Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/20/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Mittwoch wurden Abgeordnete des Deutschen Bundestages, darunter auch ein Mitglied der Bundesregierung, innerhalb dieses Hauses massiv bedrängt, ohne ihr Einverständnis aggressiv gefilmt und – so legen es die Aufnahmen nahe – übelst beleidigt. Die Bundestagspolizei – und hoffentlich bald auch die Staatsanwaltschaft – prüft diese Vorfälle mit Blick auf Hausfriedensbruch, auf den Straftatbestand der Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans und auch auf Nötigung und mögliche Beleidigungstatbestände. Das ist gut und richtig so. Nach den ersten Erkenntnissen sollen die in Verdacht stehenden Personen durch Hilfe von AfD-Abgeordneten, der Abgeordneten Bystron, Müller, Hemmelgarn, in den Bundestag eingeschleust worden sein. Schleusertätigkeit sozusagen. ({0}) Doch damit nicht genug. Der AfD-Abgeordnete Huber soll mehrfach versucht haben, ohne Erlaubnis in fremde Büros mit Kamera und anderen Personen zu gelangen. ({1}) – Gut. Wenn die Videos gelöscht sind, dann war das ja nicht besonders erfolgreich, weder in der einen noch in der anderen Hinsicht. Meine Damen und Herren, wir sind es ja gewohnt, dass die AfD in jeder Plenarwoche versucht, parlamentarische Abläufe zu behindern, das Ansehen des Parlaments zu schädigen. Das kennen wir alle, die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer ganz besonders. ({2}) – Es ist immer so herrlich. Man hört das als Zuschauer nicht, aber kaum hat man so etwas ausgesprochen, ist auf der Seite totale Aufregung. Man merkt es gleich. ({3}) – Sie müssen die Wahrheit auch aushalten, Herr Baumann. Ich sage Ihnen: Seit Sie in dieses Haus eingezogen sind, geht es Ihnen darum, diesen Bundestag schlechtzumachen. Sie wollen das Ansehen der anderen Fraktionen und des Hauses selbst in den Dreck ziehen. ({4}) Das ist permanent Ihre deutliche Absicht! ({5}) Das sieht man doch daran, dass AfD-Mitglieder irgendwelche seltsamen Filmchen drehen, um den Bundestag in ein völlig anderes Licht zu stellen. Mit unsinnigen Geschäftsordnungsmanövern betteln Sie um Aufmerksamkeit in den Medien, insbesondere in den sozialen Medien. Ihnen geht es nicht um die Sache. In den Ausschüssen glänzen Ihre Mitglieder oft durch körperliche oder geistige Abwesenheit. ({6}) Nein, es geht Ihnen nicht um die Sache, es geht Ihnen um Effekthascherei, um Futter für Ihre Kanäle. Sie wollen dort Feuer anheizen. Deswegen ist dieses Rednerpult für Sie nicht der Ort der Debatte, ({7}) dieses Rednerpult ist für Sie allein Kulisse für Ihre Videoclips, und das ist die größte Verachtung des Parlaments durch Sie. Sie verweigern hier die Arbeit, Sie verweigern die parlamentarische Arbeit. ({8}) Mit den Ereignissen von vorgestern ist nun allerdings eine neue Qualität erreicht. Was wir am Mittwoch erleben mussten, ist nicht weniger als ein Angriff auf das freie Mandat und ein Angriff auf die parlamentarische Demokratie, und da hört der Spaß nun wirklich auf. ({9}) Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag, insbesondere eine spezielle Abstimmung, sollten offenbar nicht mit Argumenten, sondern durch Bedrängung, ja, man könnte auch sagen, durch Nötigung beeinflusst werden. Nach meiner Überzeugung, Herr Gauland, sind die Ereignisse vom Mittwoch nicht plötzlich passiert, nach dem Motto „Wir können ja nichts dazu“. ({10}) Sie sind in meinen Augen der Tiefpunkt einer dauerhaften Strategie der AfD in diesem Hause. ({11}) Ich will Ihnen hier an diesem Ort der Debatte eines sagen: Sie täuschen sich! Sie beeindrucken uns nicht! ({12}) Sie mögen vielleicht die Methoden der Weimarer Zeit anwenden, aber diese Demokratie hat aus Weimar gelernt. Sie ist standhaft, und sie ist wehrhaft. Sie werden nicht das erreichen, was Sie wollen. ({13}) Die größte Heuchelei ist Ihre Nummer mit der Grundgesetz-Plakataktion. Sie halten hier Plakate des Grundgesetzes hoch und sorgen parallel dafür, dass diese Verfassung mit Füßen getreten wird, indem irgendwelche Leute von Ihnen parallel zu Ihrer Aktion Abgeordnete bedrängen und nötigen. ({14}) Wenn Sie Angst um die Verfassung haben, kontrollieren Sie sich selbst! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Aktionen aus den Reihen und dem Umfeld der AfD sind keine Lappalien. Das ist ein Bruch mit unserer parlamentarischen Kultur. ({15}) Ich will Ihnen sagen: Wir als CDU/CSU wollen einen fairen Parlamentarismus. Wir wollen ein Ringen mit und durch Argumente. ({16}) Wir wollen überzeugen und nicht einschüchtern. So geht Demokratie! ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kollege Grosse-Brömer, die Redezeit ist vorüber.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, und deswegen sage ich auch mit meinem letzten Satz: Das, was die AfD will, hat kürzlich jemand aus den Reihen ausgeplaudert – ich zitiere einmal – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Grosse-Brömer, nein. Entschuldigung, es tut mir leid. Sie müssen jetzt Ihre Rede beenden. Fünf Minuten Redezeit in der Aktuellen Stunde ist leider eine strenge Pflicht.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte tatsächlich fünf Sekunden – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nein, vielen Dank. ({0}) Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der AfD, Dr. Alexander Gauland. ({1})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass gewählte Volksvertreter von Gästen zweier Abgeordneter unserer Fraktion bedrängt und belästigt wurden, ist unzivilisiert und gehört sich nicht. ({0}) Dafür entschuldige ich mich als Fraktionsvorsitzender. ({1}) Hier ist etwas, wie man sagt, aus dem Ruder gelaufen, und die aufgeheizte Stimmung draußen hat sich nach innen übertragen. Das hätten wir verhindern müssen, wir hätten diese Besucher beaufsichtigen müssen. ({2}) Ich möchte betonen, dass diese Besucher ganz offiziell angemeldet waren und somit auch die Sicherheitsüberprüfung durchlaufen haben. Wir konnten also nicht damit rechnen, dass so etwas passiert. ({3}) – Ja, ja. Die Unterstellungen allerdings, diese Vorfälle seien von uns, wie es Herr Grosse-Brömer ja auch gerade gesagt hat, beabsichtigt gewesen, das sei eben der Stil der AfD, diese Unterstellungen sind infam. ({4}) Was haben wir denn davon? Es sind ja auch drei der Besucher in das Büro unseres Parlamentarischen Geschäftsführers eingedrungen und haben, wie die Bundestagspolizei notierte, trotz der Proteste der anwesenden Bürobeschäftigten ohne Erlaubnis dort gefilmt. Als Besucher hat man sich so nicht aufzuführen. Deshalb werden diese Gäste nicht mehr eingeladen. ({5}) Punktum. Und nochmals: Pardon. Allerdings vermisse ich bei der Bewertung dieser Zwischenfälle einmal mehr das Fair Play und die Gleichheit der Maßstäbe. ({6}) Offenbar besteht für viele Journalisten und einige Kollegen hier im Haus ein großer Unterschied darin, wer sich im oder am Bundestag ungebührlich aufführt und welcher politischen Gesinnung derjenige folgt. Ich erinnere nur an die fünf Mitglieder – oder wie sympathisierende Medien gerne schreiben: Aktivisten – von Extinction Rebellion, ({7}) die am 2. Juli in der Westlobby Flugblätter warfen und Regenschirme aufspannten, um gegen den aus ihrer Sicht zu langsamen Kohleausstieg zu protestieren. ({8}) Die Störer waren Gäste des parteilosen Abgeordneten Marco Bülow, bis 2018 SPD-Mitglied. ({9}) Tags darauf stiegen Greenpeace-Mitglieder aus demselben Motiv auf das Dach des Bundestages und befestigten über dem Portal ein Transparent. ({10}) Im Haus gab es ebenfalls eine Plakataktion durch Gäste eines Abgeordneten der Linken. ({11}) Aber das alles, meine Damen und Herren in diesem Haus, scheinen gute Störer gewesen zu sein. ({12}) Doppelte Maßstäbe erzeugen immer einen unangenehmen Beigeschmack. So was nennt man im bürgerlichen Leben „Heuchelei“. ({13}) Die weit übelste Attacke auf einen Abgeordneten des Bundestages fand am Mittwoch übrigens außerhalb des Parlaments statt. ({14}) Ich rede von unserem Kollegen Karsten Hilse, der Unter den Linden Ecke Wilhelmstraße gegen 9.15 Uhr von der Polizei festgenommen, zu Boden geworfen und mit Handschellen gefesselt worden war, obwohl er sich als Mitglied des Bundestages ausgewiesen hatte. ({15}) Mehrere Beamte knieten auf seinem Rücken und drückten sein Gesicht auf den Boden, obwohl er mehrmals laut rief, dass er kooperiere. Herr Hilse wurde dabei verletzt. Auf Anraten der Parlamentsärztin begab er sich ins Bundeswehrkrankenhaus, wo seine Verletzungen attestiert wurden. ({16}) Meine Damen und Herren, ich halte es für mehr als angemessen, wenn Sie auch und erst recht diesen Angriff auf einen Volksvertreter verurteilen; denn damit könnten Sie beweisen, dass es keine Heuchelei ist, was Sie heute hier aufführen. Ich bedanke mich. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dirk Wiese, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarismus, die Debatte hier im Parlament, sie leben vom Austausch der Argumente. Diese Debatte ist intensiv. Sie ist manchmal auch hitzig. Ja, manchmal ist sie auch durchaus nicht einfach bei manchen Punkten. Aber – das hat diesen Deutschen Bundestag ausgezeichnet, und das hat bisher auch die Fraktionen hier im Deutschen Bundestag in den vergangenen Jahren immer wieder ausgezeichnet – sie war immer getragen von Respekt, von Anerkennung des Arguments des anderen. Sie war geprägt davon, dass man zugehört hat. Zu dem, was wir allerdings in dieser Woche am Mittwoch erlebt haben, muss ich sagen: Das war kein Einzelfall, der zufällig passiert ist, weil man unachtsam gewesen ist bei der Überprüfung derjenigen, die man als Gäste mit in den Deutschen Bundestag genommen hat. Ich muss schon sagen: Diese Rechtfertigung, die ich gerade hier an diesem Pult von Herrn Gauland gehört habe, die ist scheinheilig. ({0}) Das, was hier am Mittwoch stattgefunden hat, passte in das System, wie die AfD hier im Deutschen Bundestag auftritt. Es war wieder einmal eine bewusste Grenzüberschreitung in voller Absicht, und Ihre Rechtfertigung gerade, Herr Gauland, die kann ich Ihnen nicht abnehmen. ({1}) Ich will etwas zum Vergleich zu Weimar sagen; mein Kollege Grosse-Brömer hat es gerade angesprochen. Kurt Sontheimer hat einmal gesagt: Weimar „war eine Demokratie, in der es weithin keine demokratische Gesinnung gab“. Sie war von Verfassungsfeinden durchsetzt. – Wir leben aber heute in einer anderen Zeit. Darum ist es nicht vergleichbar. Unsere heutige Demokratie ist wehrhaft. Wir wissen, wie wir uns zur Wehr setzen können. Wir wissen, wie wir mit Verfassungsfeinden umgehen können. Die große Anzahl der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, hier in diesem Haus steht auf dem Boden des Grundgesetzes, verteidigt diese Verfassung und will sie nicht in den Parlamenten angreifen und aufheben. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle auch meinen großen Dank sagen an die Polizistinnen und Polizisten, die dafür gesorgt haben, dass das Verfassungsorgan Bundestag seiner Arbeit nachgehen konnte. ({3}) Ich bin allerdings erschüttert, dass die Polizei am Mittwoch auch das Haus der Bundespressekonferenz schützen musste, weil auch unsere vierte Gewalt mit Attacken rechnen musste. Das ist etwas, was aus meiner Sicht uns alle auffordert, aufzustehen, dagegenzuhalten, die Stimme zu erheben. Ich muss angesichts der Schilder einiger Protestierenden eines sagen: Wir leben hier in keiner Diktatur. Wer eine Diktatur sehen will, der muss nach Belarus gucken, aber nicht in die Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Ganz ehrlich, wer den Vergleich anstellt – auch aus Ihrer Fraktion wurde dies gemacht –, dass es sich hier am Mittwoch um ein Ermächtigungsgesetz handeln würde, der handelt geschichtsvergessen. Das Ermächtigungsgesetz von 1933 bedeutete die Aufhebung der Gewaltenteilung, die Verschmelzung von Legislative und Exekutive. Sozialdemokraten haben am Rednerpult gestanden – nicht hier, ein bisschen entfernt –, und sie haben dagegengestimmt, obwohl sie wussten, dass sie, wenn sie das tun, in die Konzentrationslager kommen und mit Folter und Tod bedroht werden. Da muss man sagen: Wer diesen Vergleich zieht, der ist geschichtsvergessen, der hat keine Ahnung und der lügt bewusst über das, was 1933 passiert ist. ({5}) Es ist richtig, dass der Ältestenrat und damit auch der Deutsche Bundestag beschlossen hat, diese Vorfälle jetzt zu prüfen, strafrechtlich und ordnungsrechtlich. Ich kann nur sagen: Wir müssen aufpassen. Wehren wir diesen Anfängen. Kurt Schumacher, ein großer Sozialdemokrat, hat einmal gesagt: Nur ein Deutschland, getragen von einem staatsbürgerlichen Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit, kann erfolgreich in der Abwehr totalitärer Tendenzen sein. ({6}) Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir alle gefordert. Lieber Herr Gauland, ({7}) Sie haben hier im Deutschen Bundestag am Mittwoch eine Plakataktion gemacht und sich dabei auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland berufen. Dazu kann ich nur eines sagen – und da will ich Carlo Schmid zitieren; übrigens nicht Carl Schmitt, den Sie, glaube ich, zu häufig gelesen haben –: Artikel 1 des Grundgesetzes ist „der eigentliche Schlüssel für das Ganze“. Artikel 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – haben Sie bis zum heutigen Tage nicht verstanden. ({8}) Das merkt man in jeder Ihrer Reden hier im Deutschen Bundestag. Von daher: Ja, diese Coronazeit ist eine herausfordernde Situation für uns alle. Aber mit Respekt, Solidarität und Gemeinschaftssinn werden wir diese schwierige Zeit für die Bundesrepublik, für Europa überstehen. Da müssen wir gemeinsam ansetzen, mit Respekt und mit Toleranz. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marco Buschmann, FDP. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen habe ich der AfD von diesem Rednerpult aus zugerufen, dass sie die Institutionen in den Schmutz zieht, weil sie sie hasst. ({0}) Schon während der AfD-Fraktionsvorsitzende, Alexander Gauland, das mit großer Vehemenz von sich gewiesen hat, waren sie schon hier im Hause unterwegs: die Unruhestifter, die Ihre Abgeordneten hier ins Haus gelassen haben, die Unruhestifter, die Mitglieder der Bundesregierung und Mitglieder dieses Hauses und unsere Mitarbeiter bedrängt haben, die sich Zutritt in Räume verschafft haben, wo sie nicht hingehören, und die hier ein Klima der Bedrängung und der Bedrohung erzeugen wollten. Sie wollten ein Klima der Bedrohung in dieses Haus tragen. Das war das Ziel. ({1}) Was, frage ich Sie, braucht es eigentlich mehr, um zu beweisen, dass ich recht hatte mit meinem Satz: Sie wollen die Institutionen in den Schmutz ziehen, weil Sie sie hassen. ({2}) Der große Staatsrechtslehrer Hans Kelsen hat die liberale Demokratie gegen alle ihre Feinde intellektuell verteidigt, insbesondere warnte er vor den Waffen der Demokratiefeinde im Parlament. Das, was die AfD bis zum letzten Mittwoch betrieben hat, das nannte er „technische Obstruktion“. Damit meinte er „formell geschäftsordnungsmäßige Mittel“, mit denen man Sand ins Getriebe des Parlaments streut – das haben wir häufig genug hier erlebt –, indem massenhaft Wahlgänge beantragt, spätabends Hammelsprünge durchgeführt, seltsame Geschäftsordnungsanträge gestellt werden usw., usf. ({3}) Das alles hat aber nicht funktioniert; denn dieses Parlament ist wehrhaft gegenüber seinen Feinden, egal ob sie außerhalb dieses Gebäudes agieren oder innerhalb. ({4}) Neben die technische Obstruktion stellte Kelsen allerdings einen weiteren Begriff, und das ist die physische Obstruktion. Die physische Obstruktion soll durch Lärm, durch Gewalt und durch ein Klima der Bedrohung die Parlamentarier selbst von ihrer Arbeit abhalten. Hier zeigt sich der Tabubruch vom Mittwoch: Die AfD ist das erste Mal von technischer Obstruktion zu physischer Obstruktion des Parlaments übergegangen, und das ist unerhört. ({5}) Dazu schreibt der Journalist Jasper von Altenbockum in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass der AfD das – Zitat – „Wort Grundgesetz … im Halse stecken bleiben“ solle. – Recht hat der Mann! ({6}) Und glauben Sie ja nicht, dass wir uns das gefallen lassen. Wir werden alle bestehenden rechtlichen Instrumente nutzen, um uns dagegen zu wehren, und wenn die nicht ausreichen sollten, dann werden wir sie erweitern. ({7}) Physische Obstruktion lässt sich dieses Parlament nicht gefallen, Herr Gauland, egal wie viele Krokodilstränen Sie hier vergießen. ({8}) Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ – Zitat –: Alle erfolgreichen Demokratien stützen sich auf informelle Regeln, die zwar nicht in der Verfassung festgeschrieben sind, aber weithin bekannt sind und beachtet werden. Man kann diese Regeln auch mit einem Wort zusammenfassen: Anstand. ({9}) Und an Anstand hat es die AfD vermissen lassen, seit Sie in diesem Parlament sitzen. ({10}) Aber Sie lassen es nicht an Anstand vermissen, weil Sie es nicht besser wüssten. Sie lassen es an Anstand fehlen, weil Sie nur ein Ziel verfolgen: Sie wollen die Institution in den Schmutz ziehen, weil Sie sie hassen. ({11}) Aber seien Sie sich eines sicher: Unsere Demokratie ist stärker als Ihr Hass. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, die uns heute hier folgen! Es gibt viele Beschlüsse, die hier im Bundestag gefasst wurden oder werden, die ich strikt ablehne. Es gibt viele Mitglieder des Bundestages, die ich bestimmt nicht Freunde nenne, höchstens politische Gegner; aber bei allen Differenzen in der Sache würde ich sie nie als Feinde brandmarken. ({0}) Feindbilder in diesem demokratisch gewählten Parlament haben mit der AfD massiv Einzug gehalten. Das ist kulturlos und undemokratisch. ({1}) Im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz, das vorgestern hier beschlossen wurde, sprach die AfD von einem Ermächtigungsgesetz. ({2}) Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, und das habe ich schon vor 14 Tagen von hier oben gerügt. ({3}) Es gab in der deutschen Geschichte ein Ermächtigungsgesetz. ({4}) Mit ihm löste die NSDAP 1933 den Deutschen Reichstag auf. Es folgte eine faschistische Diktatur ohnegleichen, inklusive Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, Holocaust und Zweitem Weltkrieg mit zig Millionen Toten. Wer das Gesetz zur Minderung der Coronafolgen gleichsetzt, verharmlost den Faschismus und verhöhnt seine Opfer. ({5}) Übrigens: Die NSDAP zog seinerzeit mit folgender Ansage in den Reichstag ein – ich zitiere –: Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir! Ich habe sehr wohl wahrgenommen, dass Vertreter der AfD – und ich benenne einen gleich namentlich, damit Sie gar nicht dazwischenrufen müssen –, unter anderem Herr Höcke, genau diese Drohung der NSDAP von Herrn Goebbels für sich aufgenommen haben – im Wortlaut und im Agieren. ({6}) Das heißt, diese Vertreter sehen sich offenbar selbst als Nachfolger dieser faschistischen Partei, und das ist erhellend und verheerend. ({7}) Folglich ist es offensichtlich für etliche Abgeordnete der AfD logisch, ja heldenhaft, wenn sie Personen in den Reichstag holen, die andere Parlamentarier hier drinnen bedrängen und bedrohen. Aber das ist für die Mehrheit des Deutschen Bundestages eben nicht logisch, sondern menschenverachtend und demokratiefeindlich. ({8}) Die AfD wirft anderen Parteien vor, sie würden die Coronaepidemie parteiegoistisch missbrauchen. ({9}) Ich sage für Die Linke: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die AfD versucht, sich auf Kosten von zig Erkrankten und noch mehr gefährdeten Bürgerinnen und Bürger zu profilieren. ({10}) Das ist erbärmlich. ({11}) Schließlich: Die AfD gibt sich neuerdings als Bürgerrechts- und Freiheitspartei aus. ({12}) Mit Verlaub: Das ist nicht mal ein schlechter Scherz. Das ist purer Etikettenschwindel einer Partei mit rechtsextremen Flügeln und rassistischen Positionen. ({13}) Die AfD schützt nicht das Grundgesetz. Im Gegenteil: Die demokratische Gesellschaft muss unser Land vor der AfD schützen, begonnen bei Artikel 1 des Grundgesetzes. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, in die nächste Rednerin. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hemmelgarn, Bystron, Müller, Huber in dieser Woche – morgen, übermorgen oder auch vor drei Wochen waren es andere. Die von der AfD eingeschleusten Personen wollten die gewählten Abgeordneten an der Ausübung ihres freien Mandates hindern. ({0}) Das ist ein gravierender Vorfall. Wer versucht, Abgeordnete einzuschüchtern, meine Damen und Herren, der greift unsere Demokratie an, und das ist ein Tabubruch in diesem Haus. ({1}) Dennoch, meine Damen und Herren – und das ist die gute Botschaft vom Mittwoch –, sind die Störerinnen und Störer, die Schleuser der AfD und mit ihnen die AfD gescheitert. Der Bundestag mit seinen Abgeordneten, dieses Parlament, hat in intensiver Debatte beraten, war arbeitsfähig und hat als Gesetzgeber Entscheidungen getroffen – trotz Ihrer Manöver und Ihres Tabubruchs, meine Damen und Herren. ({2}) Wir werden das Parlament vor diesen destruktiven und antiparlamentarischen Angriffen schützen. Bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache zwischen FDP, CDU/CSU, Grünen, SPD und Linken werden wir dies zusammen tun. ({3}) Denn wir kennen unsere Verantwortung vor der Geschichte, meine Damen und Herren. Deshalb müssen diese Störmaßnahmen mit der Hausordnung, dem Ordnungswidrigkeitenrecht und gegebenenfalls auch mit dem Strafrecht konsequent geahndet werden. ({4}) Dazu müssen Rechtsverletzungen von und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Abgeordneten jetzt geprüft werden. Meine Damen und Herren, lassen Sie sich nichts weismachen: Die Abgeordneten der AfD wussten ganz genau, wen sie einladen. ({5}) Und sie wussten auch ganz genau, was die Absicht dieser Personen ist; denn diese Personen waren nicht zum ersten Mal eingeladen. ({6}) Man darf sich von diesen Äußerungen von Gauland hier nicht täuschen lassen; sie sind Ausflüchte mit doppeltem Boden. Weidel, Gauland und andere schieben die Verantwortung von sich. ({7}) Das kennen wir aus jeder einzelnen Situation, wenn es brenzlig wird für die AfD, meine Damen und Herren: Dann wussten sie nichts oder heulen Krokodilstränen. Nehmen Sie das nicht ernst! ({8}) Sie versuchen, die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen. Aber, meine Damen und Herren, wir lassen uns von Rechtsextremen nicht auf der Nase herumtanzen, weder hier im Parlament noch anderswo! Lassen Sie sich das gesagt sein! ({9}) Das war doch eine konzertierte Aktion. Und das ist Teil Ihrer Strategie, das ist Teil der AfD-Strategie: ({10}) unaufrichtiges, geheucheltes Bedauern hier; denn man merkt, es wird brenzlig. Haben Sie es gesehen? Seit gestern werden auch alle Videos gelöscht. ({11}) Es gibt diese Videos plötzlich nicht mehr. Aber für wie blöd halten Sie uns eigentlich? Jede Menge Journalistinnen und Journalisten und auch wir haben Screenshots gemacht. ({12}) Da kommen Sie nicht mehr raus, meine Damen und Herren. Da kommen Sie nicht mehr raus! ({13}) Unaufrichtiges und geheucheltes Bedauern hier – auch heute wieder – und dann Applaus von den anderen einholen: Das ist die Strategie, meine Damen und Herren, und die müssen wir entlarven. Denn das geht so nicht; das kann man auf gar keinen Fall so stehen lassen. Die AfD macht Heuchelei, Rückgratlosigkeit und Manipulation zur Methode; wir kennen unzählige Beispiele aus jeder Parlamentswoche. Sie versucht, die demokratischen Institutionen verächtlich zu machen; auch das erleben wir jede Woche im Parlament. Die Geschehnisse von Mittwoch haben gezeigt, dass Sie auch keine Grenzen kennen. ({14}) Der Versuch der Zersetzung unserer Demokratie, das ist das Ziel vieler derer, die in dieser Fraktion sitzen. Dagegen werden Demokratinnen und Demokraten zusammenstehen, meine Damen und Herren! ({15}) Erinnern Sie sich noch, dass Gauland 2017 sagte: „Wir werden sie jagen“? ({16}) Erinnern Sie sich daran? Gar nichts werden Sie, meine Damen und Herren von der AfD! ({17}) Denn Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus und auch außerhalb des Parlaments werden zusammenstehen, werden gemeinsam solchen Feinden der Demokratie entgegenstehen, und das wissen Sie ganz genau. Ihnen steht das Wasser bis zum Hals! ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stefan Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind es ja mittlerweile leider gewohnt, dass Verfassungsfeinde von außen den Bundestag verächtlich machen, den Bundestag und unseren Parlamentarismus abschaffen wollen. Aber mit der Aktion vom Mittwoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die AfD mal wieder aufs Neue bewiesen: Die Feinde der Demokratie kommen nicht nur von außen, die Feinde der Demokratie sitzen auch hier in diesem Plenarsaal. Hier rechts im Plenarsaal sitzen Feinde der Demokratie. ({0}) Es sind diejenigen, die immer behaupten, eine Alternative für Deutschland zu sein. Diejenigen, die behaupten, eine Alternative zu sein, arbeiten in Wahrheit an einer Alternative zu unserer Demokratie, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich kann nur sagen: Wir werden Ihre Einschüchterungsversuche nicht zulassen. Hier im Bundestag entscheiden frei gewählte Abgeordnete über das Schicksal unseres Landes. Was wir vor zwei Tagen hier erlebt haben, war der bewusste Versuch der AfD, genau diese freie Entscheidung zu erschweren und zu untergraben. Sie haben Leute in den Bundestag gebracht, die offenbar nur eines im Sinn hatten, nämlich Abgeordnete anderer Fraktionen auf den Fluren abzufangen, sie vor laufenden Kameras zu beschimpfen und zu beleidigen. Und das Ziel ist klar: Sie wollen das Parlament lächerlich machen, Sie wollen Abgeordnete öffentlich vorführen, Sie wollen die Mitglieder des Bundestages einschüchtern. Ich kann nur sagen: Wir lassen uns von Ihnen und Ihren Methoden nicht einschüchtern! ({2}) Wir werden vor Ihren Fake News, Ihrer Demokratieverachtung, Ihrem Kampf gegen das Parlament keinen Fußbreit zurückweichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) – Ja, ja. Diese Pandemie stellt uns als Parlament vor eine schwierige Situation. Ja, wir müssen abwägen zwischen der Freiheit, sich mit Freunden zu treffen, ins Konzert zu gehen oder Restaurants zu besuchen, auf der einen Seite und dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor einem gefährlichen Virus auf der anderen Seite. Ich habe die Debatte am Mittwoch so erlebt, dass sich hier niemand die Entscheidung leicht gemacht hat, weder diejenigen, die dem Gesetz zugestimmt haben, noch diejenigen, die dem Gesetz nicht zustimmen konnten. Wir alle wissen aber: Wir treffen existenzielle Entscheidungen in diesem Haus. Jetzt frage ich mal: Wer ist denn hier wirklich der aufrechte Demokrat? ({4}) Derjenige, der Demonstrationen respektiert, der andere Meinungen akzeptiert, der Gerichtsurteile aushält und akzeptiert, oder derjenige, der andere Meinungen verächtlich macht, ({5}) die Wahrheit verdreht oder ein Klima der Angst erzeugt, so wie Sie es tun? ({6}) Herr Gauland hat neulich hier im Parlament gesagt: „Der Güter höchstes ist die Freiheit.“ Ja, aber Freiheit setzt Vielfalt voraus, offene Diskussionen und gegenseitigen Respekt. All das ist Ihnen ganz offensichtlich abhandengekommen. Die Aktion vom letzten Mittwoch war die offizielle Austrittserklärung der AfD aus dem parlamentarischen Diskurs, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Jetzt erleben wir ja wieder das übliche Spiel: Es wird bestätigt, was nicht geleugnet werden kann. Wir hören, das sei ja alles nicht so schlimm; es waren ja nur ein paar Gäste von ein paar wenigen Kollegen, die sich danebenbenommen haben. Ich will nur sagen: Vor ein paar Wochen hat sich das noch ganz anders bei Ihnen angehört. Ich zitiere: Der Deutsche Bundestag „steht für den parlamentarischen Meinungsstreit im Plenarsaal und darf nicht zum Objekt politischer Auseinandersetzungen auf der Straße missbraucht werden – egal von welcher Seite“. Wörtliches Zitat von Alice Weidel! ({8}) Da ging es um die Stürmung der Reichstagstreppe, um ein Greenpeace-Transparent. Das hat man alles zu Recht kritisiert; aber davon wollen Sie ja heute nichts mehr wissen. ({9}) Ich werde Ihnen auch sagen, warum: weil Sie die Meinungsfreiheit nur gelten lassen, wenn es um Ihre eigene Meinung geht, ({10}) weil die einzige Moral, die Sie kennen, Ihre Doppelmoral ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Ihnen fehlt jede Voraussetzung für den demokratischen Diskurs in diesem Parlament. Aber natürlich ist es zu viel verlangt, die Hausordnung einzuhalten, wenn Sie schon Probleme mit dem Grundgesetz haben. Dafür gibt es viele Beispiele. Eines ist: Herr Seitz sagt, der Bundestag sei ein Parlament der Schande. Sie versuchen gezielt und bewusst, jedes demokratische Verfassungsorgan lächerlich zu machen. Sie sprechen über kriminelle Schleuserbanden. Am Mittwoch waren Sie die kriminelle Schleuserbande. ({12}) Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kollege Müller!

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sind Gegner der Verfassung. So werden wir Sie auch behandeln. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Abgeordnete Karsten Hilse, AfD. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) Dass Gäste, egal wo sie Gast sind, ihr Gastrecht missbrauchen, verurteile ich auf das Schärfste. Und das muss auch Konsequenzen für diejenigen haben, die diesen Missbrauch begangen haben. ({1}) Das ist vollkommen klar. Dieser Mittwoch war aber nicht wegen der Missachtung des Gastrechts ein geschichtsträchtiger Tag. Wie er einst bewertet wird, hängt unter anderem davon ab, wie die vielen zu erwartenden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen dieses von einigen auch „Ermächtigungsgesetz“ genannte Gesetz beschieden werden. ({2}) Ja, das Wort „Ermächtigungsgesetz“ hat eine brisante Konnotation, was allerdings Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU nicht davon abhielt, am 20. Januar 2012 hier im Bundestag einen SPD-Gesetzentwurf als „mindestlohnpolitisches Ermächtigungsgesetz“ zu bezeichnen. ({3}) Allerdings hat der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ seine negative Konnotation auch erst erhalten, als die Parlamentarier des Deutschen Reichstages mit dem von den Nationalsozialisten eingebrachten Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich ein Ermächtigungsgesetz beschlossen, welches die Demokratie aus den Angeln hob und zur schlimmsten Katastrophe des 20. Jahrhunderts führte. Bis zu diesem Zeitpunkt war „Ermächtigungsgesetz“ ein üblicher Begriff, nach dem von 1914 bis 1927 insgesamt elf Ermächtigungsgesetze erlassen wurden. ({4}) Also bitte ich Sie inständig: Bitte lassen Sie die Kirche im Dorf! Wenn in einem Gesetz mehrmals von „Ermächtigung“ gesprochen wird, dann kann man es mit Fug und Recht ohne diese negative Konnotation so nennen. ({5}) Dieses am Mittwoch mit 413 Stimmen beschlossene Gesetz zieht die größten Grundrechtseinschränkungen seit 1949 nach sich. ({6}) Wir als AfD und viele Menschen da draußen werden mit allen rechtsstaatlichen Mitteln versuchen, dieses Gesetz wieder außer Kraft zu setzen. ({7}) Dieser 18.11.2020 wird aber auch deswegen in die Geschichte eingehen, weil es noch nie in der deutschen Geschichte einen solch breiten Widerstand von Menschen verschiedener politischer Grundüberzeugungen gegen ein Gesetz gab. ({8}) Noch nie haben Abgeordnete so viele – Abertausende – Mails, Briefe, Faxe erhalten mit der eindringlichen Bitte, dieses Gesetz abzulehnen. ({9}) Wir haben die Mails beantwortet und uns klar positioniert: für Freiheit und Demokratie. ({10}) 413 Abgeordnete haben die bundesweiten Demonstrationen, die Bitten, auf ihr Gewissen zu hören, nicht interessiert. ({11}) Sie haben im vollen Bewusstsein aus Opportunität oder aus Feigheit für ein Gesetz gestimmt, das die Tür zur Diktatur aufstößt. Schämen Sie sich! ({12}) Dazu passt, dass gegen friedliche Demonstranten Wasserwerfer zum Einsatz kamen. Diese wurden seit Jahren in Berlin nicht einmal zu den Gewaltorgien linker Terroristen oder zum Al-Quds-Marsch, wo die Auslöschung Israels gefordert wird, eingesetzt. Wenn aber friedliche Menschen für Frieden, Freiheit und Demokratie auf die Straßen gehen, dann kann es nicht genug Wasser und Tränengas sein. ({13}) Die Polizeiführung Berlins ist Erfüllungsgehilfe dieser völlig außer Rand und Band geratenen Bundesregierung. ({14}) Neben vielen Polizeibeamten, die taten, was sie nicht nur gelernt, sondern als Polizist auch tief in sich tragen – verhältnismäßig zu reagieren –, ({15}) gab es am Mittwoch wieder Polizisten, die sich von der Hetzpropaganda der Regierung und ihrer Medien anstecken ließen und völlig unverhältnismäßig handelten. ({16}) Allen Polizisten, die sich menschlich und vor allem verhältnismäßig verhielten, gilt mein ausdrücklicher Dank. ({17}) Aber ihr solltet auch beachten: Jeder Kollege, der in rabiater und brachialer Weise gegen friedliche Demonstranten vorgeht, um sie einzuschüchtern, zerstört das Bild, das ihr, diejenigen, die verhältnismäßig agieren, zeigt. ({18}) Auch ich wurde am Mittwoch Opfer von völlig unverhältnismäßigem Handeln. ({19}) Wegen einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit ging ich mit zwei Beamten in Richtung ihrer Fahrzeuge zur Personalienfeststellung. ({20}) Natürlich hatte ich mich von Anfang an als Bundestagsabgeordneter ausgewiesen. Als ich dann den Kollegen offensichtlich nicht schnell genug war, wurde ich erst geschubst, gegen eine Scheibe gedrückt und fand mich plötzlich auf dem Pflaster wieder, mit dem Gesicht im Asphalt, kniende Polizisten auf mir. Mehrmals hatte ich den Beamten zugerufen, dass ich kooperiere, dass ich meine Personalien angebe. Ich habe sogar die ganze Zeit meinen Personalausweis hochgehalten. ({21}) Sie hätten ihn einfach nur nehmen müssen. Das interessierte sie nicht mehr. ({22}) Ich weiß, dass die meisten von Ihnen das auch nicht interessiert. Anders wäre es, wenn zum Beispiel Herr Bartsch oder Herr Hofreiter betroffen wären oder wenn irgendjemand von Ihnen bei irgendeiner Gelegenheit in dieser Situation gewesen wäre. ({23}) Dann wäre das Geschrei groß.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hilse, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay. – Sie hätten dann – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte verlassen Sie das Pult. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich verlasse das Pult. – Und Ihr Geschrei zeigt, dass Sie nur Heuchler sind. Entschuldigung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Hilse! – Barbara Hendricks, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damen und Herren Abgeordnete auf der rechten Seite dieses Hauses! ({0}) Ich bin seit mehr als 25 Jahren Mitglied dieses Bundestages, noch in Bonn und von Beginn an hier in Berlin. Wir hatten in all den Jahren ganz unterschiedliche Mehrheiten, immer wieder wechselnde Mehrheiten. Wir hatten eine Fülle von Herausforderungen zu bestehen, die wir nicht immer alle einstimmig vorangebracht haben, ({1}) aber doch in einem prinzipiellen Einvernehmen darüber, was der Wert der Demokratie ist und wie man sich in diesem Hause sowohl arbeitsmäßig als auch persönlich verhält. ({2}) Seit 2017 hat sich nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch die Atmosphäre in diesem Haus grundlegend gewandelt, und das liegt daran, dass die AfD als Fraktion Mitglied dieses Parlamentes werden konnte. Wir wissen das, aber wir wollen uns nicht daran gewöhnen. Wir wissen, dass Sie insbesondere Kolleginnen, die in Ihrer Nähe sitzen, beleidigen, so, dass die Kolleginnen das hören, es aber nicht ins Protokoll aufgenommen werden kann. ({3}) Wir wissen, dass Mitglieder der Bundesregierung es im Prinzip fast nicht mehr aushalten können, in Ihrer Nähe zu sitzen, wegen der provokanten Äußerungen, die wiederum aus Ihren Reihen kommen, aber nicht im Protokoll erscheinen, weil sie nicht so laut gerufen werden. ({4}) Wir wissen dies alles, und wir müssen damit umgehen; das ist leider nicht zu ändern. Wir wissen, dass in Ihren Reihen Nazis sind, ({5}) und wir wissen, dass in Ihren Reihen Menschen sind, die so tun, als seien sie Nazis, um der Provokation willen. ({6}) – Ziehen Sie sich den Schuh an oder nicht. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hampel! ({0}) Herr Kollege Hampel, ich rufe Sie zur Ordnung. ({1}) – Ich rufe Sie erneut zur Ordnung und mache Sie auf die Folgen eines dritten Ordnungsrufs aufmerksam. ({2}) Frau Kollegin Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bis hin zur Körperhaltung von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion wird hier provoziert und gezeigt, dass man dieses Parlament verachtet. Und was Sie nicht selbst erledigen, das lassen Sie durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erledigen, die Sie ganz offenbar unter dem Gesichtspunkt auswählen, wer denn wohl der Skrupelloseste sei. ({0}) Kolleginnen aus anderen Fraktionen trauen sich nicht mehr, spätabends auf den Fluren unterwegs zu sein, ({1}) weil sie von Mitarbeitern Ihrer Fraktion oder von Mitarbeitern von Abgeordneten Ihrer Fraktion bedrängt werden. ({2}) Ich nenne ein Zitat aus der Kantine, die im Wesentlichen von den Abgeordnetenmitarbeitern genutzt wird. Ein Mitarbeiter der AfD-Fraktion oder eines AfD-Abgeordneten nimmt wahr, dass ein anderer ein vegetarisches Gericht bestellt, und darauf kommt die Bemerkung: Euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser! – Das ist eine Bedrohung im strafrechtlichen Sinne. ({3}) Das ist Realität, das ist so geschehen. Das ist zwar nicht schriftlich dokumentiert, aber es ist mir glaubhaft versichert worden, dass es so war. ({4}) Sie machen dies alles, um dieses Parlament verächtlich zu machen. Sie provozieren ganz bewusst. ({5}) Im Jahr 1976 hat Ernst-Wolfgang Böckenförde folgenden Satz geprägt: ({6}) Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. ({7}) Ich erlaube mir, dieses berühmte Zitat von Ernst-Wolfgang Böckenförde abzuwandeln: Der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat ist gefährdet, wenn eine kleine, aber lautstarke Minderheit ({8}) an diesen Voraussetzungen nicht nur nicht mitwirken will, sondern andere daran hindern will, diese Voraussetzungen unserer Demokratie zu stärken. ({9}) Dies werden die Demokraten in diesem Parlament nicht zulassen, und wir wissen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes an unserer Seite. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Parlamentarische Demokratie, gerade in diesem Hause, lebt vom Austausch der Sachargumente, lebt von Rede und Gegenrede, lebt vom politischen Diskurs und lebt davon, dass wir Regeln haben, an die wir uns halten, geschriebene Regeln, Regeln von Anstand, aber auch ungeschriebene Regeln über die Grundlage unseres Zusammenarbeitens im Sinne unserer Demokratie. ({0}) Das, was wir diese Woche an Handeln der AfD erlebt haben, war die Aufkündigung all dessen, was parlamentarische Demokratie in diesem Hause ausmacht. ({1}) Sie haben sich in dieser Woche demaskiert. Sie haben sich die Maske vom Gesicht gezogen. Herausgekommen ist die Fratze der Undemokraten, ({2}) die Fratze derjenigen, die die parlamentarische Demokratie zerstören wollen. ({3}) Wir müssen uns vor Augen halten, dass es hier um eine orchestrierte Aktion ging. Schon Tage vorher ist in Chatgruppen darüber berichtet worden, dass aus Ihren Reihen, aus den Reihen der AfD-Fraktion im Bundestag, nach draußen darauf hingewirkt wurde, Abgeordnete möglichst davon abzuhalten, ihr Mandat hier wahrzunehmen und am Mittwoch abzustimmen. ({4}) Das ist alles in Chatgruppen nachweisbar. Sie haben am Mittwoch Demokratiefeinde hier eingeschleust. Der Begriff „Schleuserbande“ erhält eine ganze neue Konnotation in diesem Zusammenhang. Sie haben Leute eingeschleust, die Abgeordnete bedrängt, bedroht und genötigt haben, auch um sie hier von ihrem freien Mandat abzuhalten. Sie haben in der Debatte historische Reminiszenzen evoziert mit Vokabeln wie „Ermächtigungsgesetz“ oder „Gesundheitsdiktatur“, die angesichts unserer historischen Verantwortung so was von geschichtsvergessen und so unterirdisch sind im parlamentarischen Diskurs, dass ich nur sagen kann: Sie sind Verfassungsfeinde, und Sie haben sich in dieser Woche hier als Verfassungsfeinde geoutet! ({5}) Das, was wir heute erleben und was wir gestern schon von Ihnen erlebt haben, Herr Gauland, das folgt dem normalen und üblichen Muster: Zunächst kommt die Provokation, die Regelüberschreitung, der Tabubruch, und dann kommen die Krokodilstränen, dann wird relativiert. Und das, Herr Gauland, ist pure Heuchelei. ({6}) Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dann war das die Rede von Herrn Hilse vorhin, der Sie auch noch Beifall gespendet haben. ({7}) Herr Gauland, eines will ich Ihnen sagen: Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Der demokratische Rest, der noch erkennbar ist, weist darauf hin, wie verzwergt die Demokratie in Ihren Reihen geworden ist. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, alles hat auch etwas Gutes. Sie haben in dieser Woche Grenzen überschritten, und zwar gewaltig: Grenzen des Anstands und Grenzen unseres demokratischen Zusammenarbeitens. ({9}) Das wird uns alle hier vereinen. Sie haben uns hier den Kampf erklärt, und wir nehmen den Kampf an, den Kampf der Demokraten gegen die Undemokraten. Wir werden gegen diejenigen kämpfen, die versuchen, die parlamentarische Demokratie von innen heraus zu zerstören. ({10}) Es gibt noch etwas Gutes daran: Es ist ganz offen sichtbar geworden, dass Sie Feinde unserer Verfassung sind, und es ist jetzt höchste Zeit, dass der Verfassungsschutz die AfD insgesamt beobachtet. Sie sind in der Tat ein Fall für den Verfassungsschutz geworden. ({11}) Wir werden nicht nachlassen, offenzulegen, wie undemokratisch Sie agieren und wie Sie die parlamentarische Demokratie von innen aushöhlen wollen. Wir werden das hier im Hause tun. Wir werden Sie hier mit allen demokratischen Mitteln stellen. Aber auch die Menschen draußen haben mitbekommen, wes Geistes Kind Sie sind. Wir werden den Kampf aufnehmen, hier im Haus, aber auch draußen auf der Straße. Wir werden Sie entlarven als das, was Sie sind, nämlich Feinde unserer Verfassung. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Susann Rüthrich, SPD. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Weg in den Bundestag angeschrien zu werden, den Bundestag nur betreten zu können mithilfe der Polizistinnen und Polizisten, die Blockadewillige abhalten, Massenmails und Telefonate in oft wüstem Ton – man muss echt nicht zart besaitet sein, um zu sagen: Stopp, so geht das nicht, Leute! ({0}) So gehen demokratische Abläufe kaputt, anstatt von uns gepflegt zu werden. ({1}) Was aber wirklich entlarvend ist, ist die Tatsache, dass auch gewählte Abgeordnete, statt ihren Einfluss zur Mäßigung zu nutzen, an der Sabotage der Parlamente größtes Interesse haben. War das gemeint, als der AfD-Chef nach der Bundestagswahl sagte: „Wir werden sie jagen“? – Ja, damit waren wir alle gemeint: frei gewählte Abgeordnete und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir sind ein offenes, ein transparentes, ein demokratisches Haus, wie unsere Gesellschaft auch. Es sind Mitglieder dieses Hauses, Mitarbeitende dieser Abgeordneten, die diese Offenheit sabotieren, und zwar nicht nur am letzten Mittwoch. Kampagnen aus Bundestagsbüros haben wir schon vorher erlebt. Diese Destruktion hat System. ({2}) Wir hören aus diesen Reihen nicht nur Reden voller Verachtung, sondern sehen auch diese Taten. Wenn Sie, geehrte Bürgerinnen und Bürger, die Demokratie wirklich wahren wollen, dann können Sie diese Destrukteure hier nicht wählen. ({3}) Liebe demokratische Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier die Bundestagspolizei, wir haben eine starke Geschäftsordnung. Wir können uns wehren gegen diese systematischen Angriffe. Leider haben diese Angriffe auf die repräsentative Demokratie aber nicht nur hier System. Wir sehen das auch in Landtagen, wir sehen das in Kommunen. Und da ist es besonders perfide. Oftmals werden ehrenamtliche Mandatsträgerinnen und Mandatsträger bedrängt und bedroht, auch da von AfD-Mitgliedern und deren Umfeld. ({4}) Ganz aktuell nur ein Fall: Kreisräte und Landtagsabgeordnete der AfD bedrängen in einem offenen Brief die amtierende Landrätin, nur weil diese die Verordnungen umsetzt und das Kreiskrankenhaus am Laufen halten will. Mandatsträger können jede Frage ans Landratsamt stellen. Sie könnten jedes Thema auf die Tagesordnung der Kreistagssitzung setzen, wenn, ja wenn diese Demokratieverächter an Lösungen interessiert wären. Das sind sie aber nicht. Es geht allein um öffentlichen Druck gegen diejenigen, die unsere Demokratie tragen. Das ist so unverantwortlich angesichts dessen, was diese Gesellschaft gerade zu stemmen hat. ({5}) Für nichts eine Lösung zu haben, aber auf allen Ebenen diejenigen, die ernsthaft um Lösungen ringen, am Arbeiten hindern – dafür wollen Rechtsextreme gewählt werden. Aber nicht, um für das Gelingen der Demokratie zu sorgen, sondern um deren Scheitern erst herbeizufantasieren und dann alles dafür zu tun. Bezieht sich diese Sabotage aber nur auf Politik und Verwaltung? Nein, Kulturschaffende, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, zivilgesellschaftlich Engagierte, Journalistinnen und Journalisten werden angegangen. Sie wollen Grundrechte schützen? Haben Sie schon mitbekommen, dass dazu auch Vereinigungsfreiheit und Pressefreiheit gehören, und zwar für alle und nicht nur für Ihresgleichen? Diese ganze Sabotage ist kein Zufall; es ist ein Wesensmerkmal von Rechtsextremismus, dieser tritt hier offen zutage. ({6}) Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, uns mit einem Demokratiefördergesetz verlässlich an die Seite derjenigen zu stellen, die in Kommunen und Initiativen unsere vielfältige Demokratie hegen und pflegen und dafür leider angegriffen werden? Was ich aber besonders perfide finde – das hat gar nichts mit uns Abgeordneten zu tun –: Mithilfe düsterster Szenarien wurde zur Demo am Mittwoch mobilisiert. Es wurde einkalkuliert, dass es zu Gewalt kommt. Was machen dann einige? Sie bringen absichtlich ihre Kinder mit, damit die Polizei milder reagieren möge. Wollen Sie absichtlich Ihre Kinder zu Opferhelden Ihrer Szene machen? Kinder zu instrumentalisieren, das kennen wir aus rechten Kreisen: beim Kinderschutz, bei der Geburtenrate oder Ähnlichem. Aber auf einer dynamischen Demo wie dieser geht es um reale Kinder, die absichtlich in Gefahr gebracht werden. Das ist es wirklich nicht wert. ({7}) Liebe Bürgerinnen und Bürger, kritisieren Sie uns, demonstrieren Sie auch, gestalten Sie unsere Demokratie; machen Sie das friedlich und so respektvoll, wie Sie selbst behandelt werden wollen, und machen Sie das bitte nicht an der Seite von Rechtsextremen und Demokratiefeinden! Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die Kollegin Nina Warken, CDU/CSU. ({0})

Nina Warken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004437, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat bei seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1999 bewusst entschieden, sich auch in seiner Bauweise als das zu zeigen, was er ist: ein offenes Parlament. Alleine die Architektur der Liegenschaften, geprägt von Sichtbeton und großen Fensterfronten, spiegelt seither die Transparenz und die Offenheit unserer Demokratie wider. An kaum ein Parlamentsgebäude der Welt kommen Bürgerinnen und Bürger so nahe heran wie bei uns in Deutschland. Diese Offenheit, diese Nähe macht unsere parlamentarische Demokratie aus, macht sie stark, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Die AfD hat diese Offenheit und das Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger am vergangenen Mittwoch schamlos ausgenutzt, und das mit Wissen und Wollen, also vorsätzlich, weil drei namentlich bekannte Mitglieder Ihrer Fraktion mehreren Personen, die zum Ziel hatten, durch Druck und Einschüchterungen uns Parlamentarier an der freien Ausübung unseres Mandats zu hindern, als Gäste getarnt den Zutritt zu diesem Hohen Haus verschafft haben. Sie haben wissentlich Störer und Krawallmacher, die schon vorab auf verschiedenen Kanälen keinen Hehl daraus gemacht haben, was ihre Absichten und Vorstellungen für unseren demokratischen Staat sind, hierher eingeladen. Sie wussten, dass von diesen Menschen beträchtliche Störungen und Behinderungen ausgehen würden. Herr Gauland, Ihre Märchenstunde glaubt Ihnen kein Mensch mehr, spätestens nicht nach der Rede von Herrn Hilse, der anscheinend aber schon das Weite gesucht hat. ({1}) Diese Störungen haben Sie nicht nur in Kauf genommen, Sie haben sie mit Ihrem Verhalten aktiv herbeigeführt. Sie tragen die Verantwortung! ({2}) Damit aber nicht genug, meine sehr verehrten Damen und Herren. Denn wirft man einen Blick auf die Regularien dieses Hauses, dann erfährt man, dass sich diese Gäste nicht ohne Begleitung durch Büromitarbeiter oder durch die Abgeordneten selbst im Gebäude hätten bewegen dürfen. ({3}) Dazu fallen mir zwei Erklärungen ein: Entweder liegt durch die einladenden AfD-Fraktionsmitglieder eine wissentliche Verletzung der Sicherheitsvorschriften vor, oder Sie waren – und das würde dem Ganzen noch die Krone aufsetzen – selbst dabei, als Kollegen von Ihren Gästen gefilmt, angepöbelt oder bedrängt wurden. ({4}) Das alles, meine Damen und Herren, ist Gegenstand der andauernden Auswertung durch die Polizei und Bundestagsverwaltung. Diese Vorfälle sind aber auch strafrechtlich zu prüfen. Neben dem Straftatbestand der Beleidigung steht möglicherweise auch die Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans im Raum. Die drei AfD-Abgeordneten, die den Randalierern den Zutritt verschafft haben, werden sich gegebenenfalls der Beihilfe schuldig gemacht haben. Sie brechen hier Recht, lenken dann ab und schwafeln vom „Ermächtigungsgesetz“, ohne wahrscheinlich zu wissen, was das überhaupt bedeutet. Sie verstecken sich auf Zugtoiletten – wie der Kollege Brandner –, ({5}) Sie verlassen das Plenum – wie der Kollege Hilse – und wollen sich dann anschließend noch in die Opferrolle begeben. Die lückenlose Aufklärung der Vorfälle vom vergangenen Mittwoch obliegt nun dem Bundestagspräsidenten, der Polizei und gegebenenfalls der Staatsanwaltschaft. Aber auch wir Parlamentarier selbst, meine Damen und Herren, müssen ein Interesse daran haben, dass hieraus die notwendigen Konsequenzen gezogen werden, um die Sicherheit in diesem Hohen Haus weiterhin zu garantieren. Dazu gehört auch die Frage, wie wir das Reichstagsgebäude, das Symbol unserer freiheitlich-parlamentarischen Demokratie, und natürlich auch die anderen Liegenschaften des Bundestages sichern. Meine Damen und Herren, die AfD hat nichts mit Recht und Ordnung am Hut, sondern mit Unrecht und Unordnung. Sie versucht, Tabubrüche zu inszenieren, und spielt in einem kindlichen Verlangen den Bürgerschreck. Lassen Sie sich gesagt sein: Wir sind eine wehrhafte Demokratie; wir verteidigen sie gegen dümmliche Aktionen; wir Parlamentarier lassen uns nicht einschüchtern, ({6}) auch dann nicht, wenn sich die Gaulands und Weidels und Storchs dieser Welt höchstpersönlich auf den Kopf stellen. Dabei wäre es fast fatal, wenn solche offenkundigen Demokratiefeinde es mit derartigen Aktionen schaffen würden, dass wir unsere Bürgernähe künftig einschränken müssen. ({7}) Jährlich kommen Tausende Besucher auf die Reichstagskuppel, ({8}) dürfen sich während des laufenden Parlamentsbetriebs die Liegenschaften des Bundestages anschauen, unsere Demokratie hautnah erleben. Dieses schützenswerte Gut gilt es unbedingt zu erhalten. ({9}) Sie geben vor, für Freiheit und Grundrechte einzutreten, in Wirklichkeit treten Sie unsere Demokratie mit Füßen; das hat sich heute wieder gezeigt. Ich sage ganz deutlich: Wehret den Anfängen! Die Vorgänge von Mittwoch dieser Woche müssen vollständig aufgeklärt und die Konsequenzen daraus gezogen werden. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Aktuelle Stunde ist beendet. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie ist die größte Herausforderung unserer Generation, und sie ist in allererster Linie eine Gesundheitskrise. Ich wende mich deshalb an dieser Stelle auch im Namen der Bundesregierung noch mal an alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Wir haben Maßnahmen ergriffen im Kampf gegen die Coronapandemie. Wir haben unser Gesundheitssystem ertüchtigt. Aber alle Maßnahmen des Staates werden nicht ausreichen, wenn in dieser Zeit – das sage ich auch angesichts der steigenden Infektionszahlen vom heutigen Tag – nicht alle Bürgerinnen und Bürger ihr Möglichstes tun, um mitzuhelfen, die Gesundheit ihrer Mitmenschen und ihre eigene Gesundheit zu schützen. Dazu gehört es, sich an die bekannten Regeln zu halten, aber auch, wo immer es verantwortbar und möglich ist, soziale Kontakte zu unterbrechen. Wir müssen und wir werden, meine Damen und Herren, alles tun, was staatlich möglich ist, um dieses Land in schwierigen Zeiten durch diese Gesundheitskrise zu führen. Ich weiß aber gleichzeitig – das sage ich auch an die Adresse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes –, dass sich viele Menschen angesichts der Tatsache, dass die Coronakrise nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern in der Folge auch eine Weltwirtschaftskrise ist, in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht Sorgen machen. Ich will Ihnen deshalb versichern, dass die Bundesregierung, dass auch dieser Deutsche Bundestag alles, was möglich ist, tut, um den Menschen neben den Ängsten, die sie um ihre Gesundheit und um die ihrer Angehörigen haben, ihre Sorgen um die wirtschaftlichen und sozialen Nöte von den Schultern zu nehmen. Das, was wir machen, meine Damen und Herren, ist genau das. ({0}) Unsere soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat mit seinen starken Ressourcen sind wie in keinem anderen Land der Welt ein starker Schutzschild für die Menschen, und darauf ist in der Krise Verlass und, meine Damen und Herren, auch darüber hinaus. Ich war kürzlich zu Gast – digital – auf einer Konferenz einer amerikanischen Universität. In den USA macht inzwischen ein deutscher Begriff Karriere. Wie früher der schöne Begriff „Kindergarten“ ein Lehnwort im Amerikanischen geworden ist, ist „the Kurzarbeitergeld“ inzwischen auch im amerikanischen Diskurs angekommen. ({1}) Es ist zugegebenermaßen ein sperriges Wort, aber ein wirksames Konzept. Meine Damen und Herren, mit den Instrumenten und Mitteln der Kurzarbeit ist es im Verlauf der Krise gelungen, die Folgen dieser tiefsten Wirtschaftskrise unserer Generation am Arbeitsmarkt unter Kontrolle zu bringen. Die Arbeitslosenquote, ja, liegt auch in Deutschland bei 6 Prozent. Sie ist damit im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Aber wir wissen, dass wir, wie wenige Staaten auf der Welt auch, mit den Instrumenten der Kurzarbeit vor allen Dingen eines getan haben, nämlich Arbeitsplätze in der Krise zu sichern. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Die Kurzarbeit ist im Moment unsere stabilste Brücke über ein tiefes wirtschaftliches Tal. Während der ersten Welle im April waren circa 6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in Kurzarbeit. Das entspricht sage und schreibe 18 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Deutschland. Nach aktuellen Zahlen – die letzten abgerechneten sind aus dem August – waren immerhin noch 2,6 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Aber wir haben in den letzten Tagen zu registrieren, dass die Anzeigen in dieser Herbst- und Winterzeit in der Pandemie wieder steigen. Ich bin deshalb froh und dankbar, dass wir heute mit der Verabschiedung des Beschäftigungssicherungsgesetzes weitere pandemiebedingte Sonderregelungen zum Kurzarbeitergeld bis Ende des Jahres 2021 rechtzeitig verlängern und weitere Anreize für Qualifizierung während der Kurzarbeit schaffen. Die Krise ist noch nicht vorbei, und deshalb ist es gut und richtig – meine Bitte an Sie als Parlamentarier ist, das heute auch zu beschließen –, dass wir diese wichtige Brücke der Kurzarbeit in das Jahr 2021 verlängern. Ich sage an dieser Stelle auch sehr deutlich: Keine Frage, die Kurzarbeit ist sehr, sehr teuer. Wir haben allein in diesem Jahr ungefähr schon 18 Milliarden Euro für das Instrument der Kurzarbeit eingesetzt. Aber die Gewöhnung an Massenarbeitslosigkeit wäre finanziell und sozial für dieses Land ungemein teurer. Es ist gut investiertes Geld in diesem Sinne. ({2}) Es hilft auch bei der Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Es ist nicht nur gut für die Beschäftigten und für die Unternehmen, sondern es ist gut für unsere gesamte Volkswirtschaft, dass wir dieses Instrument haben. Es ist auch gut für die Unternehmen in diesem Land. Denn wir werden diese Krise überwinden. Dann ist es gut, dass die Wirtschaft mit guten Fachkräften auch wieder durchstarten kann. Deshalb geht an dieser Stelle mein Appell auch an die Unternehmen in Deutschland: Nutzen Sie, wenn es notwendig ist, dieses Instrument. Es ist besser, Arbeit zu finanzieren als Arbeitslosigkeit. Sie werden die Fachkräfte in Ihren Branchen nach der Krise brauchen. Deshalb ist das Gebot der Stunde für die Unternehmerinnen und Unternehmer, für die Unternehmen in Deutschland, in diesen schwierigen Zeiten alles zu tun, um ihrer Verantwortung gegenüber ihren Beschäftigten gerecht zu werden. Aber es ist auch im Interesse unternehmerischer Vernunft besser, die Leute jetzt an Bord zu halten, als sie massenhaft zu entlassen. Wir helfen Ihnen als Staat; aber nutzen Sie das Instrument auch, meine Damen und Herren. ({3}) Mein Appell an die Unternehmen in diesem Land ist auch: Da, wo wir erleben, dass die Coronapandemie den Strukturwandel in Wirtschaft und Arbeitswelt beschleunigt, wo immer es möglich ist, Kurzarbeit mit Qualifizierung zu verbinden, setzen wir Anreize. Wir haben mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz weitere Instrumente geschaffen, um vor allen Dingen kleinen und mittelständischen Unternehmen, aber auch großen zu helfen, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen. Was ich nicht erleben will, ist, dass nach der Krise, nach Massenentlassungen, dann über Fachkräftemangel gejammert wird. Deshalb ist es notwendig, jetzt auszubilden, trotz und gerade in dieser Krise. Aber es ist auch notwendig, wo immer es geht, weiterzubilden, damit wir die Fachkräfte von morgen auch zur Verfügung haben. Wir haben doch in den 20er-Jahren einen großen demografischen Wandel am Arbeitsmarkt, wir haben den digitalen Wandel und wir haben den ökologischen Wandel unserer Industriegesellschaft vor der Brust – all das in kürzerer Zeit. Deshalb ist es richtig, jetzt Kurzarbeit mit Weiterbildung zu verbinden. ({4}) Meine Damen und Herren, ich habe mich an die Bevölkerung gewandt, an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, an die Unternehmen. Ich möchte mich zum Schluss auch einmal an die Beschäftigten der Bundesagentur und der Jobcenter wenden. Das sind Menschen, die Unglaubliches leisten, und zwar seit längerer Zeit, und die weiter gefordert sind. Im Namen der Bundesregierung – ich denke, auch im Namen der meisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus – möchte ich mich ganz, ganz herzlich bei denen bedanken, die jetzt den Unternehmen und den Beschäftigten in den Jobcentern und bei der Bundesagentur helfen. Das sind Leute, die wirklich Großes leisten und die zeigen, dass in diesem Land die Menschen sich in schwierigen Zeiten auf unseren Sozialstaat in unserer Demokratie verlassen können. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum sprechen wir heute über Kurzarbeitergeld und Weiterbildungsmaßnahmen? Ganz einfach: weil die Regierungen von Bund und Ländern mit ihrer Politik dafür gesorgt haben, dass Millionen Arbeitnehmer in Deutschland momentan ohne Arbeit sind. ({0}) Friedrich Merz hatte recht, als er sagte, man kann den Menschen nicht dauerhaft verbieten, zu arbeiten, und sie stattdessen durch den Staat finanzieren. Wir verschulden uns massiv, und wir werden diese Schulden nie zurückzahlen können, weil die Basis unseres Wohlstands durch die aktuelle Politik erodiert. Durch den Lockdown liegen Wirtschaftsbereiche wie Gastronomie, Hotellerie, Tourismus oder das Veranstaltungsgewerbe komplett lahm. Heute soll nun die Verlängerung des Kurzarbeitergelds bis Ende nächsten Jahres beschlossen werden. Das ist ein fatales Signal; denn es bedeutet, dass Sie davon ausgehen, dass Lockdown und wirtschaftliche Beschränkungen bis Ende nächsten Jahres andauern werden. ({1}) Wenn das eintritt, bedeutet es die Insolvenz für unzählige Unternehmen und damit die Arbeitslosigkeit für Millionen Mitbürger. Ginge es um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, darum, den Menschen Vertrauen zu geben, würde man nicht das Signal senden, dass das Kurzarbeitergeld bis Ende nächsten Jahres benötigt wird. ({2}) Sie machen das, weil Sie jede Debatte über die massiven Schäden, die Sie mit dem Lockdown verursachen, vor der Bundestagswahl im nächsten Herbst vermeiden wollen. ({3}) Parteipolitisch kann ich Ihre Motive nachvollziehen; gesellschaftspolitisch und verantwortungsethisch hingegen ist es ein Offenbarungseid. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen, dass mehr Menschen sterben! Das ist Ihr Ziel! Das ist die Konsequenz! Weiterbildung ist gut. Menschen mit Kurzarbeitergeld über eine Krise zu helfen, ist ebenfalls gut. Aber beides kann keine Arbeit ersetzen, schon gar nicht dauerhaft; denn eine dauerhafte Krise zerstört selbst die stärkste Volkswirtschaft. ({4}) – Wenn Sie eine Frage haben, Herr Kollege, stellen Sie sie doch einfach als Zwischenfrage; dann können wir gerne darüber diskutieren. Warum haben wir diese Krise? Wegen der Intensivbetten? Wohl tendenziell eher nicht. Denn die Zahl der belegten Intensivbetten war in Deutschland am höchsten am 17. September, also zu einer Zeit, als Corona kaum eine Rolle spielte. Wenn es nicht die Intensivbetten sind, ist es dann vielleicht der Bevölkerungsschutz? Schauen wir uns doch dazu die ergriffenen Maßnahmen und deren Verhältnismäßigkeit an. Laut dem „Epidemiologischen Bulletin“ des Robert-Koch-Instituts fanden vor dem aktuellen Lockdown in Schulen, Hotels und Gaststätten zusammen gerade mal 2 Prozent aller Neuinfektionen statt. ({5}) Mehr als das Vierfache, nämlich 8,2 Prozent aller Neuinfektionen, hingegen gab es in Asylbewerberunterkünften. Dass man massivste Maßnahmen bei Schulen, Gaststätten und Hotels verhängt, während man keine für Asylbewerberunterkünfte ergreift, beweist, dass es nicht um die Eindämmung von Infektionen geht. Stünde die Gesundheit der Bevölkerung im Vordergrund, käme man auch nicht auf die Idee, im November bei kalten Temperaturen gegen friedliche Demonstranten Wasserwerfer einzusetzen, und man würde Schüler auch nicht zwingen, mitten im Winter ständig im Luftzug zu sitzen, wo sie sich alle möglichen Krankheiten holen, ({6}) vor allem, weil die Statistiken beweisen, dass es in der Altersgruppe von Schülern, Eltern und Lehrern keine erhöhte Sterblichkeit gibt. In der Altersgruppe von 0 bis 59 Jahre werden wohl weit mehr Menschen an Einsamkeit, ({7}) an verschobenen Untersuchungen und Operationen sowie an Armut durch im Lockdown vernichtete Existenzen sterben. All diese Toten haben Sie mit Ihrer Politik zu verantworten. ({8}) Es geht Ihnen nämlich gar nicht um den Schutz der Bevölkerung, sondern darum, die Menschen in eine Hysterie zu stürzen, mit der Sie Ihre Ideologie leichter durchsetzen können. Sie wollen Corona nutzen, um Gesellschaft und Wirtschaft zu transformieren und Ihre Macht zu festigen. Indem Sie immer mehr Geld an die EU geben und immer mehr Macht an die EU transferieren, entmachten Sie die deutschen Bürger, die gar keine direkte Kontrolle mehr ausüben können. ({9}) Deswegen haben wir als AfD beantragt, statt der jährlichen Erhöhung der Mittel an die EU das Geld lieber für die Verlängerung der Dauer des Kurzarbeitergeldes einzusetzen. ({10}) In einer solch elementaren Wirtschaftskrise darf man nicht weiter Milliarden ausgeben, damit in Italien oder Spanien Steuersenkungen ermöglicht werden, sondern das Geld muss eingesetzt werden, um die heimische Wirtschaft zu erhalten. ({11}) Das Herz unserer deutschen, ja, das Herz der gesamten europäischen Wirtschaft ist die deutsche Industrie. Aber dieses Herz ist schwer krank. Die Krankheit, die es befallen hat, ist die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Europäischen Union. ({12}) In Deutschland ist die Industrieproduktion in diesem Jahr weit stärker eingebrochen als in allen anderen europäischen Ländern. Es ist für die Zukunft Deutschlands eine Katastrophe, dass die industrielle Basis durch massive staatliche Eingriffe in der Vergangenheit bereits stark geschwächt wurde. Dass man sie jetzt noch massiver angreift als je zuvor, anstatt sie endlich zu schützen, ist verantwortungslos; ({13}) denn ohne die industrielle Basis gibt es keinen Wohlstand, und ohne Wohlstand gibt es keine Möglichkeit, all jene, die als Rentner und Pensionäre oder Arbeitslose vom Sozialsystem leben, künftig zu finanzieren. Eine vernünftige Regierung versucht daher, gerade in Krisenzeiten das Herz der Wirtschaft, nämlich die Industrie, zu schützen. Hierzulande passiert momentan aber genau das Gegenteil. Mit der Euro-7-Norm zerstört die EU die deutsche Automobilproduktion. ({14}) Wenn in Europa ab 2025 keine Verbrennungsmotoren mehr gebaut werden können, ({15}) betrifft das in Deutschland Millionen Arbeitsplätze. Es sind nicht nur die Arbeitsplätze bei VW, Audi, BMW oder Daimler, sondern auch die ganzen Jobs bei den Zulieferern und auch beim Bäcker oder Metzger in Zuffenhausen oder Ingolstadt. ({16}) Dass dem Arbeitsminister auf meine Frage vorgestern, ob die Bundesregierung sich gegen diese EU-Norm stellen und für den Erhalt der Arbeitsplätze einsetzen wird, nur einfiel, ({17}) dass man Umwelt und Arbeit nicht gegeneinander ausspielen dürfe, sondern eine Transformation möchte, sagt leider alles aus; denn es bedeutet nichts anderes, als dass der Verbrennungsmotor wegkann, und die Millionen Arbeitsplätze, die daran hängen, auch, Hauptsache, man setzt die eigene Ideologie durch. ({18}) Was Euro 7 bedeutet – da sind wir genau beim Thema Beschäftigungssicherung –, sieht man jetzt schon. ({19}) So hat BMW vorgestern verkündet, dass man die Motorenproduktion in Deutschland bis 2024 beenden wird und stattdessen die großen Motoren – wo? – in Großbritannien baut. Für die Briten lohnt sich der Brexit. Für die Deutschen hingegen ist diese Politik eine absolute Katastrophe. ({20}) Wir von der AfD werden diese Politik nicht mitmachen; denn sie widerspricht elementar unserem Auftrag, uns als Volksvertreter für Freiheit, Demokratie, Wohlstand, Zukunft und ein lebenswertes Leben unserer Mitbürger ({21}) einzusetzen. Vielen Dank. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Peter Weiß, CDU/CSU, hat als nächster Redner das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörinnen und Zuhörer! Eine falsche Analyse führt immer auch zu einer falschen Politik. Deshalb kurz einleitend folgende Bemerkung: Nicht die Politik, das Virus ist die Ursache für die Krise, in der wir uns befinden. ({0}) Ja, friedliche Demonstranten braucht es in der lebendigen Demokratie. Friedliche Demonstranten halten sich aber an die Auflagen, ({1}) zum Beispiel Mund-Nasen-Schutz zu tragen oder Abstandsregeln einzuhalten. Was wir am Mittwoch erlebt haben, war die bewusste Verletzung der Regeln für eine friedliche Demonstration. Das macht uns besorgt. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach einem tiefen Einschnitt in das Wirtschaftsleben durch die Coronapandemie haben wir im dritten Quartal dieses Jahres eine deutliche Erholung auch der Industrieproduktion erlebt, einen deutlichen Rückgang der Zahl der Kurzarbeiter auf knapp 2 Millionen nach einem Höchststand von 6,7 Millionen. Die Quote bei der Inanspruchnahme des Kurzarbeitergeldes liegt gerade noch bei 36 Prozent. Wir sind auf einem guten Weg. Aber wir merken natürlich auch, dass die steigenden Infektionszahlen und die dadurch notwendig gewordenen Maßnahmen diesen guten Weg wieder stoppen könnten. Deswegen hat der Bundesarbeitsminister, wie ich finde, zu Recht in seiner Rede betont: Unser Appell an alle Bürgerinnen und Bürger muss sein: Bitte gefährdet durch euer eigenes Handeln nicht den bemerkenswerten Wiederaufschwung, den wir in den letzten Monaten erlebt haben, sondern helft bitte mit, dass wir gut durch diesen Winter kommen und wir den wirtschaftlichen Erfolg, den wir uns alle gönnen, nicht zerstören. ({3}) Unsere Zusage, die wir heute mit dem Beschäftigungssicherungsgesetz einlösen, ist: Wir lassen die Betriebe, wir lassen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht allein. Ja, wir sind uns bewusst, auch im kommenden Jahr wird es in einzelnen Branchen, in einzelnen Betrieben noch einmal notwendig sein, Kurzarbeit zu nutzen. Deshalb ist es ein Punkt der Verlässlichkeit, auch der Solidarität, dass wir heute als Bundestag sagen: Wir halten die Regeln für die Kurzarbeit bis 2021 im bisherigen Maße aufrecht. Wer sie braucht, kann sie nutzen. Wer sie nicht nutzen muss, der ist Gott sei Dank gut dran. Wir sind verlässlich. Wir sind solidarisch mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land. ({4}) Wir werden im kommenden Jahr etwas Zusätzliches machen, nämlich Kurzarbeit stärker mit Fort- und Weiterbildung verbinden; auch das ist richtig. ({5}) Wir haben als Koalitionsfraktionen den ursprünglichen Entwurf der Regierung ein bisschen vom Kopf auf die Füße gestellt. Wir haben ein eigenes Konzept für die Weiterbildung in das Gesetz hineingeschrieben, das breit angelegt ist, das gleichzeitig aber auch auf Qualität setzt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident und Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe eine Aussage von Ihrem Kanzlerkandidaten zur Kurzarbeit gelesen, und ich hätte gern von Ihnen gewusst, was Sie denn davon halten. ({0}) – Aber er möchte doch gern Kanzlerkandidat werden, oder? Also lassen wir mal weg, ob er es jetzt schon ist oder nicht. Er möchte es jedenfalls gern werden. Gott möge uns davor bewahren. Er sagte: Durch Kurzarbeit gewöhnen sich relativ viele Menschen daran, ein Leben ohne Arbeit zu führen. – Jetzt haben Sie gerade gesagt: Kurzarbeit ist eigentlich ein Instrument, das gerade in der Krise sehr gut wirkt. – Herr Heil hat gerade darauf hingewiesen, dass es inzwischen Amerikaner gibt, die das Wort sogar übernehmen, weil sie das für gut halten. Ihr Möchtegernkanzlerkandidat – um es richtig zu formulieren – ist aber der Auffassung, dass sich die Menschen an Faulheit mehr oder weniger gewöhnen. Ein schlimmes Zitat! Ich hätte gern von Ihnen gewusst, wie Sie dieses Zitat Ihres Möchtegernkanzlerkandidaten bewerten. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, zuerst erbitte ich auch von der Linken Respekt gegenüber einem demokratischen Entscheidungsprozess in einer demokratischen Partei, die erst noch einen Kanzlerkandidaten nominieren muss. Das werden wir auch in einem geordneten und guten Verfahren gemeinsam tun. Übrigens sind wir zwei Parteien, CDU und CSU. ({0}) Das Zweite ist: Mir ist weder von einem Kandidaten noch von einem Nichtkandidaten aus der Union eine Äußerung bekannt, mit der das Instrument der Kurzarbeit in Zweifel gezogen wird. Das Dritte ist – mit Ihrer Zwischenfrage kommen Sie zum Kern dessen, was wir im Gesetz machen –: Wir wollen Kurzarbeit produktiver nutzen, nämlich nicht nur dazu, dass Leute zu Hause bleiben müssen, weil keine Arbeit da ist, sondern dazu, dass sie diese frei gewordene Zeit nutzen, sich selber fort- und weiterzubilden, als Gewinn für sich persönlich, aber auch als Gewinn für das ganze Unternehmen. Wir brauchen für die Zukunft qualifiziertere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist die Botschaft. ({1}) Wir regeln es sogar so: Wenn eine Weiterbildungsmaßnahme begonnen wird, aber die Kurzarbeit Gott sei Dank abgesagt werden kann, fördern wir die Weiterbildungsmaßnahme weiter. Auch das ist ein wichtiges Signal, um die Weiterbildungsbereitschaft und die Fortbildungsbereitschaft bei unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei unseren Unternehmen am Leben zu erhalten und zu bestärken. Wir wollen damit dafür sorgen, dass wir am Schluss als deutsche Volkswirtschaft stärker aus der Krise herauskommen, als wir hineingegangen sind. Das ist unser Ziel. ({2}) Wir regeln übrigens mit, dass man weiterhin neben Kurzarbeit einen 450-Euro-Job haben kann. Wir regeln zusätzlich, dass, wenn jemand eine Beschäftigungssicherungsvereinbarung eingegangen ist und die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter später doch arbeitslos werden sollten, das Arbeitslosengeld auf der Grundlage des alten Gehalts berechnet werden wird. Das ist ein ganz großer finanzieller Vorteil. Wir machen für die Unternehmen im kommenden Jahr etwas Wichtiges, indem wir sagen: Die Insolvenzgeldumlage muss nicht auf 0,15 Prozent ansteigen, sondern nur auf 0,12 Prozent; das können wir verantwortungsbewusst machen, weil wir genug Rücklagen haben. Auch da setzen wir ein Zeichen: Überall da, wo wir die deutsche Wirtschaft in der Krise ein Stück weit entlasten können, entlasten wir sie. Wir nehmen zudem von der Elterngeldberechnung die Monate aus, in denen KUG bezogen wurde, und verlängern die Sonderregelungen zum Elterngeld bis zum 31. Dezember des kommenden Jahres. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Gesetz, über das wir nachher abzustimmen haben, ist ein Gesetz, mit dem wir Solidarität üben, mit dem wir für Verlässlichkeit sorgen. Wir wissen, dass wir dieses Gesetz nur mit einem großen Arbeitsaufwand und ‑einsatz der Bundesagentur für Arbeit umsetzen können. In der Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Mittwoch dieser Woche haben wir dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Herrn Scheele, aufgetragen, in unser aller Namen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BA ein herzliches Dankeschön für den großartigen Einsatz zu sagen, den sie in dieser Zeit erbringen. Ich will das hier in der Öffentlichkeit des Plenums wiederholen: Ja, die Bundesagentur für Arbeit bedarf auch in dieser Zeit unserer Unterstützung und Solidarität. Sie machen einen hervorragenden Job! ({3}) Es geht mit dem Gesetz heute darum, zu zeigen: Wir sorgen für Verlässlichkeit. Wir sorgen für Planungssicherheit. Die Unternehmen in Deutschland, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können auf uns, den Deutschen Bundestag, zählen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Vogel, FDP. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Wort zu Herrn Sichert von der AfD: Am Anfang dieser Krise war einer der gefährlichsten freiheitsfeindlichen Mythen, was Menschen wie Xi Jinping und Wladimir Putin behauptet haben: Die Solidarität in der EU sei doch nur ein schönes Märchen. Dass Sie allen Ernstes hier in der Krise beantragen, dass man Nationalismus so auslebt, dass man die Menschen in Europa gegeneinander ausspielt, indem Sie jetzt allen Ernstes die Zuschüsse zur EU reduzieren wollen, das lässt tief blicken. Gott sei Dank macht die EU das ganz anders, und Gott sei Dank haben Sie in diesem Land nichts zu melden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({0}) Aber zur Regierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde auch, Kurzarbeitergeld ist ein erfolgreiches Kriseninstrument, und es ist stark, wie es international anerkannt wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, dass wir hier im parteiübergreifenden Konsens am Anfang der Krise Kurzarbeitergeld in den Krisenregelungen möglich gemacht haben. Wir haben es damit geschafft, gemeinsam einen gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Gleichzeitig sind über eine halbe Million Menschen mehr arbeitslos als vor einem Jahr. Das zeigt, dass Beschäftigungssicherung wichtig ist; aber Beschäftigungssicherung ist in Wahrheit nur die halbe Miete, weil wir gleichzeitig auch Einstellungsdynamik brauchen, weil wir gleichzeitig auch wirtschaftliches Wachstum brauchen. Deshalb ist Kurzarbeitergeld gut, aber Sie müssten mehr für die Rahmenbedingungen tun, sodass auch neue Jobs geschaffen werden: Entlastung bei Investitionen, Entlastung der Unternehmen, ({1}) zum Beispiel durch eine großzügigere Steuerrückerstattung bei den Verlusten dieses Jahres. Das wären Maßnahmen, mit denen wir auch dafür sorgen würden, dass neue Jobs entstehen. ({2}) Da sind Sie wirtschaftspolitisch leider ziemlich einfallslos. Gleichzeitig verlängern Sie das Kurzarbeitergeld anders als in der letzten Krise nicht schrittweise, sondern jetzt direkt bis nach der Bundestagswahl. Deshalb werden wir uns bei diesem Gesetz auch nur enthalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Langfristiges Wachstum entsteht aber durch Innovation. Was sind Treiber von Innovation? Kreativer Input von innen, durch Aufstieg, kreativer Input von außen, durch Einwanderung, und natürlich Unternehmertum und Gründermut. Deshalb will ich noch etwas dazu sagen, wie Sie in dieser Krise mit den Menschen umgehen, die unternehmerisches Denken jeden Tag beweisen: den Selbstständigen in diesem Land. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da finde ich, dass das Nichthandeln dieser Koalition und das Handeln dieser Koalition in den letzten Tagen wirklich skandalös sind. Diese Woche ist internationale Gründerwoche, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und was tun Sie ausgerechnet in dieser Gründerwoche? Sie verlängern die Sonderregelung für Angestellte bis nach der nächsten Bundestagswahl, und gleichzeitig drücken Sie den Selbstständigen ohne Angestellte in diesem Land im größten Sturm jetzt ein kleines Cocktailschirmchen in die Hand, nachdem Sie sie ein halbes Jahr im Regen stehen gelassen haben. Das ist skandalös, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, und das reicht einfach nicht. ({4}) Machen wir es mal konkret. Wir müssen uns das Problem des sogenannten Unternehmerlohns kurz vor Augen führen. Es ist ja lange bekannt, dass in einer Wissensgesellschaft auch Lebenshaltungskosten abgedeckt werden müssen. Seit März haben wir hier im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen – ich ganz persönlich, aber auch Kolleginnen und Kollegen von anderen Oppositionsfraktionen. Es kamen parteiübergreifende Bittbriefe aus den Bundesländern, permanente Nachfragen hier im Deutschen Bundestag. Und was haben Sie getan? Für die Beschäftigten gab es erhöhtes Kurzarbeitergeld, und die Selbstständigen haben Sie als Erwerbstätige zweiter Klasse behandelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist skandalös, und das geht so nicht. ({5}) Letzte Woche haben Sie endlich einen Vorschlag präsentiert. Den muss man sich aber mal genauer anschauen: Sie haben eine Neustarthilfe aus dem Hut gezaubert wie ein Kaninchen. Kaninchen sind oft mager; Ihr Kaninchen ist aber halbverhungert; denn das Geld, das Sie jetzt den Selbstständigen angedeihen lassen wollen, ist geringer als die Grundsicherung. ({6}) Ihre Antwort lautet, wenn man Ihnen das vorwirft: Ja, die Grundsicherung kommt ja noch obendrauf. – Die Grundsicherung können die meisten Selbstständigen gar nicht nutzen, wegen der Altersvorsorge, weil sie vielleicht in einer Partnerschaft leben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zu wenig für die Selbstständigen in diesem Land, die Innovationstreiber in unserem Land sind. ({7}) Kommen Sie mir nicht damit, dass die nicht eingezahlt haben. Erstens haben sie Steuern gezahlt. Zweitens leben wir ja in einer Ausnahmesituation, in der die Politik – zwar aus guten gesundheitspolitischen Gründen, aber dennoch ist es so – Menschen das Geschäft verbietet. Dann muss sie auch für Entschädigung sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und da tun Sie für die Selbstständigen in diesem Land zu wenig. Das muss sich endlich ändern. ({8}) Sie trampeln damit auf dem zarten Pflänzchen von Selbstständigkeit und Unternehmertum in diesem Land herum. Wir brauchen nicht nur in der Krise, sondern wir brauchen gerade auch nach dieser Krise Innovativität.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum letzten Satz; ich komme zum Schluss. – Wir brauchen gerade auch nach dieser Krise die Innovativität und Schaffenskraft der Selbstständigen, der Künstler, der Coaches und der vielen Freiberufler in diesem Land. Dafür tun Sie zu wenig, und das geht so nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sabine Zimmermann, Die Linke, erhält jetzt das Wort. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Heil, Sie haben gesagt, dass Kurzarbeit teuer ist. Ja, das ist richtig. Aber hätten Sie nicht den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung in den letzten Jahren so stark abgesenkt, hätten wir mehr Geld in der Kasse gehabt, und das haben Sie versäumt. ({0}) Das Beschäftigungssicherungsgesetz ist überarbeitet worden. Der Entwurf liegt nun auf dem Tisch, und die Verbesserungen erkennen wir als Fraktion Die Linke an. Es gibt aber drei gravierende Leerstellen: Erstens. Arbeitsplätze, die über das Kurzarbeitergeld gefördert werden, müssen erhalten werden; das ist Sinn und Zweck von Kurzarbeit. Aber Kurzarbeit darf nicht zum Selbstbedienungsladen für Unternehmen werden. Deshalb fordert Die Linke: Wer Beschäftigte während oder direkt nach der Kurzarbeit entlässt, muss die erstatteten Sozialversicherungsbeiträge zurückzahlen. ({1}) Zweitens. Sie wollen die Weiterbildung fördern, unterstützen aber nur die Arbeitgeber. Wir fordern ein Weiterbildungsgeld in Höhe von 90 Prozent des letzten Nettos für die Beschäftigten. ({2}) Weiterbildung muss sich auch für die Beschäftigten lohnen; denn Bildung ist das A und O, um auf dem Arbeitsmarkt existieren zu können, meine Damen und Herren. ({3}) Drittens. Wir sind gerade mitten in der zweiten Welle der Pandemie. Sie verlängern die Sonderregelungen bei der Kurzarbeit; das ist richtig. Aber warum verlängern Sie dann nicht ebenfalls die Sonderregelung beim Arbeitslosengeld, wie es unter anderem auch der DGB empfiehlt? Stocken Sie den Anspruch auf das Arbeitslosengeld auch 2021 um drei Monate auf, meine Damen und Herren! ({4}) Helfen Sie auch den Menschen, die gerade jetzt in dieser schwierigen Zeit erwerbslos werden! Das wäre eine richtige Entscheidung. Und weil wir heute über Beschäftigungssicherung reden: Es gibt Unternehmen, deren Geschäft auch in der Pandemie gut läuft. Dazu gehört Haribo. Das Haribo-Werk in meinem Wahlkreis, in Wilkau-Haßlau bei Zwickau, soll zum Jahresende geschlossen werden; dabei ist es rentabel. Es ist das einzige Haribo-Werk im Osten. Die Sauerei, meine Damen und Herren – und ich spreche das hier auch ganz deutlich an –, ist, dass Millionen an Gewinnen in die Haribo-Zentrale abgeführt, aber nicht ins Werk investiert wurden. Jetzt sagt die Geschäftsführung, das Werk sei für künftige Anforderungen nicht modern genug. So, meine Damen und Herren, wickelt man den Osten ab, und das lassen wir nicht zu. ({5}) Die Kolleginnen und Kollegen bei Haribo haben hier jahrelang für niedrige Löhne geschuftet und Gewinne erwirtschaftet. Als Dank werden sie jetzt zum Jahresende einfach vor die Tür gesetzt, direkt vor Weihnachten, in dieser Arbeitsmarktlage. Das ist nicht hinnehmbar, meine Damen und Herren. ({6}) In ganzen drei Minuten wurde die Belegschaft vor zwei Wochen über die Schließung, über den Verlust ihrer Arbeitsplätze informiert. Es geht um 150 Arbeitsplätze. Herr Minister Heil, ich fordere Sie auf, sich persönlich für den Erhalt des einzigen Haribo-Werkes im Osten einzusetzen, auch für die Beschäftigten und für die Familien. Danke schön. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die derzeitigen Beschränkungen, vor allen Dingen die Beschränkungen der sozialen Kontakte, sind für uns alle schwierig; aber sie sind notwendig. Sie sind notwendig aus gesundheitlichen Gründen, zum Schutz, damit die Pandemie nicht weiter vorangeht. Aber sie sind auch aus ökonomischen Gründen wichtig. Ohne die Einschränkungen, die wir jetzt haben, wäre die ökonomische Krise viel größer. Sie sind nicht die Ursache der Krise, wie die AfD immer behauptet, sondern sie sind auch deshalb notwendig, um die ökonomische Krise zu begrenzen. Gucken Sie nach Schweden! Gucken Sie in die USA! Da sehen Sie, was passiert, wenn nicht so stark gegen Corona gekämpft wird. Das macht die ganze Krise viel schlimmer. Auch deswegen brauchen wir diese Einschränkungen. ({0}) Wir sind in einer ganz labilen ökonomischen Phase. Wir wissen nicht, wie es mit der Pandemie weitergeht. Es gibt ein paar Hoffnungsschimmer. Aber wenn man sich die Zahlen bei uns anguckt – heute gibt es einen neuen Rekordwert bei den Infektionszahlen –, stellt man fest: Wir haben die Lage noch nicht im Griff. Es ist unsicher, wie es in den nächsten Monaten weitergeht; es ist auch weltwirtschaftlich noch nicht klar. Deswegen ist es sehr richtig, dass die Kurzarbeiterregelungen verlängert werden, sowohl was die Möglichkeit zur Kurzarbeit als auch den leichteren Einstieg in die Kurzarbeit angeht. Das ist ein ganz wichtiges Mittel in dieser Krise. ({1}) Ich sage es vorweg: Wir werden dem Gesetz nicht zustimmen. Denn in diesem Gesetz geht es gar nicht darum, die Möglichkeit zur Kurzarbeit und den leichteren Zugang zu Kurzarbeit zu verlängern. Das ist nämlich bereits durch Verordnungen passiert; das ist richtig und gut so. In dem Gesetz geht es um viele Detailregelungen. Einige, die eben schon erwähnt worden sind und die insbesondere auch durch die Ausschussberatungen dazugekommen sind, teilen wir; aber an den wichtigen Kernpunkten haben wir Kritik. Erstens geht es darum, dass das Kurzarbeitergeld angehoben wird, und zwar je nachdem, wie lange die Leute in Kurzarbeit sind. Das geht an den Bedürfnissen der Betroffenen vollkommen vorbei. Das zeigte auch die in der Anhörung angeführte Untersuchung des IAB, wonach die Befragten gesagt haben: Wir brauchen die Leistungen jetzt, und es wäre günstig, wenn Menschen mit geringem Einkommen eine höhere Leistung bekommen würden. – Genau das haben wir Grünen vorgeschlagen: ein Kurzarbeitergeld Plus, bei dem die Lohnersatzrate für geringe Einkommen höher ist als für die anderen. Das wäre der bessere Weg gewesen. ({2}) Zweiter Punkt. Sie verlängern die Regelung zu den Hinzuverdienstmöglichkeiten. Aber Sie verschlechtern sie; denn Sie begrenzen sie auf geringfügige Beschäftigung. Das ist völlig unzureichend. Sie hätten die alte Regelung einfach nur verlängern müssen. Die Möglichkeit des Hinzuverdienstes nur auf geringfügige Beschäftigung zu beschränken, ist wieder einmal eine Förderung von geringfügiger Beschäftigung, und das finden wir falsch. ({3}) Drittens. Anreize für Weiterbildung sind richtig. Auch das, was im Gesetzentwurf steht, ist im Grundsatz richtig. Auch die Änderungen, die in den Ausschussberatungen vorgenommen worden sind, sind richtig. Aber das soll erst ab Mitte nächsten Jahres gelten. Warum das? Wir brauchen das jetzt. Wir brauchen jetzt eine Weiterbildungsoffensive, die mit der Kurzarbeit verknüpft wird. ({4}) Mit einem Weiterbildungsbonus auf Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II würden Sie jetzt Anreize für Weiterbildung schaffen. Wir brauchen jetzt eine Weiterbildungsoffensive, und das nicht nur für die Menschen in Kurzarbeit, sondern auch für die Arbeitslosen. Dazu gehört finanzielle Unterstützung wie das von uns geforderte Weiterbildungsgeld, das für viele eine Weiterbildung erst möglich macht. Dazu gehört aber gerade jetzt auch ein Ausbau der digitalen Infrastruktur: bei den Arbeitsagenturen, bei den Jobcentern, aber auch bei den Trägerinnen und Trägern, damit Beratung, Vermittlung und Weiterbildung auch in diesen Coronazeiten besser möglich werden. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, der Kollege Sichert würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. – Menschen in Beschäftigung zu halten, ist wichtig. Deswegen ist die Kurzarbeit ein gutes Mittel. Im Ausschuss hat uns – das ist eben schon erwähnt worden – der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Scheele, gesagt: Die Kurzarbeit wirkt. Damit werden die Menschen in Beschäftigung gehalten. – Er hat aber auch gesagt: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit entsteht vor allen Dingen dadurch, dass Menschen nicht in Beschäftigung kommen. – Deswegen müssen wir auch das unbedingt in den Blick nehmen. Arbeitslosigkeit, die jetzt entsteht, darf sich nicht verfestigen. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir Einstellungen stärker fördern können, ohne dabei Mitnahmeeffekte zu verursachen. Auch Existenzgründungen können in diesen Zeiten ein Weg aus der Arbeitslosigkeit sein. Mit dem Gründungszuschuss gibt es ein Mittel, das im Grundsatz sehr erfolgreich ist. Wir finden es wichtig, diesen Gründungszuschuss wieder stärker einzusetzen. Wir brauchen doch Ideen für die Zukunft. Diese sollten wir stärker fördern. ({0}) Wir müssen aber vor allem noch mehr für die jungen Menschen machen, die einen Ausbildungsplatz oder nach einer Ausbildung erstmals einen Arbeitsplatz suchen. Wir müssen verhindern, dass es durch die Coronakrise eine verlorene Generation gibt. Da braucht es noch mehr Anstrengungen der Bundesregierung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen mehr machen, um Arbeitslosigkeit zu beenden. Aber es ist auch klar: In diesen Zeiten ist es für Arbeitslose besonders schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden, und es dauert länger. Deswegen ist es für mich völlig unverständlich, dass Sie die Sonderregelung beim Arbeitslosengeld I nicht auch verlängert haben. Es ist wichtig, dass Sie auch diese Sonderregelung verlängern. Bitte liefern Sie da noch nach! ({2}) Schließlich müssen wir auch an diejenigen denken, die nicht vom Kurzarbeitergeld profitieren, aber in einer ähnlichen Situation sind: die vielen Selbstständigen, freiberuflich Tätigen und Künstlerinnen und Künstler, denen das Einkommen ebenfalls weggebrochen ist. Sorgen Sie endlich dafür, dass sie ebenfalls eine einfache, unbürokratische Leistung bekommen, die ihren Lebensunterhalt sichert! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört, gerade am Anfang. Ich wüsste gerne von Ihnen, warum Sie Fake News verbreiten, indem Sie behaupten, dass die schwedische Wirtschaft genauso hart oder gar härter als die deutsche von der aktuellen Krise getroffen worden wäre. Denn das Gegenteil ist der Fall: Der schwedischen Konjunktur geht es besser als der deutschen. Der Wirtschaftseinbruch in Schweden – natürlich gibt es auch dort einen, weil viele Absatzmärkte momentan problematisch sind – ist deutlich geringer als in Deutschland. Es ist eben nicht die Coronaproblematik, sondern es ist die Problematik des Lockdowns, die die Wirtschaft so viel kostet. ({0}) Warum erkennen Sie das nicht an und verbreiten hier Fake News, indem Sie sagen, die schwedische Wirtschaft sei genauso stark oder stärker eingebrochen wie die deutsche? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zur Erwiderung der Kollege Strengmann-Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, erstens. Was die ökonomischen Zahlen angeht, stimmt das nicht. Zweitens. Gucken Sie sich mal die Zahl der Toten in Schweden an! Schauen Sie sich die Sterblichkeit an! Gemessen an der Bevölkerung ist die Zahl der Toten, ({0}) die durch Corona gestorben sind, fünfmal so hoch wie in Deutschland. Fünfmal so hoch! Das wäre die Konsequenz Ihrer Politik, wenn Sie sich durchsetzen würden. Das gilt es zu verhindern. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kurzarbeit ist ein ganz wichtiger Schutz gegen Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenversicherung gibt es so, wie es sie bei uns gibt, in den allermeisten Ländern dieser Welt nicht. Deswegen schauen die zu uns und fragen: Wie macht ihr das? – Hubertus Heil, unserer Arbeitsminister, sagte ja, dass sie dafür auch keinen Begriff haben; „the Kurzarbeitergeld“ etabliert sich weltweit. Die schauen auf uns, wie wir das meistern. Die Kurzarbeit überbrückt schwierige Phasen, in die Unternehmen gekommen sind, mit dem Instrument des Kurzarbeitergeldes: Die Menschen können an Bord bleiben, und die Wirtschaft ist nachher weiterhin erfolgreich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Zu dem, was mein Vorredner der AfD behauptet – ({1}) man muss nur den technischen Fortschritt aufhalten, dann wird alles gut –, will ich sagen: Ich war über 30 Jahre Eisenbahner. Den Regelbetrieb der letzten Dampflokomotiven haben wir 1977 eingestellt. Was hätte es bedeutet, wenn wir gesagt hätten: „Wir wollen weiterhin Dampflokomotiven fahren“? Das wäre zwar ein schönes Bild – mir würde das gefallen –, aber das ist doch nicht erfolgreich. ({2}) Wir sind nur erfolgreich, wenn wir immer die neuesten und besten Produkte auf den Markt bringen. Darin ist unsere Wirtschaft stark, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Am 13. März haben wir hier in einer ganz schnellen Aktion das Krisen-KUG scharfgestellt. Zwei Monate später, am 14. Mai, haben wir mit dem Sozialschutz-Paket II auch noch einmal die Höhe verändert; denn wir wissen: Die Luft wird dünn, wenn man lange in Kurzarbeit bleibt. Deswegen gibt es höheres Kurzarbeitergeld. Schon damals im Mai habe ich an diesem Pult gesagt: Wenn das nicht reicht, dann machen wir ein Sozialschutz-Paket III oder IV. – Unsere Politik ist doch immer darauf ausgerichtet, vorauszuschauen und zu reagieren. Das ist doch das Entscheidende in dieser Pandemie. Es gibt kein Lehrbuch dafür. Heute machen wir genau das. Heute geben wir die Zusage, dass das Kurzarbeitergeld bis Ende nächsten Jahres gilt, auch was die Erhöhung angeht. Warum ist das so wichtig? Es ist wichtig, dass die Beschäftigten, aber auch die Unternehmen Planungssicherheit haben. Wenn sie es nicht brauchen, umso besser. Ich habe auch bei mir im Wahlkreis welche, die einstellen, die ohne Ende brummen, die expandieren, weil sie Gewinner sind. Aber andere, ohne dass sie etwas dafür können, haben noch eine Durststrecke zu durchwandern. Deswegen ist es wichtig, dass die sich darauf verlassen können. Wirtschaft ist immer auch Psychologie: Einfach zu wissen: „Ich habe das, wenn ich es brauche“, ist besser, als zu wissen – was die FDP fordert –, dass nach zwei oder drei Monaten Schluss ist. Dann stellt sich wieder die Frage: Gibt es noch einmal was oder nicht? Und nächstes Jahr haben wir Bundestagswahl, wo hier monatelang, von Juli bis September, kein Betrieb stattfindet. Wie es dann weitergeht, wissen wir nicht. Deswegen schaffen wir heute Sicherheit. ({4}) Ich will mich ganz herzlich bei Arbeitsminister Hubertus Heil, beim ganzen Arbeitsministerium und bei allen, die in der Koalition mitgemacht haben, unter anderem Peter Weiß, bedanken. Wir haben hier was Gutes auf den Weg gebracht und viel mehr gemacht als nur dieses Kurzarbeitergeld. Darauf geht mein Kollege Martin Rosemann ein. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist, sobald das Pult bereit ist, die Kollegin Antje Lezius, CDU/CSU. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sichert, ich habe ja gewusst, dass Sie gut im Leugnen sind. Ich habe aber nicht gewusst, dass Sie offensichtlich auch blind sind und nicht sehen, was diese Pandemie weltweit anrichtet. Unser Land, ja die ganze Welt kämpft mit der Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen. Wir befinden uns in einer schwierigen Situation. Aber dank verantwortungsvollem Handeln, gegenseitiger Rücksichtnahme und eines sehr guten Gesundheitssystems ist uns in Deutschland bisher viel Leid erspart geblieben. Dank einer herausragenden Forschungslandschaft – durch BioNTech auch bei mir in Idar-Oberstein – schöpfen wir bereits Hoffnung auf ein Abklingen der Pandemie im kommenden Jahr. Im Bereich Arbeit und Soziales wurde und wird alles unternommen, um Beschäftigung zu schützen und denen, die Unterstützung brauchen, diese schnell zu gewähren. Möglich ist all das, weil wir jahrelang solide gehaushaltet haben und unser Sozialstaat funktioniert. Dass es bis zum heutigen Tag trotz der Pandemie und all der damit verbundenen Einschränkungen keinen extremen Anstieg der Arbeitslosenzahlen gibt, verdanken wir einem sehr wirksamen Instrument unserer Arbeitsmarktpolitik: der Kurzarbeit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und Änderungen der entsprechenden Regelungen verlängern wir die Gültigkeit für den erleichterten Bezug und die höheren Bezüge bis zum 31. Dezember 2021. Wir verringern damit die Auswirkungen der Pandemie auf die Beschäftigten, Johannes Vogel, die jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Auch Selbstständige – das habe ich selbst als Selbstständige erlebt – konnten in die Arbeitslosenversicherung freiwillig einzahlen. ({0}) Mit der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge entlasten wir die Unternehmen. Auch bleibt eine geringfügig entlohnte Beschäftigung weiterhin anrechnungsfrei möglich. Zeitarbeiter können auch im nächsten Jahr Kurzarbeitergeld bekommen. Das alles baut eine wichtige Brücke – das hat der Minister schon gesagt –, die die Pandemiezeit überspannt und bis in die konjunkturelle Erholung hineinreichen soll. Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist Kurzarbeit von Bedeutung, weil sie den Unternehmen erlaubt, ihr qualifiziertes Personal zu halten und die Kapazitäten, sobald sich die Auftragslage verbessert, wieder hochzufahren und zum Aufschwung beizutragen. Uns ist wichtig, dass während der Kurzarbeit Weiterbildungen stattfinden. Deshalb haben wir im parlamentarischen Verfahren dafür gesorgt, dass Qualifizierung während der Kurzarbeit zukünftig deutlich einfacher umgesetzt werden kann. Um weitere Anreize zu schaffen, während der Kurzarbeit in Weiterbildung zu investieren, sieht der Gesetzentwurf neben der 50-prozentigen Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen auch eine pauschale Lehrgangskostenerstattung vor. Ebenfalls erwähnen möchte ich das Budget für eine digitale Weiterbildungsplattform. Zwar haben wir in Deutschland bereits eine Vielzahl von digitalen Weiterbildungsangeboten, es fehlt jedoch an einem Einstiegsportal. Die Bundesagentur erhält durch das Gesetz die nötigen Mittel, um Aufbau und Betrieb eines Weiterbildungsportals zu prüfen sowie gegebenenfalls zu entwickeln und zu betreiben. Innerhalb der CDU/CSU-Fraktion setzen wir uns bereits seit Längerem für den Aufbau einer übergeordneten Weiterbildungsplattform ein, und ich hätte mir gerade jetzt – während der Pandemie – gewünscht, dass diese Plattform schon Realität wäre. ({1}) Wenn wir eine Kultur der Weiterbildung erreichen wollen, wenn wir erreichen wollen, dass lebensbegleitendes Lernen digital und über Digitales in der breiten Gesellschaft ankommt, ja zu einer Selbstverständlichkeit wird, muss der Einstieg attraktiver sein, muss die Plattform übersichtlich sein, muss sie Lust auf Lernen machen. Diese Plattform braucht keineswegs zwingend bei der Bundesagentur für Arbeit beheimatet zu sein. Aber ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen die Projektphase führt. Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir unser erfolgreiches Instrument der Kurzarbeit und verbinden es stärker mit der Möglichkeit der Qualifizierung, damit die Krise nicht nur überwunden, sondern auch eine Chance wird. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kurzarbeit ist ein erfolgreiches Kriseninstrument.“ „Kurzarbeit ist die stabilste Brücke durch die Krise.“ „Kurzarbeit schützt vor Arbeitslosigkeit.“ – Ich könnte den Reigen der Lobeshymnen beliebig lange fortsetzen. Nur eins gerät dabei schnell in Vergessenheit: Wenn Wirtschaft und Arbeitsmarkt bis jetzt einigermaßen durch die Krise gekommen sind, dann ist das nicht allein der Regierung zu verdanken, sondern in erster Linie den Unternehmen und ihren Beschäftigten. Die haben blitzschnell die neuen Arbeitsschutzregeln umgesetzt. Die haben da, wo sie durften, so normal wie irgend möglich weitergearbeitet. Die haben sich nicht ins soziale Netz fallen lassen, sondern Verantwortung gezeigt. Ich finde, denen kann man an dieser Stelle auch einmal Danke sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die ersten 26 Milliarden Euro Kurzarbeitergeld, die ausgezahlt werden, sind keine großzügige Hilfe der Regierung, sondern die Rücklagen der Beitragszahler. Auch das verdient hier in dieser Debatte einmal Erwähnung. ({1}) Die Unternehmen am Hellweg und im Sauerland bestätigen mir, dass da, wo Kurzarbeit unvermeidbar war, die Agentur für Arbeit schnell, kompetent und hilfsbereit zur Seite stand. Ich bin sicher, das war überall so, und deshalb schließe ich mich gerne dem Dank meiner Vorredner an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur an. ({2}) Also, lieber Minister Heil, ein wenig mehr Bescheidenheit stünde der Regierung gut zu Gesicht; sonst läuft sie Gefahr, dass sie beim Kurzarbeitergeld das richtige Maß aus den Augen verliert. Denken Sie an Paracelsus: Ob Gift oder Medizin, das ist eine Frage der Dosis. – Immer mehr und immer länger Kurzarbeitergeld hilft nicht zwingend, die Krise zu überwinden. Es geht darum, die richtige Balance zwischen Kurzarbeit und Anreizen für neue Jobs zu finden; Johannes Vogel ist darauf eingegangen. Apropos Maß. Sie verlängern für ein weiteres ganzes Jahr das höhere Kurzarbeitergeld; aber Sie wissen nicht, wie viele Beschäftigte länger als drei Monate in Kurzarbeit sind und erhöhtes Kurzarbeitergeld beziehen. Das ist aber wichtig; denn längerer Bezug von Kurzarbeitergeld ist nicht zwingend Corona geschuldet. Viele Branchen stecken mitten in der Transformation, und Sie wissen: Corona verdrängt nicht Transformation, sondern beschleunigt Transformation. Deshalb brauchen wir für die Feinsteuerung jetzt kurzfristig eine solide Datenbasis für die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld. ({3}) Ein Wort zur AfD. Ihr Antrag leistet keinen auch nur ansatzweise sinnvollen Beitrag zur Überwindung der Krise. Im Gegenteil: Eine wie auch immer geartete Schwächung des europäischen Binnenmarktes schwächt die deutsche Wirtschaft sofort und empfindlich. Das ist wirtschaftspolitisches Harakiri, was Sie hier präsentieren, liebe Kollegen von der AfD. ({4}) Und noch eins: Sie bejubeln den Brexit, und Sie bejammern den höheren deutschen Anteil am EU-Haushalt. Das grenzt an Heuchelei. ({5}) Liebe Bundesregierung, Kurzarbeit hilft, aber reicht nicht. Jobs sichern ist gut, neue Jobs schaffen ist besser. Jobs sichern und neue schaffen wäre am besten. Freihandel und kluge Ordnungspolitik sind immer die beste Arbeitsmarktpolitik. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jessica Tatti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004911, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal: Der Gesetzentwurf ist gar nicht so schlecht. Sie wollen die Weiterbildung stärken, und das ist eine richtig gute Sache. Die Transformation steht während der Pandemie nicht still. Digitalisierung, Klimawandel, Demografie sind riesige Herausforderungen. Tatsache bei der Weiterbildung ist doch: Sind die Auftragsbücher voll, bleibt in den Betrieben oftmals keine Zeit für Weiterbildung. Ist die Auftragslage schlecht, wäre die Zeit da – so wie jetzt –; aber die Unternehmen halten ihr Geld zusammen und investieren nicht in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten. Das sind reale Widersprüche. Umso wichtiger ist es jetzt, dass die Politik eingreift, damit die Zeit in der Pandemie genutzt wird, sodass die Leute auf die neuen beruflichen Anforderungen vorbereitet werden. Gut, dass wir uns in diesem Ziel einig sind. ({0}) Jetzt zum problematischen Teil Ihres Gesetzes. Ich kann es mir nur so erklären, dass Sie nicht ganz zu Ende gedacht haben. Sie führen einen Rechtsanspruch auf Finanzierung von Weiterbildung ein, aber nur für die Arbeitgeber, nicht jedoch für die Beschäftigten. Das ist ungerecht und falsch. ({1}) Sie haben wohl nicht darüber nachgedacht, dass, wenn die Arbeitgeber alleine entscheiden, wer in den Genuss von Weiterbildungen kommt, sie dann weiterhin nur die Beschäftigten weiterbilden, die ohnehin schon ziemlich gut qualifiziert sind. So war das schon vor der Pandemie. Also, was sollte sich daran ändern? Und wieder einmal bleiben dann diejenigen auf der Stecke, die nicht so gut qualifiziert sind. Das Gleiche gilt für die Beschäftigten, die befristet tätig sind. Wenn ihre Arbeitgeber es alleine entscheiden können, werden sie sie nicht weiterbilden. Wer investiert denn schon in jemanden, bei dem er sich noch nicht mal sicher ist, ob er ihn behalten wird? Eins verstehe ich überhaupt nicht: Warum verpennt die Sozialdemokratie den Moment, ein Initiativrecht für Betriebsräte bei der Weiterbildung zu schaffen? ({2}) Das mit diesem Gesetz zu verbinden, Minister Heil, wäre klug und ideal gewesen. Und was ist eigentlich mit denen, die in der Pandemie arbeitslos werden? Für sie haben Sie nichts. Nach wie vor erhalten doch Erwerbslose kaum Weiterbildungen, am wenigsten die Menschen in Hartz IV, und das muss sich endlich ändern. ({3}) Zudem muss die Qualität der beruflichen Weiterbildung auf den Prüfstand. Die Förderungen kranken doch daran, dass Sie zu wenig Geld in die Hand nehmen. Deshalb kommt Wesentliches zu kurz, zum Beispiel praxisnahes Lernen, das Menschen individuell begleitet, die schon lange aus dem Lernen raus sind, und das ihnen wieder Mut macht, etwas Neues anzupacken. ({4}) Herr Minister und liebe Kolleginnen und Kollegen, eine kluge Beschäftigungssicherung ist nicht nur ein Lückenfüller während der Kurzarbeit in der Pandemie. Weiterbildung muss nachhaltig auf den Strukturwandel vorbereiten und den Menschen Zukunftsperspektiven bieten, und zwar allen Menschen. Ihr Gesetz reicht dafür leider nicht aus. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Stracke das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Krisenzeiten wird die Zukunft neu verteilt – das zeigt die Erfahrung –, und so wird es auch in dieser Pandemie sein. Die Megatrends der Digitalisierung und Globalisierung verstärken diese Entwicklung. Dazu kommen Transformationsprozesse, beispielsweise was die CO2-Freiheit oder den demografischen Wandel angeht. Die Welt von morgen wird anders sein als die von gestern. Das wird alle Lebensbereiche betreffen, auch die Arbeitswelt. Die Beschleunigung nimmt zu, die Veränderung nimmt zu. Das bedeutet beispielsweise für den Wandel in der Arbeitswelt ein immer breiteres Qualifikationsniveau bei Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, was entscheidend sein wird für die Zukunft. Weiterbildung ist daher ein zentrales Handlungsfeld für Beschäftigte und Unternehmen. Deshalb engagieren sich über 85 Prozent aller Unternehmen in Deutschland in der betrieblichen Weiterbildung. Sie tun dies mit einem jährlichen Investitionsvolumen um die 34 Milliarden Euro. Erfolgreiche Unternehmen wissen: Sie brauchen Mitarbeiter, die über ein stets aktuelles und bedarfsspezifisches Fachwissen verfügen. Nur so gelingt es, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Beschäftigte wissen, dass die betriebliche Weiterbildung ein wichtiger Baustein zum persönlichen Erfolg ist und auch die Beschäftigungsfähigkeit im Unternehmen sichert. Unsere Aufgabe als Politik ist es, die Bereitschaft zur Weiterbildung und die Beteiligung an Weiterbildung zu unterstützen. Diese Aufgabe nehmen wir gerne an. Wir haben in den letzten Jahren deshalb mehrfach und spürbar die Angebote der Bundesagentur für Arbeit ausgebaut. Ich denke hier beispielsweise an die Lehrgangskosten, an die Zuschüsse zum Arbeitsentgelt für die Unternehmen. Ich meine auch die Höhe der Fördersätze, die wir mehrfach verändert und verbessert haben. Wir wollen, dass Kurzarbeit mehr mit Qualifizierung verbunden wird. Dafür setzen wir auch einen starken Anreiz. Wir erstatten den Unternehmen beispielsweise den Sozialaufwand komplett, wenn sie im zweiten Halbjahr 2021 eine Weiterbildung durchführen. Danach wird der Sozialaufwand zu 50 Prozent bis längstens Mitte 2024 erstattet, wenn während der Kurzarbeit Weiterbildung erfolgt. Zudem schaffen wir eine transparente, pauschale und deutlich weiter gefasste Weiterbildungsförderung als heute. Wir entrümpeln die Förderkriterien und machen sie schlanker und einfacher handhabbar. ({0}) Dabei stellen wir insgesamt sicher, dass eine einmal bezogene Fortbildungsmaßnahme auch beendet wird. Wir erstatten die Lehrgangskosten über die Zeit der Kurzarbeit hinaus für die gesamte Zeit der Teilnahme an der Weiterbildung. Der Ersatz von Sozialaufwand und Lehrgangskosten sind ein starker Bonus. Wir hoffen, dass dieser von den Unternehmen und von den Beschäftigten entsprechend genutzt wird. ({1}) Von entscheidender Bedeutung bleiben zwei Dinge: Erstens. Die Motivation eines jeden Arbeitnehmers in Kurzarbeit muss gegeben sein, auch an Tagen des Arbeitsausfalls an Angeboten der Weiterbildung teilzunehmen. Weiterbildung lässt sich in den wenigsten Fällen erfolgreich befehlen. Unternehmen müssen die Belegschaften begeistern, ihnen klarmachen, welche Chancen für jeden Einzelnen in der Weiterqualifizierung liegen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Begeisterung. Zweitens. Wir brauchen eine intensive Beratung der Betriebe. Deshalb ist es gut, dass die Qualifizierungsberatung Pflichtaufgabe der BA ist. Diese Beratungsangebote müssen auch noch weiter ausgebaut werden. Wir wollen, dass Weiterbildung gerade vermehrt in kleinen und mittleren Betrieben und Unternehmen stattfindet; denn bislang ist das im Vergleich zu den größeren seltener der Fall. Das wollen und müssen wir ändern. Deswegen ist Beratung so wichtig; denn kleine Unternehmen verfügen seltener über entsprechende Personalexperten. Die Ausweitung der Beratungsangebote ist daher entscheidend. Es ist gut, dass hier auch von staatlicher Seite unterstützt wird und dass Länder, wie beispielsweise Bayern, dies auch zeigen. Neben diesen Beratungsangeboten ist noch etwas wichtig: Kooperation. Weiterbildungsaktivitäten müssen viel stärker in Verbünden organisiert werden. Regionale Weiterbildungsverbünde sind gerade für kleine und mittlere Unternehmen extrem wichtig, um passgenaue Bedarfe zu erheben und Qualifikationsmaßnahmen zu organisieren. Begeisterung, Beratung, Kooperation, das sind drei zentrale Bausteine dafür, dass Weiterbildung in den Betrieben noch besser gelingt als bisher. Dafür wollen wir weiter arbeiten. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit hat seit April dieses Jahres von über 6 Millionen auf rund 2 Millionen abgenommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit nicht weiter gestiegen. Das zeigt: Kurzarbeit verhindert Arbeitslosigkeit. Kurzarbeit ist die stabile Brücke über diese Krise. Und das zeigt: Wenn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vom Recht auf Arbeit sprechen, dann liefern wir auch. ({0}) Meine Damen und Herren, vor allem wegen der internationalen Dimension, wegen der internationalen Verflechtung vieler Unternehmen, besteht in vielen Branchen weiter Bedarf an Kurzarbeit. Deshalb machen wir diese Brücke breiter, länger und noch stabiler. Mein Kollege Bernd Rützel hat dies im Einzelnen ausgeführt. Gleichzeitig unterstützen wir Unternehmen bei der Weiterbildung in Kurzarbeit. Das ist vor allem für Unternehmen im Strukturwandel wichtig, aber nicht nur für sie, sondern angesichts der großen Veränderungen durch die Digitalisierung auch für die Beschäftigten. Minister Hubertus Heil hat es so gesagt: Damit die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen machen können. – Lange Zeit hatten die Beschäftigten in vielen Unternehmen gar keine Zeit für Weiterbildung; die Auslastung war so hoch. Deshalb müssen wir jetzt die Phase der Kurzarbeit für Weiterbildung nutzen. ({1}) Deshalb setzen wir die Anreize. Ab dem 1. Juli 2021 ({2}) wird die vollständige Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an die Teilnahme an Weiterbildungen geknüpft. Heute, meine Damen und Herren, regeln wir das konkret. Wir wählen bewusst einen breiten Ansatz. Jede Weiterbildung, die in Kurzarbeit beginnt, die mindestens 120 Stunden umfasst, bei der der Maßnahmenträger und die Maßnahme zertifiziert sind, wird berücksichtigt. Auch Fortbildungen zum Meister oder Techniker werden anerkannt. ({3}) Wir sorgen, meine Damen und Herren, bei allen Beteiligten für einen einfachen Ansatz; denn die Unternehmen und die BA müssen das auch umsetzen. Deshalb schaffen wir ein eigenes und ein einfaches Förderregime für die Schulungskosten während der Kurzarbeit. Und: Wir schaffen Verlässlichkeit; denn wir sorgen dafür, dass die Förderung der Schulungskosten auch weiterläuft, wenn die Kurzarbeit beendet wird. ({4}) Dieser Weg hat in der Anhörung am Montag große Zustimmung gefunden. Herr Strengmann-Kuhn, ich habe sehr wohl Ihre Kritik vernommen, dass wir damit früher anfangen müssten. Ja, gefühlt gebe ich ihnen recht. Aber ich möchte Ihnen auch sagen: Wir müssen mehr Weiterbildungen am Markt haben, die so flexibel sind, dass sie sich leicht mit dem flexiblen Instrument der Kurzarbeit verbinden lassen, die gleichzeitig eine hohe Qualität aufweisen und zertifiziert sind. Das muss man bei den Weiterbildungsträgern und den Unternehmen erst mal hinkriegen. Deswegen ist es richtig, dass wir den Unternehmen und den Weiterbildungsträgern sowie der Bundesagentur für Arbeit die Zeit geben, sich genau darauf einzustellen und diese Angebote an Weiterbildung in den kommenden Monaten auch zu schaffen. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Große Koalition schafft mit dem heutigen Gesetz – im Ausschuss wurde noch ein Änderungsantrag verabschiedet – zugleich die Voraussetzungen dafür, dass wir kollektive Beschäftigungssicherungsvereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten attraktiver machen. Wir stellen sicher, dass solche kollektiven Beschäftigungssicherungsvereinbarungen, die häufig mit einer geringeren Arbeitszeit und einem geringeren Entgelt verbunden sind, sich nicht negativ auf die Höhe des Arbeitslosengeldes bei den Beschäftigten auswirken. Das ist ein wichtiges Kriseninstrument in dieser Pandemie. Mit all dem, meine Damen und Herren, sorgen wir dafür –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rosemann, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– ich komme zum Ende, Frau Präsidentin –, dass wir gut durch die Krise kommen und gut aus der Krise herauskommen – mit dem Sozialstaat als Partner an der Seite der Beschäftigten. Ich will schließen mit einem Dank –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– an die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie überstehen wir den harten Coronawinter? Ist unser Job in Zukunft, ist er in den nächsten Monaten noch sicher? Kann ich in den nächsten Jahren noch meine Familie ernähren? – Das sind viele Fragen, Fragen, die sich die Menschen in unserem Land im Moment stellen. Jeder von uns, der in seinem Wahlkreis aktiv unterwegs ist und sich mit den Menschen dort austauscht, der wird häufig auf eine gewisse Hoffnungslosigkeit treffen, auf Verzweiflung, und er wird genau diese Fragen hören. Deswegen ist es umso wichtiger, dass die Politik in diesen Zeiten starke Signale setzt, dass sie in diesen Zeiten Maßnahmen einleitet, um die Jobs zu sichern und um Perspektiven zu schaffen. Das machen wir mit dem Kurzarbeitergeld. Das machen wir mit den eben erwähnten Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen. Aber das machen wir auch, indem wir in dieser Krise einen Schwerpunkt auf Investitionen in die Infrastruktur setzen. Das sind Maßnahmen, mit denen es uns gelingt, Antworten auf diese Fragen geben zu können, meine Damen und Herren. Jetzt hat die AfD mit ihrem Antrag gesagt: Ja, das macht die Regierung, das machen CDU/CSU gar nicht so schlecht. – Wenn man ins europäische Ausland schaut, dann sieht man ja auch, dass wir in Deutschland im Vergleich sehr, sehr gut durch die Coronakrise kommen. Die AfD sagt in ihrem Antrag auch: Das Instrument des Kurzarbeitergeldes ist ja durchaus richtig. Aber wäre es nicht sinnvoll, wenn wir nur noch Kurzarbeitergeld zur Verfügung stellen und nicht mehr in Europa investieren würden? – Sie von der AfD stellen die Frage: Wollen wir in Deutschland investieren, oder wollen wir in Europa investieren? Diese Frage, meine Damen und Herren, ist doch die absolut falsche Frage in diesen Zeiten. ({0}) Die Frage muss lauten: Wie können wir sowohl Deutschland als auch Europa stärken? Das ist die entscheidende Frage. ({1}) Ich halte Ihren Ansatz auch für brandgefährlich, weil er nämlich die Axt an ein Fundament legt, das nicht nur uns in Europa, sondern auch uns in Deutschland mittlerweile seit Jahrzehnten stark macht. Die europäische Einigung hat uns Frieden gebracht, Demokratie, Wohlstand, soziale Marktwirtschaft. Sie hat uns die Etablierung von Menschenrechten gebracht. Deswegen müssen wir gerade auch in dieser Coronapandemie in Europa investieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Sichert?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne. – Bitte schön. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ist Ihnen bewusst, dass man Geld nur einmal ausgeben kann? ({0}) Wir können unser Geld nur einmal ausgeben: entweder zur Stärkung der deutschen Wirtschaft oder um es an die EU, an andere Länder zu geben. Das heißt, dass wir Geld nicht beliebig oft zur Verfügung haben, sondern nur ein einziges Mal. Daher müssen wir weise entscheiden, wofür wir dieses Geld einsetzen. ({1})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wenn Sie sich einmal die Zahlen anschauen, wohin die Exporte Deutschlands gehen, dann werden Sie feststellen, dass über 60 Prozent der deutschen Exporte in die Europäische Union gehen. ({0}) Das heißt, wenn wir sagen, wir wollen Europa stärken und wollen auch in die europäische Infrastruktur investieren, dann bedeutet das nicht nur eine Stärkung Europas und setzt nicht nur ein Zeichen der Solidarität mit unseren europäischen Partnern, sondern dann investieren wir indirekt auch in Deutschland und tun das Beste für Deutschland. Deswegen kann ich überhaupt nicht nachvollziehen – das muss ich Ihnen sagen –, dass Sie immer wieder die Frage stellen: Wollen wir etwas entweder nur national oder nur europäisch betrachten? Wir müssen beides zusammenführen, und das wird auch der Ansatz der CDU/CSU-Fraktion in den nächsten Monaten sein. ({1}) Damit kommen wir auch schon zu den nächsten Themen: Wie können wir Arbeitsplätze in Europa sichern? Wie können wir die Klimaschutzziele erreichen? Was können wir tun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken? – Die Antwort auf all diese Fragen lautet, dass wir in die europäische Infrastruktur investieren müssen, dass wir auch in neue Technologien investieren müssen und dass wir Klimaschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik verbinden müssen. Häufig fällt in diesen Tagen der Satz: Die Krise ist auch eine Chance. – Zugegebenermaßen ist dieser Satz etwas abgedroschen und vielleicht auch zu einer Phrase verkommen; aber er ist dennoch wahr. Denn die Krise bietet natürlich auch Chancen, zum Beispiel, eine Wasserstoffinfrastruktur nicht nur in Deutschland zu errichten, sondern auch in Europa. Sie bietet die Chance, dass Deutschland ein weltweit führender Standort für klimaneutrale Kraftstoffe wird, um so Mobilität klimafreundlich zu machen, um so Fliegen nicht zu verbieten, sondern klimaneutral zu machen. Das sind doch die Ansätze, die wir gerade jetzt in dieser Krise forcieren müssen. Das wird aber nicht gelingen, wenn wir das Ganze nur auf Deutschland bezogen betrachten. Oder gehen Sie davon aus, dass wir für einen Lkw, der Pasta, Toilettenpapier oder welche Güter auch immer von Italien nach Deutschland bringt, kein Wasserstofftankstellennetz brauchen, das Italien, Österreich, Deutschland miteinbezieht, dass wir also nur in Deutschland ein Wasserstofftankstellennetz brauchen? Das glaubt doch keiner. Deswegen müssen wir gerade in diesen Zeiten, in denen wir eine funktionierende Logistik brauchen, in denen wir darauf angewiesen sind, dass auch in anderen europäischen Ländern die Logistik funktioniert, diese Fragen europäisch betrachten. Meine Damen und Herren, wir werden unterschiedliche Maßnahmen – das Kurzarbeitergeld, Fortbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen – auch in den nächsten Monaten forcieren, damit es nach der Coronapandemie schnell wieder aufwärtsgeht. Wir werden vor allem einen Schwerpunkt auf Investitionen in die deutsche, aber auch in die europäische Infrastruktur legen. Dafür darf ich Sie ganz herzlich um Unterstützung bitten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Konservative schützen Dinge, die funktionieren. Die Wehrpflicht in Deutschland hat funktioniert, ({0}) 200 Jahre lang. Sie verband die Streitkräfte mit unserem Volk. Sie lüftete die Kasernen in unserem Land mit frischem Geist. Junge Männer aus allen Regionen und Schichten Deutschlands kamen so zur Bundeswehr. Viele Generale von heute fingen als Wehrpflichtige an. Ohne den Wehrdienst hätten sie den Weg in die Streitkräfte nie gefunden. Die militärische Führung unterstützt in weiten Teilen den heutigen Antrag der AfD zur Reaktivierung der Wehrpflicht. ({1}) Der Antrag ist die Chance, einen Kapitalfehler der Bundesregierung zu korrigieren. Die Wehrpflicht war viel mehr als nur die Personalsicherung der Bundeswehr. Sie war Wesenskern unserer Streitkräfte. Ganze Generationen von jungen Deutschen fanden so zusammen, dienten einer höheren Aufgabe, spürten, was es bedeutete, sich in den Dienst unseres Landes zu stellen, lernten, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren. ({2}) Für ein paar Monate im Leben waren alle gleich: keine Unterschiede durch Geld, teure Kleidung und die Herkunft – eine wertvolle Sache. Die Wehrpflicht war nicht nur Wesenskern der Bundeswehr. Sie schuf ein gesellschaftliches Band für viele Generationen. ({3}) Die Wehrpflicht war Teil der DNA unseres Landes. Wer so etwas aufgibt, der ist nicht konservativ. Wer so etwas aufgibt, der ist verantwortlich für die Zerstörung eines Grundpfeilers unseres Staates und unserer Gesellschaft. ({4}) Und das, meine Damen und Herren, machen Konservative nicht. ({5}) Die Aufgabe der Wehrpflicht im Jahre 2011 ist Teil einer destruktiven Politik in Deutschland. Sie ist Teil einer Politik, an deren Ende die Abschaffung unseres Nationalstaates steht. ({6}) Diese Politik zerstört die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr genauso, wie sie die Energiesicherheit, die kulturelle Identität und jetzt die wirtschaftliche Basis Deutschlands zur Disposition stellt. Die CDU trägt dafür die alleinige Verantwortung. ({7}) Denn es war immer die Pflicht der Union, den linken radikalen Kräften in Deutschland entgegenzutreten, ({8}) deren Geschäftsmodell der Kampf gegen den eigenen Nationalstaat ist. Stattdessen opferte die CDU einen Schatz unseres nationalen Bürgerstaats: die Wehrpflicht. Für die Gier nach Posten und Macht, meine Damen und Herren, wurde bereits zu viel Tafelsilber unserer Republik geopfert. Das ist nicht konservativ. Das ist gefährlich. 65 Jahre ist unsere Bundeswehr nun alt. Ich danke allen Soldaten für ihren treuen Dienst für Deutschland. Es ist nicht leicht für sie in diesen Zeiten. Der Außenminister gratuliert zu diesem Jubiläum einem Belgier auf Twitter. Die Verteidigungsministerin gendert in einem Grußwort die ersten Soldaten der Bundeswehr des Jahres 1955, und der Bundespräsident ändert eigenmächtig die Eidesformel bei seiner Ansprache. Eine solche Regierung haben unsere Soldaten nicht verdient. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits zum wiederholten Male stellt die AfD in dieser Woche hier Anträge zur Bundeswehr: gestern einen sicherheitspolitischen Antrag, der aber zu kurz gesprungen war, heute einen Antrag auf Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, rückwärtsgewandt, mit romantischen und verklärten Vorstellungen. Vor allem bieten die AfD-Anträge keinen Beitrag zur Lösung, sondern die AfD selbst stellt eher ein Problem dar. Wer an den Grundpfeilern unserer Verfassung wirklich sägt, das konnte man am Mittwoch bei der Diskussion und Debatte zum Infektionsschutzgesetz sehen und daran, dass Sie Demonstranten Zutritt in dieses Haus gewährt haben und dass Sie die Parlamentsdebatte zerstören. Das, meine Damen und Herren, ist nicht konservativ. „Konservativ“ heißt für uns, werteorientierte Politik für die Bürgerinnen und Bürger zu machen, und das sind die Antworten, die wir heute in unserer Politik brauchen. ({0}) Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht 2011 war richtig und notwendig. So hieß es im Wehrrechtsänderungsgesetz von 2011: „Auf diese Weise sollen Freiheit und Verantwortung neu austariert werden.“ Darum geht es. Es geht um Freiheit und Verantwortung. Als Sie, Herr Lucassen, mein Vorredner, die Bundeswehr verlassen haben – das muss ungefähr 2005 gewesen sein –, bin ich in den Deutschen Bundestag gekommen. Seitdem hat sich vieles geändert. Die Zeit ist nicht stehen geblieben. ({1}) Sie ist weitergegangen. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Wir wollen appellieren an Freiheit und Verantwortung. Nicht Menschen zwingen, sondern sie überzeugen, freiwillig einen Dienst zu leisten, das ist werteorientierte und konservative Politik. 8 000 Soldatinnen und Soldaten leisten heute einen freiwilligen Wehrdienst aus Überzeugung. Nicht Pflicht und Verpflichtung, sondern Freiwilligkeit – das ist unser Koordinatensystem, und das ist Grundlage für Professionalität. Man sollte nicht immer die Arbeit der Soldaten schlechtreden, sondern mal sagen, wofür sie einstehen. Sie stehen ein für die Landes- und Bündnisverteidigung. Sie stehen ein für die Einsätze in anderen Ländern: im Kosovo, in Afghanistan, Mali beispielsweise. Sie stehen ein in einsatzgleichen Verpflichtungen im Baltikum, meine Damen und Herren. Wir als CDU/CSU haben Hochachtung vor der professionellen Arbeit unserer Truppe. Wir danken den Soldatinnen und Soldaten sehr herzlich für ihren Dienst für unser Land. ({2}) Sie als AfD bezweifeln offensichtlich diese Leistung, wenn Sie die Grundsätze anzweifeln und infrage stellen. ({3}) Die Bundeswehr von heute ist eine moderne Armee mit modernen Waffensystemen, mit digitalen Führungssystemen; „Supply-Chain-Management“ ist der feststehende Begriff in der Logistik. Dafür braucht man eben eine gute und auch teure Ausbildung. Wir gehen diesen Weg weiter, den auch unsere internationalen Partner gehen, nämlich hin zur Professionalität. Die Bundeswehr, meine Damen und Herren, ist nicht die Schule der Nation. Sie ist kein Erziehungsheim. Sie hat den sicherheitspolitischen Auftrag, die Landes- und Bündnisverteidigung sicherzustellen. Deswegen brauchen wir eine professionelle Streitkraft mit einem Attraktivitätsprogramm, meine Damen und Herren. Da setzen wir an. Wir sagen: Wir wollen eine freiwillige Form des Wehrdienstes. Wir wollen den freiwilligen Wehrdienst für den Heimatschutz. Der beginnt ab April 2021. Frage, was du für dein Land tun kannst! Das ist die Geisteshaltung, die wir erreichen wollen: unserem Land zu dienen. Wir werben für das freiwillige Deutschlandjahr – nicht im Konflikt mit dem Grundgesetz oder den europäischen Regeln. Deswegen geht Ihr Antrag auf Wiedereinsetzung der Wehrpflicht in die falsche Richtung. Auch Ihr zweiter Antrag ist entbehrlich. „Breacher Brain“ – hier können wir deutlich sagen: Den Spezialkräften ist dieses Problem bewusst – es gibt hierzu wissenschaftliche Publizierungen, vor allem wurde ein wehrmedizinischer Forschungskorridor im BMVg etabliert –, aber bisher gibt es keinen einzigen Fall. Ich sage noch einmal: Wir müssen deutlich machen: Der Beruf des Soldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Deswegen muss er umso mehr Attraktivität erfahren, Attraktivität auch durch Geld. Wir haben seit 2014 den Verteidigungshaushalt um 30 Prozent, um 10 Milliarden Euro, erhöht. Aber Geld ist nicht alles. Wir haben das Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz durchgesetzt, wir haben das Besoldungsstrukturmodernisierungsgesetz verabschiedet, und wir haben kostenloses Bahnfahren erreicht. Das ist Anerkennung für unsere Soldatinnen und Soldaten. Nicht ein rückwärtsgewandter Aktionismus ist für uns maßgeblich, sondern für uns steht der Mensch im Mittelpunkt unserer christdemokratischen Politik. Für uns stehen der Soldat, die Soldatin als Staatsbürger in Uniform im Mittelpunkt. Wir halten Ihre beiden Anträge für obsolet, meine Damen und Herren. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Alexander Müller das Wort. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 32 Jahren wollte ich nach dem Abitur Informatik studieren. Die jungen Damen aus meinem Abiturjahrgang durften sofort an die Uni, und ich wurde für 15 Monate einkaserniert. ({0}) Die antragstellende AfD will diese Ungerechtigkeit wieder einführen. Sie geriert sich immer als Beschützerin der Grundrechte, als die Bewahrerin der Freiheit. Heute zeigt sie ihr wahres Gesicht. Sie wollen den jungen Leuten ein Jahr Zwangsdienst aufbrummen. ({1}) Sie wollen den jungen Leuten wieder ein Jahr ihres Lebens rauben. Das ist Ihre Vision von Freiheit? – Na, vielen Dank. ({2}) Die Bundeswehr hat heute hochtechnisierte Waffensysteme, deren Handhabung man nicht mal eben im Schnelldurchgang erlernen kann. Unsere Parlamentsarmee ist eine Armee von Profis. Das sind Experten auf ihrem Gebiet, die anständig bezahlt werden und die auch entsprechend motiviert ihre Arbeit machen. Was für eine Verschwendung ist es, Leute wie mich ein Jahr einzusperren! Als IT-Experte zahle ich Unmengen an Steuern und Sozialabgaben, als Rekrut muss mich der Staat durchfüttern, hat von mir aber überhaupt keinen militärischen Mehrwert. Die Wehrpflicht macht volkswirtschaftlich überhaupt keinen Sinn. Lassen wir doch den jungen Menschen in Deutschland die Freiheit, sich ihren Beruf selbst auszusuchen, ihren Traumberuf zu erlernen und auszuüben. Das ist gesamtwirtschaftlich viel besser als die Wehrpflicht. ({3}) Als 1956 die Wehrpflicht kam, war Frauen noch jeglicher Dienst an der Waffe verboten. Deswegen war die Wehrpflicht nur für Männer damals noch widerspruchsfrei. Heute dürfen Frauen jeden Job bei der Bundeswehr machen, und das ist auch richtig so, weil Frauen alles können, was Männer auch können. ({4}) Aber das hat natürlich auch Konsequenzen. Es wäre Rosinenpickerei, wenn man, so wie Sie das wollen, eine Wehrpflicht nur für Männer einführt. Das heißt, Frauen dürfen alles, und Männer werden gezwungen. Wie wollen Sie das in Karlsruhe durchkriegen? Das Verfassungsgericht wird Ihnen das rechts und links um die Ohren hauen. Wenn Sie einen Zwangsdienst einführen wollen, dann muss er geschlechtergerecht sein, dann muss er für alle gelten. ({5}) Wir sind bei einer Stärke von 800 000 Jugendlichen im Jahr, die die Schulen in Deutschland verlassen. Bei ungefähr 180 000 Bundeswehrsoldaten insgesamt, die sich dann um die Ausbildung kümmern müssten, wünsche ich fröhliche Verrichtung. Wir haben auch noch nicht über die fehlenden Unterkünfte, über fehlende Uniformen und über persönliche Ausrüstung gesprochen. Das alles muss noch geklärt werden. Das weiß die AfD. Deswegen hat die AfD einen Plan und will nur 30 000 im Jahr zum Wehrdienst heranziehen. Na, da bin ich ja mal gespannt, wie das verfassungsgemäß funktionieren soll. Das heißt, Sie wollen jeden 27. zwingen, Wehrdienst zu machen, aus jeder Klasse einen rausnehmen. Wie wollen Sie das denn gerecht hinbekommen? ({6}) Vor allen Dingen: Was wollen Sie denn mit den anderen 26 aus dieser Klasse machen? Wollen Sie die als Pflegekräfte, als Billigarbeiter in die Krankenhäuser schicken – 770 000 Jugendliche im Jahr? So viele Krankenhäuser haben wir in Deutschland gar nicht. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({7}) Die Befürworter der Wehrpflicht argumentieren immer, dass der Wehrdienst eine erzieherische Komponente hätte, also den jungen Männern Disziplin und Ordnung beibringen soll.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müller, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Lucassen?

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Rüdiger Lucassen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004807, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön, Herr Kollege Müller. – Erstens. Sie sprachen eben das Problem an, das in Karlsruhe durchzubekommen, wenn unser Antrag umgesetzt werden würde. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass gemäß Artikel 12a Absatz 1 Grundgesetz und Artikel 116 Grundgesetz alle Männer wehrpflichtig sind und dass diese Pflicht nur durch die Aussetzung der §§ 3 bis 53 Wehrpflichtgesetz ausgesetzt worden ist; sie müssten also nur aktiviert werden. Karlsruhe ist hier gar nicht gefragt. ({0}) Zweitens. Wenn Sie schon so ein monströses Zahlenspiel bezüglich der 30 000 Wehrpflichtigen anstellen, dann lesen Sie bitte unseren Antrag. In dem steht: mindestens 30 000 Wehrpflichtige. Damit wollen wir der demografischen Entwicklung entsprechend reagieren können. ({1}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Lucassen, es geht um Artikel 12a Grundgesetz; ({0}) ich habe es eben erklärt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter Lucassen, Sie müssten bitte stehen bleiben.

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Wehrpflicht ist im Jahr 1956 eingeführt worden. Ich habe es erklärt: Damals war Frauen der Dienst an der Waffe verboten. Das ist heute anders. Jede Frau kann jeden Job in der Bundeswehr machen, ({0}) wenn sie die Qualifikation erbringt und die Tests besteht. ({1}) Jeder Frau steht das offen. Der erste Mann, den Sie zwingen wollen, wieder Wehrdienst zu machen, wird in Karlsruhe klagen, und er wird das durchbekommen; denn es kann nicht sein, dass Frauen dürfen und Männer gezwungen werden. Insofern bin ich sehr optimistisch: Das wird nicht kommen. Wenn man heute eine Wehrpflicht will, dann muss die für beide Geschlechter gelten. ({2}) Wir wollen, dass sich junge Menschen ihren Job selbst aussuchen dürfen und alle Freiheiten haben, ihr Berufsleben selbst zu gestalten – ohne Zwangsjahr. Wir wollen eine professionelle Bundeswehr mit Spezialisten, die ihre Technik aus dem Effeff beherrschen und die wie Profis bezahlt werden. Wer hier im Saal Verteidiger der Freiheit ist und wer es nicht ist, wird sich gleich bei der Abstimmung zeigen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Karl-Heinz Brunner hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich bin am heutigen Tage schon verwundert, dass wir im 65. Jahr der Bundeswehr, nach 65 Jahren Erfolgsgeschichte Bundeswehr, über zwei solche Anträge diskutieren müssen, wie sie heute vorliegen. Zum Antrag auf Reaktivierung der Wehrpflicht wird sich mein Kollege Fritz Felgentreu umfangreich äußern. Ich darf an dieser Stelle sagen: Ich kann die Aussage unserer Wehrbeauftragten, die ich als kleiner Mann nur auf Zehenspitzen dort hinten sehen kann, voll und ganz unterstreichen. Ich möchte mich auf die Erfolgsgeschichte Bundeswehr beziehen, die 65 Jahre das Dienst- und Treueverhältnis beinhaltet. Das Herauspicken eines einzelnen Bereichs, „Breacher Brain“, zeigt nicht die Erfolgsgeschichte des Dienst- und Treueverhältnisses auf. Beim Dienst- und Treueverhältnis geht es nicht darum, wie der erste Redner in dieser Debatte gesagt hat, sich als Konservativer an Regeln zu halten. Ich halte mich immer an Regeln; ich müsste also ein Urkonservativer sein. Der Redner hingegen kann offensichtlich keiner sein; denn am vergangenen Mittwoch hat man sich ja wohl nicht an Regeln gehalten. Bitte bewerten Sie es nicht über, wenn jemand meint, er müsse Konservatismus mit dem Einhalten von Regeln gleichsetzen. Aber unsere Bundeswehr hat in diesen 65 Jahren etwas geleistet, was, glaube ich, keine Parlamentsarmee, keine Armee dieser Welt geleistet hat, nämlich sich fortzuentwickeln, Fehler einzugestehen, aus Fehlern zu lernen und im Sinne des Dienst- und Treueverhältnisses zu guten und vernünftigen Lösungen zu kommen. ({0}) Drei Beispiele, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich dazu anführen. Eine Geschichte, die uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier und die Bundeswehr schon länger beschäftigt und zeigt, wie die Bundeswehr in der Lage ist, sich zu ändern, zu reflektieren und im Sinne des Dienst- und Treueverhältnisses für Soldatinnen und Soldaten die richtige Lösung zu finden: Radargeschädigte. Der eine oder andere, gerade unter den älteren Menschen, erinnert sich noch, dass die Schädigungen von an Radargeräten arbeitenden Soldaten – es waren damals eigentlich nur Männer – über lange Jahre belächelt und nicht wissenschaftlich ergründet, nicht entsprechend der Fürsorgepflicht nach § 31 Soldatengesetz betrachtet wurden. Bis zum heutigen Zeitpunkt liegen die Anerkennungsquoten, zum Teil auch bei Mitgliedern des Bundes zur Unterstützung Radarstrahlengeschädigter, immer noch bei unter 20 Prozent. Wir haben Verfahrenszeiten von 37 Jahren und länger gehabt. Beispielsweise ist in einem noch laufenden Verfahren der Antragsteller bereits im Jahr 2019 verstorben. Die Verwaltung hat hier in Eigendynamik zwar rechtlich absolut korrekt gearbeitet, aber das Wort „Fürsorge“ noch nicht verinnerlicht. Unser Parlament, genauer: der Verteidigungsausschuss, hat gemeinsam mit der Bundeswehr einen Weg gefunden durch die Forderung nach einem runden Tisch mit Institutionen und Verbänden und die klare Aussage, dass wir eine sofortige Entschädigung für diese Menschen wollen; denn Fürsorge ist nicht nur während des Dienstes, sondern insbesondere nach dem Dienst erforderlich. Ich bin zuversichtlich, dass wir dies gemeinsam, Parlament und Bundeswehr, auf den Weg bekommen, so wie wir in der ersten Phase nach Feststellung der Schädigungen von Radargeschädigten damals die bundesunmittelbare Deutsche Härtefallstiftung auf den Weg gebracht haben, die sich heute als rechtsfähige Stiftung zum Beispiel auch mit den Folgen von „Breacher Brain“ beschäftigt. Sie kann soziale und finanzielle Hilfen über Jahre hinaus ermöglichen. Ich zitiere, Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis aus dem Bericht des Wehrbeauftragten 2019: In besonders gelagerten Problemfällen kann auch die Deutsche Härtefallstiftung schnell Abhilfe schaffen. Sie übernimmt Aufgaben und Leistungen, die der Dienstherr teilweise aus rechtlichen Gründen nicht erbringen kann. In der 49. Sitzung des Vergabeausschusses in dieser Woche sind nunmehr 721 abgeschlossene Fälle, 466 positive Entscheidungen festgestellt worden, die Entschädigungen in einer Größenordnung von 10 Millionen Euro ermöglicht haben. Dies ist eine Erfolgsgeschichte unserer Bundeswehr. Dieses Gemeinschaftsprojekt, in dessen Rahmen jetzt auch mit der Katholischen Familienstiftung für Soldaten das Thema „Angst, Depressionen, Suizid und Einsatzfolgen“ wissenschaftlich bearbeitet wird und für das ich mit der Kollegin Gisela Manderla die Schirmherrschaft übernommen habe, zeigt dies noch einmal in besonderer Weise. ({1}) Lassen Sie mich als Letztes sagen: Der Umgang mit den homosexuellen Soldaten in der Bundeswehr während vieler Jahre ist in meinen Augen ein exzellentes Beispiel, um zu zeigen, wie die Bundeswehr mit dem eigenen Verhalten – manchmal gesellschaftstypisches Verhalten, später Fehlverhalten – in der Lage ist umzugehen. Seit dem 3. Juli 2000, dem formellen Ende der Diskriminierung von homosexuellen Soldaten in der Bundeswehr durch Aufhebung des Erlasses, hat es noch eine Zeit gedauert. Aber eine gute Studie, die Studie „Tabu und Toleranz“, die vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften erarbeitet und am 17. September 2020 vorgestellt wurde, hat den Umgang der Bundeswehr von 1955 bis zur Jahrtausendwende in den Mittelpunkt gestellt. Ein guter und überfälliger Gesetzentwurf, der nunmehr im November im Kabinett beraten und im Frühjahr 2021 in den Bundestag eingebracht werden wird, zeigt, dass die Möglichkeit besteht, diese Geschichte mit einem guten Ende abzuschließen. ({2}) Die symbolische Entschädigung folgt dem Gedanken, dass die Benachteiligung und deren Folgen aus heutiger Sicht grundgesetzwidrig sind und waren. ({3}) 65 Jahre Bundeswehr brachten große Veränderungen mit sich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brunner, das wäre jetzt der Punkt gewesen.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende. – Ich darf mich für die Integration der Bundeswehr in der NATO, der Europäischen Union und vor allen Dingen in diesem Parlament recht herzlich bedanken und hätte mir gewünscht, dass wir diese Debatte heute zum Anlass nehmen, mehr zu feiern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie können weitermachen, aber dann auf Kosten des Kollegen Felgentreu.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das mache ich nicht, liebe Frau Präsidentin. – Deshalb sage ich: Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst zwei Vorbemerkungen. Eigentlich hat die AfD hier vier Anträge im Kontext der Bundeswehr angekündigt, aber dann offensichtlich nur zwei auf die Reihe gebracht. Das ist auch irgendwie typisch; aber ehrlich gesagt ist es auch besser so. ({0}) Einer der Anträge, die die AfD angekündigt und dann nicht auf die Reihe gebracht hat, wäre der Antrag zu einsatzbedingten psychischen Erkrankungen von Bundeswehrsoldaten gewesen. Das ist ein sehr ernstes Thema. Bei nicht wenigen Soldatinnen und Soldaten treten durch das Agieren in Auslandseinsätzen sogenannte Posttraumatische Belastungsstörungen auf – ein Thema, dem sich das Verteidigungsministerium widmet, aber nicht genug. Unabhängig davon, dass wir als Linke Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich ablehnen, ist uns das Thema wichtig. Der BundeswehrVerband hat dazu jüngst eine wichtige Studie vorgelegt mit einer Reihe von sinnvollen Vorschlägen, darunter auch, dass nicht nur Menschen in den Einsatzgebieten selbst PTBS haben können, sondern zum Beispiel auch Drohnenpiloten, die in Jagel, Schleswig-Holstein, stationiert sind. Auch hier ist eine Anerkennung von PTBS durch die Einsatzmitwirkung dringend notwendig. ({1}) Kümmern Sie sich mehr um die Soldatinnen und Soldaten, die nach einem Auslandseinsatz unter den Einsatzerfahrungen leiden. Noch besser wäre es natürlich, die Soldatinnen und Soldaten erst gar nicht in die Auslandseinsätze zu schicken. ({2}) Nun zu den Anträgen der AfD, die sie geschafft hat vorzulegen. Was wir in den Anträgen lesen mussten, ist AfD in Reinform: zurück zur vermeintlich guten alten Zeit. Die AfD will die Wehrpflicht reaktivieren – für Männer. Für Frauen soll jetzt die Verpflichtung zu einem Sanitätsdienst für den Verteidigungsfall ausgeplant werden. Was ein Unsinn! ({3}) Das ist ein völlig überkommenes Rollenverständnis. Da steht doch tatsächlich – ich zitiere –: „Wer aus Gewissensgründen den Ehrendienst nicht antreten kann, hat seinen Beitrag zur zivilen Verteidigung Deutschlands zu leisten.“ Die AfD hat offensichtlich bis heute nicht kapiert, warum es richtigerweise Kriegsdienstverweigerung in der damaligen Wehrpflichtarmee gegeben hat. Bis heute ist die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung wichtig, auch wenn die Bundesregierung dies durch Rückforderung von Ausbildungskosten immer schwieriger macht. Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz ist im Übrigen älter als die Bundeswehr selbst. Die Bundeswehr wurde erst durch die Wiederbewaffnung eingeführt. Das, was Sie quasi mit den Zivildienstleistenden machen wollen – Sie wollen sie zu zivilen Helfern der Bundeswehr degradieren –, das war nie Gedanke beim Zivildienst. ({4}) Was die AfD will, ist „zurück in die alte Zeit“, diesmal mit Kasernierung, zwölf Monaten Drill für alle jungen Männer. Und es ist schon interessant, was im Antrag nicht drinsteht. ({5}) Ich habe mir extra mal Ihre Broschüre „Streitkraft Bundeswehr“ angeguckt; ich musste sie lesen. ({6}) Dort steht drin, warum Sie das Ganze wollen. Da schreiben Sie nämlich: „Deutschland erhebt Anspruch auf eine militärische Führungsrolle in Europa.“ Aha! Dafür will also die AfD mehr Soldaten. Da sagen wir als Linke klipp und klar: Solche deutschen Großmachtfantasien lehnen wir ab. Das hat schon mehr als einmal zu Tod und Verderben geführt. ({7}) Was die AfD hier propagiert, ist der alte Militarismus. Die Bundesregierung hat ja leider einen Rekordmilitärhaushalt mit einem Volumen von 53,1 Milliarden Euro nach NATO-Kriterien vorgelegt. Aber selbst das ist der AfD nicht genug. Jetzt sollen es noch mehr Soldaten – und ein paar Soldatinnen – werden. Die AfD ist eine Partei der Aufrüstung. Wie heißt es in dem Antrag? Zitat: Der Personalkörper muss unter Bedrohung aufwachsen und im Extremfall die Bundeswehr auf Kriegsstärke bringen können. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir als Linke fordern. Wir wollen keine Aufrüstung, keine Militarisierung der Gesellschaft. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Broschüre steht zum Beispiel auch: Mit dem Wehrdienst wird auch der Wehrwille des deutschen Volkes gestärkt. ({9}) Es ist schon interessant, was Sie hier so als Ihre Positionen formulieren. Und was sagte Herr Gauland? Die Deutschen haben ein gestörtes Verhältnis zur militärischen Gewalt. ({10}) Und warum? Weil sie – ach, wie schlimm! – Gewalt nicht als legitime „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ betrachteten wie Clausewitz. Da wird es doch ganz deutlich: Die AfD will die Remilitarisierung der Gesellschaft, und sie will das Militär als ganz normales Mittel der Politik etablieren. Dazu sagen wir klipp und klar Nein. ({11}) Die Wehrpflicht ist ausgesetzt. Das ist gut. Das wieder umzukehren, hilft niemandem. Die Bundeswehr wäre auf eine Wehrpflicht nicht vorbereitet. Was wir wollen, ist, dass die Wehrpflicht nicht nur ausgesetzt wird, sondern abgeschafft wird. ({12}) Die Bundeswehr jetzt zu vergrößern, wäre eine Gefahr für Frieden in Europa. Es wäre das grundfalsche Signal. Was wir brauchen, sind Abrüstung und Rüstungskontrollverträge. Aber davon versteht die AfD sowieso nichts. Das kann sie nicht, und das sollte sie auch besser lassen. Die Wehrpflicht ist aus der Zeit gefallen, so wie die Antragsteller auch. Wir lehnen diesen AfD-Zwangsdienst selbstverständlich ab. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das erste Gesetz, das ich hier im Bundestag begleiten durfte, war die Aussetzung der Wehrpflicht. Und jetzt kommen schon wieder welche mit dieser verstaubten Debatte um die Ecke, ganz so, als ob sie die letzten zehn Jahre verschlafen hätten. Wobei Sie – das wurde hier zu Recht noch mal gezeigt – ja nicht nur zehn Jahre zurückwollen, sondern in noch viel dunklere Zeiten. Aber ich bin mir sicher, dass dies nicht der Hintergrund für die Forderung der AfD ist. Mit Sorge höre ich, dass im Zusammenhang mit der Wehrpflicht auch aus einer ganz anderen Ecke eine Frage gestellt wird: Würde die Einführung der Wehrpflicht nicht gegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr helfen? – Ich glaube, nein. Die Lehre aus den letzten Jahren muss doch sein, dass eben nicht jeder dort richtig ist, sondern dass man vielmehr genauer hinschauen muss, ({0}) wer mit welcher Motivation den Dienst bei den Streitkräften leistet. ({1}) Wer in unserer Demokratie das Gewaltmonopol ausübt, an den stellt die Gesellschaft zu Recht sehr hohe Anforderungen. Ich kann nach vielen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten sagen: Die große Mehrheit der Menschen in der Bundeswehr erfüllt diesen Anspruch mit Bravour. Es ist gerade auch in ihrem Interesse, dass klargemacht wird, dass für Feinde der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, für Rechtsextremisten und Reichsbürger, für Spione und Islamisten kein Platz in der Bundeswehr sein darf. Da ist jeder Fall ein Fall zu viel, jeder Fall eine große Gefahr für Sicherheit und Demokratie. ({2}) Wenn Rechtsextremisten in unseren Sicherheitsbehörden entdeckt werden, dann braucht es schnellere Verfahren und klarere, härtere Konsequenzen. Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren mit vielen tapferen Soldatinnen und Soldaten gesprochen, die Probleme aufgedeckt haben – ob es um Auslandseinsätze, um Rechtsextremismus oder um Rüstungsskandale ging –, mit Soldatinnen und Soldaten, die eben nicht wegschauen und ein hohes Verantwortungsgefühl zeigen. Die müssen wir stärker in dieser Haltung unterstützen. Wir entscheiden als Parlament am Ende darüber, ob Soldatinnen und Soldaten in gefährliche Einsätze geschickt werden. In elf Jahren im Verteidigungsausschuss habe ich eine Sache an unserer Arbeit besonders zu schätzen gelernt – man sieht es seltener hier im Plenum, man erlebt es eher hinter den verschlossenen Türen des Ausschusses –: Am Ende wollen alle demokratischen Fraktionen dieser Verantwortung gerecht werden, egal ob sie Auslandseinsätzen zustimmen oder sie kategorisch ablehnen. So zum Beispiel, als uns die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen erzählt haben, dass sie keine Möglichkeit haben, mit ihren Familien in Deutschland über Video zu telefonieren. Das Verteidigungsministerium meinte damals: „Das geht technisch gar nicht“, obwohl nahezu alle anderen Staaten das ermöglicht haben. Der Verteidigungsausschuss hat über Fraktionsgrenzen hinweg nicht lockergelassen und gegen alle „Geht doch nicht“-Bedenkenträger das möglich gemacht, auch wenn sicherlich noch nicht alles perfekt ist. Und als es um an Körper und Seele verwundete Soldatinnen und Soldaten ging, haben wir gemeinsam die ursprüngliche Rechtsauffassung des Ministeriums widerlegt. Wir haben auch hier gegen die „Geht nicht“-Front die Beweislast zugunsten der Betroffenen umgekehrt. Und wir machen weiter Druck, dass sich Behandlung und Betreuung verbessern und die belastenden Wartezeiten geringer werden. In diesem Sinne werden wir von den demokratischen Fraktionen weiter zusammenarbeiten, in der Verantwortung gegenüber unserer Parlamentsarmee. Schaufensteranträge, selbsternannte Fürsprecher und verstaubte Antworten aus der Mottenkiste hat es dafür in den letzten Legislaturperioden nicht gebraucht, und die braucht es auch jetzt nicht. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Ingo Gädechens das Wort. ({0})

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat sich in dieser Woche ja wieder so einiges geleistet. Was liegt da näher, als an einem Freitagvormittag über zwei inhaltslose Anträge dieser Fraktion zu debattieren? Nach Ihrer Auffassung soll durch die Reaktivierung der allgemeinen Wehrpflicht endlich wieder eine Armee von Bürgern in Uniform entstehen. Aus welcher Mottenkiste, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, stammt denn bitte dieser Satz? ({0}) Merken Sie gar nicht, dass Sie damit den jetzt aktiven Zeit- und Berufssoldaten unserer Bundeswehr attestieren, dass sie nach Ihrer Diktion keine Bürger in Uniform sind, ({1}) sondern nach Ihrer Meinung dafür dringend eine Wiedereinführung der Wehrpflicht notwendig ist? – Nein, ich stelle mich vor die Soldatinnen und Soldaten, die jetzt in der Bundeswehr aktiv ihren Dienst leisten. Das sind Bürger in Uniform. ({2}) Wie rückwärtsgewandt und aus der Zeit gefallen Ihre Formulierungen im Antragstext sind, erkennt man an nur wenigen Sätzen. Mir scheint, die AfD hat sich das Ziel gesetzt, die Lufthoheit über Stammtische zu erreichen, die es in Wirklichkeit gar nicht mehr gibt. Alles getreu dem Motto: Früher war alles besser. Meine Damen und Herren, früher war nicht alles besser. Ich habe weit über 30 Jahre in dieser unserer Bundeswehr gedient, habe Wehrpflichtige kommen und gehen gesehen. Ich habe viele positive Erfahrungen hinsichtlich der unterschiedlichen Charaktere, die aus den unterschiedlichsten sozialen Verhältnissen kamen und ganz unterschiedliche geistige Fähigkeiten in die Truppe eingebracht haben. Der hochintelligente Abiturient merkte schnell, dass auch der nicht so schlaue Hauptschüler Fähigkeiten in die Gruppe, in den Zug, in die Kompanie mit einbrachte, die für ein gut funktionierendes Team von elementarer Bedeutung waren. Ja, es stimmt, die Bundeswehr wie auch der Zivildienst waren so etwas wie eine Schule der Nation, in der man Rücksichtnahme, Toleranz und Teamfähigkeit erlernen konnte – ein wunderbarer Nebeneffekt für einen anspruchsvollen und fordernden Dienst an der Waffe. An diesen Nebeneffekt erinnern sich viele mittlerweile älter gewordene Männer, Herr Lucassen, sehr gerne, und in den Erinnerungen bleibt bekanntlich oftmals nur das Gute haften. Es stimmt: Die Wehrpflicht oder der Zivildienst war das letzte Element in unserer Gesellschaft, welches sehr stark verdeutlichte: Dieser Staat gibt dir nicht nur etwas, sondern er kann dir für die Sicherheit Deutschlands auch eine Pflicht auferlegen. In meinen aktiven Dienstjahren war ich ein starker Befürworter der Wehrpflicht; aber die Zeiten haben sich rasant geändert. Die Anforderungen an modernes Gerät, eine immer anspruchsvollere Ausbildung beförderten schon damals die Wehrpflichtigen immer mehr ins Abseits. Als sich nach der Bundestagswahl 2009 die FDP und die CDU/CSU darauf einigten, die Wehrpflicht auf nur noch sechs Monate zu reduzieren, war mir bewusst, dass solche Wehrpflichtigen die aktive Truppe mehr be- als entlasten würden. Der eigentliche Auftrag der Bundeswehr lautete damals wie heute: Bündnis- und Landesverteidigung und nicht Schule der Nation, um eventuell vorhandene Defizite aus der Jugend- oder Schulzeit zu reparieren. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht vor zehn Jahren wurde der gesamte Apparat an freiwillig dienstleistende Zeit- und Berufssoldaten angepasst. Kreiswehrersatzämter mussten nicht mehr Heerscharen von jungen Männern auf Diensttauglichkeit untersuchen. Die Zahl von Ein- und Auskleidekammern wurde dezimiert, Ausbildungskapazitäten angepasst und individualisiert. Die Grundausbildung konnte professionalisiert werden, weil man nun wusste, dass die Soldatinnen und Soldaten nicht nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung stehen, sondern dass die Ausbildung für sie weitergehen kann. Eine seriöse Antwort, wie und mit welchem finanziellen Aufwand das Rad nun wieder zurückgedreht werden soll, bleibt uns die AfD als Antragstellerin natürlich schuldig. Meine Damen und Herren, machen Sie weiter in Ihren rückwärtsgewandten Träumereien. Meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, wird sich um die wirklichen, um die zukunftsfähigen Aufgaben für die Bundeswehr kümmern. Darin sehen wir unsere Aufgabe, und deshalb lehnen wir diesen Antrag in konsequenter Art und Weise ab. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jan Nolte für die AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Derzeit sind mehr als 21 000 Stellen in der Bundeswehr unbesetzt. Das klingt schlimm, aber die Realität ist noch schlimmer. Die Musterungskriterien wurden gelockert, damit man heute auch Bewerber zu Soldaten machen kann, die man früher nicht genommen hätte. Es ist seit Aussetzung der Wehrpflicht auch deutlich schwerer geworden, ungeeignete Rekruten wieder loszuwerden. Sprechen Sie mal mit den Ausbildern. Die Soldaten sollen länger in der Bundeswehr bleiben, die Bundeswehr soll also älter werden, und es sind zum Teil von vornherein viel zu wenig Stellen ausgeplant. Es gibt Bataillone, die auf dem Papier eine gute Personallage aufweisen, die mit ihren Leuten aber nur deswegen klarkommen, weil das Material, das ihnen zustünde, auch nicht da ist. Die Wehrpflicht bringt jungen Menschen wichtige Tugenden für das ganze Leben bei und vereint Bundeswehr und Gesellschaft. ({0}) Frank-Walter Steinmeier, den ich sicherlich nicht oft zitiere, beklagt in seiner Rede zum 65. Geburtstag der Bundeswehr, dass das Wissen über die Bundeswehr mit Aussetzung der Wehrpflicht abgenommen habe. Hier sehen Sie, liebe SPD, dass eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht auch Ihnen direkt zugutekäme; dann würde in Zukunft nämlich wieder jeder den Unterschied zwischen deutschen und belgischen Soldaten erkennen. ({1}) Wer im Bundestag regelmäßig die Solidarität mit der Bundeswehr betont, der kann sich vor der Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht länger drücken. Und ja, dafür brauchen wir Einheiten, Infrastruktur und Ausrüstung, wir können die Wehrpflicht nicht übermorgen wieder einführen; das ist vollkommen klar. Aber wenn wir heute planen, wie das deutsche Heer im Jahre 2032 aussehen soll oder welches Kampfflugzeug wir im Jahr 2040 haben wollen, liebe Kollegen, dann können wir uns auch jetzt für die Wiedereinführung der Wehrpflicht entscheiden. Dass es noch ein paar Jahre dauert, bis das dann umgesetzt ist, ist überhaupt kein Hinderungsgrund. ({2}) Wer meint, dass man aufgrund von moderner Technik heute keine Wehrpflichtigen mehr brauche, der möge dies bitte auch Staaten wie Russland, China oder Israel erzählen – alles Staaten, die Streitkräfte haben, die uns in vielen Punkten technisch voraus sind und die Wehrpflichtarmeen sind. Tun wir Gesellschaft und Bundeswehr etwas Gutes, und führen wir die Wehrpflicht wieder ein! ({3}) Kurz noch ein Wort zu unserem zweiten Antrag. Der bezieht sich auf die gesundheitlichen Risiken, denen Soldaten ausgesetzt sind, die regelmäßig mit leichten Druckwellen zu tun haben; beispielsweise die Breacher der Spezialkräfte. Herr Otte, wenn Sie sagen, es gebe noch keinen einzigen Fall, dann zeigt das, dass Sie sich damit nicht so richtig befasst haben; denn das gehört zu dem, was man eben noch erforschen muss. ({4}) Wie wirken sich diese ständigen, wiederholten Druckwellen aus? Was sind Symptome daraus? – Das war also der beste Beweis dafür, dass diese Forschung nötig ist. Das fordern wir. Wir möchten nur, dass herausgefunden wird, welchem Risiko unsere Soldaten ausgesetzt sind. Dies nicht zu wollen, hieße ja: Ich will gar nicht wissen, welche Risiken für unsere Soldaten entstehen. Und das, liebe Kollegen, wäre ja völliger Wahnsinn. ({5}) Deswegen rechne ich nachher mit breiter Zustimmung zu unserem Antrag. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Fritz Felgentreu hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Mal ruft die AfD-Fraktion das Thema Wehrpflicht auf. Sie wollen die Reform von 2011 rückgängig machen, mit der die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Lassen Sie mich eine Anmerkung vorausschicken: Die Jahre der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013, lieber Ingo Gädechens, waren schlechte Jahre für die Bundeswehr. Der Verteidigungsetat stagnierte, und kurzsichtige Sparmaßnahmen, zum Beispiel der weitgehende Verzicht auf die Bevorratung mit Ersatzteilen, haben die Einsatzbereitschaft massiv geschwächt. ({0}) Und auch die Wehrpflicht wurde mit einer ebenfalls nicht durchdachten Reform ausgesetzt, bei der es vor allem darum ging, dass sich der damalige Verteidigungsminister in der Öffentlichkeit als mutiger Modernisierer stilisieren wollte. Die SPD hat dem Gesetz damals aus gutem Grund nicht zugestimmt. Seitdem wir wieder ein Teil der Regierungsmehrheit sind, arbeiten wir daran, die Erblast dieser vier Jahre abzutragen, und wir sind immer noch nicht am Ziel. Mit dem AfD-Antrag könnte ich es mir einfach machen. Sie gehen mit keinem einzigen Wort auf die verfassungsrechtlichen und praktischen Probleme ein, die mit der Rückkehr zur Wehrpflicht zusammenhängen. Die Voraussetzungen dafür sind einfach nicht da. Die Wehrpflicht muss nach dem Grundgesetz mit den Erfordernissen der Sicherheit Deutschlands begründet werden. Das kann in der gegenwärtigen Lage nicht gelingen, und wir sollten uns hier auch alle keine Lage wünschen, in der es doch wieder gelingen könnte. Und was die Praxis angeht: Der Umbau der Bundeswehr zur Freiwilligenarmee ist abgeschlossen. Das bedeutet: Sie hat keine Unterkünfte für Wehrpflichtige mehr, keine Ausbilder, keine Waffen, kein Gerät. Die gesamte Struktur müsste neu aufgebaut werden. Die dafür notwendige Anstrengung wäre gerade kein Beitrag zur Stärkung von Bündnis- und Landesverteidigung – im Gegenteil! Die Wiedereinführung der Wehrpflicht würde die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr um 10 bis 15 Jahre zurückwerfen und behindern. Sie zitieren ja in Ihrem Antrag Hans-Peter Bartels – ein kluger Mann. Er ist exakt dieser Meinung; Sie sollten ihm besser zuhören. ({1}) Dazu kommt, dass ein solcher Schritt die Bündnisfähigkeit Deutschlands schwächen würde. Um heute als Bündnispartner bestehen zu können, braucht die Bundeswehr sowohl in den Einsätzen als auch bei Übungen und einsatzgleichen Verpflichtungen in der Bündnis- und Landesverteidigung hochprofessionelle Streitkräfte. Der notwendige Ausbildungsstand ist mit einer einjährigen Wehrpflicht nicht zu erreichen. Die im Vergleich oberflächliche Ausbildung der Wehrpflichtigen aber würde der Truppe Personal mit gutem Ausbildungsstand entziehen: für Führung und Ausbildung. Ein weniger bündnisfähiges Deutschland ist aber auch ein weniger sicheres Deutschland. Die AfD würde mit ihrer Politik genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie angeblich erreichen will. ({2}) Es wäre also relativ leicht, Ihren Antrag aus sachlichen Gründen zurückzuweisen. Ich will es dabei aber nicht bewenden lassen. Wenn ich Ihren Antrag lese, erkenne ich neben der national-konservativen Verklärung wehrpolitischer Ideen des 19. Jahrhunderts auch Motivationen, die eine eigene Auseinandersetzung verdienen. Lassen Sie mich etwas weiter ausholen. Bei meinen Standortbesuchen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das Thema Wehrpflicht die Soldaten und Soldatinnen beschäftigt. Gerade die Dienstälteren, oft vor allem Portepeeunteroffiziere, empfinden die Lücke, die die Aussetzung der Wehrpflicht gerissen hat, durchaus und auch schmerzlich. Sie vergleichen die Bundeswehr von heute mit der Bundeswehr, in der sie selber groß geworden sind, und stellen fest, dass sie die Zeiten der Wehrpflicht in guter und im Vergleich oft in besserer Erinnerung haben. Manch einer hat seinen Weg zum Berufssoldaten als Wehrpflichtiger begonnen; das kommt dazu. Die Stichworte, die in diesem Zusammenhang fallen, haben in der Regel wenig mit Einsatzbereitschaft und Bündnisfähigkeit zu tun. Die Wehrpflicht steht hier für eine tiefere Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft als ganzer. Und natürlich: Wenn jede Familie sich mit dem Thema auseinandersetzen muss, ob ihre jungen Männer Wehr- oder Zivildienst leisten, dann wird die Bundeswehr viel stärker als integraler Bestandteil des großen Ganzen wahrgenommen. Und die Wehrpflicht fehlt vielen auch als Talentreservoir. Wie oft haben junge Männer erst als Wehrpflichtige gemerkt, dass der Beruf des Soldaten ihre Berufung ist, und haben dann ihr Berufsleben in den Dienst der Landesverteidigung gestellt. Diesen Weg in die Truppe gibt es nicht mehr, und ich würde gar nicht bestreiten, dass er fehlt. Ihr Lösungsweg aber, meine Damen und Herren, ist entweder eine Illusion oder – wenn Ihnen nämlich klar ist, dass es so nicht geht – eine Scharade. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, denen, die aus absolut verständlichen Gründen der Wehrpflicht nachtrauern, die Wahrheit zu sagen. Es gibt kein Zurück in die 80er- oder auch nur in die 90er-Jahre! ({3}) Diese Bundeswehr gibt es nicht mehr, und sie kommt auch nicht mehr zurück. Ich rekapituliere kurz, warum das so ist: Erstens. Rekrutierungssorgen und die Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft sind keine Begründungen, die sich aus dem Grundgesetz ableiten lassen. Dort sind die Erfordernisse der Sicherheit ausschlaggebend. Zweitens. Die Gründe für die Aussetzung der Wehrpflicht sind inzwischen nicht entfallen; vor allem ist auf der Basis einer zwölfmonatigen Wehrpflicht Wehrgerechtigkeit nicht zu erreichen. Eine noch kürzere Wehrpflicht wäre militärisch sinnlos. Drittens. Der von Ihnen geforderte Weg ist nicht praktikabel. Die Rückkehr zur Wehrpflicht würde die Bundeswehr auf unabsehbare Zeit nicht stärker, sondern schwächer machen. Eine denkbare Perspektive besteht allenfalls in dem immer wieder heiß diskutierten Modell einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Menschen beiderlei Geschlechts. Darüber gibt es im Lande und auch in meiner Partei unterschiedliche Meinungen: ({4}) Die einen sehen es als unzulässigen Eingriff in die individuelle Freiheit, ({5}) die anderen als sinnvollen Beitrag zu mehr Gemeinsinn, der unserer fragmentierten Gesellschaft guttun würde. Dazu tendiere auch ich eher. Beide Seiten haben starke Argumente. Die Sicherheit Deutschlands aber, und das ist entscheidend, wird normalerweise weder in Argumenten pro noch kontra allgemeine Dienstpflicht angeführt. Die Voraussetzung für eine so große Reform wäre in jedem Falle ein so breiter gesellschaftlicher und politischer Konsens, dass er eine Änderung des Grundgesetzes möglich macht. Das zeichnet sich aber noch nicht einmal ansatzweise ab. Lassen Sie uns also deshalb vor allem daran arbeiten, wie wir die Probleme der Bundeswehr mit den Mitteln lösen, die uns realistischerweise zur Verfügung stehen. Bekennen wir uns zu unserer Parlamentsarmee, die aus Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen in Uniform besteht. Gerade in diesen Tagen der Coronapandemie sprechen wir davon, wie wichtig der Dienst der Soldaten und Soldatinnen für unser Land ist. Und lassen Sie uns diese Bundeswehr so ausstatten, dass alle, die darin dienen, ihren Dienst als sinnvoll und erfüllend erleben und diese Zufriedenheit in ihrem persönlichen Umfeld auch ausstrahlen. Dann ist mir um geeigneten und motivierten Nachwuchs für die Bundeswehr – auch ohne Wehrpflicht – überhaupt nicht bange. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich nutze die Zeit, in der das Pult gereinigt wird, um meine Entscheidung gerade eben zu erläutern. Der Abgeordnete Lucassen hatte sich eben noch einmal zu einer Frage oder Bemerkung gemeldet. Ich kann das natürlich zulassen; aber der Abgeordnete Lucassen hat für seine Fraktion in der Debatte gesprochen, ({0}) hat eine Frage gestellt, und ich bin gehalten, auch dafür zu sorgen, dass die Debatte entsprechend weitergeht und sich nicht Redezeiten verdoppeln und verdreifachen. Das ist der Hintergrund meiner Entscheidung gerade eben. Das Wort hat nun Dr. Marcus Faber für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Werte rechtsextreme Fraktion, ({0}) Sie beginnen Ihren Antrag mit Bezug auf die Preußische Heeresreform von 1807 ({1}) und übersehen dabei, dass dazwischen über zweihundert Jahre militärtechnische Entwicklung und auch zwei verlorene Weltkriege liegen. Die Zeit hat sich weiterentwickelt; das sollte auch bei Ihnen ankommen. Was steht in Ihrem Antrag? In Ihrem Antrag steht, wie man die Bundeswehr noch ineffektiver machen kann. ({2}) Wenn man die Bundeswehr nachhaltig schädigen möchte, dann führt man jetzt die Wehrpflicht wieder ein. Das ist der sicherste Weg, um die Bundeswehr nachhaltig zu schädigen. ({3}) Das sage nicht nur ich; das sagt der oberste Soldat in Deutschland, der Generalinspekteur der Bundeswehr. Vielleicht hören Sie da mal zu. Sie wollen wieder Wehrpflichtige auf den Kasernenhöfen und übersehen dabei, dass es viele dieser Kasernenhöfe gar nicht mehr gibt, dass es auch die Ausbilder nicht mehr gibt. ({4}) Und was man dann auch mit diesen Wehrpflichtigen in einer modernen, spezialisierten Bundeswehr macht, sagen Sie auch nicht. ({5}) Deswegen steht in Ihrem Antrag eben nicht, wie man die Bundeswehr ins 21. Jahrhundert führt, wie man daraus eine moderne Armee macht, die auch in Zukunft ein intensives Gefecht bestehen kann. Was braucht also die Bundeswehr? Die Bundeswehr braucht keine weiteren Grundsatzreden; davon haben wir genug gehört. Die Bundeswehr braucht drei Dinge: Erstens: Geld. Sie von der AfD wollen Milliarden in die Wiedereinführung der Wehrpflicht stecken, um dann mit dem Volkssturm Interkontinentalraketen abzufangen ({6}) und mit Wehrpflichtigen Cyberangriffe abzuwehren. Dass das irre ist, kann, glaube ich, jeder erkennen. ({7}) Das ist allerdings keine Begründung dafür, warum das Verteidigungsministerium sich hinter Rechenspielen zur NATO-Quote versteckt. Der jetzt hinterlegte Haushalt, der sich gerade in der Abstimmung befindet, kann den Investitionsbedarf nicht decken; er kann auch die Bündnisverpflichtung in der NATO nicht decken. Deswegen sehen wir hier keine Zukunftsfähigkeit bei Ihrer Politik. Zweitens: Beschaffungsdebakel. Bringen Sie Ihre Strukturen in Ordnung! Sie brauchen Jahre, um ein Sturmgewehr zu beschaffen, und schaffen es dennoch nicht, das Projekt über die Ziellinie zu bringen. Frankreich braucht dafür ein Jahr und ist dabei erfolgreich. Vielleicht nehmen Sie sich daran mal ein Beispiel. Ansonsten müssen Sie sich nicht wundern, wenn der französische Staatspräsident Ihnen mit Anlauf vors Schienbein tritt. Es geht jetzt nämlich nicht mehr um Grundsatzreden, sondern – das ist der dritte Punkt – jetzt geht es um Machen, Machen, Machen. In der Truppe heißt es: Machen ist wie Wollen, nur krasser. – Ich glaube, daran kann sich das Bundesverteidigungsministerium mal orientieren. Ich glaube, es ist sinnvoll, wenn sich die Ministerin mehr mit Soldatinnen und Soldaten unterhält und etwas weniger mit Herrn Laschet und Herrn Merz. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter Faber, ich werde mir das Vorabprotokoll bringen lassen und werde prüfen, inwieweit für Ihre Anrede nach der Begrüßungsformel eine entsprechende Rüge oder Ordnungsmaßnahme angesagt ist. Ich behalte mir das vor. ({0}) – Herr Kollege Trittin, Sie bewegen sich gerade auf einem schmalen Grat, ganz egal, wie die Abgeordnete Pau sich verhalten würde, wenn sie für ihre Fraktion unterwegs wäre. ({1}) Im Moment ist hier die Vizepräsidentin Pau, die entsprechend die Verhandlungen führt. ({2}) Das Wort hat Dr. Tobias Lindner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({3})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Reden wir mal über die Probleme, die die Bundeswehr heute tatsächlich hat. Die Probleme resultieren aus einer unklaren politischen Strategie: Träume über den Indopazifik, während man es noch nicht mal schafft, ein Sturmgewehr zu beschaffen; das ist jetzt wirklich nicht unbedingt Rocket Science, um es Neudeutsch zu sagen. Die Probleme liegen beim Material, dessen Beschaffung lange dauert, noch mehr kostet und am Ende des Tages doch nicht funktioniert. Und ja, die Probleme liegen auch beim Personal und in Stellen, die nicht besetzt sind. Was braucht es dafür? Dazu braucht es eine verantwortungsbewusste Art der Rekrutierung, dazu braucht es Verlässlichkeit seitens des Dienstherrn, dazu braucht es Planbarkeit des Dienstes in der Bundeswehr und Perspektiven für die Zeit nach dem Dienst. Das alles braucht es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darüber hätte die AfD heute in ihrem Antrag ja sprechen können. Und was machen Sie stattdessen? Sie wollen die Probleme der Bundeswehr von heute und von morgen mit den Ideen von gestern und vorgestern lösen. Das verrät vieles über Ihre Kompetenz auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. ({0}) Sie nehmen in Ihrem Antrag ja Bezug auf die preußischen Heeresreformer: auf Gneisenau, auf Clausewitz, auf Scharnhorst. Das waren Menschen ihrer Zeit, die die Probleme ihrer Zeit mit Mitteln ihrer Zeit beantworten wollten. Wenn heute Soldatinnen und Soldaten einem demokratischen Deutschland – um Bundespräsident Gauck zu zitieren: „das beste, das wir kennen“ – dienen, dann muss der Dienstherr, dann muss dieses Hohe Haus ja vor allem eine Frage beantworten: Wofür kämpfen? Wenn Soldatinnen und Soldaten schwören und geloben, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, dann ist das der Kern dessen, wofür sie kämpfen. Es geht nicht darum, einen Ehrendienst, so wie Sie es schreiben, zu leisten, der inhaltsleer ist, sondern die Soldatinnen und Soldaten eines demokratischen Deutschlands sind dem Grundgesetz, seinen Institutionen und den Werten, auf denen es basiert, verpflichtet. Herr Lucassen, Herr Gauland, nach dem, was wir am Mittwoch hier in diesem Haus durch Schleuser Ihrer Fraktion erlebt haben, und nach dem, was nach einer geheuchelten Entschuldigung von Ihnen heute hier abging, ist es, finde ich, ein starkes Stück, dass Sie sich jetzt allen Ernstes an dieses Pult stellen und über Sicherheit und Sicherheitspolitik reden wollen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jeden Anspruch verspielt, den Soldatinnen und Soldaten Tipps zu geben, wie man anständig und aufrecht diesem Land, seinen Werten und seinen Institutionen dient. Deswegen: Ziehen Sie am besten Ihren Antrag zurück. Hierzu ist alles gesagt. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jens Lehmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion arbeitet sich ja nun schon länger an der Wehrpflicht ab. Aber selbst wenn Sie von Scharnhorst zitieren, werden Ihre Argumente nicht besser. Dabei sollten Sie die Signale aus der Bundeswehr einfach mal richtig deuten. Die Truppe selbst sagt, dass sie einer Reaktivierung der Wehrpflicht sehr kritisch gegenübersteht. Wer so wenig am Puls der Truppe ist, sollte nicht von sich behaupten, die Partei der Soldaten zu sein. ({0}) Meine Damen und Herren, der Bundestag hat vor knapp zehn Jahren beschlossen, die Wehrpflicht auszusetzen. Ja, dieser Schritt war schmerzhaft. Die Wehrpflicht war zu Zeiten des Kalten Krieges sinnvoll und hat sich damals bewährt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Darauf hat die Politik reagiert. Steigende Einsatzverpflichtungen und die sinkende Zahl der Wehrpflichtigen in Deutschland waren damals die wesentlichen Treiber, die Wehrpflicht auszusetzen und stattdessen das System der freiwillig Wehrdienstleistenden zu installieren. Der Grundgedanke von damals ist auch heute noch richtig: Ein längerer freiwilliger Dienst ermöglicht die Ausbildung für das gesamte aktuelle Einsatzspektrum der Bundeswehr, was mit einem Wehrdienst in seinem klassischen Sinne nicht mehr möglich war. Werte Kollegen, wir alle wissen, dass die Bundeswehr ihrer originären Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung wieder mehr Aufmerksamkeit widmen muss. Die geopolitischen Verhältnisse haben sich nicht zum Besseren verändert. Im Gegenteil: Wir sehen, dass Russland unverhohlen seine alte Stärke wiederaufleben lassen will, und wir sehen, dass China mehr und mehr Einfluss nimmt. Dennoch ist der Weg, den die AfD mit ihrem Antrag gehen will, nicht der richtige. Denn die Antwort auf die Frage nach der Zahl von mindestens 30 000 Wehrpflichtigen – wie kommen Sie auf diese Zahl? – bleibt die AfD schuldig. ({1}) 2009 hatten wir zuletzt 68 000 Grundwehrdienstleistende und freiwillig länger dienstleistende Soldaten eingezogen. Schon damals hieß es, die Wehrgerechtigkeit sei nicht mehr gegeben, da der überwiegende Teil eines Jahrganges nicht mehr eingezogen wurde. Meine Damen und Herren, diese Ungerechtigkeit würde der AfD-Antrag sogar noch vergrößern. Denn wie wollen Sie den 30 000 jungen Männern erklären, warum sie jetzt ihren zwölfmonatigen Dienst antreten müssen, die überwiegende Mehrheit aus ihrem Jahrgang aber eine Ausbildung oder ein Studium beginnen kann? Mit Ihrem Antrag zementieren Sie die Ungleichheit eines Jahrgangs. Das kann niemand wollen. ({2}) Lassen Sie uns vielmehr darüber diskutieren, wie wir die Bundeswehr attraktiver für junge Menschen machen, damit die Leute freiwillig zur Bundeswehr gehen. Diesen Punkt haben Sie ja richtigerweise in Ihrem Antrag erkannt. Ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin: Die Bedingungen und Chancen des Wehrdienstes müssen so beschaffen sein, dass sich idealerweise die jungen Männer um die Wehrpflicht-Stellen bewerben. Zitat Ende. – Das kommt ja faktisch einer Freiwilligkeit gleich, und damit würden wir viel mehr erreichen. Denn wer sich freiwillig meldet und um den Dienst in der Bundeswehr bewirbt, macht dies aus Überzeugung. Diese Motivation brauchen wir. Wir müssen dafür sorgen, dass der Dienst in der Bundeswehr so attraktiv und in der Gesellschaft anerkannt wird, dass sich viele junge Menschen freiwillig für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden und damit aktiv unsere Werte verteidigen und unser Land in Frieden und Freiheit bewahren. Um den Dienst in den Streitkräften für junge Menschen so attraktiv wie möglich zu machen, haben wir nunmehr zwei Säulen, die sich sehr gut ergänzen: das bewährte System des freiwillig Wehrdienstleistenden mit bis zu 23 Monaten Dienstzeit am Stück sowie das neu eingeführte Angebot „Dein Jahr für Deutschland“, welches Sie ja wieder abschaffen wollen. Das Konzept des Freiwilligenjahres zielt effektiver auf die langfristige und emotionale Bindung der Wehrdienstleistenden an die Streitkräfte. Bei der Wehrpflicht, die Sie wieder einführen wollen, ist nach zwölf Monaten Schluss. Im Freiwilligenjahr dienen die Menschen sieben Monate am Stück. Die restlichen fünf Monate werden in einzelnen Abschnitten innerhalb von sechs Jahren geleistet. Werte Kollegen, der vorliegende Antrag ist aus vielen Gründen abzulehnen, nicht zuletzt, weil einige Forderungen darin bereits umgesetzt sind. Daher sollten wir unsere Anstrengungen lieber darauf verwenden, den Dienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen; denn dadurch gewinnen wir motivierte junge Menschen für den Dienst in den Streitkräften. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin im Oktober 1995 meinen Wehrdienst bei der 1. Gebirgsdivision angetreten. Ich habe dort gerne gedient. Ich war einer von zwei Abiturienten in meinem Zug. Wir waren acht Mann auf der Stube. Ich habe da Erfahrungen gemacht, die ich wahrscheinlich ohne die Bundeswehr nie gemacht hätte. Ich habe Freundschaften geknüpft, die bis heute halten, und möchte diese Erfahrung tatsächlich nicht missen. Deswegen war ich 2010, als zum ersten Mal diskutiert wurde, ob wir möglicherweise die Wehrpflicht aussetzen, tatsächlich auch ein Stück weit geschockt von meinem eigenen Parteikollegen und damaligen Verteidigungsminister. Ich habe heftig mit ihm gestritten, und er hat gesagt: Florian, tue mir einen Gefallen. Nutze die Möglichkeiten als Abgeordneter, geh in die Truppe und schau dir an, wo heute – damals, 2010 – die Wehrpflicht steht. Ich habe das gemacht und festgestellt: Die Erfahrungswelt der Wehrpflichtigen 2010 war nicht mehr die Erfahrungswelt von 1995, war nicht mehr meine. Der Blick auf die Organigramme, wo Wehrpflichtige eingesetzt waren, hat gezeigt: Das hatte nichts mehr damit zu tun, die Truppe tatsächlich zu unterstützen und notwendig zu sein, um verteidigungsfähig zu sein. Deswegen war es richtig, damals die Wehrpflicht auszusetzen. Sie hätte vermutlich einer nächsten Überprüfung, auch vor dem Bundesverfassungsgericht, nicht mehr standgehalten. Jetzt zum Antrag der AfD. Im Antrag der AfD wird klar: Es soll die Wehrpflicht nur für Männer geben. Es soll dezidiert keinen Zugang für Ausländer geben; auch nichtdeutsche Freiwillige haben keinen Zugang. Die Frauen sollen bitte einen Sozialdienst ableisten – auch hier eine Verpflichtung –, und es wird vom „Ehrendienst“ gesprochen. Schon zu DDR-Zeiten wurde im Übrigen die Wehrpflicht mit der Bezeichnung „Ehrendienst“ tituliert und auch im Dritten Reich der Reichsarbeitsdienst als „Ehrendienst“ bezeichnet. Das ganze Paket zeigt, welch Geistes Kind die AfD bis heute ist. Das hat, lieber Herr Lucassen, auch nichts mit Konservativsein zu tun. Denn Konservativsein – das hat schon Franz Josef Strauß gesagt – bedeutet, an der Spitze des Fortschritts zu sein, und das sind Sie definitiv nicht. ({0}) Die AfD hätte es uns viel schwerer machen können. Die AfD hätte beispielsweise diskutieren können, ob man einer allgemeinen Dienstpflicht nähertritt. Der Kollege Felgentreu hat viele positive Dinge aufgezählt, die einer solchen Idee tatsächlich entspringen. Aber ich will über Gründe gegen eine allgemeine Dienstpflicht, wie sie auch oftmals in meiner Partei noch diskutiert wird, sprechen. Es gibt einfach keine militärische Notwendigkeit. Um verteidigungsfähig zu sein, brauchen wir keinen Zwangsdienst. Den aktuellen Bedrohungen müssen wir nicht mit einer riesigen Anzahl von Köpfen entgegentreten, sondern mit entsprechenden Fähigkeiten, mit modernen Waffensystemen, mit modernen IT-Systemen, die resilient sind. Wir müssen verteidigungsfähig sein im Sinne von Verfügbarkeit und Durchhaltefähigkeit, aber nicht durch die schiere Anzahl von Köpfen. Die Gefahr eines großen vaterländischen Krieges ist – ich glaube, darin sind wir uns alle einig – so nicht da. Die Gefahren lauern woanders. Hier müssen wir uns tatsächlich besser rüsten. Es gibt aber auch rechtliche Gründe, die gegen eine allgemeine Wehrpflicht sprechen. Eine Grundgesetzänderung wäre notwendig. Eine allgemeine Dienstpflicht verstößt außerdem gegen völkerrechtliche Verpflichtungen. Da seien das ILO-Abkommen oder europäische Abkommen bis hin zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte genannt. Ein weiteres Argument lautet, eine allgemeine Dienstpflicht sei wichtig zum Beispiel für das Gesundheitswesen, für die sozialen Dienste. Da kann man nur den Hinweis geben, dass sich beispielsweise der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Arbeiterwohlfahrt und der VdK gegen einen solchen Dienst aussprechen. ({1}) Weitere praktische Gründe, die gegen eine allgemeine Dienstpflicht sprechen: Eine Wehrpflicht, wie sie die AfD vorschlägt und in deren Folge es 30 000 Wehrpflichtige geben würde, würde bedeuten, dass wir bei einem Faktor von 3,5 Personen, die zur Betreuung eines Wehrpflichtigen notwendig sind – das ist die Erfahrung, die wir in der Zeit der Wehrpflicht gemacht haben –, 105 000 Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten, um diese 30 000 Wehrpflichtigen entsprechend auszubilden. Ich weiß gar nicht, wie es uns mit Blick auf den vorhandenen Fachkräftemangel ({2}) und mit Blick auf die tatsächlich schwierige Situation der Bundeswehr gelingen soll, zusätzlich zu den 30 000 Wehrpflichtigen 105 000 Soldatinnen und Soldaten zu rekrutieren. Es müsste ein riesiger Verwaltungsapparat aufgebaut werden, der über 700 000 Menschen je Alterskohorte entsprechend verwaltet. Das ist ein totaler Irrsinn und würde sicherlich den Fachkräftemangel in unserem Land massiv verstärken. Deshalb setzen wir als CDU/CSU auf eine attraktive, eine freiwillige Bundeswehr, auf eine motivierte Reserve und auf freiwillige Angebote, die attraktiv sind, wie beispielsweise das Deutschland-Praktikum oder „Dein Jahr für Deutschland“. Herzlichen Dank. ({3})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutsche Wiedervereinigung und die Unterzeichnung der Charta von Paris vor 30 Jahren, das war ein Glücksmoment für Deutschland. Es war aber auch vor allen Dingen ein Glücksmoment für Europa; denn dieser Moment bedeutete nicht nur das Ende der Teilung unseres Landes, sondern – so wie es die Charta formuliert hat – vor allen Dingen auch die Hoffnung auf ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit in Europa. Tatsächlich war dieses Europa in den vergangenen 30 Jahren das demokratischste, das stabilste und auch das wohlhabendste seiner Geschichte, und das auch dank der Institutionen, die es dazu gemacht haben: der Europäischen Union, des Europarats, der NATO und auch der OSZE. Aber der Optimismus von 1990 scheint an vielen Ort verflogen zu sein. Konflikte wie zuletzt zwischen Armenien und Aserbaidschan werden mittlerweile wieder mit Waffengewalt ausgetragen und Aufrufe, die Waffen schweigen zu lassen, von den Konfliktparteien abgelehnt. Russland hat – und auch das haben wir nicht vergessen – mit der Annexion der Krim die Friedensordnungen von Helsinki und Paris ganz eindeutig gebrochen. ({0}) Und doch: Gerade für Krisenzeiten haben uns die Schlussakte und die Pariser Charta eine ganz klare Botschaft hinterlassen: Europäische Sicherheit braucht neben Verteidigungsfähigkeit und Stärke auch immer Dialog- und Kompromissbereitschaft. Für diesen doppelten Ansatz brauchen wir eben Organisationen wie die Europäische Union, die NATO und auch eine starke OSZE; denn letztlich sorgt gerade die OSZE für Stabilität in Krisenzeiten und an Krisenorten. Ihre Sonderbeobachtermission in der Ukraine zum Beispiel hilft, den aktuellen Waffenstillstand – den längsten, den wir da bisher hatten – zu sichern. Im Konflikt um Bergkarabach bietet die Minsk-Gruppe der OSZE die zentrale Verhandlungsplattform für eine wirklich nachhaltige politische Lösung. Die OSZE ist auch zentral für die Rüstungskontrolle in Europa. Der von Deutschland 2016 angestoßene „strukturierte Dialog“ soll Gespräche über Frieden und Sicherheit in Europa fördern, im Übrigen auch und gerade mit Russland. Dazu sind Fortschritte im Dialog zwischen den USA und Russland gerade zur nuklearen Rüstungskontrolle und vor allen Dingen zu New START notwendig. Dafür setzt sich die Bundesregierung mit vielen Partnern, die wir in unterschiedlichen Organisationen und auf der internationalen Bühne haben, gerade jetzt ganz besonders ein; denn wir glauben, dass auch die Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten dafür eine große Chance bietet. Wie keine andere Organisation steht die OSZE für umfassende Sicherheit. Frieden und Wohlstand in Europa in den vergangenen 30 Jahren sind eben auch ein Produkt wirtschaftlichen Fortschritts, von Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung von Menschenrechten. Das muss man in diesen Tagen wieder betonen, gerade in Richtung Belarus, wo Herr Lukaschenko endlich zur Kenntnis nehmen muss: Ohne freie und faire Wahlen, ohne Gerechtigkeit und Respekt vor dem eigenen Volk gibt es eben keine Stabilität. Deshalb werden wir nicht aufhören, die OSZE auch in ihren menschlichen und wirtschaftlichen Dimensionen zu unterstützen, gerade auch mit Blick auf diesen Konflikt. ({1}) Meine Damen und Herren, die Welt ist heute – und das ist ja in der letzten Debatte auch schon der Fall gewesen; da ging es um viel größere Zeiträume – eine andere als 1975 oder 1990. Aber die Grundidee der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris, nämlich kooperative Sicherheit als bleibende europäische Aufgabe zu verstehen, dürfen wir auch heute nicht aus den Augen verlieren. So steht es auch im vorliegenden Antrag. In dieser Überzeugung wird sich die Bundesregierung überall, wo sie kann – in den unterschiedlichen Organisationen, auf der internationalen Ebene –, einsetzen und weiter danach handeln. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 45 Jahre Schlussakte von Helsinki und 30 Jahre Charta von Paris, das ist eine lange Zeit, um sich heute folgende Frage zu stellen: Was haben diese beiden Regelwerke eigentlich gebracht? Die Antwort darauf fällt ernüchternd aus. Europa steht heute vor einem neuen Ost-West-Konflikt. Wann also, wenn nicht heute, ist der richtige Zeitpunkt dafür, sich auf die Kernprinzipien der KSZE und ihrer Nachfolgerin, der OSZE, zu besinnen? Bei dieser Besinnung sollten wir die Entwicklung der OSZE in den letzten Jahrzehnten und vor allem ihrer Strukturen kritisch hinterfragen. Was ist so schiefgelaufen, dass wir heute in einem Europa leben, dessen Sicherheitslage fragiler ist, als sie noch vor 20 oder 30 Jahren war? Die knappe Antwort hierauf lautet: Wir haben das Vertrauen zwischen Ost und West zerstört. Wir stecken in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise auf dem europäischen Kontinent. Dabei ist Vertrauen eine Grundbedingung für eine langfristige Friedenssicherung. Das fehlende Vertrauen kann man vor allem in unserem Verhältnis zu Russland feststellen. Bis jetzt haben wir es nicht geschafft, unsere strategischen Interessen im Umgang mit diesem Land zu definieren. Dafür haben wir aber eigentlich alle notwendigen Voraussetzungen; denn die OSZE ist mit ihren 57 Teilnehmerstaaten das größte Sicherheitsforum der Welt. Liebe Kollegen, einen solchen Einsatz für die erste Dimension der Schlussakte von Helsinki, also für die politisch-militärische Zusammenarbeit, vermisse ich in Ihrem Antrag. Ein Überfluss nachgeordneter Themen zeichnet Ihr Vorhaben aus. Wir müssen jedoch zurück zur DNA der OSZE, zu ihren grundlegenden Prinzipien! ({0}) Wir brauchen eine neue europäische Sicherheitsarchitektur auf Basis der Ursprungsprinzipien der KSZE und ihres inklusiven Charakters, vor allem des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Dafür müssen wir die Themen „Rüstungskontrolle“ und „Krisenbewältigung“ ins Zentrum unserer Arbeit stellen. Dazu gehört in erster Linie unser Bemühen um einen Neustart der Beziehungen mit Russland. Nur gemeinsam mit Russland können wir die neuen und zugleich alten Konflikte in Europa angehen und entschärfen. Dafür müssen wir das System der kollektiven Sicherheit im Rahmen der OSZE substanziell erweitern. Meine Damen und Herren, Deutschland als größter Beitragszahler der OSZE in Europa sollte aktiv und zusammen mit seinen Partnern den Reformprozess der OSZE anstreben. ({1}) Dabei muss Deutschland die Rolle als Vermittler zwischen Ost und West wahrnehmen. Die AfD fordert die Bundesregierung daher auf, in Deutschland ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der OSZE zu einer künftigen strategischen Ausrichtung zu realisieren. Der letzte Gipfel fand vor zehn Jahren statt. Bis jetzt waren alle Debatten darüber ergebnislos. Wachen Sie bitte auf! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 45 Jahre KSZE-Schlussakte, 30 Jahre Charta von Paris – das ist der Jahrestag, den wir morgen, am 21. November, begehen –: Das war für die Koalition Grund und Anlass genug, diesen Antrag zum Thema OSZE zu formulieren. Ich freue mich, dass dieser Antrag über die Grenzen der Regierungskoalition hinaus in diesem Hause Zustimmung finden wird. Ich finde es wichtig, dass wir uns einmal rückschauend versichern, was die OSZE für uns geleistet hat; ich denke speziell an die deutsche Geschichte. Ich glaube, dass die Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte von Helsinki in allen ihren drei Paketen – Sicherheit, Wirtschaft, aber eben auch politische und menschliche Freiheiten – im „Neuen Deutschland“ 1975 eben auch ein erster Schritt zur Überwindung der Mauer gewesen ist. Es hat zwar dann noch lange gedauert, bis zum Beispiel der Schießbefehl ausgesetzt wurde. Aber ich glaube, es haben viele Bürgerinnen und Bürger in der DDR diesen Abdruck im „Neuen Deutschland“ in der Schublade in ihrem Nachtkasten gehabt und gesagt: Eines Tages werden wir uns darauf berufen können. – Allein deswegen ist das eine großartige Sache gewesen. ({0}) Die Charta von Paris ist dann tatsächlich so etwas geworden wie das Fundament der europäischen Friedensordnung nach Überwindung des Kalten Krieges. Demokratie, Unverletzlichkeit der Grenzen, Bündnissouveränität: Das sind die Prinzipien, die die Charta von Paris tragen. Die OSZE ist auch insofern einzigartig, als sie tatsächlich auch Kanada und die USA, aber eben auch alle Staaten der früheren Sowjetunion und die Mongolei und die Türkei umfasst. Sie ist also letztlich ein Band des Friedens und der Demokratie von Nordamerika über den Atlantik und Europa bis nach Asien hinein. Das ist ein besonderer, ein einzigartiger multilateraler Ansatz, den wir auf jeden Fall pflegen und schützen sollten. Es gibt eine starke parlamentarische Vertretung. Ich vermute, dass Doris Barnett, die ja auch auf der Rednerliste steht, dazu sprechen wird; deswegen werde ich mich da zurückhalten. Ich freue mich, dass das ein Forum ist, in dem man ganz offen und energisch darüber reden kann. Wir haben dort hitzige Debatten, aber es ist eben auch einer der wenigen Orte, wo tatsächlich unterschiedliche Konfliktparteien aufeinandertreffen und wir unter dem Schutz des Daches der OSZE in der Wiener Hofburg – oder wo wir jeweils immer tagen – die Konflikte entsprechend austragen können. Was ich mir für die Zukunft wünsche – das ist jetzt der Blick nach vorne, und das haben wir im Rahmen der Haushaltsberatungen für den Bundeshaushalt natürlich auch immer im Auge –: Die OSZE ist stark beim Monitoring von Wahlen, von demokratischen Prozessen in den Mitgliedstaaten. Sie ist stark bei der Überwachung von Waffenstillständen oder der Einhaltung von entsprechenden Verträgen. Sie könnte auch dort stark sein, wo es um die Moderation von Friedensprozessen geht. Dass der Konflikt um Bergkarabach so lange ungelöst blieb, muss uns auch in der OSZE dazu bringen, die Frage zu stellen: Warum ist es eigentlich in den letzten 25 Jahren nicht gelungen, da mehr zu tun, als wir getan haben? Aber es ist auch erforderlich, dass es eine entsprechende Ausstattung dafür gibt. Wenn wir zum Beispiel in Belarus möglicherweise schon bald neue Wahlen haben, dann muss eben auch die OSZE personell, inhaltlich und technisch aufgestellt sein, um ihre Arbeit zu schaffen. ({1}) Ich glaube, dass Deutschland das Jubiläum zum Anlass nehmen sollte, auch zu prüfen, ob wir ausreichend Mittel bereitstellen, damit diese Fähigkeiten der OSZE sozusagen auf Knopfdruck abrufbar und verfügbar sind. Ich wünsche der OSZE noch eine gute Zukunft, dass sie die zentrale Dialogplattform für Sicherheit, Freiheit und Demokratie über die Kontinente hinweg bleiben wird. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich komme zurück auf meine Ankündigung beim vorherigen Tagesordnungspunkt. Ich habe jetzt den Vorabauszug des Protokolls der Rede des Abgeordneten Dr. Marcus Faber hier. Ich fordere Sie auf, Herr Dr. Faber, sich zukünftig bei der Anrede und natürlich auch im Redebeitrag einer parlamentarischen Ausdrucksweise zu befleißigen, und hoffe, dass sich das nicht wiederholt. Das Wort hat der Abgeordnete Michael Link für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, 30 Jahre Charta von Paris, 30 Jahre Kopenhagener Dokument, viele andere Grunddokumente der OSZE: Das war, wie man sagt, eine andere Zeit. Manche sagen vielleicht: Da gingen Dinge, die sonst nicht gingen. – Aber sie gingen, und sie wurden genutzt. Damals wurde etwas geschaffen, weil man bewusst, sozusagen noch mit dem Kalten Krieg in den Knochen, auch wollte, dass Institutionen geschaffen werden, die in der Zukunft Menschenrechtsverletzungen ganz konkret dokumentieren und ansprechen. Es sind damals drei Einrichtungen geschaffen worden, die wirklich so eine Art früher Rechtsstaatsmechanismus sind, wenn wir es so ausdrücken wollen. Denn da wurden drei Institutionen der OSZE geschaffen, die Staaten den Spiegel vorhalten, wenn etwas schiefläuft. Freimut Duve war damals der erste Medienbeauftragte der OSZE; er war so ein Beispiel. Er war vorher Kollege von der SPD. Oder denken Sie an den Hochkommissar für nationale Minderheiten. Das sind Watch Dogs, das sind Alarmglocken, die deutlich läuten sollten, wenn was schiefläuft. Und natürlich – es sei mir erlaubt, das auch deutlich anzusprechen – auch ODIHR mit dem schönen Namen „Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte“. Dass die damals geschaffen wurden und dass es sie bis heute gibt, ist eine der größten Errungenschaften der OSZE. Wir würden sie heute wahrscheinlich nicht mehr einstimmig schaffen können; die Einstimmigkeitsregel ist ein großes Problem der OSZE. Aber deshalb müssen wir diese menschenrechtlichen Institutionen dringend schützen, und das tun wir heute mit diesem gemeinsamen Antrag. ({0}) Diese Institutionen müssen wir auch deshalb so schützen, weil viele sie ganz eindeutig schwächen wollen. Es geschieht schon lange Zeit, dass sie gerade auch finanziell ausgehöhlt werden; denn auch der Haushalt der OSZE muss einstimmig beschlossen werden. Es gibt genügend Staaten, die das immer wieder torpedieren, wie zum Beispiel Russland, die Türkei, Aserbaidschan und andere Länder aus dem zentralasiatischen Raum. Es ist deshalb gut und wichtig, dass es diesen Antrag gibt. Den Antrag der Linken, der sich ganz deutlich an NATO und Europäischer Verteidigungsinitiative abarbeitet, lehnen wir ab, weil er aus unserer Sicht einfach die falschen Akzente setzt. NATO und OSZE werden beide gebraucht. Die Bündniskritik vereint Sie von den Linken interessanterweise mit der AfD. Herr Kollege Podolay, auch in Ihrem Antrag werden die Europäische Verteidigungsinitiative und die NATO ganz massiv kritisiert. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Kein einziges Mal bringen Sie hier die Menschenrechte an. Sie haben Wurzeln in der Slowakei. Vaclav Havel, die Mitglieder der Charta 77 und all der Helsinki-Gruppen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, die drehen sich im Grabe um, wenn sie hören, was sie heute hier gesagt haben. ({1}) Ich finde es sehr gut und sehr wichtig, dass die Bundesregierung mit Helga Schmid eine Kandidatin für das Amt der Generalsekretärin der OSZE stellt; ein sehr, sehr gutes Signal. Es ist dann aber auch wichtig, dass Sie, Herr Minister, nicht nur heute hier reden, sondern auch zum Ministerrat reisen. Wenn Sie nicht können: Sie haben drei Staatsminister; wenigstens einer der Staatsminister sollte da sein. Beim letzten Ministerrat in Bratislava war die Bundesregierung zwar durch die sehr gute Botschafterin, aber eben nicht politisch vertreten, und das geht nicht. Herr Lawrow hat sich drei Tage Zeit genommen; die Bundesregierung war politisch überhaupt nicht vertreten. Das geht nicht! ({2}) Mein letztes Wort – Frau Präsidentin, lassen Sie mich das noch sagen –: Danke an alle Kolleginnen und Kollegen, die bei der Wahlbeobachtung in den USA dabei waren. Ich sehe hier zum Beispiel die Kollegin Keul. Danke an all diejenigen, die das auf sich genommen haben. Danke auch, dass wir das mit der Dienstreisegenehmigung hingekriegt haben. Denn das Instrument der Wahlbeobachtung ist, glaube ich, für uns alle fraktionsübergreifend entscheidend wichtig. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Link. – Einen schönen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen; können wir alle brauchen. Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Helin Evrim Sommer. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen“ – heißt es in der Präambel der Pariser Charta. Und weiter: „Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.“ Diese Worte klingen heute wie aus der Zeit gefallen. Aktuell sind Frieden und Sicherheit bedroht, und das auch durch die Aufkündigung der internationalen Verträge. Im INF-Abkommen von 1987 vereinbarten die USA und die UdSSR die Vernichtung nuklearer Mittelstreckensysteme, und dann kommt da ein inzwischen abgewählter „America First“-Präsident und sagt: Was interessiert mich die Welt? Ich kündige den Vertrag! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in Europa schlagen ungelöste Langzeitkonflikte in heiße Kriege um, wie im Südkaukasus zwischen Aserbaidschan und Armenien. Wir Linke fordern, den OSZE-Etat in den kommenden fünf Jahren zu verzehnfachen, statt Milliarden Steuergelder für fliegende Festungen zu verpulvern. ({0}) So kostet ein einziger B-2-Stealth-Bomber der US Air Force umgerechnet 1 Milliarde Euro. Der OSZE stand im vergangenen Jahr für ihre Arbeit lediglich ein Fünftel zur Verfügung. Ein Fünftel, meine Damen und Herren! Und was macht die Bundesregierung? Sie will die hirntote NATO, wie Frankreichs Präsident Macron sie bezeichnete, wiederbeleben. Stattdessen sind in der OSZE als einzigem Forum fast alle europäischen Staaten, Russland, die Nachfolgestaaten der UdSSR sowie die USA und Kanada zusammengefasst – eine nichtmilitärische Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit ohne Veto. Deswegen sagen wir Linke: OSZE First! ({1}) Das muss das Motto sein. Das Völkerrecht muss wieder Vorrang haben. Militärische Besetzungen und einseitige Sezessionen sind immer völkerrechtswidrig. Das muss für die USA gelten, die Türkei, Russland und alle anderen, meine Damen und Herren. ({2}) Noch einmal zurück zur Pariser Charta: „Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen.“ Hierfür brauchen wir wieder ein besseres Verhältnis zu Russland ({3}) und eine neue Entspannungspolitik im Geiste von Willy Brandt. In diesem Sinne: Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Helin Evrim Sommer. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade in der heutigen Zeit wichtig und richtig, dass wir anlässlich des 30. Jahrestages an die Charta von Paris erinnern. Mit dem gemeinsamen Antrag fordern wir einen Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle und neue vertrauensbildende Maßnahmen. Leider ist dieser Appell nötiger denn je. 30 Jahre nach der Charta von Paris erleben wir einen neuen Kalten Krieg und eine beispiellose Aufrüstungsspirale. Dem müssen wir endlich Einhalt gebieten. ({0}) Ich will dazu einmal aus der Primärquelle zitieren, die wir hier heute feiern: Wir begrüßen die Unterzeichnung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa …, der zu niedrigeren Niveaus der Streitkräfte führen wird. Weiter heißt es: Die beispiellose Reduzierung der Streitkräfte … in Europa wird … unser Verständnis von Sicherheit in Europa verändern und unseren Beziehungen eine neue Dimension verleihen. Wenn es nicht schon vor 30 Jahren aufgeschrieben worden wäre, müsste man es jetzt aufschreiben. ({1}) Stattdessen glauben einige heute ernsthaft, man könne die Probleme lösen, indem wir den Verteidigungshaushalt immer weiter erhöhen und uns zu einem 2-Prozent-Ziel verpflichten. Mit der Grundidee der Charta von Paris hat das allerdings wenig zu tun. ({2}) Ich will noch auf eine andere Stelle der Charta aufmerksam machen, die bislang leider nicht die angemessene Aufmerksamkeit bekommen hat – Zitat –: ... werden wir nicht nur darum bemüht sein, nach wirksamen Verfahren zur Verhütung immer noch möglicher Konflikte durch politische Mittel zu suchen, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht auch geeignete Mechanismen zur friedlichen Beilegung eventueller Streitfälle festzulegen. Auf dieser Grundlage wurde der OSZE-Streitschlichtungsmechanismus auf den Weg gebracht, den wir leider bis heute zu wenig genutzt haben. Anders als beim Internationalen Gerichtshof müsste hier nicht eine Seite die andere verklagen, sondern man könnte sich auf die Schlichtung einigen. Mir würden da einige geeignete Fälle einfallen, beispielsweise die offenen Grenzfragen im östlichen Mittelmeer, aber auch der Konflikt um Bergkarabach, der schon angesprochen worden ist. Es ist eine Stärke des Linkenantrags, diesen OSZE-Schiedsgerichtshof ausdrücklich zu erwähnen. ({3}) Für eine Zustimmung reicht es leider trotz der guten Ansätze nicht, weil Die Linke es sich doch wieder nicht verkneifen konnte, OSZE und NATO gegeneinander auszuspielen. ({4}) Als dritten und letzten Punkt möchte ich noch einmal auf den Vertrag über den Offenen Himmel zurückkommen, den die USA leider ohne Not einseitig gekündigt haben. Der Austritt aus diesem letzten funktionierenden Rüstungskontrollabkommen wird am 22. November, also dieses Wochenende, rechtswirksam. Der Wiedereintritt durch den neuen Präsidenten Biden ist mit erheblichen Risiken verbunden, sollte es keine demokratische Mehrheit im Senat geben. Professor Peter Jones, langjähriger OSZE-Diplomat, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Vertragsstaaten sich darauf einigen könnten, den Fristablauf am 22. November zu unterbrechen, bis die neue Biden-Administration nach dem 20. Januar die Kündigung einfach zurücknehmen kann. Ich rege dringend an, dass die Bundesregierung diese Option mit den anderen Vertragspartnern kurzfristig prüft und wahrnimmt. ({5}) Auf dass wir retten, was noch zu retten ist von dieser großartigen Idee von Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Keul. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Doris Barnett. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In fünf Jahren feiern wir sogar 50 Jahre OSZE. Vor 45 Jahren war die Gründung mit Sicherheit ein Anlass zur Freude. Denn es wurde etwas eingeleitet, was schließlich auch zur deutschen Einheit führte; das sollten wir nicht vergessen. Aber in der Zwischenzeit ist die OSZE in die Jahre gekommen, ist älter geworden, und die Probleme sind leider auch nicht kleiner geworden; im Gegenteil. Wir befinden uns auch hier in einer Art Krise; denn wir erleben eine Renationalisierung der Staaten. So beginnt die OSZE, wie auch die UNO, die WHO und andere internationale Organisationen, leicht zu erodieren, wenn wir diese Entwicklung nicht aufhalten. Es gibt auch zahlreiche Konflikte innerhalb des OSZE-Raums, und die Werte und Prinzipien werden gefährdet. Das erschwert die Zusammenarbeit. Zum Beispiel hätte ich mir in Bezug auf Bergkarabach gewünscht, dass die Minsk-Gruppe viel früher hätte eingreifen und was richten können. ({0}) Das hat leider nicht geklappt. Es hängt ein Stück weit auch an uns Abgeordneten, wie Kollege Hardt sagte, und nicht nur an den Regierungen; das ist richtig. Denn wir können viel dazu beitragen. Wir brauchen eine Stärkung der Parlamentarischen Versammlung. Da gibt es gute Ansätze. Wir treffen uns dreimal im Jahr. Außerdem können wir dem Außenminister Danke sagen, dass wir jetzt Mittel fest installiert haben, mit denen wir hier in Deutschland jedes Jahr mindestens ein Seminar für die OSZE mit unseren Kollegen aus den OSZE-Staaten machen können, um genau die Konflikte anzusprechen, die uns am Herzen liegen: ob das Bergkarabach, die Ukraine, Belarus oder andere sind. Wir arbeiten kräftig daran, hier zu Verbesserungen zu kommen. ({1}) Ich kann nur sagen: Ich bin auch ein Stück weit stolz auf ODIHR, die Organisation für Wahlbeobachtung und Menschenrechte. ODIHR hatte es sehr lange schwer, Beachtung zu finden. Aber, ich glaube, mit dem, was sie jetzt mit der Wahlbeobachtung in den USA geleistet hat, hat sie sich einen festen Platz innerhalb der Organisation geschaffen. Sie war wirklich neutral, hat neutral beobachtet und hat auch eine gute Stellungnahme abgeben. Ich glaube, das könnte zur Befriedung der Lage beitragen, wenn denn nur alle hören würden. ({2}) Es kann nicht sein, dass ODIHR nur auf der einen Seite gehört wird, sie muss auch auf der anderen Seite gehört werden. Das gilt sowohl für die USA als auch für Russland und andere Länder. Ich hoffe jetzt natürlich, dass wir im Rahmen der Reformen, die wir angestoßen haben, auch tatsächlich zu Verbesserungen kommen. Ich als Parlamentarier würde mir wünschen, dass wir als Parlamentarische Versammlung zum Beispiel öfter mit dem Ministerrat tagen. Wir tagen gar nicht mehr mit ihm zusammen. So könnten wir nämlich Meinungen austauschen. Das würde mit Sicherheit die Arbeit erleichtern. ({3}) Und ich würde mir wünschen, dass wir unsere Missionen in den konfliktbeladenen Gebieten erweitern und verbessern können. Ich habe noch einen kleinen Herzenswunsch, den ich Ihnen sozusagen in die Hand lege. Wir haben eine OSZE-Akademie in Bischkek. Die bietet unter anderem jungen Studenten aus Afghanistan die Möglichkeit, dort mit Kollegen aus dem ganzen OSZE-Raum zusammenzukommen und zu studieren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, ganz schnell den Wunsch.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß, es gibt das Einstimmigkeitsprinzip; Sie müssen immer mit einer Stimme sprechen. Aber vielleicht kriegen Sie Ihre Kollegen dazu, dass man hier etwas anhebt. Das wäre mir im Moment wichtiger, als die OSZE zu einer Art NATO auszubauen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Doris Barnett. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Beyer. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist nicht ganz ohne Witz, dass ich mit Russland beginne; aber ich kann es nicht ändern, genauso war es. Gestern genau vor einem Jahr hat sich in Sankt Petersburg eine kleine Gruppe junger deutscher politisch interessierter Menschen mit einem russischen Menschenrechtler, Herrn Gutnikow, getroffen. Er schilderte in diesem Gespräch sehr intensiv seine eigenen Erfahrungen, die Erfahrungen der dortigen Opposition und der Medien, wie sie in Bezug auf ihre Freiheiten behandelt worden sind und wie es um die Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. Noch Stunden nach Beendigung dieses Gespräches in Sankt Petersburg haben die jungen Deutschen untereinander diskutiert und waren von diesen Schilderungen von Herrn Gutnikow noch tief beeindruckt. Sie kommen zu dem Ergebnis: Nicht nur in Russland, sondern auch in vielen anderen Ländern der Region ist es um die Sicherheit, um die Rechtsstaatlichkeit, um die Menschenrechte, um die Demokratie und die Freiheitsrechte eben nicht zum Besten bestellt. Meine Damen und Herren, die jungen Menschen sind überzeugt: Das können wir so doch nicht stehen lassen. Wir müssen da was tun. – Als sie dann zurückkommen, treffen sie sich mit meinem hochgeschätzten Kollegen Roderich Kiesewetter und mir. Wir unterhalten uns über das, was sie in Sankt Petersburg erlebt haben und welche Gedanken sie sich gemacht haben. Roderich und ich sind zu dem Schluss gekommen: Wir müssen was tun. – Das war sozusagen die Geburtsstunde, die Initialzündung für diesen Antrag, den wir heute miteinander verhandeln und gleich auch verabschieden werden mit einer breiten Mehrheit dieses Hauses. Ich bin ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar dafür, dass wir das heute tatsächlich auf den Weg bringen können. Meine Damen und Herren, die OSZE hat schon viel zu lange nicht den Stellenwert beigemessen bekommen, den sie wirklich verdient. Von den 57 Teilnehmerstaaten möchte ich hier die besondere Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika hervorheben. Der Herr Bundesminister hatte vorhin zu Recht darauf hingewiesen: Der Regierungswechsel, der sich jetzt in den USA vollziehen wird, bietet eine Chance, die OSZE in dem Sinne zu stärken, wie wir es in dem Antrag niedergeschrieben haben. Denn Joe Biden, der gewählte Präsident, hat sich dazu bekannt, die internationale Weltordnung, die regelbasierte Weltordnung und die internationalen Organisationen – wie die OSZE eine ist – weiter zu stärken. Und zwar geht es um eine Stärkung in vielen verschiedenen Feldern; wir haben sie hier niedergeschrieben. Ich nenne nur die Bereiche Rüstungskontrolle, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Menschenrechte, die so wichtig sind, Demokratie und auch Rechtsstaatlichkeit. Der gewählte Präsident Joe Biden hat immer wieder betont – ich darf das jetzt auch noch mal ganz bewusst wiederholen –: Es geht um die Stärkung der regelbasierten Weltordnung, um den Multilateralismus, um die Stärkung internationaler Organisationen, die handlungsfähig werden müssen. Meine Damen und Herren, es darf aber auch nicht sein, dass wir diese Organisationen überfordern. Sie müssen ertüchtigt werden. Das geht natürlich auf vielfältige Weise. Es geht mit Geld, es geht mit Personal. Inhaltlich – das muss ich sagen – müssen wir Prioritäten setzen. Es muss die Rolle des Generalsekretärs gestärkt werden. Und ja – Doris Barnett, du hattest es auch angesprochen –, die Parlamentarische Versammlung muss wieder mehr mit eingebunden werden. ({0}) Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir Parlamentarier hier mehr Arbeit leisten können. Aber auch zwischen den anderen supranationalen Organisationen – wie dem Europarat und der Europäischen Union – kann mehr Zusammenarbeit in verschiedenen Themenfeldern erfolgen: beim Klimawandel, bei der Cyberkriminalität, bei Desinformationskampagnen, bei der Bekämpfung des Terrorismus. Meine Damen und Herren, schaffen wir doch wirklich die Perspektive, die sich die Menschen von Wladiwostok bis Vancouver oder auch von Vancouver bis Wladiwostok erhoffen, die sie verdient haben! Reformieren wir die OSZE, stärken wir sie! Die Menschen brauchen sie und haben es verdient. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Beyer. – Letzter Redner in dieser Debatte: Christian Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Clausewitz, richtig verstanden, führt zur OSZE. Falsch verstanden, führt er zu dem, was wir in Bergkarabach im Augenblick sehen. Wir spüren, dass sehr viel mehr getan werden muss, damit Clausewitz richtig verstanden wird. Die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln als Definition oder Legitimierung eines Krieges ist eben gerade nicht der Punkt, sondern es geht darum, bewaffnete Konflikte durch Kontrolle, durch Vertrauensbildung, durch Einvernehmen, durch Anerkennung von Prinzipien überflüssig zu machen. Und gerade im Fall Bergkarabach – ich will es noch mal sagen – hat man den Eindruck, dass da jemand versucht hat, die Politik und die Diplomatie, die sehr viel investiert hatte – das gilt gerade für die OSZE –, durch bewaffnete Vorgehensweise zu konterkarieren. ({0}) Wir hatten mit der Charta von Paris den Ansatz „Gewaltverzicht, Menschenrechte, staatliche Selbstbestimmung, internationale Kooperation“ zur rechten Zeit entwickelt; denn er trug dazu bei, dass in Osteuropa der Übergang friedlich gewesen ist. Der Punkt ist aber: Wir dürfen nicht nur Jahrestage feiern, sondern wir brauchen einen neuen Aufbruch in diesem Bereich der Rüstungskontrolle, der gegenseitigen Vertrauensbildung – international und regional. Sie gestatten, dass ich daran erinnere, dass morgen vor 25 Jahren ein weiterer Vertrag paraphiert wurde. Dieser Vertrag, Herr Bundesaußenminister, war damals stark inspiriert von Ihrem Vorgänger Hans-Dietrich Genscher als KSZE-Vorsitzendem, ein Vertrag, der in den beginnenden 90er-Jahren vom Geist der OSZE mit geprägt war und dann von amerikanischer Seite unterstützt und formuliert wurde, nämlich der Vertrag von Dayton. Dieses Datum jährt sich zum 25. Mal, nachdem schreckliche Menschenrechtsverbrechen in Srebrenica stattgefunden hatten. Und wir stellen fest, dass die Herausforderungen, die damals bestanden, heute nicht mehr so bestehen. Es wäre aber eine völlige Fehleinschätzung von geschichtlichen und faktischen Risiken, zu glauben, dass das gegenseitige Vertrauen gerade auf dem Balkan so weit wäre, dass man ausschließen könne, dass wir bei weiteren Jubiläen von Verträgen wieder schlimme Erkenntnisse berichten müssten. Deswegen darf es keinen politischen Ermüdungsbruch geben. Deswegen muss in Formaten wie OSZE, Dayton und anderen weiter daran gearbeitet werden. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich gerne denen anschließen, die sagen: Da erwarten wir auch von einer Administration Joe Biden sehr, sehr viel und gute Unterstützung. Herzlichen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christian Schmidt. – Damit schließe ich die Aussprache.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Keine Stunde Arbeit ohne soziale Absicherung, das muss doch die Lehre aus dieser Krise sein. ({0}) Regulär und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte konnten in großen Teilen Kurzarbeit in Anspruch nehmen, und das ist gut so. Auf der anderen Seite wurden Tausende Minijobber sofort vor die Tür gesetzt: zuverdienende Rentnerinnen und Rentner, Studierende, Menschen im Niedriglohnbereich, die sich ihr Einkommen durch einen Minijob aufstocken, usw. 850 000 Menschen haben so ihren Job verloren. Das Minijob-Versprechen „Brutto ist gleich Netto“ wurde für diese Beschäftigten zum Bumerang. Es besteht kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld, kein Anspruch auf Arbeitslosengeld. Sie sind sofort dem Sanktionsregime von Hartz IV ausgeliefert. Und ausreichende Rentenansprüche kann man so auch nicht erwerben. ({1}) Diese Beschäftigungsform ist frei vom sozialen Schutz, und deswegen muss ihr endlich Einhalt geboten werden. ({2}) Wenn man genauer hinsieht, dann stellt man fest, dass Minijobs in mehrerlei Hinsicht zum Nachteil der Beschäftigten sind; denn sie sind doppelt und dreifach prekär. Fast die Hälfte der Minijobber hat nur einen befristeten oder gar keinen Arbeitsvertrag. Die Löhne liegen häufig unter denen von regulär Beschäftigten. Und als Betriebsrätin habe ich oft genug mitbekommen, dass die Arbeitgeber den Minijobbern Urlaubsansprüche und Sonderzahlungen, zum Beispiel das Weihnachtsgeld, verweigern. Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – alles Dinge, die für Minijobber häufig nicht gelten. Deswegen haben Arbeitgeber trotz der höheren pauschalen Sozialabgaben ein so großes Interesse daran. Beschäftigte im Minijob werden nämlich zu oft als billige Arbeitskräfte missbraucht, und damit muss Schluss sein. ({3}) Manche Arbeitgeber splitten bisweilen Vollzeitstellen in mehrere Minijobs auf. So werden reguläre Jobs verdrängt. Die Zahl der Minijobs ist seit 2003 um 43 Prozent gestiegen. So entgehen den Sozialversicherungen jährlich mehrere Millionen Euro. Was macht die Regierung? Jetzt in der Krise, in der offensichtlich geworden ist, welche Probleme Minijobs mit sich bringen, weitet sie als eine der ersten Krisenmaßnahmen die Minijobs auch noch aus. Das ist doch absurd. ({4}) Die Union schlägt dem Ganzen den Boden aus, wie immer, wenn es um Arbeitnehmerschutz geht. Sie will die Verdienstgrenze bei Minijobs auch noch anheben. Statt bis 450 Euro soll künftig bis 600 Euro sozialversicherungsfrei gearbeitet werden. ({5}) Die FDP setzt mit ihrem Antrag noch eins obendrauf. Sie will, dass die Verdienstgrenze mit dem Mindestlohn mitwächst. Den Antrag haben Sie doch vor zwei Jahren schon einmal gestellt. ({6}) Das ist der immer gleiche Griff in die neoliberale Mottenkiste. ({7}) Durch eine Erhöhung des Mindestlohns reduziert sich die Stundenzahl der Beschäftigten. Ja, das haben Sie richtig erkannt. Das ist auch gut so, meine Damen und Herren. Wenn Arbeitgeber mehr Stunden brauchen, dann sollen sie die Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs anstellen. ({8}) Bei einer Anhebung der Verdienstgrenze verlieren eine halbe Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte den Schutz. Das ist die Arbeitsmarktpolitik von Union und FDP. Ich will Ihnen einmal etwas sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Ich habe mir Ihren Antrag angesehen. Schon bei dem ersten Satz habe ich einen dicken Hals und Bluthochdruck bekommen. Ich zitiere einmal: Minijobs sind für viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine Möglichkeit, im geringen Umfang zu arbeiten und trotzdem ein gutes Einkommen zu erzielen … Das schreiben Sie, obwohl Ihnen bekannt ist, dass 70 Prozent der Minijobbenden einen Stundenlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle haben. Das ist wirklich zynisch, meine Damen und Herren. ({9}) Die Frauen in der Union sind einen Schritt weiter. Ich zitiere aus dem Beschluss des Vorstands der Frauen Union der CDU Deutschlands mit dem Titel „Lessons learned – Jetzt handeln!“ vom 29. Juni 2020: Mini-Jobs fallen in Krisenzeiten zuerst weg. Gegen diesen Verdienstausfall gibt es keine Absicherung. Die sozialversicherungsrechtlichen Sonderregelungen für auf Dauer angelegte Mini-Jobs müssen entfallen. ({10}) Das trägt auch zu einer eigenständigen Altersvorsorge bei. ({11}) Ja, da hat die Frauen Union recht. ({12}) – Ja. – Und ja, es ist ein Frauenthema; denn 60 Prozent der Minijobbenden sind Frauen. Und für diese ist es ein Weg in die Sackgasse; denn Minijobs sind eben keine – wie Sie von der FDP fälschlicherweise in Ihrem Antrag auch behaupten – „Brücke in eine reguläre Beschäftigung“. Deswegen sagen wir: Schluss damit! ({13}) Unsere Position ist klar: Beschäftigte, egal ob im Hauptjob oder im Hinzuverdienst neben Studium und Rente, brauchen sozialen Schutz. Die Bundesregierung sollte endlich anfangen, die Weichen richtig zu stellen; denn das gibt doch gerade in der Krise den Menschen die entsprechende Sicherheit. Jede Beschäftigung ab dem ersten Euro muss sozialversicherungspflichtig sein. ({14}) und der Mindestlohn muss auf wenigstens 12 Euro erhöht werden. ({15}) Soziale Sicherheit und gute Arbeit, meine Damen und Herren, dafür steht Die Linke. Vielen Dank. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Danke auch, dass Sie eine Punktlandung bei der Redezeit gemacht haben. Daran werde ich jetzt alle anderen messen. ({0}) – Ja, ich habe schon die Liste gesehen und weiß, wer alles redet. Ich weiß schon, was ich sage. Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Torbjörn Kartes. ({1})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste – es sind zwar nur wenige da – auf den Tribünen! Ich möchte zu Beginn ganz deutlich sagen: Unser gemeinsames Ziel ist und bleibt, dass möglichst viele Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, für die Rente ansparen können, auf eigenen Füßen stehen, im Erwerbsleben Halt finden und ihren Kindern ein Vorbild sind. Und das beste Mittel gegen Armut ist, die Menschen in Arbeit zu bringen, und zwar in sozialversicherungspflichtige Arbeit. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. ({0}) Dafür muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Das haben wir in den letzten Jahren – das kann man, glaube ich, so sagen – auch äußerst erfolgreich getan, meine Damen und Herren. ({1}) Der Minijob – das unterscheidet uns dann, glaube ich – ist ein wichtiger und richtiger Teil unseres deutschen Arbeitsmarktes. Er wird von vielen Menschen in unserem Land gewollt und genutzt – das gilt für Schüler, für den Rentner, für die Studentin –, die sich etwas dazuverdienen wollen. Hunderttausende Menschen haben darum dieses Modell gewählt und sind damit auch sehr zufrieden. Die Darstellung in Ihrem Antrag ist also einmal mehr sehr einseitig und wird der Realität in unserem Land nicht gerecht. ({2}) Der Unterschied zwischen uns ist: Wir verschließen die Augen auch nicht davor, dass es sehr viele Menschen gibt, die einen Minijob ausüben, weil sie es müssen, weil ihr reguläres Einkommen nicht ausreicht oder weil sie überhaupt kein anderes Einkommen haben. Das gehört zur Wahrheit, und das beschreiben Sie auch zutreffend in Ihrem Antrag. Aber es gibt eben beide Seiten. Sie glauben doch nicht wirklich, dass mit der faktischen Abschaffung des Minijobs, die Sie heute ins Plenum eingebracht haben, alle diese Menschen plötzlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt würden. Und parallel dazu wollen Sie dann mit sofortiger Wirkung auch noch den Mindestlohn auf 12 Euro erhöhen, ({3}) und das in dieser Zeit. Da kann ich Ihnen nur sagen: Ich halte das für unverantwortlich und glaube auch, das konterkariert am Ende unsere Bemühungen, dass in dieser Krise möglichst wenige Menschen ihren Job verlieren. Daher werden wir Ihren Antrag auch ablehnen. ({4}) Wir haben die Feststellung der Mindestlohnhöhe auch bewusst einer unabhängigen Kommission anvertraut, insbesondere auch, um politischen Überbietungswettbewerb zu verhindern. In diesem Sinne ist die weitere Entwicklung des Mindestlohns schon festgelegt. Er wird von derzeit 9,35 Euro bis Mitte 2022 auf 10,45 Euro steigen. So weit sind wir dann also auch nicht mehr auseinander. Das geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung und ist Ergebnis einer Gesamtabwägung. Ich halte das insgesamt für vernünftig. Das ist sicher nicht so populär wie Ihr Vorschlag, aber, ich glaube, es ist im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung unseres Arbeitsmarktes. Sie kritisieren in Ihrem Antrag auch noch andere Punkte, auf die man gar nicht alle eingehen kann. Sie sagen, die Landwirtschaftslobby – so bezeichnen Sie es – hätte durchgesetzt, dass die sogenannte 70-Tage-Regelung temporär auf 115 Arbeitstage ausgeweitet worden ist. Schlimmer noch, Sie wollen diese Regelung eigentlich im Ganzen abschaffen; denn Sie sagen jetzt: Jede Beschäftigung muss ab dem ersten Euro der vollen Sozialversicherungspflicht unterliegen. Dazu kann ich Ihnen nur das Folgende sagen: Die 70-Tage-Regelung ist für unsere heimische Landwirtschaft von existenzieller Bedeutung. Jeder, der auf einem Hof war, weiß das auch. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist – das sage ich ganz deutlich –, dass diese Regelung durch die Koalition Anfang 2019 unbefristet im SGB IV verankert worden ist. Sie hat sich während der Übergangsphase auch schon bewährt. Sie hat zu keinen sozialpolitisch bedenklichen Entwicklungen geführt. Die Anzahl der kurzfristigen Beschäftigungen hat sich auch kaum verändert. Deswegen hat sich diese Regelung bewährt. Insbesondere Saisonarbeitsbetriebe haben mit ihr die Chance, ihren saisonalen Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Ohne diese Saisonarbeitskräfte könnten Betriebe wie zum Beispiel bei mir zu Hause im Rhein-Pfalz-Kreis, wo ganz viel Gemüse mit arbeitsintensiven Kulturen angebaut wird, dichtmachen. Das müssen die Menschen einfach wissen; denn den Bedarf, den diese Betriebe haben, können sie mit Mitarbeitern aus Deutschland überhaupt nicht decken. Deswegen ist es gut und richtig, dass die sozialversicherungsfreie und kurzfristige Beschäftigung von Saisonarbeitskräften dauerhaft verankert worden ist. Wir wollen, dass unsere Landwirte in Deutschland auch weiterhin regionale Produkte erzeugen, anbauen und ernten können. Dafür brauchen wir auch den Einsatz von Saisonarbeitskräften. Das gehört auch zur Wahrheit. Wir werden ihn – das kann ich Ihnen sagen – auch in Zukunft sicherstellen. ({5}) Jetzt kritisieren Sie die Ausweitung auf 115 Tage und sagen: Das ist eine weitere Aushöhlung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. – Ich bin der Meinung: Auch das kann man so nicht stehen lassen. Es war eine temporäre Lösung, sie ist mittlerweile beendet, und sie diente einzig und allein dem Gesundheitsschutz und dem Infektionsschutz. Wir hatten im März und im April große Schwierigkeiten, Saisonarbeitskräfte nach Deutschland zu bekommen. Es war sinnvoll, dass sie temporär länger geblieben sind und wir diese Arbeitskräfte nicht so oft auswechseln mussten. So konnten wir am Ende auch die Ernte einfahren. – Das ist genau so gewesen, und wenn Sie zu den Höfen gehen, dann werden Sie das auch hören. Es ging also um den Infektionsschutz und nicht um eine Aushöhlung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Wir stehen also vor großen Herausforderungen und kämpfen dafür, dass möglichst wenige Menschen ihren Job in dieser Krise verlieren und unser Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Ihren Antrag, glaube ich, brauchen wir in dieser Krise nicht. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Torbjörn Kartes. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten! Die wirtschaftlichen Fehlentscheidungen der Bundesregierung haben längst den Arbeitsmarkt erreicht und eine Beschäftigungskrise ausgelöst. In der Lockdown-Krise sind Hunderttausende Minijobs weggebrochen. Am härtesten hat es die Arbeitnehmer wohl im Gastgewerbe getroffen, doch auch in den anderen Branchen sind viele Minijobs weggefallen, wie die Arbeitsmarktstatistik zeigt. Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache. „Minijobs“: Das ist eigentlich ein ziemlich misslungener und herabwürdigender Begriff für menschliche Arbeit. Diese Minijobs sind in jeder Hinsicht prekär, das heißt eine unsichere Beschäftigungsform. Diese Arbeitnehmer sind die Ersten, die in einer Krise fallengelassen werden. Darunter leiden jetzt Hunderttausende Arbeitnehmer, denen persönlich keine Schuld zuzurechnen ist. ({0}) Die Auswirkungen sind fatal. Minijobber erwerben keinen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld. Diese Diskriminierung trifft gerade viele geringfügig Beschäftigte hart. Menschen, die sich etwas durch Minijobs hinzuverdienen, sind zumeist auf dieses Geld angewiesen. Folglich müssen sie in der Krise doppelt um ihr Auskommen kämpfen: einerseits durch das geringere Einkommen aufgrund Kurzarbeit bei ihrem Hauptarbeitgeber, andererseits durch den Wegfall des Hinzuverdienstes in Höhe von 450 Euro. Herr Minister, ich rege dringend an: Zur Überwindung der Benachteiligung von geringfügig Beschäftigten sollte eine Anpassung der Sonderregelung im SGB III erfolgen, sodass auch den Minijobbern ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld gewährt wird. ({1}) Die Prekarisierung menschlicher Arbeit ist wahrlich kein Ruhmesblatt der Regierung Merkel, aber sie gehört zu einer ehrlichen Bilanz einer endlich endenden Kanzlerschaft. ({2}) Schauen wir zurück in die vorangegangenen Kanzlerschaften des Genossen Gerhard Schröder. Es war politisch total verkorkst, was dort in der Sozialpolitik organisiert und erlassen worden ist; denn dass wir heute bei den Minijobregeln herumdoktern, hat seine eigentliche Ursache in den unsäglichen Regelungen der Agenda 2010 von vor über 15 Jahren. ({3}) Den unsozialen Sozialdemokraten unter Kanzler Schröder haben wir dieses Elend zu verdanken. Die damals politisch gewollte brutale Deregulierung des Arbeitsmarktes plus Hartz IV führte zu einem dramatischen Anstieg der atypischen und der prekären Beschäftigung, zu einer massiven Ausweitung von Leiharbeit – meistens zu Hungerlöhnen – und zu einer Ausweitung von Teilzeit-, Mini- und befristeten Jobs. Das führte – und das ist das Entscheidende – zu einer Senkung des Realeinkommens. Da liegt der Kern des Problems. ({4}) Mit ehrlicher Arbeit kann sich heute keiner mehr Wohlstand für sich und seine Kinder erarbeiten. Eine weltweit einmalige Abgabenlast frisst jeden Verdienst gnadenlos weg. Arbeit schützt nicht mehr vor Armut. Das ist das, was diese Regierungen verbrochen haben. ({5}) Ich sage Ihnen: Die Bürger draußen im Land spüren das. Die Arbeitnehmer in unserem Land spüren das täglich, und sie verlieren immer mehr das Vertrauen in diese Regierung. Wenn ich die Reaktion hier im Hohen Haus sehe, dann kann es auch nicht mehr so weit her sein mit dem Vertrauen in die Vertreter dieser Parteien. Fakt ist: Die soziale Sicherheit sank unter dem Kanzler Schröder und der Kanzlerin Merkel, und das belegen die Armuts- und Reichtumsberichte. Das können Sie einfach nachlesen. Die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern verschärfte sich – und dies sogar europaweit. Das Wort „Lohndumping“ kann diese Misere und den sozialen Abstieg von Millionen Arbeitnehmern und ihren Familien kaum zum Ausdruck bringen. Sehr geehrte Kollegen, kommen wir zu den Anträgen selbst. Sie sind alle plakativ und sämtlich aus der Abteilung „Propaganda der jeweiligen Partei“. Es liest sich wie das Who’s Who der Forderungen im Sozialen betreffend die Arbeitszeit, betreffend die Minijobs. Wir haben wider die ökonomische Vernunft Vorschläge vorliegen, mit der vollen Sozialversicherungspflicht geringfügiger Beschäftigung ab dem ersten Euro zu beginnen. Viele Minijobs würden für den Arbeitgeber finanziell unattraktiv. Sie würden abgeschafft, und mit diesem Ergebnis wäre niemandem gedient. Das wissen Sie, und trotzdem stellen Sie den Antrag. ({6}) Die Festschreibung einer Mindestwochenarbeitszeit in Höhe von 22 Stunden ist viel zu unflexibel. Sie erzeugt höhere Lohnkosten, und die Umsetzung würde dazu führen, dass wir eine Entlassungs- und eine Pleitewelle haben. Das Modell der FDP würde zu einer Ausweitung des Heeres der unsicher Beschäftigten führen. Sie wollen noch mehr Veränderungen in diesem Bereich. Das würde dazu führen, dass wir noch mehr prekär Beschäftigte haben. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns liegt, wie Sie wissen, aus guten Gründen im Verantwortungsbereich der Mindestlohnkommission und soll ganz bewusst nicht einem politischen Überbietungswettbewerb anheimfallen. ({7}) Werte Kollegen, in den Jahren, in denen die Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grünen und Liberalen nun regieren, ging die soziale Schere immer weiter auseinander. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt. Darum sollten Politik und Staat die aktuelle Krise auch als Chance begreifen, eine Wiedergeburt der sozialen Marktwirtschaft einzuleiten. ({8}) Die AfD als Partei der Arbeitnehmer und des kleinen Mittelstandes ({9}) fordert eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der das sozialversicherungspflichtige Normalarbeitsverhältnis mit anständigen Tariflöhnen, also Wohlstandslöhnen, wieder der Regelfall wird. – Lachen Sie jetzt immer noch? Warum lachen Sie, wenn wir diese Forderung erheben? ({10}) Gemeint sind Löhne, mit denen man in seinem Arbeitsleben wieder ein Haus bauen, eine Familie gründen und eine Familie unterhalten kann. Und jetzt lachen Sie bitte weiter, damit Ihre Wähler sehen, was Sie für ein soziales Gewissen haben! Danke schön. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Gabriele Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich das Recht der Opposition, zu kritisieren, ({0}) aber es wäre gut gewesen, wenn wir von der AfD auch alternative Vorschläge gehört hätten. Da bleiben Sie aber zurück. Sie pöbeln hier nur rum und zeigen keine realistischen Lösungsmöglichkeiten auf. ({1}) Das ist ein großer Fehler, den Sie machen. Damit machen Sie sich unglaubwürdig; denn pöbeln alleine reicht nicht und wird die Menschen langfristig auch nicht überzeugen. ({2}) – Herr Pohl, ich will Ihnen sagen: Mir reichen schon die Fake News, die ich von Trump ertragen musste. Sie sollten damit aufhören. Es ist nicht die Bundesregierung, sondern das Virus, das zu den jetzigen Problemen – auch in der Wirtschaft – beigetragen hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dieser Legislaturperiode hier ja schon mehrfach über den Niedriglohnsektor und insbesondere über die Minijobs gesprochen. Ich finde es richtig, Frau Kollegin Ferschl, dass wir dieses Thema heute wieder auf der Tagesordnung haben; denn gerade während der Pandemie wird doch ein Schlaglicht auf die Situation der Minijobberinnen und Minijobber geworfen, und wir sehen, dass sie zu den großen Verliererinnen und Verlierern der Krise zählen. ({3}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, dass wir darüber debattieren und dass wir uns Gedanken machen, wie wir die Situation der 7 Millionen Minijobberinnen und Minijobber verbessern können. ({4}) Frau Ferschl, Sie haben darauf hingewiesen: 850 000 Menschen haben allein bis Juni ihren Job verloren. Als Beispiel führe ich die Gastronomie an. Dort sind allein durch die erste Coronawelle 330 000 Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie wurden aus ihren Jobs direkt in die Arbeitslosigkeit katapultiert. Das können wir so nicht hinnehmen. Wir brauchen deshalb dringend eine Ausstiegsstrategie für die Minijobs. Heute liegen uns nun zwei völlig unterschiedliche Anträge vor. Die Linke fordert die Abschaffung der Minijobs. Die FDP will die Ausweitung der Minijobs. Das ist ein alter Hut; den Antrag haben Sie hier schon öfter gestellt, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. ({5}) Sie kommen immer wieder mit denselben falschen Argumenten. Sie sagen, die Ausweitung der Minijobs sei eine Gerechtigkeitsfrage, die Jobs seien ein Sprungbrett in den regulären Arbeitsmarkt, in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. ({6}) Das ist durch viele Studien widerlegt worden. Da sind Sie vollkommen auf dem Holzweg, das ist nicht richtig. ({7}) Meine Damen und Herren, was würde passieren, wenn wir die Lohnobergrenze für Minijobs auf 660 Euro hochschrauben würden, wie Sie das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen? Was würde dann passieren? ({8}) Das würde bedeuten, dass eine knappe halbe Million Menschen, die derzeit nicht im Minijob arbeitet, zu Minijobberinnen und Minijobbern degradiert würde. Das können wir doch nicht wollen. ({9}) Die Nachteile der Minijobs sind uns ja allen bestens bekannt: Ein Sprungbrett in reguläre Arbeit sind sie nicht. Es ist auch keineswegs so, dass Minijobberinnen und Minijobber durch die Ausübung des Minijobs besser qualifiziert werden. Im Gegenteil: Es ist doch so, dass viele Minijobberinnen und Minijobber vollkommen unter ihrem Wert arbeiten. Sie haben zum Teil gute Ausbildungen, aber als Minijobber führen sie oft Hilfstätigkeiten aus und machen nicht das, was sie einmal gelernt haben – und das für sehr, sehr geringen Lohn. Das können wir nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Die Frauen wurden schon angesprochen. 3 Millionen Frauen stecken in der Minijobfalle. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie dies jetzt noch weiter ausweiten wollen; denn Minijob und Altersarmut – das wissen wir alle – sind zwei Seiten genau derselben Medaille. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie zeigen mit Ihrem Antrag wieder einmal, für wen Sie hier Politik machen. Das sind eben nicht die Minijobberinnen und Minijobber und die Menschen, die für wenig Geld arbeiten müssen. Für sie machen Sie keine Politik. Sie machen Politik für diejenigen Arbeitgeber, für die Minijobberinnen und Minijobber oft eine flexible Arbeitsmarktreserve sind; ich will es mal so ausdrücken. Da machen wir nicht mit. Wir wollen, dass das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis wieder voll im Mittelpunkt steht und die Basis für den Arbeitsmarkt ist. Aber ich will auch sagen, dass es auch volkswirtschaftlich ein großer Fehler ist, Minijobs weiter auszubauen. Sie verschärfen nämlich den Fachkräftemangel. ({12}) Auch das wird oft gar nicht so richtig gesehen. Wir klagen über Fachkräftemangel. Gleichzeitig hängen viele Minijobberinnen und Minijobber, die nach ihrer Ausbildung nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten können, im Minijob fest und können nicht als Fachkräfte eingesetzt werden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte sich ein Land, das händeringend nach Fachkräften sucht, auf keinen Fall leisten. ({0}) Wir werden uns dafür einsetzen, dass – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, das war ernst gemeint. Ihre Redezeit ist zu Ende.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, wir werden uns dafür einsetzen, dass sich der Niedriglohnsektor durch Minijobs nicht weiter vergrößern kann. Und da sind wir auf einem guten Weg. – Danke, Frau Präsidentin. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So geht das nicht, ich sage Ihnen das noch einmal. Ich meine, das ist nicht zum ersten Mal so. Wenn ich Sie bitte, Ihre Rede zu beenden, dann sollten Sie das wirklich tun, sonst werde ich die Zeit bei Ihren Kollegen abziehen, und dann müssen Sie sich mit denen auseinandersetzen. ({0}) – Nein, ich mache es jetzt nicht. Aber das ist nicht zum ersten Mal. Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober. ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minijobs sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. ({0}) Wir freuen uns am Morgen alle über die Zeitung in unserem Briefkasten. Wir freuen uns, wenn die Regale in den Supermärkten auch in Stoßzeiten voll sind, wenn sich die Schlangen vor den Kassen auflösen, weil eine neue Kasse öffnen kann. Wir freuen uns, wenn die Sonne scheint und die Biergärten und die Straßencafés spontan öffnen können. Viele Familien und Singles freuen sich über Unterstützung in ihrem Haushalt durch haushaltsnahe Dienstleistungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Minijobs sind ein Erfolgsmodell, und wenn wir sie nicht hätten, müssten wir sie erfinden. ({1}) Das gilt auch für Kunst und Kultur, die wir in der Freizeit genießen. Vom Kartenabreißer bis zur Unterstützung im Bereich der Technik und der Sicherheitsdienste: Das sind häufig Minijobs, die uns allen den Alltag verschönern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, und was will Die Linke? Sie möchte dieses Erfolgsmodell beerdigen. ({2}) Aber was würde es denn für die Arbeit der Vollzeitbeschäftigten, der Vollsozialversicherungspflichtigen in den Branchen der Hotellerie, der Gastronomie, der Kunst und Kultur bedeuten, wenn sie keine Unterstützung mehr hätten? ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kober, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder eine Zwischenfrage von Herrn Straetmanns?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Weil er es ist.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Kober, dass Sie meine Anmerkung zulassen. – Ich schätze Sie als Mensch sehr, aber ich kann das, was Sie hier in Ihrer Rede zu Ihrem Antrag als soziales Potpourri des Lebens in Deutschland vor uns entfalten, so nicht unkommentiert stehenlassen. Sie haben Ihren Redebeitrag mit der Feststellung begonnen, dass sich jeder über die Tageszeitung freut. Wissen Sie, das kann man vielleicht vertreten, wenn man in einer Partei ist, deren Mitglieder keine Minijobber sind. Ich bin in einer Partei Mitglied, in der es den Altersrentner gibt, der einen Minijob zum Aufstocken ausüben muss und der sich morgens aus dem Bett quält. Ich habe in meinem Kreisverband Mitglieder, die auch aus anderen Gründen auf den Minijob angewiesen sind und nicht aufstocken können. Deshalb möchte ich das Ganze vielleicht noch mal mit einem anderen Punkt garnieren: Der Minijob, wenn er denn sozialversicherungspflichtig wäre, würde ja den Betroffenen helfen, die Rentenvoraussetzung für bestimmte Altersrenten zu erfüllen. Bei einigen Altersrentenarten haben wir 35 Jahre Wartezeit als Voraussetzung. Um diese Dinge bringen Sie die Menschen. In Ihrem Antrag entfalten Sie für mich ein Bild einer Gesellschaft, die ich komplett ablehne und die nicht das ist, was ich mir unter einem Sozialstaat vorstelle. Das ist das eine. Und jetzt stelle ich eine Frage: Haben Sie die Studie des DIW vom 4. November 2020 eigentlich gelesen, in der diese soziale Wirklichkeit beschrieben wird?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kober, bitte. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber, geschätzter Kollege Straetmanns, vielen Dank für Ihre Frage. – Es ist unstrittig, dass ein Minijob kein Ersatz für eine voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sein kann. Es muss unser Ziel sein, dass die Menschen über einen langen Zeitraum ihres Erwerbslebens voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Das ist überhaupt gar keine Frage, und das ist nicht strittig. Aber schauen wir uns doch mal die Lebenswirklichkeit an. Wir haben Minijobber, die Studierende sind. Die steigen dann in das Berufsleben ein. Die finanzieren sich einen Teil ihres Studiums. Schauen Sie sich die Wirklichkeit an. Es gibt Menschen, die in Haushalten oder in der Industrie arbeiten, zusätzlich zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das sind nicht alles Menschen, die in ihrem Hauptjob schlecht verdienen, sondern auch Menschen, die sich etwas hinzuverdienen wollen; das ist statistisch belegt. Man muss sich konkret anschauen, aus welchen Gründen und aufgrund welcher Motivation Menschen einen Minijob haben, und dann dort ansetzen, wo wir Probleme erkennen. Gleichzeitig muss man betonen: Wir leben in einer freien Gesellschaft. Jeder ist ein Stück weit mitverantwortlich dafür, sich in seinem Berufsleben möglichst so zu positionieren, dass es für ihn am Ende passt. ({0}) Unsere Aufgabe ist es, ihn dabei zu unterstützen. Dafür macht die FDP hinreichend gute Vorschläge, die hier leider keine Mehrheit finden. Aber sehr wichtig wäre beispielsweise, dass wir die Zuverdienstmöglichkeiten bei den Minijobs verbessern, nicht nur, indem wir die Minijobgrenze erhöhen, wie wir das in unserem Antrag fordern, sondern auch, indem wir die Zuverdienstgrenzen ausweiten. Wir müssen das Transfer- und Steuersystem insgesamt so verändern, dass die Minijobfalle gar nicht erst entsteht. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt haben Sie ausführlich geantwortet. Danke schön. – Jetzt geht es weiter in Ihrer Rede.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sähe die Situation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hotellerie und Gastronomie aus, wenn sie zu Stoß- und Randzeiten nicht die Unterstützung von Minijobberinnen und Minijobbern hätten? ({0}) Das würde mehr Stress und mehr Arbeitsbelastung erzeugen, und das wäre nicht richtig. Ich habe es in der Antwort auf die Frage von Herrn Straetmanns gesagt: Natürlich ist der Minijob kein Ersatz für ein voll sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis; aber das wissen die Menschen. Diejenigen, die Schwierigkeiten haben, einen voll sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zu finden, haben vonseiten der FDP die volle Unterstützung. Wir haben entsprechende Vorschläge vorgelegt, wie man sie besser in den Arbeitsmarkt integrieren kann. Aber richtig ist auch, dass sich die Chance eines Arbeitsuchenden, in ein voll sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu kommen, um 40 Prozent verbessert, wenn er zuvor einen Minijob hatte. Diese Chance eines gleitenden Einstiegs und Aufstiegs in den Arbeitsmarkt sollten wir den Menschen nicht nehmen. ({1}) Auch bei den Frauen ist es so, dass fast die Hälfe nach Ausübung eines Minijobs in eine voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Umfang von mindestens 20 Stunden wechselt. Auch hier ist der Minijob die Chance für einen Einstieg oder Wiedereinstieg in das Berufsleben. Viele Rentnerinnen und Rentner arbeiten deshalb in einem Minijob, weil sie Schritt für Schritt aus der Beschäftigung ausgleiten wollen, ({2}) und nicht, weil sie dringend auf das Einkommen angewiesen sind. Es gibt viele Menschen, die sich über den Minijob ein zusätzliches Hobby leisten können. Es gibt die Studierenden, die sich ihr Studium finanzieren. Wir als Gesellschaft haben sehr viel zusätzlichen Reichtum durch das Angebot, Minijobs machen zu können. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre dringend notwendig, dass wir die seit 2013 festgemauerte Minijobgrenze von 450 Euro deutlich erhöhen. Wir schlagen eine Erhöhung auf das 60-Fache des Mindestlohns vor, damit bei jeder Erhöhung des Mindestlohns die Einkommensmöglichkeiten der Menschen in Minijobs künftig steigen. Das wäre sinnvoll. Dazu gehört eine Verbesserung bei den Zuverdienstgrenzen; denn für diejenigen, die aufstocken, sind derzeit nur 170 Euro der 450 Euro anrechnungsfrei. Das ist ungerecht, und das ist leistungsfeindlich. Das muss nicht sein. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, geben Sie sich einen Ruck! Erhöhen Sie die Minijobgrenze, und lassen Sie den Minijob als ein zusätzliches Instrument am Arbeitsmarkt bestehen! Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Beschäftigten in Minijobs haben am Anfang der Coronapandemie als Erste ihren Arbeitsplatz verloren. Weil der Minijob keine normale Beschäftigung ist, werden sie weder durch Kurzarbeitergeld noch durch Arbeitslosengeld aufgefangen. Wer in einem Minijob arbeitet, ist also in keiner Weise sozial abgesichert. Deshalb fordern wir Grüne genauso wie Die Linke mit ihrem Antrag heute, dass die Minijobs sozialversicherungspflichtig werden. Auch Beschäftigte in kleinen Jobs müssen ordentlich abgesichert sein. ({0}) Minijobs haben noch viele andere Nachteile, die schon lange bekannt sind. Wir wissen, dass vor allem Frauen davon betroffen sind. Diese Nachteile hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei einer Anhörung auf den Punkt gebracht – übrigens zu einem fast identischen Antrag der FDP –: Beschäftigungsverhältnisse bei Minjobs sind häufig befristet. Minijobber haben häufig keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. Sie haben keine vertragliche Arbeitszeit. Es ist häufig Arbeit auf Abruf. Viele bekommen keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und auch keinen bezahlten Urlaub. Außerdem verdrängen Minijobs sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das alles dürfen wir nicht zulassen. Deshalb wollen wir die Minijobs nicht ausweiten – wie die FDP –, sondern sozialversicherungspflichtig machen. ({1}) Wir fordern also eine Reform. Interessant wird es aber, wenn es darum geht, wie diese Reform aussehen soll. Bekommen die Beschäftigten, die 200 Euro verdienen, bei sehr geringen Beiträgen gleich den gesamten Krankenversicherungsschutz? Zahlen die Beschäftigten sofort die kompletten Sozialversicherungsbeiträge, egal wie viel sie verdienen? Hier braucht es ein gutes, ein gerechtes und ein umsetzbares Konzept. Im Antrag der Linken fehlt es leider. Solch ein Konzept ist aber notwendig. ({2}) Im Antrag der Linken geht es auch um den Mindestlohn, der auf 12 Euro aufgestockt werden soll. Es ist bekannt: Das wollen wir auch. Es gibt auch die Forderung, dass Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können; auch hier sind wir uns einig, auch das fordern wir schon lange. ({3}) Dann gibt es noch die Forderung, dass es eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden pro Woche geben soll. Diese Forderung lehnen wir ab. Abgesehen davon, dass das überhaupt nicht praktikabel ist, wollen wir die Menschen nicht einschränken. Sie sollen schon selber entscheiden, wie viel sie arbeiten wollen und können. ({4}) Stattdessen fordern wir – und das sage ich immer und immer wieder – echte Zeitsouveränität für die Beschäftigten durch Einflussnahme auf die Dauer, die Lage und den Ort ihrer Arbeit. Arbeit muss ins Leben passen. Arbeit soll vor allem gut sein. Arbeit soll auch sozial absichern. Genau so muss es sein, auch bei kleinen Jobs. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Axel Knoerig. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits seit Jahren wollen die Grünen und die SPD die Minijobs abschaffen. Jetzt fordert Die Linke dasselbe. ({0}) Wir als Union haben das in all den Jahren immer wieder abgewogen und kommen immer wieder zu demselben Schluss, nämlich die Minijobs beizubehalten. Denn Folgendes ist Fakt: Beschäftigte wie auch Unternehmen schätzen die Flexibilität. Gerade kleinere Betriebe können so Zeiten mit hoher Auftragslage abdecken – die Beispiele sind schon genannt worden –: bei der Ernte in der Landwirtschaft, beim Gastgewerbe in der Tourismussaison. Wir haben – das ist richtig – mittlerweile 7,7 Millionen Minijobber. Sie nutzen diesen Nebenerwerb – das ist für mich das wichtigste und herausragendste Argument in dieser Debatte – für größere Anschaffungen oder um für den Urlaub zu sparen. Das ist die Wirklichkeit. ({1}) Es ist richtig ausgeführt worden: Schüler, Studenten und Rentner profitieren von diesem Hinzuverdienst. Für viele junge Leute ist es der Einstieg in eine Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung. Fakt ist aber auch: Über 80 Prozent der Minijobber lassen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien. Hier müssen wir ansetzen und bei der Altersvorsorge nachbessern. Ich sage ganz klar: Das Einzahlen in die Rentenversicherung darf nicht länger freiwillig sein. Sie muss auch für Minijobber verpflichtend werden. ({2}) Meine Damen und Herren, das gehört in den nächsten Koalitionsvertrag. Hier darf es keine Ausnahmen geben. Das gilt übrigens auch für Werkverträge. Grundsätzlich muss gelten: Jede Tätigkeit, die entlohnt wird, muss voll sozialversicherungspflichtig sein. Ich sage auch und ergänze: Das ist heute technisch kein Problem. Durch die Digitalisierung können auch kleinere Beiträge gut abgeführt werden. ({3}) Wir müssen die Minijobs auch pragmatisch weiterentwickeln. Viele Branchen wünschen sich eine Anhebung der 450-Euro-Grenze. Ich sage hier als Arbeitnehmer: Auch die Mittelstandsvereinigung der Union spricht sich für eine Dynamisierung der Obergrenze aus. ({4}) Die FDP fordert in ihrem Antrag aber eine zu hohe Verdienstgrenze; 2019 hatte sie schon eine Anhebung auf 560 Euro vorgeschlagen. Damit würde der Anschluss zu den Midijobs, die im Verdienstbereich zwischen 450 und 1 300 Euro liegen, nicht mehr passen. Hier müsste dann die Untergrenze entsprechend dynamisiert werden; aber davon sehen wir besser ab. Wir haben bereits in 2019 die Verdienstmöglichkeiten und die Rentenansprüche bei den Midijobs verbessert. Dadurch sind auch die Midijobs eine gute Alternative im Bereich kleinerer Einkommen geworden. Meine Damen und Herren, Die Linke – das ist gerade angesprochen worden – hat in ihrem Antrag die Forderung aufgeführt, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen. Da haben wir ganz klar die Vorstellung, dass die Zuständigkeit dafür auch weiterhin bei der Mindestlohnkommission liegen soll. Wir wollen hier schlichtweg keinen Bieterwettbewerb ausloben. Wir als Union setzen auf Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wer zum Beispiel mit 63 in Rente geht und die Flexirente bezieht, der soll auch zukünftig weitaus mehr hinzuverdienen können. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Das soll unbegrenzt möglich sein. Das wäre leistungsgerecht und ein guter Anreiz für ältere Fachkräfte, der Wirtschaft länger zur Verfügung zu stehen. Hier sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf einer Linie. So etwas unterstützen wir. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Matthias Bartke. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Minijobs offenbaren sich hier die ganz großen parteipolitischen Unterschiede. Die Linke möchte die Minijobs komplett abschaffen, ({0}) die FDP will sie ausweiten und die Verdienstgrenze auf 570 Euro anheben, und die Union will die Verdienstgrenze im Zweifelsfall noch weiter anheben. Meine Damen und Herren, da sieht man mal wieder, wie wichtig es ist, dass es in diesem Hause eine starke SPD gibt – die Hüterin der Vernunft und die Kraft der Mitte. ({1}) Wir werden diesen ganzen Unsinn nämlich verhindern. Wenn wir Minijobs sofort komplett abschaffen würden, ginge das an den Bedürfnissen der Menschen völlig vorbei. Einerseits sind Minijobs für bestimmte Gruppen attraktiv und auch sinnvoll, zum Beispiel für Studierende, die einen Nebenjob während ihres Studiums brauchen, oder für Rentnerinnen und Rentner, die sich etwas hinzuverdienen wollen. Andererseits, Frau Ferschl, haben Sie mit Ihrer Kritik natürlich durchaus recht. 2019 lag die Zahl der Minijobber bei 7,5 Millionen; das entspricht fast einem Fünftel aller Arbeitnehmer. Das sind natürlich nicht nur Studierende und Rentner. Das sind leider auch Beschäftigte, die statt eines Minijobs viel lieber einen Teilzeitjob hätten. Für die haben die Minijobs einen ganz zentralen Nachteil: Sie bieten keinen Sozialversicherungsschutz. In den vergangenen Monaten mussten das viele Menschen schmerzhaft erfahren. In der Krise haben viele Minijobber ihren Job verloren. Sie haben kein Kurzarbeitergeld bekommen, und sie haben kein Arbeitslosengeld bekommen. Sie alle sind jetzt auf Grundsicherung angewiesen. Daher ist es der völlig falsche Weg, Minijobs auch noch auszuweiten, wie es die FDP fordert. ({2}) Liebe Linke, auch wenn ich Ihre erste Forderung nach völliger Abschaffung der Minijobs ja noch nachvollziehen kann, so blieb mir bei Ihrer zweiten Forderung schlicht die Spucke weg. Sie wollen ernsthaft eine Mindestarbeitsstundenanzahl von 22 Stunden pro Woche einführen. Nach unten abgewichen werden darf nur noch auf Wunsch der Beschäftigten. Kein Unternehmen darf künftig noch Arbeitsstellen für 15 oder 20 Wochenstunden anbieten. ({3}) Ich fürchte, diese Forderung kommt aus Ihrem wirtschaftspolitischen Paralleluniversum. ({4}) Und Sie begründen das auch gar nicht. Mal ernsthaft: Geht’s noch? Da ist mir Ihre dritte Forderung schon wieder deutlich sympathischer: Einführung eines 12-Euro-Mindestlohns. Das wollen wir auch. ({5}) Der erste Sozialdemokrat, der das gefordert hat, war übrigens Olaf Scholz – ein sehr guter Mann. ({6}) Als Sozialdemokrat sage ich: Wir wollen mehr Minijobs in ordentliche Jobs umwandeln. Das funktioniert am besten über einen steigenden Mindestlohn. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ging damals nicht nur die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach oben, sondern gleichzeitig auch die Zahl der Minijobber nach unten. Ein guter Mindestlohn ist daher auch eine Waffe gegen ausufernde Minijobs. Nur haben wir andere Vorstellungen, wie wir zu einem 12-Euro-Mindestlohn kommen. Wir sagen: Die Festlegung des Mindestlohns ist Sache der Mindestlohnkommission und nicht des Bundestages. ({7}) Die Aufgabe der Kommission muss es daher sein, die Höhe so festzulegen, dass man nach einem Arbeitsleben zum Mindestlohn nicht in die Grundsicherung fällt. Man muss nicht nur vom Lohn leben können, man muss danach auch von der Rente leben können. Liebe Linke, als Letztes fordern Sie die Erhöhung der Tarifbindung und die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Wir sehen bei der Pflege gerade, wie schwer es ist, eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung hinzubekommen. Es hätte mich schon gefreut, wenn Sie im Antrag geschrieben hätten, wie Sie das konkret erreichen wollen. ({8}) Aber ich fürchte, da bin ich wieder mal zu anspruchsvoll. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Matthias Bartke. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! In der Tat: Die Debatte über Minijobs ist immer wieder eine Debatte voller Missverständnisse. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Minijobs verdrängen keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. ({1}) Im Gegenteil: Sie verdrängen Schwarzarbeit. Was man in dieser Debatte wieder beobachten konnte, ist ein klassisches Problem, nämlich die Verwechslung von Korrelation und Kausalität. Ja, es gibt zu viele – insbesondere Frauen – in unserem Land, die zu lange in Minijobs stecken bleiben, zu viele Jahre den Minijob machen. Ich halte das für ein echtes Problem. Das liegt aber nicht – Kausalität – am Minijob, sondern an den nicht ausreichend lebensnahen Betreuungseinrichtungen und insbesondere an der veralteten Steuerklasse V. Dann müssen wir die doch endlich abschaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und nicht den Minijob! ({2}) Ja, es gibt zu viele Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose, die im Minijob feststecken und nicht herausfinden in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das liegt aber nicht am Minijob, sondern an den unfairen Zuverdienstregelungen bei Hartz IV. ({3}) Wir müssen den Leuten eine trittfeste Leiter bauen, damit sie da herauskommen. Da kann der Minijob aber nichts dafür. ({4}) Reden wir mal über Fakten, darüber, wer die Minijobber in diesem Land sind. Die Statistik ist da ganz eindeutig: Die absolute Mehrzahl, drei Viertel der Minijobber, ist in einer Lebenssituation, in der sie – nach repräsentativen Umfragen – gar nichts anderes haben will als einen Minijob. Die größte Gruppe der Minijobber sind Rentner, Schüler und Studenten. Dann ist es aber unfair, dass wir diese Menschen in den Minijob faktisch einsperren, wenn es Lohnerhöhungen gibt. In diesem Land dynamisieren wir alles in der Sozialpolitik mit der Lohnentwicklung, nur die Minijobs nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch unfair! ({5}) Deswegen wollen wir die Minijobs übrigens, anders als behauptet wurde, auch nicht ausweiten; wir wollen sie nur nicht einschränken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Das ist es nämlich, was aufgrund der aktuellen Rechtslage passiert. Reden wir mal ganz konkret darüber, was das heißt, zum Beispiel für Studentinnen und Studenten, die auf BAföG angewiesen sind und deswegen nicht mehr arbeiten dürfen als im Rahmen eines Minijobs. Dann erhöhen sich die Löhne, und die Studentinnen und Studenten haben nicht mehr in der Tasche; aber sie müssen weniger Stunden in der Woche arbeiten, obwohl sie es anders wollen. ({7}) Das, finde ich, ist eine soziale Ungerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Die einzige Lösung ist, den Minijob mit der Lohnentwicklung zu dynamisieren. Das ist überfällig. Also: Gehen Sie nicht den Minijob an, sondern die unfaire Steuerklasse V – da haben Sie uns an Ihrer Seite –, und gehen Sie die Zuverdienstregelungen an! Übrigens: Gerade für junge Leute ist es eine der größten sozialen Ungerechtigkeiten in unserem Land, dass Jugendliche aus Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind, von dem Geld aus einem Minijob, in dem sie als Schüler vielleicht 450 Euro verdienen, nur 170 Euro behalten dürfen. Wir bestrafen Anstrengungen und verhindern soziale Teilhabe. ({9}) Das sind die Reformen, die Sie angehen müssten. Der Minijob kann nichts dafür. Die Minijobber haben es verdient, dass die Minijobs an die Lohnentwicklung angepasst werden. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Vogel, sehr geehrter Herr Kober, ich fand es schon sehr bezeichnend, dass Sie es geschafft haben, in dieser Debatte über die Eindämmung von Minijobs so gar nicht auf die Situation einzugehen, in der wir uns aktuell befinden, nämlich die Coronakrise und die Entwicklungen, die wir in dieser Wirtschaftskrise auch mit Blick auf die Minijobs verzeichnen müssen. Sie sind nicht darauf eingegangen, dass wir in dieser Krise einen massiven Jobverlust bei den Minijobbern hatten, massiv überdurchschnittlich im Vergleich zu den regulären Beschäftigungsverhältnissen. Während es bei den Minijobs minus 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr sind, sind es bei den regulären Beschäftigungsverhältnissen minus 0,2 Prozent. Wenn man über Minijobs spricht und über die Frage, warum es ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis braucht für die Menschen, die in dieser Stunden- und Einkommensklasse arbeiten, dann muss man diese Frage so beantworten: Minijobs bedeuten keine Absicherung in der Krise. – Das ist die Realität, mit der wir uns jetzt auseinandersetzen. Die Antwort, die wir als Grüne geben, ist: Aus den Minijobs sind sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu machen, ({0}) weil Minijobber eben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben. Und das wäre für viele wichtig gewesen. Insbesondere wenn man unserem Antrag gefolgt wäre, das Kurzarbeitergeld für die unteren Einkommensgruppen auf 90 Prozent anzuheben, hätten sie eine echte finanzielle Unterstützung in dieser Krise gehabt. Es geht um Menschen, für die 450 Euro im Monat echt viel Geld sind. Wenn das weg ist, können einige die Miete nicht mehr zahlen. Deswegen sind sie darauf angewiesen. Aber Minijobber wurden in dieser Krise reihenweise entlassen. ({1}) Ich sage das jetzt mal als Wirtschaftspolitikerin: Das ist auch für die Betriebe ein Problem. Ich habe mit so vielen Gastronomen in dieser Krise gesprochen. Die haben gesagt: Wir wollen die Leute eigentlich gar nicht rausschmeißen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Kober?

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, klar.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Dröge, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Es ist ja unstrittig, dass gerade die Branchen, die ich am Anfang meiner Rede genannt habe, von der Coronakrise am härtesten getroffen sind: die Gastronomie, die Hotellerie, die Freizeit- und Kulturbranche. Dass da Arbeitsplätze verloren gehen, ist ja völlig unstrittig. Jetzt sprechen Sie die Verdienstausfälle an, die ohne Zweifel vorliegen. Ich frage Sie: Ist es nicht klug, gerade jetzt die Minijobgrenze zu erhöhen, damit, wenn die Branche wieder Fuß fasst und die Öffnungen wieder ein Leben in Gastronomie, Hotellerie und in der Freizeit- und Kulturbranche ermöglichen, Einkommenseinbußen zumindest nachträglich ausgeglichen werden können? Das wäre doch sinnvoll. Finden Sie nicht auch? ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Frage. – Ich glaube, Sie machen da einen Denkfehler. Wenn man die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandelt, dann gibt es diese 450-Euro-Grenze, diese harte Grenze gar nicht mehr. Dann muss man diese Anhebung, über die Sie jetzt sprechen, einfach nicht mehr machen. Wenn die Menschen dann höhere Löhne verdienen können, dann können sie diese höheren Löhne auch bekommen. Dann können sie genauso viel arbeiten wie vorher oder mehr. Das ist ja der Sinn: Wenn man zum Beispiel die Minijobzone in die Midijobzone ausweitet, dann gibt es diese harte Grenze nicht mehr. Das ist ja einer der Gründe, warum dieses Modell, das wir vorschlagen, so sinnvoll ist und warum es Ihren Vorschlag an dieser Stelle überhaupt nicht braucht. ({0}) Das Zweite, was man zu Ihrem Vorschlag sagen muss, ist: Sie geben immer nur eine Antwort darauf, was ist, wenn die Leute irgendwann mal wieder einen Job haben. Sie geben eben keine Antwort darauf – und das werfe ich Ihnen vor –, dass die Leute ihren Job verlieren. Ich habe mit vielen Gastronomen gesprochen, auch großen Betrieben. Die haben zum Beispiel gesagt: Ich habe 90 Beschäftigte, 45 sind regulär beschäftigt, 45 sind Minijobber. Die 45 Minijobber haben den Job verloren, die anderen sind in Kurzarbeit gegangen. – Auch als Wirtschaftspolitikerin muss ich Ihnen sagen: Das sind Beschäftigte, die gut eingearbeitet sind. Das sind Beschäftigte, die man schätzt. Das sind Beschäftigte, die zum Team gehören. Die Gastronomen mussten sie feuern, weil es eben keine Möglichkeit gab, sie in Kurzarbeit zu schicken. Das heißt, diese Leute müssen sich jetzt, weil die Einnahmen aus dem Minijob fehlen, auf dem Arbeitsmarkt eine andere Beschäftigung suchen und stehen dann nach der Krise diesem Arbeitgeber gar nicht mehr zur Verfügung. Das heißt, am Ende haben doch auch die Arbeitgeber ein Eigeninteresse daran, dass die Minijobber sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Darauf geben Sie keine Antwort. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Weiter mit der Rede.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch einen Satz dazu: Sie sprechen die ganze Zeit von der Flexibilität, die die Unternehmen brauchen, und sagen, weshalb es diese Minijobs braucht. Herr Kober, Sie haben sich ja sogar darauf verstiegen, zu sagen, diese ganzen Berufsgruppen gäbe es nicht mehr, wenn man die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umwandelte. Sie haben von den Zeitungszustellern gesprochen, die es dann nicht mehr gäbe, und von den Ticketabreißern, die es dann nicht mehr gäbe. Das ist ja Unfug. Diese ganzen Tätigkeiten wird es auch weiterhin geben. Die Menschen werden da weiterhin arbeiten. Der einzige Unterschied ist, sie wären dann sozial abgesichert. ({0}) Das ist der einzige Unterschied, den es an dieser Stelle gibt. ({1}) Es gibt natürlich genug reguläre Beschäftigungsverhältnisse, in denen Flexibilität möglich ist, die auch ein Arbeiten zu Spitzenzeiten ermöglichen. All das verneinen Sie, weil Sie am Ende den Minijobbern diese Grundabsicherung einfach nicht zur Verfügung stellen wollen. ({2}) Das ist die zentrale Kontroverse. Es geht nicht um die Frage, ob es diese Tätigkeiten gibt. Es geht nicht um die Frage, ob es eine begrenzte Arbeitsstundenzahl gibt. Es geht nicht um die Frage, ob man Leute als Hilfe zu Spitzenzeiten einstellen kann. Es geht nicht um die Frage der Flexibilität. Das alles beantworten wir mit einem Ja. Ja, das muss es weiterhin geben, aber die Menschen müssen vernünftig sozial abgesichert werden. Dann haben sie nämlich Unterstützung in der Krise. Dann ist der Sozialstaat ein Versprechen für die Krise, für die Unternehmen und für die Beschäftigten. Deswegen haben alle etwas davon, da ein Stück weit reinzuinvestieren. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Dröge. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Max Straubinger. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer eine angeregte Debatte, wenn es um Minijobs oder insgesamt um kurzfristige und sozialversicherungsfreie Beschäftigungen geht. Unser Sozialrecht lässt diese ja zu, und das bedeutet vor allen Dingen eine richtige und gute Absicherung für alle Beteiligten. Es wird ja immer so dargestellt, als sei der Minijobber nicht abgesichert. Aber er ist abgesichert: im Familienverbund. ({0}) – Ja, natürlich. Im Rahmen der Krankenversicherung, im Rahmen der Rentenversicherung kann er sich selbst versichern mit den 3,6 Prozent, die er selbst zu berappen hat und mit denen er einen Rentenanspruch erwirbt. ({1}) Frau Kollegin Ferschl, es ist völlig egal, ob Sie Einkommen ab 300 Euro mit Blick auf die Rente sozialversicherungspflichtig machen oder ob Sie eine Absicherung über den Minijob vornehmen. Der Rentenanspruch ist immer der gleiche, solange die Äquivalenz die Grundlage für die Rentenberechnung ist. Es sei denn, Sie wollen die Äquivalenz aufheben; dann wäre das etwas anderes. Aber ansonsten ist der Anspruch immer der gleiche. Ich glaube, zuerst einmal ist darzustellen, warum wir diese Minijobs haben. Wir hatten ja schon mal eine Zeit, in der sie abgeschafft waren, unter Rot-Grün. In der Zeit haben wir ja auch Erfahrungen gesammelt. Im Rahmen der Hartz-IV-Reformen haben wir als Union durchgesetzt, dass es diese Möglichkeit wieder gibt. Wir stehen dazu, weil sie notwendig sind, um Arbeitsspitzen in einzelnen Bereichen abdecken zu können. Aber das meiste sind kurzfristige Beschäftigungen mit keiner langen Arbeitszeit, sei es Zeitung oder Prospekte austragen und dergleichen mehr.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Möchte jemand eine Zwischenfrage stellen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, genau. Ich wollte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogler von den Linken zulassen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Straubinger, Sie haben ja gerade wortreich vorgetragen, dass die Rentenansprüche, die man aus Minijobs erwirbt, den in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen erworbenen Ansprüchen nicht nachstünden. Aber Ihnen ist doch sicherlich auch bekannt – das hat die Kollegin Ferschl hier ja gerade vorgetragen –, dass sehr, sehr viele Minijobs im Niedriglohnbereich liegen und dass die Menschen, die in Minijobs arbeiten, pro Stunde deutlich weniger verdienen als Menschen, die über weniger prekäre Arbeitsverhältnisse verfügen. Es gibt auch die Tendenz von Arbeitgebern, sozialversicherungspflichtige, tariflich abgesicherte Arbeitsverhältnisse, wo zumindest eine Person einen einigermaßen nachhaltigen Rentenanspruch erwerben könnte, umzuwandeln und aus einem Vollzeitarbeitsverhältnis mehrere kleine Jobs zu machen. Das führt dazu, dass mehr Menschen in mehreren kleinen Jobs – viele lieben die Minijobs so sehr, dass sie sich gleich drei davon leisten – dann deutlich weniger bekommen, als wenn sie die gleiche Arbeitszeit in vernünftigen Jobs und vernünftigen Arbeitsverhältnissen verbrächten. Machen Sie da nicht ein bisschen eine Milchmädchenrechnung auf? Ich finde das wirklich sehr verstörend.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Vogler, der Arbeitgeber kann gar kein Interesse daran haben, die Arbeitsverhältnisse in Minijobregelungen umzuwandeln. ({0}) Denn das ist für den Arbeitgeber teurer, als wenn er die Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigen würde, weil hier der Arbeitgeber über 30 Prozent an Pauschalen abführen muss. So aber zahlt er nur die Hälfte, nämlich rund 20 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge. Von daher hat der Arbeitgeber überhaupt kein Interesse, diese Arbeitsverhältnisse umzuwandeln. Beim Minijob ist es so – ob es ein richtiger Gewinn ist, sei dahingestellt –, dass der Minijobler seinen Verdienst sozusagen steuerfrei erhält. Das kann man ganz offen sagen: Das sind – in diesem Sinn subventioniert – 5 400 Euro, die ich – als steuerzahlende Person wohlgemerkt – steuerfrei hinzuverdienen kann. ({1}) Das gilt für die Masse derer, die sich einen Hinzuverdienst zum regulären Arbeitsverhältnis schaffen. Das betrifft rund 2,3 Millionen Menschen in unserem Land. Bei Schülern und Studenten gibt es dieses Motiv nicht, weil sie in der Regel nicht diese steuerliche Präferenz haben. Aber es gibt das Motiv, sich selbst schnell etwas hinzuzuverdienen: die Schüler durch Prospektaustragen, um ihr Taschengeld aufzubessern, und die Studenten, um ihre Lebenssituation mit einem Hinzuverdienst zu verbessern. Diese Frage ist auch bei den Rentnern zu beantworten. Bei den Rentnern gibt es unterschiedliche Motivlagen. Die einen nehmen einen Minijob an, weil sie etwas zur Rente hinzuverdienen wollen, und die anderen, weil sie sagen: Ich bin noch rüstig; ich möchte nicht nur zu Hause sitzen, sondern ich möchte mich noch irgendwo betätigen und einbringen. – Deshalb gehen sie einem Minijob nach. Es gibt also verschiedenste Motivlagen für den Minijob. Dem muss man gerecht werden; dem wird Ihr Antrag aber nicht gerecht, allein schon dadurch, dass Sie 22 Stunden als Arbeitszeit vorschreiben. Das ist das beste Programm dafür, dass die kurzfristigen Tätigkeiten in die Schwarzarbeit abgedrängt werden. ({2}) Das haben wir in unserer Gesellschaft alles schon gehabt. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut, Herr Straubinger. – Nein, bitte Platz nehmen! Jetzt wechseln wir wieder.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von daher ist der Minijob eine gute und vernünftige Einrichtung. Ich habe gerade schon erklärt, warum es dieses Instrument gibt. Da ist zunächst die Steuerfreiheit, die für manche vielleicht ein Anlass ist, zu sagen: Ein Hinzuverdienst von 5 400 Euro steuerfrei, cash, das ist für mich eine Motivation. Die FDP will dem mit dem Antrag, den sie gestellt hat, entgegenwirken. Ich sage ganz offen: Da bin ich nicht ganz konform mit der Meinung der FDP-Fraktion. Ich bin nicht unbedingt ein Freund davon, den Minijob grenzenlos auszuweiten; denn ein Minijob bedeutet, kleinteiligste Arbeit kurzfristig abzudecken. Heute wurde beklagt, dass die soziale Sicherheit im Zusammenhang mit den Minijobs eine mindere Sicherheit bedeutet, insbesondere wenn Arbeitslosigkeit die Folge ist. Die Union und insgesamt die Koalition hat ein hervorragendes Angebot für die Bürgerinnen und Bürger und für die Arbeitnehmer geschaffen, indem wir nämlich den Midijob bis zu einem Umfang von 1 300 Euro brutto ausgeweitet haben. Zudem führt dies nicht zum Nachteil in der Rentenversicherung, was den Erwerb von Rentenversicherungspunkten betrifft, obwohl niedrigere Beiträge abgeführt worden sind. Ich stehe als Christsozialer dafür, dass das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis im Vordergrund stehen muss, auch für die Bürgerinnen und Bürger und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich gebe dem Kollegen Vogel ausdrücklich recht: Wir müssen nochmals überlegen, ob bei der steuerlichen Veranlagung die Steuerklasse V die richtige Antwort bedeutet. – Ehrlicherweise muss man aber auch sagen: Wenn eine gemeinsame steuerliche Veranlagung von Partnern stattfindet, dann wird das sicherlich auch wieder ausgeglichen. ({0}) Das ist momentan nur der große steuerliche Abzug. Das sind die Dinge, die wir hier insgesamt zu diskutieren haben. Auch der zweite Aspekt ist noch zu sehen, lieber Kollege Vogel. Die soziale Absicherung der Minijobler zum Beispiel bei der Krankenversicherung beruht natürlich auf den Beiträgen all derer, die in die Sozialversicherung einzahlen. Das Delta, das dadurch entsteht, dass die einen als Minijobler nichts einzahlen, müssen die anderen, die voll Sozialversicherungspflichtigen, letztendlich auffangen. Deshalb muss man auch die Frage stellen, ob es gerechtfertigt ist, die Einkommensgrenze bei der Minijobregelung zu erhöhen. Unter diesen Gesichtspunkten werde ich mit gutem Gewissen beide Anträge ablehnen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Max Straubinger. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Angelika Glöckner. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vor meiner Zeit als Abgeordnete im Deutschen Bundestag Seit’ an Seit’ mit vielen Arbeitskolleginnen und ‑kollegen dafür gekämpft und dafür gestritten, dass es Gute Arbeit gibt. Was heißt „Gute Arbeit“ eigentlich, was kennzeichnet „Gute Arbeit“? Vieles wurde bereits genannt; aber ich glaube, von allen Kriterien steht doch ganz oben, dass man von seinem Lohn leben kann. ({0}) Da schließt sich doch die nächste Frage an. Wer, der einen Minijob macht, kann von seinem Lohn leben? Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: Niemand! Niemand, der einen Minijob macht, verdient einen Lohn, von dem er leben kann. Da muss man doch ansetzen. Es wurde viel über Statistiken gesprochen; aber reden Sie doch einmal mit den Betroffenen, mit den Menschen – es sind überwiegend Frauen; das wurde schon mehrfach gesagt –: Verkäuferinnen, Leute, die in Lagern arbeiten; Zeitungszustellerinnen und viele andere mehr, die wichtige Tätigkeiten ausüben. Eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie sind motiviert, sie sind engagiert, sie leisten wichtige Tätigkeiten für unsere Gesellschaft, und sie haben es schlicht verdient, dass sie auch ordentlich vergütet werden und dass man sie in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse überführt. Dafür steht meine Fraktion, die SPD. ({1}) Ich muss mich wundern, dass man in einer solchen Situation einen Antrag stellt, der zum Ziel hat, genau diese Arbeitsverhältnisse noch mehr auszuweiten. Das halte ich für falsch. ({2}) Ziel der Politik muss es sein, diese Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen, und dafür steht meine Fraktion, die SPD. ({3}) Ich sage den Kolleginnen und Kollegen von den Linken ganz deutlich: Es ist wichtig, dass man die Dinge differenziert betrachtet. Sie haben einen Antrag gestellt, bei dem es in seinem Titel heißt: „Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführen“. Das finde ich gut. Sie wollen aber die Minijobs abschaffen. Das hört sich zunächst gut an. Man muss Ihnen, wie so oft, aber auch wieder sagen: Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Es gibt ganz unterschiedliche Lebenslagen. Es wurde schon mehrfach angesprochen, was es beispielsweise für die jungen Leute bedeutet, die sich als Schüler oder Studenten Geld hinzuverdienen müssen, wenn wir die Minijobs einfach abschaffen. Darüber muss man schon nachdenken. Ich finde, das ist ein wichtiger Punkt. Das würde gerade diejenigen schwächen, die sowieso aus einkommensschwächeren Familien kommen. Da muss man genau hinschauen. Vor allen Dingen muss man dort hinschauen, wo Minijobs dazu führen, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, dass sie im Alter arm sind, dass sie sozial nicht abgesichert sind. Das sind die Punkte, die man sich genau anschauen muss, und dafür steht meine Fraktion, die SPD. An dieser Stelle wollen wir handeln. Deswegen sage ich: Unsere Position ist die beste, und wir müssen Ihre Anträge ablehnen, tut mir leid. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Angelika Glöckner. – Die letzte Rednerin in dieser spannenden Debatte: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf heute hier in dieser spannenden Debatte den Punkt setzen, und das mache ich natürlich gerne, das können Sie sich vorstellen. Ich sage Ihnen eines: Minijobs sind wichtig, und sie sind aus unserem Arbeitsmarkt auch nicht mehr wegzudenken. ({0}) Wer soll denn bitte die Spitzenzeiten in der Gastronomie abdecken, die Abendschichten? Wer soll denn im Einzelhandel die Regale befüllen? Wer soll denn in den Saisonbetrieben das Gemüse und das Obst ernten? ({1}) Der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt. Wir sind ein Hochtechnologieland. Die Menschen können sich ihre Berufe auswählen; das tun sie auch. Das führt aber dazu, dass wir in anderen Bereichen einen immer größeren Fachkräftemangel haben und dass man schlichtweg auf solche Flexibilisierungsmöglichkeiten angewiesen ist. Es gibt unterschiedlichste Ursachen dafür, warum Minijobs so beliebt sind. Eine ganz wesentliche Ursache ist natürlich, dass es brutto für netto gibt. Ich erinnere mich selber an meine Zeit als Studentin: Ich war darauf angewiesen, so einen Job zu machen. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar; er hat mir letztendlich auch den Weg in den Beruf geebnet.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Schimke, ganz schnell, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Müller-Gemmeke?

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, das ist dann aber echt die letzte. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, ich mache es auch ganz kurz. – Frau Schimke, ich möchte einfach nur, dass Sie mir erklären, warum die Regale im Supermarkt nicht von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eingeräumt werden können. ({0}) Warum können bitte die Bedienungen abends, am Wochenende nicht sozialversicherungspflichtig arbeiten? Warum können kleine Jobs nicht sozialversicherungspflichtig sein? Da, wo Arbeit ist, braucht es Beschäftigte, und die können immer sozialversicherungspflichtig angestellt werden. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Schimke.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Müller-Gemmeke, Sie haben theoretisch natürlich völlig recht. Wenn Sie diese Idee am Reißbrett denken, ({0}) dann können Sie natürlich für solche Tätigkeiten auch voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigte einstellen. Nur, wer macht denn diesen Job noch? Die meisten Menschen wählen doch andere Berufswege. Wir haben einfach das Problem in der deutschen Wirtschaft, dass wir für bestimmte Tätigkeiten keine voll sozialversicherungspflichtigen Arbeitskräfte mehr finden und schlichtweg darauf angewiesen sind, besondere Instrumente zu entwickeln, die solche Tätigkeiten attraktiv machen. Wenn ich beim Minijob brutto für netto bekomme, ist das ein Anreiz. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Weiter in Ihrer Rede.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bei meiner Studentenzeit stehen geblieben. Mein Minijob hat mir auch den Berufseinstieg gesichert; denn ein nur theoretisches Studium garantiert Ihnen den auch nicht mehr, Sie brauchen schon ein bisschen Praxiserfahrung im Vorfeld. Wie sieht es bei den Rentnern aus? Die meisten Rentnerinnen und Rentner sind noch sehr fit und machen das sehr gerne, und diese Freiheit möchte ich ihnen nicht nehmen. ({0}) Deswegen brauchen wir selbstverständlich Minijobs. Aber es gibt ein ganz zentrales Argument für Minijobs, weshalb wir sie uns nicht mehr wegdenken könnten: Sie sind schlichtweg unbürokratisch. Es reicht, ein Formular auszufüllen, und sie haben einen Beschäftigten, eine Beschäftigte. Sie zahlen als Arbeitgeber pauschal ungefähr 30 Prozent Sozialversicherungsbeiträge, Sie haben den ganzen bürokratischen Kram nicht an der Backe. Ich habe das gerade selbst erleben dürfen. In einer Kreistagsfraktion gab es eine schöne Stelle, diese wurde aber nicht mit einer voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeschrieben, sondern mit zwei Minijobs. Auf meine Frage, warum man das macht, war die Antwort: Na, weil es eben unbürokratischer ist. – Meine Damen und Herren, das müssen wir einmal zur Kenntnis nehmen ({1}) und vielleicht auch in künftige Beschlüsse dieses Hauses einbeziehen und etwas dafür tun, dass Arbeitsmarktpolitik auch unbürokratischer wird. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Können wir jetzt einfach wieder ein bisschen durchatmen? ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Minijobber, meine Damen und Herren, sind auch nicht schutzlos; das soll an dieser Stelle auch gesagt sein. Sie genießen Kündigungsschutz, sie haben Urlaubsanspruch, und sie haben natürlich auch ein Recht auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Sie argumentieren jetzt mit Corona und sagen: 12 Prozent der Minijobs sind weggefallen, und das ist alles nicht krisensicher. – Das ist alles richtig; aber der Minijob dient doch nicht dazu, in wirklich jeder Krise und jeder Lage abzusichern. ({0}) Das ist eine Nebenbeschäftigung, wenn Sie so wollen. ({1}) Niemand hat gesagt, dass man sein gesamtes Berufsleben einen Minijob ausüben soll. Das ist auch nicht unsere Auffassung, und wir haben auch niemals gesagt, dass man davon leben kann. Uns ist natürlich bewusst, wie es vielen Frauen in diesem Lande geht, die ausschließlich eine Tätigkeit als Minijobberin ausüben. Das gefällt uns ganz und gar nicht; deswegen ist es auch richtig, dass unsere Frauen Union darauf hinweist. Aber die Reaktion darauf kann doch nicht sein, zu sagen: Wir verbieten das jetzt einfach. – Vielmehr besteht unsere Aufgabe doch darin, zu sensibilisieren, auf die Tücken und die Fehlanreize, die ein Erwerbsleben manchmal haben kann, hinzuweisen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir doch bitte den Menschen auch die Freiheit, ihr Leben, ihr Berufsleben so zu leben, wie sie es gerne möchten. ({2}) Das gilt für Studenten, das gilt für Rentnerinnen und Rentner, und das gilt natürlich auch für jene Menschen in diesem Land, die einen Minijob als Nebenerwerb ausüben. In diesem Bereich haben wir erhebliche statistische Schwächen, das soll auch gesagt sein: das berühmte Beispiel von Korrelation und Kausalität; Kollege Vogel hat es eben angesprochen. Wir wissen schlichtweg nicht, warum die Leute das tun. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus der Individualempirie. Der Malermeister sagt: Ich würde meinen Beschäftigten gerne ihre Überstunden bezahlen, ich würde sie gerne noch mehr beschäftigen. Ich würde gerne diejenigen in Teilzeit auf Vollzeit hochstufen. – Und was sagen die Mitarbeiter? Nein, machen wir nicht, wir gehen lieber bei einem anderen als Minijobber arbeiten, weil es sich schlichtweg mehr lohnt. ({3}) Es gibt in diesem Segment natürlich auch Mitnahmeeffekte; darüber können wir gerne reden. Aber das, was Sie tun, nämlich eine Situation prekär zu reden und daraus eine gesamtgesellschaftliche Zustandsbeschreibung zu machen, ist falsch. ({4}) Also, lassen Sie uns die Fehlanreize am Arbeitsmarkt angehen! Lassen Sie uns für Entbürokratisierung in allen Bereichen des Arbeitsmarktes sorgen! Wir müssen natürlich auch über die Entgeltgrenze beim Minijob reden. ({5}) Der Mindestlohn steigt stetig an, deshalb muss natürlich auch die Grenze des Minijobs angehoben werden. Darauf haben wir uns schon verständigt. Im Grunde genommen ist es wichtig, den Menschen weiterhin durch möglichst viel Flexibilität ihren Arbeitsplatz zu sichern. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Schimke. – Damit schließe ich die Aussprache.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Schmuggel und Korruption, bei diesen schmutzigen Geschäften geht es um richtig viel Geld. Auch in anderen Bereichen erwirtschaften Kriminelle mit ihren Straftaten enorme Gewinne. Durch Geldwäsche werden die Verfolgung von Straftaten und die Vermögensabschöpfung erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. Wir müssen die Täter zur Rechenschaft ziehen, wo wir nur können. Das betrifft zum einen die Täter, aus deren Straftaten die kriminellen Profite stammen, ebenso wie die Geldwäschetäter. Denn nur, wenn klar ist, dass beide Tätergruppen konsequent verfolgt werden, haben wir eine Chance, uns gegen kriminelle Machenschaften zu stellen, insbesondere gegen die organisierte Kriminalität. ({0}) Vermögenswerte, die aus Drogenhandel, Raub und Erpressung oder irgendeiner anderen Straftat stammen, haben einen Makel, und solange sie diesen Makel mit sich tragen, dürfen sie nicht Teil des ehrlichen Wirtschaftslebens sein oder werden. Es darf nicht angehen, dass illegale Vermögenswerte zum Kauf von Immobilien, Kunstwerken, Schmuck oder Autos benutzt werden. ({1}) Es darf nicht angehen, dass mit illegalen Vermögenswerten legale Geschäfte finanziert werden. Meine Damen und Herren, Geldwäsche ist ein Problem auf nationaler, auf europäischer und auch auf globaler Ebene, und sie schadet der Integrität und Stabilität der Finanzbranche. Geldwäsche beschädigt den europäischen Binnenmarkt, und Geldwäsche gefährdet die innere Sicherheit. Deshalb gehen wir jetzt noch schärfer gegen sie vor. Wir weiten den Geldwäscheparagrafen wie folgt aus: Bisher ist es nötig, dass das Geld aus ganz bestimmten Straftaten stammt, und das wollen wir ändern. In Zukunft soll gelten: Ganz egal, aus welcher Straftat Vermögen erlangt wird, wer dieses Vermögen wäscht, der macht sich strafbar. Punkt. ({2}) Das macht die Strafverfolgung deutlich einfacher und damit wirksamer; denn künftig muss nicht mehr sehr aufwendig nachgewiesen werden, aus welcher Straftat genau das illegale Vermögen stammt. Der Geldwäscheparagraf greift bereits dann, wenn das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass das gewaschene Vermögen irgendeinen kriminellen Ursprung hat. In Zukunft wird der Geldwäscheparagraf deshalb viel häufiger als bisher greifen, und das ist richtig. Die Geldwäschebekämpfung bekommt so mehr Biss. Die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden gestalten wir gleichzeitig wirksam und dabei grundrechtssensibel aus. Telefonüberwachungen oder Onlinedurchsuchungen bei Geldwäscheverdacht sind möglich, wenn es wie bisher um besonders schwerwiegende Fälle geht; das sind Summen ab 50 000 Euro. Auf diese schwerwiegenden Fälle sollten wir die Überwachungsmaßnahmen konzentrieren. Meine Damen und Herren, mit der Änderung des Geldwäscheparagrafen, so wie Ihnen vorgestellt, haben wir die große Chance, Sand in die Maschinerie der organisierten Kriminalität zu werfen. Wir haben die Chance, illegale Geldflüsse auszutrocknen, und wir haben die Chance, Bürgerinnen und Bürger vor kriminellen Machenschaften zu schützen. Deswegen ergreifen wir diese Chance mit diesem Gesetzentwurf! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Thomas Seitz. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Würden Sie bitte die Maske da wegnehmen und vorne hinlegen?

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also, bevor wieder die AfD die Demokratie angreift, nehme ich sie gerne weg, ja. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Herr Seitz.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin! Es geht um die Umsetzung der 6. EU-Geldwäscherichtlinie auf den letzten Drücker; denn die Frist läuft in zwei Wochen ab. Zwei Jahre hatten Sie Zeit; aber erst im Sommer kam der Referentenentwurf, Frau Ministerin, das ist Gesetzgebung der ganz schlechten Art. Schon 2015 schätzte eine Dunkelfeldstudie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg den durch Geldwäsche verursachten Schaden auf über 100 Milliarden Euro jährlich nur für Deutschland. Der heutige Betrag dürfte weitaus höher liegen. Denken wir doch nur an die Ausbreitung krimineller Clans arabisch-kurdischer Migranten. ({0}) Der Gesetzentwurf ist hochkomplex, deshalb in Kürze die wichtigsten Anmerkungen: Erstens. Der Tatbestand der Geldwäsche knüpft nicht mehr an einen Straftatenkatalog an, sondern lässt jede Straftat als Vortat genügen. Dieser über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehende „all crimes“-Ansatz soll die Anwendung erleichtern und wird von Polizei und Justiz ausdrücklich begrüßt. Es ist ja auch einfacher, wenn sich das Gericht nur noch die volle Überzeugung verschaffen muss, dass Taterträge aus einem einfachen Betrug stammen anstatt aus einem gewerbsmäßig oder bandenmäßig begangenen. Sie konterkarieren damit allerdings das Ziel der Richtlinie, organisierte Kriminalität und Terrorismus besser zu bekämpfen, wenn jedes Bagatelldelikt zur Vortat taugt. In der Praxis wird man sich damit behelfen, dass großzügig nach §§ 153, 154 und 154a StPO eingestellt wird. Dies dient aber der Opportunität und Effektivität der Strafverfolgung im Einzelfall und rechtfertigt nicht die Schaffung einer viel zu weit geschafften Strafnorm sehenden Auges. Zweitens. Es bleibt das Problem, dass Vorsatz ausscheidet, wenn der Täter sich keine klaren Vorstellungen von irgendeinem Vergehen oder Verbrechen macht. Professionelle Geldwäscher, also spezialisierte Anbieter von Geldwäschedienstleistungen, haben schon aus Gründen des Selbstschutzes kein Interesse an der Kenntnis der Herkunft der von ihnen gewaschenen Vermögenswerte. Gerade im Kernbereich der organisierten Kriminalität wird deshalb Vorsatz regelmäßig nicht nachweisbar sein und das Ziel der EU-Richtlinie klar verfehlt. Drittens. Ist der Vorsatz bezüglich der Vortat nicht nachweisbar, war bisher auch leichtfertiges Handeln strafbar. Die Streichung dieser Vorschrift im Referentenentwurf stieß zu Recht auf deutliche Kritik. Hier ist das Ministerium zu loben, dass der Gesetzentwurf die Strafbarkeit leichtfertigen Handelns doch beibehält. Es mag sein, dass künftig nicht mehr über die Hälfte der Verurteilungen wegen Geldwäsche als leichtfertig begangene Tat erfolgt. An der großen Bedeutung der Vorschrift wird sich aber nichts ändern. Viertens. Sie schreiben lapidar, dass ein Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft nicht zu erwarten sei, was ich für hochgradig zweifelhaft halte. Sie können nicht einerseits den Anwendungsbereich des § 261 StGB uferlos ausweiten und andererseits ernsthaft davon ausgehen, dass dies nicht massive Auswirkungen auf die Erfüllung der Sorgfalts- und Meldepflichten nach dem Geldwäschegesetz hat. Fünftens. Im Hinblick auf weitere Kosten räumt der Gesetzentwurf immerhin ein, dass mit einem beträchtlichen Mehraufwand im justiziellen Kernbereich der Länder zu rechnen ist. Was ist aber auf der Stufe davor? Die Strafgerichte werden nicht ohne die Vorarbeit der Staatsanwaltschaften tätig, und genauso verhält es sich mit dem Verhältnis Staatsanwaltschaft zu Polizei. Die Änderung wird also nicht nur eine spürbare Personalaufstockung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften, sondern auch bei der Polizei notwendig machen, und das in Zeiten, in denen den Ländern die Steuereinnahmen bedingt durch den Ausnahmezustand ohnehin wegbrechen. Das ist unverantwortlich, Frau Ministerin. ({1}) Ich komme zum Schluss. Nur die Abgabe unserer Souveränität an die EU zwingt uns, gesetzgeberisch tätig zu werden. Es hätte gereicht, die Vorschrift punktuell nach Maßgabe der Richtlinie zu ergänzen. Noch besser wäre es, eine ohnehin schwierige Vorschrift gar nicht zu ändern; denn es wird Jahre brauchen, bis die Rechtsprechung hier für eine halbwegs konturierte Anwendung gesorgt haben wird. Lassen Sie Polizei und Justiz in Ruhe ihre Arbeit machen, ohne permanent die Strafvorschriften zu ändern und zu verkomplizieren! Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Seitz, warten Sie bitte! Da Sie keine Maske haben, sondern nur ein löchriges Tuch, fordere ich Sie auf, diese Maske jetzt zu tragen. ({0}) – Sie haben ein löchriges Tuch. ({1}) Das ist keine Maske. ({2}) – Das ist keine Maske! Ich fordere Sie auf, diese Maske zu tragen. ({3}) – Die ist aus der sterilen Verpackung. – Gut, Sie bleiben jetzt hier stehen. Das ist ein Theater, das hier abgeht. Das ist nicht zu fassen. Ich nehme jetzt hier den Stift, damit ich sie nicht berühre. ({4}) So! Und die setzen Sie jetzt bitte auf. ({5}) – Das ist kein Maulkorb, sondern das ist eine Maske! Und wenn Sie so weitermachen, dann kriegen Sie einen Ordnungsruf! ({6}) Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan-Marco Luczak. ({7})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der Kollege Seitz hat vorher eine Maske, die offensichtlich sehr eng gesessen haben muss, getragen. Da scheint nicht mehr so viel Sauerstoff durchgekommen zu sein. ({0}) Meine Damen und Herren, am Dienstag in dieser Woche gab es eine große Razzia hier in Berlin gegen die organisierte Clankriminalität. 1 600 Beamte aus mehreren Bundesländern waren hier im Einsatz gegen die stadtbekannte Remmo-Clanfamilie. Es ging darum, den Kunstdiebstahl – das haben Sie alle in den Medien verfolgt – im Dresdner Grünen Gewölbe aufzuklären. Dort sind Kunstschätze von unschätzbarem Wert – sowohl kunsthistorisch als auch materiell – gestohlen worden. Viele Hunderte Millionen Euro ist diese Beute wert gewesen. Die Mitglieder der gleichen Clanfamilie waren auch verantwortlich für den Einbruch ins Berliner Bode-Museum, wo eine 100-Kilo-Goldmünze gestohlen wurde. Von dieser Beute und der Beute aus dem Grünen Gewölbe fehlt bislang jede Spur. Was passiert jetzt mit dieser Beute? Sie wird zu Geld gemacht, und anschließend wird es gewaschen. Das heißt, es wird in den legalen Wirtschaftskreislauf zurückgebracht. Das Geld wird angelegt. Es werden Geschäfte gekauft oder Immobilien erworben. Die Kriminellen lassen es sich damit gut gehen, alles mit Geld aus kriminellen Machenschaften. Hier, meine Damen und Herren, fordert die organisierte Kriminalität unseren Rechtsstaat heraus. Für uns als Union ist deswegen ganz zentral, dass wir hart, konsequent und auch wirksam darauf antworten können. Unser Rechtsstaat muss an dieser Stelle wehrhaft sein, meine Damen und Herren. ({1}) Wir müssen ganz deutlich sagen: Straftaten dürfen sich nicht lohnen. Genau diese Botschaft wird jetzt Gesetz. Wir folgen dem einfachen Prinzip „Follow the money“. Es ist das Geld, das den Anreiz für Straftaten gibt. Deswegen müssen wir bei der Bekämpfung von Kriminalität, insbesondere bei der Bekämpfung der organisierten Clankriminalität, genau da ansetzen. Kriminelle müssen wir dort treffen, wo es ihnen wehtut, und das ist das Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen. Genau deswegen nehmen wir uns jetzt die Vorschriften zur Straftat der Geldwäsche vor. Wir gestalten sie um zu einem scharfen Schwert, sodass die Strafverfolgung wirklich erleichtert wird. Wie machen wir das? Künftig – darauf hat die Ministerin schon hingewiesen – entfällt der Vortatenkatalog. Nach dem All-Crimes-Ansatz ist es zukünftig wesentlich einfacher, den Nachweis für die Geldwäsche zu führen. Es kommt nicht darauf an, welche Vortat es war. Ganz egal, aus welcher Vortat Kapital geschlagen wurde, kann man sich danach künftig strafbar machen. Und – das ist mir ganz wichtig – damit das Gesetz tatsächlich ein scharfes Schwert ist, damit wir die organisierte Kriminalität bekämpfen können, haben wir als Union verhindert, dass die leichtfertige Geldwäsche, so wie es im Referentenentwurf zunächst vorgesehen war, gestrichen wird. Ich habe gerade mit einem Vorsitzenden einer Strafkammer gesprochen, der mir noch mal gesagt hat: Die Leichtfertigkeit ist das zentrale Instrument in der Praxis. Die allermeisten Verurteilungen bei der Geldwäsche erfolgen nach dem Tatbestand der leichtfertigen Geldwäsche. – Es hätte zu massiven Strafbarkeitslücken geführt, wenn wir nur noch auf vorsätzliche Straftaten bei der Geldwäsche hätten rekurrieren können. Wir sagen – das muss auch zukünftig so bleiben –: Wer leichtfertig seine Augen davor verschließt, dass Vermögen aus kriminellen Machenschaften stammt, der muss zukünftig auch mit Strafe rechnen, meine Damen und Herren. Dringend nachgebessert werden muss das Gesetz aber bei der selbstständigen Einziehung von Vermögen unbekannter Herkunft. Momentan ist es so – so steht es im Gesetzentwurf –, dass es nur noch möglich ist, selbstständig einzuziehen, wenn die Vortat bandenmäßig begangen worden ist oder wenn sie gewerbsmäßig erfolgt ist. Aber das ist gerade das Problem bei der selbstständigen Einziehung. Wir wissen in aller Regel nicht, um welche Vortat es sich gehandelt hat. Wenn wir nicht wissen, um welche Vortat es sich gehandelt hat, dann können wir auch nicht sagen, ob sie bandenmäßig oder gewerbsmäßig begangen worden ist. Wir würden am Ende, wenn das so bliebe, das ganze Instrument seiner Wirksamkeit berauben. Deswegen werden wir im parlamentarischen Verfahren darauf dringen, dass das geändert wird. Es darf zukünftig nicht so sein, dass das hier eingeschränkt wird. Das wäre absolut absurd und kontraproduktiv. Deswegen muss das geändert werden, meine Damen und Herren. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Vielen Dank“, das ist das Schlusszeichen. – Wir würden bei der Beweislastumkehr auch noch gerne ein Stück weitergehen. Aber das wird der nächsten Rede vorbehalten bleiben. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Luczak.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu diesem Gesetzentwurf, der Novellierung des Geldwäschetatbestandes, ist eines anzumerken: Nach der Vorstellung des Gesetzentwurfes durch die Bundesjustizministerin hat keiner meiner Vorredner gesagt, dass es hier nichts zu verbessern gebe. ({0}) – Entschuldigung, das war allein Herr Luczak. - ({1}) Auch wir finden, dass dieser Gesetzentwurf durchaus noch verbesserungsfähig ist. Geldwäsche ist in der Tat ein Delikt mit einem eigenen Unwertgehalt, das seinen Unwertgehalt nicht aus der Vortat alleine bezieht, sondern selber einen eigenen Unwert besitzt, indem es nämlich die Voraussetzungen für die Begehung weiterer Straftaten, deren Finanzierung und auch die Erhaltung von möglicherweise dahinterstehenden Strukturen erst schafft. Insofern ist es notwendig, Geldwäsche umfassend und nachhaltig zu bekämpfen, meine Damen und Herren. ({2}) Ob dies allerdings mit dem schlichten Wegfall der Katalogtaten, also der Aufzählung bestimmter Vortaten, zu erreichen ist, das ist zweifelhaft. Es geht auch uns nicht alleine darum, Taten möglichst hart zu bekämpfen, sondern sie möglichst wirksam zu bekämpfen. Wenn hier eingeräumt wird, durch den Wegfall der Vortaten werde es zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Verfahren kommen, dann bedeutet das natürlich einen deutlichen Anstieg an Belastungen für Gerichte und Staatsanwaltschaften. Das müssen die Länder finanzieren. Es ist einfach, im Bund Gesetze zu verschärfen, deren Ausführung – und auch die Finanzierung der Ausführung – den Ländern obliegt. Meine Damen und Herren, so einfach können wir es uns eigentlich nicht machen. ({3}) Noch etwas: Mit diesem Gesetz wird eine Richtlinie der Europäischen Union, auf die sich die Mitgliedstaaten insgesamt verständigt haben, umgesetzt. Allerdings wird sie nicht nur umgesetzt, sondern sie wird mal wieder übermäßig umgesetzt. Denn die Richtlinie verlangt ja nur das Aufführen bestimmter Katalogtaten und nicht das Streichen sämtlicher Vortaten. Das wird aber hier gemacht. Das heißt, wir packen mal wieder gesetzgeberisch zusätzlich etwas auf die Anforderungen der Europäischen Union drauf. Auch das schafft möglicherweise einen nicht notwendigen Aufwand. ({4}) Noch etwas – aber das ist eher etwas für das Fachpublikum im Ausschuss –: Es ist hinsichtlich der Strafbestimmung fraglich, ob die Regelung zu Auslandstaten dann bestimmt genug ist, wenn sie nicht nur Auslandstaten einbezieht, die im Ausland schon strafbar sind, sondern sich auch auf Taten bezieht, die im Ausland nach Beschlüssen und Richtlinien der EU möglicherweise strafbar sein sollten. Da sind die Grenzen des Bestimmtheitsgrundsatzes möglicherweise verletzt. Aber das ist eine Detaildiskussion, die wir noch zu führen haben. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Fabio De Masi, Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Geldwäsche“ klingt etwas niedlich, aber wir sprechen über schwerste Finanzkriminalität, und einige der Kolleginnen und Kollegen hier im Raum konnten dieser Kriminalität gestern über mehrere Stunden ins Auge blicken, als wir Dr. Markus Braun, den ehemaligen CEO von Wirecard, versucht haben zu vernehmen. Es geht um Terrorismus, um Waffen- und Menschenhandel, um Korruption, um Steuerhinterziehung. Und wer so etwas macht, der versucht natürlich, die Spur des Geldes zu verschleiern. Es ist von daher positiv, dass die Bundesregierung es jetzt mit dem All-Crimes-Ansatz erleichtert, die Verschleierung von Geldflüssen zu bekämpfen, und jede strafbare Vortat dafür heranzieht. Es ist auch positiv, dass Sie bei der Leichtfertigkeit noch einmal in sich gegangen sind und dort eine Verschlechterung der gesetzlichen Lage abgewendet haben. Aber das alles bleibt symbolische Rechtspolitik, solange der Vollzug nicht verbessert wird. ({0}) Denn in den Bundesländern fehlt es an guter IT, es fehlt an fähigem Personal. Wir müssen hier die Expertise der Landeskriminalämter miteinbeziehen. Wir brauchen so etwas wie eine Finanzpolizei in Deutschland – wie in Italien die Guardia di Finanza –, die auch wirklich schlagkräftig ist. ({1}) Auch weiterhin ist die Verschleierung selbst nicht strafbar. Das ist ein Problem, weil zum Beispiel eine komplexe Mafiaorganisation natürlich in der Lage ist, über viele Tarnfirmen, über viele Schritte ihre Straftat zu verheimlichen, sodass wir allein die Tatsache, die dahintersteht, nicht kennen. Deswegen ist es wichtig, dass auch die Geldwäsche selbst schon Anlass ist, Ermittlungen aufzunehmen. ({2}) Wenn wir es aber mit der Mafia aufnehmen wollen, brauchen wir endlich auch transparente Strukturen. Es kann nicht sein, dass Rocco und vier Brüder reichen, um die Auflagen des Transparenzregisters zu umgehen. Es kann nicht sein, dass in Deutschland eine Immobilienparty mit Betongold steigt, wo Oligarchen ganze Häuserkomplexe bar aus dem Rindslederkoffer bezahlen können. Dagegen brauchen wir Maßnahmen in Deutschland. ({3}) Zuletzt zur Vermögensabschöpfung. Die hat sich bewährt, auch im Kampf gegen Clankriminalität oder bei Cum/Ex-Clankriminalität – auch dort haben wir clanähnliche Strukturen, organisierte Kriminalität. Aber es soll den Gerichten ermöglicht werden, dass sie den Angeklagten auferlegen können, dass diese nachweisen müssen, dass ihr Geld aus legalen Quellen stammt. Und jetzt wollen Sie diese Möglichkeit weiter einschränken, indem Sie den Nachweis verlangen, dass der Vermögensgegenstand aus einer bandenmäßigen Vortat stammt. Das ist insbesondere bei der Terrorismusfinanzierung häufig nicht der Fall. Laut Bundesgerichtshof darf man aber keine überspannten Anforderungen an die Richter stellen. Deswegen sagen wir: Hier droht eine Verschlechterung der Gesetzeslage. Eine allerletzte Bemerkung, weil die AfD sich hier so aufgeblasen hat: Einer unserer Zeugen gestern, der uns noch vor einer Woche verklagen wollte und den wir aus der JVA heraus vernommen haben, hat enge Beziehungen zu einer Abgeordneten, die in diesen Reihen sitzt. Deswegen sollten Sie vielleicht bei diesem Thema etwas mehr den Ball flachhalten. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob es die italienische Mafia ist oder die Finanzierung von Terrororganisationen: Gerade hier in Deutschland machen wir es allen noch immer viel zu leicht, ihr schmutziges Geld zu waschen, Geld, das bei Geschäften mit Drogen oder Waffen oder beim Menschenhandel verdient wurde, um nur ein paar der Beispiele zu nennen. Und wo fließt dieses Geld dann hin, meine Damen und Herren? Da brauche ich nur in meinen eigenen Wahlkreis, nach Friedrichshain-Kreuzberg zu schauen. Die Mieter wohnen in Häusern, von denen niemand so genau weiß, wem sie eigentlich gehören. Auch die Eigentumsverschleierung bei Immobilien ist ein Riesenproblem im Zusammenhang mit der Geldwäsche, meine Damen und Herren. ({0}) Ganze Häuserblocks werden gekauft und verkauft. Wir wissen nicht, ob mit schmutzigem oder gewaschenem Geld. Wir haben immer noch keinen Straftatbestand. Deswegen muss man tatsächlich darüber nachdenken, ob man das nicht unter Strafe stellt. Das müssen wir ändern, meine Damen und Herren. ({1}) In Berlin stellt sich heraus, dass allein eine kriminelle Gruppierung mindestens 28 Millionen Euro dreckiges Geld aus illegalen Geschäften in Immobilien investiert hat. Und obwohl die Behörden daraufhin ganze 77 Immobilien beschlagnahmt haben, konnten die weiterhin über einen Strohmann die Mieten kassieren. ({2}) Man muss sich vorstellen: Menschen zahlen ihre Miete und denken, dass sie dafür etwas bekommen, und in Wirklichkeit wird mit diesen Mieten schlimmste Kriminalität finanziert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das muss sich ändern. ({3}) Das zentrale Problem der Verfolgung von Geldwäsche ist, dass die Herkunft des Vermögens durch komplizierte Konstruktionen aus Strohmännern, Briefkastenfirmen und Offshorestrukturen verschleiert wird. Woher das Geld dann kommt, wissen wir nicht. Das können wir nicht hinnehmen. Deswegen finde ich es wirklich ehrenwert, dass die Bundesregierung sich daran versucht, den Geldwäscheparagrafen zu ändern. Aber leider gelingt es nicht, das Gesetz entsprechend hinzubekommen. Dabei reicht es vielleicht, sich zumindest mal die Stellungnahme der Praktiker anzuschauen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter hat dort deutlich gemacht, welche Vorschläge wir im Ausschuss diskutieren sollten. Denn es ist doch klar – das wurde hier auch schon gesagt –: Keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche wäre so ziemlich das Dümmste, was wir machen könnten. Aber genau das, liebe Frau Ministerin, wirft Ihnen der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor. Das müssen wir ändern. Darüber müssen wir uns im Ausschuss verständigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dirk Wiese, SPD. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geldwäsche – wir haben es gehört – sichert Kriminellen Geld aus oft schwersten Straftaten und finanziert damit meist die nächsten Straftaten. Die Geldwäsche – das wissen wir von den Ermittlungsbehörden – funktioniert dabei auf den verschiedensten Wegen. Von verschachtelten Firmennetzwerken über virtuelle Zahlungssysteme bis hin zu Computerspielwährungen nutzen die Täter heute unterschiedlichste Mittel zur Verschleierung von Finanztransaktionen und zur Vermögensmehrung. Das Wichtigste ist dabei neben gesetzlichen Änderungen, Verschärfungen und Anpassungen, dass wir vor Ort eine gute Ausrüstung, genügend Personal und vor allem auch gute Voraussetzungen für die Strafverfolgungsbehörden haben; denn darauf kommt es letztendlich vor Ort in der Praxis entscheidend an. Ich will ausdrücklich hervorheben, dass im Bereich der Geldwäsche und Clankriminalität gerade das Bundesland Niedersachsen mit dem Innenminister Boris Pistorius in den vergangenen Jahren an vielen Stellen vorangegangen ist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der nordrhein-westfälische Innenminister Reul Geldwäschebekämpfung mit dem Besuch von Shishabars gleichsetzt. Hier wäre, glaube ich, mal ein Anruf in Niedersachsen fällig; denn hier wird wirklich gute Arbeit geleistet. ({0}) Der jetzt von Christine Lambrecht vorgestellte Entwurf geht in die richtige Richtung, und er ist, glaube ich, bei der Bekämpfung der Geldwäsche ein wichtiger Meilenstein. Zwei Beispiele. Eine entscheidende Erleichterung gibt es bei der Strafverfolgung. Es wird nun nicht mehr darauf ankommen, dass Vermögenswerte aus ganz bestimmten Straftaten oder bestimmten Tathergängen herrühren. Beispielsweise konnte der Täter A, der regelmäßig, aber nicht gleichzeitig gewerbsmäßig Betrug beging und das Geld in neue, hochwertige Pkws steckte, früher nicht wegen Geldwäsche belangt werden. Das wird sich durch dieses wichtige Gesetzesvorhaben ändern. Ein zweites Beispiel. Bisher konnten die aus beschlagnahmten Vermögenswerten gezogenen Nutzungen teilweise nicht eingezogen werden. Wenn also der Clan X sich mit seinem schmutzigen Geld auf der Schloßallee ein Mehrfamilienhaus kauft, in dem unter anderem auch ein Restaurant zur Pacht ist, dann kann der Staat künftig dieses Grundstück einziehen, und er erhält auch alle Einnahmen aus den Mietverhältnissen und die mit dem Gaststättenbetreiber vereinbarte Pacht. Das ist eine wichtige gesetzliche Änderung, die den Strafverfolgungsbehörden sehr wichtige Instrumente an die Hand gibt. Es ist gut, dass das jetzt vom Bundesjustizministerium und von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf den Weg gebracht wird. ({1}) Denn es gibt gerade bei Immobilien in Toplagen wirklich beträchtliche Miet- und Pachteinnahmen, und es ist gut, dass die jetzt auch eingezogen werden können. Die anstehenden Beratungen werden wir mit unserem Koalitionspartner sehr gut und konstruktiv führen. Ich glaube, am Ende wird hier ein sehr wichtiges Gesetz herauskommen, das im Kampf gegen Geldwäsche wirklich ein wichtiges Zeichen setzt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Ingmar Jung, CDU/CSU. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das ist schon eine beeindruckende Debatte heute, auch wenn der Höhepunkt mit der Rede von Herrn Dr. Ullrich gleich noch kommt, wie gewohnt am Ende. ({0}) Doch wenn man es gewohnt ist, hier über Strafrecht zu diskutieren, ist es irgendwie etwas irritierend, muss ich sagen. ({1}) Ich habe es noch nie erlebt, dass die AfD plötzlich erklärt: Man darf doch nicht so hart vorgehen, man darf doch im Strafrecht nicht viel zu weit gehen, man muss doch mal Verständnis für die Täter haben. Noch mehr bin ich überrascht, dass Die Linke und, Frau Bayram, die Grünen plötzlich harte Strafen, hartes Vorgehen fordern. ({2}) Ja, „Geldwäsche“ klingt so ein bisschen nach Kapital, da verschwimmt hier alles ein bisschen. ({3}) Also, diese Debatte ist schon beeindruckend gewesen. Lassen Sie mich vielleicht noch die Kernpunkte festhalten. Erstens. Zu dem All-Crimes-Ansatz haben schon einige etwas gesagt. Ich halte es für einen außerordentlich wichtigen Punkt, dass wir jetzt, bezogen auf die Herkunft der Vermögensgegenstände, die dann wieder in den Wirtschaftskreislauf gegeben werden, alle Vortaten und nicht nur bestimmte Straftaten für taugliche Geldwäschevortaten halten; denn letztlich haben sie doch einen eigenen Unrechtsgehalt. Wenn ich unrechtmäßig erworbene Vermögensgegenstände habe und die dann zurück in den legalen Wirtschaftskreislauf gebe, ist es doch relativ egal, wie strafbar und wie schlimm die Vortat war. Das kann die Strafe der Vortat beeinflussen; aber inkriminierte Vermögensgegenstände sind inkriminierte Vermögensgegenstände. Da gibt es keine guten und keine schlechten. Deswegen finde ich es gut, dass wir jetzt eine Verbesserung schaffen und in Zukunft stärker dagegen vorgehen können. Zum Zweiten bin ich außerordentlich dankbar, Frau Ministerin, dass Sie die Strafbarkeit der Leichtfertigkeit jetzt wieder mit aufgenommen haben. Ich glaube, wir alle haben in den letzten Wochen viel mit Praktikern gesprochen. Jeder Staatsanwalt sagt: Wenn ich das nicht drin habe, dann kann ich viele Verfahren gar nicht erst in Gang setzen. – Deswegen finde ich es wichtig, dass wir hier am Ende keine Aufweichung des Geldwäscheparagrafen haben. Über die selbstständige Einziehung, lieber Herr Kollege Wiese, müssen wir, glaube ich, noch mal reden. Ich stimme all dem, was Sie zu Immobilien usw. gesagt haben, zu. Aber bei den Voraussetzungen haben wir jetzt eine Änderung, die schon bemerkenswert ist. Dass wir plötzlich nur noch bei gewerbs- oder bandenmäßiger Begehung der Tat die selbstständige Einziehung machen können, finde ich im Ergebnis okay; denn das sind natürlich die, die wir eigentlich meinen. Aber was wird denn da geregelt? Da haben wir die Möglichkeit, zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf Vermögensgegenstände zugreifen zu können, nämlich ab dem Zeitpunkt, ab dem der Anfangsverdacht besteht. Aber wenn der Anfangsverdacht einer Geldwäschestraftat besteht, weiß man doch oft noch gar nicht, ob eine qualifizierte Vortat vorlag oder die Qualifikation erst danach gegeben ist. Und wenn wir das jetzt so ändern, dass wir die selbstständige Einziehung einschränken, wenn wir diese Aufweichung drin haben, haben wir vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, bei Clankriminalität und Ähnlichem zuzugreifen. Darüber müssen wir, glaube ich, in den nächsten Wochen noch mal sehr genau reden. ({4}) Ich will noch eins sagen. In der Diskussion ist gelegentlich gesagt worden, man könne ganz auf die Vortaten verzichten. Herr De Masi, Sie haben gesagt: Es muss aus sich heraus strafbar sein. – Ich weiß nicht, ob Sie damit sagen wollten, man könne auf die Vortat ganz verzichten. Aber es ist eine Diskussion dazu gelaufen, und es gab Wissenschaftler, die darüber gesprochen haben. Ich muss ehrlicherweise sagen, das würde auch uns ein ganzes Stück zu weit gehen. Denn das, was bei inkriminierten Vermögensgegenständen als Tathandlung bestraft wird, sind teilweise Verhaltensweisen, die alltäglich und gebräuchlich sind und auch möglich sein müssen. Dann brauchen wir schon noch eine Vortat, damit daraus eine Straftat wird. Aber ich glaube, dass dies im Moment auch keiner mehr ernsthaft fordert. Wie gesagt, an der einen Stelle war ich mir nicht ganz sicher. Ich höre jetzt auf, bevor mir das Wort entzogen wird. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt natürlich versucht, zu sagen, dass den klugen Worten des Kollegen Jung nichts mehr hinzuzufügen ist. ({0}) Dennoch will ich auf zwei Dinge hinweisen, die mir wichtig sind. Wenn man sich ansieht, welchen Umfang die Geldwäsche allein in Deutschland schätzungsweise hat, dann muss man sich auf eine Studie der Uni Halle aus dem Jahr 2015 beziehen. Darin wird die unvorstellbare Summe von 100 Milliarden Euro genannt – knapp ein Drittel unseres Bundeshaushaltes. Diese 100 Milliarden Euro zeigen nicht nur den Umfang der Kriminalität, sondern sie zeigen auch das Leid auf, das dahintersteht, weil hinter jeder Geldwäschetat auch eine Vortat steht, die wir in diesem Rechtsstaat bekämpfen müssen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit diesem Gesetz weiter daran arbeiten, Geldwäsche zu unterbinden. Gerade weil die Anzahl und der Umfang der Vortaten größer wird, ist es richtig, dass wir auf den Katalog der Vortaten verzichten und damit jede Straftat als Vortat zulassen. Ich freue mich auch, dass unser Ansinnen erfolgreich war und die sogenannte leichtfertige Geldwäsche, von der Praktiker sagen, sie sei das Einfallstor, jetzt auch aus dem Referentenentwurf heraus Eingang in den Regierungsentwurf gefunden hat. Worüber wir noch sprechen müssen, ist in der Tat die Frage der selbstständigen Einziehung, § 76a Strafgesetzbuch. Das ist eine Strafrechtsnorm, über die man vielleicht nicht sofort stolpert, die aber für die Staatsanwaltschaften enorm wichtig ist, nämlich bei der Frage: Wie kann ich sofort Vermögensgegenstände sichern, wenn ich vielleicht noch gar nicht weiß, was genau die Vortat war? Deswegen dürfen wir da nicht zu einer Verengung der Vortat kommen, sondern es muss jeder Anfangsverdacht genügen, um dieses Geld sicherzustellen; denn jedes Geld, das sichergestellt ist, wird aus dem kriminellen Kreislauf herausgenommen. Deswegen ist es, glaube ich, ein ganz wichtiges Momentum, das wir uns im Verlauf der Debatte sehr gut anschauen müssen. Mir ist auch noch wichtig, zu betonen, dass wir über den gesetzlichen Rahmen hinaus ein Bewusstsein brauchen. Sowohl bei den LKAs und Staatsanwaltschaften der Länder wie auch bei unserer Financial Intelligence Unit beim Zollkriminalamt brauchen wir gute Leute und müssen offen sein für die Ausweisung von Stellen; denn der Staat kann nur dann gut und sicher handeln, wenn er auch das entsprechende Personal hat. Wir schaffen den rechtlichen Rahmen; aber der Staat muss diese Vorschriften auch vollziehen. Denn es gibt noch weitere Herausforderungen, die auf uns zukommen, zum Beispiel die Frage der Geldwäsche im Bereich Bitcoin. Wir sagen den kriminellen Machenschaften den Kampf an und werden mit diesem Gesetz die Geldwäsche in Deutschland zurückdrängen. Lassen Sie uns darüber gut debattieren. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anschnallen ist in der Tat notwendig; denn die Luftfahrtbranche befindet sich in ihrer größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, eine Branche mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen in unserem Land. Und was macht die Bundesregierung, was macht das Bundesverkehrsministerium? Anfang des Monats wieder einmal einen Fluggipfel – ohne Strategie, ohne Plan, ohne konkrete Zusagen. Meine Damen und Herren, das ist nicht zielführend für diese Branche. So geht es nicht weiter. ({0}) Wir brauchen eine sinnvolle Strategie für die Luftfahrtbranche. Denn wenn man sich in diesen Tagen an deutschen Flughäfen umguckt, sieht man vor allen Dingen eins: gähnende Leere; selbst an den großen Drehkreuzen nur wenige Maschinen, die starten und landen. Wir müssen da handeln. Genau in diese Richtung geht der Antrag der Freien Demokraten, den wir heute vorlegen. ({1}) Ich will zwei, drei Punkte nennen. Wir müssen zum einen das Vertrauen der Menschen in den Verkehrsträger Luftverkehr zurückholen. Dafür brauchen wir keine pauschalen Einreiseverbote in ganze Drittstaaten. Wir brauchen eine differenzierte Risikostrategie, und wir brauchen vor allen Dingen eine einheitliche Teststrategie. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, damit die Menschen wieder Zutrauen haben, in ein Flugzeug zu steigen und zu fliegen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({2}) Aber das wird nicht reichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen – auch das ist eine Forderung der Freien Demokraten – die Abgabenlast im Luftverkehr ganz deutlich senken, sei es bei der Luftverkehrsteuer, die die Große Koalition in dieser Wahlperiode nochmals erhöht hat, sei es bei den Luftsicherheitsgebühren, sei es bei den Defiziten der Flugsicherung; um nur einige Punkte hier zu nennen. Da gibt es viele Stellschrauben, wo man was machen kann. ({3}) Ich möchte auch noch einen anderen Punkt ansprechen. Natürlich werden in diesen Tagen viel weniger Flugzeuge von den Airlines bestellt, weil sie selber viele Überkapazitäten haben. Das führt dazu, dass gerade die Forschung und Entwicklung für innovatives, klimafreundliches Fliegen, für die Entwicklung von synthetischen Kraftstoffen weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Da müssen wir handeln. Deswegen fordern wir Freie Demokraten eine Aufstockung der Mittel für diese Forschungsprogramme. ({4}) – Auch wenn der Kollege Gelbhaar den Kopf schüttelt, glaube ich, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist, den wir hier angehen müssen. ({5}) Das sind nur drei wichtige Punkte aus unserem Antrag. Ich hätte noch eine ganze Reihe anderer nennen können, auch was den ETS-Handel angeht. ({6}) – Beim nächsten Mal, Frau Lötzsch. Vielleicht gehen Sie ja darauf ein. – Unser Antrag verfolgt die Strategie, diese Branche substanziell am Leben zu erhalten und sie in eine gesunde Zukunft zu führen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Die Bundesregierung lässt da leider noch viel zu wünschen übrig. Vielleicht folgt sie ja unserem Pfad. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Björn Simon, CDU/CSU. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Reuther, ganz ehrlich: Ich bin Ihnen und der FDP-Fraktion dankbar für diesen Antrag. ({0}) Sie lenken damit nämlich die Aufmerksamkeit dieses Parlaments zu Recht erneut auf einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in unserem Land, der nicht zu vernachlässigen ist. Das bietet mir und meiner Fraktion abermals die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, welche umfassenden Maßnahmen die Koalitionsfraktionen gemeinsam mit der Bundesregierung und der Luftverkehrsbranche bereits heute teils umsetzen und teils planen. Stünden Sie ebenso wie wir mit der Branche so im Austausch, dann wüssten Sie auch da Bescheid. Während die FDP fröhlich einen Antrag formuliert mit Forderungen, die für uns alles andere als neu sind, hat das BMVI vor genau zwei Wochen – Sie haben darauf hingewiesen – unter Minister Andreas Scheuer digital einen Nationalen Luftverkehrsgipfel abgehalten, gemeinsam mit Vertretern der gesamten Luftverkehrsbranche. Man formulierte sowohl gemeinsame Ziele als auch eine geeignete, sachdienliche Herangehensweise, eine Strategie. Das ist verantwortungsvolle Politik im Dialog, meine Damen und Herren. ({1}) – Sie waren nicht dabei. Noch vor einem Jahr war die zivile Luftfahrt für uns selbstverständlich. Das Flugzeug als Fortbewegungsmittel war sowohl im privaten als auch im beruflichen Reiseverkehr nicht wegzudenken. Der Luftverkehr verbindet Menschen, leistet einen Riesenbeitrag zur individuellen Mobilität und fördert so Völkerverständigung und kulturellen Austausch. Zudem ist das Flugzeug, statistisch gesehen, weltweit noch immer das sicherste Verkehrsmittel. Insbesondere spielt der Luftverkehr vor allem eine herausragende Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch im europäischen Kontext. Als Exportnation verbindet der Luftverkehr deutsche Unternehmen mit wichtigen Zuliefer- und Absatzmärkten in aller Welt und sichert so Beschäftigung und Wohlstand im ganzen Land. 300 000 Frauen und Männer sind direkt bei Fluggesellschaften, in der zivilen Luftfahrtindustrie, an den Flughäfen und bei der Flugsicherung beschäftigt, weitere 350 000 bei Unternehmen, die von Aufträgen aus der Luftfahrt abhängen: Bauwirtschaft, Lebensmittelindustrie usw. Durch die Konsumausgaben der direkt und indirekt Beschäftigten, die ich eben genannt habe, entstehen noch einmal 155 000 sogenannte induzierte Arbeitsplätze. Die Luftfahrt sichert also in Summe deutlich über 800 000 Arbeitsplätze in ganz Deutschland. Und die FDP glaubt wirklich, dass wir das nicht auf dem Schirm haben? ({2}) – Ich habe es gemerkt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Konsequenzen aus den Coronamaßnahmen spüre ich ganz deutlich in meinem Wahlkreis. Stadt und Kreis Offenbach, aber auch das gesamte Rhein-Main-Gebiet sind als direkte Anrainer des Frankfurter Flughafens wirtschaftlich und infrastrukturpolitisch betroffen. Der Flughafen ist mit 80 000 Beschäftigten die größte lokale Arbeitsstätte in ganz Deutschland. Mit circa 40 000 Mitarbeitern ist die Lufthansa der größte Arbeitgeber in Hessen, den es zu sichern gilt. Nicht ohne Grund siedeln sich immer mehr Menschen im Umfeld unserer Flughäfen an. Und jetzt, während Corona? Sie glauben doch nicht, dass der Bundesregierung oder den Koalitionsfraktionen Reisebeschränkungen und andere coronabedingt notwendige Maßnahmen, die der Branche faktisch die Grundlage für ihr Geschäftsmodell entziehen, Freude bereiten? ({3}) Ich möchte daran erinnern: Vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle über den überfüllten Luftraum, überforderte Sicherheitskontrollen an den Flughäfen und über die Lösung der damit verbundenen Probleme debattiert. Flughäfen und Airlines veröffentlichten jedes Jahr neue Rekorde bei den Passagierzahlen. Und heute? Heute finden wir selbst zu ehemaligen Stoßzeiten leere Flughafenterminals vor. Der Luftverkehr ist praktisch zum Erliegen gekommen. Uns droht ein Arbeitsplatzabbau von rund 60 000 Stellen. Das ist mehr als jeder fünfte Arbeitsplatz. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Situation des Luftverkehrs ist dramatisch. Die Branche braucht dringend mehr Unterstützung; da stimme ich Ihnen zu. Sie glauben doch nicht, dass die Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag stellen, nicht schon längst in der Prüfung sind. Entgegen der Kritik hat die Bundesregierung die Luftverkehrswirtschaft während der Pandemie nicht alleine gelassen. Andreas Scheuer, unser Verkehrsminister, steht zusammen mit seinen beiden Parlamentarischen Staatssekretären, Steffen Bilger und Enak Ferlemann, sowie dem gesamten Ministerium hinter der Luftverkehrswirtschaft, weil sie und weil wir wissen, dass ein Wegfall dieses Wirtschaftsfaktors für Deutschland nichts Gutes zu verheißen hätte. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche darf nicht aufs Spiel gesetzt werden! ({4}) Bereits im Frühjahr wurde ein Schutzschirm aus Zuschüssen, Bürgschaften, steuerlichen Erleichterungen und unbegrenzten Liquiditätshilfen gespannt. Besonders erwähnenswert sind auch hier das viel gelobte Kurzarbeitergeld, KfW-Programme sowie die Steuerentlastungen, die zum Tragen kamen, von denen auch der Luftverkehr profitiert. Sie sind ja zum Glück auf die 9 Milliarden Euro aus dem Stabilisierungspaket für die Lufthansa eingegangen. In Ihrem Antrag, liebe FDP, sprechen Sie von den 9 Milliarden Euro. Dieser Kredit war und ist übrigens wichtig und richtig, auch weil das Unternehmen bis zur Pandemie operativ gesund und profitabel war. Den Kritikern dieser Milliardenhilfe, die ich auch in diesem Parlament vermute, möchte ich zurufen, dass die Lufthansa diesen Kredit vollumfänglich mit einem nicht unbeträchtlichen Zins wieder zurückzahlen wird. Auch die in meinem Wahlkreis ansässige Condor hat seitens des Bundes und des Landes Hessen einen KfW-Kredit in Höhe von 550 Millionen Euro erhalten. Hier stünden ansonsten 5 000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Eine Unterstützung der regionalen Flughäfen, wie Sie sie im Antrag erwähnt haben und fordern, ist bereits rechtskonform ausgearbeitet. Es fehlt hier noch die Unterstützung der einzelnen Ressorts in der Bundesregierung. Daher appelliere ich an die zuständigen Finanzpolitiker und die gesamte Bundesregierung im Hinblick nicht nur auf die Flughäfen und die Regionalflughäfen, sondern auch auf die gesamte Luftverkehrswirtschaft: Lassen Sie uns diesen Weg, den wir bisher erfolgreich gegangen sind, gemeinsam weitergehen! Helfen wir der Luftverkehrsbranche und den über 800 000 Beschäftigten! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Frank Magnitz, AfD. ({0})

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine beiden geschätzten Vorredner haben ja schon auf die wirtschaftliche Bedeutung der Luftverkehrsbranche hingewiesen. Ich muss aber trotzdem erwähnen, dass die Probleme des deutschen Luftverkehrs nicht in der angeblichen Pandemie begründet liegen. Sie treten jetzt nur deutlicher zutage. Verkehrsfeindliche Auflagen zeigen ihre Wirkung zum Nachteil Deutschlands nicht nur in der Automobilbranche, sondern eben auch am Himmel. Für alles wird Corona verantwortlich gemacht, und die Massenmedien schüren die Angst der Bevölkerung. Nicht Corona hindert die Menschen, zu fliegen; es sind die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen tritt gerade in der Luftfahrt klar zutage. Dabei ist das Risiko einer Verbreitung von Covid-19 an Bord praktisch nicht gegeben; so ist die Aussage einer aktuellen Studie des US-Verteidigungsministeriums. Die Technik an Bord eines Flugzeuges ist definitiv wirksamer, als im Klassenzimmer mal eben ein Fenster zu öffnen. In kaum einem Verkehrsmittel sind unsere Bürger so sicher vor Corona wie in einem Flugzeug. Dagegen ist Bus- und Bahnfahren im ÖPNV eine Risikosportart, ({0}) woran auch ein Lappen vor Mund und Nase nichts ändert. Die Bundesregierung hat auch vor Covid-19 versäumt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen an die Realitäten des internationalen Wettbewerbs anzupassen. Bereits vor Corona lag Deutschland beim Wachstum der Branche auf den hinteren oder hintersten Plätzen in Europa. Sowohl die deutsche Luftverkehrsteuer als auch der Sonderweg bei der Finanzierung der Sicherheitskontrollen und die rigiden Nachtflugverbote an unseren Flughäfen belasten die Branche. Die Pleiten deutscher Fluggesellschaften wie Air Berlin und defizitäre Flughäfen stellten der Regierung bereits vor den Coronamaßnahmen kein gutes Zeugnis aus. Offensichtlich ist man nicht einmal in der Hauptstadt fähig, einen vernünftigen Flughafen zu bauen. Deshalb sollten wir mit denen pfleglich umgehen, die wir noch haben. ({1}) Dazu gehört auch, die Vorhaltekosten offengehaltener Flughäfen zu erstatten und den eigenen Pilotennachwuchs zu fördern. Die Übernahme der Kosten der Flughafenfeuerwehren wird zum Beispiel in Bremen bereits praktiziert, ist aber alleine bei Weitem nicht ausreichend. Wer Globalisierung und Europäisierung ohne Rücksicht auf den deutschen Marktteilnehmer vorantreibt, muss dann die Lufthansa mit Steuergeldern retten, deren Umfang den Marktwert des Unternehmens übersteigt. Öffentliches Eingreifen in die Eigentumsordnung ist übrigens eines der Grundmerkmale des Sozialismus, ({2}) was jedenfalls für uns kein Grund zur Freude ist. ({3}) Ich danke deshalb der Fraktion der FDP ausdrücklich dafür, dass unsere seit drei Jahren vorgetragenen Positionen, zum Beispiel zur Abschaffung der Luftverkehrsteuer, zum Flughafenkonzept und zur Kerosinsteuer, Eingang in ihren Antrag gefunden haben. Wir plädieren für die Überweisung an den federführenden Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Arno Klare, SPD. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lage ist in der Tat, wie beschrieben, ernst. In ernsten Lagen muss man das Notwendige tun. Beifallheischende, maximalistische Wunschzettel helfen da wenig. ({0}) „Das Notwendige“ muss man mal wirklich wörtlich nehmen. Es geht nämlich um das, was die Not wendet. Was ist das? Die Hilfen für die Airlines hat Kollege Simon gerade schon beschrieben. Die anderen Instrumente, Kurzarbeitergeld etc. sind Ihnen allen bekannt. Das nutzen auch alle Akteure in der Luftverkehrswirtschaft. Was in der Tat fehlt, sind die Hilfen für die Flughäfen, nicht für die ganz kleinen – da sind die 20 Millionen jetzt safe –, aber im großen Stil. ({1}) Wir brauchen – das sage ich jetzt sehr deutlich an alle, die da verhandeln – eine Länder-Bund-Kooperation – das ist bitte auch in der Reihenfolge zu sehen – bei der Unterstützung des Flughafensystems in Deutschland. ({2}) Das kann nicht warten. Da können wir uns nicht bis Januar Zeit lassen. Das muss jetzt auf den Tisch. ({3}) Klartext: Es muss eine finanzielle Hilfe für die Flughäfen geben. Das ist das in der Tat Notwendige. Zur Perspektive noch ein paar Sätze. Wir brauchen auch so etwas wie ein Luftverkehrskonzept 2030 – das Luftverkehrskonzept, das wir haben, ist das des BMVI; es ist in der letzten Legislaturperiode nicht ressortabgestimmt worden –, und in diesem Luftverkehrskonzept 2030 muss natürlich ein Flughafenkonzept enthalten sein. ({4}) Dieses Lufthafenkonzept muss aber eine volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung beinhalten, keine betriebswirtschaftliche, wie die, die wir kennen, bei denen dann einige Flughäfen einfach hinten herunterfallen. Ich sage Ihnen nur ein Beispiel. Der Hauptbahnhof in Mülheim an der Ruhr ist betriebswirtschaftlich auch ein Fiasko. Trotzdem macht ihn keiner zu. Das heißt, wir brauchen eine systemische Netzbetrachtung, die das volkswirtschaftlich untersucht. Das ist bisher nicht vorliegend. Insofern bitte ich oder fordere ich, dass wir dieses Konzept jetzt beginnen zu erarbeiten. Meine letzten Sätze betreffen die Zukunft des Fliegens. Wir brauchen Mittel für den Erhalt der bedeutenden Luft- und Raumfahrtnation Deutschland. Wir brauchen die Mittel für die Transformation hin zu grünem Fliegen. Da stehen Unsummen im Haushalt. Aber die dürfen jetzt auch nicht mehr sozusagen zuwartend verwaltet werden, sondern sie müssen in reale Projekte umgesetzt werden. Das erwarte ich auch. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Jörg Cezanne, Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Luftverkehr ist von Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie besonders dramatisch betroffen; wir wissen das alle. Deshalb sind staatliche Hilfen grundsätzlich berechtigt und notwendig. Die bisherigen Stützungsmaßnahmen, insbesondere die insgesamt 9 Milliarden für die Lufthansa, beinhalten aber keinen Schutz für die Beschäftigten, sie beinhalten keine Vorgaben für den dringend notwendigen klimagerechten Umbau des Sektors. Sie sind ein Rettungsschirm für die Aktionäre. Hier hat die Bundesregierung unverantwortlich gehandelt und muss dringend nachbessern. ({0}) Ohnehin zielen die Fluggesellschaften keineswegs nur auf krisenbedingt notwendige Kosteneinsparungen. Wenn Sie genau hinschauen, so sehen Sie: Es wird versucht, sich mit den Staatshilfen im Rücken für den Verdrängungswettbewerb nach der Krise fit zu schrumpfen, und das auf Kosten der Beschäftigten. Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen werden einseitig gekündigt, auch von der Lufthansa. Die Lufthansa baut mit Ocean eine neue Billigflugtochter zu schlechteren Tarifbedingungen auf. Der Verkauf der Catering-Tochter LSG mit mehr als 5 000 Beschäftigten an den Konkurrenten Gategroup wird vorangetrieben. Die Mehrzahl der Beschäftigten ist seit mehr als 15 Jahren im Betrieb. Sie sind nach Tarifvertrag faktisch unkündbar. Bei Gategroup besteht für sie kein Kündigungsschutz, und sie werden, wenn überhaupt, zu schlechteren Bedingungen beschäftigt werden. Über Monate verzögerte die Lufthansa den Abschluss einer Betriebsvereinbarung für das Bodenpersonal und ließ die Beschäftigten im Unklaren über deren Zukunft. Mira Neumaier von Verdi hat völlig recht, wenn sie fordert, die Beschäftigten als Rückgrat des Luftverkehrs müssten in den Mittelpunkt gerückt werden. Weitere staatliche Hilfen darf es nur gegen Sicherung von Arbeitsplätzen und von Arbeitsbedingungen sowie bei Mitbestimmung der Beschäftigten geben. ({1}) In der Liste der Staaten mit dem höchsten Klimaausstoß würde der internationale Luftverkehr einen Platz unter den ersten zehn einnehmen, zwar nicht im Moment, aber vor der Krise ja, und auf dieses Niveau will man wieder gelangen. Ein erster Schritt wäre es gerade jetzt, den bisherigen Transport mit Kurzstreckenflügen auf die Bahn zu verlagern, das Ganze energisch voranzutreiben und den Luftverkehr auf Zukunft einzustellen. Arno Klare hat die Frage des Luftverkehrs und des Flughafensystems angesprochen. Obgleich Betriebswirtschaft nicht alles ist, muss man sagen: 12 von 14 deutschen Regionalflughäfen überleben überhaupt nur, weil Kommunen Steuergeld zuschießen. Defizitäre und verkehrspolitisch nicht notwendige Regionalflughäfen dürfen nicht auch noch mit weiteren Steuergeldern unterstützt werden. ({2}) Zu guter Letzt. Um es zumindest zu erwähnen: Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der FDP würde alles nur schlimmer machen – für die Beschäftigten, für das Klima und für einen zukunftsfähigen Luftverkehr. Deshalb sollte man sie ablehnen. Danke schön. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Keine Frage, der Luftverkehr gehört zu den Branchen, die am härtesten von der Coronakrise gebeutelt sind. Es ist durchaus in unserem Interesse, Airlines und Flughäfen in systemrelevantem Umfang zu erhalten, und dabei sind Rettungsmaßnahmen unumgänglich; deswegen haben wir sie mitgetragen. Aber es kann nicht das Ziel sein, den Flugbetrieb in allen Teilen steuerfinanziert durch die Krise zu bringen, jedwede Nachfrage weiterhin bedienen zu können oder diese sogar zu erzeugen. Das ist falsch. ({0}) Fliegen ist, wie man es dreht und wendet, auch besonders energieintensiv. Wir brauchen keine staatlich subventionierten Kurztrips, die vor allem deshalb stattfinden, weil Fliegen gerade so billig ist. Das hat sogar die Kanzlerin inzwischen öfter festgestellt. ({1}) Wir brauchen auch nicht jeden Regionalflughafen um die Ecke, solange bei akzeptablen Fahrtzeiten Flughäfen erreichbar sind. Meine Damen und Herren, Rettungsmaßnahmen dürfen den Abbau von Überkapazitäten nicht dauerhaft behindern. Das Race to the Bottom muss unbedingt beendet werden. Das hatte die FDP im Ausschuss sogar schon selber gesagt. Die derzeitigen Preiskämpfe lähmen die Handlungsfähigkeit der Airlines eminent, weil nämlich alles auch zulasten der Umwelt geht. Sie sind gehindert, in Dinge zu investieren, die notwendig sind. Die Luftverkehrsbranche wurde bereits mit Coronahilfen im zweistelligen Milliardenbereich bedacht. Dabei ist es geradezu absurd, dass dies fast völlig unkonditioniert geschehen ist: ohne Klimaauflagen, ohne irgendwas. Ihr Antrag fällt sogar noch weit hinter das zurück. ({2}) Sie wollen neben weiteren Coronahilfen die Luftverkehrsteuer wieder abschaffen. Sie wollen die Kerosinsteuer, die endlich auf EU-Ebene diskutiert wird, verhindern. Sie wollen die Regionalflughäfen über 2024 hinaus weiter am Tropf der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hängen lassen. Das ist grundfalsch; das lehnen wir ab. ({3}) Wir Grüne wollen, dass Mobilität auch die ökologische Wahrheit sagt. Wir wollen ökologisch verantwortliche Mobilität beim Preis entlasten und all die Fortbewegungsarten, die den Klimawandel antreiben, beim Preis belasten, und zwar so, dass es auch verhaltensrelevant wird. Mit den Mehreinnahmen im Haushalt wollen wir die Erforschung, die Herstellung und die Markteinführung alternativer Treibstoffe für Flugzeuge unterstützen. Da wäre es schon schön, wenn die FDP oder auch die Bundesregierung mal sagen würden, wo eigentlich diese Unmengen an Grünstrom herkommen sollen, die man zur Herstellung synthetischer Treibstoffe braucht, wenn man gleichzeitig die Energiewende nicht voranbringt. ({4}) Meine Damen und Herren, ein letzter Gedanke dazu. Wir befinden uns spürbar an den Grenzen dieses Wachstums. Wir sollten alle ruhig damit beginnen, das zu akzeptieren und darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll auf ökologisch verträgliche Art und Weise. Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alois Rainer, CDU/CSU. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 31. Oktober war es endlich so weit: Der neue Berliner Flughafen BER wurde eröffnet. So wie die ersten beiden Flieger, die wegen des dichten Nebels nacheinander statt, wie eigentlich vorgesehen, parallel landen mussten, so läuft im Luftverkehr in diesem Krisenjahr 2020 weniges bis gar nichts so wie geplant. Zum Zeitpunkt der Eröffnung des BER steckt die Luftverkehrswirtschaft in einer der größten Krisen ihrer Geschichte. Im Jahr 2020 flogen an den beiden Berliner Flughäfen nur rund 30 Prozent der Fluggäste verglichen mit dem Vorjahreszeitraum. Zeitweise lag der Flugverkehr im Frühjahr 2020 deutschlandweit bei nur rund 1 Prozent gegenüber 2019. Eben erreichten uns die aktuellen Zahlen für den Oktober 2020: Circa 4 Millionen Passagiere nutzten die deutschen Flughäfen. Das sind circa 83 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der gewerblichen Flugbewegungen geht um circa 62 Prozent zurück. Demgegenüber stieg das Cargoaufkommen zwar wenig, aber trotzdem um 0,6 Prozent. Gerade dies verdeutlicht: In dieser Krise wurde die volkswirtschaftliche Bedeutung des Luftverkehrs zur Aufrechterhaltung von Lieferketten zur Versorgung mit medizinischen und weiteren kritischen Gütern deutlich. Einen wichtigen Beitrag dazu haben die Flughäfen geleistet, die den Betrieb die ganze Zeit aufrechterhalten haben und so auch die Möglichkeit geschaffen haben, dass unsere Flugzeuge mit notwendigen und wichtigen Gütern hier bei uns landen können. Ein herzliches Dankeschön an all die Verantwortlichen! ({0}) Dabei ist klar: Die Luftverkehrswirtschaft wurde wie der gesamte Mobilitätssektor sehr hart von der Krise getroffen. Davon erfasst sind alle Bereiche der Wertschöpfungskette. Dies erforderte schon früh entschlossenes Handeln, um Arbeitsplätze zu sichern und Unternehmen vor der unverschuldeten Pleite zu schützen. Dabei besteht zwischen Bundesregierung, dem Parlament und den betroffenen Unternehmen Einvernehmen darüber, dass die Luftverkehrswirtschaft die Coronakrise möglichst ohne strukturelle Schäden überstehen muss, sodass gerade diese Mobilität und die Arbeitsplätze in Deutschland auch dauerhaft gesichert werden. Die Bundesregierung hat deshalb bereits zu Beginn der Coronakrise mit Hilfsangeboten an die Branche reagiert. So wurde beispielsweise, um die Arbeitsplätze zu sichern, der Zugang zum Kurzarbeitergeld erleichtert. Ferner wurde durch Sonderprogramme den betroffenen Unternehmen kurzfristig Liquidität zur Verfügung gestellt. Auch auf EU-Ebene wurde zur Stabilisierung des Luftverkehrs seit Beginn der Coronapandemie beigetragen. Eine Ausnahmeregelung für die Beibehaltung historischer Start- und Landerechte wurde etabliert. Diese Ausnahmeregelung soll bis zum Sommer 2021 gelten. Zudem kann die Luftverkehrswirtschaft durch einen beihilferechtlichen Sonderrahmen der Europäischen Kommission seit Mitte August 2020 unterstützt werden, und es ist auch ein Ausgleich bei den Flugsicherungsgebühren vorgesehen. Meine Damen und Herren, der Antrag der FDP ist sehr wohl gut gemeint. Bloß, vieles davon machen wir schon. Es laufen zum Beispiel zur Erleichterung des Reiseverkehrs bereits Versuche mit Coronaschnelltests. Ziel ist es, das große Hemmnis für die internationalen Verbindungen zu verringern. Dieses Hemmnis sind gerade die langen Quarantäneregelungen. Es werden sich die Reisewarnungen und Einstufungen von Risikogebieten abhängig vom Infektionsgeschehen zwar weiterhin dynamisch entwickeln, jedoch gibt es durch die rasch fortschreitende Entwicklung bei den Impfstoffen Hoffnung auf baldige Entspannung im internationalen Reiseverkehr. Die Antragsfrist für Zuschüsse zum Ausgleich von pandemiebedingten Schäden soll verlängert werden. Es sollen finanzielle Hilfen auch für Flughäfen und für Fixkosten möglich sein. Man sieht bei vielen Dingen, die man hier aufzählen könnte: Unser Bundesverkehrsministerium mit Andreas Scheuer an der Spitze hat vieles erreicht. Bei vielem sind wir zusammen mit unserem Koalitionspartner noch am Arbeiten, und wir werden hier auch viel erreichen. Ich bin zuversichtlich: Wenn der BER ein Jahr offen ist, nämlich am 31. Oktober 2021, dann werden wir wieder wesentlich mehr Flugverkehr in unserem Land haben. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dorothee Martin, SPD. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Unterstützung für das System Luftverkehr in Zeiten von Corona“ – so der Titel des FDP-Antrags. Das System, wie Sie es nennen, das sind für uns an erster Stelle die über 800 000 direkt oder indirekt Beschäftigten – bei den Airlines, an Flughäfen, bei Zulieferern, in der Industrie und darüber hinaus. Unser klares Ziel ist es, den Luftfahrtstandort Deutschland auch nach der Krise als Wirtschaftsfaktor und vor allem als Arbeitgeber zu sichern – mit eben einer guten Infrastruktur für Fluggäste und für Luftfracht. Das alles gelingt aber nur, wenn der Bund, die Länder und die gesamte Branche sowie die Gewerkschaften eng zusammenarbeiten. Wir brauchen einen Schulterschluss von Politik, Luftfahrt und Beschäftigten, und ich teile durchaus die Kritik von einigen Gewerkschaften und Verbänden, dass beim letzten Luftfahrtgipfel Anfang November zu wenig über die Beschäftigung gesprochen wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pandemie erzeugt jetzt ohne Zweifel Druck auf die Unternehmen. Es darf allerdings nicht sein, dass die Krisenphase jetzt dazu genutzt wird, Personalabbau im großen Stil zu betreiben oder die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, um sich im Preiskampf taktische Vorteile zu verschaffen. Wir wollen ganz klar, dass Social Dumping aufhört. ({0}) Hier sind nicht nur wir in Deutschland gefragt; hier sind vor allem auch gesamteuropäische Lösungen notwendig. – Auch von unserer Seite ein ganz herzliches Dankeschön an die Beschäftigten, die gerade in den letzten schwierigen Monaten ganz hervorragende Arbeit geleistet haben! ({1}) Wie in fast allen Bereichen sind natürlich auch in der Luftfahrtwirtschaft ganz viele Menschen in Kurzarbeit – auch in meinem Hamburger Wahlkreis, wo der Flughafen und auch die Lufthansa Technik sind. Die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes – das wurde schon oft erwähnt, aber man kann es nicht oft genug erwähnen –, die wir heute beschlossen haben, gibt den Unternehmen und den Beschäftigten ganz konkrete Unterstützung, Zuversicht und Planungssicherheit bis zum Ende des kommenden Jahres, und darauf kommt es jetzt an, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Außerdem kommt es darauf an, sich jetzt Gedanken über die künftige Infrastruktur zu machen, und daher ist es völlig richtig, wie mein Kollege Arno Klare sagte, dass jetzt die strategischen Fragen und Diskussionen für ein Luftfahrtkonzept sowie ein Flughafenkonzept 2030 angegangen werden müssen. Genau solche Ansätze vermisse ich in dem Antrag der FDP, der ein ziemliches Sammelsurium von bekannten oder auch wenig sinnvollen Forderungen ist. ({3}) Klar ist: Wir brauchen und wollen in Deutschland ein leistungsfähiges, ökologisch nachhaltiges Luftverkehrssystem, wir brauchen eine gute Infrastruktur, wir brauchen gute Arbeitsplätze, und dafür sind eben nicht nur die Länder in der Verantwortung, sondern auch der Bund hat ein vitales Interesse daran, dass der Luftverkehr auch nach der Krise gut funktioniert. Daher wäre es eben nur logisch, wenn beide Seiten dafür einen finanziellen Beitrag leisten. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wirecard-Skandal war wahrscheinlich der größte Bilanz- und Finanzbetrug in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, aber er war nicht der einzige. Wir erinnern uns beispielsweise an P&R-Schiffscontainer 2018 – da geht es um Milliarden –, wir erinnern uns an Cum/Ex, aber auch nach Wirecard – und das fällt dann schon gar nicht mehr auf – gab es einen nächsten Finanzbetrug, nämlich den größten Immobilienbetrug der letzten zehn Jahre: 1 Milliarde Euro bei der German Property Group. Das zeigt noch mal ganz deutlich: Die Liste des Versagens der Finanzaufsicht ist lang, und deswegen brauchen wir einen Neustart, meine Damen und Herren. ({0}) Die „Süddeutsche“ formuliert es wie folgt: „Die … BaFin wirkt nicht wie ein Löwe, sondern wie ein Kätzchen: klein, putzig, ungefährlich“. – Das geht zulasten der Kleinanlegerinnen und Kleinanleger, zulasten von uns allen. Symbolisch steht dafür aus meiner Sicht, dass es bis heute in der BaFin nicht mal einen eigenen Geschäftsbereich für den finanziellen Verbraucherschutz gibt. Das ist absurd. ({1}) Für uns ist klar: Die BaFin braucht nicht nur ein bisschen mehr Personal, sie braucht auch nicht nur ein bisschen mehr Kompetenzen; die Aufsicht muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wir brauchen einen Neustart der Finanzaufsicht in Deutschland; ({2}) denn nur so werden wir es schaffen, Betrug und Finanzkriminalität endlich effektiv zu bekämpfen und Anlegerschutz zu gewährleisten. Fünf grundlegende Änderungen sind dafür aus unserer Sicht entscheidend, und die legen wir Ihnen hier heute vor: Erstens. Wir brauchen einen Kulturwandel in der BaFin. Statt einer intransparenten, nachgelagerten Behörde unter politischem Einfluss und mit kollegialer Unverantwortlichkeit brauchen wir eine klar geregelte Verantwortung des Präsidenten der Finanzaufsicht, wir brauchen starke Rechenschaftspflichten gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit, und wir brauchen im Gesetzblatt veröffentlichte Weisungen des Finanzministers und eine Anhörung der Führungsspitzen vor dem Parlament vor ihrer Ernennung durch die Bundesregierung. ({3}) Zweitens muss die neue Finanzaufsicht nicht das formale Häkchen bei der Projektprüfung machen, sondern sie muss die Bekämpfung von Betrug und Geldwäsche in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, meine Damen und Herren. ({4}) Dazu gehört der Aufbau einer Spezialeinheit, die in Verdachtsfällen von Betrug und Marktmissbrauch effektiv ermitteln kann, das heißt, auch Durchsuchungen vornehmen und Beweismittel sichern darf. Dabei ist ein klarer, geregelter Informationsaustausch mit Staatsanwaltschaft und Polizei wichtig, um sicherzustellen, dass Hand in Hand und nicht gegeneinander oder womöglich gar nicht ermittelt wird, obwohl es angezeigt gewesen wäre. Und dazu gehört eine Reform der Bilanzkontrolle. Das zahnlose zweistufige Verfahren aus DPR und BaFin wollen wir abschaffen, und eine Neuaufstellung der Geldwäschebekämpfung in der BaFin ist dazu unerlässlich. ({5}) Drittens sagen wir: Die neue Finanzaufsicht muss klar aufseiten der Anlegerinnen und Anleger sein. Deswegen brauchen wir erstens einen eigenen Geschäftsbereich, wir brauchen zweitens einen aktiven Schutz von Anlegerinnen und Anlegern durch Testkäufe bis hin zu Vertriebsverboten, und wir brauchen drittens endlich auch eine Taskforce zum Grauen Kapitalmarkt. Viertens brauchen wir endlich auch innerhalb der BaFin eine strenge Compliance. Es hat ja nur Kopfschütteln verursacht, als öffentlich wurde, dass BaFin-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter selbst mit Wirecard-Aktien gezockt haben. Deshalb sagen wir: Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört der Handel mit Aktien von durch die BaFin beaufsichtigten Unternehmen verboten. Außerdem schlagen wir eine regelmäßige Rotation der Prüferinnen und Prüfer in der BaFin vor, um einer zu großen Nähe zu beaufsichtigten Unternehmen entgegenzuwirken. ({6}) Fünftens brauchen wir eine BaFin, die endlich intern, aber auch extern vernetzt ist und auf Augenhöhe arbeitet. Dazu gehört ein funktionierendes Whistleblower-System statt eines praktisch verwaisten Briefkastens in der BaFin, dazu gehört die Zusammenarbeit mit wichtigen Informationsträgern wie den Finanzmarktwächtern, dazu gehört aber auch die internationale Zusammenarbeit und der Aufbau einer starken EU-Börsenaufsichtsbehörde für große international tätige Finanzunternehmen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jede Krise kann eine Chance sein. Man muss sie allerdings nutzen. Unsere Vorschläge legen wir hier heute auf den Tisch. Lassen Sie uns diese Chance ergreifen für einen echten Neustart der Finanzaufsicht; denn er ist notwendig, und er ist überfällig! ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Hauer, CDU/CSU. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Skandal um Wirecard hat den Finanzplatz Deutschland und auch das Vertrauen in die Finanzaufsicht insgesamt massiv erschüttert. Wir müssen gemeinsam die Lehren daraus ziehen. Anleger, Mitarbeiter, Investoren, alle Akteure am Finanzmarkt müssen darauf vertrauen können, dass die Finanzaufsicht verlässlich und ordnungsgemäß arbeitet. Das ist auch einer der Schwerpunkte, die wir derzeit im Untersuchungsausschuss Wirecard fraktionsübergreifend aufzuklären versuchen. Heute diskutieren wir über gesetzgeberische Änderungen. Es liegen jeweils zwei Anträge der Grünen und der AfD vor. Wir als Union haben einen klaren Kompass, wie die Finanzaufsicht gestärkt werden kann. Wir wollen ein besseres System der Finanzkontrolle mit mehr Rechten für die BaFin, beispielsweise durch eigene forensische Prüfungen, einer Weiterentwicklung des zweistufigen Verfahrens der Bilanzkontrolle und einer BaFin, die sich mit voller Kraft auf ihre Kernaufgaben konzentrieren kann. Wir wollen eine bessere Verzahnung von Aufsichtsräten und Prüfern mit stärkerer Compliance, engerem Austausch zwischen Aufsichtsräten und Abschlussprüfern – auch mal ohne den Vorstand –, einem Rederecht des Abschlussprüfers auf der Hauptversammlung, einem gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungsausschuss innerhalb jedes Aufsichtsrates und der Möglichkeit, Abschlussprüfer über mehrere Geschäftsjahre im Voraus zu bestellen. Wir wollen eine bessere Haftung, Transparenz und Rotation mit höheren Haftungsgrenzen bei Pflichtverstößen, höheren Geldbußen bei Berufspflichtverletzungen durch Prüfungsgesellschaften, mehr Transparenz über die Prüfungsergebnisse der Abschlussprüferaufsicht und regelmäßigen Wechseln der Abschlussprüfer. Bei kapitalmarktorientierten Unternehmen soll spätestens alle zehn Jahre die Prüfungsgesellschaft wechseln und zusätzlich innerhalb der Prüfungsgesellschaft spätestens alle fünf Jahre auch das Prüfungsteam. Diese und weitere Maßnahmen braucht es für eine starke Finanzaufsicht, für bessere Regelungen für Aufsichtsräte und Prüfer und für mehr Anlegerschutz. Derzeit läuft in der Bundesregierung die Verständigung auf konkrete Maßnahmen. Wir als Union haben Vorschläge vorgelegt; ich habe einige davon gerade vorgetragen. Auch andere Fraktionen haben Vorschläge unterbreitet. Aus den heute vorliegenden Anträgen der Grünen und der AfD will ich jeweils einen Punkt herausgreifen. Die AfD fordert auf mageren drei Seiten ({0}) die Verkürzung der externen Rotation auf maximal vier Jahre, und das sogar für alle Unternehmen. Auch wir wollen eine Verkürzung der Rotation. Jeder sollte aber auch wissen, dass sich Prüfer bei einem komplexen neuen Prüfungsmandat erst einmal einarbeiten müssen, auch über die Besonderheiten der Geschäftsmodelle Kenntnisse erlangen müssen. Die AfD will die Höchstdauer so kurz bemessen, dass das Gegenteil dessen erreicht würde, was sinnvoll ist. Sie würden die Kontrolle durch Abschlussprüfer nämlich schwächen, anstatt sie zu stärken. ({1}) Die beiden Anträge der Grünen sind deutlich substanziierter als die Anträge der AfD. Sie behandeln auch einige richtige Punkte. ({2}) – Ja, das ist nicht schwierig; das weiß ich. Dennoch sollte man das hier bemerken. ({3}) Die Grünen holen aber auch ein Thema aus der Versenkung, das spätestens nach Wirecard eigentlich endgültig in der politischen Mottenkiste bleiben sollte: Sie wollen die Aufsicht über 38 000 Finanzanlagenvermittler auf die BaFin übertragen – ein Irrweg, auf dem bedauerlicherweise auch unser Koalitionspartner, die SPD, noch unterwegs ist. ({4}) Sie wollen das auf die BaFin übertragen, übrigens die BaFin, die Frau Paus gerade als putziges Kätzchen bezeichnet hat. ({5}) Stärken Sie doch mit uns gemeinsam die BaFin! Halsen Sie ihr nicht völlig ohne Not weitere Mammutaufgaben auf, die sie von ihren Kernaufgaben ablenken! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Mitbürger! Lieber Kollege Matthias Hauer, in der Kürze liegt auch manchmal die Würze und nicht in ellenlangen Seiten. Das Thema „Finanzbetrug, Finanzkriminalität“ – die Kollegen erwähnten es – ist leider dieser Tage wieder en vogue. Der Fall Wirecard zeigt aber hier – ein Kollege hat es gesagt – ein multiples Systemversagen der besonderen Art. Die Aufklärung – es wurde hier genannt –, die ist in vollem Gange. Das ist gut so, und ich bin auch froh, dass ich mich im entsprechenden Ausschuss an dieser Aufklärung beteiligen darf. ({0}) Leider scheinen aber einige Fraktionen hier im Hohen Hause falsche Schwerpunkte zu setzen. Im Übrigen dachte ich eben, als ich Frau Paus hörte: Mein Gott, sie hat mir in vielen Anhörungen zum Thema BaFin zugehört; denn vieles habe ich bereits gesagt; ich bin auch in meinen Reden darauf eingegangen. ({1}) – Ja, man stelle sich das vor. Aber ich bedanke mich, Sie haben vieles hier rezitiert, was ich in den letzten zwei Jahren – wir hatten ja viele Anhörungen zum Thema BaFin – gesagt habe. ({2}) Sowohl die Grünen als auch wir von der AfD-Fraktion haben also entsprechend hier Anträge vorgelegt zum Themenkomplex, der die Bereiche Corporate Governance, Gestaltung von Aufsichtsräten, Personal- und Kompetenzausstattung der BaFin – dazu werde ich gleich kommen –, Reduzierung des Zeitraums zum verpflichtenden Wechsel, Kollege Hauer, der Abschlussprüfer und Erhöhung der Haftungsgrenze umfasst. Das Letzte ist unterschlagen worden; wir haben nämlich ein bisschen mehr in diesen Antrag geschrieben. Sie sehen also: ein Strauß von Themen. Insoweit möchte ich nur auf unsere eigenen Anträge eingehen. Leider ist dieses Thema dem Hohen Hause ja nur 30 Minuten wert. Vielleicht hätten wir hier mal eine Stunde drüber diskutieren sollen. ({3}) Zum einen beantragen wir – darauf möchte ich eingehen –, dass die zukünftige Sachkundeprüfung – ein bekanntes Thema, lieber Kollege Hauer – und die Aufsicht über Finanzanlagenvermittlung und Honorar-Finanzberatung für alle Bundesländer einheitlich auf die Industrie- und Handelskammern übertragen werden soll und gleichzeitig – gleichzeitig! – die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, im Folgenden: BaFin, einheitliche Maßstäbe für die Aufsicht und die Sachkundeprüfung entsprechend überprüfen und erlassen soll. Warum sage ich das? Ich habe den Eindruck, insbesondere die SPD und die Grünen – Sie haben es eben gesagt; da gehen wir nicht d’accord – wollen wieder einmal die BaFin aufblähen. Kollege Hauer, ich nehme Sie und die CDU/CSU-Fraktion hier beim Wort: auf die Kernkompetenzen konzentrieren. ({4}) Das heißt: an einigen Stellen die BaFin entschlacken. Was sie nicht kann, soll sie nicht noch zusätzlich mit Beamtenstellen aufgetragen bekommen, meine verehrten Damen und Herren. ({5}) Auch die Pleiten von P&R und des grünen sozusagen Investors Prokon – die Kollegin hat es genannt – muss man der BaFin mit anlasten. Nochmals: Wir folgen hier der Expertenmeinung. Wir haben also mit diesem Antrag sozusagen Expertenmeinung in Antragsform gegossen. ({6}) Etwas Besseres kann eigentlich nicht passieren. Kommen wir aber zu unserem zweiten Antrag „Reduzierung des Zeitraums zum verpflichtenden Wechsel der Abschlussprüfer und Erhöhung der Haftungsgrenze“. Uns ist bewusst, dass diese vier Jahre sicherlich ein Hemmnis darstellen und schwierig sind. Andererseits induziert das ja: Die ersten zwei, drei Jahre prüft man mal so, lernt das Unternehmen kennen. Da müsste ich ja fragen: Kann der Kapitalmarkt in den ersten Jahren überhaupt noch auf diese Testate nach einem Wechsel vertrauen? – Nein. Ich glaube, bei so viel Expertise und Benchmarketing kann ich in diesem Bereich erwarten, dass E&Y oder andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hier nahtlos einsteigen können und das Geschäftsmodell verstehen. Deswegen: vier Jahre Rotation, die Haftungsgrenze auf 10 Millionen und nicht auf die utopischen 20 Millionen Euro bringen und ansonsten 1 Prozent auf den Jahresumsatz des zu prüfenden Unternehmens. Und Sie unterschlagen: Wir haben klar das gefordert, was seit Jahren gesagt wird, gerade in Bezug auf Personal-Service-Firmen, nämlich die Trennung von steuerlicher Beratung und Abschlussprüfung; lesen Sie die Aufsätze dazu. Auch die Wissenschaft bejaht dies sehr deutlich, meine Damen und Herren. Es klang an – da wende ich mich an den leider nicht anwesenden Olaf Scholz –: Was notwendig ist, sind nicht nur Gesetze, sondern eine Änderung der Behördenethik, ein Mentalitätswechsel sowie eine Regierung und ein Finanzminister, die der BaFin Mut machen, eben auch dorthin zu schauen, wo Feuer ist. Wie heißt es so schön? Wo Feuer ist, da ist auch Rauch. ({7}) Deswegen werden wir einer konstruktiven Debatte zustimmen. Wir beantragen, wie die Kollegen, eine Überweisung an den Finanzausschuss und werden hier die Debatte konstruktiv und mit kurzen, aber sehr guten Anträgen und Maßnahmen begleiten. Danke schön. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Jens Zimmermann, SPD, erhält jetzt das Wort. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte gesehen: Es gibt eine große Übereinstimmung hier im Hohen Haus darüber, dass wir Reformen bei der Finanzaufsicht benötigen. Da die vorliegenden Anträge den Wirecard-Skandal als Ausgangspunkt nehmen, ist es mir wichtig, den gesamten Kontext deutlich zu machen; denn es geht nicht allein um die Finanzaufsicht. Wir haben gestern fast bis Mitternacht im Untersuchungsausschuss an der Aufklärung gearbeitet. Es ist sehr deutlich geworden – nicht nur, weil es zwei Schalten in bayerische Justizvollzugsanstalten gab –, dass wir es mit einem kriminellen Topmanagement zu tun hatten, und das muss uns zu denken geben. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass wir es in einem DAX-30-Konzern mit militärisch-kameradschaftlichem Korpsgeist und Treueschwüren untereinander zu tun haben. Wir haben gestern im Ausschuss einen der Hauptdrahtzieher erlebt. Er hat nicht viel gesagt; aber laut all dem, was man lesen kann, ist das einer der Ausgangspunkte dieses Skandals. Ich will auch ganz klar sagen: Ja, wir müssen bei der Finanzaufsicht etwas tun. Es freut mich, was der Kollege Hauer gesagt hat, dass die Union den Aktionsplan von Minister Scholz und Ministerin Lambrecht aufgegriffen hat. ({0}) Mit Unterstützung der Opposition werden wir ganz sicher gute Reformen hinbekommen. Wir werden die Finanzaufsicht stärken, und wir werden stärker auf die Abschlussprüferinnen und Abschlussprüfer schauen müssen. Wir brauchen härtere Strafen bei Bilanzmanipulation, und wir müssen natürlich auch auf den Anleger- und Verbraucherschutz schauen. Ein Punkt ist mir wichtig – das ist in der Debatte auch klar geworden –: All denjenigen, die sich jetzt so einig darüber sind, dass wir die Finanzaufsicht stärken müssen, sage ich: Wir werden ganz genau hinschauen, wenn es dann an die Gesetzgebung geht. Wir erleben es doch an ganz vielen Stellen: Wenn draußen die Empörung groß ist, weil wir einen Skandal haben – nehmen wir zum Beispiel die Fleischindustrie –, ({1}) dann sagen alle: Hier muss etwas passieren. – Aber wenn es dann an den Treueschwur hier im Deutschen Bundestag geht, wenn Gesetze gemacht werden, wenn wirklich etwas unternommen wird, dann zeigt sich, was auf die Treueschwüre wirklich zu geben ist. Da werden wir sehr genau hinschauen, meine Damen und Herren. ({2}) Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Ja, der Bund muss seine Hausaufgaben machen. Aber im Fall Wirecard ist auch eines ganz klar geworden: Wir haben in unserem föderalen System auch Zuständigkeiten der Länder, und da sieht es an vielen Stellen nicht gut aus. Es ist wahrscheinlich nur ein Versehen, dass zum Beispiel die Rolle der Börsenaufsicht in Hessen es nicht in die Reformpläne des Grünenantrags geschafft hat. ({3}) Herzlichen Dank. ({4}) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP. ({5})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Fall Wirecard – das kann man sagen – ist die deutsche Finanzaufsicht BaFin in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Nicht nur wurde eklatanten Hinweisen nicht nachgegangen: Statt der Hausdurchsuchung hat sich der Finanzstaatssekretär Kukies noch selbst bei Markus Braun zum Frühstück eingeladen. ({0}) Das ist – in einem Satz zusammengefasst – das Versagen von Finanzministerium und Finanzaufsicht im Fall Wirecard. ({1}) Aber die Sache ist noch schlimmer. Nicht nur wurde weggeschaut: Die BaFin hat sich sogar aktiv vor den Karren von Wirecard spannen lassen. Sie hat die zwei Journalisten der „Financial Times“, die die Wahrheit geschrieben haben, bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. ({2}) Sie hat dabei Beweismaterial vorgelegt, das von Wirecard produziert wurde, und zwar durch Kontakte in die Londoner Unterwelt: durch einen Zeugen, der „Aktienhändler“ genannt wurde, aber ein verurteilter Drogendealer war, durch einen Zeugen, der ein dubioser Nachtklubbesitzer war. Dieses Beweismaterial hat die BaFin der Staatsanwaltschaft gegen die Journalisten vorgelegt. Eine Aufsicht, die so arbeitet, und ein Präsident, der sich dafür nicht entschuldigt, sind nicht tragbar, meine Damen und Herren. ({3}) Zusammen mit dem Leerverkaufsverbot war das Signal in den Markt: Bei Wirecard ist alles in Ordnung; man kann die Aktie weiter kaufen. – Und das haben die Investoren getan. Das hatte Folgen: Noch 2019 – das wissen wir schon – gelang es Wirecard, über 2 Milliarden Euro von Investoren und Banken einzusammeln. Das Geld ist fast in Echtzeit in dubiose Kanäle abgeflossen. Das sinkende Schiff wurde geplündert. Die Aufsicht hat durch ihr Handeln dafür reichlich Zeit verschafft. Das ist Fakt. ({4}) Was allerdings bei der BaFin funktioniert hat, das war der Eigenhandel der Beschäftigten mit den Wirecard-Aktien, und zwar auch durch solche, die Zugang zu Insiderwissen haben. Das Vertrauen in die BaFin ist aus dieser Kombination von Dingen in einer Weise erschüttert, dass die BaFin ohne einen Neuanfang an ihrer Spitze aus diesem Autoritätsproblem nicht wieder herauskommen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Deshalb, Frau Staatssekretärin Ryglewski aus dem Finanzministerium: Wenn Olaf Scholz entscheidet, dass die BaFin so bleibt, wie sie ist, weil er sich selbst damit schützen will, dann trägt er auch die Verantwortung dafür, dass die BaFin diesen Autoritätsverlust dauerhaft mit sich herumschleppen muss, und das kann in keinem Interesse von irgendjemandem sein, jedenfalls nicht im Interesse des deutschen Finanzmarkts. ({6}) Wir brauchen neben einem personellen Wechsel auch stärkere Fähigkeiten, eine forensische Eingreiftruppe bei der BaFin und auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mehr Personalaustausch mit der Privatwirtschaft; denn das ist der Grund, warum zum Beispiel amerikanische Behörden so viel schlagkräftiger sind. Wichtig ist vor allem auch: Fokus, Schwerpunktsetzung. Es bringt nichts – und es ist auch nicht zu rechtfertigen –, dass jede Volksbank anlasslos in die Mangel genommen wird, aber bei einem Unternehmen wie Wirecard die notwendigen Prüfungen trotz klarer Verdachtsmomente nicht stattfinden. Das ist unverhältnismäßig und, wie man sieht, auch ungeheuer schädlich. ({7}) Wir brauchen keine neuen Aufgaben für die BaFin. Wir brauchen nicht mehr Heu auf dem Heuhaufen. Wir brauchen Menschen, die wissen, was Heu ist und was eine Stecknadel ist; das ist die Konsequenz aus den Vorgängen bei Wirecard. Genau dahin müssen wir mit der BaFin kommen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der P&R-Skandal, der Wirecard-Skandal, Cum/Ex: Die Finanzaufsicht in Deutschland hat ein fundamentales Problem. Sie hat sich in den letzten Jahren häufig mehr wie ein Schlaflabor und weniger wie eine Finanzaufsicht verhalten. ({0}) Im Wirecard-Skandal wurde ein Journalist der „Financial Times“, Dan McCrum, mit einer Strafanzeige überzogen, weil er seine Arbeit gemacht hat. Es wurde ihm vorgeworfen, er würde mit Insiderhändlern unter einer Decke stecken. Ich habe Herrn Hufeld vor wenigen Tagen beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“ aufgefordert, sich bei diesem Journalisten zu entschuldigen. Er hat das als obszön bezeichnet. Das zeigt: Wir haben ein fundamentales Führungsproblem an der Spitze der BaFin. ({1}) Gleichzeitig haben Mitarbeiter der BaFin offenbar selber Insiderhandel betrieben, weil in der Abteilung für Marktüberwachung mit hochspezialisierten Derivaten auch auf Wirecard gewettet wurde. Ich bin den Grünen dankbar für ihren Antrag und für die Debatte heute. Wir haben im Sommer einen Zehn-Punkte-Plan zur Reform der Finanzaufsicht vorgelegt; den gibt es unter anderem im „Handelsblatt“. ({2}) Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte nennen. Ein fundamentales Problem ist, dass wir staatliche, hoheitliche Aufgaben immer mehr an Private verlagert haben. Ja, selbstverständlich kann die BaFin nicht jedes Unternehmen prüfen. Aber wenn die Polizei ein Tempo-30-Schild am Ortseingang aufstellt, dann muss sie einen Autofahrer auch aus dem Verkehr ziehen, wenn er mit 200 Sachen über die Kreuzung brettert. ({3}) Genau das kann die BaFin heute nicht; denn sie hat nur neun Personen, die Bilanzen forensisch prüfen könnten. Das ist im Vergleich zu den großen Wirtschaftsprüfern, die Zehntausende Mitarbeiter haben, nichts. Sie braucht auch qualifiziertes Personal: Leute mit Wirtschaftsprüferexamen, wie es sie beim Bundesrechnungshof gibt. Wir brauchen eine Trennung von Prüfung und Beratung. Außerdem ist es natürlich ein Problem, dass die Wirtschaftsprüfer von den Unternehmen bezahlt werden, die sie prüfen sollen. Deswegen gehen unsere Überlegungen in die Richtung einer Poolfinanzierung, die unabhängiger macht. ({4}) Wir brauchen das Vieraugenprinzip, also Joint Audits. Das heißt, dass auch die mittelständischen Prüfer beteiligt werden. Wir brauchen eine Aufhebung des Haftungsprivilegs; denn Haftung ist doch ein fundamentales Prinzip einer Marktwirtschaft. ({5}) Es kann doch nicht sein, dass EY ungeschoren davonkommt. Wir freuen uns über viele der nützlichen Vorschläge in dem Antrag der Grünen. Ich bin nicht die Stiftung Warentest, aber ich finde: Das ist eine gute Grundlage. Das gilt insbesondere auch für die Punkte zur Prospekthaftung, die hier angesprochen werden; denn wir hatten beim P&R-Skandal die Situation, dass die BaFin sich den Prospekt angeguckt hat und gesagt hat: Ist ja alles drin – Titelblatt, Inhaltsangabe, Schluss –, aber wir haben gar nicht geprüft, was da drinsteht. – Wozu braucht man eine Prospekthaftung, wenn man nicht prüft, was in den Prospekten steht? Das ist, als wenn ich eine Klassenarbeit in der Schule verteile und dann nur prüfe, ob es da ein Deckblatt gibt, aber nicht, ob der Schüler Goethes Faust gelesen hat. Insofern haben wir viele Aufgaben vor uns. Ich entlasse Sie jetzt noch nicht ins Wochenende – das macht der Präsident –, aber ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Fritz Güntzler, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss der Woche beschäftigen wir uns mal wieder mit dem Thema „Finanzaufsicht und Anlegerschutz“, alles ausgelöst durch den größten Finanzskandal der Nachkriegszeit, den Wirecard-Skandal. Bilanzfälschung, Betrug, dunkle Geschäfte, Geheimdienstkontakte usw. usf. sind mit diesem Skandal verbunden. Der Untersuchungsausschuss, den dieser Bundestag eingesetzt hat, hat bereits sechs Sitzungen durchgeführt und die Arbeit aufgenommen. Er hat nicht nur den Auftrag, die Dinge zu erörtern, herauszufinden, woran es gelegen hat, sondern auch, Empfehlungen zu erarbeiten, die der Gesetzgeber umsetzen kann. Von daher will ich deutlich sagen: Ich meine, wir sind am Anfang eines umfassenden Aufklärungsprozesses und noch lange nicht am Ende. Von daher würde ich auch davor warnen, weil noch viele Fragen offen sind, dass wir hier überall mit Schnellschüssen reagieren, nur weil es politisch opportun ist. Ich glaube, auch hier ist Sorgfalt vor Eile angesagt. ({0}) Wie Sie wissen, gibt es einen Referentenentwurf zum Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, in dem einige Punkte enthalten sind. Dieser ist derzeit Gegenstand in einer Verbandsanhörung und befindet sich in der Ressortabstimmung. Wir werden sehen, was die Bundesregierung hier noch vorlegen kann. Von daher ist sie auch nicht untätig – falls die Anträge der Opposition suggerieren sollten, dass die Bundesregierung in diesem Bereich nicht tätig ist. Es geht aber nicht nur um die BaFin, über die wir hier heute gesprochen haben, es geht meines Erachtens, gerade nach der Zeugeneinvernahme im Untersuchungsausschuss gestern, auch um die Frage der Governance, die Frage: Was hat ein Aufsichtsrat zu tun? Wie hat ein Aufsichtsrat seine Tätigkeit wahrzunehmen? Wie funktioniert das mit dem Vorstand zusammen? Und es geht auch um die Frage der Abschlussprüfer; das ist doch völlig klar. Auch ich als Wirtschaftsprüfer bin schon teilweise etwas verwundert, was da geschehen ist, dass 1,9 Milliarden Euro an liquiden Mitteln verschwunden sind. Ich kann Ihnen als Prüfer sagen: Es ist eigentlich das einfachste Geschäft für einen Prüfer, liquide Mittel nachzuweisen. Das ist ein Prüfungspunkt, den man eigentlich recht schnell abarbeiten kann. Die Kolleginnen und Kollegen, die Kenntnis haben, nicken eifrig; das ist wirklich so. Von daher wundert man sich schon, dass so ein Bilanzposten als Luftnummer in der Bilanz erscheinen kann und ein vollständiges Testat erteilt wurde. Aber ich warne schon davor – da möchte ich auch viele Kolleginnen und Kollegen der Wirtschaftsprüferzunft in Schutz nehmen –, dass man angesichts dessen, dass es hier vielleicht Einzelfallprobleme bei einer großen deutschen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gibt, verallgemeinert und sagt: Wir haben ein Systemproblem in der Abschlussprüfung. – Wir sollten schon aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nur nach Aktionismus schreien, um einfach zu zeigen: Wir tun hier was. Wenn ich die drei Punkte betrachte, die auch im AfD-Antrag enthalten sind und die wahrscheinlich nächste Woche Freitag hier debattiert werden, stelle ich fest: Es geht um die alten Fragen, die wir schon 2016 diskutiert haben, nämlich um Rotation, um Haftung und die Trennung von Prüfung und Beratung. Die Zeit erlaubt es nicht, all das einzeln auszuführen. Aber ich frage mich, ob all die Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang vorgetragen werden, tatsächlich den Wirecard-Skandal verhindert hätten. Das glaube ich eben nicht. Von daher: Wir müssen die Abschlussprüfer kritisch betrachten. Wir sollten aber mit Augenmaß vorgehen; denn eine Abschlussprüfung, die teurer wird, die zu höheren Marktkonzentrationen beiträgt, wird letztendlich auch für die Unternehmen teurer, sodass diese ihre Tätigkeit nicht vernünftig wahrnehmen können. Von daher: Insgesamt ist Augenmaß angebracht. Wir als Union sind dabei, gute Lösungen zu finden, aber, wie gesagt, sorgfältig und in Ruhe. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Cansel Kiziltepe, SPD. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern konnten wir uns im Untersuchungsausschuss erstmals ein Bild von den Wirecard-Hauptdrahtziehern machen, die höchstpersönlich in den größten Bilanzskandal der europäischen Geschichte verstrickt waren. Und auch wenn Dr. Wirecard nicht zur Aufklärung beigetragen hat, ist etwas Licht ins Dunkel gekommen. Wir fragen uns nicht nur, wer schuld ist, wir wollen auch Betrug und Selbstbereicherung in Zukunft einen Riegel vorschieben. ({0}) Das jetzige System ist diesen Aufgaben offensichtlich nicht gewachsen, und genau das werden wir verändern, angefangen bei den Wirtschaftsprüfern, die im Fall von Wirecard als Erste hätten Alarm schlagen müssen. Aber solange Prüfer und Prüfling, wie seit Jahrzehnten üblich, gemeinsam in einen Jacuzzi steigen, können wir nicht von Prüfung sprechen. Deswegen müssen und werden wir die Rotationspflicht verschärfen. ({1}) Auch die auf 4 Millionen Euro beschränkte Haftungssumme muss fallen. Die milliardenschweren Prüferkanzleien zahlen solche Summen aus der Portokasse, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer fahrlässig handelt, muss auch voll dafür haften. Auch die Finanzaufsicht, die BaFin, werden wir aufmöbeln. Sie braucht Ressourcen, und sie muss Zähne bekommen. Spekulative Geschäfte von BaFin-Mitarbeitern sind selbstverständlich ein No-Go. Das zweistufige Verfahren zur Bilanzkontrolle muss weg, und mit dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz nehmen wir all diese Punkte in Angriff. Und wir wollen das nicht auf die lange Bank schieben, Herr Güntzler. ({2}) Doch es gibt einen weiteren notwendigen und äußerst effektiven Hebel, um Skandale wie diesen auch in der Zukunft zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es wurden nämlich nicht nur Aktionäre und Geschäftspartner betrogen, sondern auch Tausende Beschäftigte von Wirecard, die jahrelang dachten, für einen aufsteigenden Stern am Fintech-Himmel zu arbeiten. Hätten sie bei Wirecard wirklich etwas zu sagen gehabt, wäre es wohl nie so weit gekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Mitbestimmung gehört zu einer guten Corporate Governance. Auch darüber werden wir reden müssen, weil es bei Wirecard weder eine Arbeitnehmer/-innenbank im Aufsichtsrat noch einen Prüfungsausschuss noch einen Betriebsrat in einer der Tochtergesellschaften gab. Deshalb werden wir auch hierüber reden müssen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte und möglicherweise auch in dieser Woche ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt bin ich der Letzte, der zwischen Ihnen und dem Wochenende steht. Nichtsdestotrotz möchte ich einige Punkte ergänzen zu dem, was die Kollegen Hauer und Güntzler hier ausgeführt haben. Ich bin Fritz Güntzler ausgesprochen dankbar, dass er betont hat: Der Untersuchungsausschuss Wirecard dient zur Aufklärung, zur politischen Aufklärung – er ist das Parlamentsinstrument –, aber natürlich auch zur inhaltlichen Aufklärung. Aus den Ergebnissen werden wir dann unsere Konsequenzen ziehen. Das heißt, dieser Wettlauf mit der Opposition in diesem Bereich darum, wer die ersten Vorschläge macht – angefangen beim Vorschlag des BMF selber –, hat zwar begonnen; aber dass damit noch nicht die besten Vorschläge gebracht wurden, ist ja offensichtlich. Meine Damen und Herren, es ist natürlich sehr wichtig – das war auch bei den Reden, die ich gehört habe, der Fall –, das Augenmerk auf die BaFin zu legen und die Frage zu stellen, wie effektive und gute Finanzaufsicht in Deutschland funktionieren kann – ich ergänze: auch in Europa funktionieren kann. Da hilft es nicht, wenn man regelmäßig erklärt, aus der Europäischen Union und der EZB austreten zu wollen. Europäische Finanzaufsicht ist hier eben auch notwendig. Aber es ist darüber hinaus komplexer. Allein über die BaFin-Struktur wird man dieses Problem nicht lösen. Es wurde teilweise schon angesprochen: Es geht hier um kriminelle Energie, es geht um Betrug, es geht darum, wie die Staatsanwaltschaften zukünftig damit umgehen. Die Wirtschaftsprüfer wurden angesprochen; ich möchte nur ergänzen: Es gibt gute Argumente für Rotation und Haftung, aber mir ist vor allen Dingen wichtig, die Frage zu klären, was ein Testat eines Wirtschaftsprüfers zukünftig noch wert ist. Mir ist es eben zu wenig, nur zu sagen: Wir haben die Sachen gesichtet, aber ansonsten konnten wir nicht näher hineinschauen. Also eine Plausibilitätsprüfung muss zukünftig schon stattfinden. Was mir völlig abgeht, ist, welche Rolle bei der Frage der Aufnahme in den DAX die Deutsche Börse gespielt hat. Ich finde es beschämend, wenn gesagt wird: Wir haben nur draufgeschaut, ob die entsprechenden Unterlagen, ob die entsprechenden Prospekte eingereicht wurden, aber reingeschaut haben wir nicht. – Viele Anleger haben Geld verloren, weil sie darauf vertraut haben, dass es das Premiumsegment ist. ({0}) Meine Damen und Herren, die Zuständigkeit beim Thema Geldwäsche ist in Deutschland regional aufgeteilt. Wir wissen sehr gut und sehr genau, dass wir hier einen europäischen, einen internationalen Ansatz brauchen, um gegen Geldwäsche effektiv vorzugehen. Die komplexe rechtliche Frage, die hier zu klären ist, bei Bezirksregierungen abzuladen, ist viel zu einfach. Die Ausführungen, die mein Kollege Hauer zu den Aufsichtsräten getätigt hat, sind zweifelsohne richtig. Zum Verbraucherschutz: Frau Kollegin Paus, Sie wollen Produkte verbieten, die ungeeignet, die gefährlich sind. Über den Verbraucherschutz müssen wir diskutieren, auch darüber, wie die BaFin Verbraucherschutz wahrnehmen kann. Aber wir sollten hier angesichts der kriminellen Energie im Fall Wirecard keinen falschen Eindruck erwecken. Ich habe Sie jetzt nicht so verstanden, dass Sie der Meinung sind, wenn es mehr Verbraucherschutz gegeben hätte, hätten die Wirecard-Anleger nichts verloren. Diesen Eindruck sollten wir hier nicht erwecken. ({1}) Meine Damen und Herren, mit Blick auf die BaFin möchte ich angesichts des oben schon beschriebenen Wettlaufs, der gerade stattfindet, nur eines sagen: Wir brauchen einen Kulturwandel; das ist richtig. Ich würde mir wünschen, dass wir eine deutsche, eine europäische SEC in diesem Bereich bekommen, die sich auf die schweren Themen, auf die komplexen Themen fokussiert und vielleicht da mit der gleichen Energie vorgeht, mit der momentan gegen Regionalbanken vorgegangen wird. Was ich nicht möchte, ist, meine Damen und Herren, dass nach dieser Diskussion und nach den zu erwartenden zukünftigen Gesetzesänderungen mögliche Verschärfungen insbesondere die Kleinen treffen. Dazu gehört eben auch, dass die Zuständigkeit für die Finanzanlagenvermittler in der jetzigen Phase bei der BaFin wirklich nichts zu suchen hat. Die muss dort bleiben, wo sie jetzt ist, meine Damen und Herren. Lassen Sie uns die BaFin auf das fokussieren, was notwendig ist. Ziel muss eine Verbesserung der Aufsicht in Deutschland sein. Daran arbeiten wir gemeinsam in den nächsten Wochen und Monaten sehr gerne. Besten Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.