen. Herzlichen Dank an das Umweltministerium dafür, dass es sich da auf den Weg gemacht hat. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als Sie bei einer Restredezeit von 31 Sekunden ankündigten, dass Sie noch drei Punkte haben, dachte ich: Das ist sportlich. ({0}) Ich bitte in Zukunft darum, das vorher einmal durchzurechnen. Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. ({1})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben nur eine Gesundheit, und sie zu schützen, ist oberste Aufgabe des Staates. Seit Covid-19 hat der Schutz der Gesundheit aufgrund eines weiteren Themas große Aufmerksamkeit erfahren. Es geht um den Schutz vor sogenannten Zoonosen. Das sind Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können; aber ich möchte nicht verhehlen: auch vom Menschen zurück auf das Tier. Es ist nicht so, dass Zoonosen neu sind. Schon seit Jahrhunderten, schon immer leben wir mit Tieren zusammen und haben gelernt, mit den damit einhergehenden Krankheiten umzugehen. Krankheiten wie Tollwut, Salmonellen und auch das Hantavirus sind bekannt, und wir leben mit den damit verbundenen Risiken mit unseren Haus- und Heimtieren, mit Hund, Katze und Mäusen, aber genauso mit den Tieren in der Landwirtschaft, wo Zoonosen uns immer wieder vor große Herausforderungen stellen, aktuell aufgrund der Schweinepest und der Vogelgrippe. ({0}) Das sind alles Krankheiten, die bekannt sind. Es gibt aber ein Thema, das wir neu bespielen müssen, und zwar das Thema Wildtiere, das, was Regulierung und Vollzug betrifft, in Deutschland nach wie vor völlig unterbelichtet ist. ({1}) Wir müssen dabei zwischen exotischen Haustieren aus Nachzuchten und in der Wildnis gefangenen Tieren unterscheiden. Das sind zwei unterschiedliche Bereiche, die wir unterschiedlich behandeln müssen. Mit unserem Antrag wollen wir dezidiert den Handel und das Halten von Wildtieren in Deutschland erstmals richtig und umfassend regulieren und transparent machen, und der Vollzug der neuen Regeln soll wirklich durchgeführt werden. Das wäre ein Novum: die Gesetze auch einmal einhalten. ({2}) Es geht um Nachvollziehbarkeit. Der Verbleib geschützter Wildtiere in Deutschland ist eigentlich nachvollziehbar. Das Problem ist: Wie wird diese Nachvollziehbarkeit gewährleistet? Ich sage es Ihnen: mit Fotos auf Karteikarten. Meine Damen und Herren, das sind nicht einmal die Methoden des 20. Jahrhunderts, das sind fast die Methoden des 19. Jahrhunderts, mit denen wir die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wollen. ({3}) Digitalisieren wir die ganzen Informationen doch! Weiten wir die Dokumentation auf sehr seltene Arten aus, damit wir, wenn ein Tier krank ist, nachvollziehen können: Wo war das Tier? Mit welchen Menschen hatte es Kontakt? Welche anderen Tiere könnte es infiziert haben? Kontrollieren wir den Import! Der Frankfurter Flughafen ist mit der Animal Lounge doch vollkommen überfordert. Was macht die Ministerin? Sie will den Vollzug verbessern, aber spricht nicht mit den Ländern darüber. ({4}) Wichtig wäre auch, dass sich die Halter der Gefahren bewusst sind. Ich habe mit Jägern gesprochen und gefragt: Kennt ihr Zoonosen? Sie haben gesagt: Natürlich kennen wir Zoonosen. – Ich habe mit Tierärzten und Tierhaltern gesprochen und gefragt: Kennt ihr Zoonosen? Sie haben gesagt: Natürlich kennen wir Zoonosen. – Viele Leute, die exotische Haustiere halten, kennen die Gefahren nicht. Ein Sachkundenachweis dient nicht nur dem Schutz der Tiere, er dient wie im Fall der Bunthörnchen auch dem Schutz der Halter. Deswegen ist er wichtig, um die Gesundheit der Menschen in Deutschland zu erhalten. ({5}) Die Regulierung des Wildtierhandels kann aber nur ein Baustein sein. Ich möchte am Ende noch erwähnen: Covid-19 ist nicht mit einem Tier nach Deutschland gekommen, es ist mit einem Menschen als Träger nach Deutschland gekommen. Deswegen ist der WHO-Ansatz „One Health“ – umfassende Aufklärung und internationale Zusammenarbeit – der Schlüssel zum Erfolg. Das ist ein wichtiger Baustein. Wir müssen aber noch einen weiten Weg gehen, um die Gesundheit in Deutschland umfassend vor weiteren Pandemien zu schützen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Kirsten Tackmann hat nun für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegen heute Anträge der Koalition, der FDP und der Grünen zum Thema Wildtierhandel vor. Meine Fraktion Die Linke hatte ihren Antrag zu diesem Thema schon vor der Sommerpause eingereicht; er ist bereits in die Ausschüsse überwiesen. Unser Antrag trägt den Titel „Moratorium für Wildtierhandel aus ethischer und epidemiologischer Verantwortung“. Damit sind drei Botschaften verbunden: Es muss beim Handel mit Wildtieren erstens unverzüglich gehandelt werden, weil zweitens ethische Probleme dringend gelöst werden müssen und drittens Infektionsrisiken schnell reduziert werden müssen. ({0}) Was wir ausdrücklich nicht wollen, ist ein generelles Verbot des Haltens von Wildtieren, gerade weil ich weiß, wie viel für den Artenschutz durch Wildtierhaltung in Menschenobhut geleistet wird. Das verdient Respekt und Anerkennung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war eine tödliche Pilzinfektion vor ein paar Jahren, die 40 Prozent aller Froscharten im Regenwald Panamas ausgerottet hat. Die vielleicht letzten gesunden Exemplare sind damals in einer dramatischen Rettungsaktion evakuiert und in menschliche Obhut überführt worden – immerhin das! Aber gerade als Tierärztin kenne ich auch die riskanten und dunklen Seiten des Handelns mit Wildtieren. Eine aktuelle Studie von Pro Wildlife zeigt, dass dieser weitgehend unreguliert ist, dass er stark von Wildfängen abhängig ist und dass er für viele Reptilien- und Amphibienarten unterdessen als Hauptbedrohung gilt, selbst für Arten, die einen Schutzstatus in ihrem Herkunftsland haben. Leider ist die EU ein Hauptumschlagplatz für legalen und illegalen Handel mit Wildfängen, und das darf so nicht weitergehen. ({1}) Leider gilt es wohl als schick, Exoten zu halten. Deshalb geht es auch um sehr viel Geld. Artenschutz, tierschutzgerechter Transport oder tiergerechte Haltung werden da schnell zur Nebensache. Aber Arten- und Tierschutz sind unsere ethische Verantwortung. Deshalb ist hier der Gesetzgeber gefordert. Gut, dass wir uns darin weitgehend einig sind. ({2}) Aber bis dieses Regelwerk beschlossen und durchgesetzt ist, vergeht Zeit – für manche Art zu viel Zeit. Deshalb muss jetzt ein Moratorium für den Wildtierhandel her. Einige Artenschutzregeln sind löchrig. Es fehlt fast vollständig das Bewusstsein für das Infektionsrisiko durch den Wildtierhandel. Das ist hochriskant, und das geht so nicht weiter. Das Epidemie- und Pandemierisiko durch Zoonosen, also von Tieren, oft Wildtieren, auf Menschen übertragene Infektionskrankheiten, ist offensichtlich. Die Wissenschaft mahnt, dass das Pandemierisiko mit dem Vordringen von Menschen in bislang unberührte Lebensräume und deren Zerstörung erheblich steigt. Aber Wildtiere können auch als Heimtiere Erkrankungen übertragen. Gerade gab es sogar tödliche Infektionen bei Bunthörnchenhaltenden. Trotzdem wird dieses Risiko beim Wildtierhandel bisher nahezu komplett ausgeblendet. Wir brauchen also ein striktes Regelwerk, und wir müssen es sofort organisieren. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, normalerweise würde ich jetzt fragen, ob noch Kollegen anwesend sind, die ihre Stimme bei der zweiten namentlichen Abstimmung des Tages bisher nicht abgegeben haben. Ich bitte, den Mund-Nase-Schutz auf dem Weg dorthin aufzusetzen. Die gute Nachricht ist: Sie haben noch einen Moment länger Zeit als geplant, da noch Kolleginnen und Kollegen aus dem Untersuchungsausschuss auf dem Weg hierher sind, um ihre Stimme abzugeben. Das Wort hat die Kollegin Silvia Breher für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser heute vorliegender Antrag basiert auf drei Säulen. Über den Bereich des Artenschutzes und über den Schutz vor Zoonosen haben wir schon einiges gehört. Ich möchte mich auf den Bereich des Tierschutzes konzentrieren; denn schon im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung des Tierschutzes bei Wildtier- und Exotenhaltung, Tierbörsen, Internet und Versandhandel vorzulegen. Mir persönlich ist der Bereich des Tierschutzes sehr wichtig, und der fängt entgegen der manchmal lautenden öffentlichen Meinung nicht erst an der Stalltür der Landwirte an. Exoten sind in. Es gibt immer mehr Reptilien, Amphibien, Spinnen, Insekten in Deutschland, leider eben nicht nur in der Hand von Experten, von absoluten Liebhabern, die sich mit diesen Tieren hervorragend auskennen, sondern immer öfter auch als Modetiere von reinen Laien. Da wird ein süßes kleines Reptil, das aussieht wie Schnappi, das kleine Krokodil, im Kinderzimmer zum Problem. Oder aber es muss unbedingt der neueste In-Exot sein, den irgendein cooler YouTuber gerade behypt. Das muss nicht sein. Genau das wird zum Problem; denn die wenigsten Tiere werden im Fachhandel nach fachkundiger Beratung gekauft, sondern auf Tierbörsen schnell mitgenommen oder – rund um die Uhr möglich – im Internet bestellt. Die Exopet-Studie, die vorliegt, zeigt uns hier ganz klar Handlungsmaßnahmen auf, und diesen folgen wir mit unserem Antrag. ({0}) Erstens ist da der Zoofachhandel, der natürlich immer und oft eine gute fachliche Beratung bietet. Aber was ist mit den Garten- und Baumärkten? Da ist neben der Sommerdeko, den Blumen, mal eben schnell die tierische Deko eingepackt und „by the way“ als Wegwerfartikel mitgenommen. Wir fordern den verpflichtenden Sachkundenachweis bei allen Verkäufern im Bereich von Tieren. Wir möchten, dass dieser Sachkundenachweis nicht mal so und mal so erworben werden kann, sondern dass wir bundesweit einheitliche Kriterien dafür haben, die auch fachlich hochwertig sind. ({1}) Zweitens ist da der Bereich der Tierbörsen, über den wir schon einiges gehört haben, ursprünglich gedacht als Treffen privater Züchter und als Möglichkeit des Austausches. Die Tatsache heute: Handelsplattform von internationalen Händlern, die mit ihren Tieren in Transportboxen von einer Börse zur nächsten reisen, wo man berechtigterweise die Frage stellt, ob die Tiere jemals wieder in einen Stall oder in eine vernünftige Unterkunft kommen. Genau an diese Tierbörsen wollen und müssen wir ran. Wir fordern verbindliche Mindeststandards: ein Verbot von Wildfängen, fachliche Beratung in deutscher Sprache, die Beschränkung auf ein oder zwei Tierarten und eine entsprechende Begrenzung der einzelnen Tiere. Die Amtstierärzte müssen nicht nur am Beginn, sondern die ganze Zeit da sein. Sie haben dann auch die Möglichkeit zur Kontrolle, wenn die Händler und die Tiere mit den entsprechenden Nachweisen vorher angemeldet werden müssen. Gleiches fordert übrigens auch die Umweltministerkonferenz – zuletzt im November –, aber eben nicht das erste Mal. Der dritte Punkt ist natürlich der Internethandel. Er nimmt zu: Es ist so einfach, es gibt immer schöne bunte Bilder. Die Tierchen kommen mit der Post, man hat ein Widerrufsrecht. Und dann? Stecke ich das Tier in einen Umschlag und schicke es zurück? Wir wollen, dass der Internethandel klarer wird. Wir wollen, dass die Anbieter im Internet ihren Klarnamen hinterlegen müssen, dass sie den Plattformen bekannt sind, dass sie zertifizierte Plattformen für Tierverkäufe haben und dass auch dort der Verkauf von Wildfängen verboten wird. ({2}) Das Bundesamt für Naturschutz soll hier die Behörden und den Zoll übrigens unterstützen. So einfach, so ahnungslos darf die Haltung von Tieren, von Exoten in Deutschland einfach nicht bleiben. Deshalb wollen wir den Handel einschränken und den Tierschutz mit Blick auf den Transport von Tieren deutlich erhöhen und am Ende vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die sich für diese Exoten entscheiden, das bewusst machen, dass sie wissen, worauf sie sich einlassen, dass sie die Bedingungen und Notwendigkeiten dieser Tiere kennen und sie dann auch entsprechend pflegen können. Da der Antrag der Grünen und der Antrag der FDP mit unserem Antrag, wenn man sie nebeneinanderlegt und die Punkte abhakt, fast deckungsgleich sind, gehe ich davon aus, dass wir in den Ausschüssen gute Beratungen haben werden, und freue mich darauf. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 15. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist abgelaufen. Ich frage trotzdem: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches sich an der Stimmabgabe bisher gehindert sah? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Das Wort hat die Kollegin Susanne Mittag für die SPD-Fraktion. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Handel mit Tieren und insbesondere der illegale Handel – das ist schon mehrfach erwähnt worden – ist ein weltweites Milliardengeschäft. Deshalb ist dieser Bereich eben auch für die organisierte Kriminalität sehr interessant. Europol hat die Brisanz dieses Themas schon erkannt, und das Thema ist längst auf der Agenda. Mit den durch illegale Geschäfte erwirtschafteten Geldern werden an anderer Stelle wieder kriminelle und auch kriegerische Aktivitäten finanziert. Damit ist das Leid von Tieren verbunden, von Menschen, Zerstörung von Lebensraum und Aussterben von Arten. So bewirkt jetzt Covid, wie schon bei den Vorrednern erwähnt, dass auch der Handel mit Wildtieren und Exoten endlich mal stärker in die öffentliche Wahrnehmung gerät. Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag – das ist schon ein paar Jahre her – den Handel und die Haltung von Wildtieren und Exoten als Herausforderung im Tierschutz, um es mal vorsichtig auszudrücken, festgestellt und das für Tierschutzfragen zuständige Ministerium beauftragt, bis zur Mitte der Legislaturperiode Vorschläge für konkrete Maßnahmen bis hin zu Verboten zur Verbesserung des Tierschutzes vorzulegen. Mit dem heutigen Antrag wollen wir daran erinnern und gleichzeitig Vorschläge machen, an welchen Stellen angesetzt werden muss. Dabei orientieren wir uns an der schon erwähnten Exopet-Studie, die das Landwirtschaftsministerium vor Jahren selbst in Auftrag gegeben hat und von deren Vorschlägen bislang leider noch nichts umgesetzt wurde. Neben den schon erwähnten Regelungen für Verkäufer und Käufer wollen wir die Zusammenarbeit mit den Ländern, um verbindliche Mindeststandards für die Durchführung von Tierbörsen zu definieren. Das war auch ein Thema bei der bereits erwähnten Umweltministerkonferenz vom 13. November, auf der eine rechtsverbindliche, bundesweit einheitliche Verordnung für Tierbörsen inklusive des Ausschlusses von Wildfängen gefordert wurde. Auch fordern wir zur Sicherung der Rückverfolgbarkeit des Anbieters, das anonyme Inserieren und das von Wildfängen generell zu verbieten. Wir wollen außerdem eine rechtsverbindliche, bundesweit einheitlich geltende Vorgabe zur Führung eines Bestandsbuches für den gewerbsmäßigen Handel mit Tieren einführen. Das verbinden wir damit, ergebnisorientiert zu prüfen, wie eine digitale Umsetzung erfolgen kann; denn nicht jeder führt ein eigenes Buch. Nur so kommen wir – ich hoffe, in absehbarer Zeit – zu einer zentralen Datenbank, die die Tierbestände dokumentiert, damit wir endlich mal wissen, welche Exoten und Wildtiere wir in Deutschland haben. ({0}) Ich hätte, ehrlich gesagt, ganz gern noch mehr konkrete Formulierungen hineinverhandelt, so wie sie in der Exopet-Studie auch vorgeschlagen wurden. Diese Studie ist relativ konkret. Mehr war leider nicht verhandelbar, aber trotzdem ist das schon ein riesiger Schritt, um da voranzukommen. Vielleicht überrascht uns alle das Landwirtschaftsministerium mit weiteren Konkretisierungen. Das wäre doch schön. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Julia Klöckner (Minister:in)

Politiker ID: 11003566

Guten Abend, sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Unsere deutschen Winzerinnen und Winzer, unsere deutschen Weine zählen zu den besten auf der ganzen Welt. Der Ruf ist groß. Deutschland ist ein Land mit großer Weintradition, und Weinbau prägt viele Teile unseres Landes. 13 Weinanbaugebiete haben wir in Deutschland, die sehr unterschiedlich sind. So unterschiedlich wie die Weinanbaugebiete ist auch die Struktur der Weinwirtschaft: von fassweinproduzierenden Betrieben über Genossenschaften und größere Kellereien bis hin zu den sogenannten Edelweingütern. Die Bandbreite ist so groß, wie es die Interessen sind und wie es die Vielfalt der Rebsorten ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Weinbau prägt die Kulturlandschaften und das Bild unseres Landes. Denken wir an den Mittelrhein, die Mosel, das Saaletal, die Mainschleife, den Rheingau. Ich selbst komme aus einem Ort an der Nahe. Wie gesagt, es sind 13 Anbaugebiete. Doch zu viel Weinromantik wäre jetzt sicherlich fehl am Platz. Warum? Der Weinmarkt ist hart umkämpft. Ich meine nicht nur den deutschen Weinmarkt, sondern auch den europäischen und den internationalen. Trotz bester Qualitäten verlieren wir im internationalen Vergleich kontinuierlich Marktanteile. Ich will das an einigen Daten deutlich machen: Während der Wert der in Drittstaaten exportierten europäischen Weine innerhalb von zehn Jahren, von 2008 bis 2018, um 90 Prozent zugenommen hat, hat der Anteil der deutschen Weine am Export in Drittstaaten um 30 Prozent abgenommen. Dem wollen wir mit dem neuen Weingesetz und der zugehörigen Verordnung entgegensteuern. Wir wollen dem deutschen Wein in der Kennzeichnung eine bessere Profilierung verleihen und somit auch neue Marktchancen schaffen. Deutscher Wein muss für die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher verständlicher werden. Eines ist klar: Es gibt in der Weinbranche viele Interessen, und dementsprechend werden auch bei einem Weingesetz nie alle Wünsche zusammen erfüllt werden können, weil wir sonst kein Mehr an Klarheit hätten. Aber wir werden die Bedingungen für alle in der Branche spürbar verbessern. Genau deshalb ist unser Entwurf einer Novelle zu Weingesetz und Weinverordnung schon jetzt ein großer Erfolg. ({0}) Denn er berücksichtigt zahlreiche unterschiedliche Interessen. Die Gespräche und die Abstimmung mit Verbänden, mit dem Berufsstand, mit den Ländern und mit Ihnen als Gesetzgeber waren mir wichtig. Ich möchte Ihnen hier kurz drei zentrale Punkte der Weingesetznovelle erläutern. Ich nenne mal die Herkunftspyramide. Die Mittel zur Vermarktung werden gesteigert. Aber wir wollen auch die Balance im Markt halten, was die Rebpflanzrechte anbelangt. Darauf will ich kurz eingehen. Erstens wollen wir die verlorengegangenen Marktanteile zurückgewinnen. Das ist mein Anspruch. Zweitens wollen wir, dass die Winzer bessere Preise für ihre Weine erzielen können. Preise, die der Qualität und der Arbeit auch angemessen sind. Und wir wollen drittens, dass der Markt im Gleichgewicht bleibt. Dafür wagen wir den Einstieg in eine neue Systematik der Weinbezeichnung, für mehr Klarheit in der Kennzeichnung. Wir verbessern die Voraussetzungen für eine stärkere Absatzförderung, für einen besseren Wettbewerb. Dadurch stabilisieren wir den Markt und geben den Winzerinnen und Winzern Planungssicherheit. Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, konkret zur Stabilisierung: Ja, wir könnten die Rebpflanzfläche um etwa 1 Prozent erweitern. Aber wir haben uns entschieden, es auf 0,3 Prozent zu begrenzen, um eine Balance im Markt zu halten; denn wenn die Nachfrage zurückgeht, wir aber die Fläche erweitern würden, dann, glaube ich, wäre das kontraproduktiv. Kein Überangebot, das ist uns wichtig. ({1}) Aber mir ist auch wichtig, dass die Forschung dabei weiterhin gefördert wird und entsprechende Versuchsflächen ausgewiesen werden. Wir züchten klimaresistente Pflanzen, die 70 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel brauchen. Sie kennen sicherlich Regent und Calardis Blanc und viele andere mehr. Wir wollen motivieren, neue Pflanzenzüchtungen, Rebzüchtungen zu nutzen, und deshalb werden sie nicht auf die Begrenzung angerechnet. Das, glaube ich, ist ein ganz klares Zeichen. ({2}) Im Übrigen werden wir neue Pflanzen oder Pflanzenzüchtungen, neue Rebsorten schneller und auch einfacher zulassen. Die Systematik der Weinbezeichnung wird sich ändern. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Riesenchance. Wir orientieren uns dabei an den erfolgreichen europäischen Weinländern – sei es Italien, sei es Spanien, sei es Frankreich. Wir haben das germanische Weinrecht, und wir wollen zum sogenannten romanischen Weinrecht wechseln. Das heißt am Ende, dass wir stärker auf Profilierung, stärker auf Herkunft gehen. Herkunft ist mehr als nur der Boden: Herkunft ist Klima, Umwelt, Können des Winzers, Boden plus Qualität im Glas. Das soll auf dem Etikett sichtbar werden. Wir schaffen den Rahmen dafür. Aber wir machen noch eines: Den Schutzgemeinschaften, die es vor Ort gibt, überlassen wir relativ viel, sodass sie vor Ort sogar noch strengeren Anforderungen gerecht werden können. Aber klar ist: Es wird Mindestanforderungen geben, die der Verbraucher klar erkennen kann, ganz verlässlich. Dann wird auf dem Etikett klar sein: Je kleiner die Lage, desto höher die Mindestanforderung und desto klarer kann der Verbraucher sich auch auf das verlassen, was draufsteht. Es wird nicht um ein Mehr an Quantität gehen, sondern um eine stabile Qualität. Dafür legen wir die Grundlage. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Damen und Herren, ich sehe, dass meine Redezeit abläuft. Es gibt noch so viel zu erläutern. Aber wichtig ist mir, zu betonen: Wir werden vor allen Dingen auch das Marketing, die Absatzförderung stärken. Wir werden von 1,5 Millionen auf 2 Millionen Euro gehen, um auch in die Kommunikation zu investieren. Es ist eigentlich überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Gelder, die uns Brüssel zur Verfügung stellt, von uns nicht abgerufen werden, also den Ländern, und sie müssen noch nicht mal kofinanzieren. Das werden wir ändern. Für Grenzregionen werden wir Übergangsregelungen vorsehen. Übrigens, über die Übergangszeiten – das sei zum Schluss gesagt – kann man ja noch reden. Aber ich warne davor, die Übergangszeit auf zehn Jahre festzusetzen. Warum? Erstens stehen dann unionsrechtlich Klagen an, weil wir EU-Recht anpassen müssen. Zweitens. Wenn man zehn Jahre Zeit hat, dann fängt man im neunten Jahr erst an. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Deutschland kann sich nicht nur seines per Einheitsgebot gebrauten Bieres rühmen, sondern in ebenso beeindruckender Qualität und Vielfalt seines Weines. Wein ist mehr als ein Getränk. Es ist auch ein Kulturgut, ein Aushängeschild der deutschen Landwirtschaft, allerdings ein Aushängeschild, das im Ausland und leider auch im Inland mit sinkender Nachfrage zu kämpfen hat. Das ist schade. Schon Euripides schrieb: „Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens.“ Umso erfreulicher ist, dass wir es nach Monaten und Jahren des Bauern-Bashings und der Verächtlichmachung der ganzen Bauernschaft als Umweltverschmutzer und Klimakiller nun einmal mit positiven und konstruktiven Meldungen und Bemühungen aus dem Ministerium von Julia Klöckner zu tun haben. Der deutliche Anstieg der Mittel zur Förderung des Absatzes des deutschen Weins ist ein überfälliges Signal, das hoffentlich seine Wirkung nicht verfehlen wird. Es ist aber auch nicht jedes Problem mit Geld zu lösen. Bei aller Wahrung von Tradition und Qualität müssen auch neue und innovative Winzer in Zukunft die Möglichkeit haben, den deutschen Weinmarkt interessant und vielfältig zu halten. Für die relativ kleinen deutschen Anbaugebiete hat dieser Gesetzentwurf aber durchaus eine gute Zukunftsperspektive zu bieten. Die neue Gewichtung hin zu den Terroirs statt des Fokus auf die Rebsorte hat großes Potenzial. Die besonderen Eigenarten der verschiedenen Weingebiete bis hin zum individuellen Hang sind ein Qualitätsmerkmal, das Weinkenner schon zu schätzen wissen und in Zukunft hoffentlich auch der einfache Kunde versteht. Das Bewusstsein, dass der soeben genossene großartige Wein seine Charakteristik nicht nur von der Rebe, sondern von Boden, Lage und Anbaukultur – zum Beispiel an der Mosel in meiner saarländischen Heimat – hat, wird den deutschen Weinen hoffentlich zu der Wertschätzung verhelfen, die sie verdient haben. „Je kleiner die Herkunft, desto größer die Qualität“ ist eine Chance und zugleich eine Herausforderung für und an die deutschen Winzer. Wenn ich schon mein Saarland lobe: Probieren Sie gerne mal in der Parlamentarischen Gesellschaft den Grauburgunder von Schmitt-Weber aus meiner Heimat – begeisternd! ({0}) Ich wünsche mir, die Bundesregierung hätte in anderen Branchen der Wirtschaft ein ähnliches Vertrauen in die Qualität und Solidarität der heimischen Produktion. Geben wir den deutschen Winzern eine Perspektive für die Zukunft! Belassen wir es aber nicht nur dabei. Wer heute damit beginnt, Wein anzubauen, der plant nicht für das schnelle Geld, der plant nicht für fünf Jahre, der möchte nicht sein Privatdasein an der Côte d’Azur verbringen. Weinbau ist idealerweise ein Generationenprojekt, und so etwas braucht mehr als nur einen gerade akzeptablen gesetzlichen Rahmen. So etwas braucht eine viel tiefer gehende Verlässlichkeit, die gerade diese Bundesregierung mit ihren ständigen Kurswechseln und unüberlegten Radikalreformen oft vermissen lässt. Sie haben die Proteste der Bauern hier in der letzten Zeit gesehen. Zeigen Sie Verlässlichkeit, indem Sie auf die Landwirte selbst hören, egal ob Wein oder Weizen, und ihnen Zeit zu Innovation und Anpassung geben, anstatt alle paar Wochen den nächsten demonstrierenden Stadtkindern nach dem Mund zu reden. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich weiß, man kann in der Aufregung immer was vergessen, aber den Mund-Nase-Schutz bitte nicht. ({0}) – Wir führen jetzt hier keine Debatte. Ich habe einen Hinweis gegeben. Jetzt geht es weiter mit der Kollegin Isabel Mackensen für die SPD-Fraktion. ({1})

Isabel Mackensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004949, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Winzerinnen und Winzer! Ich bin ein Pfalzkind, ({0}) aufgewachsen in Niederkirchen, einem Weindorf bei Deidesheim und Forst an der Deutschen Weinstraße, im zweitgrößten Anbaugebiet Deutschlands, der Pfalz. Rheinland-Pfalz ist zudem noch das Weinbauland Nummer eins. Das zeigt sich, glaube ich, auch ganz gut daran, dass viele, die heute zu diesem Thema sprechen, aus Rheinland-Pfalz kommen. ({1}) Wo Wein ist, wird normalerweise gefeiert; das ist jetzt aktuell etwas schwieriger. Das Weinfest im Dorf war für mich schon als Kind ein Highlight. Die Musik hat die ganze Nacht gespielt; das kann man sich heute eigentlich überhaupt gar nicht mehr vorstellen. Ich habe draußen in der Hängematte übernachtet, um das Weinfestgefühl und die Musik möglichst lange genießen zu können. ({2}) – Da klatschen die Pfälzer, sehr gut. An der Deutschen Weinstraße aufzuwachsen, heißt aber auch, das Winzerjahr mitzuerleben. Bis der Wein im Glas genossen werden kann, bedarf es des Rebschnitts, des Aushängens der Pheromone, bis hin zur Weinlese – viel Arbeit, Pflege und Hingabe für unseren Rebensaft. Sowohl die Produktion als auch der Absatz von Wein sind vielfältig: über die Gastronomie, den Direktverkauf, in nicht selten imposanten Vinotheken, im internationalen Export, im inländischen Vertrieb und eben bei den Weinfesten. Wir haben es gerade gehört: Gerade der Export bedarf unserer Unterstützung. Hier haben wir massiven Nachholbedarf, was auch ein Anlass für diese Weingesetznovelle ist. Die Entwürfe von Weingesetz und Weinverordnung – darum geht es ja heute – habe ich bereits im Juni dieses Jahres an meine über 400 Winzerinnen und Winzer im Wahlkreis Neustadt-Speyer versendet und sie um ihre Einschätzung gebeten. Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich für die vielen Rückmeldungen und Gespräche bedanken. Diese haben mir neben den Gesprächen mit den Abgeordneten, dem Ministerium, den Ländern und der Weinwirtschaft von Anfang an einen vielschichtigen, vor allem aber praxisnahen Einblick in die Thematik gegeben. Die Herausforderung, der wir uns stellen, ist, dass wir mit den zukünftigen Regelungen, die wir treffen – mit Weingesetz und Weinverordnung –, sowohl die Einzelbetriebe als auch die Winzergenossenschaften, aber auch die Kellereien im Blick haben. Im Weinbau vollzieht sich ein Generationenwechsel. Meine Generation übernimmt immer mehr die Leitung der Betriebe. Gerade die Jungwinzerinnen und Jungwinzer experimentieren, probieren aus, leben bewusster, sind nachhaltiger und zukunftsorientierter. Es freut mich besonders, dass immer mehr junge Frauen in den Ausbildungsbetrieben und Hochschulen zu sehen sind. Gerade bei den Weinhoheiten handelt es sich um Topkennerinnen ihres Fachs. ({3}) Man kann damit feststellen: Der Weinbau ist weiblich. ({4}) – Da kann man noch mal klatschen; das finde ich auch. Ein Punkt des Entwurfs zum Weingesetz ist die Aufstockung der Absatzförderung – Frau Ministerin hat es schon angesprochen – auf nationaler Ebene. Das ist kein unumstrittener Punkt. Wir sind aber der Überzeugung – das gilt zumindest für die SPD-Bundestagsfraktion und weitestgehend auch für die anderen Fraktionen; die Abstimmung im Ausschuss hat es ja gezeigt –, dass wir neben der Abgabe der Winzerinnen und Winzer damit das Marketing für den deutschen Wein im In- und eben im Ausland stärken wollen. Es sollen insgesamt 2 Millionen Euro zusätzlich zu den Abgaben zur Verfügung stehen. Das Deutsche Weininstitut als Durchführungsorganisation des Deutschen Weinfonds ist, gerade auch was die Jugend angeht – ich habe es gerade angesprochen –, stark unterwegs, zum Beispiel mit Programmen wie der „Generation Riesling“. Was ist das für ein Programm? Es ist ein Netzwerk, eine moderne Präsentationsplattform, aber vor allem auch ein Lebensgefühl. Es ermöglicht, Kontakte zu knüpfen, gemeinsam Ideen zu entwickeln und Aktionen durchzuführen. Jungwinzerinnen und Jungwinzer bis maximal 35 Jahre treten hier als Botschafterinnen und Botschafter des deutschen Weins für moderne und hochwertige Weinerzeugung auf. Mit der Herausforderung des Klimawandels und der immer stärker werdenden nachhaltigen Orientierung gerade der Jungen werden neue Rebsorten immer bedeutender. Damit soll den Krankheiten sowie Hitze mit geringerem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln begegnet werden. Zusammen mit meinem Kollegen Gustav Herzog habe ich mich bei den Beratungen zum Weingesetz dafür starkgemacht, dass gerade neue Rebsorten weiterhin auf den Markt gelangen können. Rebsorten wie Regent, Cabernet Blanc oder Solaris zeigen mit ihrer Marktakzeptanz die Erfolgsmöglichkeiten dieser neuen Sorten gerade bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Bei den Gesprächen mit den Studierenden des Weincampus in Neustadt an der Weinstraße, den Weinhoheiten und der Landjugend kam aber vor allem ein Anspruch an das Gesetz heraus: die Planungssicherheit. Wer sich heute auf den Weg macht, einen Betrieb zu übernehmen, muss wissen, was ihn erwartet. Dafür legen wir mit dem Weingesetz heute den Grundstein. ({5}) Gleiches gilt für die anstehenden Beratungen zur Weinverordnung; diese soll ja im Februar nächsten Jahres verabschiedet werden. Hier soll der Übergang vom germanischen zum romanischen Weinrecht umgesetzt werden. Das ist keine einfache Aufgabe. Auch diesen Prozess werde ich gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion eng begleiten. Ein herzlicher Dank gilt aber auch – vor allem eigentlich – den Kolleginnen und Kollegen des Parlamentarischen Weinforums für das gute Miteinander. Es ist keine Übertreibung, dass die Zusammenarbeit bei diesem Thema über die Fraktionen hinweg besonders ist. Die angenehme Atmosphäre liegt natürlich nicht zuletzt an dem guten deutschen Wein, ganz nach dem Motto: „Ein guter Wein zur rechten Zeit bringt Freude und Zufriedenheit.“ ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Carina Konrad für die FDP-Fraktion. ({0})

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, Sie haben es schon gesagt: Heute geht es um die Winzerinnen und Winzer in Deutschland. Es geht darum, deutlich zu machen, dass die Winzerinnen und Winzer viel mehr produzieren als nur ein Getränk. Wein ist ein Kulturgut und ein Genussmittel, das die Menschen verbindet. Es verbindet die Menschen natürlich ganz besonders bei uns in Rheinland-Pfalz, in meinem Wahlkreis zwischen Mosel und Rhein. Ich darf das sagen; das gehört zu einer Weinrede dazu. Es ist ja so selten, dass wir in diesem Plenum über dieses wichtige und tolle Thema reden. Es ist auch so wichtig, dass wir heute dieses Gesetz für die Winzerinnen und Winzer auf den Weg bringen, und das unterstützen wir Freien Demokraten natürlich gerne. ({0}) Doch ich will auch nicht verhehlen, dass es um noch viel mehr geht. Denn auch der Weinbau steht vor großen Herausforderungen. Die erste große Herausforderung, die ich hier heute nennen möchte, ist der Klimawandel. Der Klimawandel begünstigt auf der einen Seite Krankheiten wie Esca, eine Rebholzkrankheit, die in den letzten Jahren immer häufiger auftritt. Auf der anderen Seite werden spätreifende Sorten wie der Cabernet heute auch bei uns reif. Das war vor 20 Jahren noch undenkbar. Das sind Veränderungen, auf die Winzerinnen und Winzer reagieren wollen und reagieren. Sie zeigen, dass sie veränderungsbereit sind. Das sieht man an den jungen Winzerinnen und Winzern, die auf den Social-Media-Kanälen unterwegs sind, die bei Instagram tolle Storys machen, die begeistern. Aber auch wir als Politik müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, über Züchtung, über Sortenanpassung, über Forschung, dass sie diese Veränderungen vernünftig bewerkstelligen können. ({1}) Um den Weinbau langfristig gegen den Klimawandel zu wappnen, müssen zukunftsträchtige Pflanzenbau- und Pflanzenschutzsysteme auch im Weinbau umgesetzt werden. Hier gibt es noch viel zu tun. Die Drohnen, die auch in den Steillagen zum Einsatz kommen können, sind da nur ein Beispiel. Die zweite große Herausforderung ist die Bürokratie. Das wird auch im Gespräch mit Winzerinnen und Winzern immer wieder deutlich. Die Planungssicherheit, die die Kollegin Mackensen angesprochen hat, ist ganz elementar. Wenn man heute auf einer Fläche, auf der ein Weinberg war, einen neuen Weinberg pflanzen will, muss man drei verschiedene Anträge stellen; und wenn es dann auch noch Unterschiede bei den Flächenberechnungen gibt, dann hat man ein Problem. Dieses Problem müssen wir als Politik ernst nehmen und angehen. ({2}) Die dritte große Herausforderung ist der Absatz. Deshalb wird heute dieses Gesetz auf den Weg gebracht, und das ist wichtig. Coronabedingt ist der Absatz in einigen Bereichen des Weinanbaus stark zurückgegangen, wobei ich das nicht verstehen kann; denn man hat ja jetzt eigentlich auch ein bisschen mehr Zeit gehabt. Aber die Gastronomie ist geschlossen, die Weinfeste sind ausgefallen, und jetzt fallen auch noch die Weihnachtsmärkte aus. Das ist natürlich ein Problem für die Winzerinnen und Winzer. Hinzu kommen der Absatzeinbruch durch die Strafzölle der USA und den Brexit und Wettbewerbsverzerrungen aufgrund von – durchaus nachvollziehbaren – Wünschen und Gesetzen. Durch die Mindestlohnanforderungen werden die Produktionsbedingungen in Deutschland wettbewerbsverzerrend gestaltet. Das müssen wir sehr ernst nehmen und in Zukunft besser gestalten; denn am Ende entscheidet auch der Preis pro Flasche darüber, wie rentabel Weinbau ist. Kurzum, ich will mit Goethe schließen – ich glaube, Zitate gehören beim Thema Weinbau dazu –: „Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken.“ ({3}) Deshalb wäre es schön gewesen, heute statt Wasser ein Glas Wein mit zum Platz zu nehmen. Frau Ministerin – Sie sind auch für den Weinbau zuständig –, vielleicht können wir das in Zukunft ändern. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Kassner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Friedrich Engels, dessen Geburtstag sich in wenigen Tagen zum 200. Mal jährt, ({0}) wurde einmal gefragt, was für ihn Glück bedeutet. Er antwortete: Ein Château Margaux aus dem Jahre 1848. ({1}) So weit, so gut. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass der deutsche Wein die Stärkung braucht. Deshalb überlegen wir uns, was wir tun können, um den Winzerinnen und Winzern in unserem Land Unterstützung zu geben. Nun ist Wein ganz sicher kein Thema – das haben Sie auch bei meinen Vorrednern gemerkt –, bei dem wir das große Streiten kriegen und wo die politische Auseinandersetzung gefordert ist. Aber ich denke, auch hier ist es wichtig, dass wir um den richtigen Weg ringen, gemeinsam den richtigen Weg finden. Ich möchte erst einmal ein ganz herzliches Dankeschön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an die Verantwortlichen in der Weinbranche richten; denn sie sind maßgeblich daran beteiligt, dass es schon im Vorfeld des heute zu beschließenden Gesetzes einen großen Konsens gab. Viele Dinge wurden ausgeräumt, und man hat sich auf die richtigen Wege verständigt. ({2}) Allerdings bleiben da noch ein paar Dinge übrig. Wenn unsere weinpolitische Sprecherin Birke Bull-Bischoff jetzt hier wäre, würde sie natürlich von Saale-Unstrut schwärmen. Sie würde die wunderbaren Winzergenossenschaften dort loben. Sie würde sagen: In diesem herrlichen Gebiet wird ob der vielen Steillagen, die es dort gibt, schwere Arbeit von den Weinbauern verlangt. Nichtsdestotrotz: Dieses Weinbaugebiet ist hoch angesehen. Ich komme – man hört es – aus dem hohen Norden, von der Insel Rügen. Neben meinen vier Weinreben im Garten haben wir da nicht so viel zu bieten. Allerdings gibt es ein junges Weinbaugebiet in unserem Land, das Stargarder Land. Dort wird ein sehr solider Mecklenburger Landwein gekeltert. So viel zur Werbung für die eigene Region. Das haben meine Kolleginnen und Kollegen vor mir ja auch alle getan; das musste halt sein. ({3}) Zu unserer Forderung. Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, weil wir uns wünschen, dass der Regionalität noch viel mehr Rechnung getragen wird. Man kann da mit viel Emotion viel für die Vermarkung tun. Das würden wir uns wünschen. Wir müssen auch an den Klimawandel denken. Wir wünschen uns, dass den Winzern Investitionszuschüsse gegeben werden, damit sie sich die entsprechenden Bewässerungssysteme leisten können. Aus diesem Grunde werden wir nicht den Wein verwässern, indem wir Wasser hineinkippen, sondern wir werden ein gutes, solides Glas danebenstellen und uns erst einmal kräftig enthalten. ({4}) Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Harald Ebner das Wort. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wein macht redselig. Möglicherweise sind deshalb schon vor den Weindebatten im Bundestag in vielen freundlichen Gesprächen die wichtigen Punkte abgeräumt worden. Wein trinken an sich ist ja auch was Schönes. Der Weinbau prägt aber auch das Gesicht dieses Landes entscheidend mit, und das soll auch so bleiben. Der erzielten Einigung zum Weingesetz stimmen wir zu; denn sie soll dazu beitragen, dass deutscher Wein auch in Zukunft seinem Qualitätsversprechen gerecht wird und im In- und Ausland besser vermarktet werden kann; das hat die Frau Ministerin schon gesagt. Mehr Transparenz und die Stärkung kleiner Anbaugebiete können da helfen. Aber es ist auch ein bisschen Wasser in dieser Weinkiste. Die echten Konfliktlinien wie die Kennzeichnung von Herkunftsangaben verstecken sich vor allem in der Weinverordnung. Den Streit werden die Bundesländer im Bundesrat austragen müssen. Den Streit sparen wir uns hier. Die Umstellung der Herkunftskennzeichnungen stellt für einige Erzeuger eine Herausforderung dar. Aus unserer Sicht braucht es da zwingend eine angemessene Übergangszeit. Darüber, ob das vier Jahre sein sollten oder sechs, Frau Ministerin, muss man wirklich nachdenken. Mit einer entsprechenden Übergangszeit geben wir allen die Chance, mit guter Umstellungsplanung und entsprechenden Vermarktungsinitiativen den Absatz ihrer Produkte zu sichern. ({0}) Aber für einen wirklich zukunftsfähigen Weinbau ist es mit der Novellierung des Weinrechts nicht getan. Die größte Gefahr ist jetzt die Klimakrise. Seit Jahren verzeichnet der Weinbau deutliche Veränderungen bei Vegetationsphasen, Reifedauern und dem Lesebeginn. Die Weinwirtschaft ist auf aktiven Klimaschutz angewiesen, und wir warten bis heute darauf, dass die Bundesregierung da endlich liefert. ({1}) Zum Zweiten geht es um Klimaanpassung. Die Kollegen haben ja schon erkannt, dass es auch um Züchtung geht, um neue Rebsorten. Deutschland hat bei der Resistenzzüchtung von Reben eine lange Tradition und ist europaweit führend auf diesem Gebiet. Hier ist nun etwas gelungen, was Gentechnikanhängerinnen und ‑anhängern ein bisschen ungelegen kommen mag: Gerade beim Wein, wo Züchtung enorm schwierig, komplex und langwierig ist, wurden tatsächlich gleich mehrere pilzwiderstandsfähige Sorten entwickelt, ganz ohne alte Transgentechnik und ganz ohne neue gentechnische Methoden wie CRISPR/Cas. Es geht also. ({2}) Genau diese Art von Züchtungserfolgen braucht unsere Unterstützung. Hier müssen wir eine massive Informationsoffensive starten, um den Bekanntheitsgrad solcher neuen Sorten zu erhöhen. Schnellere Markteinführung ist ein Teil davon, lieber Kollege Auernhammer. Wir müssen aber auch den Anbau dieser Sorten attraktiv machen, damit nicht nur, aber vor allem die Besten der Besten diese Sorten anbauen wollen; denn wenn wir hier viele Parker-Punkte haben, dann ist das die beste Vermarktungsoffensive. Weingeschmäcker ändern sich. Die Weinwirtschaft muss sich auf Veränderungen einstellen. Wir sollten mehr Flexibilität auf allen Seiten ermöglichen. Das ist wichtig, um auch in Zukunft die Weinbautradition in diesem Land zu erhalten. Wohl bekomm’s! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Maske, Herr Ebner! Richtig anziehen, bitte: hinterm Ohr. ({0}) – Das ist kein Kindergarten, das ist unsere Verantwortung. ({1}) – Ich habe es mir schon gedacht: Jetzt kommt eine Weinregion in Bayern. Letzter Redner in dieser weinseligen Debatte: Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein besonderer, herzlicher Gruß geht jetzt an alle Winzerinnen und Winzer, deren Weinanbaugebiet heute noch nicht genannt worden ist. ({0}) Dazu zählt das wichtigste Weinanbaugebiet Deutschlands, ({1}) Franken, ({2}) und der wichtigste Weinort, Tauberzell. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Darf ich das mal testen?

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich lade Sie gerne zu einem Glas Wein ein. Es erweitert jeden Horizont und dergleichen; da bin ich gern dabei. Aber jetzt zur Sache. Ich glaube, das alles Entscheidende hat die Frau Ministerin anfangs erwähnt; sie hat ihre Zustandsbeschreibung des deutschen Weins gegeben: Es ging um den Rückgang des Absatzes des deutschen Weines. Ich möchte hier mal klar und deutlich sagen: Die deutsche Weinproduktion ist nicht mehr ausreichend, um den deutschen Weintrinker mit Wein zu versorgen. Der Deutsche kauft lieber südafrikanischen, kalifornischen Wein, Südtiroler Wein statt deutschen Wein. Das sage ich auch vor dem Hintergrund des Ökologiegedankens, des Transportes. Umso wichtiger ist, dass wir hier vorankommen, dass wir eine Novelle zum Weingesetz machen und dann eine neue Weinverordnung.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Hoffmann von der FDP-Fraktion?

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kommt darauf an, wie viel Schoppen Wein er anbietet. ({0}) Gut, bitte.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Bei uns sagt man nicht „Schoppen“, sondern „Viertele“; aber sei’s drum. Ist Ihnen aufgefallen, dass unsere Landwirtschaftsministerin das sonnenreichste Weinbaugebiet vergessen hat, nämlich den Kaiserstuhl und Südbaden? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, was sagen Sie dazu?

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir ist das nicht aufgefallen. ({0}) Denn sie hat alle 13 deutschen Weinanbaugebiete genannt, wenn auch nicht alle namentlich. Wenn Sie der Meinung sind, Ihr Weinanbaugebiet ist etwas ganz Besonderes, dann bitte ich darum, dass Sie dem Parlamentarischen Weinforum einmal eine Kostprobe zur Verfügung stellen; dann können wir das auch gut beraten. – Danke schön. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wäre, hätten wir solch einen Absatzrückgang in anderen Produktionsbereichen der deutschen Landwirtschaft, hätten wir diesen Absatzrückgang bei Milch, bei Fleisch oder in anderen Produktionsbereichen? Ich sage das gerade am heutigen Tag. Vielleicht können Sie sich daran erinnern, was voriges Jahr an diesem 26. November in Berlin los war: Tausende Traktoren auf der Straße. Aber die Winzer, sind sie zu bescheiden? Wie auch immer: Wir müssen hier wieder stärker vorankommen, wir müssen den deutschen Weinbau wieder auf gesunde Füße stellen und wirklich nach vorne schauen. Mich hat ganz besonders beeindruckt: Bei unserem Fachgespräch, das wir im Ausschuss gehabt haben, hat jeder Verband seinen Beitrag geleistet. Aber ganz besonders beeindruckt hat mich die Vertreterin der Jungwinzer, Mara Walz, die gesagt hat: Wir wollen eine Zukunftsperspektive für den deutschen Wein; wir wollen eine Planungssicherheit für Generationen. – Das ist unser Auftrag heute. Das müssen wir bei diesem Weingesetz auch berücksichtigen, meine Damen und Herren. ({2}) Es gibt bei 13 Weinanbaugebieten, habe ich festgestellt, auch noch mehr als 13 Meinungen. Die Meinungsvielfalt in diesem Produktionsbereich ist wesentlich größer als in allen anderen Bereichen. Hier einen Kompromiss zu finden, ist schwierig. Aber wenn wir jedem Kompromiss nachgeben, wird es keine große Novelle. Deshalb ist der gefundene Gesetzentwurf auch der richtige. Ich bin überzeugt: Wir können vielleicht noch über ein oder zwei Jahre reden, was die Übergangszeiten anbelangt. Aber ich möchte schon daran erinnern: Wenn wir solch einen Rückgang beim Absatz haben und jetzt nicht handeln, dann ist der deutsche Wein in zehn, in zwanzig Jahren vielleicht zum Spottpreis von 99 Cent im Tetrapak beim Discounter im Angebot, aber er wird auf der Welt nicht mehr als Qualitätswein angesehen. Darum besteht hier jetzt Handlungsbedarf. Hier wurde schon lange die Grundlage gelegt, die Winzer haben schon lange darüber diskutiert, und jetzt müssen wir es angehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Jahr, 2020, ist ein besonderes Jahr. Wir wissen alle: Corona hat uns alle geprägt. Es hat aber auch die jungen Menschen geprägt, die im Weinbau unterwegs sind, die auch den deutschen Wein nach außen tragen. Ich denke hier an unsere Weinhoheiten. Egal ob das meine Tauberzeller Weinprinzessin ist oder die Deutsche Weinkönigin, sie haben sich alle in ihrer Regentschaft auf die Weinfeste gefreut, auf die Veranstaltungen, auf die Verkostungen; sie wollten was Gutes tun für den deutschen Wein. Und sie haben diese Herausforderungen angenommen. Deshalb ein ganz, ganz herzliches Dankeschön an unsere Weinhoheiten: Sie haben das in den sozialen Medien ganz hervorragend gemacht. Das soll unser Auftrag, unser Vorbild sein! ({3}) Zum Schluss ein herzliches Dankeschön an die Mitglieder des Parlamentarischen Weinforums. Man kann vieles werden im Deutschen Bundestag – vielleicht auch Vizepräsidentin –; aber um Mitglied im Parlamentarischen Weinforum zu werden, da muss man gewisse Grundvoraussetzungen haben. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Als Vizepräsidentin auch, mit Verlaub.

Artur Auernhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, dass ich das jetzt nicht weiter ausführe, was Sie geäußert haben. Aber ich will heute auch sagen: Ein herzliches Dankeschön an alle Mitglieder im Parlamentarischen Weinforum! Die Gründung des Parlamentarischen Weinforums hatte ja eine Ursache. Julia Klöckner könnte eine Geschichte dazu erzählen, genauso wie Gustav Herzog. Noch einmal: Herzliches Dankeschön für diese Zusammenarbeit! Diese Zusammenarbeit, sage ich jetzt ganz offen, ist vielleicht auch Ansporn, dass wir das bei dem einen oder anderen Gesetz auch so handhaben können. Dann ist unserer Demokratie auch geholfen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Artur Auernhammer. – Damit schließe ich die Aussprache.

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat kürzlich die höchste Armutsquote seit 1990 festgestellt. Dies ist nicht etwa durch Corona verursacht, nein, das ist das politische Armutszeugnis von 2019. ({0}) Menschen mit den niedrigsten Einkommen haben wegen der skandalösen Politik der Bundesregierung nun auch während der Coronakrise die größten Einbußen zu verzeichnen; das sagt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut. Hinzu kommt, dass die Ärmsten überall draufzahlen müssen: beim Kredit, beim Dispo, bei Ratenzahlungen. Damit wollen wir Linken uns nicht abfinden. ({1}) Die Schufa, gegründet als Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung, und andere Auskunfteien haben mittlerweile Kontrolle in fast allen Lebensbereichen: Kein Handyvertrag, kein Energievertrag, kein Mietvertrag ohne „Big Brother Schufa is watching you“. Wenn dann aber Superreiche Milliardenkredite erhalten, um hinterher Arbeitsplätze ins Ausland zu verlegen, muss man sich über Zorn bei Niedrigverdienern und Hartz-IV-Empfängern nicht wundern. Die Schufa von heute hat mit ihrer ursprünglichen Aufgabe, mit der Kreditsicherung, so gut wie gar nichts zu tun. Sie sammelt Daten von 68 Millionen Menschen in Deutschland und bewertet die Menschen dann im Geheimen. Damit muss Schluss sein. ({2}) Die schlechte Bewertung, also das sogenannte Scoring, macht den Alltag für Menschen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken, zum Spießrutenlauf. Wir Linken akzeptieren nicht, dass diese „Selbsthilfeorganisation des Bankensektors“, wie sie der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar einst nannte, die Ärmsten in noch größere Schwierigkeiten stürzt und ihre Existenz bedroht. Die Schufa-Datenbank enthält so viele Fehler, dass selbst Menschen, die nie in Zahlungsverzug geraten sind, plötzlich Schwierigkeiten bekommen. Der Score berechnet sich eben oft nicht am eigenen Verhalten. Nein, die Menschen werden in Vergleichsgruppen mit Menschen mit ähnlichen Eigenschaften gesteckt und beurteilt: nach Alter, Geschlecht, aber auch nach Name und Wohnort. Dies ist Diskriminierung pur. ({3}) Wer kontrolliert das alles? Das sind die Datenschutzaufsichtsbehörden der Länder. Wobei das Wort „Kontrolle“ hier eigentlich falsch ist. Denn tatsächlich erstellen die Unternehmen selbst Gutachten über sich, und diese werden dann von den Behörden abgenickt. So können die Unternehmen diese Berechnungsmodelle als Betriebsgeheimnisse für sich behalten. Das ist so, als wenn ein Autoraser hinterher selbst seine eigene Geschwindigkeit schätzen könnte. Das Ganze ist einfach eine Farce. ({4}) Die Schufa vertritt die Interessen des Banken- und Finanzsektors und eben nicht die der kleinen Verbraucherinnen und Verbraucher. ({5}) Es ist also höchste Zeit, den Kniefall der Politik vor solchen privaten Unternehmen endlich zu beenden. ({6}) Dies ginge sofort und ganz leicht. Deswegen fordern wir Linken erstens, dass das Einholen von solchen Bonitätsbewertungen gesetzlich verboten wird – mit der Ausnahme der Beantragung von Krediten –, und zweitens, dass eine vollständige Transparenz über diese Berechnungsmethoden und all ihre Faktoren hergestellt wird. Wir fordern außerdem, dass die Datenschutzbehörden so ausgestattet sind, dass sie selbst solche Gutachten erstellen können. Völlig klar muss doch sein, dass es während der Coronakrise keinerlei negativen Einträge bei der Schufa geben darf. ({7}) Die Regelungen zum Zahlungsaufschub sind am 30. Juni dieses Jahres abgelaufen. Diese müssen doch sofort verlängert werden. ({8}) Ja, Vertragsfreiheit ist grundgesetzlich festgeschrieben; aber diese kann doch nicht über grundlegenden Menschenrechten stehen. Unser Antrag kann und soll ein Anfang sein, sich den Geschäftspraktiken von Schufa und Co und ihren negativen Auswirkungen auf grundlegende Menschenrechte entschieden entgegenzustellen. Also, öffnen wir endlich die Blackbox Schufa! Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Zaklin Nastic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Steineke. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wir gerade schon gehört haben, beraten wir heute über einen Antrag der Linken, der, überspitzt formuliert – man muss es eigentlich gar nicht mehr überspitzen –, besagt: Wir brauchen keine Bonitätsprüfungen mehr; wir schaffen die Schufa ab. – Das ist eigentlich der Antrag. Das mag für den Außenbetrachter vielleicht ganz nett sein. Aber am Ende des Tages ist es gerade auch für die Verbraucher schlecht, wenn es keine Bonitätsprüfung mehr gibt. Denn ganz grundsätzlich gesehen ist das Scoring nichts Schlechtes; es ist sogar was völlig Normales. Es geht darum, dass eine Wahrscheinlichkeit berechnet wird, mit der der Kunde oder der Kreditnehmer am Ende des Tages seine Rechnung bezahlt – oder eben nicht. Das ist das Normalste auf der Welt. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Beispiel anfangen, jemandem aus dem Freundeskreis Geld zu leihen, vergewissern Sie sich in der Regel doch auch vorher, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie das Geld auch wiedersehen. ({0}) Vielleicht verzichten Sie in den Fällen darauf, wo man sich besonders gut kennt. Aber dieses Glück haben die Unternehmen nicht. Es ist doch völlig selbstverständlich und logisch, dass Unternehmen wissen wollen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ihre Rechnungen bezahlt werden oder die Käufe im Internet per Rechnung bezahlt werden können. Etliche Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland mit Kauf auf Rechnung umgesetzt. Scoring ist in diesem Zusammenhang unerlässlich und wichtig für den ganzen Wirtschafts- und Handelskreislauf. ({1}) Übrigens – darauf muss man hinweisen – betrifft das nicht nur die großen Player am Markt, sondern vor allen Dingen die kleinen und mittleren Unternehmen, für die jeder Ausfall in der Zahlung existenzbedrohend sein kann, wenn die Kunden regelmäßig nicht zahlen. Das gehört zur Wahrheit dazu. Vielleicht noch mal zu den Zahlen. Nach Auskunft der Schufa haben knapp 91 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die erfasst sind, eine positive Bonität. Die Kreditausfallrate lag im September dieses Jahres bei 2,1 Prozent und damit genauso hoch wie in den letzten beiden Jahren – wohlgemerkt: trotz Corona. Im Umkehrschluss heißt das: 97,9 Prozent aller Konsumentenkredite werden ordnungsgemäß bedient. Der ganz überwiegende Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher erfüllt seine Dauerschuldverhältnisse und zahlt seine Rechnungen. Es gibt also überhaupt keinen Grund, alle anderen Verbraucher dadurch zu benachteiligen, wie der Antrag es fordert, dass man die Bonitätsprüfung abschafft. Sie stellen mit diesem Antrag eigentlich alle anderen Verbraucher unter den Generalverdacht, dass sie nicht zahlen. Scoring ist sogar etwas Positives für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Gäbe es das nicht, ist doch geradezu selbstverständlich, was folgen würde: Die Unternehmen müssten anders kalkulieren, um den Zahlungsausfall abzufedern. Das heißt, die Produkte werden für alle auf dem Markt teurer. Wir sprechen hier also nicht nur von Einschränkungen für die Wirtschaft, sondern wir sprechen auch von Einschränkungen und klaren Nachteilen für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine weitere Forderung betrifft die Löschfristen; Sie haben es ja vielleicht nebenbei noch kurz erwähnt. Sie wollen hier eine Löschfrist von einem Jahr. Auch dazu muss man vielleicht zwei, drei Sätze sagen. Das Schuldnerverzeichnis an den Vollstreckungsgerichten kennt die Löschfrist von drei Jahren. Auch die Löschfrist bei der Restschuldbefreiung beträgt drei Jahre. ({2}) Das ist aus unserer Sicht zwingendes europäisches Recht. Das heißt, wir können es gar nicht ändern und würden ein Vertragsverletzungsverfahren kassieren, wenn wir es trotzdem machen würden. Der klassische Fall außerhalb der Bankkredite – es ist im Antrag angesprochen – ist das Thema Mobilfunk. Unstrittig sind die meisten Menschen auf Mobilfunk angewiesen. Hieran hängen – das wird gerne vergessen, auch im Antrag – aber eben nicht nur die Vertragslaufzeiten, sondern in vielen Fällen teure Endgeräte, die mitverkauft worden sind. Also geht es am Ende des Tages nicht nur um den nichterfüllten Vertrag, sondern auch um das nicht erstattete, das nicht bezahlte technische Endgerät. Auch auf diesen Kosten bleibt das Unternehmen dann sitzen. Auch das darf man nicht vergessen. Es gibt Alternativen für diese Kundinnen und Kunden. Das betrifft das Thema Prepaid; wir haben darüber gesprochen. Dort gibt es keine Bonitätsprüfung, also wird auch niemandem die Möglichkeit genommen, Mobilfunk zu nutzen. Trotz aller Kritik an diesem Antrag gibt es natürlich auch in diesem Bereich Themen, über die wir reden müssen. Zum Beispiel ist in den letzten Wochen und Monaten das Thema „Bonushopper bei Energieversorgungsverträgen“ aufgekommen. Es sollen wohl Datenbanken aufgebaut werden, in denen die Daten von Zahlungswilligen und Zahlungsfähigen, also Leuten, die ihre Verpflichtungen erfüllen, gesammelt werden, um, so sagen die Unternehmen, einfach mal zu gucken. Aber man könnte davon ausgehen, dass darüber nachgedacht wird, diesen dann keinen neuen Vertrag zu geben. Über solche Dinge müssen wir reden; denn das ist sicherlich nicht im Sinne der Energiewende, und das ist auch nicht im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Zum Abschluss möchte ich noch zwei Dinge sagen: Wenn der Antrag so beschlossen würde, würden Sie nicht nur die Unternehmen schwächen, sondern auch die Verbraucherinnen und Verbraucher. Sicher kennt jeder von Ihnen das Thema Hausbau, wo man sich gerne mal über die Liquidität des Gegenübers informieren möchte, um sicherzugehen, ob der überhaupt bauen kann. Das würden Sie aber dabei und bei anderen größeren Investitionen verhindern; der Verbraucher könnte sich nicht mehr informieren. Morgen beschließen wir Verbesserungen des Verbraucherschutzes im Inkassorecht in erheblichem Umfang, und das ist gut. Sie wollen aber noch weiter runter: Sie würden die Unternehmen in die doppelte Zange nehmen. Sie wollen erreichen, dass die Unternehmen das nicht mehr kostendeckend geltend machen können; sie dürfen sich aber auch vorher nicht über den Zahlungsausfall informieren. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein, und deswegen werden wir diesem Antrag auch nicht zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Thomas Seitz. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal müssen wir uns hier im Hohen Haus mit einem Antrag der Linken befassen, der mit jedem Wort Ihr unfreiheitliches und realitätsblindes Weltbild offenbar werden lässt. Schufa und andere Auskunfteien sind Ihnen doch einfach ein Gräuel, und deshalb wollen Sie sie am besten allesamt verbieten. Es ist Ihnen mit der Forderung nach der Schaffung von Transparenz und besserer Kontrolle doch gar nicht ernst, wenn der Großteil des Geschäfts in Bezug auf Privatpersonen einfach verboten werden soll. Um nichts anderes geht es, wenn Sie die Überprüfung der finanziellen Zuverlässigkeit von Privatpersonen auf Kreditverträge beschränkt sehen wollen. Mit solchen völlig überzogenen Forderungen verhindern Sie aber nur, dass eine echte Debatte darüber geführt wird, wo es wirklich gravierende Mängel gibt und wie man hier Abhilfe schafft. Wir sind uns vermutlich einig, dass es gerade im Hinblick auf Datenschutz sowie Qualität und Transparenz der eingesetzten Berechnungsalgorithmen viel zu verbessern gibt. Ja, Kontrolldichte wie Kontrolltiefe müssen erhöht werden, und Auskunfteien müssen für fehlerhafte Auskünfte haften. Aber mit der Forderung nach pauschalen Verboten erreichen Sie rein gar nichts. In der rechtlichen Bewertung stellt sich Ihre neue Verbotsorgie, die auch absolut der Fraktion der Grünen würdig wäre, als ein interventionistischer Eingriff in das Wirtschaftsgeschehen dar. Es ist der Versuch, unsere freiheitliche marktwirtschaftliche Gesellschaft weiter in Richtung einer sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft zu transformieren. ({0}) Die haushohe „Überlegenheit“ der sozialistischen Planwirtschaft haben die Linken, als sie sich noch SED nannten, über Jahrzehnte vorexerziert. Wie sollten Sie da auch wissen, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Zivilrecht als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit grundgesetzlichen Schutz genießt? Hierzu gehört insbesondere das Recht, sich frei zu entscheiden, mit wem man sich vertraglich binden will und mit wem nicht. Es ist Ausdruck des wirtschaftlichen Grundverständnisses, dass Unternehmer wie private Vermieter nach Möglichkeit mit Vertragspartnern kontrahieren, bei denen die Umstände eine von Leistungsstörungen freie Vertragsdurchführung erwarten lassen. Eine Bevorzugung solventer und nicht vorbelasteter Vertragspartner stellt deshalb keine Diskriminierung dar. Auch in der praktischen Betrachtungsweise stellt sich Ihr Antrag als kompletter Unsinn dar. Wenn Sie angemessene Informationen über die wirtschaftliche und persönliche Zuverlässigkeit eines Vertragspartners verhindern, mag es sein, dass mancher Mietvertrag zustande kommt, den es mit einer Schufa-Auskunft nicht gegeben hätte. Damit ist das Problem eines völlig überlasteten Wohnungsmarktes aber nicht gelöst. Es ist der Zuzug von Millionen legaler und illegaler Migranten in den letzten Jahren, der den Wohnungsmarkt zum Kollabieren gebracht hat. ({1}) Was wäre also die weitere Folge, wenn Ihr Antrag umgesetzt wird? Spätestens nach der ersten Enttäuschung werden private Vermieter ihren Wohnraum lieber leer stehen lassen, als nochmals ein Risiko einzugehen. Das schadet nicht nur sozial benachteiligten Mietinteressenten, sondern allen. Auch ein gewerblicher Vermieter von Wohnraum hat schnell eine Umgehungsmöglichkeit gefunden: Es wird nur noch an Personen vermietet, die in der Lage sind, als Mietsicherheit eine Bankbürgschaft beizubringen. Die Auslese ungewollter Mieter erfolgt dann eben bei der Bank. Menschen mit einer geringen Bonität haben immer Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Wer aber Anspruch auf ALG II oder Sozialhilfe hat, der hat auch Anspruch auf Übernahme der Wohnkosten. Für die Übernahme der Wohnkosten werden Zusicherungsbescheinigungen durch die Jobcenter und Grundsicherungsämter ausgestellt. Diese Zusicherungsbescheinigungen reichen vielen Vermietern aus, um auch an Menschen mit geringerer Bonität zu vermieten. Dies geschieht bundesweit jeden Tag. Für die Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt dennoch nicht fündig werden, gibt es den sozialen Wohnungsbau, der aber auch zunehmend für die Unterbringung von Neubürgern reserviert ist. Entlasten Sie die Wohnungsnachfrage durch einen Stopp der illegalen Einwanderung und konsequente Abschiebung. Fördern Sie die Schaffung sozialen und privaten Wohnraums. Damit helfen Sie allen, die eine Wohnung suchen. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Seitz, bitte die Maske. Wir haben es letzte Woche eigentlich geübt. ({0}) – Nein, er hat schon eine dabei. – Danke schön. ({1}) Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner. ({2})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich mal vor, Sie wollen sich verhalten wie unsere Kanzlerin, also wie eine schwäbische Hausfrau. Als schwäbische Hausfrau werden Sie jährlich die Verbraucherpreise auf dem Strommarkt nicht nur vergleichen, nicht nur kontrollieren, sondern gegebenenfalls jährlich Ihren Vertrag kündigen und jährlich einen neuen Vertrag abschließen. Sie wählen den Vertrag, der Ihnen als der günstigste erscheint, und Jahr für Jahr stellen Sie fest, dass der vermeintlich günstigste Vertrag einen Bonus hat, der aber nur „Bonus“ heißt, jedoch kein echter Bonus ist. Stellen Sie sich vor: Nach einigen Wechseln finden Sie sich in der Situation, schon gekündigt zu haben, so wie in den Vorjahren auch, um den Termin zum Jahresende nicht zu verpassen, aber keinen neuen Vertrag mehr zu bekommen, sondern in der Grundversorgung – sehr teuer – zu landen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten nun diesen hohen Betrag zahlen und wüssten gar nicht, warum. Stellen Sie sich weiter vor, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie womöglich gerade in der Zeit, in der Sie den Stromvertrag gekündigt haben, weil Sie Ihre Wohnung wechseln wollen, einen Mietvertrag eingehen wollen, der Ihnen, ohne dass Sie wissen, warum, wegen der vorherigen Ablehnung der Energieversorgung versagt wurde. Ist dies Science-Fiction oder Realität? Nein, es ist noch keine Realität, es ist aber auch nicht Science-Fiction, sondern dahin wird der Weg führen, wenn in Deutschland ein unkontrolliertes Sammeln von Daten bei Auskunfteien erfolgt. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten gesehen, welche Daten insbesondere im Scoring zur Vermeidung von Boni bei Energieversorgungsunternehmen gesammelt werden, um bonussammelnde Kunden vom Markt fernzuhalten und lieber langfristige Abnehmer mit teureren Tarifen zu haben. Ich will keinen Hehl daraus machen: Auskunfteien sind ein wichtiger Baustein unseres Finanzkreislaufsystems, unseres Wirtschaftssystems und unseres Wirtschaftslebens. Ohne Auskunfteien und ohne Scoringsystem würden viele Dinge im Absatz und in unserer Wirtschaft gar nicht möglich sein. Aber ich sage auch ganz deutlich, dass an dieser Stelle Transparenz erforderlich ist, und zwar für die Verbraucherinnen und Verbraucher, damit sie wissen: Was ist dort über mich gespeichert? Viele Menschen wissen gar nicht, dass man bei der Schufa einmal im Jahr einen kostenlosen Auszug verlangen kann; die Information darüber ist noch nicht in der Gesellschaft verankert. Niemand weiß – selbst diejenigen nicht, die den Auszug bekommen –, was auf der letzten Seite des Auszugs steht und wie es zu dem Scoringwert kommt, der letztendlich die Bonität des einzelnen Verbrauchers darstellt. Deshalb ist mein Petitum zum Antrag der Linken: Gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Transparenz ist es, was wir für die Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen. Transparenz ist notwendig, um Entscheidungen auf dem Wirtschaftsmarkt glaubwürdig und richtig treffen zu können, und Transparenz beim Sammeln der Daten, beim Auswerten der Daten und vor allen Dingen bei der Errechnung der Bonität ist zwingend erforderlich, um Glaubwürdigkeit zu finden und die vorliegende Akzeptanz in der Gesellschaft und im Wirtschaftsleben zu erhalten. ({0}) Ich habe mich beispielsweise erkundigt, wie ein Scoringwert zustande kommt, und war überrascht darüber, dass das Scoring allein schon dadurch beeinflusst ist, dass über eine Person mehrere, also vielfältige Auskünfte eingeholt werden. Mit jeder zusätzlichen Auskunft, die man einholt, sinkt also der Scoringwert. ({1}) Und das ist ein Problem. Das darf nicht sein. Da müssen wir hinschauen; da müssen wir etwas tun. Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaube ich ganz fest, dass es gut war, sich mit dem Antrag der Linken dem Thema zu widmen. So, wie die Linken es allerdings wollen – es bei Mietverträgen, wo es notwendig ist, die Bonität zu wissen, bußgeldbewehrt zu verbieten, es im allgemeinen Rechtsverkehr zu verbieten, wo ich beispielsweise gemäß Fernabsatzgesetz im Internet etwas bestätige und nicht mal das Gesicht meines Gegenübers sehen kann –, kann es nicht richtig sein. Ich glaube auch, dass es nicht richtig ist, dass die Auskunfteien es in allen Fällen bereits nach einem Jahr zu löschen haben. Aber ich habe es beim Referentenentwurf zum Gesetz zur Verkürzung der Restschuldbefreiung als richtig angesehen, dort die Speicherfrist auf nur ein Jahr zu begrenzen, um den Menschen wieder ein Stand-up zu geben, eine Möglichkeit zu geben, am Wirtschaftsleben richtig ordnungsgemäß teilzunehmen, sodass sie nicht wegen eines Scoringwertes oder eines Eintrags bei der Schufa trotz Entschuldung, trotz Restschuldbefreiung nicht mehr am Wirtschaftsleben teilnehmen können. Hier müssen wir etwas tun. Hier müssen wir draufschauen. Hier müssen wir Lösungen finden. Und wir müssen Lösungen finden, den Scoringwert transparent, ordentlich und nachvollziehbar zu ermitteln und darzustellen, und müssen alle unsere Unternehmen, die Auskunfteien betreiben, dazu verpflichten, ihre Nutzerinnen und Nutzer darüber zu informieren, wie das Datenmaterial zustande kommt, und zwar nicht nur diejenigen, die die Daten bekommen, sondern genau auch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die ihre Daten dazu hergeben. Wenn wir dies nicht bußgeldbewehrt, wenn wir dies nicht mit Verboten und wenn wir das nicht so tun, wie die Grünen es wollen, durch ein Verbot der Sammlung von Daten, dann können wir, glaube ich, einen guten Weg für unsere Verbraucherinnen und Verbraucher finden und gleichzeitig die wichtige Aufgabe, die Auskunfteien in unserer Gesellschaft, in unserem Wirtschaftssystem haben, erhalten und damit etwas zur Sicherheit der Rückführung von Forderungen beitragen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im letzten Debattenpunkt hat meine Kollegin Carina Konrad ein Wort von Goethe zitiert. Zu diesem Debattenpunkt fällt mir ein Zitat von jemandem ein, den ich ansonsten nicht so häufig im Munde führe, nämlich von Lenin, ({0}) dem das Wort zugeschrieben wird: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. ({1}) Warum fällt mir das zu diesem Punkt jetzt gerade so ein? Vertrauen – davon sprach der Kollege Dr. Brunner soeben auch völlig zu Recht – ist eine wesentliche Grundlage gedeihlicher, gelingender Vertragsbeziehungen. Vertrauen muss aber auch entstehen, Vertrauen muss wachsen, und Vertrauen entsteht durch Transparenz. Das ist das, was Sie, Herr Kollege Brunner, auch gesagt haben. – Transparenz ist etwas, wofür wir von der FDP immer sind, meine Damen und Herren. ({2}) Und deswegen – das ist mir bei dem Antrag der Linken aufgefallen – stimmt ein Satz in Ihrem Antrag nicht; denn auch Unternehmen müssen Transparenz schaffen. Unternehmen unterliegen einer Publizitätspflicht. Nach dem Gesetz über den elektronischen Rechtsverkehr und das elektronische Handelsregister von 2007 müssen nämlich Unternehmen im Bundesanzeiger ihre Jahresabschlüsse offenlegen oder sie zumindest dort hinterlegen. Das heißt, die Behauptung in Ihrem Antrag, dass Verbraucher keine Möglichkeit hätten, sich über die Bonität von Unternehmen zu informieren, ist einfach falsch, meine Damen und Herren. ({3}) Dieser Punkt ist aber nicht nur falsch, er ist auch schräg; denn es geht ja gar nicht um die Frage, ob der Vermieter etwa Bonität besitzt. Darum, ob er zahlungsfähig ist, geht es ja beim Vermieter nicht. Er soll die Wohnung bereitstellen, und das kann der Mietinteressent ja durchaus nachprüfen. Er kann die Wohnung besichtigen. Das heißt also, sozusagen die Kehrseite zur Bonität des Verbrauchers ist der Umstand, dass der Vermieter die Wohnung zur Verfügung stellt, und das kann der Verbraucher ja nachprüfen. Deswegen ist Ihr Argument auch noch schräg – nicht nur falsch, sondern auch schräg. Nun ist eben genau dieses Thema des Scorings, von dem die Rede ist, sozusagen die Kehrseite zur Publizitätspflicht des Unternehmers. Der Verbraucher unterliegt keiner solchen Publizitätspflicht. Man kann nirgends nachgucken: Wie zahlungsfähig, wie solvent ist er denn eigentlich? Und deswegen, weil das der Vermieter auch nicht ermitteln kann – er müsste ja dann in die Gehaltsunterlagen und die Kontoauszüge des Verbrauchers hineingucken –, ist genau dieser Punkt ein ganz wichtiger: Der Verbraucher kann damit, dass er eine Selbstauskunft erteilt, genau diese Transparenz und das Vertrauen schaffen, das notwendig ist, um ein Mietverhältnis zu begründen. Und deswegen ist das, was Kollege Steineke sagte, völlig richtig: An diesem Scoring ist auch etwas Gutes dran, weil damit der Verbraucher, der Mietinteressent, seine Solvenz nachweisen kann. Und deswegen, meine Damen und Herren: Es gibt ein paar Punkte, die in Ihrem Antrag durchaus richtig sind; damit will ich meinen Beitrag heute abschließen. Es ist schon richtig: Auch Auskunfteien müssen Transparenz walten lassen, müssen sich an Datenschutzregeln halten, müssen die Qualität ihrer Auskunft garantieren. Aber diese richtigen Ansätze reichen nicht, dass wir Ihrem Antrag in der Sache nähertreten könnten. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Tabea Rößner. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer ohne nachvollziehbaren Grund einen Vertrag verweigert bekommen hat, merkt schnell: Wissen ist Macht. – Auskunfteien wie die Schufa haben Macht; denn sie wissen viel über uns. Dagegen wissen die Verbraucher, auch wenn sie es vielleicht einsehen können, wenig darüber, wie solvent oder vertrauenswürdig Unternehmen sind, mit denen sie Verträge schließen. Und wenn ein Unternehmen pleitegeht, bleiben die Verbraucher am Ende auf den Kosten sitzen. Das ist kein ausgewogenes Kräfteverhältnis, und das müssen wir dringend ändern. ({0}) Das Projekt OpenSCHUFA hat bereits vor zwei Jahren aufgezeigt, wie machtlos Bürgerinnen und Bürger gegenüber Auskunfteien sind. Sie wissen nicht, wie und welche ihrer Daten wie gewichtet werden und warum ihnen Kredite gewährt oder Verträge verweigert werden. Schon 2015 haben wir Grüne mit einem Gesetzentwurf mehr Transparenz und Regulierung beim Scoring gefordert. Auskunfteien sollten nur Daten speichern dürfen, die für die Bonitätsauskunft wirklich zwingend erforderlich sind, und Betroffene sollten auch jedes Jahr informiert werden, was über sie gespeichert wird, und sie müssen die Möglichkeit der Korrektur haben. Man kann zwar jährlich eine kostenlose Selbstauskunft einholen. Aber haben Sie das schon mal versucht? „Leicht gemacht“ ist etwas anderes. Auf der Webseite der Schufa fallen einem nur kostenpflichtige Auskünfte direkt ins Auge. Die Möglichkeit der kostenlosen Auskunft ist irgendwie im Kleingedruckten versteckt. Deswegen fordern wir eine aktive jährliche Auskunft, am besten per Brief oder Zugang zu einer Internetplattform – die Digitalisierung macht das ja möglich –, auf der man die gespeicherten Daten dann auch einsehen kann. ({1}) Die dreijährige Löschfrist sollte dringend überprüft werden; denn die negativen Folgen für Verbraucher wiegen schwer, wenn sie zum Beispiel Verträge für eine Wohnung oder Strom oder Gas nicht abschließen können. Die Speicherung der Erteilung der Restschuldbefreiung durch Auskunfteien muss daher deutlich verkürzt werden. Da waren sich bei der Anhörung auch alle Sachverständigen einig. Deshalb verstehe ich es auch nicht, dass die Bundesregierung dies zwar im Referentenentwurf zum Restschuldbefreiungsverfahren vorgesehen hatte, aber im Gesetzentwurf wieder gestrichen hat. Das müssen Sie uns vielleicht doch noch mal erklären. Wir verlangen zudem eine stärkere jährliche Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden; denn Algorithmen, wie sie die Schufa einsetzt, müssen diskriminierungsfrei, überprüfbar und auch korrigierbar sein. ({2}) Ziel muss ein fairer Interessenausgleich sein. Beim Antrag der Linken habe ich da auch Bedenken, wenn beispielsweise Bonitätsauskünfte bei Mietverträgen ganz verboten werden sollen. Denn Vermieter haben ein berechtigtes Interesse, Informationen über die Bonität ihrer potenziellen Mieter zu bekommen. Ein komplettes Verbot wäre verfassungsrechtlich auch bedenklich. Scoring darf nicht ausufern. Und es wird gemunkelt – das wurde angesprochen –, dass an einem Datenpool bei Stromverträgen gearbeitet wird, mit dem wechselfreudige Kunden identifiziert werden können. So etwas darf nicht kommen und würde zudem der Idee der Liberalisierung des Energiemarktes auch komplett zuwiderlaufen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt also viel zu tun, um das Kräfteverhältnis zwischen Auskunfteien und Verbrauchern geradezurücken. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tabea Rößner. – Als letzter Redner in dieser Debatte redet der ehrenwerte Paul Lehrieder für die CDU/CSU. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich warte gern noch etwas, wenn Sie mich weiter loben wollen, Frau Präsidentin.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sonntag ist der erste Advent.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In unserem Land besteht grundsätzlich die im Grundgesetz verankerte Vertragsfreiheit. Mit der hat eine Partei in diesem Haus immer wieder sichtliche Probleme. Lieber Matthias Birkwald, liebe Frau Nastic, heute Nachmittag haben wir hier über die Frage eines Kündigungsschutzes für über 70-jährige Mieter debattiert. ({0}) Das klingt toll, das klingt gut, aber das ist bei Ihren Anträgen immer so. Es gibt da immer zwei Seiten der Medaille, eine positive, die verlockend klingt – das ist der Kündigungsschutz für über 70-jährige Mieter –, aber gleichzeitig die Rückseite der Medaille, nämlich die Problematik, dass dann ein 65-jähriger, 67-jähriger, 68-jähriger Mietinteressent gar keinen Mietvertrag mehr bekommen wird. ({1}) Das heißt ja im Endeffekt: Was immer gut gemeint ist, ist noch lange nicht gut gemacht. ({2}) – Er darf eine Zwischenfrage stellen; ich würde sie zulassen, Frau Präsidentin. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, das kann er jetzt nicht. Jetzt reden Sie. Ich weiß schon: Sie wollen wieder mehr Redezeit. ({0}) Los geht’s! Sie haben immer noch vier Minuten.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Birkwald, auch für euch gilt: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! – Das heißt: Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende. – Sie sind mit diesem Antrag gerade wieder im Begriff, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Vorredner haben bereits zum Teil darauf hingewiesen: Es gibt ja bei der Schufa nicht nur die negative Auskunft. Es gibt ja bei der Schufa nicht nur die Situation, dass ein gesperrtes Konto, ein nicht zurückgezahlter Kredit oder eine offene Mahngebühr dazu führt, dass eine Auskunft negativ ist. Es gibt genauso die Möglichkeit, nichts auf dem Kerbholz zu haben, also keine Probleme, keinen Schufa-Eintrag. Damit schafft man – es wurde von den Kollegen bereits angesprochen – eine Vertrauensbasis, wie es sie in früheren kleinen Gesellschaften, in kleinen Dörfern gegeben hat: Da hat man sich gekannt; da wurde beim Viehhändler noch der Vertrag mit Handschlag besiegelt; ({0}) da kannte man den Vertragspartner. Es gibt aber in unserer heutigen Gesellschaft oft genug anonyme Vertragsverhältnisse: Man kennt den Vertragspartner nicht. Um das Vertrauen herzustellen, gibt es die Möglichkeit, eine Schufa-Auskunft einzuholen. – Frau Nastic wollte mich was fragen, Frau Präsidentin. ({1}) Ich würde es zulassen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wollen Sie wirklich was fragen, Frau Nastic? – Gut. Sie lassen es zu?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. ({0})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Was sagen Sie denn zu den heutigen Nachrichten, dass die Schufa millionenfach Daten eingekauft hat, mittlerweile auch Kontoauszüge durchleuchten will, damit den Datenschutz massiv verletzt und die Menschen quasi zu gläsernen Bürgern macht? Damit wären der Schufa alle Kontobewegungen bekannt. Auch der ehemalige Datenschutzbeauftragte Peter Schaar ist alarmiert und wendet sich massiv gegen das, was die Schufa da gerade macht. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Frau Nastic, für die Frage. – Ich bin weit davon entfernt, die Schufa heiligzusprechen. Natürlich: Wo die Schufa arbeitet, können auch Fehler gemacht werden. Es muss unter Datenschutzaspekten geprüft werden, ob die Sammelwut, die manchmal an den Tag gelegt wird, überhaupt begründet und verhältnismäßig ist, ob die zur Zweckverfolgung gewählten Mittel überhaupt sinnvoll sind. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sind das noch die Reste von der Weindebatte? ({0}) – Die Weindebatte hat in Ravensburg ihre Spuren hinterlassen. ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt bitte ich doch, das Thema ernst zu nehmen. – Noch mal, Frau Nastic: Ich verkenne nicht, dass bei der Schufa auch Fehler gemacht werden. Wenn die Informationen, die ich auch heute Nachmittag der Presse entnehmen konnte, zutreffend sind, dann muss das eingegrenzt werden. Es wurde ja von der Kollegin Rößner vorhin ausgeführt, dass wir natürlich auch bei der Schufa die Einhaltung der Regeln immer wieder überprüfen müssen. Vielleicht noch was dazu: Die Chancen einer positiven Schufa-Auskunft sind natürlich mindestens genauso groß wie die Risiken oder Probleme, die ein Vertragsanbahnungsinteressent bei einer negativen Auskunft hat. Deshalb lassen Sie uns bitte beide Seiten der Medaille sehen, nämlich auch die Möglichkeit, mit einer positiven Schufa-Auskunft die Basis für eine vertrauensvolle Vertragsanbahnung zu schaffen. Das vermisse ich in Ihrem Antrag komplett. Das heißt, Sie schütten das Kind wieder mit dem Bade aus, und das ist schade. Es ist, wie gesagt, legitim, dass beide Vertragsparteien Informationen über die jeweils andere Seite einholen und sich informieren, um zu wissen, dass der Vertrag tatsächlich erfüllt werden kann. Es ist tatsächlich so, dass viele wirtschaftlich nicht so begüterte Verbraucher – Mietinteressenten, Kaufinteressenten, Verbraucher, die ein Handy kaufen, einen Handyvertrag oder einen Stromliefervertrag abschließen wollen – davon auch profitieren. Es gibt zwei Möglichkeiten: Der Vertragspartner kann sich durch eine Bankbürgschaft absichern. Die Bankbürgschaft kostet aber Geld. Oder ich kann sagen: Okay, ich lege eine Selbstauskunft der Schufa vor. Ich habe bisher immer meine Rechnungen ordentlich bezahlt. ({0}) – Nein, das ist jetzt in Anführungszeichen, Herr Kollege Birkwald. – Du kannst mit gutem Gewissen einen Vertrag mit mir eingehen. Die Chancen für die Verbraucher verkennen Sie in Ihrem Antrag. Mit der Abschaffung der Schufa würden Sie die Situation für die Verbraucher keineswegs verbessern, sondern verbösern. Deshalb wird es Sie nicht wundern: Wir werden den Antrag ablehnen. Nachdem ich eine so großzügige Präsidentin hinter mir habe, möchte ich meine Redezeit nicht ganz ausschöpfen. ({1})

Not found (Minister:in)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! 1,6 Milliarden Plastiktüten pro Jahr verbrauchen wir in Deutschland. Oft werden sie nur wenige Minuten genutzt, viel zu häufig landen sie dann in der Umwelt, und es braucht 100 Jahre, bis sie sich zersetzen. Die Tüte ist also der Inbegriff der Ressourcenverschwendung. Gerade in Zeiten, in denen es um Mehrweglösungen geht, um wiederbefüllbare Kaffeebecher und Essensbehälter – sie setzen sich langsam durch –, in Zeiten, in denen man sogar Weihnachtsbäume mieten kann, muss man dieser Mentalität – einmal nutzen und dann einfach wegschmeißen – endlich etwas entgegensetzen. Das hat in der heutigen Zeit nichts mehr zu suchen. ({0}) Der Konsum von Plastiktüten ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, auch dank der Vereinbarung meiner Vorgängerin Barbara Hendricks mit dem Handel. Und jetzt ist es an der Zeit, den Verbrauch auf null zu senken. Wir brauchen die Tüten nicht mehr. Die neue gesetzliche Regelung erreicht auch diejenigen, die sich bisher nicht an den freiwilligen Vereinbarungen beteiligt haben. Das Verbot gilt für die Tüten, die besonders selten wiederverwendet werden. Ausgenommen sind die Hemdchenbeutel, also diese ganz dünnen Tüten. Sie werden oft aus hygienischen Gründen für lose Lebensmittel genutzt. Wenn man sie verbieten würde, würden sie durch viel aufwendigere Plastikverpackungen ersetzt, und deswegen wollen wir das nicht. Es darf uns nicht passieren, dass die Plastiktüten durch etwas Aufwendigeres ersetzt werden. ({1}) Deswegen wird das Bundesumweltministerium beobachten, wodurch die Plastiktüte ersetzt wird, und dann gegebenenfalls auch noch mal nachsteuern. Das Verbot der Plastiktüte ist der erste Schritt. Dem werden weitere folgen. Ich habe ja in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem künftig immer auch eine Mehrwegalternative zu Einwegverpackungen für To‑go-Gerichte und To‑go-Getränke angeboten werden muss. Denn vollkommen klar ist: Mehrweg ist die Zukunft – auch beim Einkaufen. Eine Mehrwegtragetasche aus Kunststoff rechnet sich für die Umwelt bereits nach dreimaligem Benutzen. Deswegen muss das die Alternative werden. ({2}) Sie wissen, dass ich das Plastiktütenverbot ursprünglich ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes in Kraft setzen wollte. Viele Geschäfte stehen jetzt durch Corona unter erheblichem Druck, und es macht auch keinen Sinn, Restbestände von Plastiktüten jetzt einfach zu vernichten. Deshalb stehe ich dem Vorschlag sehr offen gegenüber, dass die Anwendung des Verbots erst ab dem 1. Januar 2022 realisiert wird. Meine Damen und Herren Abgeordnete, diese Woche ist die Europäische Woche der Abfallvermeidung. Europaweit werden Projekte vorgestellt, die Alternativen zu dieser Wegwerfgesellschaft aufzeigen. Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt für das Verbot der Plastiktüte, und ich bin mir sicher: Wir werden sie alle nicht vermissen. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Svenja Schulze. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Andreas Bleck. ({0})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Verpackungsgesetzes beinhaltet das sinnloseste umweltpolitische Verbot dieser Legislaturperiode. Das Inverkehrbringen von Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke von weniger als 50 Mikrometern soll verboten werden. Die Bundesregierung begründet das unter anderem mit europarechtlichen Vorschriften und dem Umweltschutz. Keiner der aufgeführten Gründe hält jedoch einer kritischen Betrachtung stand. ({0}) Tatsache ist: Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von Kunststofftragetaschen bis 2025 auf höchstens 40 zu reduzieren. So weit, so gut. Durch die freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und dem Handelsverband Deutschland konnte der Verbrauch von 2015 bis 2018 von 68 auf 24 Kunststofftragetaschen reduziert werden, also um fast zwei Drittel. Das bedeutet: Die Bundesrepublik Deutschland übererfüllt europarechtliche Vorschriften bereits heute – und das ohne direkten staatlichen Eingriff in den Markt. ({1}) Damit hat sich die freiwillige Vereinbarung als erfolgreich erwiesen. Statt den Händlern mit ihrem Gesetzentwurf in den Rücken zu fallen, sollte die Bundesregierung ihre Leistung also anerkennen und wertschätzen. ({2}) In einer Pressemitteilung zum Gesetzentwurf sagte die Umweltministerin – Sie haben es heute auch wiederholt –, dass die Kunststofftragetasche der Inbegriff von Ressourcenverschwendung sei und diese häufig in der Umwelt landen würde. Ganz so einfach, Frau Umweltministerin, ist es nicht. Erstens. Kunststofftragetaschen machen nur einen Anteil von 1 Prozent an den Kunststoffabfällen aus. Zweitens. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Kunststofftragetaschen eine größere Rolle bei der Vermüllung der Umwelt spielen. Drittens. Es gibt auch keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Kunststofftragetaschen mehr Ressourcen verschwenden als beispielsweise Papiertragetaschen. Stattdessen kommen viele Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Ökobilanzen von Kunststofftragetaschen besser sind als die Ökobilanzen von Papiertragetaschen. Die Frage nach den Ökobilanzen ist von entscheidender Bedeutung für ein Verbot bestimmter Tragetaschen; denn durch ein Verbot wird der eigentliche Zweck der Tragetasche ja nicht mit abgeschafft. Die Verbraucher möchten auch in Zukunft Waren sicher und zuverlässig transportieren, und darauf werden die Händler reagieren. Mit diesem Gesetzentwurf ersetzt die Bundesregierung also nur die Kunststofftragetasche durch die Papiertragetasche, und die ist umweltpolitisch eben kontraproduktiv. Und genau deshalb lehnt die AfD den Gesetzentwurf ab. ({3}) Auch der im Ausschuss vorgelegte Änderungsantrag von CDU/CSU und SPD vermag daran nichts zu ändern. Die Verlängerung der Übergangsfrist auf ein Jahr, damit die Händler ihren Vorrat an Kunststofftragetaschen verbrauchen können, wird in der von Ihnen verschuldeten Lockdown-Krise verpuffen. Einzig und allein der Entschließungsantrag der AfD ist hier konsequent. Wir halten nämlich fest, dass der Gesetzentwurf einen direkten staatlichen Eingriff in den Markt darstellt, der weder mit europarechtlichen Vorschriften noch mit dem Umweltschutz begründet werden kann. ({4}) Außerdem halten wir darin fest, dass der Gesetzentwurf nicht die Vermeidung, sondern die Substitution stärkt. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, ihren Gesetzentwurf einzustampfen. Stattdessen sollte sie die erfolgreiche freiwillige Vereinbarung fortschreiben und eben auch Daten zum Verbrauch von Papiertragetaschen erheben. Werte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Umweltpolitik besteht im Wesentlichen nur noch aus Verteuern, Verknappen, Verbieten. Sie lassen sich bei Ihrer Umweltpolitik von der grünen Regulierungs- und Verbotspartei treiben. Die AfD ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die Mitte und Maß in ihrer Umweltpolitik walten lässt. ({5}) Wir sind der Anwalt der Bürger, die sich von Ihnen nicht mehr abzocken und einengen lassen wollen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Björn Simon. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der hier vorliegenden Änderung des Verpackungsgesetzes verfolgen wir ein Ziel, das in diesem Hohen Haus nicht strittig sein dürfte – ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob das bei der AfD auch noch so ist –: der Schutz der Umwelt. Wir wollen ein Zeichen setzen, alternativen Materialien Vorschub leisten und aufzeigen, dass der alltägliche Einsatz von Einwegkunststoffen schwerwiegende Folgen für die Natur haben kann. ({0}) Deswegen haben wir uns mit unserem Koalitionspartner und dem Umweltministerium in vielen und intensiven Gesprächen darauf verständigt, das Inverkehrbringen von Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke von 15 bis 50 Mikrometern – das sind beispielsweise die Tragetaschen an der Supermarktkasse – ab dem 1. Januar 2022 zu untersagen. Darum geht es in diesem Gesetzentwurf – und nicht um mehr und nicht um weniger. Dabei zeigt bereits ein Blick vor Ort, dass die klassische Plastiktüte schon heute kaum mehr an der Supermarktkasse erhältlich ist. Auch Bekleidungsgeschäfte und der sonstige Einzelhandel verzichten mittlerweile selbst auf die Kunststofftragetasche. Die Plastiktüte ist seit Jahren ein Auslaufmodell; so ist es nun mal. Die statistischen Erhebungen bestätigen diese Beobachtung. Nutzte im Jahr 2016 jeder Bundesbürger über 70 Plastiktragetaschen, sind es heute nur noch rund 20 Stück im Jahr. Woran liegt das? Bereits 2016 erarbeitete der Handel zusammen mit dem BMU eine freiwillige Selbstverpflichtung, deren Ziel die Reduzierung der Anzahl an Plastiktüten in Deutschland war, und das ist ein Erfolgsmodell gewesen. Ich möchte an dieser Stelle aber betonen, dass dieses Gesetz, das wir heute beschließen, nicht auf die geringe Wirksamkeit dieser Selbstverpflichtung zurückzuführen ist. Ganz im Gegenteil! Ich möchte dem Handel ausdrücklich dafür danken, dass er diese Vorgaben so vorbildlich sogar übererfüllt hat und schon heute kaum mehr Plastiktüten ausgegeben werden. ({1}) Mit der heutigen Ergänzung des Verpackungsgesetzes wollen wir diese erfolgreiche Selbstverpflichtung fortschreiben und die Entwicklung aber auch absichern. Dabei muss klar sein und bleiben: Ein Verbot darf immer nur die letzte Instanz sein. Meine Damen und Herren, die Plastiktüte ist ja nicht per se eine schlechte Erfindung; das sagt ja auch keiner. Die Kunden nutzten sie viele Jahre als hygienischen und praktischen Transportartikel; für die Geschäfte war sie ein günstiger Werbeträger. Gleichzeitig ist die Plastiktüte in ihrer heutigen Form aber nicht mehr zeitgemäß. Sie steht sinnbildhaft für eine Wegwerfgesellschaft und Ressourcenverschwendung und ist schlicht in Verruf geraten. Sie ist zum Symbol für einen gedankenlosen Umgang mit unserer Umwelt geworden; so ist es nun mal. Mit dem heute zu beschließenden Verbot wollen wir ein Zeichen für die Abfallvermeidung und für die Ressourcenschonung setzen. Ich möchte aber auch kein Geheimnis daraus machen, dass wir als Union dem Gesetzentwurf durchaus auch kritisch gegenüberstehen. Es gab unlängst ja eine Info aus dem BMU, wonach die Plastiktüten unter 1 Prozent des gesamten Verpackungsaufkommens in Deutschland ausmachen – also nicht wirklich viel. Wir hätten uns daher eine ökobilanzielle Betrachtung gewünscht, in der mögliche Alternativen und mögliche Substitute auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft worden wären, und zwar vorher. ({2}) Unsere Forderung nach einer Ökobilanz ist mit dem heute vorliegenden Gesetz auch nicht vom Tisch. Wir stellen diese Forderung umso lauter, um weitere Produktverbote in Zukunft zu verhindern. ({3}) Aber an dieser Stelle kann ich dem Umweltministerium dafür danken, dass hier nun endlich Schritte unternommen werden. Denn – das möchte ich hier in aller Deutlichkeit sagen – die Plastiktüte darf keineswegs durch andere Einwegprodukte ersetzt werden; das wurde schon gesagt, und das ist auch richtig. Wir wissen schon heute, dass die Papiertüte nicht unbedingt ökologisch sinnvoller ist, auch wenn das oft suggeriert wird – durch Material, Farbe und Werbebotschaften auf der Tüte, die genau dieses Image ja auch vermitteln sollen. Aber diese Papiertüte muss dafür zumindest zehnmal wiederverwendet werden, und wenn Feuchtigkeit ins Spiel kommt, ist diese Wiederverwendungsmöglichkeit futsch. Mehrweglösungen wie beispielsweise die feste Kunststofftragetasche aus Rezyklat, der klassische Einkaufskorb, Taschen und Rucksäcke, die man Hunderte Male wiederverwenden kann, sind hier sinnvolle und richtige Alternativen, die wir unterstützen wollen. ({4}) Wir werden den Markt ganz genau beobachten; das hat die Ministerin auch schon gesagt. Und wir schauen, durch welche Materialien die dünnwandigen Kunststofftragetaschen ersetzt werden und ob wir nachsteuern müssen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jede Plastiktüte, die in Deutschland nicht wiederverwendet oder nicht richtig entsorgt wird, stellt ein Umweltproblem dar. Und jede achtlos in die Umwelt geworfene Plastiktüte ist eine zu viel. Mit der Gesetzesvorlage werden wir die Plastiktüte zumindest in Deutschland zukünftig aus der Umwelt verbannen und folgen damit dem Grundsatz des Kreislaufwirtschaftsgesetzes, wonach die Vermeidung des Abfalls Vorrang vor sonstigen Maßnahmen der Abfallbewirtschaftung hat. Aus vielen Gesprächen mit betroffenen Händlern und Verbänden weiß ich, dass schon heute kaum jemand neue Plastiktüten für sein Ladengeschäft erwirbt, jedoch vereinzelt noch größere Lagerbestände bestehen. Es stimmt ja auch – das wurde schon gesagt –: Diese Lagerbestände ohne Nutzen vernichten zu lassen, hieße, Millionen von Plastiktüten einfach der thermischen Verwertung zuzuführen oder sonst wie zu verwerten, wäre ökologisch, aber auch ökonomisch absoluter Unsinn. Daher bestehen wir als Union auf eine Frist bis zum 1. Januar 2022, um damit dem Handel ausreichend Zeit zu geben, die Bestände in den Lagern abzuverkaufen. Das ist kein Aufschub oder keine Verzögerungstaktik, sondern in diesem Rahmen zumindest marktwirtschaftlich sinnhaft. Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass wir mit der heutigen Änderung des Verpackungsgesetzes ein klares Zeichen für den Umweltschutz in Deutschland setzen. Der Verzicht auf die Einweg-Kunststofftragetasche ist mehr als verträglich und gesellschaftlich akzeptiert; und darum geht es. Gleichzeitig wollen wir als CDU/CSU dieses Zeichen nicht missverstanden wissen. Für uns als Union gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass Produktverbote nur das allerletzte Mittel sein dürfen und vorher eine faktenbasierte Untersuchung aller Umwelteinflüsse erfolgen muss. Nur so können wir auch zukünftig eine verantwortungsvolle und auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Politik betreiben, die auch gesellschaftlich akzeptiert wird. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Björn Simon. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Judith Skudelny. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir diskutieren heute ein Plastiktütenverbot. Ich bin über zwei Ziele wirklich erstaunt und frage mich, wozu sie dienen sollen. Auf der einen Seite wird gesagt: Das Plastiktütenverbot soll gegen das Littering in Deutschland helfen. – Das ist interessant, weil keine einzige Studie evident nachweist, dass Plastiktüten hier wirklich ein Problem sind. Die gekauften Mülltüten schon, die Einkaufstüten nicht. Es kann nicht zur Lösung beitragen, wenn etwas verboten werden soll, was überhaupt nicht das Problem ist. ({0}) Sie reden hier absolut am Problem vorbei. Anstatt die Plastiktüte zu verbieten, sollten Sie endlich mal engagiert gegen die Leute vorgehen, die ihren Müll in die Walachei werfen und heute noch ungestraft damit davonkommen! ({1}) Dann sagen Sie, Sie wollen die Umwelt schonen. Umweltschonen ist immer ein hehres Ziel. Aber tatsächlich ist doch die Frage: Schont denn das Plastiktütenverbot die Umwelt überhaupt? Gucken wir uns doch mal die Alternativen an. Eine Alternative ist die mit Kunststoff überzogene Papiertüte, im Recycling verheerend. Nein, sie schont die Umwelt nicht. Der Baumwollbeutel würde die Umwelt schonen, wenn er mehr als 40-mal genutzt würde und die Leute ihn nicht zu Hause horten würden. Aber wollen Sie überhaupt wissen, ob das Plastiktütenverbot was bringt? Das glaube ich nicht. 2014 hat eine ifeu-Ökobilanz ergeben: Es sieht so aus, als wenn die Plastiktüte wirklich eine ökologische Alternative sei. Noch mehr gilt das übrigens, wenn es sich um eine Plastiktüte mit dem blauen Umweltengel handelt, die sogar für ihr Umweltbewusstsein ausgezeichnet worden ist. – Tatsächlich steht in der Studie am Ende drin: Aktualisiert doch mal bitte diese Ökobilanz. – Aber Frau Schulze hat in einem Punkt recht: Wenn man die Antwort nicht haben will, darf man die Frage nicht stellen. Sie interessiert sich überhaupt nicht für die Umwelt. Deswegen wurde über Jahre hinweg diese Ökobilanz eben nicht erstellt. ({2}) Was hier gemacht wird, ist ein populäres Gesetz – wir sehen ja gerade: Kunststoff ist jetzt öffentlich nicht so gut angesehen –, bei dem wir aber nicht im Geringsten die Ahnung haben, ob es am Ende überhaupt die Umwelt schont oder ob der Schuss nicht am Ende wirklich nach hinten losgeht und wir mehr Ressourcen verbrauchen – mehr Wasser, mehr Land, mehr Einsatz, mehr Energie – und damit weniger Klimaschutz haben. ({3}) Sie wissen es schlicht und ergreifend nicht. Wenn man mal eine Meinung hat und sie rausblökt, weil sie gerade aktuell ankommt, ist das nicht Umweltschutz, sondern Umweltpopulismus. ({4}) Damit wir aber heute noch ein bisschen was Sinnvolles machen, biete ich Ihnen als Mitglied der Serviceopposition an: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! ({5}) Anstatt Plastiktüten zu verbieten, sollten Sie eine moderne Recyclingmethode zulassen. ({6}) Wir müssen lernen, Kreisläufe zu schließen, Kohlenstoffe immer öfter zu nutzen. Das chemische Recycling ist hierzu eine Möglichkeit. Im Verpackungsgesetz ist es heute noch verboten. Wenn es morgen zugelassen wird, haben wir der Umwelt mehr Gutes getan, als Sie mit Ihrem Verbot in zehn Jahren hinkriegen werden. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau Skudelny. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Gegen die vorliegende Änderung des Verpackungsgesetzes, die Einkaufstüten verbietet, die für ein paar Cent an der Kasse lagen und die man nicht wirklich brauchte, kann man nichts haben. Die Wandstärke von 15 bis 50 Mikrometern wurde genau festgelegt, damit eben andere Tüten nicht betroffen sind. Am 15. Januar wurde dieser Gesetzentwurf dem Bundestag zugeleitet. Am 6. Mai war dann schon die Anhörung im Umweltausschuss. ({0}) Da waren sich Fachleute einig: ({1}) Bei 227 Kilogramm Plastikverpackungsmüll pro Jahr und Einwohner in Deutschland ist das sicherlich ein riesiger Schritt, wenn man die 24 Plastiktüten je Einwohner und Jahr verbietet. ({2}) Nach einem halben Jahr hatte ich die Hoffnung, dass es besser wird bei der Union, dass sie vielleicht echt gegen Verpackungsmüll vorgeht, zum Beispiel gegen große Plastikblister, in die nur ein USB-Stick oder ein Dichtungsring eingeschweißt ist. ({3}) Ich hatte Hoffnung, dass Kunststoffverpackungen verboten werden, die schwerer sind als das Produkt. Ich hatte Hoffnung, dass die übergroßen Kartons von Amazon und anderen Onlinehändlern, in denen man das Produkt sucht wie die Stecknadel im Heuhaufen, endlich reguliert werden. ({4}) Ich war im Irrtum. Liebe Bürgerinnen und Bürger, als Techniker entwickelte ich Verpackungen, die zum Kunden gingen. Die Produkte kamen gut an, und es blieb kaum Verpackungsmüll übrig. Für Die Linke ist klar: Wer Umweltschutz will, muss Verpackungen regulieren und muss sie recyclingfreundlich gestalten. ({5}) Da kann man Vorgaben machen, gesetzliche Vorgaben wie das Verbot überflüssiger Verpackungen. Man kann Positivlisten für Material aufstellen, damit die Materialien besser recycelt werden können, und man kann den Herstellern eine echte Entsorgungsabgabe aufdrücken, die sie anreizt, Verpackungen einzusparen. ({6}) Allerdings: Weniger Verpackungen waren wohl nicht das Ziel der Union und ihrer Berater, wie wir eben auch wieder gehört haben. Der Verpackungswahn wird zulasten der Umwelt, zur Freude der Kunststoffindustrie weiter gepflegt. Die Umsätze steigen, das Bruttoinlandsprodukt wächst, und das freut die Union. Liebe Koalition, bei dieser Inhaltsmenge des Gesetzes verwundert ein fast einjähriger Gesetzesprozess schon. Aber es braucht ja schon Zeit, um sich zu einigen, wie lange die Übergangsfrist für das Verbot sein soll. Soll es vielleicht sofort sein oder in einem halben Jahr oder erst in einem Jahr oder noch später? Immerhin: Sie haben sich jetzt auf ein Jahr geeinigt. Das Verbot der Einweg-Kunststofftragetaschen kommt. Es ist ein Symbol gegen den Verpackungswahn und als solches wichtig. ({7}) Schade, dass hier nur Ankündigungen zum echten Kampf gegen Einwegverpackungen für Getränke und Essen gemacht wurden und nicht Ergebnisse vorgelegt wurden. Dann hätten wir hier sinnvoll diskutieren können. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Bettina Hoffmann. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stimmen jetzt über ein typisches Svenja-Schulze-Gesetz ab. Es ist maximal zeitverzögert und mit minimalem Inhalt. ({0}) Eineinhalb Jahre nach der ersten wirklich großartigen Ankündigung – sehr pressewirksam – sind immerhin ins Land gegangen, bis dieses simple Verbot von Plastiktüten nun endlich verabschiedet wird. Bis es tatsächlich in Kraft tritt, wird es aber noch mal bis 2022 dauern: geschlagene zweieinhalb Jahre von der Ankündigung bis zur Umsetzung. Über 60 Länder waren deutlich schneller. Daran erkennt man gut, welchen Stellenwert die Müllvermeidung bei Svenja Schulze hat, nämlich ungefähr keinen. Denn das Plastiktütenverbot ist wirklich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ja, wir werden dem Gesetz zustimmen; es ist besser als nichts. Aber man muss auch ganz klar sagen: Der Trend zur Einwegverpackung wird mit diesem Minigesetz leider nicht gestoppt. ({1}) Einweg bleibt der Standard im Supermarktregal. Der Versandhandel explodiert und nutzt Einwegkartons. ({2}) Und selbst an der Supermarktkasse wird es natürlich weiterhin auch Tüten geben; sie dürfen halt nur nicht aus Plastik sein. Aber sie können weiterhin Einweg sein. Vor ein paar Tagen kam die Meldung, dass sich Frau Schulze nun um Coffee-to-go-Becher und Essensverpackungen kümmern will. Löblich, aber wiederum gilt: Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen nämlich eine echte Mehrwegstrategie, um aus dieser Ex-und-hopp-Mentalität endlich herauszukommen. ({3}) Dazu gehört erstens: Wir müssen Mehrwegsysteme attraktiver machen. Und damit meine ich nicht nur das Pfandwirrwarr bei den Getränkeflaschen. Wir müssen Mehrweg in die Breite tragen. Wenn es Joghurt in Mehrweggläsern gibt, warum nicht auch Mais und Rotkohl? Und zweitens. Der Internethandel wird weiter wachsen; damit müssen wir umgehen. Viele Firmen haben schon kluge Konzepte für Mehrwegversandboxen entwickelt; die müssen langsam zum Standard werden. ({4}) Und drittens. Ab nächstem Jahr gilt die EU-Plastiksteuer. Auf nationaler Ebene gut umgesetzt, würde sie Hersteller dazu bringen, ihre Waren in materialsparenden und gut recycelbaren Verpackungen auszuliefern. Im schlimmsten Fall, wenn es keine gute Regelung gibt, zahlen wir das Geld aus dem Haushalt ohne Lenkungswirkung. Von der Ministerin hört man aber bisher keinen Pieps, was das betrifft. Mein Fazit: Ich habe die Hoffnung aufgegeben. Bei der Vermeidung von Einwegplastikverpackungen kommen wir mit der Großen Koalition nicht mehr substanziell weiter, und das ist wirklich eine vertane Chance. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Thews. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hoffmann, ich bin ja erst mal sehr froh, dass Sie überhaupt zustimmen wollen; denn in der Anhörung hatten Sie noch ein Plädoyer für die Plastiktüte gehalten. Das hat mich jetzt schon ein bisschen gewundert; ({0}) deswegen freut es mich, dass sie jetzt zustimmen wollen. Wir beschließen heute ein Verbot von Plastiktüten. Man kann viele Einwände gegen ein Verbot nennen; das haben meine Kolleginnen und Kollegen ja teilweise auch getan. Das ist ein nachvollziehbarer Reflex, weil Verbote immer unbequem sind, und auch dieses Verbot greift ja irgendwie in unsere Bequemlichkeit ein. Aber diese Gesetzesänderung wird dazu führen, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen, ({1}) dass wir weniger Abfall produzieren, dass letzten Endes auch weniger Abfall in der Umwelt landet; und das war doch das Ziel von uns allen. ({2}) Wir setzen ganz oben in der Abfallhierarchie an, bei der Abfallvermeidung; auch diese Forderung habe ich immer wieder gehört. Das gilt genauso für das Verbot von Plastikstrohhalmen, Plastiktellern, Plastikbesteck, das im nächsten Sommer kommen wird. Der weltweite rasant steigende Verbrauch, meine Damen und Herren, von natürlichen Ressourcen übersteigt die Regenerationsfähigkeit unserer Erde deutlich und geht mit Umweltschäden einher. Wir müssen den zunehmenden Rohstoffverbrauch drastisch reduzieren. Wir müssen nicht verbrauchen, sondern wir müssen gebrauchen, und wir müssen mithilfe von regenerativen Energien die Dinge, die wir genutzt haben, wieder nutzbar machen. Wir müssen weg von der Wegwerfmentalität. ({3}) Wir brauchen mehr langlebige, wiederverwendbare Produkte. Dazu gehören die dünnen Plastiktüten, die wir heute verbieten, mit Sicherheit nicht. Die öffentliche Diskussion um eine nachhaltige Zukunft hat längst begonnen. Auf überflüssige Einwegprodukte können wir verzichten; das wird unser Leben nicht gleich auf den Kopf stellen. Können wir unseren bisherigen Lebensstandard aufrechterhalten, ohne unseren Kindern und unseren Enkeln die Aussicht auf eine gesunde Umwelt und ausreichende Ressourcen zu nehmen, oder brauchen wir dafür eine Transformation zu einer zirkulierenden Wirtschaft, zu einer echten Kreislaufwirtschaft? ({4}) Dazu brauchen wir noch viel mehr als bisher Vorgaben für ein nachhaltiges und schadstofffreies Produktdesign. Wir wollen einen klaren Rahmen für mehr Kreislaufwirtschaft. Dieser Rahmen muss aus einem Mix aus regulatorischen Vorgaben – dazu gehören auch Verbote, so wie heute –, aber eben auch aus ökonomischen Lenkungsinstrumenten bestehen. Die notwendigen Instrumente gehen weit über den Bereich des bisherigen Kreislaufwirtschaftsrechts hinaus. Unterschiedlichste Akteure wie Entsorger, Recyclingunternehmen, aber auch die produzierenden Unternehmen, der Handel und die Konsumenten, also wir alle, müssen in den nachhaltigen Prozess eingebunden werden. ({5}) Unsere nächsten Ziele sind, die Abfallvermeidung zu stärken und Produkte langlebig, reparierbar, wiederverwendbar und recycelfähig zu gestalten. Wir wollen die Herstellerverantwortung auf den Beginn des Lebenszyklus ausdehnen. Gerade im Bereich der Kunststoffprodukte muss jetzt schnell der Einsatz von Sekundärrohstoffen, unabhängig vom Rohölpreis, gestärkt werden. Um notwendige Investitionen in innovative Recyclingtechnologien zu unterstützen, brauchen wir einen Rezyklat-Mindestanteil, ambitionierte Recyclingquoten und entsprechende Förderprogramme. ({6}) Meine Damen und Herren, Kreislaufwirtschaft ist für mich der alternative Grundpfeiler für eine zukunftsfähige, nachhaltige Wirtschaft in Deutschland. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Thews. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Anja Weisgerber. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine Studie aus Australien hat ergeben, dass jeder Mensch pro Woche rund 5 Gramm Mikroplastik zu sich nimmt: über das Wasser, die Luft und die Nahrung. Das entspricht etwa dem Gewicht einer Kreditkarte. ({0}) Es ist also richtig, dass wir Plastik reduzieren, und mit dem Verbot von Plastiktüten kommen wir hier einen wichtigen Schritt voran. Das Verbot ist ein Baustein unserer gesamten Politik in diesem Bereich. Bevor ich auf das Verbot der Plastiktüten komme, möchte ich nun die anderen Bausteine benennen. Unsere Ziele sind: weniger Verpackung und mehr Recycling. Vieles wurde bereits auf den Weg gebracht, auf nationaler und auf europäischer Ebene. Das Verpackungsgesetz leistet seit dem Inkrafttreten Anfang 2019 einen entscheidenden Beitrag zum Umwelt- und Ressourcenschutz durch die Eindämmung des Plastikverbrauchs. Denn mit dem Verpackungsgesetz haben wir die Recyclingquoten deutlich erhöht. Diese Quote wird in Deutschland bis zum Jahr 2022 von bislang 36 Prozent auf 63 Prozent fast verdoppelt; und das ist gut so. Die Quote liegt damit auch weit über den von der EU-Verpackungsrichtlinie vorgegebenen Zielen; wir gehen also in Deutschland einen Schritt weiter. Damit werden mehr Sekundärrohstoffe wiedergewonnen und in den Stoffkreislauf zurückgeführt. Die Entsorgungswirtschaft hat bereits in zusätzliche Sortier- und Recyclinganlagen investiert. Deutschland ist hier auf einem guten Weg. Außerdem haben wir mit dem Verpackungsgesetz die Lizenzentgelte stärker ökologisiert. ({1}) Auch das ist wichtig; denn das bedeutet, dass die Beteiligungsentgelte für die Hersteller nach dem Verpackungsmaterial, der Menge und der Recyclingfähigkeit bemessen werden. Dafür habe ich mich eingesetzt; denn dadurch wird beim Hersteller ein Anreiz gesetzt, auf Verpackungsmaterial zu verzichten und recyclingfähige Materialien zu verwenden. Genau das sind die richtigen Bausteine in diesem Zusammenhang. ({2}) Mit dem Verpackungsgesetz haben wir außerdem eine zentrale Stelle geschaffen, um mehr Transparenz in der Produktverantwortung der Hersteller zu gewährleisten. Wir sehen, dass diese Maßnahmen wirken. In Summe wurden 2019 über 5,3 Millionen Tonnen gebrauchte Verpackungen wiederverwertet. Das ist im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 13 Prozent; und das ist gut so. Auch das gehört in den Gesamtkontext unserer Kreislaufwirtschafts- und Abfallvermeidungspolitik, meine Damen und Herren. ({3}) Trotzdem müssen wir auch den Verpackungsverbrauch insgesamt reduzieren; denn in Deutschland fallen jährlich nach wie vor rund 6 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle an. Einweggeschirr und To-go-Plastikverpackungen tragen einen großen Anteil daran. Deswegen ist ein wichtiger Schritt auf europäischer Ebene, um diesen Plastikverbrauch zu reduzieren, das europaweite Verbot von Einwegplastik. Dieses Verbot wird im Juli 2021 auch in Deutschland in Kraft treten. Laut einer Erhebung des Bundesumweltministeriums werden in Deutschland zum Beispiel stündlich rund 320 000 Einwegbecher verbraucht. Auch dem wirken wir damit entgegen. Bei den Kunststofftragetaschen, um die es in diesem Gesetz geht, sind wir bereits einen Schritt weiter. Bereits seit 2016 – das wurde erwähnt – gibt es eine Vereinbarung mit dem Handel, Kunststofftragetaschen nur noch gegen Bezahlung anzubieten. Dadurch ist der Verbrauch deutlich gesenkt worden. Pro Kopf und Jahr verbrauchen die Deutschen nur noch 20 Tüten. ({4}) Dieser Schritt hat aber auch eines gezeigt, nämlich dass sich die Verbraucher umstellen und deutlich weniger Plastiktüten verwenden können. Der Verzicht darauf ist also möglich. Vor dem Hintergrund war der Schritt zum Verbot der Tüten nicht mehr weit. Damit machen wir jetzt Nägel mit Köpfen. Der Verbrauch dieser Plastiktüten wird auf null reduziert; und das ist gut so, meine Damen und Herren. Leichte Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke von weniger als 15 Mikrometern nehmen wir aus dem Verbot aus. Warum? Hier geht es zum Beispiel um Verpackungen für frisches Fleisch; das ist da aus Hygienegründen sinnvoll, weil es keine vernünftigen Alternativen gibt. Es stimmt aber auch, dass Tüten mit einer Wandstärke von 15 bis 50 Mikrometern eine besonders ineffiziente Ressourcennutzung darstellen. Diese Tüten werden oft nur einmal benutzt, selten wiederverwertet und werden schnell zu Abfall. Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem Verbot diesen Schritt heute gehen. Es ist ein Baustein unserer gesamten Abfallpolitik, die für Kreislaufwirtschaft steht. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Anja Weisgerber. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind mitten im Prozess der Entwicklung einer neuen Afrika-Strategie der Europäischen Union. Das Eckpunktepapier, das Josep Borrell im Frühjahr dazu vorgestellt hat, war sehr allgemein gehalten, und die Schlüsselregion des Sahel kam praktisch darin nicht vor. Sie umfasst eine Zone südlich der Sahara vom Atlantik bis zum Roten Meer. Jetzt ist der geplante EU-Afrika-Gipfel auf das nächste Frühjahr verschoben worden. Das schafft Zeit, um diese strategische Leerstelle, die Herr Borrell geschaffen hat, endlich zu füllen. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie die Schlussphase ihrer Ratspräsidentschaft nutzt, um dazu eine Initiative zu ergreifen. Wir legen Ihnen in unserem Antrag Vorschläge dazu vor. ({0}) Traditionell war die europäische Sahelpolitik in einen frankofonen und einen anglofonen Teil aufgespalten. Das wurde schon immer den intensiven Verflechtungen in der Region nicht gerecht. Wer jemals an der Grenze zwischen dem Tschad und Darfur im Sudan gewesen ist, weiß, wie absurd solche Zuordnungen sind. Mit dem erklärten Ende von Françafrique einerseits ({1}) und dem Brexit andererseits ist eine ganzheitliche strategische Neuausrichtung der Sahelpolitik in der Europäischen Union überfällig. ({2}) Gerade was den westlichen Teil des Sahel betrifft, ist die europäische und damit auch die deutsche Politik durch massive Schieflagen geprägt. Die Situation in den sogenannten G-5-Sahelstaaten verschlechtert sich seit Jahren dramatisch. Der Putsch in Mali im Sommer hat das besonders deutlich werden lassen. Trotz der Erkenntnis, dass die massiven militärischen Einsätze so nicht zu Stabilisierung und Frieden geführt haben, steht noch immer die Ausweitung des Antiterrorkampfes im Zentrum unserer Politik. Gleichzeitig haben wir eine zunehmende Zersplitterung des zivilen und entwicklungspolitischen Engagements in verschiedene und leider teilweise auch konkurrierende Allianzen und Koalitionen. Kaum jemand kann erklären, wie viele dieser Allianzen und Koalitionen es gibt und was sie im Einzelnen so genau machen. Gerade die Zivilgesellschaften in der Region müssen deutlich mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. ({3}) Es geht darum, das große Potenzial der demokratischen Kräfte dieser Zivilgesellschaften, die da sind, die auch in Ländern wie Mali gerade besonders lebendig sind, zur Stabilisierung ihrer Länder zu mobilisieren. Das muss der zentrale Ansatz sein. Das haben wir bisher nicht geschafft und nicht wirklich hinbekommen. Das erfordert nämlich auch entsprechendes Personal in den politischen Vertretungen. Was Deutschland betrifft, ist die diplomatische Präsenz in der ganzen Sahelregion fast schon abenteuerlich gering. Im riesigen Gebiet zwischen Atlantik und Rotem Meer sind ungefähr 30 Diplomatinnen und Diplomaten des höheren Dienstes im Einsatz. Das bedeutet also oft nur drei oder vier für ein Land, in manchen Ländern auch weniger. Selbst wenn in der Theorie die Verstärkung des zivilen Engagements beschworen wird: Die nötige regierungsferne Umsetzung in diesen Ländern ist mit dieser Ausstattung kaum machbar; das erleben wir seit geraumer Zeit. ({4}) Meine Fraktion macht sich keine Illusionen hinsichtlich der komplizierten Lage in allen Sahelstaaten, die schnelle Erfolge oft nicht zulässt. Aber gerade im Bereich der Diplomatie kann die Bundesregierung sofort etwas tun und mit dem Einsatz überschaubarer Mittel deutliche Wirkung erzielen. Es ist Zeit für eine diplomatische Offensive für den Sahel. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Frithjof Schmidt. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Markus Koob. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns hier im Hohen Haus heute zum wiederholten Male mit der Sahelregion. Das hat vor allem zwei Gründe: Der erste Grund ist, dass – wie es eben von meinem Vorredner Schmidt zutreffend beschrieben worden ist – die Lage in der Sahelregion, speziell in Mali – darum geht es im FDP-Antrag –, nach wie vor ausgesprochen dramatisch ist und wir uns extrem hohen Herausforderungen gegenübersehen, deren Überwindung uns alle noch sehr viele Jahre, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte beschäftigen wird. Der zweite Grund ist, dass die Lage nicht zufriedenstellend ist, obwohl wir als Bundesrepublik Deutschland mit erheblichem Engagement vor Ort sind, sowohl militärisch mit der Bundeswehr und auch mit der Bundespolizei als auch zivil mit der GIZ und anderen Nichtregierungsorganisationen. Deshalb ist es gut, dass wir uns heute erneut mit der Lage in der Sahelregion beschäftigen und überlegen, wie wir die Situation vor Ort in den nächsten Jahren verbessern können. Heute liegen drei Anträge vor, die sich in Qualität und in der Motivation, ernsthafte Strategien für diese Region zu entwickeln, allerdings erheblich unterscheiden. Ich fange mit dem Antrag der AfD an. Er ist sowohl vom Inhalt als auch vom Umfang her ausgesprochen dürftig. Während FDP und Grüne mit umfangreichen Maßnahmen vorschlagen, wie man diese Region weiterentwickeln kann, kann sich die AfD gerade einmal zu fünf Forderungen durchringen. ({0}) – Ja, wenn die Qualität schlecht und der Umfang gering ist, ist das tatsächlich ein schlechter Antrag. ({1}) Sie fordern ernsthaft, dass eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe stattfinden und Deutschland sich ansonsten heraushalten sollte. Ich möchte an dieser Stelle an die Diskussion erinnern, die wir in der letzten Sitzungswoche zum Thema Kulturgüter geführt haben. Das hatte mit Zusammenarbeit auf Augenhöhe rein gar nichts zu tun, nicht einmal im Ansatz. ({2}) Deswegen glaube ich: Der Antrag der AfD ist es nicht wert, dass wir länger darüber reden. Was können wir von FDP und Grünen lernen? Diese Anträge enthalten viele sehr gute Punkte. Man merkt schon am Umfang, dass eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Lage vor Ort stattfindet. Es werden gute Maßnahmen vorgeschlagen, über die wir reden können und reden müssen. Man merkt: Es gibt wirklich ein erkennbares Interesse an dieser Region. Was mir beim Antrag der Grünen allerdings etwas bitter aufstößt, ist die Frage – diese Diskussion führen wir hier im Haus häufiger –, ob es ein Primat für einen der Ansätze gibt. Ich halte die Diskussion, ob es das Primat eines militärischen Ansatzes gibt oder nicht, für eine eher akademische Diskussion. Das merkt man, wenn man mit den Vertretern der Zivilgesellschaft vor Ort und mit unseren Leuten von der GIZ redet. Sie sagen: Ja, wir hätten es auch lieber, dass die Bundeswehr nicht vor Ort ist, aber uns ist auch klar: Ohne Bundeswehr wären wir nicht mehr vor Ort, weil wir unsere Arbeit dann nicht mehr machen können. Deshalb bringt uns die Frage, ob es das Primat für irgendeinen Ansatz gibt, nicht weiter. Vielmehr müssen wir uns die Frage stellen: Wie können wir den vernetzten Ansatz weiterentwickeln? Wie können wir dafür sorgen, dass militärisches Engagement, solange wir es brauchen und solange es nötig ist, die Arbeit der Entwicklungshilfe absichern kann, und mit welchen Konzepten können wir dafür sorgen, dass diese geschundene Region durch die Entwicklungshilfemaßnahmen tatsächlich weiterentwickelt werden kann? ({3}) Niemand in diesem Haus glaubt doch ernsthaft, dass man die Probleme und Herausforderungen vor Ort mit einem rein militärischen Ansatz lösen kann. Aber was auch klar ist: Zumindest in der aktuellen Situation geht es nicht ohne Militär. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt – ich komme damit zum Schluss –: Beim Antrag der Grünen finde ich es etwas schade, dass Sie zwar zu recht eine langfristige Strategie einfordern, um den zivilen Ansatz zu entwickeln, aber dass Sie mit Blick auf den militärischen Ansatz fordern, dass es innerhalb kürzester Zeit Erfolgsmeldungen geben muss. Ich glaube, das wird nicht funktionieren. Wir müssen hier ehrlich sein: Das Engagement vor Ort, zivil wie militärisch, wird uns noch einige Jahre beschäftigen. Wir als Parlamentarier sollten daran arbeiten, dieses Engagement auf beiden Seiten zu unterstützen und zu fördern. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Markus Koob. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Roland Hartwig. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die deutsche Sahelpolitik ist von Wunschvorstellungen, Ideologie und Naivität geprägt. Versuche der Bundesregierung, westliche Werte und Strukturen in Afrika zu etablieren, sind gescheitert. Auch militärische Einsätze wie der der Bundeswehr in Mali sind kein Erfolg. Das müssen selbst die Grünen, die seit Joschka Fischer die Militarisierung deutscher Außenpolitik engagiert vorantreiben, in ihrem Antrag eingestehen. ({0}) Die gegenwärtigen Probleme in der Sahelzone haben mehrere Ursachen. Eine davon benennt die FDP ganz zu Beginn ihres Antrages: Libyen. Eine öffentlich stark umstrittene Entscheidung des Weltsicherheitsrates zur Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen wurde 2011 dazu benutzt, die libysche Regierung gewaltsam zu stürzen. Das Land ist danach im Chaos versunken. Die Konsequenzen sind auch in Deutschland zu spüren: Die Zerstörung Libyens machte den Weg frei für die Massenmigration nach Europa. ({1}) Es ist ganz entscheidend dem damaligen FDP-Außenminister Guido Westerwelle zu verdanken, dass Deutschland sich nicht am Krieg in Libyen beteiligte. Westerwelle erklärte am 16. März 2011 hier im Bundestag, die Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur Libyen betreffen, sondern auf die gesamte nordafrikanische Region und die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Westerwelle setzte damals trotz massiver Angriffe der Medien und der etablierten Parteien eine Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat durch und wurde damit eben nicht Wegbereiter einer verheerenden Regime-Change-Politik. Wo sind sie denn heute, die Liberalen, ({2}) die Gegenwind aushalten, um die Interessen unseres Landes durchzusetzen, ({3}) die ihr Fähnchen nicht nach dem Wind drehen? Schauen wir uns ein paar Ihrer aktuellen Positionen an. Sie möchten die Sanktionen gegen Russland natürlich aufrechterhalten. ({4}) Sie sprechen sich für eine stärkere deutsche Beteiligung an NATO-Einsätzen aus. ({5}) Ihre China-Politik steuert uns auf einen Kollisionskurs zum Schaden der deutschen Wirtschaft. ({6}) Sie sind im Grunde genommen nur noch eine Mainstream- und Lifestylepartei. Sie unterscheiden sich kaum noch von den Grünen, außer vielleicht der Tatsache, dass Sie Sekt statt Bionade trinken. ({7}) Aber zurück zur Sahelzone. Wie könnte eine konstruktive und an der Realität orientierte deutsche Politik aussehen? Hierzu drei Ansätze: Erstens. Wir sollten uns nicht in die inneren Angelegenheiten afrikanischer Staaten einmischen. Zweitens. Das Engagement des deutschen Staates in der Sahelzone muss mit den dortigen Regierungen abgestimmt sein. Nur so kann dem Bedarf dieser Länder an Investitionen in Infrastruktur und Bildung und an wirtschaftlicher Kooperation entsprochen werden. Mit zusammenhanglosen, ideologisch motivierten Kleinprojekten hingegen gelingt das sicher nicht. ({8}) Und drittens – ganz wichtig –: Das dramatische Bevölkerungswachstum, das alle wirtschaftlichen Erfolge und Fortschritte auch in der Sahelzone zunichtemacht, muss in das Zentrum aller entwicklungspolitischen Anstrengungen gerückt werden. ({9}) Das, meine Damen und Herren, ist eine der großen, wenn nicht sogar die größte Herausforderung unseres Jahrhunderts. Hören Sie bitte auf, diesem globalen Problem permanent weiter auszuweichen. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Dr. Hartwig. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Daniela De Ridder. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Suchen Sie eine Hintergrundkulisse für Ihre schlimmsten Albträume zu Terror, Drogenhandel, Vergewaltigung und Mord? Dann könnte Mali, dann könnte die Sahelregion wohl in Ihre engere Auswahl gelangen. Nicht ohne Grund besteht mit der sogenannten G-5-Sahelgruppe eine Antiterrorkoalition für das Gebiet südlich der Sahara aus den Ländern Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien und dem Tschad. Seit 2012 bereits kontrollieren dort islamistische al-Qaida-Kämpfer Teile dieser Länder. Sie nutzten dabei den Aufstand der Tuareg-Separatisten und die Schwäche der Regierung in Bamako, um in der ohnehin fragilen Region an Einfluss zu gewinnen. 2012 ist im Übrigen auch jenes Jahr, in dem Ibrahim Boubacar Keïta, nur um Herrn Hartwig historisch noch mal auf die Sprünge zu helfen, durch einen Putsch an die Macht kam. Ihm ist es nie gelungen, die dschihadistischen Aufstände im Norden des Landes und die Gewalt zwischen den verschiedenen Ethnien unter Kontrolle zu bringen oder sie gar einzuhegen. Die Dörfer, in denen früher trotz religiöser und ethnischer Unterschiede Bauern, Fischer und Viehzüchter friedlich nebeneinander lebten, sind heute in blutigen Fehden zutiefst verfeindet. So weit, so richtig, lieber Frithjof Schmidt. Sie alle erleben den „Mali Blues“. Der gleichnamige Dokumentarfilm porträtiert vier malische Musikerinnen und Musiker, die mit ihren Songs für einen toleranten Islam werben. Dabei ist es ganz gleich, ob sie mit Gitarrenriffs die Sehnsucht nach der Wüste besingen, als Singer-Songwriterinnen für die Emanzipation von Frauen eintreten, auf Rockmusik, Hip-Hop oder traditionelle Musikinstrumente setzen: Immer geht es um Toleranz und Frieden, die ihnen in der Realität längst abhandengekommen sind. Ja, denn dies ist die Realität in der Region: Die Trockenheit und die Klimakrise sind in ihren Auswirkungen nicht einmal annähernd beschreibbar, geschweige denn eingedämmt. Es fehlt an Wasser, an Infrastrukturen, an Ärztinnen und Ärzten und an Krankenhäusern. So weit zum Konsens mit den Antragstellern des heutigen Abends. Neben Frankreich ist im Rahmen des UN-Mandats MINUSMA auch die Bundeswehr mit einem eingeschränkten Auftrag zugegen. Mit der Mission EUTM Mali werden mit deutscher Unterstützung im Übrigen einheimische Soldaten ausgebildet. Hat es das Verteidigungsministerium, hat es die Bundeswehr überrascht, dass junge Offiziere der malischen Armee in der Nacht vom 18. zum 19. August in diesem Jahr den unpopulären Präsidenten Keïta, sieben Jahre nach dessen geputschtem Amtsantritt, selbst weggeputscht haben? Dies war eine der Fragen, die wir vor Kurzem im Auswärtigen Ausschuss diskutiert haben. Der völkerrechtswidrige Putsch des Militärs, der aufs Schärfste verurteilt wurde, ist dennoch für viele in der malischen Bevölkerung Anlass, auf eine Wende zu hoffen – auf eine Wende hin zum Guten, eine Wende für mehr Demokratie, vor allem aber auf eine Wende, die die sozialen Verwerfungen, Armut und insbesondere auch die Korruption in der Armee selbst bekämpfen möge. Das ist bitter notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Situation macht jedoch auch deutlich, dass unterstützende Aktionen hin zu einem Reformprozess nicht unterlassen werden können. Die Bekämpfung von Hunger und Armut und jetzt die Bewältigung der Coronakrise sind wesentlich. Die Durchführung von freien, fairen und unabhängigen Wahlen ist es jedoch nicht minder. In diesem Prozess steht Deutschland an der Seite derjenigen, die sich klar zur Demokratie bekennen. Dazu zählt auch die Nutzung von Instrumenten des Good Governance. Richtig, lieber Frithjof Schmidt: Tötungen in der Zivilbevölkerung müssen strafrechtlich verfolgt, Menschen- und Frauenrechte sowie Pressefreiheit eingehalten und Korruption bekämpft werden, gerade auch dann, wenn die Pandemie die prekäre Nahrungsmittelversorgung drastisch verschärft hat. Aber auch deshalb hat Deutschland am 20. Oktober dieses Jahres gemeinsam mit Dänemark, mit der EU und den Vereinten Nationen eine virtuelle Geberkonferenz zur humanitären Hilfe für die Sahelregion eingerichtet; und das war wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) 24 Geber haben dabei mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar für 2020 und die Folgejahre zugesagt, obwohl die Geberländer selbst durch die Coronakrise in einer schwierigen Ausgangslage sind. Zudem hat Deutschland mit fast 50 Millionen Euro für 2020 seine humanitäre Hilfe, etwa im Vergleich zum Vorjahr, mehr als verdoppelt und nun bei der Sahelkonferenz rund 100 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre zugesagt. Aber richtig, wir werden auch noch mehr tun. Die Bundesregierung wird noch mehr als bisher die Kooperation mit ECOWAS und den afrikanischen Unionsländern suchen und noch intensiver als bisher daran mitwirken, dass zivile Kapazitäten aufgebaut und vertrauenswürdige, belastbare staatliche Strukturen entwickelt und ausgebaut werden können. Im Rahmen unseres vernetzten Ansatzes, der aber keineswegs nur aus militärischer Unterstützung besteht – Herr Koob hat es angesprochen –, ist Deutschland ein Aktivposten im Sahel. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sahelregion ist bedeutend für Europa, und die Schicksale zwischen Europa und Sahel sind miteinander verknüpft. Die Sahelzone ist im Grunde eine unwirkliche Landschaft, schon immer geprägt von Trockenheit, aber auch Hungersnöten, Armut und Konflikten zwischen Hirten und Ackerbauern. Der Zusammenbruch Libyens setzte Unmengen an Waffen frei, die für eine massive Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region gesorgt haben. Sie erinnern sich vielleicht – wir sind gerade daran erinnert worden –, dass sich damals Guido Westerwelle und damit Deutschland aus diesem Konflikt herausgehalten haben. Ich glaube, das war richtig so. Ich war im September in Mali, im Sahel – nach dem Putsch. Mali zeigt exemplarisch, wie ganze Staaten instabil werden können, ja zerfallen können, wenn die innere Sicherheit nicht gegeben ist, eine schlechte Regierungsführung vorhanden ist und grassierende Korruption herrscht. Wenn auf der Einnahmenseite große Teile wegfallen und abgezweigt werden und bei den Ausgaben die Gelder in falsche Taschen wandern, gibt es für den Bürger keine staatlichen Leistungen mehr: keine Schule, kein Gericht, keine Sicherheit. Armut, Hunger, Recht des Stärkeren sind die Folge. Der Vertrag zwischen Staat und Bürger erlischt. In Mali gab es diese tiefe Krise des politischen Systems, die sich unter Präsident Keïta zugespitzt hat. Das deutsche und das europäische Engagement in Mali und im restlichen Sahel müssen sich hier unbequeme Fragen gefallen lassen. Noch im Mai dieses Jahres hat der Bundesaußenminister dem damaligen Präsidenten Keïta zur erfolgreichen Parlamentswahl gratuliert und sie als „demokratisches Lebenszeichen“ bezeichnet. Warum denn eigentlich das? Nach der Wahl folgten Massenproteste gegen Wahlmanipulationen, soziale Ungerechtigkeit und Korruption. Und am Ende putschten junge Obristen unblutig: Sie wollten ihr Mali vor dem Zerfall retten. Sie waren selbst im Kampfeinsatz ohne Mittel mit mangelnder Ausrüstung, hervorgerufen durch Korruption. Nach dem Putsch haben sie dann die korrupten Generäle eingesperrt. Mit Druck von ECOWAS gibt es nun eine zivil-militärische Übergangsregierung und einen klaren Fahrplan für Mali: eine vierte Republik, ein neuer Vertrag zwischen Staat und Bürgern, ein transparenter Staat und Neuwahlen, und das alles in 18 Monaten. Das wird nicht einfach, aber Malis Bevölkerung ist bereit, und wir müssen es unterstützen. Ohne Sicherheit keine Entwicklung, wie wir gehört haben! Aber wir müssen auch das deutsche Engagement viel enger politisch begleiten, wie es auch im Antrag der Freien Demokraten formuliert ist. Das Fenster für Reformen in Mali ist nun offen, und wir müssen diese Gelegenheit nutzen. Wir müssen pragmatisch und schnell agieren und dürfen nicht noch ein Jahr warten, ob wir dann neue Verhandlungen zur Entwicklungszusammenarbeit führen können. Also: Umschalten bei der Entwicklungszusammenarbeit auf Transparenz durch Digitalisierung in der Verwaltung, damit die Geldströme für jeden Bürger klar werden! Hier kann Deutschland gemeinsamen mit Brüssel eine Schlüsselrolle spielen. ({0}) Diese Chancen müssen die Minister Maas und Müller schnell nutzen und dürfen nicht zuwarten. Das geschichtliche Fenster könnte sich irgendwann wieder schnell schließen. Deshalb ist Eile geboten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, Eile ist geboten.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Entwicklungszusammenarbeit muss zukünftig – das sind die Lehren aus Mali – mit Konditionierung erfolgen. Fehlt ein entschlossenes Vorgehen für mehr Transparenz, für die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen, für einen nationalen Versöhnungsdialog, dann darf das nicht ohne Konsequenzen bleiben wie bisher.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, Sie kriegen gleich auch eine Konsequenz. Jetzt sind Sie wirklich deutlich über Ihrer Redezeit.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deutschland muss im eigenen Interesse dem Sahel viel mehr Aufmerksamkeit zuwenden. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Dr. Hoffmann. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute hier über drei Anträge zur Lage in der Sahelzone, und das ist gut so; denn was wir dort erleben, ist das Totalversagen der deutschen und der europäischen Afrikapolitik, und zwar insbesondere des sogenannten vernetzten Ansatzes der Bundesregierung. In Burkina Faso, Mali und Niger sind aktuell mehr als 7 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Diese Zahl könnte auf bis zu 13 Millionen ansteigen. Die Zahl der Vertriebenen ist seit dem letzten Jahr um das 20-Fache gestiegen. Die Zahl der terroristischen Anschläge hat sich in nur vier Jahren verfünffacht. Allein im letzten Jahr wurden über 4 000 Menschen getötet. Diese Toten gehen nicht nur auf das Konto von Terroristen. Auch die Armeen der Sahelstaaten verbreiten zunehmend Angst und Schrecken unter der Bevölkerung. Immer wieder hören wir von willkürlichen Erschießungen, Folter und Massakern an der Bevölkerung, vom Verschwindenlassen durch Soldaten, und zwar durch Soldaten, die von deutschen und französischen Soldaten ausgebildet worden sind. Das Internationale Rote Kreuz meint dazu, der derzeitig verfolgte Ansatz einer stark militarisierten Reaktion auf die Gewalt in der Region habe sich als ungeeignet erwiesen. Das stimmt. ({0}) Die Grünen machen in ihrem Antrag deutlich, wie verfehlt dieser Ansatz ist. In weiten Teilen liest er sich tatsächlich wie eine Stellungnahme der Linksfraktion, etwa wenn Sie berechtigterweise darauf hinweisen, welche fatale Folgen die militarisierte Flüchtlingsabwehr der EU für eine Region hat, in der jahrhundertelang Migration und Handel die Lebensader und die wirtschaftliche Grundlage waren, oder wie gefährlich es ist, vorzugeben, Terroristen zu bekämpfen, aber dabei Armeen zu unterstützen, die Diktatoren beschützen und Menschenrechte verletzen. Das alles ist völlig richtig. Nur können Sie sich leider wieder nicht dazu durchringen, konsequent zu sein und den Abzug der deutschen Truppen aus der Sahelzone zu fordern, weil Sie sich von Ihren pazifistischen Wurzeln komplett verabschiedet haben. ({1}) Die Bevölkerung sieht nämlich die fremden Truppen immer mehr als Besatzer, und sie wehrt sich dagegen, dass ihre Sicherheitslage auch dadurch immer weiter verschlechtert wird. Gar nicht verstanden hat es die FDP, die jetzt fordert, noch mehr Soldaten nach Mali zu schicken, die dort Entwicklungsprojekte ermöglichen sollen. Wenn Sie die Entwicklungshilfe auch noch militarisieren, dann gefährden Sie die zivilen Projekte und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ({2}) weil diese dann als Teil der ungeliebten Besatzungsmacht gesehen werden. Ansonsten singen Sie in Ihrem Antrag – das kennen wir von der FDP – das Hohelied der Digitalisierung in der Verwaltung in Mali. Dass ausgerechnet Deutschland, das Land der Faxgeräte und der Funklöcher, einem anderen Land auf der Welt bei der Digitalisierung helfen soll, ist eher ein Fall für die „heute-show“, oder? ({3}) Die Linke jedenfalls sagt: Schluss mit den Militäreinsätzen im Sahel! Wir wollen Frieden schaffen ohne Waffen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Matern von Marschall. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! – Frau Kollegin Vogler von der Linken, Sie haben mir bereits die scharfsinnige Analyse des Antrags der Grünen, den Sie als „fast aus Ihrer Feder stammend“ beschreiben, abgenommen. Dass Sie das gleichzeitig mit fehlendem pazifistischem Engagement verknüpfen, verwundert mich allerdings ein wenig. Ich schaue einmal nach Mali. Es ist bemerkenswert, dass der Putsch zunächst einmal friedlich verlaufen ist. Das ist aber nichts, worauf man sich ausruhen kann. Wir müssten viel mehr Mittel darauf verwenden, die Lage in vergleichbaren Ländern präventiv zu analysieren, um eine solche Situation wie die in Mali, die für den Moment noch friedlich ist und die vielleicht auch zu einem friedlichen Übergang führen kann, vorher im Auge zu behalten. Die verfassungsrechtliche Kritik an der staatlichen Verfasstheit im ganzen Sahel, in ganz Westafrika ist etwas, was uns beunruhigen muss. Auch dass die Oppositionen häufig ihre Umstürze mit dem Schüren innerethnischer Konflikte verknüpfen, ist ein Aspekt, der uns beunruhigen muss. Ich bin überzeugt, dass wir weiterhin nicht nur diplomatisch, sondern auch mit unseren Soldaten und mit unserem ungeheuren entwicklungspolitischen Engagement in Mali präsent sein sollten. Unser Engagement dient etwa der Versorgung mit sauberem Trinkwasser; da leistet Deutschland einen wesentlichen Beitrag für fast 1 Million Menschen. Es dient der Verbesserung der landwirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Produktivität ist deutlich gestiegen. Das Potenzial ist aber immer noch sehr groß. Bei einer so stark wachsenden Bevölkerung wie in diesem Land ist eine entsprechende Steigerung der Produktivität auch dringend notwendig. Unser Engagement müssen wir schon im rein humanitären Interesse für die Menschen in diesem Land fortführen. Ganz wichtig ist eine genaue Kenntnis der Gegebenheiten mit Blick auf die verschiedenen Volksgruppen in den betreffenden Ländern. Die historischen, kolonialen Grenzziehungen in diesen Nationalstaaten sind, wie wir wissen, zufällig, und das zeigt sich besonders exemplarisch in einem Land wie Mali. Ich sehe diesbezüglich die Rolle der Bundeswehr in der Funktion als interkultureller Einsatzberater als außerordentlich wertvoll an, weil unsere Soldaten dadurch in die Lage versetzt werden, in einem schwierigen, unübersichtlichen Terrain auf die verschiedenen Gegebenheiten und die verschiedenen Volksgruppen angemessen zu reagieren; das ist wichtig. Das ist auch im diplomatischen Bereich gegeben. Das sollte uns Anlass sein, künftig bei der Erarbeitung staatlicher Verfassungen beratend tätig zu sein, um eine angemessene Repräsentation der verschiedenen Volksgruppen in den betreffenden Ländern sicherzustellen. Daran ist, glaube ich, im Wesentlichen zu arbeiten. Wenn das nicht gelingt und wenn die Wahrnehmung der Menschen ist, dass in diesen sozusagen formell westlich verfassten Staaten eigentlich nur die Klientel bestimmter einzelner Gruppierungen die Länder ausbeutet, und wenn deswegen die Frustration über die Staatsführung so groß wird wie in Mali, dann kann das zu Eruption und Eskalation führen. Das können wir vielleicht durch eine kluge Ausbalancierung der regionalen Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Rahmen unserer beratenden Tätigkeit vermeiden. Ich möchte werben für eine engagierte Politik im Sahel und insbesondere für eine Fortführung unseres Engagements, auch des militärischen, in Mali. Wenn ich auf die neue Ausbildungsinitiative, die wir jetzt in Sévaré haben, schaue, gilt mein besonderer Dank unserer Truppe. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege von Marschall. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte um die Situation in der Sahelzone ist schon darauf hingewiesen worden, welches die einzelnen Auswirkungen auf die Bevölkerung sind. Wir haben bewaffnete Konflikte, Hunger, Naturkatastrophen und auch noch Corona. Ich möchte daher mein besonderes Augenmerk auf die Kinder in diesen Ländern, in dieser Region richten; denn für die ist die Situation vor Ort besonders schlimm. Wir haben zum Teil flächendeckende Schulschließungen aufgrund von Gewalt und Terror, was zur Folge hat, dass für Tausende Kinder die oftmals einzige Mahlzeit am Tag nicht mehr gewährleistet ist. Wir sehen einen massiven Anstieg der Kinderarbeit. Wir sehen eine steigende Rekrutierung von Kindern als Kindersoldaten von Terrororganisationen, und wir sehen durch die Schulschließungen und die damit verbundene ausbleibende Bildung, dass gerade Mädchen wieder stärker zwangsverheiratet werden, und zwar im Kindesalter. Gestatten Sie mir den Hinweis: Wie klein wirken in Anbetracht dessen, was ich gerade geschildert habe, so manche Diskussionen, die wir hierzulande führen über Kindergeburtstage oder Familienfeiern, die nicht stattfinden können. Aber es muss sich jeder selber fragen, wie sich die persönlichen Prioritäten hier verschoben haben und ob ein Blick über den Kirchturm nicht manchmal wieder einiges geraderücken kann. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Entwicklungsministerium hat Anfang 2020 einen Vier-Punkte-Plan auf den Weg gebracht zur Stärkung von lokalen Strukturen und von nationaler Eigenverantwortung, außerdem zur Unterstützung von jungen Menschen, um diesen wirtschaftliche Perspektiven und Bildungsmöglichkeiten zu geben, um Aufklärungsarbeit zu leisten, was den ganzen Bereich Terrorismus betrifft, und auch zur Stärkung der Nachbarländer. Selbstverständlich sind zivile Maßnahmen zur Unterstützung wichtig. Aber Entwicklung braucht Sicherheit. Deswegen halte ich den integrativen Ansatz der Bundesregierung für sinnvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich unterstützen wir die zivilen Organisationen. Wir befähigen die Streitkräfte. Ein herzliches Dankeschön an die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz! Es ist aber klar: Es bleibt ein langer, es bleibt ein steiniger Weg, aber – davon bin ich überzeugt – ein Weg, den es sich lohnt zu gehen. Ich wünsche uns allen: Bleiben wir zuversichtlich. ({1})

Rita Hagl-Kehl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004287

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vormundschaft und Betreuung sind sensible Themen; denn hier geht es um Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Es geht um Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, die Verantwortung für sie zu übernehmen, und es geht um Erwachsene, die infolge von Krankheit oder Behinderung ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht oder nur begrenzt selbst regeln können. Viele Regelungen im Vormundschafts- und Betreuungsrecht sind nicht mehr zeitgemäß. Eine umfassende Reform ist nötig. Dieses Vorhaben gehen wir nun an. Einige wichtige Neuerungen will ich Ihnen hier nennen. Zunächst zur Vormundschaft. Viele Regelungen im Recht der Vormundschaft stammen noch aus dem Jahr 1896, dem Jahr der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Die Vorschriften atmen den Geist des Kaiserreichs und nicht den Geist unserer sozialen und freiheitlichen Verfassung. Das ändern wir jetzt. Wir rücken das Kind ins Zentrum des Vormundschaftsrechts, und wir stellen noch deutlicher als bisher heraus: Der Vormund hat nicht nur die Verantwortung, sich um das Vermögen des Kindes zu kümmern. Sie oder er trägt auch die Verantwortung für die Erziehung und das persönliche Wohl des Kindes. Kinderrechte müssen im Mittelpunkt stehen. ({0}) Deswegen setze ich mich auch für eine Ergänzung des Grundgesetzes ein. ({1}) Wir stellen daher die Kinderrechte ins Zentrum des Vormundschaftsrechtes. Darüber hinaus stärken wir die Rechte der Pflegeeltern, bei denen die betroffenen Kinder oft aufwachsen. Damit stärken wir die Beziehung zwischen Pflegeeltern und ‑kindern. Pflegekinder sollen sich in ihren Familien geschützt und geborgen führen. Unser Gesetzentwurf trägt dazu bei. ({2}) Zum Betreuungsrecht. Auch hier rücken wir die Betroffenen noch stärker ins Zentrum. Die Behindertenrechtskonvention der UN und unser Grundgesetz lassen keinen Zweifel: Der wichtigste Orientierungspunkt des Betreuungsrechts muss das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen sein. ({3}) Nicht überall in unserem Betreuungsrecht kommt das glasklar zum Ausdruck. Aus manchen Formulierungen spricht noch ein falscher Paternalismus. Wir schreiben jetzt fest: Die Wünsche der Betreuten haben im Regelfall Vorrang. ({4}) Außerdem stellen wir sicher: Eine Betreuerin oder ein Betreuer wird nur dann bestellt, wenn dies zum Schutz der betroffenen Menschen wirklich erforderlich ist. Darüber hinaus stärken wir eine tragende Säule unseres Betreuungssystems: die Betreuungsvereine. ({5}) Und wir legen fest, welche persönlichen und fachlichen Voraussetzungen Betreuerinnen und Betreuer mitbringen müssen. Noch eine wichtige Neuerung birgt unser Gesetzentwurf: eine Neuerung jenseits des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Wir führen ein zeitlich begrenztes Notvertretungsrecht für Ehegatten ein. Wenn ein Ehegatte bewusstlos ist oder krank und deshalb seine Angelegenheiten rechtlich nicht wahrnehmen kann, dann kann ihn der andere in Angelegenheiten der Gesundheitssorge künftig vorübergehend vertreten. Damit ermöglichen wir es Ehegatten, in gesundheitlichen Notfällen schnell und flexibel füreinander einzustehen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unsere Reform sehr gründlich vorbereitet: durch umfangreiche Forschungsvorhaben und durch eine breite Diskussion. Wir schaffen damit ein Vormundschafts- und Betreuungsrecht, das die Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und ehrenamtliche und berufliche Helferinnen und Helfer bestmöglich unterstützt. Eine solche Reform haben wir uns seit etlichen Jahren vorgenommen. Ich bin froh, dass wir jetzt einen überzeugenden Entwurf beraten können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner: der Abgeordnete Thomas Seitz, AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über ein wirklich ambitioniertes Projekt, nämlich eine grundlegende Reform des Vormundschaftsrechts und vielfältige Änderungen im Betreuungsrecht. Während 2017 die Zahl der Vormundschaften bei über 60 000 lag, geht es bei den Betreuungsverfahren um eine ganz andere Dimension. Seit 1995 hat sich die Zahl der Betreuungsverfahren mehr als verdoppelt auf im Jahr 2012 über 1,3 Millionen. Seitdem gehen die Zahlen leicht zurück. Sie bewegen sich aber unverändert auf hohem Niveau. Wenn wir zu den Betreuten noch ihre Angehörigen hinzurechnen, wird klar: Wir reden über ein Thema, das Millionen von Menschen in Deutschland betrifft. Deshalb und angesichts einer Drucksache mit fast 550 Seiten halte ich eine Debatte von 30 Minuten Dauer für eine derart intensive und unmittelbar in die Lebensführung der Betroffenen eingreifende Rechtsmaterie für ausgesprochen unwürdig. ({0}) Im Hinblick auf das Vormundschaftsrecht ist eine Reform nachdrücklich zu begrüßen. Es ist höchste Zeit, dass das Mündel vom Objekt zum Subjekt des Verfahrens aufsteigt und das noch aus der Kaiserzeit stammende Rechtsgebiet mit seinem Fokus auf der Vermögenssorge anstatt der Personensorge modernisiert wird. Ein kritischer Aspekt ist hier für mich die in § 1781 Absatz 3 des Entwurfs vorgeschriebene Ablösung des vorläufigen Vormunds nach längstens drei Monaten. Wie die Vertreter der Jugendämter sehe ich den Abbruch der Bindungen zwischen Mündel und vorläufigem Vormund kritisch. Ob die Vorteile wirklich überwiegen, wie es in der Begründung hierzu heißt, darf bezweifelt werden. Beim Betreuungsrecht führen Sie eine Vielzahl von Motiven für die Reform an, gegen die allesamt nichts einzuwenden ist: Trennung vom Vormundschaftsrecht und damit auch eine eigenständige Regelung des Aufgabenkreises und der Umgangsbestimmungen, Stärkung des Erforderlichkeitsgrundsatzes, Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen und des Vorrangs ihrer Wünsche, Stärkung der Betreuungsvereine und Anbindung ehrenamtlicher Betreuer an diese. Auch die Neuerungen durch das Betreuungsorganisationsgesetz, welches das Betreuungsbehördengesetz ersetzt, sind sinnvoll. Die Frage ist jedoch, inwieweit die Gesetzesfassung geeignet ist, diesen Zielen im Einzelnen gerecht zu werden. Vor allem ist die Frage der Zielerreichung eine Frage des Geldes. Das Inkrafttreten des Vormünder- und Betreuervergütungsgesetzes am 1. Juli 2005 und die hierdurch ausgelösten massiven Änderungen zur Art und Weise, wie berufliche Betreuungen geführt werden, habe ich als Vormundschaftsrichter unmittelbar verfolgt. Mit der Einführung einer Pauschalvergütung sollten die Kosten der beruflich geführten Betreuungen, die bei mittellosen Betreuten die Staatskasse trägt, reduziert werden; weg von der Sozialbetreuung hin zur reinen Rechtsbetreuung entsprechend der Rechtslage. Nach den Ausführungen in der Begründung des Gesetzentwurfs wird jetzt faktisch wieder eine Wende hin zu einer sozialen Betreuung angestrebt. Ob diese jetzt von Betreuern geleistet wird oder von sozialen Diensten, ist egal; es wird teuer. Die Frage ist nur, welcher Kostenträger und welches Budget dafür bluten müssen. Auch die weiteren Änderungen sind kostenintensiv. Sowohl bei den Betreuungsbehörden als auch bei den Amtsgerichten ist die Reform mit erheblichem Aufwand verbunden, der gerade bei den Rechtspflegern einen neuerlichen Personalaufwuchs erfordert. Dazu kommt die gewünschte Aufwertung der Betreuungsvereine, die es gar nicht bräuchte, wenn die Betreuungsvereine, die bereits jetzt hervorragende Arbeit bei der Unterstützung und in der Information ehrenamtlicher Betreuer leisten, nur besser finanziert wären. ({1}) Es wundert deshalb nicht, dass die Stellungnahme des Bundesrates mit einer massiven Kritik an der Schätzung des Erfüllungsaufwandes beginnt und der Bund aufgefordert wird, sich an den Kosten der Reform zu beteiligen. Die Einführung des Vertretungsrechts von Ehegatten im neuen § 1358 BGB wird von uns ausdrücklich begrüßt. Man kann das auf drei Monate beschränkte Notvertretungsrecht durchaus kritisch sehen, und natürlich kann es missbraucht werden. Aber im Grunde schafft es nur eine Rechtslage, die ein großer Teil der verheirateten Menschen in Deutschland nicht nur irrtümlicherweise bereits jetzt für geltendes Recht, sondern vor allem auch für richtig hält – für richtig, weil dies dem Wesensgehalt der Ehe als Schicksalsgemeinschaft entspricht. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wurde bereits ausgeführt: Der vorliegende Gesetzentwurf zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts ist ein sehr großes und ehrgeiziges Projekt und gleichsam eines der wichtigsten Reformprojekte der gesamten Legislaturperiode. Wer mich kennt, weiß, dass ich mit Superlativen sehr vorsichtig bin; aber in dem Fall ist es berechtigt. Das Vormundschaftsrecht ist zwar im Laufe der Jahre immer wieder novelliert worden, stammt aber in weiten Teilen noch aus der Entstehungszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches. In diesem Kontext waren die gesellschaftlichen Verhältnisse vor 1900 maßgeblich. Frau Staatssekretärin Hagl-Kehl, meines Wissens ist das BGB nicht 1896, sondern am 1. Januar 1900 in Kraft getreten, und da ist die qualifizierte Form des heutigen Betreuungsrechtes festgeschrieben worden. Im Fokus standen damals Waisen und nichteheliche Kinder. Heute müssen wir uns auf Kinder und Jugendliche fokussieren, deren Eltern die elterliche Sorge ganz oder teilweise wegen Kindeswohlgefährdung entzogen wurde. Wir wollen daher mit unserer Reform einen stabilen Grundstein für die positive Entwicklung dieser Kinder legen. Dabei muss ein gut austariertes, klares Verhältnis zwischen Kind, Vormund und Pflegeperson das Ziel sein. In der Folge muss daher beachtet werden, was für diese Kinder bzw. das sogenannte Mündel das Wichtigste ist. Sie leben häufig über Jahre in Pflegefamilien und machen dort einen wichtigen Sozialisations- und Entwicklungsschritt. Alle Beteiligten haben ein Recht auf klare, auf stabile Verhältnisse. Die Anforderungen an den Vormund oder die Pflegeperson in rechtlicher, verwaltungstechnischer oder pädagogischer Hinsicht sind äußerst vielseitig und bedürfen klarer Regelungen. ({0}) Ich möchte meine Redezeit auch dazu nutzen, um den Pflegefamilien, die sich dazu entschlossen haben, ein Kind aus einer Notsituation heraus aufzunehmen und es Teil ihrer Familie werden zu lassen – Sebastian, ist es so langweilig? Mensch! –, meine große Anerkennung und meinen Respekt auszudrücken. Haben Sie vielen Dank! ({1}) Danke für Ihre Liebe, für Ihr Einfühlungsvermögen, Ihre Zeit und Ihre Geduld. – Gerade in diesem Punkt bin ich auch auf die Sachverständigenanhörung gespannt. Hier müssen wir unter anderem prüfen, inwieweit die Vorschläge zur Stärkung der rechtlichen Position der Pflegeperson zielführend sein können. Das zweite große Vorhaben in diesem Gesetzentwurf betrifft das Betreuungsrecht. Die rechtliche Betreuung ist dann nötig, wenn ein Mensch eine bestimmte Situation nicht oder nicht mehr allein händeln kann. Die Gründe können vielschichtig und komplex sein und sind in der Regel mit gravierenden Einschränkungen verbunden: ein hohes Lebensalter, eine Krankheit oder eine Behinderung. Betroffene mit eingeschränkter Selbstbestimmtheit und Autonomie sind in einer schwierigen Lage und wissen oft nicht, was auf sie zukommen wird: Was passiert mit mir, wenn ich nicht mehr die alleinige Kontrolle über mich und meine Geschäfte habe? Was ist, wenn ich maßgeblich auf die Hilfe anderer angewiesen bin? Wird jemand meine Schwäche und meine Hilfsbedürftigkeit ausnutzen? Das Ganze ist zu betrachten im Lichte von Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es geht um einen Menschen, der ein Stück weit Unterstützung braucht, für den entschieden werden muss, der aber trotzdem mit größtmöglicher Selbstbestimmtheit in diesem Vorgang gehört und dessen Interessen berücksichtigt werden sollten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Unterstützung und den vermeintlichen Interessen und der Selbstverwirklichung des Betreuten, der seine Menschenwürde zu keinem Zeitpunkt seines Lebens verlieren darf, ist das Spannende an diesem Betreuungsrecht. Die Betroffenen stellen sich diese und ähnliche Fragen. Deswegen müssen wir und wollen wir diese Reform vorantreiben und beschließen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen uns ebenfalls fragen: Wie ist die Situation der betroffenen Angehörigen – wie dem Ehepartner – und der beruflichen und ehrenamtlichen Betreuer? Die letzte große Reform im Betreuungsrecht fand Anfang der 1990er-Jahre statt. Diese Reform jetzt wird unter Bezugnahme auf die Ergebnisse zweier im Auftrag des Ministeriums durchgeführter Forschungsvorhaben vorgenommen. Ausdrücklich loben und besonders hervorheben darf ich an dieser Stelle, dass eine sehr große Anzahl an Experten den bisherigen Prozess begleitet hat. Es fand ein mehrjähriger Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis statt, was auf positive Resonanz stößt; das wurde mir von unterschiedlichen Interessenvertretern in zahlreichen Gesprächen versichert. Zentrales Ziel der Reform ist die Stärkung der Selbstbestimmung der betroffenen Menschen – ich habe auf den Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz ausdrücklich hingewiesen – im Vorfeld und während der rechtlichen Betreuung gemäß Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention. Es wird sichergestellt, dass die rechtliche Betreuung in erster Linie in Form einer Unterstützung des Betreuten bei der Besorgung seiner Angelegenheiten durch eigenes, soweit möglich selbstbestimmtes Handeln gewährleistet wird. Ich bitte Sie – die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, aber auch der Opposition –, konstruktiv an diesem sehr, sehr wichtigen Gesetzesvorhaben mitzuwirken. Dieses Gesetz eignet sich nicht für parteipolitisches Geplänkel, sondern es wäre gut, wenn wir mit diesem Gesetz möglichst zusammen die richtigen Entscheidungen für die Schwächeren in unserer Gesellschaft auf den Weg bringen könnten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Paul Lehrieder. Sehr gut: eine Minute eingespart; wir sind sehr dankbar. ({0}) – Für alle ein Vorbild. ({1}) Die Kollegin Katrin Helling-Plahr von der FDP hat das Wort. ({2})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ziel, das die Bundesregierung mit dem Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts verfolgen will – die Autonomie der Menschen, die Unterstützung benötigen, zu stärken –, ist ja richtig. Aber, liebe Bundesregierung, jetzt mal Hand aufs Herz: Das mit der Selbstbestimmung können Sie nicht so richtig, oder? Mit der Einführung eines Ehegattennotvertretungsrechts schwächen Sie das Selbstbestimmungsrecht der Ehepartner massiv. ({0}) Ehegatten sollen in Notsituationen automatisch in Gesundheitsbelangen füreinander entscheiden können, sofern sie nicht zuvor widersprochen haben. Sogar Entscheidungen für freiheitsentziehende Maßnahmen sollen die Ehegatten treffen dürfen. Eine Widerspruchslösung also. Bei der Organspende hat sich dieses Haus gegen eine Widerspruchslösung entschieden. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, völlig unabhängig davon, wie Sie zu der Entscheidung gestanden haben: Vergegenwärtigen Sie sich bitte auch einmal den jeweils verfolgten Zweck. Die Widerspruchslösung bei der Organspende sollte Menschenleben retten. Mit dem Ehegattennotvertretungsrecht wollen Sie Gerichte entlasten. Es mag sein, dass einige Menschen fälschlicherweise sowieso schon davon ausgehen, dass es ein Vertretungsrecht zwischen Ehegatten bereits gibt. Aber das kann doch kein Argument sein. Drehen Sie das doch einmal um: Viele Leute werden dann auch nicht um das Notvertretungsrecht wissen – wenn wir es schaffen – und können folglich auch gar nicht widersprechen. Das ist doch fatal. ({1}) Wir haben mit den Vorsorgeverfügungen bereits ein bestehendes Instrumentarium, das selbstbestimmte Vorsorge für Notsituationen ermöglicht und immer mehr Zuspruch in der Bevölkerung erfährt. Immer mehr Leute verfassen Vorsorgevollmachten und registrieren sie anschließend im Vorsorgeregister. Und sie bevollmächtigen oft übrigens gerade nicht den Ehegatten, zum Beispiel, weil sie diesen nicht belasten möchten oder weil sie andere Personen, die Kinder zum Beispiel, für geeigneter halten. Lassen Sie uns breit angelegt Aufklärung über die bestehenden Möglichkeiten betreiben, etwa parallel zur Aufklärung über Organspenden. Und wir können den Instrumentenkasten ja gerne um ein Ehegattennotvertretungsrecht erweitern, aber dann muss es, bitte, statt als Opt-out- als Opt-in-Lösung gestaltet werden, für die man sich proaktiv und selbstbestimmt entscheiden kann. ({2}) Das könnte man dann zum Beispiel mit einem einfachen digitalen Häkchen im Vorsorgeregister lösen. Dann entfällt auch die Missbrauchsgefahr, dass bestehende Widerspruchswünsche unterdrückt werden, die Experten ja sehen; Man denke etwa an Fälle, in denen Gewalt innerhalb der Ehe eine Rolle spielt. Mit unserem Antrag erklären wir Ihnen noch einmal schriftlich, wie das mit dem Selbstbestimmungsrecht so geht. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratung im Ausschuss. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Sören Pellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei über 500 Seiten Gesetzentwurf sind einige für die Betroffenen wichtige Details offenbar verloren gegangen. Menschen, die vom Vormundschafts- und Betreuungsrecht betroffen sind, erwarten weiterhin, dass ihr Wille und ihr Wunsch eine zentrale Rolle spielen. Betreuer sollen die Betroffenen insbesondere dabei unterstützen, selbstständig Entscheidungen treffen zu können. Was sagt zum Beispiel die Lebenshilfe dazu? Deren Rat behinderter Menschen meint – ich zitiere –: Durch die Unterstützung kann jeder stärker darin werden, selbst Entscheidungen zu treffen. Wie soll das jedoch funktionieren, wenn Berufsbetreuer viel zu viele Menschen betreuen und keine Zeit dafür haben? Die Linke fordert daher erstens einen niedrigeren Betreuungsschlüssel und deutlich bessere Bezahlung. ({0}) Das führt dann dazu, dass weniger Fälle bearbeitet werden und so eine sehr gute Betreuung möglich ist. Wir wollen eine Fachstelle, welche die Expertise bündelt und diese Wege zur Entscheidungsfindung in der Praxis weiterentwickelt. Auch müssen Methoden zur unterstützten Entscheidungsfindung weiterentwickelt werden. Die Linke sagt: Es wäre besser, wenn es gar nicht erst zur Betreuung kommt. ({1}) Betreuungsvermeidende Hilfen sind in § 8 Absatz 2 Betreuungsorganisationsgesetz als sogenannte erweiterte Unterstützung angedacht, jedoch leider nur als Kannbestimmung; es besteht kein Rechtsanspruch auf erweiterte Unterstützung. Verstärkt wird das dadurch, dass eine Länderöffnungsklausel besteht, das heißt, demnach entscheiden die Länder selbst, ob sie dies überhaupt umsetzen. Es ist also nur eine Symbolgesetzgebung. Die gerichtlich angeordnete Betreuung darf aber nur die Ultima Ratio sein, da dies einen grundrechtsrelevanten Eingriff darstellt. ({2}) Welche weiteren Schwachstellen beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf? Erstens: Barrierefreiheit. Das Gesetz sieht adressatengerechte Ansprache vor, jedoch keine Pflicht zur barrierefreien Kommunikation. So kann Selbstbestimmung nicht verwirklicht werden. Barrierefreie Kommunikation muss verpflichtend enthalten sein. ({3}) Zweitens. Zwangssterilisationen sind weiterhin vorgesehen. Die UN- Behindertenrechtskonvention verbietet das explizit. Der UN-Fachausschuss hält diese Praxis im Übrigen für nicht statthaft und hat bereits 2017 geschrieben – ich zitiere –: Der § 1905 Bürgerliches Gesetzbuch muss aufgehoben werden. Die Sterilisierung ohne die vollständige und informierte Einwilligung der Betroffenen muss gesetzlich verboten werden. Sämtliche Ausnahmen sind abzuschaffen. ({4}) Jetzt lesen wir dazu in der Begründung des Ministeriums – ich zitiere –: Das zuständige Ministerium benötigt erst einmal hinreichende Tatsachenkenntnisse und wird ein Forschungsvorhaben zum Thema ausschreiben. – Was, bitte schön, hat die Bundesregierung die letzten drei Jahre gemacht, um derartige Grundrechtseingriffe zu verhindern? ({5}) Warum, liebe Bundesregierung, ignorieren Sie die Fachstelle und die damalige Behindertenbeauftragte? Weitere offene Fragen: Wie sieht es aus mit der Fortbildungspflicht für Berater und für Betreuer? Warum ist keine Regelung für Beratungs- und Beschwerdestellen enthalten? Betreuerbestellung findet weiterhin leider nur medizinisch und defizitorientiert statt. Es bedarf daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den kommenden Wochen und den Ausschussberatungen noch einiger Arbeit und Verbesserungen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Grüne. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention vor elf Jahren hat ganz vielen Menschen richtig Hoffnung gemacht, dass sie endlich ein selbstbestimmtes Leben führen können. Viele von ihnen beklagen, dass sich ständig andere über sie erheben und behaupten, zu wissen, was besser für sie ist. Damit muss endlich Schluss sein! ({0}) Der Genfer Fachausschuss, der über die Umsetzung der Menschenrechtskonvention in den Mitgliedstaaten wacht, fordert eindeutig, alle Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützenden Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen. Demnach werden in Deutschland Menschen durch ersetzende Entscheidungen von Gerichten gegen ihren Willen unter Betreuung gestellt und damit faktisch entrechtet, können aufgrund einer vermeintlichen psychischen Krankheit, geistiger oder seelischer Behinderungen freiheitsentziehenden Maßnahmen unterworfen werden und dabei teilweise Praktiken unterworfen werden, die als Folter zu charakterisieren sind – so der Fachausschuss. Man kann sagen: Das ist nicht besonders diplomatisch formuliert, legt nicht nur einen Finger, sondern die ganze Hand in eine klaffende Wunde. Wir alle, glaube ich, sehen übereinstimmend, dass das Betreuungsrecht unbedingt reformiert werden muss. Ich gebe gerne zu, dass der Anspruch, den die UN-Konvention formuliert, hoch ist. Das ist aber auch gut so. ({1}) Es sind ein paar gute Ansätze in Ihrem Entwurf enthalten. Richtschnur für Betreuer und Richterinnen sollen künftig die Wünsche der betreuten Menschen sein, nicht mehr ein allgemeines und oft falsch verstandenes Wohl. Dieses Wohl klingt gut, aber wie es in der Praxis realisiert wird, ist die große Frage. Viele Menschen mit Behinderungen sehen ihr Recht auf Selbstbestimmung weiterhin in Gefahr; denn rechtliche Betreuerinnen sollen umfassende Vertretungsbefugnisse behalten, ohne Prüfung, ob eine stellvertretende Entscheidung in der konkreten Situation unbedingt notwendig ist. Darüber hinaus ist nicht sichergestellt, dass sich die betroffenen Personen gegen eine Betreuung zur Wehr setzen können, und das, obwohl die UN-BRK eindeutig vorgibt, dass jede Person das Recht hat, Unterstützung abzulehnen, das Unterstützungsverhältnis zu verändern oder zu beenden. Eine Betreuung gegen den Willen der betroffenen Person soll weiterhin möglich sein. Das entspricht nicht den menschenrechtlichen Vorgaben und ist scharf zu kritisieren. ({2}) Es gibt mindestens einen Elefanten im Raum. Das Forschungsvorhaben zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes ergab, dass ein wesentlicher Teil der rechtlichen Betreuung vermieden werden könnte. Betreuerinnen schätzen, dass sage und schreibe jede vierte Betreuung, also 25 Prozent aller Betreuungen, zu vermeiden wäre und nur deshalb angeordnet wird, weil die betroffenen Menschen keinen Zugang zu Leistungen von Sozialträgern haben: Hartz IV, Eingliederungshilfe oder auch Sozialhilfe. Sie finden keinen Zugang, und deswegen wird die rechtliche Betreuung angeordnet. Das bedeutet: All diesen Menschen wird nur deshalb durch die Bestellung einer rechtlichen Betreuung in die Grundrechte eingegriffen, weil unsere Ämter es vielfach nicht auf die Kette bringen, sie anständig, umfassend, barrierefrei und rechtmäßig zu beraten. Das ist echt ein krasser Befund. ({3}) Das Gesetz geht davon aus, dass derjenige, der seine eigenen Angelegenheiten regeln kann – wie wahrscheinlich wir alle hier im Raum –, das auch für andere tun kann. Wenn das nicht mehr gilt, sondern das zunehmend nur noch durch Profis gemacht werden soll

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– ja, letzter Satz –, nur noch denen das zugetraut wird, müssen wir die Axt an den Behördendschungel legen, ({0}) anstatt immer mehr Menschen zu entrechten. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat die Abgeordnete Mechthild Rawert, SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Betroffenenvertreterinnen! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute startet das parlamentarische Verfahren zu einem wirklich wichtigen Gesetz – nicht nur in dieser Legislatur, sondern grundsätzlich – für über 1,25 Millionen Betroffene. Hinzu kommen die Angehörigen und die Freunde und Freundinnen. Ich danke für einen wirklich guten Reformentwurf. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem BMJV. Ich danke den engagierten Betroffenenvertretern und vor allen Dingen Dirk Heidenblut, meinem Vorgänger als Berichterstatter. Unterstützt werden sollen Menschen in ihrer selbstbestimmten Handlungsfähigkeit. Dieser Gesetzentwurf ist in einer bunten und zunehmend alternden Gesellschaft wichtig. Denn wer sind diese – zum Beispiel im Jahr 2015 – 1,25 Millionen Menschen? Das sind an Demenz erkrankte Menschen, das sind Menschen mit psychischen Erkrankungen, die gegebenenfalls nur für eine befristete Zeit rechtliche Unterstützung brauchen, und es ist die bunte Gruppe von Menschen mit Behinderungen in all ihrer Vielfalt, die ihr Selbstbestimmungsrecht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ausüben wollen. Fakt ist: Gutes kann immer noch besser werden, und das ist die Aufgabe von uns Parlamentariern und Parlamentarierinnen. Wir alle kennen das Struck’sche Gesetz. ({0}) Aus vielen Gesprächen mit Vertretern und Vertreterinnen in den vergangenen Wochen habe ich neben Lob auch noch viele Baustellen mitgenommen. Eine ist, dass wir im Vorfeld einer gerichtlichen Entscheidung über eine Betreuung genauere Prüfungen brauchen, ob ein Mehr an Maßnahmen unterstützter Entscheidungsfindung nicht bereits ausreicht. Wir brauchen mehr Dokumentation, wir brauchen aber auch mehr gerichtliche Kontrolle zu den stellvertretend ausgeübten Vertretungsmandaten. Wir brauchen unabhängige Beratungs- und Beschwerdestellen. Der Wunsch der zu betreuenden Personen ist Richtschnur für das Handeln der Betreuer und Betreuerinnen und beginnt bereits bei der Auswahl der Betreuer und Betreuerinnen. Zur tatsächlich selbstbestimmten Handlungsfähigkeit braucht es den Ausbau vieler Formen unterstützter Entscheidungsfindung und Kommunikation. ({1}) Wir haben gehört: Ehrenamtliche sind verstärkt in die Betreuungsvereine einzubinden. Dazu gehören auch die Angehörigen-Ehrenamtlichen; auch diese sollen von den Qualitätsverbesserungen profitieren. Betreuungsvereine erhalten wichtige neue Aufgaben. Der Ausbau und die Finanzierung müssen sichergestellt sein. ({2}) Wir brauchen neue klare Standards für die Aus- und die Weiterbildung der Berufsbetreuer und ‑betreuerinnen. Nur ein Satz noch zum automatischen Ehegattennotvertretungsrecht. Wir sollten hier über das Für und Wider ausführlich reden. Ein letzter Satz.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das war der Satz.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstbestimmung für alle, Barrierefreiheit und Inklusion sind kein Sparmodell. Demokratie braucht Inklusion. ({0}) Und es ist so, – ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, irgendwann muss der letzte Satz kommen.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– dass gleicher Respekt, gleiche Anerkennung, gleiche Würde für alle sich in der Solidarität und am Umgang mit Menschen mit Behinderungen zeigt. ({0}) Danke. ({1}) – Das schaffe ich schon alleine. Dazu brauche ich Ihre Unterstützung nicht. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, jetzt der voraussichtlich letzte Redner des heutigen Tages: der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht um diejenigen in unserer Gesellschaft – deshalb ist das auch zu später Stunde ein wichtiges Thema –, die aufgrund ihres minderjährigen Alters, ihrer Einschränkung infolge einer Behinderung oder ihrer Gebrechlichkeit nicht in allen Lebenslagen selbstbestimmt handeln können und daher unsere besondere Aufmerksamkeit auch zu dieser Stunde noch verdient haben. Es geht darum, dass Gesetze die Lebenswirklichkeit abbilden und regeln sollen. Ändert sich diese, so sind die Gesetze anzupassen oder grundsätzlich zu reformieren. Mit einer solch grundsätzlichen Reform haben wir es hier beim Vormundschafts- und Betreuungsrecht zu tun. Entsprechend der gesellschaftlichen Realitäten sind das aus der Einführung des BGB stammende Vormundschaftsrecht – darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen –, aber ebenso das seit 1990 nur mit wenigen Änderungen versehene Betreuungsrecht reformbedürftig. Man kann sagen: Entstanden ist endlich ein Gesetzeswerk aus einem Guss! Dabei kann heute niemand in diesem Hause, denke ich, von einem Schnellschuss sprechen; denn der Reformprozess zum Vormundschaftsrecht läuft seit 2012. Schon 2014 wurden Eckpunkte erarbeitet. Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt seit 2008. Seitdem wird eine Reform des Betreuungsrechts diskutiert. Es gab Forschungsvorhaben – zwei an der Zahl –, und es gab vier Facharbeitsgruppen unter Praxisbeteiligung. Der vorgelegte Gesetzentwurf kann sich – der Auffassung bin ich schon – grundsätzlich sehen lassen. Er sieht für Vormundschaftsrecht und Betreuungsrecht an vielen Stellen tiefgreifende Neuregelungen vor. Für beide Themenbereiche will ich das in aller Kürze beispielhaft deutlich machen. Die Reform des Vormundschaftsrechts – das wurde mehrfach gesagt – ist schon deshalb notwendig, weil es aus der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert stammt. In einer Zeit, in der es beispielsweise keine staatliche Waisenrente gab, bestand das Schwergewicht der Personensorge zugunsten minderjähriger Kinder in der wirtschaftlichen Absicherung. So überrascht es nicht, dass von den aktuell noch geltenden 65 Paragrafen des Vormundschaftsrechts sich mehr als die Hälfte mit der Vermögenssorge befasst. In Zeiten des modernen Sozialstaates liegen die Bedürfnisse jedoch ganz woanders: insbesondere in der Pflege und Erziehung und in der Entwicklung eines minderjährigen Kindes, also in der Personensorge. Schreckliche Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch haben wir in den letzten Jahren erleben müssen. Dass wir den Schwerpunkt nunmehr anders setzen als bisher, ist, so denke ich, genau richtig und dringend notwendig. Das tut dieser Gesetzentwurf. Der Kreis der möglichen Vormünder hat sich ebenfalls tiefgreifend verändert; das haben die Vorredner bereits gesagt: Nicht mehr die einzelne natürliche Person als Vormund steht im Mittelpunkt, sondern der Amtsvormund. Deshalb war es wichtig und richtig, dass die Gleichstellung des Amtsvormunds mit den anderen Vormündern in dem neuen § 1774 BGB erfolgt ist. Im Betreuungsrecht ist die bereits angesprochene Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voranzutreiben. Diese verlangt für Menschen mit Einschränkungen eine stärkere Beteiligung des Betroffenen, wie wir es auch im Bundesteilhabegesetz seit dem 1. Januar 2020 vorgesehen haben. Vor einer Betreuungsanordnung sollen künftig beispielsweise die Wünsche und Bedürfnisse des zu Betreuenden besser erfragt werden; es soll eine Art Kennenlerngespräch geben. Hier erlaube ich mir die kritische Anmerkung, dass wir das auch bei der Betreuervergütung nicht vergessen dürfen. Wir haben uns einem Evaluierungsprozess bis zum 31. Dezember 2024 unterzogen, und hier muss das unbedingt einfließen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die zuletzt vorgesehenen Reformbedingungen zu den Qualifikationsanordnungen der Berufsbetreuer strenger werden sollen. Eine standardisierte Ausbildung ist sicherlich angezeigt. Ich komme zum Schluss aber nicht ganz darum herum, etwas Wasser in den guten Wein zu gießen. Auf die Regelung der Ehegattenvertretung haben mehrere Rednerinnen und Redner hingewiesen. Allerdings muss man sich das mal ganz genau betrachten: Der § 1358 BGB, auf dessen Schaffung wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben, der ein Notvertretungsrecht vorsieht, erstreckt sich jetzt so weit, dass sogar freiheitsentziehende Maßnahmen durch einen Verweis auf den § 1831 Absatz 4 BGB möglich sind. Das geht unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung mit den erhöhten Anforderungen bei freiheitsentziehenden Maßnahmen eindeutig zu weit. Eine Beschränkung auf den Kernbereich medizinischer Noteingriffe ist angezeigt und ausreichend. Dann könnte man vielleicht sogar über eine Ausdehnung der jetzt geltenden dreimonatigen Notvertretungsregelung auf sechs Monate nachdenken. Das wäre sinnvoll; denn es gibt Rekonvaleszenzen, beispielsweise nach einem Schlaganfall, die es notwendig machen, etwas mehr Zeit ins Land ziehen zu lassen und dann erst endgültig über eine Betreuerbestellung zu entscheiden. Das alles gilt es in den kommenden Beratungen mit zu berücksichtigen und zu erörtern. Ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche einen schönen Abend. Danke schön. ({0})