Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hoffnung ist das Wort, das die Menschen in unserem Land derzeit mit Innovation und Forschung verbinden, Hoffnung, dass wir dieses Virus und seinen Schrecken schnellstmöglich in den Griff bekommen.
Aber auch ohne die Pandemie, die die Welt in Atem hält, würden wir heute über die Bedeutung von Innovationen, über den Bundesbericht Forschung und Innovation und auch über das EFI-Gutachten debattieren. Nur eines war vorher anders: Selten verbanden sich mit Forschung und Innovation so konkrete Hoffnungen für die Menschen und ihre Gesundheit. Alle Welt hofft auf den Impfstoff, einen Impfstoff, der unter anderem in innovativen, forschenden Unternehmen in Deutschland entwickelt wird, von Unternehmen, die aktuell vielversprechende Impfstoffkandidaten in der Pipeline haben. Daran zeigt sich: Deutschland kann Innovation, Deutschland kann Biotechnologie, und Deutschland kann Start-up.
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Aber all das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist kein Selbstläufer. Dass wir diese Erfolgsgeschichten haben, ist das Ergebnis technologieoffener und kluger Forschungsförderung. Diese Bundesregierung setzt auf die Kraft von Fortschritt und Innovation. Wir investieren seit Jahren in Forschung und Innovation. Gute Forschung, erfolgreiche Innovation braucht einen langen Atem. Und genau dieses Fundament ist es, das uns jetzt in dieser Krise stärker macht als andere, worauf wir aktuell aufbauen und damit auch erfolgreich sind. BioNTech ist das beste Beispiel dafür.
BioNTech ist ein Start-up. Mittlerweile kennt jeder dieses Unternehmen. In unserer Forschungsförderung ist dieses Unternehmen eine alte Bekannte. Wir, das BMBF, fördern dieses Unternehmen seit seiner Gründungsphase 2007: zu Beginn mit GO-Bio, unserer Gründungsoffensive Biotechnologie, dann über den Spitzencluster-Wettbewerb und jetzt im Sonderprogramm zur Impfstoffentwicklung. Im Laufe der Jahre haben Özlem Türeci und Ugur Sahin und ihre Mitstreiter Forschung und Entwicklung mit langem Atem betrieben. Das zahlt sich jetzt aus. Nur weil wir uns in Deutschland diesen langen Atem auch in finanziell schwierigen Zeiten leisten, haben wir solche Erfolge mit Unternehmen wie BioNTech.
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Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel für die Stärke unseres Innovationslandes: Bereits im Januar – da hat hier noch niemand von Pandemie gesprochen – haben Wissenschaftler um Professor Christian Drosten an der Charité einen PCR-Test entwickelt und gehörten damit weltweit zu den Pionieren. Dieser Test hat uns geholfen, besser durch die erste Welle der Pandemie zu kommen als andere – eine kleine, schnelle Innovation mit großer Wirkung.
Aber wir sind auch in anderen Innovationsfeldern Spitze. Ich will ein paar Beispiele nennen: Gerade hat ein deutsches Institut im weltweiten Computer Science Ranking Platz eins in der Cybersicherheit erreicht, nämlich CISPA in Saarbrücken, ein Helmholtz-Institut, das – noch jung an Jahren – von uns gegründet worden ist, um Sicherheitslösungen in digitalen Systemen zu entwickeln. Oder auch unsere Gauß-Rechner: Auf der gerade veröffentlichten Liste der 500 schnellsten Supercomputer der Welt stehen Supercomputer aus Deutschland auf den vordersten Plätzen. Wir spielen auch dort, in der Weltliga der Supercomputer, ganz vorne mit.
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So, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen relevante und kraftvolle Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen aus. Deswegen lassen Sie uns einen Moment innehalten und stolz sein auf unseren Innovationsstandort, auf das, was bis zum heutigen Tag schon geschafft worden ist. Lassen Sie uns einmal genießen, was wir bis heute geschafft haben.
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Natürlich muss das, was heute schon gut ist, noch besser werden: noch innovativer, noch agiler, noch schneller. Denn der Wettbewerb mit Asien und Amerika ist hart und schnell. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, das unterscheidet uns: Wir sehen die Erfolgsgeschichten aus Saarbrücken, Mainz, Dessau, Tübingen und Berlin als Ansporn, kraftvoll weiterzumachen und mit langem Atem zu investieren. Ja, liebe FDP, lassen Sie uns gerne darüber reden, wie wir einen guten Biotechstandort noch besser machen. Es freut mich, wenn Sie unsere Anstrengungen unterstützen. Dazu gehört dann auch, dass wir ohne ideologische Scheuklappen über den Rechtsrahmen für neuartige Technologien wie die Genschere CRISPR/Cas9 reden; denn wir wollen dieses Instrument zum Wohle der Menschen nutzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch an den Bildschirmen, Widerstandsfähigkeit stärken und technologisch souveräner werden, das sind die beiden Ziele, für die wir in dieser Krise und auch danach die Maxime hochhalten, nicht nur in der Gesundheitsforschung. Wir haben gerade im Kabinett beschlossen, die Mikroelektronik mit 400 Millionen Euro zu fördern. Es geht dabei um nichts weniger als die Frage, wie wir in der digitalen Welt wettbewerbsfähig bleiben und eigene Standards setzen. Die Mikroelektronik ist die Schlüsseltechnologie in der digitalen Welt: Sensoren in autonom fahrenden Autos, selbststeuernde Industrieproduktionen, die Kommunikationsinfrastruktur der Zukunft: All das braucht Chips und Prozessoren. Wir brauchen souveräne Kompetenz auf diesem Feld, um die Mikroelektronik aktiv mitzugestalten, und das möglichst nachhaltig und energieeffizient.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann es nur noch einmal wiederholen: Der weltweite Wettbewerb ist hart und schnell. Und wir wollen und werden in diesem Wettbewerb bestehen, wenn wir auf Agilität und Flexibilität, gute Netzwerke, auf zügigen Transfer aus der Forschung in die wirtschaftliche Anwendung setzen. Damit können wir dieses Land an der Spitze halten, und damit können wir den Wohlstand unseres Landes bewahren und ausbauen.
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Wir haben die Fachkräfte dafür. Wir haben das Innovationspotenzial. Wir müssen mutig, kontinuierlich und optimistisch weiter daran arbeiten. Wir können das! Wir sind das Innovationsland Deutschland, und wir wollen es bleiben. Dafür bitte ich ganz herzlich um Ihrer aller Unterstützung.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Espendiller, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Wir debattieren heute, inwiefern der Bund in Sachen Forschung und Innovation seine Hausaufgaben gemacht hat. Frau Karliczek hat uns wieder mal weismachen wollen, wie toll diese Bundesregierung und ihre Leistungen sind. Auf ihre kühle und leidenschaftslose Art hat sie uns wieder mal erzählt, dass der Bund hier Geld ausgibt, da Geld ausgibt und auch dort noch mehr Geld ausgibt. Frau Karliczek ist offenbar die Meisterin im Geldausgeben.
Aber inwiefern profitiert eigentlich Deutschland als Forschungsstandort wirklich davon? Ganze 19,6 Milliarden Euro hat der Bund für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Zugegeben, 19,6 Milliarden Euro sind eine ganze Menge Geld. 22 Milliarden Euro sind aber noch mehr Geld. 22 Milliarden Euro hat allein die amerikanische Firma Alphabet im Jahr 2019 für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Auch der Forschungsetat von Google ist größer als der der Bundesregierung.
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Und das ist nicht das einzige Beispiel. Samsung Electronics: 14,8 Milliarden Euro, Microsoft: 14,7 Milliarden Euro, Volkswagen: 13,6 Milliarden Euro. Und wissen Sie, was alle diese Investitionen gemeinsam haben? Jemand muss für sie geradestehen, und sie müssen sich am Markt behaupten.
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Und was macht diese Regierung? Die verteilt das Geld mit der Gießkanne, und der Bund will sich auf Biegen und Brechen als Unternehmer betätigen. Doch er versagt dabei jedes Mal. Eines der neuesten Lieblingsprojekte dieser politischen Möchtegernunternehmer ist Gaia-X. Auf dem amerikanisch und chinesisch dominierten Markt von Cloud-Dienstleistern soll Gaia-X die europäische Antwort sein, wo alles viel besser und schöner währt.
Erstens ist festzustellen, dass das ohne den Breitbandausbau sowieso nichts wird. Ohne Internetanschluss keine Cloud. Zweitens. Gaia-X wird – und das ist bittere Realität – nicht laufen. Gaia-X wird eine weitere staatliche Geldverbrennungsmaschine sein, die mit Getöse und Feuerwerk angekündigt wird und dann sang- und klanglos im Erdboden verschwindet.
2007 wollten Sie mit Theseus die europäische Antwort auf die Suchmaschine Google geben. Was wurde daraus? Genauso wie in der griechischen Mythologie musste Theseus sterben, und er riss Steuergelder in dreistelliger Millionenhöhe mit sich in den Abgrund.
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Was will ich hier wieder mal sagen?
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Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer. Lassen Sie die Finger von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben.
Und bitte, achten Sie auch darauf, von wem Sie sich beraten lassen. Sie lassen sich jedes Jahr von den sogenannten Wissenschaftsweisen den EFI-Bericht vorlegen. Der liest sich ja regelmäßig wie ein planwirtschaftliches Pamphlet aus der sozialistischen Hölle.
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Aber dann hat dieses Gremium mit Uwe Cantner jetzt auch noch einen Vorsitzenden, der ganz offen gegen unsere Kernindustrien hetzt. In einem Interview dieses Jahr war Herr Cantner der Meinung, dass die Bürger kein eigenes Auto bräuchten; es gäbe ja Carsharing. Unsere Automobilindustrie war bestimmt begeistert, das zu hören. In Bezug auf unsere Autoindustrie äußerte er sich auch noch arrogant und verächtlich über deren Chefetagen und verkündete mal eben das Ende des Verbrennungsmotors. Da ist er voll auf dem Holzweg. Liebe Frau Karliczek, wenn Sie sich von solchen Leuten beraten lassen, dann muss man sich nicht wundern, dass dieses Land den Bach runtergeht.
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Ihre einzige wirkliche Errungenschaft in der Forschungspolitik ist die steuerliche Forschungsförderung. Geben Sie den Unternehmen Luft zum Atmen. Befreien Sie sie von der Bürokratie und von aberwitzigen Steuern und Lohnabgaben, und dann werden Sie sehen, wie Deutschland wieder zurück an die Forschungsspitze findet. Aber nur Geld aus dem Fenster zu werfen für dieses oder jenes Projekt, das wird nicht funktionieren. Die Unternehmer brauchen Freiheit. Innovation braucht Freiheit.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit März forschen Institute und Unternehmen weltweit zum neuen Coronavirus. Die Erfolge sind schon jetzt verlässliche Testverfahren und auch bessere Therapien. Auf dem Weg sind jetzt auch Impfungen und weitere Schnelltests, die wir sogar bald zu Hause machen können.
Wir müssen zurzeit unser gesellschaftliches Leben sehr einschränken. Die Forschung kann uns aber dabei helfen. Sie gibt uns die berechtigte Hoffnung, dass wir bald mit dem Virus besser leben können. Dafür brauchen wir die Forschung. Wir unterstützen diese Forschung unter anderem mit bis zu 320 Millionen Euro für die internationale Impfstoffinitiative CEPI und mit bis zu 750 Millionen Euro für die nationale Impfstoffentwicklung. 15 Millionen Euro stellen wir für die Forschung an Arzneimitteln und Therapieverfahren bereit. Das sind wichtige Schritte, die wir jetzt brauchen, und das zeigt deutlich, dass Forschung und Innovation in der Wirtschaft wichtig sind.
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Gesundheitsforschung generell liefert uns Erkenntnisse über Gesundheit und Krankheit. Sie entwickelt neue Präventionsansätze und auch innovative Therapieverfahren. Das sehen wir, und deshalb ist sie auch zu Recht ein Schwerpunkt unserer Hightech-Strategie. Diese hat zum Ziel, dass die Erfolge der Gesundheitsforschung irgendwann auch in die Versorgungspraxis übergehen. Auch die gesamte Hightech-Strategie ist darauf ausgerichtet, Antworten auf genau diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden.
105 Milliarden Euro investierten Staat und Wirtschaft 2018 gemeinsam, Herr Espendiller, 19,6 Milliarden Euro davon der Bund. Unser Anteil hat sich damit seit 2005 mehr als verdoppelt, und er steigt weiter. Das ist auch wichtig für die Zukunftspakete Wasserstofftechnologie, KI und auch Quantentechnologie.
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Meine Damen und Herren, mit Wasserstoff aus CO2-freier Herstellung kann unsere Industrie ihre Treibhausgasemissionen deutlich reduzieren. Ich selbst komme aus Duisburg. Dort steht ein Stahlwerk von thyssenkrupp, eine Industrieanlage mit dem höchsten CO2-Ausstoß in Deutschland. Dort steht aber auch der erste Hochofen, der mit Wasserstoff statt Kohle arbeitet. Solche Technologien – und deshalb stützen wir die Industrie damit – brauchen wir, und solche Technologien fördern wir auch.
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Es geht darum, den Klimawandel zu bekämpfen. Erneuerbare Energien und die Nutzung von Wasserstoff gehören dazu, übrigens genauso wie auch innovative Mobilitätskonzepte.
Ein weiterer Schwerpunkt der Hightech-Strategie ist die Digitalisierung der Arbeitswelt. Vorrangig sollten Produktions- und Dienstleistungsprozesse effizient, umweltgerecht weiterentwickelt und die Rahmenbedingungen der Datenökonomie angepasst werden. Die Hightech-Strategie will die Gesellschaft dabei stärker einbeziehen; auch das ist wichtig. Das ist gerade bei der Digitalisierung der Arbeitswelt notwendig.
Die Angst, dass mit der Digitalisierung massiv Jobs wegfallen, ist größtenteils unbegründet, wie ich finde. Es wird aber einen stark spürbaren Strukturwandel geben. Deshalb sind auch neue Qualifikationen nötig. Die Arbeitsformen müssen wir uns ansehen. Wir müssen klären, welche Aus- und Weiterbildungsstrategien wir brauchen und wie sie sich verändern.
Wir müssen auch darüber reden, wie sich im Zusammenhang mit dem Strukturwandel unsere Sozialversicherungen verändern. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat dazu sowohl unter Andrea Nahles als auch unter Hubertus Heil gute Vorschläge vorgelegt. Daran sollten wir arbeiten.
Meine Damen und Herren, wir können auf viele Erfolge in unserer Politik für Forschung und Innovation blicken; das ist richtig. Wir wollen aber auch noch besser werden. Wir wollen bis 2025 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung investieren. Das ist wichtig, wenn wir unsere gute Position auch im weltweiten Vergleich halten wollen.
Haupttreiber für diesen Anstieg der Bundesausgaben für Forschung ist der Pakt für Forschung und Innovation. Er garantiert regelmäßige Aufwüchse von 3 Prozent pro Jahr. Initiiert wurde er von Edelgard Bulmahn; daran will ich erinnern. Die ehemalige Forschungsministerin hat übrigens auch die Exzellenzstrategie auf den Weg gebracht. Diese sozialdemokratisch geprägten Entscheidungen bestimmen bis heute maßgeblich auch die Struktur unserer ganzen Forschungslandschaft.
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Damit nicht genug: Zuletzt hat auch Olaf Scholz die lang geforderte steuerliche Forschungsförderung durchgesetzt, um noch mehr Potenzial für Innovation zu heben. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle auch noch insgesamt bedanken. Sie sehen: Die Sozialdemokratie steht zu diesem Forschungsstandort. Ich wünsche mir deshalb weitere Beratungen. Der heute vorliegende Bericht zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden …, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben …
Max Plancks Worte für all jene, die Technologie einengen, aus dem Land getrieben haben und noch immer treiben – die hier links sitzen –, statt für Technologieoffenheit einzutreten! Nicht der einzige Bremsklotz deutscher Forschung: überkomplexe Regelwerke, unzählige Projektanträge, Bürokratie, die allem Forschergeist den Atem abschnürt. Derweil gerieren sich die Granden von Wissenschaft und Regierung wie Kleopatra auf dem Nil: Egal wie viel Transformation zu Lande passiert, sie ziehen in majestätischen Galeeren träge vorbei und genießen – Asterix lässt grüßen – ein paar Perlen in Essigwasser. Das, liebe Frau Karliczek, ist Ihre Genussfreude. Derweil steigt Deutschland ab in allen vier relevanten internationalen Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit, auch im Ranking des Weltwirtschaftsforums, des letzten, dessen sich die Unionschristen, hier vor mir sitzend, noch 2019 gerühmt hatten. Das alles steht nicht in Ihrem Bericht, Frau Karliczek.
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„Die reinste Form des Wahnsinns ist es,“ – ich zitiere Albert Einstein – „alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
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In Ihrem Bericht, liebe Frau Karliczek, steht auch nichts Substanzielles zum Transfer – Ihr großes Thema und Ihr großes Trauma! Kühl abserviert haben Sie unsere Idee einer deutschen Transfergemeinschaft für die vielen anwendungsorientierten Fachhochschulen. Und was die geringere Anzahl grundlagenforschungsstarker Hochschulen für angewandte Wissenschaften angeht: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist nach wie vor unfähig, sie in ihre Förderung zu integrieren. Ihre vollmundig angekündigten KI-Professuren – 100 an der Zahl –, da erzählen Sie uns, Sie hätten bereits über 20. In Wirklichkeit haben sie erst 4 der 30 Alexander-von-Humboldt-Professuren besetzt und 2 der restlichen 70. Ihre Rechnung klingt arg nach Trump-University. Stop the count, Frau Karliczek!
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Die Biotechnologie haben Sie jahrzehntelang drei wagemutigen Investoren überlassen: den Gebrüdern Strüngmann und Dietmar Hopp. Falls es jetzt hoffentlich einen Impfstoff aus Deutschland gibt, dann nicht wegen dieser Bundesregierung, sondern trotz dieser Bundesregierung.
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Die Agentur für Sprunginnovation, für die ich mich verkämpfe, kann nicht einmal GmbHs mit Minderheitsbeteiligung gründen.
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Sie krebst vor sich hin ohne Bein- und Gedankenfreiheit, genauso wie die gegängelten Ausgründungen von Fraunhofer und Kompanie. Dann, Frau Karliczek, Ihre völlig chaotische Standortentscheidung Batteriezellenforschung! Haben Sie Ihre Abteilungsleiter auch auf die Trump-University geschickt? Dann können wir ja dankbar sein, dass der neue Batteriestandort Münster heißt und nicht Mar-a-Lago.
Selbst jetzt, in Coronazeiten, fehlt Ihnen der Mut, Deutschlands Digitalschwäche bei den Hörnern zu packen und den Ausbau von 5 G zu beschleunigen. Stattdessen immer noch das Gerede von den Milchkannen! Ihnen fehlt der Mut zur Veränderungsdynamik im Innovationssystem durch Wildcards und Wettbewerb, durch Key-Performance-Indikatoren, die man nicht nur erreichen möchte, sondern übertreffen möchte, damit aus fetten Katzen endlich agile Geparden werden.
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„Neugierde ist ein verletzliches Pflänzchen,“ – so Albert Einstein – „das nicht nur Anregung, sondern vor allem Freiheit braucht.“ Sobald wir Freien Demokraten in Deutschland verantwortlich sind für Innovation und Forschung,
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werden wir der Bürokratie den Garaus machen.
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Frische Luft, neuer Geist ins System, lieber Herr Brinkhaus! Ist es Ihnen übrigens schon mal aufgefallen, dass wir Deutschen, wenn wir über Innovation sprechen, zuerst an Forschungseinrichtungen denken? Überall sonst auf der Welt denken die Menschen an Gründer und an Unternehmerinnen und Unternehmer,
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und die brauchen innovative Freiheitszonen. Frankreich, Polen, Großbritannien nutzen seit Jahrzehnten die Hebeleffekte von Free Enterprise Zones.
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Start-ups wachsen so zu Scale-ups, Hochschulen zu Transferzentren. Sozialentrepreneure befruchten die Zivilgesellschaft. Kommunen werden E-Service-Anbieter für Bürger – agil, unbürokratisch, steuerbegünstigt und innovativ. Natürlich brauchen wir wieder systemrelevante Industrien made in Europe bei Medizintechnik, Biotech, digitaler Basistechnologie, mit attraktiver Standortpolitik, Wagniskapital und Ausgründungen aus dem Wissenschaftssystem.
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Meine Damen und Herren, wir brauchen einen New Deal für einen deutschen digitalen Hoover-Staudamm,
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E-Schooling, E-Health, E-Government. Ein Megaprojekt für europäische Start-ups und Mittelständler, mit dem Staat als erstem Kunden! Die USA haben uns das in der Great Depression vor 100 Jahren erfolgreich vorgemacht. Aber mit Technologie alleine meistern wir die digitale Ära nicht, sondern nur begleitet von sozialer Innovation.
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Sie ist der Zwilling des technologischen Fortschritts. Unsere Gesellschaft – Herr Brinkhaus, hören Sie zu –, vor allem unsere soziale Marktwirtschaft braucht ein Update, und das muss sich an den künftigen Bedürfnissen der Menschen orientieren, nicht an der eigenen Komfortzone, liebe Schwarze, oder an gentechnikfeindlicher Ideologie, liebe Grüne. Nein, „Klarheit in den Worten, Brauchbarkeit in den Sachen“, das hat schon Gottfried Wilhelm Leibniz gefordert. Und ceterum censeo füge ich hinzu: Ran an den Speck, Frau Karliczek!
Danke schön.
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Dr. Petra Sitte, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forschung, Innovation und technische Neuerung prägen immer mehr unser Leben. Sie verändern Arbeitsplätze, Arbeitsabläufe wie auch unsere Möglichkeiten, mit der Welt in Kontakt zu treten und umgekehrt. Daher ist uns Linken Forschungspolitik auch so wichtig. Wir wollen Forschung im Interesse der Menschen gestalten, statt das Leben durch Technik steuern zu lassen. Die Berichte, die wir heute diskutieren, folgen jedoch weitgehend einer technikfixierten und exportorientierten Sicht auf Forschung. Schaut man nämlich in die Berichte, dann findet man so schicke Schlagworte wie „Anteil am Weltmarkt“, „Patente pro Kopf“, „Ausgaben, anteilig am Inlandsprodukt“. Meine Damen und Herren, das verstehen wir nicht unter Forschungspolitik.
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Wir fragen vielmehr: Wenn wir schon öffentliche Gelder ausgeben, was fließt von diesen öffentlichen Geldern an die Gesellschaft zurück, an die Menschen und an das Gemeinwesen? Das müssen wir uns doch gerade im Zuge der Coronapandemie fragen: Soll denn im Grundsatz wirklich alles so weitergehen wie bisher, so wie es Herr Sattelberger gerade beschrieben hat? Epochale Ziele wie Bewältigung des Klimawandels, Biodiversität, Ressourcenschutz, Verteilungsgerechtigkeit, soziale und demokratische Teilhabe, nachhaltige Wirtschaftsformen und Lebensstile, Mobilitätskonzepte, Gesundheitsforschung, Digitalisierung – es ließe sich beliebig fortsetzen –, all das sind Felder, die unser Leben heute und in Zukunft existenziell bestimmen.
Und der Bericht der Bundesregierung? Der atmet den Geist der 50er-Jahre: exportieren, konkurrieren. Was dabei entwickelt und verkauft wird, ist relativ unwichtig. Es bleibt bei Ihrer Wachstumsphilosophie der letzten Jahrzehnte. Das ist auch durchaus im Sinne der Global Player. Aber für die sind wir ja eben nur ein Standort, und das ist uns zu wenig.
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Es sind doch oft genug gerade die kleineren Unternehmen, die viel innovativer sind: kommunale Unternehmen, Sozialunternehmen oder die Social Entrepreneurs. Sie sind eben einfach näher dran an den Bedürfnissen von Menschen oder beispielsweise auch an den Bedürfnissen von kommunalen Verwaltungen.
Gerade als ostdeutsche Abgeordnete muss ich noch mal sagen: Ich erlebe immer wieder, wie wichtig und wie innovativ kleine und mittelständische Unternehmen im Osten wirken und arbeiten. Deshalb vertrete ich auch seit Jahren die Position, dass genau die beispielsweise aus dem Innovationsprogramm Mittelstand viel stärker und viel verlässlicher gefördert werden sollten, statt mit der Gießkanne über Steuern letztlich doch bloß die Großen zu begünstigen.
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Nah dran sind natürlich mit ihrer Alltagskompetenz und ihrem Alltagswissen die Menschen selbst. Sie müssen viel mehr direkte Mitsprache bei der Forschungsstrategie bekommen. Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung sind eher enttäuschend. Auch Gruppen und Organisationen, die hier wertvollen Input geben könnten, werden nicht wirklich ernsthaft eingebunden oder eben viel zu wenig. Sie sind fast immer eine verschwindende Minderheit in Beratungsgremien. Wenn Sie es also wirklich ernst meinen mit Forschungspolitik, die am Gemeinwohl orientiert ist, dann beteiligen Sie doch endlich diese Unternehmen, diese Verbände gleichberechtigt neben Wirtschaftsverbänden oder auch freie Forschungsverbünde, die Sie mit ihrem Wissen beraten könnten. Ich habe das Gefühl: Was Sie derzeit betreiben, ist so eine Art Particitainment. So verlieren sie eben auch Unterstützung in der Gesellschaft.
Erst unlängst haben wir hier den Bericht der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ beraten. Auch da wurde die Gesellschaft während der Erarbeitung des Berichtes nicht beteiligt, sondern erst, als die Ergebnisse da waren. Die Koalitionsfraktionen haben diese Beteiligung verhindert. Dabei wäre doch gerade diese Perspektive so wichtig gewesen. Was ermöglichen denn neue Technologien wie künstliche Intelligenz an Anwendungen und Praktiken, die uns als Gemeinwesen wirklich weiterbringen? Da neue Impulse zu suchen und aufzunehmen, das verstehe ich unter erfolgreicher Forschungspolitik.
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Bei alldem können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch hervorragende Erklärer ihrer eigenen Forschung sein. Sie können hervorragend Dialoge führen. Sie können auch helfen, die Akzeptanz zu erhöhen. Die Coronakrise hat uns doch gerade gezeigt, wie extrem wichtig es ist, dass Wissenschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen und gemeinsam Fakten prüfen, Fakten diskutieren und dann Maßnahmen anregen.
Am Montag dieser Woche – das werden sicher viele gesehen haben – lief im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Film über die größte Polarexpedition aller Zeiten. Auch da erklärten uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was sie tun, und vor allem, warum sie es tun. Ich fand das großartig, weil dort coram publico das Angebot gemacht wurde, mit dem Bundestag, mit der Gesellschaft über die Fragen des Klimawandels zu reden.
Dabei brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch selber aktive Unterstützung. Ich frage mich, ehrlich gesagt, immer wieder: Was um Himmels willen bringt die Bundesregierung und ihre Beratungsgremien bloß auf die Idee, dass verlässliche und den Leistungen entsprechende Karrierechancen Wissenschaft, Forschung und Kreativität behindern könnten? Da hangelt man sich von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag. Deutschland liegt weit hinter anderen Industrieländern, was den Anteil dauerhafter Beschäftigung im Wissenschaftsbereich betrifft. Davon sind nicht nur die Hochschulen betroffen, sondern zunehmend auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Ich sage mal: Kein Wirtschaftsunternehmen dieser Welt würde eine solche Personalpolitik betreiben.
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Wir sollten stattdessen alles tun, um Nachwuchswissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler zu unterstützen. Wir sollten uns hier immer wieder fragen: Was braucht die Gesellschaft? Was brauchen die Menschen? Was brauchen vor allem jene, die zu den am meisten Benachteiligten in dieser Gesellschaft gehören? Jede Entscheidung, die wir hier treffen und die deren Situation weiter verschlechtert, ist eine inakzeptable Entscheidung. Deshalb sind soziale Innovationen so wichtig.
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Schließlich wünsche ich mir, dass die Ministerin nicht nur den Horizont der Forschungsbemühungen des Ministeriums erweitert, sondern eben auch den Kreis der Beteiligten. Zukunft ist zu spannend, als sie Ihnen überlassen zu können. Wir sollten alle daran beteiligt werden, hier im Bundestag genauso wie in der Gesellschaft.
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Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächster das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aktuell erleben wir alle, wie sehr Forschung und Innovation im Interesse der Menschheit und unseres Planeten liegen. Kluge Forschungs- und Innovationspolitik baut vor, sonst wird sie von der Realität überrollt.
Wir erleben eine wirklich außergewöhnliche Realität, eine Jahrhundertpandemie. Seit Monaten richten sich alle Augen auf die Wissenschaft. Sie forscht mit Hochdruck an Impfstoffen und Medikamenten. Wir können uns über drei Impfstoffkandidaten made in Germany freuen. Ich kann aber nicht erkennen, dass die Forschungsministerin klug vorgebaut hätte. Täglich sind wir damit konfrontiert, welche Forschungslücken zum Coronavirus noch bestehen, von der Erforschung von Übertragungswegen bis zu Präventionsstrategien. Warum lassen Sie diese Forschungslücken offen, Frau Forschungsministerin?
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Wir Grüne fordern seit Monaten einen interdisziplinären, wissenschaftlichen Pandemierat, der Antworten auf offene Fragen liefert, Erkenntnisse bündelt, Maßnahmen monitort und Politik berät. Anstatt sich jede Woche in Pressegesprächen mit Topforschern zu sonnen, wäre der Pandemierat die richtige Antwort einer Bundesforschungsministerin auf die Coronakrise.
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Uns sorgt, dass Sie die Hochschulen in dieser Krise offenbar komplett vergessen. Für die außeruniversitäre Forschung gibt es dieses Jahr 400 Millionen Euro mehr, damit Kooperationen mit der Wirtschaft aufrechterhalten werden. Gut so! Aber die Hochschulen schauen in die Röhre, obwohl auch hier herausragende Forschung stattfindet. Ebenso verhält es sich mit der Digitalisierung der Hochschulen. Vor Jahren hat Ihre eigene Expertenkommission Forschung und Innovation eine Digitalisierungspauschale vorgeschlagen. Wir haben sie beantragt. Im Lockdown hätten die Hochschulen diese Mittel so dringend gebraucht. Aber selbst während der Onlinesemester kommt da nichts von Frau Karliczek.
Wenn Sie die Herzkammer unseres Wissenschaftssystems weiter derart geringschätzen, untergraben Sie die Einheit von Forschung und Lehre. Die Hochschulen machen unser Land schlauer und kreativer und damit zukunftsfest.
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Dasselbe gilt beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Der aktuelle „Hochschulreport“ des DGB zeigt die prekäre Lage: Vier von fünf wissenschaftlichen Stellen sind befristet, Überstunden und Unsicherheit sind an der Tagesordnung. Damit vergraulen Sie die klügsten Köpfe. Solche Zustände sind niemandem zuzumuten. Damit bleibt die Wissenschaft nicht konkurrenzfähig mit der Wirtschaft.
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Kluge Politik baut vor, Ministerin Karliczek leider nicht. Die Wissenschaft zehrt vielerorts längst von der Substanz. Statt moderner Forschungsbauten haben wir teils baufällige Hörsäle, in die es reinregnet und die digital, im Sinne der Klimaneutralität und energetisch nicht auf der Höhe der Zeit sind. Das ist wirklich nicht zukunftsgerecht! Denn Klimakrise, Artensterben und Ressourcenknappheit werden uns noch sehr lange beschäftigten, auch wenn Corona vielleicht längst kein Thema mehr ist.
Darum brauchen wir schon jetzt eine Forschungspolitik, die diese Krisen ernst nimmt und eine Green Economy gestaltet. Eine Forschungspolitik, die Krisen als Innovationstreiber für ein besseres und nachhaltigeres Leben für alle nutzt. Es kann uns gelingen, wenn wir es jetzt wirklich anpacken!
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Steier, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Es gibt wohl kaum ein Jahr in unserer Geschichte, in dem so stark auf Wissenschaft und Forschung geblickt wurde. Daher freue ich mich, dass wir heute über den Bundesbericht Forschung und Innovation der Bundesregierung sprechen. Jeder, der den Bericht liest, bekommt ein gutes Gefühl dafür, warum ein starker Forschungsstandort hier in Deutschland so wichtig ist. Gerade die Coronapandemie zeigt uns deutlich, wie wichtig gute Forschungspolitik ist, die im Notfall schnell funktioniert, die nicht erst viel Zeit braucht, um Forschungslabore aufzubauen, Personal anzuwerben, sondern sofort einsatzfähig ist und gute Lösungen auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis aufzeigt.
Ohne gute Forschungspolitik in der Vergangenheit wären wir heute nicht so glimpflich durch die Krise gekommen, und das zeigt, dass wir hier gute Arbeit geleistet haben.
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Wir haben Topinstitute, herausragende Wissenschaftler, und wir haben das nötige Forschungsumfeld vor Ort. Der weltweit erste seriöse Coronaimpfstoff kommt aus Deutschland – wir haben es eben gehört –, von der Firma BioNTech mit Sitz in Mainz, gefördert vom Bund; das Ehepaar ist türkischstämmig. Der Partner ist die US-Firma Pfizer. Wir haben Menschen aus aller Welt, die diesen Impfstoff entwickelt haben,
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sowohl hier bei uns als auch auf der anderen Seite des Atlantiks.
Aber auch abseits von Corona bekommt unser Forschungsstandort vielfach ein gutes Zeugnis. Der Bericht der Expertenkommission Forschung und Innovation bescheinigt der deutschen Forschungs- und Innovationspolitik in den letzten Jahren eine positive Dynamik. Deutschland gehört zu den Volkswirtschaften in der Welt, die am meisten in Forschung investieren. Über 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wird bei uns in Forschung investiert.
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Das ist auf der einen Seite erfreulich. Für mich ist es gleichzeitig aber auch Ansporn, dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben, und weiterhin in die Bereiche zu investieren, wo unsere Zukunft liegt. Dazu liefert der Bericht Antworten. Wenn man ihn genau liest, stellt man fest, dass man in gewissen Bereichen weiter Tempo aufnehmen muss, um ebendiese Bereiche gezielt weiterzuentwickeln. Ich will drei Beispiele nennen:
Erstens: die Finanzen. Wir investieren viel Geld in Forschungseinrichtungen und Hochschulen und fördern Forschungsprojekte in der freien Wirtschaft. Über 104 Milliarden Euro haben wir in 2018 in diesen Bereich investiert. Die Ausgaben des Bundes für Forschung und Innovation – Frau Bas hat sie eben aufgeführt – haben sich gegenüber 2006 mehr als verdoppelt. Der Haushalt des Forschungsministeriums für das Jahr 2021 spricht eine klare Sprache. Zum Beispiel werden die geplanten Mittel für die Nationale Forschungsdateninfrastruktur von 25 auf 55 Millionen Euro erhöht. Die Mittel für die Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen werden von 18 auf 49 Millionen Euro erhöht. Und wir steigern die Investitionen in die Digitalisierung der Hochschulbildung, in die Forschung an Fachhochschulen, aber auch in die berufliche Bildung. Das Ziel bis 2025 ist, den Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung bis auf eine Höhe von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Zweites Beispiel: der Pakt für Forschung und Innovation. Wir schreiben den Pakt für Forschung und Innovation fort. Wir investieren jährlich 3 Prozent mehr in diesen Pakt. Über zehn Jahre investieren wir in der Summe 120 Milliarden Euro. Wichtig dabei ist auch der Transfer aus Forschung und Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft. Hier brauchen wir mehr Dynamik. Deshalb wurde der Transfer auch als Kernziel in diesem Pakt festgeschrieben. Zentrale Säule dabei ist eine gute Grundlagenforschung. Wir schaffen Planungssicherheit und gute Rahmenbedingungen, um kluge Köpfe in Deutschland zu halten und neue für Deutschland zu gewinnen. Nur mit klugen Köpfen können wir auch weiterhin die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Drittens: die steuerliche Forschungsförderung. Gerade die Innovationskraft unserer kleinen und mittelständischen Unternehmen ist besonders wichtig. Gerade die Familienunternehmen haben ein sehr hohes Innovationspotenzial. Durch eine steuerliche Forschungsförderung wollen wir dieses Potenzial gezielt heben. Das entsprechende Gesetz wurde von der CDU/CSU zusammen mit der SPD im Jahr 2018 auf den Weg gebracht, und am 1. Januar 2020 trat es in Kraft. Dadurch können 25 Prozent der förderfähigen Ausgaben im Bereich „Forschung und Innovation“ von den Unternehmen abgesetzt werden. Und wir haben in der Krise im letzten Sommer die Mittel von 500 000 Euro auf über 1 Million Euro gesteigert. Das ist gezielte Forschungspolitik und für uns Standard, um auch hier eine neue Dynamik zu erwirken.
Die Hightech-Strategie bündelt all diese Maßnahmen, die man hier nur exemplarisch aufführen kann, unter einem zentralen Dach. Wir haben schon frühzeitig, in 2018, darauf hingewirkt, dass wir die Hightech-Strategie für 2025 fortschreiben und ebendiese Maßnahmen in der Forschungspolitik weiter vorantreiben.
Wir brauchen Mut für die Zukunft. Wir müssen schauen, wo es Innovationsfelder gibt. Wir müssen schauen, wo Innovation notwendig ist. Wir müssen uns auch fragen, wo wir dies weiterentwickeln können, wo das von Nutzen ist und wie wir dafür sorgen können, dass es uns hier in Deutschland und auch in der Welt weiterhin gut geht. Antwort auf diese entscheidende Frage wird sein, wie wir die Grundlagenforschung mit der Anwendungsforschung verknüpfen können. Wichtig dafür ist ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem, das Lehre und Hochschulbildung stärkt und wissenschaftliche Exzellenz hervorbringt. Die Bundesregierung setzt dabei auf Profilbildung und Exzellenzförderung.
Wir als Union stehen klar für Wissenschaftsfreiheit. Wir stärken die Wissenschaft mit einer guten Infrastruktur. Gerade in der Pandemiezeit haben wir erlebt, dass wir hier eine sehr gute Infrastruktur vorhalten. Und wir rüsten diese Infrastruktur auch mit einer guten finanziellen Ausstattung aus. Wir wissen zwar nicht, ob und wann welche Erfindung, welche Innovation für uns Nutzen bringt, aber wir wissen, dass es ohne Innovation keinen Fortschritt und keine Zukunft gibt. Deshalb investieren wir von der Union gerade in diese Bereiche.
Mein Fazit: Erstens. Deutschland ist auf einem guten Weg, bis 2025 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Innovation auszugeben. Zweitens. Wir schütten das Geld nicht mit der Gießkanne aus, sondern investieren zielgerichtet, und zwar in die Zukunftsfelder, die nach aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis eine Lösung für die drängendsten Fragen der Zukunft bieten können. Von daher ist der Bericht gut. Wir unterstützen diesen Bericht.
Danke.
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Nächster Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Strategie der Bundesregierung zu Forschung und Innovation ist wirklich geprägt vom Fehlen dessen, was gute wissenschaftliche Arbeit auszeichnet: gründliche Recherche etwa und ein fundiertes Verständnis, eine ordentliche Abwägung oder klare Zielsetzungen.
Die Forschungsstrategie der Bundesregierung lässt sich vielmehr am besten vergleichen mit dem Einkaufsverhalten eines unbeaufsichtigten Teenagers im Shoppingcenter:
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Das Budget legt man schon mal fest, relativ früh – 3,5 Prozent des BIP will man erreichen –, und dann rennt man jedem Modetrend hinterher: Hightech, künstliche Intelligenz, disruptive Innovationen. Das alles wollen Sie haben; Sie kaufen wild ein. Das Geld ist am Ende ausgegeben, und wir haben nichts davon.
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Wir sehen doch die Resultate: Bei den Hightechentwicklungen sind uns USA und China weit voraus, in der künstlichen Intelligenz findet Deutschland den Anschluss nicht, und die disruptiven Innovationen lassen auch auf sich warten. Es gibt nun mal keine neuen Erfindungen in der Größenordnung des Internets, die sich in Deutschland einstellen mögen. Disruptiv ist hier allein die Politik der Regierung Merkel.
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Ich sage es deutlich: Die Erfolge in Forschung und Entwicklung haben wir vor allem der Wirtschaft zu verdanken und den Hochschulen und Universitäten, die diese Erfolge meist trotz und nicht wegen der Regierung erzielen. Deswegen an dieser Stelle: Herzlichen Dank!
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Innovationen funktionieren halt nicht wie ein Thermomix. Da kann ich nicht einfach Geld reinwerfen, ein bisschen warten, und dann kommt am Ende ein bahnbrechendes Produkt raus.
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Vielmehr ist es Aufgabe und auch Pflicht der Politik, die Rahmenbedingungen zu schaffen, und genau darüber lese ich in dem Bericht der Bundesregierung nichts. Der Staat hat die Aufgabe, die Grundlagenforschung zu ermöglichen, sie gut auszufinanzieren und den Rahmen zu schaffen. Und die Unternehmen betreiben dann die Anwendungsforschung und können Produkte entwickeln, die letztendlich auch marktfähig sind. So wäre die Aufteilung. Das durchbrechen Sie völlig.
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Wir als AfD fordern drei Hauptpunkte in diesem Zusammenhang:
Erstens. Wir fordern eine bessere Grundausstattung der Hochschulen, damit sie bessere Arbeitsbedingungen bieten, besseres Personal rekrutieren können und unabhängig von Ideologieprojekten mehr Freiheit für Grundlagenforschung haben.
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Zweitens. Wir brauchen optimale Rahmenbedingungen für Unternehmen. Das hat mit Regulierung und Steuern zu tun, aber auch mit einer Vereinfachung von Unternehmensgründungen. Im Doing Business Report der Weltbank steht Deutschland bei der Einfachheit von Unternehmensgründungen auf Platz 125 in direkter Konkurrenz zu Dschibuti. Ja herzlichen Glückwunsch! Bis bei uns ein Bauantrag bewilligt wurde, ist das Produkt veraltet, das man dort produzieren wollte.
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Und zum Dritten müssen wir die Infrastruktur ausbauen, damit wir die Spitzenforschung bündeln können. Die Bundesregierung träumt von einem Ökosystem mit 100 Professoren im Bereich der künstlichen Intelligenz, die irgendwo rekrutiert werden. Wir sagen: Nein, wir brauchen einen zentralen KI-Campus, der junge Wissenschaftler anzieht, die dort netzwerken können und wo sich auch Unternehmen ansiedeln können.
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Meine Damen und Herren, der Staat darf keine Luftschlösser bauen, so wie es die Bundesregierung vorhat und wie es auch die Science-Fiction-Fraktion FDP hier beantragt, die haptische Holografie im Klassenzimmer fordert. Ich frage mich, wann Sie zum letzten Mal eine Schule von innen gesehen haben.
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Vielmehr müssen wir die Infrastruktur ausbauen und die Rahmenbedingungen schaffen für eine optimale Grundlagenforschung an den Universitäten und eine Spitzenentwicklung in Unternehmen. Das wäre der richtige Ansatz.
Haben Sie vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Paschke, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann es mir nicht verkneifen, Herrn Sattelberger noch eine Weisheit mitzugeben.
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Herr Sattelberger, Sie wissen ja: Wer zu viel zitiert, der wird selber nie zitiert.
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Zu dem, was die AfD als Abbruchunternehmen der Forschung hier beigetragen hat, brauche ich, glaube ich, nicht allzu viel zu sagen.
Wann sind Forschung und Innovation denn erfolgreich? Gemessen an der Zahl der Patente und Entwicklungen sind wir sehr erfolgreich. Im Jahr 2017 haben wir in Deutschland 398 weltmarktrelevante Patente pro 1 Million Einwohner angemeldet. Das ist zum Beispiel doppelt so viel wie in den USA.
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Deutschland gehört zu den führenden Innovationsnationen und zu den attraktivsten Wissenschaftsstandorten. Damit das so bleibt, müssen wir sicherstellen, dass – bildlich gesprochen – die Erkenntnisse vom Gipfel der Forschung zu den Menschen auf das flache Land gelangen. Ich möchte diesen Prozess an einem Beispiel deutlich machen: Es gibt viele positive Entwicklungen und Innovationen im Bereich der Vermeidung von Tierversuchen. Solche tierversuchsfreien Alternativmethoden basieren zum Beispiel auf Computermodellen, auf Zell- und Gewebekulturen sowie auf der Verwendung von alternativen Organismen. Paradox ist aber die Situation, dass solche Verfahren häufig nicht oder nur sehr langsam in die breite Anwendung gelangen.
Am Beispiel der tierversuchsfreien Alternativmethoden wird eines deutlich: Es gibt sie, aber nicht jeder kennt sie oder kann sie einsetzen. Neue Methoden müssen besser validiert werden und über Translationsplattformen allgemein zugänglich und anwendbar sein. Hier braucht es eine Veränderung der bisherigen Forschungs- und Innovationspolitik. Wissenschaftlicher Erfolg darf sich nicht nur an der Anzahl der Veröffentlichungen messen lassen.
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Wir brauchen eine veränderte Reputationslogik; denn für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler muss auch anwendungsorientierte Forschung attraktiv sein.
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Forschung und Innovation sind besonders erfolgreich, wenn wir Spitzenforschung und anwendungsorientierte Forschung nicht trennen, sondern zusammenbringen, und das von Anfang an. Mit der Hightech-Strategie haben wir erste wichtige Weichen gestellt, um Ideen-, Wissens- und Technologietransfer voranzutreiben. Dabei müssen wir das Potenzial nichttechnischer und sozialer Innovationen berücksichtigen, um die zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen.
Deutlich wird dies, wenn wir uns vor Augen führen, welche Auswirkung die digitale Transformation hat. Der Bundesbericht Forschung und Innovation zeigt, dass sich die Wertschöpfung zunehmend in die Datenwelt verlagert. Diese Veränderung betrifft neben Produkten und Dienstleistungen auch Produktions- und Arbeitsprozesse und vor allem die Menschen in unserer Gesellschaft.
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Daher ist es uns ein wichtiges Anliegen, führende Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zusammenzubringen und gemeinsam innovative Lösungsansätze weiterzuentwickeln.
Schon 2016 hat die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles mit dem Weißbuch „Arbeiten 4.0“ die Diskussion eröffnet, wie wir die Zukunft gestalten können. Sozialdemokratische Bildungs- und Forschungspolitik ist erfolgreich, und wir werden sie zukünftig weiterentwickeln.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Dr. Anna Christmann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich staune schon etwas, Frau Karliczek, wie Sie sich hier feiern mit den Worten: „Wir investieren seit Jahren in F und E“ und vor allem: Wir genießen jetzt, was wir geschafft haben. Da frage ich mich doch: Ist jetzt der Zeitpunkt, sich darauf auszuruhen, was zum Glück gerade mit der Impfstoffentwicklung ganz gut vorangeht?
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Wir haben, glaube ich, noch eine ganze Menge Aufgaben zu erledigen. Ich hätte mir gewünscht, heute von Ihnen zu erfahren, was Sie alles noch bis zur nächsten Wahl anpacken, und nicht so sehr, was Sie in der letzten Zeit gemacht haben.
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Ich glaube, auch diejenigen, die die nötige Förderung für ihre Innovationstätigkeit so dringend brauchen, hätten sich ein paar konkrete Antworten gewünscht. Ein Beispiel: Wir haben ja nicht nur BioNTech, wir haben auch CureVac. Man muss sich nur einmal vom Gründer anhören, wie schwierig es in den letzten Jahren war, Kapital zu generieren. Das war kein deutsches, kein europäisches Kapital; das war in der Regel amerikanisches Kapital. Wir haben noch einen weiten Weg zu gehen bei der Förderung unserer Gründerinnen und Gründer, bei der Förderung von Innovationen. Da braucht es weit mehr, als Erfolge zu genießen.
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Wir machen dazu Vorschläge. Wir beantragen zum Beispiel mehr Mittel für das EXIST-Programm. Es braucht aber auch ganz neue Formen von Innovationsökosystemen, die wir in Deutschland fördern müssen. Es gibt einen Zukunftscluster-Wettbewerb; der reicht uns bei Weitem nicht. Uns geht es vielmehr darum, innovative Regionen zu schaffen, in denen Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenkommen,
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in denen Ideen für nachhaltiges Wirtschaften vor Ort entwickelt werden. Es geht um Ideen, die wir brauchen, um die Pandemie, aber auch die Klimakrise zu bekämpfen; denn diese Krise darf uns jetzt nicht aus den Augen geraten. Konkrete Vorschläge und Ideen für solche neuen Innovationsförderungsmaßnahmen, für solche regionalen Innovationsökosysteme vermisse ich von der Ministerin. Wir legen solche vor, zum Beispiel mit unserem Antrag „Vom Labor in die Praxis“.
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Es zeigt sich jetzt so deutlich wie nie: Wer nicht klug investiert, den erwischt die Krise am Ende doppelt. Deswegen ist jetzt die Zeit, hier strategisch richtig zu investieren und keine Zeit zu vergeuden. Das Thema Batterieforschungszentrum ist rauf- und runterdiskutiert worden. Im Ergebnis verlieren wir auch dort viel Zeit in einer sehr wichtigen Branche. Wir müssten doch der Standort sein, der die Mobilität der Zukunft entwickelt. Stattdessen warten wir jetzt jahrelang, bis dort die erste Batterie vom Band geht, während Tesla und andere in dem Bereich viel weiter sind. Solche Zeitverzögerungen bei der Innovationsförderung dürfen wir uns einfach nicht leisten.
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Deswegen möchte ich hier noch einmal sagen: Ich erwarte, dass wir einen sehr viel strategischeren Ansatz fahren, wenn es um Technologien wie Quantentechnologie geht, eines der großen neuen Felder neben KI. Es ist noch nicht ganz klar, wofür wir das alles werden einsetzen können, und eben deswegen ist es so wichtig, dass wir jetzt dort strategisch wichtige Standorte stärken. Das ist bisher nicht der Fall, sondern hier passiert ein bisschen was, da passiert ein bisschen was. Frau Karliczek, wir brauchen einen strategischen Plan für die Stärkung unserer Forschungs- und Innovationsstandorte. Nur so werden wir die Krisen der Zukunft bewältigen können und eine krisenfeste Gesellschaft sein. Wir sehen jetzt, wie dringend wir das brauchen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Wolfgang Stefinger das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich sagen, ich habe mich gefreut, als dieser Tage die Schlagzeilen waren „Hoffnung made in Germany“, ein Impfstoff sei gefunden bzw. es gebe mehrere Kandidaten. Das ist ein Forschungserfolg von internationaler Kooperation, und es ist auch – das sage ich in aller Deutlichkeit – ein Erfolg dieser Regierung.
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Denn wir uns anschauen, dass wir allein in der ersten Welle im Frühjahr 140 Millionen Euro und im Mai noch mal 750 Millionen Euro zur Verfügung gestellt haben, dann ist es ein Erfolg dieser Bundesregierung, dass wir einen Impfstoffkandidaten oder mehrere haben.
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Es ist außerdem ein Erfolg, weil es nämlich ein Sinnbild für die internationale Forschungskooperation ist. Wir können nur gemeinsam international die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, beispielsweise den Klimawandel, den Erhalt der Lebensgrundlagen. Auch das Thema „Flucht und Migration“ ist nur international zu lösen, das Thema „Ressourcen und deren Verteilung“ oder auch das Thema „Regulierung neuer Technologien“, Stichwort: Genforschung und künstliche Intelligenz. All diese Themen müssen wir international lösen.
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Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auch gut und richtig, dass sich die Bundesregierung weltweit für die Freiheit der Wissenschaft einsetzt und mit der Strategie zur Internationalisierung von Bildung, Wissenschaft und Forschung strategische Schwerpunkte der internationalen Forschungskooperation setzt. Welches Land, wenn nicht Deutschland, profitiert massiv von offenen Märkten, vom internationalen Wissensaustausch und vom freien Handel? Deshalb ist es auch gut, dass wir jetzt während der EU-Ratspräsidentschaft eine Neuausrichtung des europäischen Forschungsraums diskutiert und hier auch Verbesserungen der Rahmenbedingungen auf den Weg gebracht haben.
Es geht uns um die Stärkung des Transfers von Forschungsergebnissen in die Gesellschaft und die Wirtschaft. Es geht hier um Zukunftsthemen beispielsweise im Bereich Mobilität, im Bereich der Energiegewinnung, im Bereich der Ressourcenknappheit oder auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bereich Gesundheit, im Bereich der Krebsforschung. Wie viele Familien in unserem Land sind von diesem Thema betroffen! Alleine in Europa erkranken jährlich 2,7 Millionen Menschen an dieser Krankheit. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass wir hier auch auf europäischer Ebene noch stärker zusammenarbeiten.
Ich möchte aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Augenmerk auf die Zusammenarbeit mit unserem Nachbarkontinent Afrika legen. Warum? Weil gerade in Afrika die Kooperationen besonders wichtig und auch nachhaltig sind. Wenn wir uns den Energie- und Klimabereich anschauen, wenn wir die Gesundheitsforschung anschauen oder auch den Bereich Ernährung und Landwirtschaft, so ergeben sich hier Win-win-Situationen für beide Seiten, für die afrikanischen Länder, aber auch für Deutschland, für Europa.
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Wasserstoff und Sonnenenergie bieten eine große Chance und sind in Afrika in Hülle und Fülle vorhanden. Deswegen haben wir hier die große Chance auf eine Energiepartnerschaft auf Augenhöhe.
Auch bei der Gesundheitsforschung können wir massiv von den Netzwerken mit den afrikanischen Staaten profitieren, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, und können aus deren Erkenntnissen auch lernen. Wenn wir uns die Ebolaforschung anschauen, dann war sie auch wirklich maßgebend und wichtig für den Bereich Corona, für die Impfstoffentwicklung.
Die Länder Afrikas, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben bereits viele Erfahrungen mit dem Klimawandel machen müssen. Deswegen ist auch die Forschung zum Thema Saatgut gerade für unsere Landwirtschaft hier extrem wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber auch noch einen anderen großen Player ansprechen, nämlich China. China ist ein wichtiger Partner für Wirtschaft und Handel, aber zunehmend auch bei der Wissenschaft. Dass die Partnerschaft nicht immer einfach ist, das wissen wir. Es gibt große kulturelle Unterschiede. Es gibt ein verschiedenes Werteverständnis und auch ein anderes Verständnis von der Freiheit der Wissenschaft und der Forschung. Aber: China ist ein zentraler Player bei der Gestaltung unserer Lebenswirklichkeit. Schauen Sie sich den Elektronikbereich, den Technikbereich und zunehmend den medizinischen Bereich an. Deswegen ist es richtig und auch wichtig, dass wir gemeinsame Kompetenzzentren aufbauen, gemeinsame Studienprogramme auf den Weg bringen und ein kontinuierlicher Austausch stattfindet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Forschung und Innovationen sollen den Menschen dienen. CDU und CSU haben sich auf die Fahne geschrieben, das Leben der Menschen Tag für Tag, Stück für Stück besser zu machen.
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Das geht miteinander besser als gegeneinander. Deswegen muss ich ganz deutlich auch hier an die rechte Seite des Hauses sagen: Wer sein Land hasst, der macht es regelmäßig schlecht und hetzt die Leute auf.
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Aber wer sein Land liebt, so wie wir, der macht es krisenfest und entwickelt es weiter. In diesem Sinne arbeiten wir daran, das Leben der Menschen Tag für Tag, Stück für Stück besser zu machen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie vielleicht, zu Beginn einen Verfahrensvorschlag zu machen: dass nämlich zu Beginn eines jeden Tages für die ersten Tagesordnungspunkte Schokolade an die Abgeordneten verteilt wird – das hebt nämlich den Serotoninspiegel und macht glücklicher –, und bitte die doppelte Portion an Sattelbergerix. Es ist manchmal schwer erträglich, morgens eine solche von Missmut – tatsächlich habe ich das so empfunden – geprägte Rede zu ertragen.
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Ich darf Ihnen auch gleich einen inhaltlichen Punkt entgegenstellen, weil auch in Ihrem Antrag erwähnt wird, dass Sie ausdrücklich dafür plädieren, dass das Gutachten der EFI oder dass der BuFI einen internationalen Vergleich der Forschungskapazitäten von Deutschland mit aufnimmt. Ich darf vielleicht daran erinnern, dass es 2006, glaube ich, unter der damaligen Regierung ausdrücklich eine Trennung der Berichterstattung gegeben hat. Bis dahin gab es nämlich den Bundesbericht Forschung und das technologische Gutachten, und darin hatten die Bundesregierung und die Länder die Möglichkeit, sich ein bisschen selbst darzustellen und selbst zu bewerten. Ich finde es richtig, dass ausdrücklich ein externes Instrument geschaffen und die Expertenkommission Forschung und Innovation eingerichtet worden ist, um von außen der Regierungspolitik und dem Handeln der Politik einen Spiegel vorzuhalten und nicht nur auf Selbstdarstellung zu setzen. Vielleicht wäre das auch ein Vorschlag, der der FDP ganz guttun würde.
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Und ich finde, wir sollten mehr über diesen Expertenkommissionsbericht reden, als das bislang heute gemacht worden ist. Da sind viele Punkte drin, die auch lobend sind. Ich finde, wenn Kritik erlaubt ist und ausdrücklich gewünscht wird, kann man auch das Lob erwähnen.
Ausdrücklich freut es uns, dass die Expertenkommission den Pakt für Forschung und Innovation weiterhin als ganz wichtig empfindet. Ich glaube, das ist zusammen mit dem ehemaligen Hochschulpakt und dem Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ eine der zentralen Leitplanken oder Handgriffe, die die deutsche Forschungs- und Wissenschaftspolitik seit langen Jahren kontinuierlich zu einem größeren Erfolg auch im internationalen Vergleich bringt. Ich freue mich, dass die EFI ausdrücklich sagt, dass dieser Zukunftsvertrag künftig dauerhaft vom Bund mitfinanziert wird. Das ist ein großer Schritt nach vorne und wichtig für alle Menschen, die daran beteiligt sind.
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Es ist sicherlich nach jahrelangem Drängen und Vorschlagen auch ein Erfolg der EFI, dass es nunmehr eine steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung oder die SprinD-Agentur gibt, die jetzt eingerichtet wird. Wir werden die Evaluierung abwarten, und es ist auch richtig, dann Kritik aufzunehmen und umzusetzen. Es ist ebenso richtig, wenn die Kommission deutlich daran appelliert – das ist übrigens auch meine Erwartung als ehemaliger Enquete-Mitarbeiter –, dass im Bereich der KI-Strategie der Bundesregierung nicht nur die Vorschläge der EFI berücksichtigt werden, Frau Ministerin, sondern ausdrücklich auch die Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und deren Handlungsempfehlungen.
Ich finde, man kann sich diesen EFI-Bericht auch einmal anschauen, weil in ihm gute Themen angerissen werden. Ganz spannend und lesenswert fand ich die Beurteilung Ostdeutschlands als Innovationsstandort und die Aussage, dass man künftig nicht mehr auf die Ländergrenzen schauen sollte, sondern sich die strukturschwachen Regionen, und zwar länderübergreifend, anschauen sollte und der Staat dort unterstützend wirken sollte.
Ein wichtiger Punkt und für mich sehr interessant war das Kapitel über die Zusammenarbeit mit China. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass in China achtmal mehr deutsche Investoren oder Repräsentanzen existieren als umgekehrt. Man hat mitunter einen anderen Eindruck. Aber lesenswert ist auch die Empfehlung, die Wissenschaftskooperation mit China auszubauen und zu schauen, an welchen Stellen strategische Investitionen seitens Chinas stattfinden.
Ich will am Ende ein Zitat des Kommissionsberichtes nennen, das mir sehr gut gefallen hat. Dort steht:
Innovation ist kein Selbstzweck. Sie soll den Wohlstand und Zusammenhalt der Gesellschaft im Einklang mit ökologischer Nachhaltigkeit stärken.
Es geht weiter:
Auch können bestehende Nachhaltigkeitsziele nur dann erreicht werden, wenn eine Abkehr von bisher prägenden Technologien und Verhaltensweisen erfolgt und die gesellschaftlichen Folgen sozial abgefedert werden.
Besser, meine Damen und Herren, kann man sozialdemokratische Innovationspolitik nicht zusammenfassen.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade dunkle Zeiten brauchen Licht. In diesen dunklen Zeiten der Coronapandemie ist der vom Mainzer Biotechnologieunternehmen BioNTech entwickelte Impfstoff Licht, Hoffnung und Zuversicht. Seine Entwicklung zeigt eindrucksvoll die stetig wachsenden Möglichkeiten der Biotechnologie und hier ganz besonders auch der Gentechnik.
Für mich steht außer Frage, wir müssen in Deutschland die mannigfaltigen Möglichkeiten der Biotechnologie stärker in den Blick nehmen, und das gilt für Grüne, Rote und Weiße Gentechnik.
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Wir brauchen dazu eine breite gesellschaftliche Diskussion, die nicht auf die Risiken verengt ist, sondern ganz klar auch die Chancen benennt. Jetzt, wo ganz aktuell sichtbar ist, welches Potenzial in der Gentechnik steckt, ist genau der richtige Zeitpunkt für eine breite öffentliche Debatte.
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Meine Damen und Herren, neue Technologien sind eine Herausforderung, sie schüren Ängste, sie wecken aber auch Hoffnungen. Umso wichtiger ist es, dass wir zu guten Abwägungen kommen. Ein vorauseilendes Verbot ist genauso fahrlässig wie blinde Fortschrittsgläubigkeit. Besonders fatal ist es aber, wenn Forschung und Wissenschaft dem politischen Zeitgeist unterworfen werden. Politisch veranlasste Forschungsverbote sind fahrlässig. Wissenschaft und Forschung brauchen Kreativität, und Kreativität braucht Freiheit.
({2})
Das gilt auch für die Gentechnik. Spätestens der Erfolg von BioNTech sollte jedem gezeigt haben, welches Potenzial diese Technologie mit sich bringt. Corona ist weiß Gott leider nicht die einzige Herausforderung, vor der die Menschheit steht und noch stehen wird. Der Klimawandel, die demografischen Entwicklungen in vielen Ländern der Erde, der globale Artenschwund, das sind nur einige der großen Aufgaben, denen wir nicht nur als Land, sondern als Menschheit insgesamt gegenüberstehen.
Ob die Biotechnologie Beiträge zur Lösung leisten kann, vermag heute keiner sicher zu sagen. Weil wir das nicht wissen, wäre und ist es grob fahrlässig, weitere Forschung in diesem Bereich einzuschränken oder gar darauf zu verzichten.
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Ohne Frage: Auch diejenigen, die direkt an der Forschung und der Veränderung von Erbgut von Organismen arbeiten, tragen große Verantwortung. Aber gleichermaßen groß ist auch die Verantwortung derjenigen, die in Deutschland Gentechnikforschung erschweren wollen oder sie gar aus dem Land vertreiben wollen. Sie tragen nämlich Verantwortung für den Fall, dass wir vor neuen Problemen stehen und nicht rechtzeitig eine Lösung finden. In einer Welt mit zunehmenden Umweltproblemen, die sich auf immer neue Herausforderungen einstellen muss, wäre es grob fahrlässig, vorschnell Technologien abzutun. Das Verbot der Gentechnik – in Deutschland in Teilen schon vollzogen – mag dazu geführt haben, dass bei uns in diesem Bereich kaum noch geforscht wird. Den Rest an Forschung sollten wir allerdings nicht aus dem Land vertreiben.
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Meine Damen und Herren, wer beim Klimaschutz eine wissenschaftsbasierte Debatte einfordert, der muss die wissenschaftsbasierte Debatte auch bei der Gentechnik akzeptieren.
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In diesem Hohen Haus wurden einmal ernsthaft ein Verbot der Digitalisierung des Fernsprechnetzes, ein Verbot der Glasfaserverkabelung und ein Verbot der Dienste- und Netzintegration im Fernsprechnetz, bekannt als ISDN, gefordert. Meine Damen und Herren, ich mache mich nicht lustig über die Skepsis derjenigen, die das damals beantragt haben. Gute Entscheidungen entstehen nur dort, wo abgewogen hinterfragt und auch diskutiert wird. Bei der Digitalisierung gibt es durchaus auch Gründe, Entwicklungen kritisch abzuwägen. Aber, meine Damen und Herren, die Haltung von Technologieverweigerern einzubeziehen, gehört zwar zu einem umfassenden Abwägungsprozess, sie ist auch nicht wirklich schädlich, solange sie nicht die Debatte dominiert. Wir haben heute moderne digitale Kommunikationsmöglichkeiten, weil die falsche Position damals nicht mehrheitlich durchgesetzt wurde. Wir haben heute einen Impfstoff gegen Covid-19 in Sicht, weil die Mehrheit für Gentechnik offen war, als BioNTech in Mainz gegründet wurde.
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Heute müssen wir dafür sorgen, dass Wissenschaft und Forschung in der Gentechnik ihre Freiheit behalten, sonst werden wir nicht das Land der Innovation und der Lösungen globaler Probleme bleiben. Deutschland ist eine Exportnation. Die gut bezahlten Arbeitsplätze in der Exportwirtschaft sind das Fundament eines leistungsfähigen Sozialstaates. Das eigentliche Exportgut unseres Landes sind Innovationen. Mit Produkten und Technologien von gestern werden wir die Menschen weltweit nicht beeindrucken können. Deshalb sind für Deutschland eine freie Wissenschaft, eine freie Forschung noch wichtiger als für andere Länder. Weil wir nicht wissen, mit welchen Herausforderungen wir künftig konfrontiert sein werden, sollten wir uns nicht fahrlässig irgendwelcher Optionen berauben. Heute wissen wir: Das gilt insbesondere für die Gentechnik.
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Dass mit BioNTech ein deutsches Unternehmen als erstes einen Impfstoff in Aussicht stellt, darf uns freuen. Aber es darf uns nicht selbstzufrieden machen. Es darf uns stolz machen, weil hier in Deutschland hervorragende Forschungs- und Entwicklungsarbeit geleistet wird. Für Selbstzufriedenheit gibt es aber keinen Grund. Denn BioNTech ist ein Ausnahmeunternehmen. Wir bräuchten mehr von diesen Ausnahmeunternehmen; denn die erfolgreichen Gründungen von heute sind der starke Mittelstand von morgen. Der starke Mittelstand von morgen ist wiederum die Grundlage für den Erhalt unseres Wohlstands.
Damit mehr Gründungen den Sprung von der guten Idee zum erfolgreichen Unternehmen schaffen, brauchen wir in Deutschland bessere Bedingungen für Wagniskapital. BioNTech wurde in seiner Gründungsphase durch das Land Rheinland-Pfalz gefördert, und die Umsetzung der Idee wäre nicht möglich gewesen, hätten wir nicht ein hervorragendes Netz an wissenschaftlichen Einrichtungen, mit denen eng kooperiert wurde und heute noch kooperiert wird.
Die Phase der Gründung ist in Deutschland relativ gut begleitet. Problematisch ist aber die Finanzierung der sich anschließenden Wachstumsphase. Hier gibt es in Deutschland erhebliche Defizite. Wir schaffen es zwar, aus guten Ideen Unternehmen entstehen zu lassen, aber es fällt uns schwer, diese Unternehmen groß werden zu lassen.
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In Deutschland will immer noch kaum jemand Einzelinvestitionen von 50 Millionen Euro oder mehr wagen. Die Folge ist: Junge Unternehmen in der Gründungsphase werden zwar mit Steuergeldern unterstützt, kommen dann aber oft in ausländischen Besitz. Die Wertschöpfung beim Erfolg findet zu selten in Deutschland statt.
Deswegen darf man bei aller Begeisterung – auch über die Beteiligung des Staates – beim Erfolg von BioNTech nicht übersehen: Ohne privates Kapital würde es dieses Unternehmen heute in dieser Form wahrscheinlich nicht geben.
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Bei aller Begeisterung für den Erfolg dieses Unternehmens: Wir müssen in Deutschland dafür sorgen, dass sich privates Kapital auch in anderen Bereichen so stark mobilisiert, wie es bei BioNTech der Fall war. Da haben wir große Aufgaben vor uns, insbesondere auch noch im deutschen Steuerrecht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Michael von Abercron das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem vor uns liegenden Antrag der FDP-Fraktion gibt es sicherlich einige wertvolle Punkte, über die es sich zu diskutieren lohnt. Aber das heißt noch lange nicht, dass – auch mit der besten Gentechnik – alle gelben Forderungen gleich zu goldenen Worten werden.
Die ersten Forderungen dieses Antrags beziehen sich auf einen neuen Förderfonds für Gentechnologie. Der deutsche und europäische Förderdschungel ist inzwischen schon so groß, dass es Unternehmen gibt, die sich damit beschäftigen, andere zu beraten,
({0})
und daraus im Grunde genommen ein eigenes Geschäftskonzept entwickelt haben.
({1})
Es mag sein, dass die FDP gerne auch diese Unternehmen stützen würde, aber den eigentlichen Unternehmen, die wir fördern wollen, nützt das nicht so richtig. Folgt man der Logik dieses Antrages, dann müsste bald auch die Forderung nach einem Förderfonds für Förderberater und die Einführung eines neuen Studiengangs für Förderberater folgen.
({2})
Der vorliegende Antrag geht sogar noch ein bisschen weiter. Sie wollen die Studienangebote für Gentechnik an die neuen Verfahren der Biotechnologie anpassen. Wir haben in Deutschland 18 000 Studiengänge. Für das spezielle Fach der Biotechnologie sind das allein 70. Noch nicht einmal eingerechnet sind dabei die Fächer Medizin oder Agrarwissenschaften. Ich dachte, ich wäre mir mit der FDP immer darüber einig, dass sich der Staat aus der Ausgestaltung der wissenschaftlichen Forschung strikt raushalten sollte. Dabei geht es nicht nur um die Freiheit von Forschung und Lehre, sondern es geht auch um die Autonomie der Hochschulen. Wenn wir eine optimale Forschung wollen, dann müssen wir es auch denjenigen überlassen, die es eigentlich viel besser wissen und viel besser können, meine Damen und Herren.
Nach dem Antrag sollen nun künftig auch noch Gesetzestexte um ein Kapitel zum Innovationsprinzip verlängert werden. Das finde ich, ehrlich gesagt, wenig innovativ. Herr Sattelberger, das wäre leider wieder Bürokratieaufbau.
({3})
Vermutlich würden solche Zeilen mit ähnlicher Heißluftprosa gefüllt werden wie der wenig gehaltvolle Teil des Antrages zum Transfer von Forschungsergebnissen. Hier finden sich die üblichen Füllwörter – die kennen Sie alle –: „Vernetzung“, „Synergieeffekte“, „Cluster“, „Translationspunkte“ usw. Ich bin mir sicher, im Ausschuss könnte man da ein bisschen Konkreteres liefern.
Als Nächstes fordert die FDP-Fraktion Steuererleichterungen für Geber von Wagniskapital.
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Man benötigt keine steuerlichen Anreize, um Wagniskapital anzulegen. Der Anreiz für Wagniskapital ist doch in Wahrheit eine dreistellige Renditechance. Da muss doch nicht die KfW mit Steuergeld die Ausfallrisiken übernehmen.
Wir haben in diesem Hause jüngst die steuerliche Förderung von Forschungsvorhaben beschlossen. Warten Sie doch mal ab, was uns das am Ende bringt. Im Übrigen – das ist hier schon angeklungen – stehen wir mit den F-und-E-Ausgaben im weltweiten Vergleich nicht gerade schlecht da. In Deutschland beträgt ihr Anteil am BIP 3,1 Prozent; im Vergleich: USA nur 2,8 Prozent, China 2,0 Prozent. Dabei liegt die private Wirtschaft mit immerhin 76 Milliarden Euro und einem Anstieg von fast 5 Prozent pro Jahr auf einem extrem hohen Niveau.
Richtig ist es, bessere Möglichkeiten für Sparer zu schaffen, damit sie an den Renditechancen der Märkte besser partizipieren können. Das kann über bessere Anreize für Versicherungs- und Pensionsfonds erreicht werden, damit sie mehr in Venturecapital investieren können.
Eindeutig richtig ist Ihre Einschätzung zur Forderung, dass die Gesetzgebung gerade in Bezug auf das Genome Editing und die neuen Züchtungstechniken einer dringenden Überarbeitung bedarf.
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Auch das Patentrecht muss geändert werden. Es kann nicht sein, dass Unternehmen ihre Patente nicht durchbringen und ihre Produkte damit wertlos sind. Auf der anderen Seite darf es auch nicht passieren, dass die Landwirtschaft eine Ernte einfährt, die Patenten und Lizenzen unterliegt.
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Die geradezu dogmatisch-religiöse Ablehnung von Gentechnik im Allgemeinen und neuen Züchtungsmethoden im Speziellen ist nicht nur brandgefährlich, sondern sie ist auch unehrlich, weil wir in der Medizin längst Beispiele haben, wo gentechnische Verfahren Menschenleben retten.
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Am Ende stellen sich aber sehr wohl die Fragen: Wollen wir diese Techniken nicht nutzen, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen oder den Klimawandel aufzuhalten? Können wir noch länger ernsthaft behaupten, unser Land sei frei von gentechnischen Erzeugnissen? Ist es möglich, uns von solchen Produkten dauerhaft abzuschotten? Können wir es uns dauerhaft leisten, diese Hochtechnologie in dieser Weise zu diskriminieren und damit auf einen kaum zu unterschätzenden Zuwachs an Innovationskraft zu verzichten? Sollte es so weit kommen, bewahre die Vernunft dieses Hauses uns wirklich davor.
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Dann werden wir sehr teuer dafür auch mit Wohlstand bezahlen müssen.
Ganz herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Protschka für die AfD-Fraktion.
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Habe die Ehre! Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Ja, gut, Sie sind meistens anwesend, wenn wir reden, Respekt dafür; das muss man auch mal sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gott zum Gruße! Liebe Gäste im Hohen Haus! In ihren Anträgen verspricht die FDP der Landwirtschaft neue Chancen und Zukunftsperspektiven durch den Einsatz fortschrittlicher Gentechnik, zum Beispiel durch das sogenannte Genome Editing bzw. die Genschere. Aber, liebe FDP, das sind billige Heilsversprechen und nicht mehr. Es ist geradezu unlauter, wie Sie jetzt versuchen, bei den Landwirten falsche Hoffnungen zu wecken. Ja, die neuen Züchtungstechniken sind ein wissenschaftlicher Durchbruch; dafür gab es auch einen Nobelpreis. Und ja, damit werden wir landwirtschaftliche Kulturpflanzen in Zukunft deutlich schneller und präziser züchten können. Und ja, damit könnte es uns sogar gelingen, in Zukunft widerstandsfähige Sorten zu züchten.
Was Sie aber bewusst verschweigen, ist, dass die Genschere kein Wunderwerkzeug ist, mit dem Sie auf einen Schlag alle Probleme in der Pflanzenzucht beseitigen können. Denn auch bei dieser Methode schließen sich nach Erreichen des Editierziels mehrere Jahre Züchtungsarbeit an, in denen die Pflanze auf ihre veränderten Eigenschaften hin überprüft werden muss. Komplexe Pflanzeneigenschaften, die Sie in Ihrem Antrag groß anpreisen, wie beispielsweise Salz- und Hitzeresistenzen, lassen sich auch mit der Genschere nicht ohne Weiteres in die Pflanze hineinzaubern. Sie wissen ganz genau, dass an solchen Eigenschaften mehrere Gene beteiligt sind. Hier ist noch erheblicher Forschungsbedarf vonnöten.
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– Was schimpfen Sie denn schon wieder, Frau Künast?
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Wir stimmen Ihnen zu, dass wir diese wichtige Grundlagenforschung in Deutschland auf keinen Fall verschlafen dürfen, so wie wir zuvor dank der Altparteien – dazu gehören auch Sie, und Ihr Minister hat ja gesprochen – schon viele neue Technologien verschlafen haben.
Wir dürfen uns in Europa auch nicht durch übertriebene Regulierungen dieser neuen Züchtungsmethoden von der internationalen Forschung abschotten bzw. abhängen lassen. Besonders wichtig ist uns, dass eine umfangreiche Risikoabschätzung dieses Verfahrens durchgeführt wird und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen auf die Umwelt erforscht werden. Außerdem müssen wir eine Technik entwickeln, mit der sich der Einsatz der Genschere bei Pflanzen und/oder Tieren zurückverfolgen lässt.
Zwei Drittel der Bevölkerung wünschen sich gentechnikfrei erzeugte Lebensmittel. Es ist deshalb unerlässlich, dass wir gentechnisch veränderte Lebensmittel aus dem Ausland schnellstmöglich transparent kennzeichnen können und/oder deren Import vielleicht sogar verbieten, um den Bürgern gentechnikfreie Nahrungsmittel zu ermöglichen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen die fortschrittsfeindlichen Forderungen der Grünen in diesem Bereich ab. Wir lehnen aber auch die Forderung der FDP ab, die Genschere sofort und fahrlässig in Deutschland freizugeben und in die Umwelt auszubringen. Das ist nicht gut.
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Die AfD ist eine Bürgerpartei und respektiert die Wünsche des Volkes. Deswegen haben wir gestern auch das Infektionsschutzgesetz abgelehnt. Wir setzen uns deshalb auch weiterhin für gentechnikfrei erzeugte Lebensmittel ein.
Gleichzeitig wollen wir aber, dass der kontrollierte Einsatz der Gentechnik in Forschung und Wissenschaft erlaubt bleibt. Wir haben noch erheblichen Bedarf an Grundlagenforschung bei den neuen Züchtungsmethoden und dürfen uns hier nicht abhängen lassen. Politik und Vernunft gehen nur mit der AfD.
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Vielen Dank und einen schönen Tag noch.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege René Röspel das Wort.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben gerade, wenn ich das richtig mitbekommen habe, gesagt, welche Möglichkeiten die Biotechnologie für die Gesellschaft künftig haben werde, sei noch ziemlich offen. Ich will ausdrücklich sagen – wenn ich das so richtig verstanden habe –: Das ist längst beantwortet. Ich glaube, dass Biotechnologie große Chancen hat, und zwar schon seit Jahrzehnten und Jahrhunderten. Ich trinke gerne Bier, und Bierbrauen ist Biotechnologie. Wir brauchen Zitronensäure; die wird in einem biotechnologischen Verfahren hergestellt. Es gibt ganz viel Biotechnologie bis hin zu BioNTech mit dem Übergang zur Gentechnologie, und das ist aus meiner Sicht sogar unumstritten. Bei uns in der Fraktion jedenfalls gibt es damit keine Probleme.
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Was tatsächlich ein Problem darstellen kann, ist die Verwendung von Gentechnologie. Das ist nämlich ein Unterschied. Es heißt ja heute in der Tagesordnung „Gentechnikstandort Deutschland“ und nicht „Biotechnologiedebatte“.
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Gentechnologie wird in einigen Bereichen – da, wo Gene verändert werden – von uns kritisch gesehen. Überall da, wo es um sogenannte Rote Gentechnologie, also Gentechnologie am Menschen, geht, gibt es Bereiche, wo entweder ethische Grenzen überschritten werden oder tatsächlich eine Gefährdung des Individuums vorliegen kann. Dagegen ist gegen somatische Gentherapie zum Beispiel nichts einzuwenden, wenn sie denn sicher für den Patienten ist.
Wo wir tatsächlich Probleme sehen, ist im Bereich der sogenannten Grünen Gentechnik oder Agrogentechnik, da nämlich, wo Organismen verändert und ausgebracht werden, also in Verkehr gebracht werden, und wir nicht wissen können, ob das reversibel ist. Einer der Grundsätze, die ich jedenfalls mit ins Parlament genommen habe, ist, Entscheidungen zu treffen, die reversibel sind. Die Rente mit 67 oder was auch immer kann die nächste Generation zurücknehmen, aber hier geht es um die Entscheidung – möglicherweise fahrlässig getroffen oder nicht ausdrücklich oder nur einem Innovationsprinzip folgend –, gentechnisch veränderte Pflanzen auszubringen – man sieht ja viele Beispiele weltweit –, ohne zu wissen, wie man das vielleicht in 20 Jahren wieder rückgängig machen kann, wenn eben Nachteile entstehen oder sichtbar werden. Das ist für uns eine Entscheidung, die wohlüberlegt sein muss. Es ist aus unserer Sicht gerechtfertigt, das Vorsorgeprinzip, also genau zu schauen und Risiken abzuwägen, weiter gelten zu lassen und nicht durch ein Innovationsprinzip, das ja leider auch in Teilen der Bundesregierung vertreten wird, verwässern zu lassen.
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Worum geht es denn? Diese neuen Genscheren oder die neuen gentechnischen Technologien sind in der Lage, präziser als alles, was wir bislang kannten, aber eben auch nicht zu 100,00 Prozent präzise und sensitiv, Gene oder Genome zu verändern. Wir glauben, von einigen Pflanzen oder Organismen die Gensequenzen zu kennen – das ist relativ einfach – und sie zu verstehen. Von den meisten wissen wir relativ wenig oder gar nichts. Da sehen wir nur eine Reihenfolge von Buchstaben.
Ich habe von Herrn Professor Fehse mal ein schönes Beispiel gelernt. Er ist nämlich auf eine Canstein-Bibel von 1731 gestoßen, eine Bibel mit mehreren Hundert Seiten, Tausenden von Wörtern und Zehntausenden von Buchstaben. Das haben die Mönche brav abgeschrieben oder, genauer gesagt, gedruckt, aber tatsächlich fehlt ein Wort. Da steht nämlich drin: „Du sollst ehebrechen“, weil das „nicht“ vergessen worden ist. Nun, das kann für einen eine Handlungsanleitung sein, gibt aber zu Hause Ärger.
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Wer diese Bibel liest und den Text im Kontext versteht, wird vielleicht merken, dass das „nicht“ fehlt – vielleicht sind andere Stellen auch interessanter –, und sich sagen: Okay, ich verstehe den Kontext und weiß, dass diese Aussage „Du sollst ehebrechen“ falsch ist, weil gemeint ist: „Du sollst nicht ehebrechen“. Wer nur Deutsch kann, ohne Kontexte zu verstehen – ein Kind zum Beispiel, das zum ersten Mal liest „Du sollst ehebrechen“ –, wird das als Information und als Handlungsanweisung wahrnehmen, versteht also tatsächlich nicht den Sinn.
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Wer vor dieser Bibel steht und nur die Reihenfolge von Buchstaben sieht, der wird weder den Kontext noch den Inhalt verstehen. Und das ist genau der Punkt: Wenn wir vor einem Genom mit ganz vielen Buchstaben stehen und glauben, den einen oder anderen ersetzen zu können und zu wissen, was passiert, handeln wir so wie derjenige, der die Canstein-Bibel von 1731 zum ersten Mal liest. Und ich finde, das ist ein sehr bemerkenswerter Punkt.
Wir haben eine Verantwortung auch gegenüber künftigen Generationen, nicht leichtfertig mit solchen Technologien umzugehen, überall da, wo der Umgang damit nicht in geschlossenen Systemen stattfindet, sondern wo es um Freisetzung geht. Wir jedenfalls halten es für wichtig, eine solche Verfahrensweise an den Tag zu legen. Deswegen halten wir es auch für richtig, was der Europäische Gerichtshof zu diesen neuen Methoden entschieden hat.
Übrigens, Emmanuelle Charpentier, die Erfinderin unter anderem von CRISPR/Cas9, hat uns gesagt, sie arbeitet und forscht gerne in Deutschland. Das heißt, die Bedingungen können so schlecht gar nicht sein. Vieles ist möglich im Bereich der Gentechnik; bei der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen allerdings sind wir nach wie vor sehr zurückhaltend.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es auch um Anträge der FDP zu sogenannten neuen Methoden in der Pflanzenzüchtung. Ich sage „sogenannt“, weil es eigentlich nur um neue Formen der Gentechnik geht. Das sagen nicht nur ich oder Die Linke, sondern das sagt auch der Europäische Gerichtshof. Und er hat recht; denn da, wo das Genom direkt technisch verändert wird, ist es Gentechnik.
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Beim Lesen der Anträge fiel mir unwillkürlich einer meiner Lieblingsfilme ein: „Und täglich grüßt das Murmeltier“. In diesem Film erlebt Hauptdarsteller Bill Murray einen bestimmten Tag immer wieder neu, bis er ein besserer Mensch geworden ist. Wie lange die FDP ihr Mantra von den Heilsversprechen gentechnisch veränderter Pflanzen noch wiederholt, weiß ich nicht.
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Da ich mir aber die Erlösung durch Einsicht bei der FDP nicht vorstellen kann, dauert das bedauerlicherweise wahrscheinlich noch bis in alle Ewigkeit.
Dabei sind die Versprechen doch längst gebrochen. Gentechnisch veränderte Pflanzen haben vor allen Dingen Saatgut- und Chemiemultis reich gemacht;
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diese haben aber nicht den versprochenen essenziellen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherung durch weniger Pestizide oder weniger Düngemittel geleistet. Das Risiko und die Folgeschäden tragen meist nur die Betroffenen, ob die Baumwollbauern in Indien oder wir als ganze Gesellschaft. Und was in manchem innovativen Start-up beginnt, endet leider zu oft doch wieder bei denselben großen Konzernen.
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Aber gerade bei Lebensmitteln sollten nicht Bayer und Co entscheiden, was auf unserem Acker oder später auf dem Teller landet, sondern der Agrarbetrieb nebenan.
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Die Linke ist nicht technologiefeindlich, aber eben auch nicht technologiegläubig. Die diesjährige Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier, Erfinderin der Genschere, hat laut „Ärzteblatt“ schon 2018 gefordert: „Wir brauchen eine verstärkte Debatte und internationale Regularien zu den potenziellen Risiken von CRISPR/Cas9 als Gen-Editing-Technik.“ Da hat sie vollkommen recht.
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Sie ist im Übrigen auch gänzlich ungeeignet als Kronzeugin der FDP.
Eine Technologie selbst kann nichts dafür, wenn sie unvorsichtig ge- oder gar missbraucht wird. Aber wir als Gesetzgeber haben umso mehr Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das nicht geschieht. Genau deshalb ist das Vorsorgeprinzip so fundamental im EU-Recht verankert; und das ist auch gut so.
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Umso entlarvender ist es, wenn die FDP auch heute wieder fordert, dass ein sogenanntes Innovationsprinzip mit dem Vorsorgeprinzip gleichrangig sein soll.
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Das ist ja nichts anders als eine Relativierung des Vorsorgeprinzips –
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und das hat in der EU Verfassungsrang –; mal abgesehen von der Frage: Was ist innovativ, und wer entscheidet darüber?
Als Linke verneinen wir nicht die Chancen durch neue biotechnische Verfahren, aber die Frage, wie mit Gefahren umgegangen wird, muss ernsthaft beantwortet werden. Es geht auch um die Frage: Wem nutzt es?
Nun wird oft behauptet, die sogenannten neuen Züchtungsmethoden würden viel gezielter ins Genom eingreifen als bisherige agrogentechnische Verfahren. Nur kann man es inzwischen besser wissen, weil neue Studien auf entsprechende Risiken hinweisen. Das Genom funktioniert nämlich nicht so linear, wie auch ich das in der Schule und im Veterinärmedizinstudium gelernt habe. Eine bestimmte Gensequenz führt eben nicht immer zum gleichen Ergebnis. Deshalb ist die gefahrlose Veränderung des Genoms ein Mythos.
Studien zeigen Kollateralschäden auf, und zwar nicht nur an der Stelle der beabsichtigten Veränderung des Genoms – „on target“ nennt man das –, sondern auch weit weg – nämlich „off target“ –, und das ist erst viel später zu erkennen. Bei Gentherapien tödlich verlaufender Erkrankungen zum Beispiel mag man dieses Risiko berechtigterweise in Kauf nehmen. Aber in der Pflanzenzüchtung sollen diese Merkmale vererbt, also vervielfältigt werden. Da geht es eben nicht nur um diese eine gentechnisch veränderte Pflanze. Die Gefahr der Vervielfältigung ungewollter Fehler im Genom zu relativieren, ist einfach unverantwortlich.
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Nun wird gerne behauptet, man könne den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen kontrollieren. Ich will vier Gegenbeispiele bringen. Vor einigen Jahren ist ungewollt eine gentechnisch veränderte Petunie im Blumenhandel aufgetaucht. Aufgefallen ist das nur durch ihre orange Blütenfarbe, die nicht natürlich erzeugbar ist. Ähnlich war es beim ungewollten Anbau einer gentechnisch veränderten Kartoffel in Schweden. Auch das ist nur wegen einer anderen Blütenfarbe aufgefallen.
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Der gentechnisch veränderte Reis LL 601 aus einem kleinen Forschungsanbau in Georgia, USA, tauchte plötzlich weltweit in Supermarktregalen auf; er ist nie zugelassen worden. Im mexikanischen Ursprungsgebiet des Mais wurden gentechnische Veränderungen nachgewiesen, obwohl dort ein solcher Anbau offiziell nie stattgefunden hat. Das sollte zu denken geben.
Hinzu kommt das ökologische Risiko. Eine gentechnisch veränderte Pflanze kann ihre genetische Veränderung auf wildlebende Verwandte auskreuzen, und das wäre dann definitiv nicht rückholbar.
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Es gibt also aus Sicht der Linken viele gute Gründe, am Vorsorgeprinzip gerade bei gentechnisch veränderten Pflanzen festzuhalten. Auch die sogenannten neuen Züchtungsmethoden müssen nach strengem Gentechnikrecht reguliert werden.
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Zum Abschluss möchte ich der FDP ein paar weise Worte des Weihbischofs Anton Losinger aus Augsburg, einem langjährigen Mitglied des Deutschen Ethikrats, ins Stammbuch schreiben. Er empfahl im Oktober im Domradio einen verantwortungsvollen Umgang und eine gesellschaftliche Debatte, die für die neuen Fragen sensibilisiert und nicht von ökonomischen Interessen bestimmt wird. Vielleicht kann man die FDP doch noch erlösen, und die Union gleich mit.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP betreibt im Fahrwasser von Corona billige Polemik statt einer seriösen Debatte. Sie werfen Anwendungen der Gentechnik in geschlossenen Systemen im Agrarbereich und in der Medizin schmerzfrei in einen Topf. Das ist nicht sachgerecht.
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Vorneweg: Die Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 ist eine herausragende Leistung. Dass mindestens drei deutsche Unternehmen ganz vorne mit dabei sind, das zeigt, wie gut wir auf diesem Feld aufgestellt sind, ob in Rheinland-Pfalz oder in Baden-Württemberg. Aber wir müssen die Debatten auseinanderhalten. Während bei der Herstellung von Insulin oder den genannten Impfstoffen Gentechnik in geschlossenen Systemen angewandt wird, geht es im Bereich der Agrogentechnik um etwas völlig anderes, nämlich um deren Freisetzung: um Freisetzung von vermehrungsfähigen gentechnisch veränderten Lebewesen in unsere Ökosysteme. Das ist ein grundlegender Unterschied.
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Aber Sie suggerieren den Menschen, das wäre vergleichbar. Das ist es aber nicht.
Impfstoffe durchlaufen umfassende Risikoprüfungen, selbst in verkürzten Verfahren. Sicherheit und Verträglichkeit haben dabei Vorrang, und das ist gut so. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind Sie dann gegen eine Risikoprüfung bei der Freisetzung von lebendigen, vermehrungsfähigen Organismen? Das ist doch scheinheilig.
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Sie wollen das europäische Vorsorgeprinzip aushebeln und ihm ein Innovationsprinzip zur Seite stellen.
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Aber „ein bisschen Vorsorgeprinzip“ geht genauso wenig wie „ein bisschen schwanger“. Wer, wie die FDP, meint, die Risiken schon vor ihrer Prüfung zu kennen, der setzt fahrlässig die Gesundheit von Umwelt und Mensch aufs Spiel.
Die Menschen da draußen verstehen den Unterschied. Mehr als 80 Prozent von ihnen wollen Gentechnik weder auf dem Acker noch auf dem Teller. Wir respektieren das im Gegensatz zu Ihnen; denn wir haben nicht zu bewerten, warum die Menschen keine Gentechnik wollen. Wir haben ihre Wahlfreiheit zu sichern und das Vorsorgeprinzip zu respektieren, und wir werden das tun.
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Kollege Ebner, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Dr. Höcke?
Gerne.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ebner, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen und dass Sie eben noch mal die grüne Position zu diesem Themenbereich sehr eindringlich skizziert haben.
Ich war doch noch gar nicht fertig.
Ich möchte Sie gerne mit einem Zitat Ihrer Parteifreundin aus Baden-Württemberg, von Theresia Bauer, Ministerin für Wissenschaft und Forschung in Baden-Württemberg, konfrontieren. Frau Bauer lässt sich mit den Worten zitieren:
Grünen und Umweltaktivisten wurde … vorgeworfen, dass Kritik an neuen gentechnischen Verfahren nicht sachlich sei. Nicht … zu Unrecht, meine ich. In der Debatte werden Fakten nicht … anerkannt. Die Grünen sollten den Stand der Wissenschaft anerkennen. Und … Gentechnik eine Chance geben.
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Ich möchte von Ihnen gerne wissen, ob Sie sich der Meinung Ihrer Parteifreundin aus Baden-Württemberg anschließen oder ob sie nach Ihrer Meinung unrecht hat.
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Lieber Kollege Hocker, genau diesen Unterschied, den ich Ihnen gerade zu erläutern versuche, haben Sie in der Hinsicht noch nicht verstanden, indem Sie an der Stelle die Debatte wieder darauf verengen, ob jemand etwas ablehnt oder verbietet oder nicht.
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Es geht darum, dass wir die Wahlfreiheit der Menschen respektieren, gentechnikfrei erzeugte Lebensmittel zu kaufen oder nicht. Wir wollen, dass die Menschen das am Regal entscheiden können. Das können sie nur, wenn eine Kennzeichnung erfolgt. Und diese Kennzeichnung, die verpflichtende Kennzeichnung,
({1})
bekommen wir nur, Herr Kollege – wie ich auf die Frage antworte, ist im Übrigen meine Sache und nicht Ihre –,
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wenn wir ordentliche Zulassungsverfahren beibehalten.
Das ist genau das, was Sie jetzt aushebeln wollen; das ist das, was Sie abschaffen wollen. Sie wollen den Menschen ihre Wahlfreiheit nehmen, und das machen weder ich noch die Kollegin Bauer mit.
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Ich habe es schon gesagt: Sie wollen genau an der Stelle deregulieren.
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Sie wollen den Menschen ihr Recht auf Wahlfreiheit nehmen, wenn Sie Pflanzen aus neuer Gentechnik aus den Zulassungsverfahren und damit aus der Kennzeichnung nehmen. Es muss auch künftig draufstehen, was drin ist.
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Deshalb stehen wir auch voll und ganz hinter dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2018, das besagt: Auch neue Gentechnik ist Gentechnik, und sie muss genauso reguliert werden.
Unser Antrag zeigt auf, was dazu notwendig ist. Wir wollen den Gesetzesvollzug durch Entwicklung geeigneter Nachweisverfahren, Förderung der Risikoforschung und Führen europäischer Register gewährleisten. Nur so kann gentechnikfreie Lebensmittelwirtschaft auch künftig gentechnikfrei bleiben. Es gilt, mehr öffentliche Gelder in die Stärkung und Weiterentwicklung klassischer Pflanzenzüchtung und Entwicklung besserer agrarökologischer Anbausysteme weltweit zu stecken. So stellen wir uns den Herausforderungen der Klimakrise, statt auf eine Wundertechnologie zu hoffen.
Danke schön.
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Zuerst mal Entschuldigung, Herr Hocker, ich hatte es phonetisch nicht richtig verstanden, als mir Ihre Meldung übergeben wurde. Ich wollte Ihren Namen nicht in irgendeiner Weise falsch aussprechen.
Ansonsten: Ich habe die zweite Zwischenfrage nicht zugelassen, weil Herr Ebner erkennbar am Ende seiner Redezeit war. Da müssen Sie sich das nächste Mal bitte etwas früher bemerkbar machen.
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Das Wort hat die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Lieber Herr Landesminister Volker Wissing! Forschung und Innovation können unser Leben besser, gesünder und auch nachhaltiger machen.
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Ich will wieder mehr Sachlichkeit in die Debatte bringen und mit Beispielen kommen: Kartoffeln mit einer geringeren Acrylamidbildung – Acrylamid, das heißt krebserregend. Salat mit einem höheren Vitamin-C-Gehalt, Pilzresistenzen unter anderem von Mais, Weizen oder Bananen, um Pflanzenschutzmittel einzusparen, oder Trockentoleranz von Mais, um den Wasserverbrauch zu reduzieren.
Warum erwähne ich das? Schon seit Beginn der Landwirtschaft hat die Wissenschaft besonders geeignete Pflanzenexemplare ausgewählt und vermehrt. Ohne dies gäbe es unsere heutige Ernährung nicht; ohne Züchtung wäre das nicht denkbar. Seit Jahrzehnten werden zufällige Veränderungen beispielsweise durch Bestrahlung forciert und nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ eingesetzt. Das ist wie ein Suchen nach der Nadel im Heuhaufen.
Aber es gibt neue Züchtungstechnologien, die uns unglaublich viel Zeit sparen und die im Übrigen von spontanen Zufallsmutationen überhaupt nicht zu unterscheiden sind.
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Ich plädiere zusammen mit der Union dafür, dass wir hier offen sind und ideologische Scheuklappen endlich ablegen.
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Warum? Weil es gerade immer wieder die Grünen sind, die aus der städtischen Sicht heraus in den ländlichen Raum hinein Forderungen an die Landwirtschaft haben:
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Sie soll weniger Pflanzenschutzmittel verwenden, sie soll aber bitte regional produzieren und keine Ressourcen verbrauchen. Lebensmittelverschwendung soll reduziert werden, und vor allen Dingen sollen Pflanzen angebaut werden, die für den Boden gut sind – und das angesichts eines sich verändernden Klimas. Aber das Instrument, das die Landwirte dafür brauchen, wollen Sie ihnen nicht geben, und selber Bauern werden wollen die wenigsten von Ihnen.
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Das ist doch die Herausforderung für eine verantwortungsvolle Politik.
Wenn man sich in der Debatte die Bandbreite zwischen FDP und Grünen anschaut, muss man sagen: Das ist wirklich sehr interessant, sehr schön. Deshalb sucht der Landesminister Volker Wissing auch diese Bühne. Es war ja ein besonderes Schauspiel hier. Er braucht die Bundesbühne, um seine Meinung dort zu äußern, wo die FDP in der Opposition ist. Das könnte er eigentlich auf der Landesbühne tun, weil er dort in der Regierung ist; aber da macht er es nicht.
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Und warum macht er es dort nicht? Ich möchte Ihnen einen kurzen Auszug aus dem Koalitionsvertrag vorlesen, den Herr Wissing unterschrieben hat.
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Dort heißt es: „Die rheinland-pfälzische Landwirtschaft arbeitet im Anbau gentechnikfrei; daran werden wir nichts ändern.“ Das ist die FDP, wenn sie regieren darf.
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Insofern will ich auch sagen: Der Aufsichtsratschef von BioNTech, Helmut Jeggle, sagte in Richtung der rheinland-pfälzischen Landesregierung, wo die FDP mitregiert: Ein solches Bemühen wie zum Beispiel in Brandenburg um andere Unternehmen können wir leider bisher in Rheinland-Pfalz nicht feststellen. Initiativen in diese Richtung seitens der Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen kann man da nicht wahrnehmen. – Deshalb braucht man also die Bundesbühne: um die Wünsche zu äußern, die man selber nicht umsetzen will.
Aber lassen Sie mich zu den Grünen kommen. Es ist schon hoch spannend, was die Grünen von sich geben. Sie haben ja den BASF-Standort in Rheinland-Pfalz als gentechnikfrei erklärt, was intellektuell schon sehr anspruchsvoll ist,
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als gentechnikfrei gefeiert und sogar darauf angestoßen, als diese Forschungssparte von BASF in die USA abgewandert ist.
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Ich will ganz deutlich sagen: Ich fand die Frage von Dr. Hocker zu Baden-Württemberg überhaupt nicht missverständlich; sie war vielleicht anspruchsvoll für Sie.
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Aber ich muss Ihnen bei dieser Frage sagen: In Baden-Württemberg sollten 5 Millionen Euro eingesetzt werden für die Genforschung, Stichwort auch „CRISPR/Cas“, um der Landwirtschaft zu helfen, die Ziele zu erreichen, die Sie immer vor sich hertragen. Sie haben Ihre Ministerin ausgebremst. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich werde Teile dieser Forschung mit Geldern aus meinem Haus fördern.
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Wir fördern übrigens auch andere Methoden der Pflanzenzüchtung, vor allem die Forschung in diesem Bereich. Natürlich ist CRISPR/Cas oder ist Grüne Gentechnik kein Allheilmittel. Aber Offenheit ist eine Möglichkeit, um nicht von anderen überholt zu werden und sich nachher nicht die Frage stellen zu müssen, warum der Wissenschaftsstandort Deutschland nicht nach vorne kommt und andere Länder uns überholen.
Deshalb, liebe Grüne, würde ich Ihnen schon nahelegen, den offenen Brief von über 100 Wissenschaftlern an Sie ernst zu nehmen. Mit Sorge beobachten wir Falschinformationen über vermeintliche gesundheitliche und ökologische Risiken bis hin zu angeblichen wirtschaftlichen Nachteilen im globalen Süden. Das wird dort kritisiert. In Zeiten von Fake News ist es unanständig, wenn die Grünen das tun.
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Professor Wilfried Wackernagel vom Institut für Biologie und Umweltwissenschaften an der Universität Oldenburg ist keiner, der Fake News verbreitet, er ist Wissenschaftler.
Deshalb sage ich Ihnen: Kommen Sie aus Ihrer ideologischen Ecke, aus den Grabenkämpfen heraus! Denn am Ende geht es um Folgendes: Es geht darum, dass wir die Ziele der Nachhaltigkeit erreichen, aber auch das Menschenrecht auf Nahrung. Und es ist meiner Meinung nach arrogant von unserer Seite aus, wo die Lebensmittelregale im Supermarkt voll sind, anderen Ländern, die massiv unter dem Klimawandel leiden, die keine Erntesicherung haben, nicht diese Forschung hier bei uns zu ermöglichen, um ihnen zu helfen, dass ihre Landwirtschaft überleben kann.
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Deshalb frage ich, wenn wir über „Farm to Fork“ sprechen, die Strategie „Vom Hof auf den Teller“, die Sie ja immer vor sich hertragen: Warum lassen Sie immer einen Aspekt von „Farm to Fork“ bzw. des Green Deal aus? Weil dort von der Gentechnik und von CRISPR/Cas die Rede ist.
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Die Grünen sind sehr flexibel: Sie sind für Kennzeichnung – ja – bei Grüner Gentechnik. Aber so genau nehmen sie es natürlich nicht, wenn gentechnisch hergestellte Vitamine in den Lebensmitteln oder den Arzneimitteln sind.
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Da wollen sie nicht, dass das draufsteht. Warum? Weil sich die Bürger dann daran gewöhnen würden. Sie brauchen nur ein Thema für den Wahlkampf. Das ist unseriös.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael Espendiller für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! In der heutigen Debatte geht es um den Gentechnikstandort Deutschland. Hintergrund ist, dass mit der Firma BioNTech ein deutsches Unternehmen den ersten Coronaimpfstoff entwickelt hat. Die Magentasozialisten von der FDP haben sich da gedacht: Mensch, da setzen wir doch mal einen drauf und springen irgendwie dadrüber.
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Im Ergebnis legen Sie, liebe Kollegen von der FDP, dann aber einen Antrag vor, der zeigt, dass Sie wieder mal nichts verstanden haben.
Der Reihe nach. Sie fordern also, von dem Erfolg der Firma BioNTech zu lernen und ein Aktionsprogramm für den Gentechnikstandort Deutschland vorzulegen. Und in der Tat, man kann aus dem Erfolg der Firma so manches lernen.
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Erstens. Die Firma BioNTech hat das wissenschaftliche Know-how mitgebracht. Um die Impfstoffentwicklung so richtig ans Laufen zu bringen, brauchte BioNTech aber Hilfe. Anfang März ging die Firma deshalb eine Kooperation mit dem amerikanischen Pharmariesen Pfizer ein. Aber warum mit einem Investor aus dem Ausland? Warum hat man das in Deutschland nicht selber auf die Reihe gekriegt?
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Alle mit einem guten Gedächtnis mögen sich erinnern: Im Frühjahr war Jens Spahn noch zu sehr mit seiner Kanzlerkandidatur beschäftigt und hat Corona so richtig verpennt. Glücklicherweise machten andere sich da schon auf die Socken. Die erste Lektion ist also: Wenn es richtig brenzlig wird, dann lässt Sie diese Bundesregierung alleine, und Sie müssen sich an ausländische Investoren wenden, wenn das hier was werden soll.
Lektion Nummer zwei. Wenn diese Bundesregierung einmal aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist und zur Tat schreitet, dann kann man ziemlich sicher sein, dass am Ende ein Misserfolg rauskommt. Denn was hat diese Bundesregierung gemacht? Diese Pandemie hat die Bundesregierung kalt erwischt. Man war völlig planlos und frei von Sachkenntnis.
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Wenn man die Berichterstattung in den ersten Monaten verfolgt hat, hätte man meinen können, im Gesundheitsministerium werden noch nicht mal E-Mails gelesen.
Also: Was passiert immer dann, wenn sich Politiker beweisen wollen und ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren müssen? Sie geben das Geld anderer Leute aus. Die Bundesregierung ging also hin und investierte Steuergeld in eine andere Firma. 300 Millionen Euro gingen an die Firma CureVac, und man erwarb damit Unternehmensanteile. Wieso und warum ausgerechnet diese Firma? Das werden wir vermutlich nie erfahren. Am Ende steht nur, dass die Firma BioNTech diejenige war, die zuerst den Impfstoff hatte. Was lernen wir daraus? Dass der Staat kein guter Unternehmer ist.
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Neben vielen weiteren Dingen lernen wir noch eine wichtige dritte Sache. Die Kollegen von der FDP sind oft gar nicht so schlecht in der Analyse von Problemen; aber wenn es zu den Lösungen kommt, versagen sie total. Sie arbeiten hier völlig richtig heraus, dass der Unternehmergeist in Deutschland schwach ausgeprägt ist und dass die rechtlichen Rahmenbedingungen ungünstig sind. Und dann kommen Sie mit der Lösung um die Ecke, dass der Staat einen Fonds schaffen soll und dass der Staat neue Konzepte für Wagniskapital für forschende Unternehmen entwickeln soll.
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Sie haben hier nichts verstanden. Dieses Problem löst nämlich nicht der Staat. Die Aufgabe des Staates ist es, produktive Menschen in Ruhe zu lassen und ihnen aus dem Weg zu gehen, damit die ihre Arbeit ordentlich machen können.
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Die Aufgabe der Bundesregierung wäre es, das völlig veraltete Gentechnikrecht von EU und Deutschland plattzumachen. Dann könnte Deutschland nämlich wieder zum attraktiven Forschungsstandort auf diesem Gebiet werden. Aber bitte – das schreiben Sie sich mal hinter die Ohren, auch Sie, Frau Künast –, lassen Sie die Finger weg von der Wirtschaft.
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Sie können es einfach nicht.
Vielen herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Yasmin Fahimi für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an den Monitoren! Wir reden hier heute über den FDP-Antrag, der ein Aktionsprogramm für den Gentechnikstandort Deutschland fordert. Jetzt könnte man ja meinen, wir freuen uns darauf, ganz viele tolle neue Ideen zu bekommen. Aber der Leser wird bitter enttäuscht; denn der Antrag macht erst mal eins: Er redet den Standort Deutschland schlecht; es ist so dramatisch hier, dass man sich fragen kann, wie es Deutschland eigentlich schafft, immer noch die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit zu sein.
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Sie müssen ein bisschen aufpassen, dass Sie sich nicht die AfD-Manier angewöhnen, alles erst mal in katastrophalen, düsteren Bildern zu zeichnen, um sich dann als Retter aufzuschwingen.
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Aber ich will mir ja trotzdem mal anschauen, was Sie da so geschrieben haben. Über CRISPR/Cas ist ja hier schon viel gesagt worden; natürlich hängen Sie sich daran auf. Ich will hier noch mal deutlich unterstreichen: Es geht gar nicht um CRISPR/Cas. Das ist ein Verfahren, das in Deutschland inzwischen als Standard in den Laboren der Pharmaindustrie etc. angewendet wird. Das hat auch niemand verboten. Es ist ein durchaus bewährtes Verfahren, um, vereinfacht gesagt, mit großer Präzision eine Mutation zu erzwingen.
Worum es Ihnen stattdessen geht, sind die Produkte, die daraus resultieren. Die Produkte wollen Sie, wie hier schon gesagt wurde, nun nicht mehr allein nach dem Vorsorgeprinzip bewertet wissen – das heißt, vorsorgend zu schauen, welche Risiken vielleicht mit den Produkten verbunden sein könnten, insbesondere wenn sie in offenen Systemen ausgesetzt werden sollen –, sondern Sie wollen es gleichrangig setzen mit dem Innovationsprinzip. Das heißt, die Risikoabschätzung soll parallel zu einer Chancenbetrachtung erfolgen. Das hört sich ja erst mal nett an,
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heißt aber de facto nur: Wenn beides gleichrangig zu bewerten ist, dann kann man sich die Risikoabschätzung eigentlich gleich sparen.
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Dann heißt es im Zweifelsfall: Wenn wir morgen eine Substanz gefunden haben, um das CO2 aus der Atmosphäre zu holen, dann ist das auf jeden Fall zulassungsfähig. Wenn deswegen anschließend der Planet explodiert, haben wir halt Pech gehabt.
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Es geht Ihnen in Ihrem Antrag gar nicht um eine kluge Strategie für einen nachhaltigen, verantwortlichen Innovationsstandort, sondern um etwas ganz anderes. Worum es Ihnen geht, das liest man in der Folge: um zahlreiche Fonds und Begünstigungen, die Sie einfordern, natürlich alles unspezifisch und ohne jegliche Hinterlegung von irgendwelchen Finanzvolumina.
Erstens: Fonds „Innovation durch Gentechnologie“. Wow, was ist das? – Dann steht dort: Es sollen Bemühungen gebündelt werden. Punkt! Mehr steht da nicht.
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Zweitens: „Neue Konzepte für Wagniskapital“ und „weitere steuerliche Anreize“. Ja welche denn, bitte schön? Wir haben die steuerlichen Forschungsförderungen gerade eingeführt. Daran können Sie sich doch abarbeiten. Da müssen Sie sich schon ein bisschen mehr Mühe machen und klar sagen, was Sie genau wollen.
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– Wie das alles zusammenpassen soll, das weiß kein Mensch, aber das ist ja egal.
Drittens. Sie wollen einen Zukunftsfonds für junge Unternehmen schaffen. Da denkt man auch: Toll, was für eine klasse Idee. – Dieser Zukunftsfonds soll aber als Dachfonds konzipiert werden, der in Venturecapital-Fonds investiert, die ihrerseits wiederum in Start-ups investieren sollen. Da fragt man sich: Welchen Sinn hat das eigentlich? Aber das erschließt sich einem durchaus beim Weiterlesen; denn der Zukunftsfonds richtet sich vor allem an institutionelle Anleger, also Versicherungen, Pensionsfonds und Ähnliches. Und jetzt wird es klar: Sie wollen eine neue Geschäftsidee für Großinvestoren, die mit ihren Lebensversicherungen keinen Gewinn mehr machen. Also, nach der Mövenpick-Schenkungsteuer nun also den Supersubventionsfonds für Versicherungen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, Überschriften in Türkis und Magenta sind halt kein Ersatz für kluge Politik. Was Sie hier betreiben, ist zunehmend einfach nur Fake Policy. Dieser Antrag strotzt vor Worthülsen und unspezifischen Forderungen. Deswegen muss ein aufmerksamer Leser diesen Antrag ablehnen, was wir hier auch tun werden.
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Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Klöckner, Sie haben Ihre Rede mit der Aussage begonnen, zu sagen, dass Sie mehr Sachlichkeit in die Debatte bringen wollen. Dann haben Sie sechs Minuten lang – sechs Minuten lang! – jede Fraktion – außer Ihre eigene – in diesem Haus beschimpft, und das in einer Art und Weise – mit Ideologievorwürfen, mit dem Vorwurf, Fake News zu verbreiten –: Meine Damen und Herren, ich finde, es ist einer Ministerin unwürdig, hier so aufzutreten.
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Ganz offensichtlich scheint es Ihnen beim Niveaulimbo im Kabinett darum zu gehen, Andi Scheuer noch zu unterbieten.
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Jedenfalls so war der Auftritt, den wir an der Stelle gerade erlebt haben.
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Was diese Bundesregierung will und was sie vertritt, das habe ich von Frau Klöckner nicht gehört. Ich habe Attacken gegen den politischen Gegner gehört, ich habe Beschimpfungen gehört. Aber sonst ist da gar nichts; das ist eine einzige Blackbox. Eine Agrarministerin, die ein Totalausfall ist und die hier auch noch die Verbraucher beschimpft – das war nämlich auch noch ein Teil ihrer Rede –, das kann so nicht angehen.
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Damit komme ich zur FDP. Herr Wissing, bei Ihrem professoralen Vortrag am Anfang habe ich über einen Satz gestaunt: Die Rolle der Biotechnologie in Deutschland sei offen. Also, ich kann für meine Fraktion hier ganz klar sagen: Die Biotechnologie in geschlossenen Systemen ist eine wesentliche Technologie, von der unsere Wirtschaft abhängt. Da müssen wir Forschung betreiben, da müssen wir investieren, und daran müssen wir in Zukunft arbeiten. Ich staune, dass das bei der FDP unklar ist. Das, was Sie da von sich gegeben haben, hat alles nichts mit dem zu tun, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben. In dem Antrag der FDP – da kann ich der Kollegin der SPD nur zustimmen – fehlt nur noch der Satz – es tut mir leid, das sagen zu müssen –: Wir fordern die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. – Den haben Sie diesmal in Ihrer Phrasendreschmaschine vergessen.
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Wenn hier die Erfolge eines deutschen Unternehmens im Bereich Impfstoff – so schlecht kann der Standort hier also nicht sein – benutzt werden – auch von der Ministerin –, um die Agrogentechnik zu promoten, ist das, ehrlich gesagt, schäbig. Das sind zwei völlig verschiedene Systeme. Gentechnik und Biotechnologie in geschlossenen Systemen, damit hat niemand ein Problem. Die Frage ist doch nur: Setzen wir es am Ende frei, und öffnen wir unkontrollierbare Risiken? Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, die in Ihren Reden, in Ihrem Antrag und anderswo kunterbunt durcheinandergehen.
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Beschäftigen Sie sich damit mal seriös, anstatt hier nur Phrasen von sich zu geben! Das ist ein Niveau, das hier nicht hinpasst.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kees de Vries das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorab möchte ich den Damen Doudna und Charpentier zur Entdeckung der CRISPR/Cas9-Schere gratulieren. Dafür haben sie zweifelsfrei den Chemienobelpreis verdient. Aber auch dem Agrarwissenschaftler Norman Borlaug, ebenfalls Nobelpreisträger, möchte ich hier meine Hochachtung aussprechen. Er hat als Vater der Grünen Revolution im Jahr 1970 den Friedensnobelpreis bekommen,
({0})
und zwar mit der Begründung – ich zitiere –:
Mehr als jede andere Person unserer Epoche hat er geholfen, Brot für eine hungrige Welt herbeizuschaffen.
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Ungeachtet aller unbegründeten Horrorszenarien, welche die Grünen in Endlosschleife im Zusammenhang mit den neuen Züchtungstechniken verbreiten, werde ich nicht müde, den Menschen in unserem Land zu erklären, dass es genau jene neuen Züchtungstechniken sind, die eine große Chance für eine zweite grüne Welle bieten. Wir in Deutschland kennen diese Probleme nicht. Wir leben in einem Schlaraffenland; unsere Regale sind immer voll.
Wenn Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – und leider muss ich hier auch die Kollegen von der SPD und viele andere nennen –, unseren Forschern und Pflanzenzüchtern endlich mal etwas Aufmerksamkeit und einen Funken Vertrauen schenken würden, verstünden Sie die Technik auch. Leider haben Sie die Einladung des gläsernen Labors, diese Technik kennenzulernen, nicht wahrgenommen.
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Nur CDU/CSU- und FDP-Vertreter waren da. Sie aber glänzten durch Abwesenheit.
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Aber ja, es hätte natürlich passieren können, dass Sie Ihre Blockadehaltung hätten aufgeben müssen.
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Damit bin ich bei der FDP und ihrem Antrag. Leider ist es so, liebe Kollegen der FDP-Fraktion, dass wir jetzt eine durch Sie angestoßene Scheindebatte ohne neue Erkenntnisse führen, in der Sie sich gerne als Anwalt der neuen Züchtungstechniken präsentieren wollen. Inhaltlich tragen Sie heute wieder alle CDU/CSU-Argumente vor. Gemeinsam mit Julia Klöckner fordern wir schon lange, die neuen Züchtungstechniken für die Züchtungshäuser nutzbar zu machen. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Wir alle wissen, dass aktuell ein Gutachten der EU-Kommission zu den neuen Züchtungstechniken erstellt wird. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem Gutachten im Rücken wieder zum Rest der Welt aufschließen und das Gentechnikrecht endlich dem aktuellen Stand anpassen werden.
Dem anfangs genannten Wissenschaftler Norman Borlaug wird nachgesagt, mit seiner Grünen Revolution 1 Milliarde Menschen das Leben gerettet zu haben. Dabei war er nicht mal ein echter Biotechnologieanhänger. Aber er war ein Modernisierer, der überzeugt war, dass 9 bis 10 Milliarden Menschen auf dieser Welt nur umweltschonend und ausreichend ernährt werden können, wenn alle pflanzenzüchterischen Möglichkeiten genutzt werden. Darum bin ich mir auch sicher, dass langfristig die wissenschaftlichen Fakten dazu führen werden, dass wir auch die Möglichkeiten neuer Züchtungstechniken einsetzen dürfen.
Liebe Gegner der Modernisierung, im Interesse der Umwelt und der hungernden Menschen auf unserer Welt: Springen Sie über Ihren Schatten, und lassen Sie uns diese Chancen nicht verpassen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Ich möchte mich – das ist heute auch schon angesprochen worden – bei den Gründern von BioNTech bedanken, dass sie hier in Deutschland einen Impfstoff entwickelt haben, der der Welt hilft, und zwar wirklich hilft.
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Was für mich ganz besonders wichtig ist – das bereitet mir eine riesengroße Freude –: Bei den Gründern von BioNTech handelt es sich um junge Menschen, die als Kinder aus der Türkei gekommen sind. Das sind genau die Menschen, die die AfD hier nicht haben will.
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Das sind aber genau die Menschen, die wir in diesem Land brauchen für die Fortentwicklung eines freien Geistes.
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Ich bin zutiefst dankbar; denn es zeigt, dass dieses Land den freien und intellektuellen Geist wesentlich höher bewertet als Volks- und Nationalzugehörigkeit. Insofern können wir dankbar für die Freiheit in unserem Land sein.
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Im Übrigen: Egal wie man zu Pfizer steht, ist das auch ein Zeichen internationaler Kooperation, die die Welt beim Zusammenwachsen braucht. Wenn ich dem Weltbild der AfD einigermaßen folgen kann, dann ist klar: Es bestünde die Gefahr, dass wir, wenn man die AfD einfach mal machen lassen würde, in den Zustand Nordkoreas gelangen.
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Ich komme zur Frage der Gentechnik. Ich habe sehr deutlich erlebt, wie wir die Atomdebatte geführt haben. Übrigens bin ich selber ein Verfechter der Atomtechnik gewesen. Aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass sich dabei Risiken einstellen, die wir vorher überhaupt nicht beurteilen konnten. Wenn Sie mal darüber nachdenken, was die Lagerhaltung von Restatommüll so alles beinhaltet, dann wissen Sie, mit welchen Gefahren wir es zu tun haben.
An dieser Stelle wage ich darauf hinzuweisen: Wenn wir operativ ins Genom eingreifen, dann könnte das – das hat mir gegenüber bis jetzt noch kein Wissenschaftler bestritten – ähnliche Folgen wie die Atomindustrie haben. Deswegen bin ich im Hinblick auf operative Eingriffe ins Genom – und zwar nicht im Bereich der Roten Gentechnik, sondern der Grünen Gentechnik – sehr, sehr vorsichtig. Ich würde uns allen anraten: Wenn wir die Wissenschaft bemühen, dann sollten wir an dieser Stelle auch die Theologen, den Ethikrat, Soziologen und auch die Zukunftsforscher bemühen, um sie zu fragen: Können wir das verantworten?
Die nächste Frage, die sich mir stellt, lautet: Ist CRISPR/Cas und Ähnliches als Technologie überhaupt zukunftsweisend?
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Es gibt mittlerweile Verfahren, die auf der Macht von Algorithmen beruhen,
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zum Beispiel SMART Breeding, die ohne den operativen Eingriff funktionieren. Mit die größten Geflügelzüchter der Welt verwenden dieses Verfahren und züchten innerhalb kürzester Fristen neue Populationen ohne den Zugriff auf oder den Einschnitt in das Genom. Was nutzen sie? Diese Algorithmen nutzen die natürlichen Genome und zeigen, mit welcher Kombination von natürlichen Genomen Fortschritt zu erzielen ist. Und das ist doch der Weg bei der Grünen Gentechnik: Nicht dem lieben Gott ins Handwerk zu pfuschen, sondern mithilfe von Algorithmen das, was uns die Natur zur Verfügung stellt, zu nutzen. Das wäre doch mal ein zukunftsweisender Ansatz, der uns gut zu Gesichte stehen würde. Das sollten wir fördern.
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Abschließend zu dem Vortrag der FDP. Ich bin froh und glücklich, an einem der besten Wissenschaftsstandorte der Welt leben zu dürfen und auch einem Parlament anzugehören, das diese Wissenschaft massiv fördert.
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Nur der freie Geist und der freie Intellekt von Wissenschaftlern in einem freien Land wie Deutschland, das vorwärtsgerichtet ist, können diese Wissenschaft wirklich zielgerichtet einsetzen. Sie braucht unsere Unterstützung und unsere Betreuung. Die SPD steht dafür seit 150 Jahren.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Katrin Staffler das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Biochemikerin würde ich am allerliebsten ganz laut jubeln, wenn es darum geht, dass man medizinische Biotechnologie in Deutschland stärker unterstützt und stärker fördert; denn ich weiß, wie wichtig sie für die Zukunft der Medizin sein kann. Gerade auch die medizinischen Einsatzmöglichkeiten der sogenannten mRNA-Technologien sind ja de facto fast grenzenlos.
Im Übrigen unterstützt die Bundesregierung sie auch schon. Ich möchte jetzt nur ein kleines Beispiel nennen, weil ich es bemerkenswert fand, was der Minister am Anfang der Debatte dazu gesagt hat: Die Bundesregierung fördert BioNTech bei der Impfstoffentwicklung mit fast 400 Millionen Euro. – 400 Millionen Euro! Minister Wissing hat gerade eindrucksvoll gefordert, wie wichtig es sei, dass man diese Technologien auch finanziell unterstützt. Laut einer Landtagsanfrage fördert das Land Rheinland-Pfalz BioNTech mit 500 000 Euro. Ich würde sagen: An dieser Stelle sprechen Worte und Taten unterschiedliche Sprachen.
Kommen wir zurück zur „messenger RNA“. Hinter dem zugegebenermaßen etwas sperrigen Begriff steckt nämlich zum Beispiel die Möglichkeit, dass man bestimmte genetische Krankheiten behandelt, ohne dass wir – das ist ja das Spannende an dem Thema – in die DNA, also in unser Erbgut, eingreifen. Wir können mit mRNA unsere eigenen Körperzellen zu kleinen Fabriken machen. Diese Fabriken produzieren dann Arzneimittel, die helfen, Krankheiten zu heilen, an denen man selber erkrankt ist. Wir können durch mRNA unserem Immunsystem den Bauplan für Antigene geben, sodass das Immunsystem dann dafür sorgen kann, dass Infektionskrankheiten effektiv bekämpft werden können oder – das finde ich eigentlich fast noch viel besser – dass durch die Immunreaktion zum Beispiel Tumorzellen angegriffen und abgetötet werden und wir im optimalen Fall mithilfe dieser Technologie Krebs heilen können.
Ich weiß, das klingt alles ein Stück weit nach Science-Fiction; aber in den letzten Monaten sind all diese Dinge, von denen ich da beispielhaft gesprochen habe, greifbar geworden. So verrückt es vielleicht klingen mag: Wir stehen in ganz, ganz vielen Bereichen der Medizin vor einer großen Revolution. Deswegen sage ich ganz klar: Natürlich müssen wir diese Entwicklungen unterstützen. Natürlich müssen wir dafür Sorge tragen, dass wir die Spitzenposition, die wir im Moment ein Stück weit haben, nicht nur über die Ziellinie retten; vielmehr geht es darum, Strategien zu entwickeln, die es uns erlauben, den Vorsprung, den wir im Moment haben, auszubauen.
Um ehrlich zu sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mir scheint, Sie haben den Antrag, den Sie dazu heute vorgelegt haben, auf die Schnelle aus dem Ärmel geschüttelt. Der Aktionsplan ist sicherlich gut gemeint. Mir ist das aber, ehrlich gesagt, ein bisschen zu viel Aktionismus, ein bisschen zu wenig Plan, zu wenig Strategie, zu wenig roter Faden. Aus meiner Sicht geht es nämlich nicht darum, dass wir so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich in irgendwelche Programme hineinstecken, die uns gerade so in den Sinn kommen.
Ich wünsche mir mehr: Ich wünsche mir ein Programm, das alle Bereiche in diesem Zusammenhang umfänglich im Blick hat, das von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung reicht, das auch die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftlern vorantreibt usw. usf. Wenn uns all das gelingt, dann brauchen wir immer noch eine gute Strategie im Bereich der Wissenschaftskommunikation. Denn wie wollen wir den Menschen erklären, dass es wichtig ist, eine Menge Geld in einen Bereich zu investieren, den kaum einer in Gänze verstehen kann und der die Menschen, ehrlich gesagt, manchmal auch ein Stück weit verunsichert? Wir merken doch jetzt schon bei dem Impfstoff zu Covid-19, dass wir unglaublich viel erklären müssen, um die diffusen Ängste, die in Teilen der Bevölkerung vorhanden sind, abbauen zu können.
Genau deswegen müssen wir diesen Bereich in einer umfangreichen Strategie mitdenken; denn nur mit einer breiten Akzeptanz kann das Ergebnis zu einem medizinischen, aber auch zu einem wirtschaftlichen Erfolg werden; der Kollege Mario Brandenburg müsste das eigentlich auch wissen. Es ist wichtig – das ist gerade schon von Kees de Vries angesprochen worden –, dass solche Methoden für jedermann erfahrbar werden, damit es auch verstanden werden kann. Wir haben gerade diesen Laborkurs zu CRISPR/Cas gemacht und haben gesehen, dass gerade durch die praktische Arbeit das Verständnis für diese neuen Technologien wächst.
Wir müssen daran arbeiten, dass mehr Bürgerinnen und Bürger die Chance bekommen, einen besseren Einblick in diese Technologien zu erhalten. Deswegen würde es mich freuen, wenn auch einige Kollegen diesen Kurs irgendwann noch nachholen und dabei ein tieferes Verständnis für diese Technologien bekommen; denn wenn wir wichtige Entscheidungen in diesem Bereich treffen wollen, dann sollten wir auch ein grundlegendes Verständnis davon haben. Bei der einen oder anderen Rede, die wir heute gehört haben, war ich mir da, ehrlich gesagt, nicht so sicher.
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Kollegin Staffler, achten Sie bitte auf die Zeit.
Letzter Absatz. – Die FDP hat mit ihrem Antrag etwas vorgelegt, was in die richtige Richtung geht. Ich freue mich darauf, wenn wir das Thema künftig so weiterentwickeln, dass daraus ein großer Erfolg wird für unsere Gesundheit, für unseren Wissenschaftsstandort und vor allem für unsere Zukunft.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 15. Januar 1990 stürmten Bürgerinnen und Bürger die Zentrale der Staatssicherheit der ehemaligen DDR in der Berliner Normannenstraße und bewahrten damit unzählige Stasiakten vor der Vernichtung. Zwei Jahre später öffnete der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – so der genaue Titel –, kurz: BStU, seine Pforten. Weltweit – weltweit! – zum ersten Mal hatten Menschen damit die Möglichkeit, nach dem Sturz einer Diktatur nachzuvollziehen, welche Informationen die Geheimpolizei über sie gesammelt hatte und wer die Spitzel waren. Die rechtssichere Grundlage dafür hatte der Deutsche Bundestag Ende 1991 mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes geschaffen.
Wenn wir heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die Eingliederung der Stasiakten in die Verantwortung des Bundesarchivs und die Einsetzung einer oder eines SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag beschließen, ist dies keinesfalls ein Schlusspunkt, sondern – ganz im Gegenteil – es ist die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschem Vorzeichen,
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eine späte deutsch-deutsche Vereinigung, wie es vor ein paar Tagen in einer Sonntagszeitung so treffend formuliert war.
In den vergangenen drei Jahrzehnten hat der BStU im Umgang mit den Schicksalen der Stasiopfer und den gesammelten Informationen stets ein sehr hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein in diesem sehr sensiblen Aufgabenbereich bewiesen. Dafür danke ich insbesondere den Bundesbeauftragten Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn.
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Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz wollen wir die Stasiunterlagen dauerhaft und für künftige Generationen bewahren, als Teil unseres gesamtstaatlichen Gedächtnisses unter dem juristischen Dach des Bundesarchivs und im Kontext weiterer Archivbestände, die einen Bezug zur ehemaligen DDR und zur Zeit der deutschen Teilung haben. Wir führen die Kompetenzen und Erfahrungen des Bundesarchivs und des Stasi-Unterlagen-Archivs zusammen, deren Beschäftigte künftig formal in einer Behörde tätig sein werden.
Die Zugänglichkeit der Stasiakten – das ist ganz wichtig – an den jetzigen Standorten und die besonderen gesetzlichen Regelungen zur Akteneinsicht bleiben unverändert erhalten. Zugleich verbessert sich der Zugang zu den Akten, die künftig deutschlandweit auch an sämtlichen Standorten des Bundesarchivs und digital einsehbar sein werden. Die im Gesetz vorgesehene Ombudsperson für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag wird sich für die Belange genau dieser Menschen einsetzen.
Aber nicht minder wichtig als die vorgesehenen Neuregelungen ist der breite politische und gesellschaftliche Konsens, der diese Neuregelungen trägt. Sie sind das Ergebnis eines langen Prozesses politischer und gesellschaftlicher Verständigung mit kontroversen, teilweise natürlich auch emotional geführten Debatten.
Konflikte zuzulassen und auszutragen, ist Teil der Aufarbeitung leidvoller Diktaturerfahrungen in einer Demokratie. Das ist mühsam, und das kann gerade für die Betroffenen auch sehr schmerzhaft sein. Umso mehr freue ich mich über das breite Bündnis für die Zukunft der Aufarbeitung der SED-Diktatur, das heute hinter diesem Gesetzentwurf steht. Es ist auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts des BStU und des Bundesarchivs entstanden, das der Bundestag 2019 mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen gebilligt hat. Es wurde aus der Mitte des Bundestages eingebracht. Es wurde unter anderem mit den Opferverbänden beraten und wird von ihnen unterstützt. Und heute können wir es hoffentlich mit breiter Mehrheit verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Stasiunterlagen bleiben unverzichtbar für die umfassende Aufarbeitung des SED-Unrechts. Sie können uns helfen, das Bewusstsein für den Wert eines demokratischen Rechtsstaats auch in künftigen Generationen lebendig zu halten. Denn sie dokumentieren, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Menschen, die man bis in die intimsten Bereiche ihres Lebens hinein bespitzelte, wurden zermürbt durch Schikanen im Alltag, durch willkürliche Inhaftierungen, durch Verunsicherung und Isolation. Sie wurden gedemütigt, entwürdigt, misshandelt oder kamen sogar zu Tode. Lebenswege wurden verhindert, Familien zerstört. Die Denunzianten waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde. Mit diesem engmaschigen Netz der Beobachtung, unter dem Misstrauen und Angst gediehen, unterhöhlte der Staatssicherheitsdienst das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft.
Die Stasiakten offenbaren aber auch den unbeugsamen Widerstandsgeist der Gegnerinnen und Gegner des SED-Regimes und die Zivilcourage vieler Menschen in der DDR, die den Machthabern im Streben nach Freiheit und Demokratie die Stirn boten. Der Schriftsteller Reiner Kunze hat die knapp 3 500 Seiten seiner Stasiakte zu einer Dokumentation mit dem Titel „Deckname ‚Lyrikʼ“ verarbeitet und in seinem „Vers zur Jahrtausendwende“ die Haltung formuliert, mit der er selbst dem SED-Regime bis zu seiner Ausbürgerung standhielt – ich zitiere –:
Wir haben immer eine wahl,
und sei’s, uns denen nicht zu beugen,
die sie uns nahmen.
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Im Gegensatz zu einer Diktatur ist Demokratie korrektur- und lernfähig und eröffnet Handlungs- und Mitgestaltungsspielräume. Meine Hoffnung ist, dass die Auseinandersetzung mit den Stasiunterlagen den Blick eben dafür schärft und auf diese Weise die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen totalitäre Ideologien und gegen populistische Demokratieverächter stärkt. In diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für die Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „... ich gestehe, dass ich enttäuscht bin …“.
({0})
Mit diesen Worten beendete Marianne Birthler, die frühere Bürgerrechtlerin und ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, ihre Stellungnahme während einer Anhörung zur geplanten Auflösung der Bundesbehörde hier im Deutschen Bundestag. Und sie fährt fort – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin –: Ich habe auf einen Aufbruch gehofft. Aber was uns hier vorliegt, ist eher eine Nachlassverwaltung. – Das, meine Damen und Herren, war vor vier Jahren.
Und wenn wir heute auf den vor uns liegenden Gesetzentwurf blicken, dann müssen wir feststellen: Viel hat sich nicht geändert. Mit dem Gesetz, das heute eine Mehrheit in diesem Haus beschließen wird, beerdigt der Deutsche Bundestag eine der herausragendsten Errungenschaften, wenn nicht die herausragende Errungenschaft, ein weltweit einmaliges Erbe der Friedlichen Revolution.
({1})
Die Bundesbehörde für die Stasiunterlagen verdankt ihre Existenz – wir haben es eben schon gehört – eigentlich einem revolutionären Akt: der Besetzung der Räume des Ministeriums für Staatssicherheit am 15. Januar 1990 durch aufgebrachte Bürger. Das ist vielleicht eine deutsche Besonderheit und vielleicht gar keine schlechte, dass ein revolutionärer Akt in die Gründung einer Behörde mündete. Diese Behörde war und ist insofern eben auch ein Denkmal, ein lebendes Mahnmal, in dem rund 1 500 Menschen an insgesamt zwölf Standorten arbeiten. Zu diesem merkwürdigen Denkmal, das eine Behörde ist, gehören die vor der Vernichtung bewahrten Akten der Staatssicherheit ebenso wie auch der Bundesbeauftragte als Hüter dieser Akten.
Nun hören wir im Ausschuss, daran werde sich gar nicht viel ändern. Die Akten werden eben einfach in das Bundesarchiv eingegliedert, und statt eines Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen soll es 30 Jahre nach der Wende nun erstmals einen Opferbeauftragten geben.
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Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob Sie dafür heute tatsächlich Beifall erwarten. 30 Jahre nach der Wende einen Opferbeauftragten zu installieren, ist kein Ruhmesblatt. Das ist ein Armutszeugnis. Das hätte viel, viel früher kommen müssen.
({3})
Sprechen wir es doch deutlich aus: Der sogenannte Opferbeauftragte ist in Wahrheit natürlich eine Kompensation für den Wegfall des Bundesbeauftragten, ein Feigenblatt, um Kritiker und Opferverbände zu besänftigen und von der eigentlichen Sache abzulenken. Die AfD-Fraktion hat deshalb in einem Antrag, der Ihnen heute vorliegt, gefordert, einen Bundesbeauftragten mit erweiterten Kompetenzen einzusetzen. Er soll nach unserer Vorstellung nicht nur für die Opfer da sein, sondern auch die Funktion eines Bundesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur wahrnehmen; denn, meine Damen und Herren, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter sind ja noch unter uns. Wer wirklich etwas für die Opfer tun will, der sollte nicht gleichzeitig seinen Frieden mit den Tätern schließen und die real juristisch noch existierende SED in Regierungsbündnisse holen.
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Um nicht missverstanden zu werden: Ja, auch die DDR war natürlich ein deutscher Staat, die zweite deutsche Diktatur im 20. Jahrhundert. Natürlich gehören die urkundlichen Zeugnisse, Behördenakten und sonstige Dokumente dieses Staates früher oder später ins Bundesarchiv. Aber, meine Damen und Herren, es gab keinerlei zwingende Notwendigkeit, das jetzt schon zu tun.
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Die Begründung für dieses Gesetz – und auch das ist in mehreren Anhörungen gesagt worden – ist äußerst dürftig. Alle beschriebenen Probleme, die Sie mit diesem Gesetz lösen wollen, hätten auch auf anderem Wege gelöst werden können. Ich nenne nur die wesentlichen: Die Sicherung der Akten, so sagen Sie, könne so nicht mehr vollzogen werden. Das wäre natürlich auch durch eine Kooperation mit dem Bundesarchiv zu erreichen gewesen oder durch eine bessere Ausstattung der Unterlagenbehörde selbst. Eine Ombudsperson für die Opfer – ich hatte es eben schon angedeutet – hätte man natürlich auch ganz unabhängig von der Frage der Akten schon längst einsetzen können.
Auf der anderen Seite bietet das Gesetz für die tatsächlich existierenden Probleme gar keine Lösung an. Wie und wann werden zum Beispiel die rund 15 000 Säcke mit zerrissenen Stasiakten endlich rekonstruiert und gesichert? Seit 2016 ist offenbar keine einzige Akte mehr elektronisch zusammengefügt worden. Dazu schreibt das Bürgerkomitee „15. Januar“ auf seiner Internetpräsenz – ich zitiere mit Erlaubnis –:
„Die Jahn-Behörde täuscht die Öffentlichkeit und das Parlament seit Jahren über den faktischen Stillstand der virtuellen Rekonstruktion.“ Inzwischen haben fast alle Projektexperten beim Fraunhofer Institut … mit ihrem Spezialwissen das Team verlassen, am Jahresende geht der langjährige Projektleiter und Initiator in den Ruhestand.
Meine Damen und Herren, wie soll dieses Problem gelöst werden? Kein Wort dazu in Ihrem Gesetz.
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Wie sieht es nun aus mit der Forschungstätigkeit und mit der pädagogischen Aufklärungsarbeit? Hier wird in Zukunft etwas Merkwürdiges entstehen; denn ein Bundesarchiv ist natürlich erst mal, wie der Name schon sagt, ein Archiv. Deshalb ist hier ein Schub, ein wirklicher Aufbruch, wie Marianne Birthler sich das zu Recht gewünscht hat, nicht zu erwarten. Denn ein Archiv stellt in erster Linie Quellen für die Forschung zur Verfügung. Seine Hauptaufgabe ist es nicht, selbstständig eigene Forschung zu betreiben.
Meine Damen und Herren, 30 Jahre sind kein Grund, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie wollen das ja auch nicht. 30 Jahre, das ist für Historiker nur ein Wimpernschlag. Nach 30 Jahren beginnt für Historiker erst die eigentliche Arbeit. Und ich ergänze: Auch für Pädagogen, für die Lehrer beginnt erst die eigentliche Arbeit. Fragen Sie mal Jugendliche, was sie heute noch über die DDR wissen! – Erschreckend wenig! Das hat zu tun mit Ihrer Bildungspolitik, mit Ihrer ausgesetzten Aufklärungspolitik, die Sie seit Jahren hier betreiben.
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Wir bräuchten einen Aufbruch, wir bräuchten einen Schub für die Erforschung der SED-Diktatur. Wir bräuchten eine Stärkung der existierenden Forschungsverbünde, zum Beispiel hier an der FU, und anderes mehr. Auch dazu lässt das Gesetz nichts Gutes hoffen.
Meine Damen und Herren, es ist doch merkwürdig – so schloss Marianne Birthler –, dass wir in Deutschland zwar einen Lehrstuhl für die Geschichte Aserbaidschans haben, aber wir haben 30 Jahre nach Ende der DDR noch keinen einzigen Lehrstuhl für die Geschichte der SED-Diktatur oder die kommunistische Gewaltherrschaft in Osteuropa. Das, meine Damen und Herren, ist ein Armutszeugnis. Wir bräuchten das dringend, ebenso wie einen Gedenktag für die Opfer der kommunistischen Diktatur. Unsere Anträge dazu liegen Ihnen vor. Sie müssen ihnen nur noch zustimmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Katrin Budde für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang Dezember 1989, also vor fast 31 Jahren, wurde die Zentrale der Staatssicherheit in Magdeburg im Kroatenweg besetzt. Das war natürlich nicht nur in Magdeburg so, sondern das war überall in der ehemaligen DDR um die Tage herum ab dem 4. Dezember so. Wir haben die Dienststellen der Stasi besetzt, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden. Damit war dann der Grundstein gelegt, dass eben nicht noch mehr Akten vernichtet werden konnten und dass nicht noch mehr Verbrechen verschleiert werden konnten. Der Apparat hatte danach keine Macht mehr über die Menschen. Das war so etwas wie der endgültige Niedergang eines der wichtigsten Machtinstrumente der SED. Das Ende war auch unumkehrbar, weil die Auflösung dann unter ziviler Kontrolle begann.
In den Stasidienststellen machte das ganz vielen Angst. Ein Stasioffizier hat das mal so formuliert: Man wusste, die kommen irgendwann ins Haus; das sind wahrscheinlich auch die, über die etwas in den Akten steht, und dann ist es besser, die Akten sind nicht mehr da. – Allerdings war damit noch lange nicht geklärt, wie dieser zivile Auflösungsprozess vonstattengehen würde, wer wie Einsicht bekommt. Man muss auch sagen: Der Anfang vom Ende des Stasiapparates war auch der Anfang der Diskussion: Wie weiter mit den Hinterlassenschaften? – Die Meinungen gingen damals wie heute weit auseinander. Über die Debatte am 28. September 1990 in der frei gewählten Volkskammer lassen Sie sich lieber von Augenzeuginnen und Augenzeugen berichten.
Was aber mit dem nahen Ende der DDR und der kommenden Wiedervereinigung auch immer deutlicher wurde, war, dass es keine Einigkeit gab, ob die Akten über den 3. Oktober 1990 hinaus überhaupt zugänglich sein würden. Dies, meine Damen und Herren, mussten wir uns mit einer zweiten Besetzung der Stasizentralen erkämpfen, und zwar im September 1990. Eine solche Öffnung der Akten eines Unterdrückungsapparates, wie wir sie dann doch erstritten haben, ist in der Tat bis heute weltweit einmalig – ein einmaliger und guter Vorgang.
({0})
Es gab auch ganz unterschiedliche Motivationen, verschiedene Gründe, warum auch hochrangige Persönlichkeiten auf beiden Seiten, in Ost und West, das nicht wollten. Ich erinnere mich gut an die Zeit; denn es war keine Bezeichnung dramatisch genug, um vor der Öffnung der Akten zu warnen und zu fordern, dass sie einbehalten bleiben sollten: „Siegerjustiz“ die einen, „Hexenjagd“ die anderen, „Racheakte“ – das waren gerne in der Öffentlichkeit benutzte Begriffe.
Persönlich habe ich ja auch verstanden, dass die einstigen Täter und Verantwortlichen im Osten gar kein Interesse daran hatten, dass ihre Untaten öffentlich würden. Aber als 25-Jährige mit immer noch genug Adrenalin im Blut von der erfolgreichen Revolution und der Freude über die erkämpfte und auf die errungene Demokratie war ich doch das erste Mal auch erschreckt über Argumente mancher altbundesrepublikanischer Politiker. Da wurden dann die Errungenschaften langjähriger Debatten um Daten- und Personenschutz der Bundesrepublik ins Feld geführt. Man befürchtete, dass der Streit um die Vergangenheit die innere Einheit und das Zusammenwachsen Deutschlands belasten würde.
Das einzige Argument, über das ich länger nachgedacht habe, war: Es war ja illegal erworbenes Wissen. – Das stimmte. Wie geht man damit um? Damit geht die Bundesrepublik ganz eindeutig um. Aber wir wollten ja wissen, wer uns bespitzelt hatte. Wir wollten ja wissen, wo sie in den Apparaten sitzen, und wir wollten, dass sie nicht weiter da sitzen. Und wir, die wir so aus dem Herbst 1989 kamen, hatten auch an manchen Stellen so den Eindruck, man wolle gar nicht alles wissen, was da über westdeutsche Politikerinnen und Politiker in den Akten steht; denn die Krake Stasi war nicht nur eine ostdeutsche Stasi; sie hat weit in die Bundesrepublik hineingewirkt.
Jedenfalls hat es das damals von der Volkskammer verabschiedete Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS nur durch den massiven Druck der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die am 4. September die Stasizentrale besetzten, und der Abgeordneten der frei gewählten Volkskammer, die mit überwältigender Mehrheit eine Erklärung dazu verabschiedeten und drohten, dem Einigungsvertrag nicht zuzustimmen, doch noch in den Einigungsvertrag geschafft, und das war gut so.
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Marianne Birthler hat es mal so beschrieben:
Das neue Stasi-Unterlagen-Gesetz
– das im wiedervereinigten Deutschland beschlossen worden war –
war dennoch nicht nur ein Ost-, sondern auch ein Westkind: Aufarbeitungswille Ost traf auf Rechtsstaat West, Aktenöffnung auf Datenschutz, Leidenschaft auf Vorsicht und Verwaltungserfahrung: Die Gegensätze prallten während des Gesetzgebungsverfahrens ziemlich heftig aufeinander, aber in ihrer Verbindung lag das Geheimnis des Erfolges.
Drei Persönlichkeiten haben seitdem die Stasiunterlagenbehörde geprägt, ihr Profil gegeben: Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn. Ich will ihnen an dieser Stelle ausdrücklich danken.
({2})
Aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – ein anfangs ganz kleiner Personalbestand ist auf mehrere Tausend angewachsen – will ich danken; denn sie haben überall die Arbeit vor Ort gemacht.
Nachdem schon in der letzten Legislatur – ich sage es immer wieder – der Beschluss gefasst worden war, die Stasiakten in das Bundesarchiv umziehen zu lassen, übrigens zu überführen und nicht aufzulösen, weshalb die Behörde Mitte Juni nächsten Jahres ihre Arbeit beenden wird – das ist beschlossen –, und eine Expertenkommission Empfehlungen abgegeben hatte, wie die Nachfolge und Neuausrichtung des Bundesbeauftragten aussehen soll, ist es nun heute an der Zeit, das Gesetzespaket, das dies regelt, zu beschließen.
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Und auch wenn das Thema mir nicht fremd war, auch wenn mich niemand von der Bedeutung des Themas überzeugen musste, auch wenn ich aus der Landesebene die Diskussion zum Beispiel um die Landesbeauftragten und die Fortentwicklung von deren Aufgaben gut kenne und auch wenn ich wusste, wie hartnäckig wir schon mal in den Ländern gewesen waren, um den Erhalt der Außenstellen zu sichern, und wie wichtig die Außenstellen in der Fläche sind: Das Ausmaß – ich sage es noch einmal – der Fettnäpfe, Tretminen und persönlichen Unverträglichkeiten bei diesem Thema hat mich dann doch überrascht. Deshalb haben wir in einem langen Prozess versucht, so viel Einigung wie möglich herzustellen, den Blick nach hinten zu richten, zu bewahren, und nach vorn zu richten.
Heute liegt ein ausgewogenes Gesetzespaket mit einer breiten Unterstützung aus dem Parlament vor, das von den Bundesländern begrüßt wird, das vom Bundesverband der Opferverbände für richtig gut befunden wird, das von der BStU und dem Bundesarchiv gleichermaßen unterstützt wird, das neue Möglichkeiten und Chancen öffnet, die Rechte an der eigenen Akte gewahrt hält. Durch die Anpassung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird sichergestellt, dass auch die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben. Der Zugang für Wissenschaft und Forschung ist anonymisiert geregelt. Der Übergang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist richtig gut geregelt.
Und noch einmal zum Mitschreiben, insbesondere in die rechte Richtung: Je Land gibt es eine Außenstelle mit Archiv und eine Außenstelle oder mehrere Außenstellen ohne Archiv. Aber diese Außenstellen sind nicht nur ein Lesesaal, sondern sie sind auch ein Ort, der die Besonderheit des Systems der Staatssicherheit, dieses Instrumentes der Ausspähung und Unterdrückung, seine schlimmen Auswirkungen auf Menschen und deren Familien erklärt, in der Erinnerung wachhält und mahnt. Es gibt einen angemessenen und guten Bildungsauftrag.
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Die Akteneinsicht wird an all diesen Standorten möglich sein, auch in Westdeutschland. Deshalb ist es ein gesamtdeutsches Gesetz. Das wird mein Kollege nachher, hoffe ich jedenfalls, noch mal herausstellen. Wir ermöglichen auch die Einbindung in die Gedenkstättenlandschaft der Länder.
Mit der Einrichtung eines Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag geben wir den Anliegen der Opfer und Verfolgten eine Stimme, ermöglichen ihm, mit größtmöglicher Unabhängigkeit dem Bundestag, seinen Gremien und anderen öffentlichen Stellen zu berichten, zu beraten, auf Notwendiges hinzuweisen und wenn nötig auch weitere Gesetze zu veranlassen.
Deshalb sage ich jetzt noch einmal Dank: dem Koalitionspartner, den Miteinbringern, denen, die es möglich gemacht haben, dass die Vorlage mit so einer großen Breite eingebracht werden konnte, den beiden Behörden, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Herrn Jahn und Herrn Hollmann an den Spitzen der Behörden, der BKM und den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Landesbeauftragten, dem Bundesverband der Opferverbände und den Arbeitnehmervertretungen. Ich sage zum Schluss allen Dank, die hätten genannt werden müssen und die ich jetzt vielleicht vergessen habe.
Bitte stimmen Sie diesem Gesetzespaket zu! Es lohnt sich. Wir tun einen guten, richtigen und notwendigen Schritt.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Hacker für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gerade einmal 20 Tagen haben wir hier im Deutschen Bundestag in erster Lesung über unseren interfraktionellen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer oder eines SED-Opferbeauftragten beraten. Die zurückliegenden Wochen haben uns gezeigt, dass aus einem gemeinsamen, ambitionierten Ziel nach langen Diskussionen und nach langer Vorbereitung ein gemeinsamer Entwurf entstanden ist, der überzeugt und der die richtigen Akzente für die Zukunft setzt.
Die Experten in der öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses bestätigten, dass die Überführung der Stasiunterlagen mehr als 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution keinen Schlussstrich zieht. Die Sichtbarkeit dieser einzigartigen Unterlagen bleibt erhalten. Sie werden dauerhaft gesichert und stehen für die Opfer und ihre Angehörigen, für die Aufarbeitung und Forschung zur Verfügung. Der Zugang zu den Unterlagen und die Möglichkeit der Einsichtnahme an den Außenstellen bleiben erhalten. Zusätzliche Zugänge zu den Unterlagen werden an allen Standorten des Bundesarchivs ermöglicht. Opfer der Staatssicherheit leben im 30. Jahr der deutschen Einheit in ganz Deutschland. Auch Menschen in Koblenz, Freiburg oder meiner Heimatstadt Bayreuth können dort jetzt Einsicht in die Akten nehmen. Durch die lange Diskussion des Gesetzentwurfs konnten viele Bedenken und Sorgen ausgeräumt werden.
Uns Freien Demokraten war und ist wichtig: Die Aufarbeitung von vier Jahrzehnten deutsch-deutscher Trennung, von vier Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, von Verfolgung, Bespitzelung und staatlicher Repression ist nicht Vergangenheit und ist nicht erledigt. Um das eigene Erleben zu verarbeiten, brauchen die Opfer Wissen. Sie brauchen – oft schmerzhafte – Gewissheit, die sie in den Akten finden können. Und: Eine Gesellschaft, die stark sein will gegen populistische Verführer, braucht Forschung über totalitäre Systeme, sie braucht Bildungsarbeit, um die Geschichte, den Terror und die Schrecken auch der kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden für die junge Generation zu erschließen.
Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen leistet seit ihrer Gründung einen hervorragenden Job. Lieber Herr Jahn, es ist gut, dass Sie heute hier im Hohen Hause anwesend sind. Ihnen, Ihren Vorgängern und Ihren Mitarbeitern unseren allerherzlichsten Dank für die geleistete Arbeit!
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Auch beim Bundesarchiv, lieber Herr Hollmann, wird es große Herausforderungen im Umgang mit den Stasiunterlagen geben: ob bei der Lagerung, der Einsichtnahme, der Bearbeitungszeit, der Forschung, der Außendarstellung oder bei der offenen Frage, wie lange die Säcke voller Schnipsel noch warten müssen, bis sie voll erschlossen sind.
Nach den vergangenen 23 Tagen bin ich mir umso mehr sicher, dass die Überführung der Stasiunterlagen unter das Dach des Bundesarchivs der richtige Schritt für diese besonderen historischen Vermächtnisse ist, gerade auch bei der unverzichtbaren Überführung ins digitale Zeitalter.
Die Digitalisierung und die elektronische Akte können die Standorte entlasten, Einsichtnahmen vereinfachen und Bearbeitungszeiten verkürzen. Wir müssen aber sehr sensibel mit den Daten der Opfer umgehen. Opfer dürfen nicht ein zweites Mal zu Opfern werden, wenn ihr persönlicher Schmerz und ihr persönliches Leid zu vorschnell preisgegeben werden. Die Digitalisierung demokratisiert nicht nur unseren Zugang zur Vergangenheit, sie ermöglicht auch, das lokale Papierarchiv zu einem globalen Informationsspeicher zu machen. Aufarbeitung, Wissen, Forschung und Archivwesen werden von diesem Know-how-Transfer wesentlich profitieren. Profitieren werden auch die im Gesetzentwurf konkret benannten Standorte.
Nutzen wir die hier erreichte Klarheit, um die Weichen für die Neuausrichtung und Zukunftsfähigkeit der Standorte zu stellen. Suchen wir den frühzeitigen Dialog mit der Zivilgesellschaft vor Ort, um historische Orte als solche zu begreifen und diese für die Bildungsarbeit der Zukunft weiterzuentwickeln. Der neue Campus für Demokratie in Berlin und die Pläne für Leipzig, die Hauptstadt der Friedlichen Revolution, zeigen den richtigen Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns heute die dauerhafte Sicherung der Stasiunterlagen angehen, stellen wir den Opfern einen Opferbeauftragten an die Seite, und lassen Sie uns nie vergessen, welche Kraft die DDR letztendlich überwunden hat: die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Hacker. – Einen schönen – für „guten Morgen“ ist es schon zu spät – guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir! Einen guten Tag nach dem gestrigen Tag.
Ich möchte das, was Herr Hacker schon getan hat, ein bisschen erweitern; ich möchte nämlich die Gäste hier recht herzlich begrüßen:
Ich begrüße im Namen des Parlaments ganz herzlich Roland Jahn, den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Ich begrüße recht herzlich Dr. Michael Hollmann, den Präsidenten des Bundesarchivs. Ich begrüße die Vizepräsidentin des Bundesarchivs, Dr. Andrea Hänger, sowie Frau Alexandra Titze, die Direktorin beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Ich begrüße Wolfram Sello, den Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Und ich begrüße Herrn Niels Schwiderski, Leiter des Leitungsbüros. Ich begrüße Sie von Herzen! Sie sind uns sehr willkommene Gäste!
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Simone Barrientos.
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Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als wir im Mai 2019 im Ausschuss für Kultur und Medien mit dem Präsidenten des Bundesarchivs, Dr. Michael Hollmann, mit dem Bundesbeauftragten der Stasiunterlagen der ehemaligen DDR, Roland Jahn, und mit dem Vorsitzenden des Beirats beim BStU, Jörn Mothes, über das Konzept zur Eingliederung der Stasiakten ins Bundesarchiv diskutierten, betonte Dr. Hollmann – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –: Genau dorthin gehören sie angesichts ihrer historischen Bedeutung und des Willens des Gesetzgebers. – Jörn Mothes unterstrich, dass es nicht darum ginge, einen Schlussstrich zu ziehen, sondern es ginge um die Herstellung von Normalität. Roland Jahn sprach von einer Brücke in die Zukunft. Und genau um das alles geht es.
Meine Fraktion begrüßt die Eingliederung der Akten ins Bundesarchiv.
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Die Sorge, dass der Zugang zu den Stasiakten für Betroffene, also für Bespitzelte usw., erschwert werden könnte, ist ausgeräumt. Ich habe daran übrigens auch ein persönliches Interesse: Ich habe im letzten Jahr erst meine Stasiakte beantragt. Da bin ich geführt als: subversiv-dekadente Jugendliche mit Hang zum Pazifismus. – Nichts, wofür man sich schämen muss, finde ich.
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In Zukunft wird der Zugang vielleicht sogar noch besser; denn wer einmal mit dem Bundesarchiv zusammengearbeitet hat, der weiß, wie professionell, unaufgeregt, sachlich im besten Sinne und wie verantwortungsvoll das Archiv mit seinen Akten umgeht.
Wir schließen heute einen langen Diskussionsprozess ab. Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei all meinen demokratischen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für die guten Diskussionen bedanken. Wir diskutierten auf Augenhöhe, wir hörten einander zu, wir taten das mit Respekt. Das ist bei diesem Thema nicht immer selbstverständlich gewesen.
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– Ich sprach von den demokratischen Fraktionen. – Das ist bei diesem Thema, wie gesagt, nicht immer selbstverständlich gewesen. Ich bin gespannt, ob diese Debatte so bleibt; ich fände das toll.
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Der Diskussionsprozess ist also abgeschlossen. Aber – so Dr. Hollmann ganz richtig in der öffentlichen Anhörung vor zwei Wochen – wir stehen eigentlich am Beginn. Der Transformationsprozess wird intensive Begleitung brauchen. Viele Bedarfe werden erst bei der Arbeit sichtbar werden.
Immer wieder betonte ich, dass wir die gesamtdeutsche Geschichte erzählen müssen; auch das war im Ausschuss oft Thema. Denn die DDR existierte eben nicht im luftleeren Raum.
Und noch was ist wichtig: Die Fokussierung auf Täter und Opfer, auf Stasi und SED ist hinderlich, wenn man die DDR verstehen möchte. Wer verstehen möchte, muss sich den Alltag anschauen; der muss wissen wollen, wie wir gelebt und geliebt haben; der muss auch um die kleinen Widerstände wissen; der muss begreifen wollen, welche Freiräume wir uns erkämpft haben. Denn viele, die heute gemeint sind, wenn man von Opfern spricht, würden sich selbst nicht als Opfer bezeichnen, eher als Opposition, als Betroffene, als Gegner, als Verfolgte, als progressiv oder einfach als renitent.
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Es gibt viele, viele Facetten, die anzuerkennen sind.
Ich glaube, dass dieser Archivstandort zur Geschichte der DDR, der jetzt entstehen wird und eben nicht nur die Akten von Stasi und SED, sondern auch Verwaltungsakten, Nachlässe, das Archiv der DDR-Opposition und auch die Akten der Stasiunterlagenbehörde, der Aufarbeitung also, enthalten wird, dabei helfen wird, einen größeren, einen weiteren Blick auf die Sache zu bekommen. All diese Akten werden gleichberechtigt nebeneinanderstehen unter einem neutralen Titel, und das ist gut und richtig. Wie gesagt: Es weitet den Blick.
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Leider lässt der Gesetzentwurf offen, wie die Forschung zur DDR insgesamt in der Zukunft unterstützt und ermöglicht werden soll. In § 32 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird Forschung nach wie vor auf Stasi und SED verengt. Es wäre ein Leichtes gewesen, hier eine andere Formulierung zu finden, die klarmacht, dass es um mehr geht und gehen muss. Wichtig wäre uns, dass nicht nur Projekte gefördert werden, sondern dass die Forschung verstetigt wird. Ein Lehrstuhl wäre eine super Möglichkeit – natürlich in den neuen Ländern, am besten eine Frau, und zwar eine aus dem Osten.
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Dass es in Zukunft einen Opferbeauftragten oder eine Opferbeauftragte geben soll, ist prinzipiell richtig. Allerdings ist der Begriff natürlich missverständlich; denn um die Belange der Betroffenen kümmern sich ja die Beauftragten in den Ländern. Die machen eine gute Arbeit. Es handelt sich ja eigentlich um eine Koordinierungsstelle, die den Belangen der Opfer in diesem Hause Geltung verschaffen soll, die die Länder und die Verbände bei ihrer Arbeit unterstützen soll. Eine Ombudsstelle wäre vielleicht doch besser gewesen; denn so besteht, glaube ich, die Gefahr, dass der oder die Opferbeauftragte falsche Erwartungen weckt. Aber in der Sache finden wir das richtig.
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Eine große Leerstelle ist die Kostenfrage. Der Gesetzentwurf tut so, als wäre die Eingliederung der Akten kostenneutral. Es kommen aber Aufgaben auf das Bundesarchiv zu, die ohne Mittelerhöhung nicht zu schaffen sein werden. Noch immer sind Schnipsel nicht zusammengesetzt, die Akten müssen konserviert werden, die Digitalisierung wird eine Mammutaufgabe, Baumaßnahmen werden nötig sein. Man kann sich um die Kostenfrage nicht drücken.
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Wir haben keinen Grund gefunden – und das finde ich wirklich gut –, gegen diesen Antrag zu sein. Wegen der Leerstellen – Kosten, Forschung usw. – wird sich meine Fraktion enthalten. In der Sache aber stimmen wir Ihnen grundsätzlich zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Simone Barrientos. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Monika Lazar.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! Liebe weitere Gäste auf der Tribüne! Nach langen Beratungen sind wir nun endlich an dem Punkt, das Gesetz zu verabschieden. Zuerst möchte ich mich für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken, die gezeigt hat, dass uns das Thema wirklich am Herzen liegt. Besonders möchte ich mich bei Katrin Budde von der SPD-Fraktion bedanken. Ebenso herzlichen Dank an die Sachverständigen der Anhörung von vor zwei Wochen, von deren Empfehlungen wir noch einige Aspekte mit in den Änderungsantrag aufnehmen konnten.
Die Stasiakten haben mittlerweile eine bewegte Geschichte; einiges wurde hier ja schon vorgetragen. Vor über 31 Jahren sorgte die Friedliche Revolution für das Ende der SED-Diktatur. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stasi mussten nun fürchten, für ihre Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. Deshalb begannen sie bereits im November 1989 mit der Vernichtung der Akten. Erst die Besetzung der Stasizentrale und der Standorte der Kreis- und Bezirksverwaltungen stoppte das.
Nur dem Mut der Entschlossenheit der Besetzerinnen und Besetzer, der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler ist es zu verdanken, dass wir heute überhaupt über den Umgang mit den Unterlagen diskutieren können. Denn – Katrin Budde hat es ausgeführt – die Besetzungen bedeuteten eben nicht das Ende des Streits über den Umgang mit den Akten. Erst nach langen Auseinandersetzungen entschloss man sich, die Stasiunterlagenbehörde zu schaffen. Damit konnten die überwachten und verfolgten Menschen Einblick in ihre Akten nehmen. So kam das Ausmaß der paranoiden Überwachung der Gesellschaft endlich ans Licht. Es war und ist richtig und unerlässlich, den Betroffenen wenigstens im Nachhinein die Möglichkeit zur Einsichtnahme zu geben.
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Was wir auch gehört haben, ist, dass es unwürdig wäre, die Akten wie normale Akten zu behandeln. Deshalb hat das Stasi-Unterlagen-Archiv wirklich wichtige Arbeit geleistet, die hier ausdrücklich gewürdigt werden soll.
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Nur durch den Erhalt der Außenstellen mit und ohne Archiv kann nun die Beratungs- und Auskunftsarbeit weiter gewährleistet werden. Durch die Festschreibung der Außenstellen im Gesetz bleiben die Entscheidungen über die Existenz und die Struktur in der Hand des Bundestages, was sehr wichtig ist.
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In Anbetracht der historischen und gesellschaftlichen Relevanz der Akten wäre eine andere Regelung auch nicht tragbar. Besonders freut es mich, dass mit Cottbus auch eine neue Auskunfts- und Beratungsstelle in Brandenburg hinzukommt. Dafür haben sich insbesondere die Brandenburgerinnen und Brandenburger sehr lange eingesetzt.
Das Recht zur Einsicht in die eigene Akte soll weiterhin so niedrigschwellig wie möglich wahrzunehmen sein. Deshalb ist die Anzahl der Außenstellen sehr wichtig. Als Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist uns besonders wichtig, dass die Bildungsarbeit abgesichert bleibt. Und die Außenstellen haben sich zu wertvollen Partnerinnen und Partnern der regionalen Aufarbeitungsinitiativen entwickelt und werden nun mit dem Gesetz auf eine neue Grundlage gestellt.
Aber wir dürfen uns auch keinen Illusionen hingeben: Der Prozess des Übergangs wird weder schnell noch problemlos erfolgen. Von daher ist eine Begleitung des Prozesses nötig. Im Gesetz ist deshalb auch ein Beratungsgremium vorgesehen. In der Anhörung wurde von fast allen Sachverständigen der Wunsch geäußert, dass das Beratungsgremium länger als fünf Jahre arbeiten kann. Durch den vorliegenden Änderungsantrag wird nun die Möglichkeit eröffnet, bei Bedarf das Beratungsgremium länger arbeiten zu lassen, was ich sehr wichtig und gut finde.
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Auch das Amt der oder des Opferbeauftragten ist sinnvoll und wichtig. Als die Rehabilitierungsgesetze im letzten Jahr reformiert wurden, ist deutlich geworden, wie wichtig und nötig die angemessene Anerkennung und Unterstützung der Opfer der SED-Diktatur ist. Ich hoffe sehr, dass der oder die zukünftige Opferbeauftragte das Thema im Bundestag immer wieder auf die Tagesordnung setzen wird. Denn klar ist: Der Bundestag wird sich auch in den nächsten Jahren mit dem Thema weiter befassen und befassen müssen. Es ist nämlich wichtig, dass nicht nur wir einen Ansprechpartner haben, sondern vor allem die Betroffenen, die Opfer, die Verfolgten. Vor allem dafür ist die Stelle da, und sie muss gut ausgestattet sein.
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Nun bleibt abzuwarten, wie die Integration der BStU-Behörde in das Bundesarchiv ablaufen wird und wie das Amt des Opferbeauftragten ausgefüllt wird. Wir sollten keine Angst haben, bei Bedarf nachzujustieren.
Abschließend möchte auch ich Roland Jahn, dem derzeitigen Bundesbeauftragten, und den vorherigen Beauftragten Marianne Birthler und Joachim Gauck für ihre Arbeit ganz herzlich danken.
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Auch möchte ich den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde für ihre bisherige und für ihre zukünftige Arbeit danken. Ohne deren Tätigkeit wäre die Aufarbeitung so nicht möglich gewesen. Ohne die mutigen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, ohne die Menschen, die später die Offenlegung des SED-Unrechts vorangetrieben haben, wäre die Forderung „Meine Akte gehört mir“ nur eine hohle Phrase gewesen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Monika Lazar. – Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Gitta Connemann.
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Frau Präsidentin! Was macht Deutschland aus? Seine Sprache? Seine Kultur? Seine Traditionen? Alles. All dies ist das Ergebnis einer Entwicklung der Geschichte – unserer Geschichte. Deshalb ist es notwendig, sie zu kennen. Aus diesem Grund haben wir in Deutschland unser Bundesarchiv, unser nationales Gedächtnis. In diesem lagern die Akten der Weimarer Republik, des Dritten Reichs und der Bundesrepublik Deutschland – bislang. Zwischen diesen Aktendeckeln liegt die Geschichte unseres Landes und seiner Menschen. Deshalb müssen wir die Unterlagen der Staatssicherheit dauerhaft in das Bundesarchiv eingliedern; denn es ist unser einzigartiges Erbe.
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Meine Damen und Herren, 2020 wird als Coronajahr in die Geschichte eingehen. Aber 2020 ist auch das Jahr, in dem wir 30 Jahre deutsche Einheit feiern durften. Aus zwei wurde damals eins – nach vier Jahrzehnten bitterer Teilung, nach Jahrzehnten SED-Unrechtsstaat, nach Jahrzehnten Terror und Bespitzelung.
Es ist die Geschichte von Tätern, Mitläufern und Opfern – penibel festgehalten von der Stasi. Der Umfang der Spitzelakten beläuft sich auf 111 Kilometer. 111 000 Meter Geschichten über Folter, Verrat, gebrochene Biografien, Angst, Verzweiflung und Unfreiheit. Diese Akten wurden vor der Vernichtung gerettet – übrigens von Bürgerinnen und Bürgern, von mutigen Bürgerinnen und Bürgern in den Tagen der Friedlichen Revolution. Sie haben diese Akten damals für uns alle erstritten, und deshalb sind sie ein Eigentum von uns allen und gehören auch in besonderer Weise behandelt.
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Heute stellen wir die Weichen für die dauerhafte Sicherung dieser Stasiakten. Sie werden in das Bundesarchiv überführt. Wenn die AfD dies als Beerdigung bezeichnet, kann dies eigentlich nur drei Gründe haben: Ignoranz, Unwissenheit oder Dummheit.
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Die Stasiunterlagen werden nämlich mit dieser Überführung Teil unseres nationalen Gedächtnisses.
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Wir ziehen eben keinen Schlussstrich, so wie es die AfD an vielen Stellen so gerne möchte.
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Denn wir wissen: Wir brauchen diese Archive, weil sie Antworten ermöglichen, jetzt und in Zukunft. Wir brauchen diese Archive, weil die Aufarbeitung von Unrecht kein Verfallsdatum haben darf. Geschichte kennt keine Schlussstriche. Das gilt für den Terror des Nationalsozialismus ebenso wie für die SED-Diktatur.
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Wieso brauchen wir diese Archive? Und ich spreche von Archiven; denn das Stasi-Unterlagen-Archiv bleibt eigenständig im Bundesarchiv. Vielleicht sollte man auch dies zur Kenntnis nehmen. Wir brauchen sie, weil der forschende Blick in die Unfreiheit unseren Blick für Freiheit und Demokratie schärft. Und genau diese beiden Werte gilt es zu schützen; denn Geschichtsvergessenheit, Verharmlosung oder Schönfärberei sind brandgefährlich.
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Diese gab es übrigens auch im Westen. 1984 wollte die damalige Opposition die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter schließen, jenen Ort, an dem unter anderem Beweise von politischer Verfolgung, Verschleppung und Tötung in der DDR gesammelt und dokumentiert wurden. Am Ende wurde Salzgitter nicht geschlossen. Bundeskanzler Kohl und die Union verhinderten das. So wurden wichtige Dokumente zum Beispiel über die Mauerschützen gesichert, die später in den entsprechenden Prozessen eine Rolle spielten; und den Widerstands- und Freiheitskämpfern in der DDR wurde damit das Signal gegeben: Ihr werdet nicht vergessen!
Meine Damen und Herren, heute stellen wir die Weichen für die dauerhafte Sicherung der Stasiunterlagen. Dies tun wir mit Augenmaß; denn wir schreiben das Stasi-Unterlagen-Gesetz fort. Damit ist der bewährte Zugang zu den Akten weiterhin möglich: für Bürger, Medien und Wissenschaft. Diese Akteneinsicht ist weltweit einmalig. Jeder und jede kann in Deutschland nachlesen, welches Unrecht die Stasi ihm bzw. ihr angetan hat. Hinter jeder Akte stehen Schicksale, in erster Linie das der Opfer, aber in gewisser Weise auch das derer, die zu Tätern wurden. In Zukunft wird die Akteneinsicht auch digital und an den westdeutschen Standorten des Bundesarchivs möglich sein. Das ist ein ganz wichtiger Schritt nach vorn; denn die Staatssicherheit wirkte wie eine Krake in die Bundesrepublik hinein. Das dürfen wir nie vergessen.
Hinter uns liegen Jahre intensiver Debatte, und ich danke dafür im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Opferverbänden, unserer Beauftragten für Kultur und Medien Monika Grütters und ihrem Haus, den Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, dem Bundesarchiv und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BStU sowie allen Abgeordneten, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben. Dieser wird von der Mitte des Hauses getragen, von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.
Der Dank der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt aber heute besonders dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit. Lieber Roland Jahn, dieses Gesetz ist vor allem auch dein Verdienst. Durch deinen Einsatz ist das Stasi-Unterlagen-Archiv nicht mehr nur ein Monument des Überwachungsstaates. Es ist eine Errungenschaft der deutschen Einheit geworden.
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Dir ist es nach 20 Jahren der Auseinandersetzung gelungen, mit den ostdeutschen Ländern eine gemeinsame Lösung für die zukünftige Struktur der regionalen Standorte zu finden.
Aus Archiven werden auch außerschulische Lernorte. Damit wird die Brücke zu jüngeren Generationen geschlagen, und so wird auch ihr Bewusstsein für den Wert von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten gestärkt. Das, lieber Roland, war dir besonders wichtig. Viele Menschen, die unter der SED-Diktatur gelitten haben, hatten Vorbehalte, manchmal auch Angst vor dieser Veränderung. Meine Damen und Herren, Roland Jahn hat persönlich bei den Opfern und ihren Verbänden für Vertrauen in unser Vorgehen geworben. – Dafür danke ich dir aufrichtig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, im nächsten Jahr scheidet Roland Jahn aus. Aber er hat mit dafür gesorgt, dass es übrigens zwei neue Ansprechpartner geben wird. Neben der Vizepräsidentin oder dem Vizepräsidenten beim Bundesarchiv ist dies eben auch der oder die Opferbeauftragte. So werden die Opfer der DDR-SED-Diktatur weiterhin auf Bundesebene einen Fürsprecher mit einer besonderen Rechtsstellung haben; denn der Opferbeauftragte wird beim Deutschen Bundestag verankert sein. Als Anwalt wird er das Anliegen der Opfer der kommunistischen Diktatur gegenüber Parlament, Regierung und Bundesbehörden vertreten. Und deshalb war es uns so wichtig, dass es diese starke Stimme der Opfer gibt und diese ein Einsichtsrecht haben und auf die Stasiunterlagen zugreifen können.
Frau Kollegin.
Denn diese Dokumentation, was die Opfer erlitten haben, gehört zu unserem historischen Gedächtnis und formuliert einen Auftrag an uns alle: Wir dürfen ein solches Unrecht nie wieder zulassen. Das sind wir den Opfern schuldig.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gitta Connemann. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren befreiten sich die Menschen in der DDR von der SED-Diktatur und damit auch von deren Geheimpolizei. Welch ein Novum es in der deutschen Geschichte war, dass dies friedlich und erfolgreich verlief und dass die Akten der Geheimpolizei unmittelbar nach dem Sturz der Diktatur zugänglich wurden, das hat Frau Kollegin Budde eben schon ausführlicher erwähnt. Die demokratische Antwort auf die Revolutionslosung „Meine Akte gehört mir!“ war die Einrichtung des Bundesbeauftragten und seiner Behörde.
Die durch systematische Bespitzelung, durch Erpressung und Verrat zusammengetragenen Stasiunterlagen sind gesellschaftliches Gift und Aufarbeitungsmedizin zugleich. Diese Unterlagen sind ein besonderes Archivgut. Und darin liegt auch zukünftig ihre besondere Bedeutung, die sie von anderem Archivgut des Bundes unterscheiden wird. Das erfordert einen sensiblen Umgang damit; denn rechtsstaatswidrig erlangte Informationen bedürfen auch der richtigen Interpretation, Einordnung, wissenschaftlichen Aufarbeitung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wissen ist Macht. Das wusste die Diktatur, das wussten ihre Täter und Schergen, das wussten aber auch die Bürgerinnen und Bürger in der DDR, und genau deshalb haben sie sich den Zugang zu den Akten erkämpft. Es geht dabei um nicht weniger als um Wissen und Deutungsmacht über individuelle Biografien einerseits und über historische Sachverhalte und gesellschaftliche Entwicklungen andererseits.
Wie wären etwa manche Debatten in der Bonner Republik verlaufen, wenn man damals schon gewusst hätte, dass der Mörder des Studenten Benno Ohnesorg Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war? Mindestens dieser Sachverhalt müsste doch jedem vor Augen führen, wie sehr dieses Anliegen jetzt auch eines unserer gesamten Nation sein muss.
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Gerade jungen Menschen können die Informationen, die in den Akten enthalten sind, einen wichtigen Teil politischer Bildung vermitteln. Ich erinnere da gern an den Band von Reiner Kunze „Die wunderbaren Jahre“. Die waren oft gar nicht so wunderbar für junge Menschen in der Diktatur, und da, wo sie es waren, waren sie es trotz und nicht wegen der SED-Diktatur.
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Diktatur, das war so viel mehr als die Abwesenheit freier Wahlen, was allein schon schlimm wäre. Diktatur greift tief in das Leben von Menschen ein. Und deshalb ist die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte übrigens ganz besonders geeignet, den Wert eines handlungsfähigen, aber sich in seinen Aufgaben und durch Gesetze und Rechtsschutz auch selbst beschränkenden Staates noch einmal deutlich zu machen. Diese Wertschätzung kann in Zeiten, in denen der Staat eine starke Rolle spielt, schon mal verloren gehen.
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Ich möchte noch kurz sagen: Als Brandenburgerin ist mir auch sehr wichtig, heute feststellen zu können, dass sich der Bund aus diesem wichtigen Bildungsauftrag nicht zurückzieht und dass gerade in Brandenburg, wo es seit elf Jahren nur eine einzige Außenstelle gab, die diesen Auftrag wahrzunehmen hatte, nun auch in Cottbus eine weitere folgt. Das ist richtig und wichtig.
Die Auseinandersetzung mit dieser SED-Diktatur ist nicht allein ein Projekt der Ostdeutschen, auch kein durch die Westdeutschen aufoktroyiertes, sie ist unser Auftrag für ein gemeinsames Gedächtnis. Wir brauchen die ostdeutschen Erfahrungen für einen gemeinsamen, gesamtdeutschen antitotalitären Konsens.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Linda Teuteberg. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Martin Rabanus.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fand, es war bisher eine wirklich gute Debatte. Sie zeigt auch den breiten Konsens über die Notwendigkeit, die Stasiunterlagen dauerhaft zu sichern und als das anzusehen, was sie nun einmal sind, nämlich ein wesentlicher Teil unseres deutschen historischen Gedächtnisses, nicht des ostdeutschen, sondern des gesamtdeutschen historischen Gedächtnisses. Das ist mir wichtig.
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Ich will einmal ein Beispiel aus der eigenen Parteigeschichte nennen. So ist in einer Analyse des Ministeriums für Staatssicherheit über die Tätigkeit und den Einfluss der SPD und des SPD-Ostbüros aus dem Jahre 1956 Folgendes zu lesen:
Die Tätigkeit der SPD und ihrer Verbrecherzentrale des SPD-Ostbüros ist darauf gerichtet, insbesondere die Parteiorganisationen der SED als der führenden und leitenden Partei in der Deutschen Demokratischen Republik zu zersetzen und darüber hinaus durch Sabotage, Diversion und Schädlingstätigkeit die ökonomische Basis der DDR zu untergraben.
In der Folge dieser Bespitzelung sind schätzungsweise 800 bis 1 000 Mitglieder der Sozialdemokratie inhaftiert und verfolgt worden. So ganz genau wissen wir das – in Klammern: noch – nicht. Aber was wir wissen, wissen wir aus den Unterlagen der Stasiunterlagenbehörde. Und was wir noch nicht wissen, wollen wir auch in Zukunft erforschen können. Deswegen ist es so wichtig, dass das ein gesamtdeutsches Projekt ist, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich bin auch sehr froh, für meine Fraktion noch einmal betonen zu können, wie gut es ist, dass wir dieses Gesetzespaket zur Eingliederung der Unterlagen in das Bundesarchiv und zur Zugänglichmachung dieser Unterlagen in Ost und West als gesamtdeutsches Projekt mit der Möglichkeit, diese Unterlagen auch in Bayreuth, Herr Kollege Hacker, oder an einem anderen Ort einsehen zu können, jetzt mit einer breiten Basis verabschieden können. Denn das entspricht ja auch der Lebensrealität nach 30 Jahren wiedervereinigtem Deutschland. Viele aus den fünf Bundesländern im Osten sind in den Westen gezogen, aber genauso ist es auch umgekehrt; so wie das eben in einem gemeinsamen Staat ist. Es ist gut, dass wir diesen Austausch und dadurch die Möglichkeit haben, diesen Teil unserer Geschichte einfach überall nachzuvollziehen.
Es ist auch richtig und gut, einen Bundesbeauftragten, einen Opferbeauftragten zu haben, der bei nicht weniger als dem Bundestag angesiedelt ist, um dadurch deutlich zu machen, dass wir eine gesamtdeutsche parlamentarische Verantwortung empfinden. Das ist hinreichend ausgeführt worden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, 31 Jahre nach der Friedlichen Revolution und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wird die deutsche Einheit – Frau Staatsministerin Grütters hat das gesagt – auch in diesem Bereich sozusagen vollzogen. Das finde ich sehr gut.
Ich darf mich noch einmal bei allen ganz herzlich bedanken, die daran mitgewirkt haben: bei den Kolleginnen und Kollegen, die die Federführung in der Koalition hatten, bei Frau Kollegin Elisabeth Motschmann, bei meiner Kollegin Katrin Budde, aber auch bei den anderen Fraktionen, die, wie ich finde, in wirklich hervorragender Weise konstruktiv zu dieser Zusammenarbeit beigetragen haben. Ganz herzlichen Dank!
Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetz.
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Vielen Dank, Martin Rabanus. – Zum Schluss dieser bemerkenswerten Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Christoph Bernstiel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Am Ende dieser Debatte kann man eigentlich nur noch zusammenfassen, dass bereits viel Wichtiges und viel Richtiges gesagt wurde. Diese drei Gesetze, die wir heute ändern bzw. auf den Weg bringen werden, sind gute Gesetze. Es wurde auch schon gesagt, dass es mitnichten so ist, dass wir jetzt einen Schlussstrich ziehen. Ganz im Gegenteil: Wir werten das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen sogar auf zum Opferbeauftragten. Wir machen damit das, was eigentlich folgerichtig ist. Das, was Roland Jahn schon längst getan hat und in den Augen vieler Opferverbände auch weiterhin tun sollte, setzen wir jetzt mit der neuen Position des Opferbeauftragten um.
Dank wurde auch schon viel ausgesprochen, natürlich auch an Roland Jahn gerichtet. Es wurde auch den Parteien in der Mitte dieses Parlaments gedankt, die diese Gesetze heute mittragen. Noch nicht ausdrücklich gedankt wurde – das möchte ich gerne nachholen – Monika Grütters und ihrem Team; denn wir hatten eine außerordentlich gute Zusammenarbeit mit der Bundesregierung. An dieser Stelle dafür ein herzliches Dankeschön.
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An der Stelle möchte ich auch vielen Menschen, die diese Debatte vielleicht verfolgen, ein paar Sorgen nehmen. Es wurde schon gesagt: Es wird kein Schlussstrich gezogen. Und es wird in Zukunft auch nicht schwieriger, es wird einfacher sein, die jeweilige Stasiakte einzusehen, nämlich an mehreren Standorten – meine Kollegin hat es bereits gesagt – und auch digital. Insofern kommt es durch dieses Gesetz zu Verbesserungen.
Wir haben außerdem in dieses Gesetz die jeweiligen Archivstandorte in den einzelnen Bundesländern hineingeschrieben, die sogar noch aufgewertet werden, indem sie künftig in die Gedenkstättenkonzeption eingebunden werden. Ich freue mich natürlich sehr, dass in meinem Wahlkreis Halle an der Saale zukünftig auch eine Außenstelle sein wird.
Wo Licht ist, da ist bekanntlich auch Schatten. Ich möchte meine verbliebene Redezeit dazu nutzen, zwei Punkte anzusprechen, die mir nach wie vor etwas Sorge bereiten. Ein Punkt sind die ungefähr 111 Kilometer zerrissene Akten, die die Staatssicherheit zurückgelassen hat; zerrissene Akten, nicht zerstörte Akten. Das bedeutet, wir sind in der Lage, diese Akten zu rekonstruieren. Von 16 000 Säcken, die im Wahlkreis meines Kollegen Tino Sorge in Magdeburg lagern, haben wir erst 520 Säcke rekonstruiert. Es ist uns auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution nicht gelungen, diesen wichtigen Teil der DDR-Geschichte zu rekonstruieren. Ungefähr 40 bis 55 Millionen Seiten – niemand weiß das so genau – warten darauf, erschlossen zu werden. Deshalb haben wir diesen Punkt mit in dieses Gesetz hineingeschrieben, weil wir eben keinen Schlussstrich ziehen wollen, weil wir zeigen wollen, dass wir dieses Erbe nach wie vor sehr ernst nehmen und auch herausfinden wollen, welche Untaten, auch gegenüber der SPD, sich in diesen Akten noch verstecken. Und deshalb ist es richtig, dass wir das auch im Gesetz formuliert haben, meine Damen und Herren.
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Und dann gibt es wirklich eine Kröte in diesem Gesetzentwurf. Ich möchte einmal aus ihm zitieren, es heißt darin:
Die oder der Opferbeauftragte hat die Aufgabe: … zur Würdigung der Opfer des Kommunismus in Deutschland beitragen …
Meine Damen und Herren, wer mich kennt und wer die Arbeit der Union kennt, der weiß, dass wir uns gewünscht hätten, dass dort steht: den Opfern des Sozialismus. Das wäre korrekt gewesen. Das wäre historisch korrekt gewesen, das wäre auch politikwissenschaftlich korrekt gewesen. Aber leider ist es so, dass manch einer in diesem Haus der Idee des Sozialismus nach wie vor etwas Gutes abgewinnen kann. So heißt es zum Beispiel in einem Tweet der SPD-Parteivorsitzenden am 18. Januar 2018 – ich zitiere, mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.
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Meine Damen und Herren, Sie entlarven sich selbst. Im Namen des Sozialismus wurden mehrere Millionen Menschen weltweit ermordet.
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Es gab über mehrere Jahrzehnte auf verschiedenen Kontinenten dieser Erde das Experiment des Sozialismus. Dieses hat immer zu Unterdrückung, Hunger, Umweltverschmutzung und Tyrannei geführt.
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Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen – hören Sie zu –: Es gibt keinen guten Sozialismus.
({5})
Und wer in Anbetracht dieser erdrückenden Faktenlage über mehrere Jahrzehnte hinweg immer noch nicht anerkennen will, dass der Sozialismus nicht gut ist, der hat nur nicht keine Ahnung, der ist sogar gefährlich ignorant.
({6})
In der Mitte des Parlaments fühlen wir uns verantwortlich, dafür zu sorgen, dass so etwas wie ein sozialistisches Experiment nie wieder auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland stattfindet. Dafür müssen wir das historische Erbe dieser SED-Diktatur sichern. Wir müssen die zerrissenen Akten rekonstruieren, und wir müssen den Opfern der SED-Diktatur endlich die Genugtuung verschaffen, die sie verdienen. All das machen wir mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf.
Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke schön, Christoph Bernstiel. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 3. Mai 1904 wurde Lothar von Trotha zum Oberbefehlshaber der deutschen Truppen im damaligen Deutsch-Südwestafrika ernannt, nachdem sich die Ovaherero gegen die rassistische Siedlungspolitik des Deutschen Reiches erhoben hatten. Er sagte ganz offen, was sein Ziel war – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Man müsse die Nation der Herero vernichten. Er sah den Aufstand – Zitat – als Auftakt zu einem Rassenkampf. Er glaubte, dass die Herero nur vor krassem Terrorismus und Grausamkeit zurückweichen würden, und machte das zu seiner Politik. In seinen Worten: eine Politik der Vernichtung mit „Strömen von Blut und Strömen von Geld“.
Von Trothas Worte sind ein erschreckender Einblick in die rassistische, menschenverachtende und brutale Haltung, die der deutschen Kolonialherrschaft zugrunde lag. Diese Haltung mündete zwischen 1904 und 1908 im Völkermord an den Ovaherero und Nama. Tausende von Kindern, Frauen und Männern wurden von deutschen Soldaten erschossen, erschlagen oder mit voller Absicht in die Wüste getrieben, wo sie qualvoll verdursten mussten.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Bystron, AfD?
Nein, diese Fraktion bekommt von mir keine zusätzliche Redezeit in dieser Debatte.
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Nachdem Ovaherero und Nama kapituliert hatten, wurden viele brutal in Lager gesperrt. Die Zustände dort waren katastrophal. Jeder Zweite starb an einer tödlichen Krankheit. Hugo Bofinger, der leitende Arzt in der Kolonie, führte auf der vermeintlichen Suche nach Heilmitteln rücksichtslose und oft tödliche Versuche an Gefangenen durch. Er spritze ihnen Arsen, Opium und andere Substanzen. Viele starben auch hier qualvoll.
All das war bewusste und gewollte Politik des Deutschen Reiches. In deutschem Namen wurde massives Unrecht begangen. Es wurden Menschen unterworfen, Kulturen ausgebeutet und nahezu ausgelöscht.
All das ist Teil unserer Geschichte. Leider gibt es vereinzelt immer noch den Irrglauben, Deutschland sei ja nicht ganz so schlimm gewesen wie andere Kolonialmächte. Das ist absolut falsch und zeigt nur, wie überfällig es ist, dass wir uns all dem endlich stellen und es umfassend aufarbeiten. Die Auseinandersetzung damit braucht einen festen Platz in unseren Schulbüchern und Lehrplänen.
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Meine Damen und Herren, wir werden das Unrecht, das geschehen ist, niemals ungeschehen oder irgendwie wiedergutmachen können. Es ist deshalb umso wichtiger, dass die Bundesregierung sich endlich offiziell für die begangenen Verbrechen entschuldigt und dafür Verantwortung übernimmt, dass wir das Unrecht beim Namen nennen – ja, die Verbrechen an den Ovaherero und Nama, das war ein Völkermord –, dass wir dieser Verantwortung nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten und finanziell gerecht werden. Beides sind nur erste Schritte auf dem Weg zur Aufarbeitung des kolonialen Unrechts. Aber sie müssen die Messlatte für die Bundesregierung sein.
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Ich habe sehr großen Respekt vor Herrn Polenz und seiner wichtigen Arbeit. Aber der Regierungsdialog mit Namibia zieht sich nun schon sehr lange hin. Dieser muss möglichst bald zu einem Ergebnis kommen. Dafür ist es dringend erforderlich, dass das Ergebnis auch auf namibischer Seite breit getragen wird und dass auch die Nachfahren der Opfer hier eine größere Rolle spielen.
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Es war überfällig, dass sich die Koalition 2017 in ihrem Koalitionsvertrag dazu bekannt hat, die Kolonialvergangenheit unseres Landes aufzuarbeiten. Bisher ist leider zu wenig passiert. Den Großteil dieser extrem wichtigen Arbeit tragen Ehrenamtliche aus der Zivilgesellschaft: Sie haben maßgeblich dafür gesorgt, dass sich bei der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit endlich etwas tut. Sie machen aufmerksam auf Straßen, die die Namen von Verbrechern tragen, statt über ihre Verbrechen zu informieren. Sie machen Druck, damit gestohlene Gebeine und geraubte Kunst zurückgegeben werden. Und sie zeigen eindrücklich, welchen Rassismus viele Menschen in unserem Land auch heute noch täglich erdulden müssen. Dafür schulden wir ihnen aufrichtigen Dank.
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Aber wir müssen sie auch endlich unterstützen mit politischem Willen und den notwendigen Ressourcen und dürfen sie mit dieser Arbeit nicht länger alleine lassen. Wenn unsere koloniale Vergangenheit geleugnet und verdreht wird, wenn die schrecklichen Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden, verharmlost werden und ihre Aufarbeitung lächerlich gemacht wird, dann schafft das nur noch mehr Nährboden für Rassismus, für sprachliche und körperliche Gewalt. Jeder Idiot, der sagt: „Schluss mit dem Schuldkult!“, bestärkt mich deshalb nur noch mehr darin, wie dringend notwendig die Aufarbeitung ist.
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Meine Damen und Herren, natürlich ist es keine Aufgabe allein für Deutschland. Auch andere europäische Staaten haben bei der Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit noch einen weiten Weg vor sich. Diese Strukturen wirken sich bis heute auf das ganze internationale System und auch auf die Diplomatie aus. Das muss sich endlich ändern. Wir sehen es bei Handelsabkommen, die Ungerechtigkeiten fortschreiben, statt die Interessen der Länder des Globalen Südens zu berücksichtigen.
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Wir sehen es in der völlig unzureichenden Repräsentanz der Länder des Globalen Südens im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Und es zeigt sich leider auch, wenn der offizielle Afrikabeauftragte der Bundesregierung sagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –, die europäische Herrschaft in Afrika habe „dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen“.
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Solche Aussagen stellen nicht nur die richtigen Bemühungen der Bundesregierung infrage, die Kolonialverbrechen ernst zu nehmen und aufzuarbeiten, sondern sie sind schlicht völlig inakzeptabel und geschichtsvergessen.
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Aus den Verbrechen der Kolonialzeit erwächst eine besondere Verantwortung für unser Handeln heute. Das darf nicht länger nebensächlich sein, das muss einen wichtigen Stellenwert auch in der deutschen Außenpolitik erhalten. Ja, wir stehen am Anfang der Aufarbeitung, aber es tut sich endlich etwas. Wir wissen, wie viele Menschen sich in der antirassistischen Arbeit engagieren, wie viele die Black-Lives-Matter-Bewegung unterstützen, nicht nur in den USA, auch hier bei uns.
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Auch wenn sich das Leid nicht wiedergutmachen lässt, haben wir doch eine Pflicht und Verantwortung gegenüber den Opfern, eine Pflicht, das Schicksal der Opfer sichtbar zu machen und jeden Tag daran zu arbeiten, Ungerechtigkeiten im Heute zu beseitigen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Markus Koob.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, es ist wahr, es hat viele Jahre gedauert, bis Deutschland sich nach der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte um SED- und Nazi-Diktatur nun verstärkt auch seiner Kolonialgeschichte zugewendet hat. Aber Deutschland steht zu seiner Geschichte und trägt selbstverständlich die historische Verantwortung für Unrecht in seinen ehemaligen Kolonien. Diese auch im deutschen Namen begangenen Kolonialverbrechen wurden von uns allzu lange verdrängt und sowohl gesellschaftlich als auch politisch nicht aufgearbeitet.
Mittlerweile gehört der Wille zur Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte aber zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland – mit Ausnahme der im wahrsten Sinne des Wortes rechten Seite dieses Hauses. Auch deshalb hat die Große Koalition durch die Staatsministerinnen Grütters und Müntefering in dieser Wahlperiode mehrfach betont, dass die Aufarbeitung des Kolonialismus Deutschlands einen hohen Stellenwert besitzt. Schon im Koalitionsvertrag wurde festgehalten, dass die Koalition die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika verstärken und einen eigenen Kulturaustausch befördern möchte. Dazu gehören insbesondere die Aufarbeitung des Kolonialismus sowie der Aufbau von Museen und Kultureinrichtungen in Afrika.
Wie aber die gründliche Aufarbeitung anderen Unrechts, das von Deutschland in Europa begangen wurde, ist auch die Aufarbeitung kolonialen Unrechts keine Sache von Tagen und Wochen, sondern von Jahren und von Jahrzehnten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist überaus komplex. Die Fragen zum Umgang mit Kulturgütern sind nicht so einfach zu beantworten, wie sich das viele vorstellen. Es beginnt schon damit, dass nahezu in jedem Fall ein komplexes Geflecht aus Stammesnachfahren, heutigen staatlichen Repräsentanten, Privatpersonen oder weiteren Ansprechpartnern vorhanden ist, sodass oft noch nicht einmal klar ist, an wen das Kulturgut überhaupt zurückgegeben werden könnte. Da haben wir noch nicht einmal von der Klärung der Umstände gesprochen, wie das jeweilige Kulturgut vor 130 Jahren eigentlich nach Deutschland gekommen ist. Bei diesem auch für die internationalen Beziehungen diffizilen, hochbrisanten Thema verbieten sich daher schnelle und pauschale Lösungen, da es um mehr geht als lediglich um ein materiell wertvolles Kulturgut: Es geht um die eigene Identität, um Wunden und Respekt.
Zweifellos muss Deutschland bei der Aufarbeitung weiterhin aktiv bleiben. So muss die Provenienzforschung weiter verstärkt werden; denn wir brauchen Klarheit über die unterschiedlichen Herkunftsgeschichten der Exponate, bevor wir sachgerechte Entscheidungen zum weiteren Umgang mit ihnen treffen können. Schon heute fördert zum Beispiel das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste entsprechende Forschungsprojekte zur Aufarbeitung mit 1,9 Millionen Euro. Auch die betroffenen Museen tun schon viel für die Aufarbeitung. So hat der Deutsche Museumsbund einen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungskunst aus kolonialen Kontexten vorgelegt. Auch die vom Auswärtigen Amt geförderte Museumszusammenarbeit zwischen deutschen und vorwiegend afrikanischen Ländern soll einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Versöhnung leisten. Deutschland ist also auf einem guten Weg.
Bei den vorliegenden Anträgen von AfD und Bündnis 90/Die Grünen zu dieser Frage, die wir heute hier beraten, könnten die Zielrichtungen nicht unterschiedlicher sein. Die AfD faselt von einer differenzierten Betrachtung, die ich aber, wenn es konkret wird, beim besten Willen nicht erkennen kann.
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Stattdessen sprechen Sie von einer – ich zitiere –
Instrumentalisierung musealen Sammlungsgutes zur Erreichung außenpolitischer Ziele, die mit einer ausufernden Schuldrhetorik im Hinblick auf die Kolonialzeit insgesamt orchestriert wird ...
Das ist genauso widerlich wie all das, was Sie auch sonst zu unserer Geschichte verbreiten,
({1})
weshalb ich gar nicht mehr von meiner Rede- und Lebenszeit für Ihren Antrag verschwenden möchte.
Zum Ende meiner Rede möchte ich daher noch auf die von den Grünen angesprochene Gedenkstätte zu sprechen kommen. Natürlich kann man über eine Gedenkstätte grundsätzlich reden. Meines Erachtens ist eine solche Gedenkstätte aber nicht der Beginn der Aufarbeitung, sondern der Endpunkt einer Aufarbeitung oder zumindest ein Zwischenpunkt. So war es beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas oder dem Freiheits- und Einheitsdenkmal. Ein Mahnmal ohne vorherige wissenschaftliche und vor allem gesellschaftliche Aufarbeitung ist ohne jede Funktion, wertlos für die Bevölkerung und ist deshalb in meinen Augen nicht zielführend. Liebe Grüne, Ihr Antrag greift ein sehr wichtiges Thema auf, aber Sie gehen meines Erachtens – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – über das Ziel hinaus.
Der Bund und die Länder sind bereits mit der Umsetzung der notwendigen Aufarbeitung beschäftigt. Dabei unterstützen wir sie als Deutscher Bundestag sehr gerne. Ich hoffe, dass wir hier auch in den nächsten Monaten und Jahren zu guten Ergebnissen kommen werden. Bei Gesprächen gerade auch mit Kolleginnen und Kollegen aus Namibia, die ich in den letzten Jahren geführt habe, hat mich durch die Art und Weise, mit der sie mit dieser Geschichte umgehen, jedes Mal wirklich tiefe Demut erfasst. Ich bin da wirklich sehr guter Dinge, dass wir auch hier eine gemeinsame Lösung finden können.
Vielleicht ist bei dem Thema, wie man hier eine gemeinsame Völkerverständigung erreichen kann, die Frage der Kulturgüter auch nicht allein entscheidend, sondern sind es auch solche Dinge wie zum Beispiel die Entsendung von Parlamentariergruppen, was von Namibia ganz konkret eingefordert wird. Damit könnten wir auch als Deutscher Bundestag vielleicht einen eigenen Beitrag leisten, uns dieser Geschichte und der Verantwortung zu stellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Markus Koob. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Marc Jongen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsere große Schuld“ – das ist die Maxime grün-linker Gedächtnispolitik, wie wir sie heute wieder eindrucksvoll vorgeführt bekommen haben; die Antifa hätte es nicht besser sagen können. Es ist Ihr Verständnis von Geschichte, in der alle deutsche Staatlichkeit und Kultur konsequent auf das Dritte Reich und seine Verbrechen zuläuft;
({0})
„von Schelling zu Hitler“, wie der Stalinist Georg Lukacs schon in den 50er-Jahren schrieb. Über diesen geistigen Horizont sind Sie bis heute nicht hinausgekommen. Sie haben nur geschickt seine hegemoniale Herrschaft ins intellektuell hilflose bürgerliche Lager hinein ausdehnen können; das muss man Ihnen lassen.
({1})
Aber dieses undifferenzierte Schuldnarrativ in Bezug auf die gesamte deutsche Geschichte war damals schon falsch, und es bleibt heute genauso falsch.
({2})
Jetzt haben Sie die deutsche Kolonialzeit für die Erweiterung – wie Sie schreiben – Ihrer schuldbezogenen Gedächtnispolitik entdeckt, quasi als Vorstufe zum Holocaust. Ich zitiere aus Ihrem Antrag: „Diese Verbrechen wird Deutschland niemals ungeschehen oder auch wiedergutmachen können.“
Es geht Ihnen gar nicht um eine Versöhnung am Horizont, um einen Austritt aus dieser problematischen Geschichtsepoche – es geht Ihnen in Wahrheit auch nicht um die Menschen in diesen Ländern –: Sie wollen das kulturelle Erinnern quasi in einer traumatischen Endlosschleife festschreiben, um Ihre politisch interessierte Schuldbewirtschaftung bis in alle Ewigkeit fortführen zu können.
({3})
Originell ist das nicht.
Sie folgen dabei dem internationalen Trend des Postkolonialismus. Die postkoloniale Ideologie ist ein notdürftig wissenschaftlich drapierter Politaktivismus, der seinen Hass auf alles Europäische, Westliche, Weiße – es gibt allen Ernstes auch schon Critical Whiteness Studies – nicht einmal zu verbergen versucht.
({4})
– Hören Sie doch bitte mal zu! – Ich zitiere Frantz Fanon, einen Klassiker des Postkolonialismus
({5})
– bitte schön, hören Sie zu! –: „Die Dekolonisation ist immer ein Phänomen der Gewalt …“. Sie „lässt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen“. – Wir denken da vielleicht an aktuelle Ereignisse auf unseren Straßen, ja?
({6})
„Denn wenn die letzten die ersten sein sollen“ – schreibt er weiter –, „so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammenstoßes der beiden Protagonisten geschehen.“
Jean-Paul Sartre sekundierte in atemberaubendem Zynismus:
Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen … Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.
Das war schon 1961 der europäische Selbsthass linker Prägung in Reinkultur, dessen Saat heute aufgeht im Form von solch giftigen Früchten wie Cancel Culture,
({7})
Denkmalstürze durch einen kulturlosen Mob und die offen gewalttätige Black-Lives-Matter-Bewegung – von Frau Brugger hier offen gelobt. Danke für diese Klarheit.
({8})
Diesen kulturrevolutionären Geist atmet auch Ihr Antrag. Eine zentrale Lern- und Erinnerungsstätte wollen Sie errichten, aber nicht um deutsche Kolonialgeschichte differenziert aufzuarbeiten – wie im Antrag der AfD sehr wohl gefordert, Herr Koob –,
({9})
sondern als Rahmen für die Anerkennung der deutschen Kolonialverbrechen. Was anderes soll den jungen Leuten dort eingetrichtert werden als Abscheu und Scham vor der eigenen Kultur und Wehrlosigkeit gegenüber den immer dreisteren Versuchen, diese bis auf die Grundmauern zu schleifen?
({10})
Dass die Postkolonialisten ohne die europäische Philosophie und Kultur gar nicht die Sprache und die Begriffe hätten, um auf dieselbe loszugehen, dieser Gedanke ist Ihnen wohl noch nie in den Sinn gekommen.
({11})
– Weil ich Sie jetzt schon wieder „Revisionismus“ schreien höre: Ganz im Gegenteil: Die AfD verteidigt die Tradition der Aufklärung, die Sie in Wahrheit längst verlassen haben.
({12})
Für uns sind alle Menschen mit der gleichen Vernunft begabt, und alle Argumente müssen sich vor dem Richterstuhl der Vernunft verantworten.
({13})
Eine von vornherein vorgenommene Abwertung deutscher, europäischer, weißer Sprecher, diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, um Ihren Jargon zu borgen, machen wir nicht mit.
Ich komme zum Schluss.
({14})
Deshalb fordern wir bis auf Weiteres einen Stopp der Restitution von Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten; denn in diesem verhetzten kulturellen Klima stehen die Museen derzeit vor der Zumutung der Beweislastumkehr.
Herr Kollege.
Das kann es nicht sein.
Vielen Dank.
({0})
Danke. – Das Wort hat als nächste Rednerin für die Bundesregierung die Staatsministerin Michelle Müntefering.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was wir uns hier anhören müssen.
({0})
Niemand kann sagen, das Unrecht des Kolonialismus sei nicht von Anfang an bekannt gewesen.
({1})
1889 sprach August Bebel hier im deutschen Parlament aus, was jeder sehen konnte – ich zitiere ihn –:
Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. …
({2})
Und das treibende Motiv ist immer, Gold, Gold und wieder nur Gold zu erwerben.
Bebel hatte recht.
({3})
Fünf Jahre zuvor, fast auf den Tag vor 136 Jahren, teilten die europäischen Mächte auf der Kongo-Konferenz in Berlin die Welt unter sich auf. Auch hier war allen klar, worum es ging: Macht und Geld. In Karikaturen von damals sieht man, wie Bismarck einen Kuchen mit der Aufschrift „Afrika“ in viele handliche Stücke schneidet.
Lange haben wir uns in Deutschland der Illusion hingegeben, wir seien aus der Kolonialzeit mit einem blauen Auge davongekommen, die deutsche Kolonialzeit sei zu kurz gewesen, um wirklich großes Unheil anzurichten. Diese alte Leier hört man bis heute. Das Problem ist: Die Platte hat einen Sprung.
({4})
Die koloniale Herrschaft hat in vielen Ländern, gerade in Afrika, tiefe Wunden hinterlassen, auch in den ehemaligen deutschen Kolonien. Die Verbrechen, die deutsche Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908 an Hereros und Namas begangen haben, würde man nach heute geltender Rechtslage als Völkermord bezeichnen; das habe ich 2018 bei meiner Reise nach Namibia auch gesagt.
({5})
Deshalb bin ich dankbar, dass die Gespräche, die wir derzeit mit Namibia führen, von beiden Seiten in einem Geist des Respekts und der Zusammenarbeit geführt werden. Eines der wichtigsten Ziele dieser Gespräche ist ein gemeinsames Verständnis dafür, was war und was aus der Geschichte folgen wird.
Die Beratungen – das wissen Sie – werden vertraulich geführt, aber man kann sagen: Wir sind bereits weit gekommen. Es geht dabei auch um die Frage, wie und in welchem Umfang Deutschland helfen kann, die Wunden der Vergangenheit zu lindern. Lassen Sie mich dazu unterstreichen, was der Verband der an den Verhandlungen beteiligten Nama und Herero im August klargestellt hat – denn zuvor hatte es eine Reihe falscher Berichte gegeben –: Zu keinem Zeitpunkt der Verhandlung hat Deutschland Namibia Wiedergutmachung in Höhe von nur 10 Millionen Euro angeboten. Ein solcher Betrag würde der historisch-moralischen Verantwortung Deutschlands in keiner Weise gerecht. – Ich sage von hier aus noch einmal Danke an Ruprecht Polenz, der die Verhandlungen führt, und ich hoffe, dass wir es bald schaffen, sie abzuschließen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aufbrechen in eine neue Zukunft. Wir wollen dazu beitragen, dass sich Ungleichheit auf der Welt verringert, die auch eine Folge der Kolonialzeit ist. Wir wollen Rassismus bekämpfen, auch bei uns in Deutschland. Es ist höchste Zeit, dass wir unseren Nachbarkontinent jenseits von Klischees und Stereotypen besser kennenlernen und Partnerschaften für die Zukunft aufbauen. Dazu gehört auch, uns den blinden Flecken der Geschichte zu stellen.
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Wir sind in dieser Legislaturperiode gut vorangekommen. Wir haben gemeinsam mit den Ländern und Kommunen Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten verabschiedet und stehen in engem Austausch mit den Museen. Die gemeinsame Kontaktstelle von Bund, Ländern und Kommunen hat im August ihre Arbeit aufgenommen, und dabei geht es eben nicht um ein Leerräumen deutscher Museen. Es geht um etwas ganz anderes, nämlich darum, festzustellen, welche Objekte es überhaupt gibt. Wir brauchen Transparenz. Es muss erforscht werden, unter welchen Bedingungen Objekte nach Deutschland gekommen sind, und dort, wo sich herausstellt, dass sie unrechtmäßig erworben oder geraubt wurden, müssen sie natürlich zurückgegeben werden. Hier geht es besonders um menschliche Gebeine, wie wir sie beispielsweise 2018 nach Namibia zurückbringen konnten.
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Die Frage nach unseren Beständen überwiegt derzeit übrigens deutlich gegenüber Rückgabeforderungen. Deshalb hat die digitale Erfassung Priorität. Darüber hinaus – wir haben es schon gehört – unterstützen wir als Auswärtiges Amt viele Kooperationsprojekte deutscher Museen und Wissenschaftseinrichtungen mit Institutionen in den Herkunftsländern, die darauf abzielen, Wissen und Transparenz zu schaffen.
Wenn die AfD heute in ihrem Antrag fordert, Restitution zu stoppen – und damit will sie nichts weiter, als einen Stopp bei diesem Thema zu setzen –, dann kann ich dem nur entgegnen: Wir sind bereits mitten im Prozess. Und so machen wir auch weiter.
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Das ist der klare Auftrag des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD.
Mein Dank geht auch an die Grünen für den Antrag heute und für die Gelegenheit, dieses Thema zu diskutieren. Es ist gut, dass wir inzwischen offen über die Kolonialzeit diskutieren; denn viele Menschen wissen noch viel zu wenig darüber. Und es gibt genug zu diskutieren: über Schulbildung, die Namen von Straßen und Plätzen in unseren Städten, die Arbeit von Museen und Universitäten. Aber es darf eben kein Selbstgespräch im nationalen Elfenbeinturm sein. Wir brauchen die Beteiligung der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft, Kultur und natürlich auch der Länder mit Kolonialvergangenheit. Das war genau der Ansatz der Konferenz, die das Auswärtige Amt letzten Monat organisiert hat.
Sehr verehrte Damen und Herren, wir sollten auch die Rolle der deutschen Behörden während der Kolonialzeit erforschen, und zwar insbesondere gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem globalen Süden. Warum nicht auch mit einem der Länder, das unter der deutschen Kolonialherrschaft gelitten hat, ein gemeinsames Schulbuch erarbeiten oder Austauschprogramme, Freiwilligenprogramme und digitale Begegnungen, moderne Brieffreundschaften sozusagen, zwischen Schulklassen unterstützen?
Der Kolonialismus war keine Fußnote der Geschichte. Wir stehen noch ziemlich am Anfang eines langen Weges. Klar ist aber: Der afrikanische Kontinent hat Zukunft in der Welt, und diese Zukunft können wir gemeinsam meistern. Der beste Weg für unsere demokratische und offene Gesellschaft – da bin ich sicher – sind Wissen und Zusammenarbeit. Und wenn ich das noch sagen darf: Das gilt auch für die Bundesregierung. Frau Flachsbarth, Frau Grütters, ganz herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit der letzten Jahre und auf eine gute weitere Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({10})
Vielen Dank, Michelle Müntefering. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Ulrich Lechte.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer! Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte ich heute mal wieder ausnahmsweise danken,
({0})
dass sie dieses wichtige Thema der Aufarbeitung kolonialen Unrechts auf die Tagesordnung gesetzt hat, noch dazu mit einem solch breiten Ansatz, der ganz viele Politikbereiche betrifft. Bisher haben wir uns meist mit der Aufarbeitung von einzelnen Aspekten kolonialen Unrechts beschäftigt, siehe die Gräueltaten an den Herero, Nama und Damara in Namibia. Auch von meiner Seite dafür Dank an Herrn Polenz! Hoffentlich kommen wir da auch bald zu einem Abschluss. Für diese schrecklichen Gräueltaten müssen wir alle um Verzeihung bitten.
({1})
– Vielen Dank.
Zur Aufarbeitung kolonialen Unrechts gehört aber deutlich mehr. Zu lange war in Deutschland die Meinung verbreitet, dass das Deutsche Kaiserreich eine eher unbedeutende Kolonialmacht gewesen sei. Aber das ist falsch. Der Fläche nach war das Deutsche Reich 1914 das drittgrößte Kolonialreich, nach Großbritannien und Frankreich. Auch in deutschen Kolonien in Afrika, Ozeanien und China gab es Verbrechen an der indigenen Bevölkerung, und diesen Tatsachen müssen wir uns in vielen Bereichen stellen.
({2})
Ein Beispiel dafür könnte – ich sage bewusst: „könnte“ – die deutsche Entwicklungspolitik sein. Der zuständige Minister, Gerd Müller, hat Anfang dieses Jahres das Reformkonzept „BMZ 2030“ vorgestellt. In diesem Papier werden Schwerpunkte der künftigen deutschen Entwicklungszusammenarbeit dargestellt. Aber unsere historische Verantwortung gegenüber ehemaligen deutschen Kolonien wird da mit keinem einzigen Wort erwähnt.
({3})
Das Thema spielte auch keine Rolle für die Auswahl der Länder – diese berühmte Länderliste –, in denen Deutschland bilaterale Entwicklungshilfe leisten will. Und so verwundert es nicht, dass Palau, die Marshallinseln und Nauru – vielleicht haben viele auch hier im Haus noch nie davon gehört – nicht in dieser Länderliste auftauchen, obwohl dies Länder sind, mit denen uns eine gemeinsame Kolonialgeschichte verbindet. Das gerät viel zu oft in Vergessenheit.
Das BMZ, heute vertreten durch die Frau Parlamentarische Staatssekretärin, reagierte bisher null Komma null auf Hinweise der Opposition und verdrängt damit bewusst die deutsche Verpflichtung aus der kolonialen Vergangenheit, so zum Beispiel im Südpazifik.
({4})
Zur Unterstreichung: Im vergangenen Jahr, 2019, war ich auf Einladung der Außenministerin von Palau auf Palau. Zu meiner Überraschung wurde mir dort mitgeteilt, dass seit der Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten im Jahre 1994 ich der erste offizielle Besucher in diesem Land war.
({5})
Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass wir es nach 25 Jahren nicht geschafft haben, mal irgendjemanden von unserer Bundesregierung bei einer ehemaligen Kolonie vorbeizuschicken. Wahnsinn!
({6})
Wie wir schon gehört haben, haben diese Länder in der UN-Generalversammlung und in vielen anderen Organen Stimmrecht. Und es stimmt übrigens völlig, dass der Globale Süden in Gremien wie dem UN-Sicherheitsrat grundsätzlich unterrepräsentiert ist. Das heißt, wir müssen auf diese Länder viel mehr Gewicht legen.
({7})
Am Ende möchte ich noch ganz kurz etwas sagen, wenn ich schon über Entwicklungszusammenarbeit rede, auch wenn Gerd Müller heute nicht da ist. Es ist ein Skandal, liebes Entwicklungsministerium, dass seit 2014 genau vier Oppositionsparlamentarier auf Auslandsreisen des Ministers dabei waren: Es waren drei Grüne und ein Linker – und das seit 2014! Das ist ein Skandal, den ich diesem Hohen Haus am Ende noch mal mitteilen möchte.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Ulrich Lechte. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch ich bedanke mich für den Antrag der Grünen. Er bietet viel Futter für die Ausschussarbeit und die weitere Beratung, und es steht viel Vernünftiges drin.
Wie erschütternd tief wir selber noch im Sumpf des kolonialen Denkens stecken, das bewies der Afrikabeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, im Oktober 2018, als er in einem Zeitungsinterview sagte, der Sklavenhandel sei zwar „schlimm“ gewesen, doch die europäische Herrschaft in Afrika habe „dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen“. Und da ist sie doch wieder: die rassistische, koloniale Ideologie vom weißen Mann, der wohltätig ordnend angeblich unterlegenen Völkern seine Kultur bringt und sich dafür das Recht herausnehmen darf, fremde Länder auszubeuten, fremde Völker zu unterjochen und jeden Widerstand brutal zu unterdrücken; das ist es ja, was getan wurde.
({0})
Das ist eine Schande. Das ist eine Verhöhnung der Millionen Opfer und ihrer Nachfahren.
({1})
Frau Merkel, ich wiederhole meine Forderung von vor zwei Jahren: Lösen Sie Herrn Nooke endlich ab!
({2})
Dass die deutsche Außenpolitik bis heute nicht vollständig und glaubwürdig mit dem kolonialen Erbe bricht, ist völlig inakzeptabel. Wenn etwa in den Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung festgestellt wird: „… die meisten afrikanischen Länder haben große Fortschritte bei der Bewältigung von Herausforderungen gemacht“, dann darf doch nicht darüber geschwiegen werden, dass ein Großteil dieser Herausforderungen zu tun hat mit Jahrzehnten der Ausplünderung und den bis heute anhaltenden total ungerechten Wirtschaftsbeziehungen.
({3})
Wir stehen heute in der Pflicht, nicht mehr mit dem Gestus der Überlegenheit, sondern mit Demut auf die afrikanischen Gesellschaften zuzugehen, um Vergebung zu bitten und womöglich Wiedergutmachung zu leisten.
({4})
Die Einrede der Bundesregierung, der Völkermord an den Herero und Nama, aber auch der vielfältige Landraub im Zuge des Kolonialismus seien völkerrechtlich betrachtet kein Unrecht, weil die Rechtsgrundlagen damals noch andere gewesen seien, überzeugt mich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht.
({5})
Wenn das heutige Völkerrecht noch immer koloniale Verbrechen legitimiert, dann muss es überarbeitet werden, um endlich auch die Perspektive der Opfer aufzunehmen.
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In dem Antrag der Grünen vermisse ich eine Positionierung zu der schlimmsten Form der Fortsetzung des kolonialen Unrechts in der heutigen Zeit, zu den Militäreinsätzen, etwa in der Sahelzone, wo die Bundeswehr mithilft, Frankreichs Zugriff auf die Uranvorkommen zu sichern und die militarisierte Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union vom Mittelmeer bis tief in den Kontinent hineinzuverlagern. Verantwortung für koloniales Unrecht, das heißt für uns: Truppen abziehen, gerechte Wirtschaftsbeziehungen ermöglichen, Friedensprozesse zivil unterstützen und nicht, wie die Fraktionsvorsitzende der Grünen vorschlägt, Militär sogar ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates einsetzen.
({7})
Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Ja, Maske tragen. Das gilt auch für Sie, ernsthaft; da gibt es nichts zu fackeln.
Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Elisabeth Motschmann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Vogler, Truppenabzug aus ehemaligen Kolonien bedeutet nicht Frieden, sondern es bedeutet, dass wir diese Völker dem Terrorismus überlassen. Wenn Sie das besser finden, dann sage ich: Das ist keine gute Aufarbeitung.
({0})
In Deutschland scheinen die Spuren des Kolonialismus auf den allerersten Blick völlig ausgelöscht. Auf den zweiten Blick sehen wir viele Straßen und Plätze, die nach Kolonialherren und Kaufleuten benannt sind, übrigens auch in meinem Wahlkreis Bremen. Bremen hat etwas gemacht, was viele gar nicht wissen, auch in Bremen nicht. Wir haben ein Reichskolonialehrendenkmal in ein Antikolonialdenkmal umgewandelt; meine Kollegin aus Bremen nickt. Dieses Antikolonialdenkmal ist ein sehr großer Elefant, größer als ein lebender Elefant.
({1})
– Aus Stein, ja. – Ich bin aber nicht sicher, ob diejenigen, die sich da gerne treffen, wirklich wissen, dass es ein Antikolonialdenkmal ist, weil sie die Geschichte nicht kennen. Viele Kinder, Jugendliche, viele Menschen in Deutschland kennen diese Geschichte nicht. Das müssen wir zuallererst ändern.
({2})
Die Kolonialgeschichte darf eben kein vergessener Teil unserer Geschichte werden oder sein oder bleiben. Rassismus allerdings, der untrennbar mit Kolonialismus verbunden ist, wird auch bei uns inzwischen sichtbarer. Deshalb ist es gut – das sage ich auch in Richtung Grüne –, dass wir heute über dieses Thema sprechen.
Oft hören wir, dass die anderen Kolonialmächte – das ist hier auch schon angeklungen – viel schlimmer waren als die Deutschen, weil sie eine viel längere Kolonialgeschichte haben. Aber Deutschland besaß – auch das ist angeklungen – in territorialer Hinsicht das drittgrößte Kolonialgebiet und das viertgrößte in Bezug auf die Bevölkerung. Und der Zeitabschnitt kann ja keine Auskunft darüber geben, wie grausam unsere Geschichte mit den Kolonialländern war.
({3})
Die Verbrechen sind ja genannt worden. Zehntausende von Menschen haben sie das Leben gekostet, Herero und Nama; auch das ist angeklungen. Ja, Deutschland war nicht die größte Kolonialmacht und war nicht am längsten in den Kolonien; aber das darf nicht dazu führen, dass wir unsere Hände in Unschuld waschen und so tun, als ginge uns das Thema nichts an.
Es ist daher richtig, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt haben, die kulturelle Zusammenarbeit mit Afrika zu verstärken und einen stärkeren Kulturaustausch zu ermöglichen. Davon profitieren übrigens auch wir sehr. Es ist ja nicht so, dass wir belehrend in die Länder gehen und sagen: „Jetzt wollen wir euch mal sagen, wie ihr richtig mit Kulturgut umgeht“, sondern das ist ein unglaublich bereichernder Kultur- und Wissenschaftsaustausch. Es ist daher richtig, dass wir die Aufarbeitung in den vergangenen Jahren aufgenommen haben. Wir brauchen uns da nicht zu verstecken. Ich danke ausdrücklich Monika Grütters dafür, dass sie dies zum Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht hat.
({4})
Wahrscheinlich könnten die meisten von uns gar nicht aufzählen, was wir schon alles machen. Ich will mal vier Punkte nennen, die wahrscheinlich keiner von euch auf Anhieb runterrattern könnte:
Erstens. Michelle Müntefering hat es genannt: Bund, Länder und Kommunen haben die ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten als gemeinsame Arbeitsgrundlage verfasst.
Zweitens. Im August dieses Jahres hat die Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland bei der Kulturstiftung der Länder ihre Arbeit aufgenommen. Monika Grütters hat das sehr befördert.
Drittens. Im nächsten Jahr haben wir im Bundeshaushalt einen eigenen Haushaltstitel für koloniales Kulturgut.
Viertens. Das Humboldt Forum, das wir bald eröffnen, wird dem Thema Kolonialismus viel Raum geben.
Darüber hinaus erwähne ich nochmals meine Heimatstadt Bremen: Das Übersee-Museum forscht seit Langem zu diesem Thema, und darauf sind wir auch stolz.
Die Rückgabe von ausgewählten Exponaten an die Herkunftsstaaten ist eine nötige Maßnahme und auch längst überfällig. Ein vertiefter Dialog mit den Herkunftsländern, gemeinsame Forschungsprojekte und ein besserer digitaler Zugang zu den Sammlungen der ethnologischen Museen sind genauso wichtig.
Frau Kollegin.
Ich muss aufhören.
Ja.
Ja, aber nur ungern.
({0})
Das kann ich verstehen. Sie können ja weiterreden, dann reden Ihre Kollegen halt weniger.
Ich darf noch einen letzten Satz sagen. – Was Sie wollen, geht gar nicht. Die Koalition hat das Thema auf die Tagesordnung gesetzt und wird es auch in Zukunft behandeln. Das ist der Geist guter internationaler Zusammenarbeit.
({0})
Vielen Dank für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Das war jetzt deutlich drüber. Herr Heveling, Sie kürzen Ihre Redezeit?
({0})
– So ist das Leben. – Oder Sie machen einen Deal mit Herrn Ullrich.
({1})
– Sie reden also weniger. Gut.
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Petr Bystron.
({2})
Liebe Frau Präsidentin!
Wir möchten Sie bitten, Herr Bystron, die Maske richtig aufzusetzen. – Nein, das wird Ihnen nicht von der Redezeit abgezogen. Unser Dialog kostet nichts. – Bitte tragen Sie die Maske so, dass sie auch einen Sinn macht, also auch über der Nase. Denken Sie beim Zurückgehen daran. Wir halten uns ja alle dran. – Danke schön.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich mit 16 Jahren als Flüchtling aus der Tschechoslowakei nach Deutschland kam, passierte mir Folgendes: In der ersten Woche in der Schule kam ein Mitschüler auf mich zu und sagte: Petr, bitte entschuldige! – Da hab ich gesagt: Volker, was ist los? Hast du mein Fahrrad im Hof umgestoßen, oder was? – Er sagte: Nein, wegen dem Zweiten Weltkrieg.
({0})
Ich hab das überhaupt nicht verstanden. Ich habe es nicht verstanden.
({1})
Sie machen hier heute dasselbe: Sie wollen sich bei Menschen entschuldigen, die gar keine Entschuldigung erwarten.
({2})
Niemand erwartet von uns eine Entschuldigung, und niemand erwartet die Rückgabe von Kulturgütern. Das bestätigt der Autor Werner Bloch im Deutschlandfunk, der mit vielen afrikanischen Museumsexperten gesprochen hat. Ich zitiere: „Viele sind sehr kritisch gegenüber einer Rückgabe.“ Etliche lehnten sie sogar rundweg ab. Nicht nur Experten, auch viele afrikanische Regierungen sind gar nicht daran interessiert, die Gegenstände zurückzubekommen. Zitat: „Es findet sich dort oft wenig Interesse für Kulturpolitik.“
Da ist die Frage angebracht: Woher kommt denn überhaupt diese Diskussion? Die Antwort liefert ein schwarzer Ökonom, nämlich Thomas Sowell. Er sagt zu der aktuellen Antirassismusdiskussion: Es sind vor allem weiße Linke, die sich in Wahrheit nicht um das Wohlbefinden von schwarzen Menschen scheren. Sie sind lediglich daran interessiert, sich in der Öffentlichkeit als moralisch bessere Personen darzustellen.
({3})
Ich glaube, Frau Brugger, er hat Sie gemeint. Sie sind das beste Beispiel dafür, liebe Agnieszka.
({4})
Sie haben hier gerade ein kolossales Eigentor geschossen, indem Sie die Schandtaten von von Trotha als Ausdruck der deutschen Kolonialpolitik dargestellt haben, die auf Rassismus beruht habe. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: von Trotha wurde im Deutschen Reich für sein Verhalten verurteilt. Man hat ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, und das Massaker, das er angerichtet hat, wurde vom Deutschen Reich abgelehnt.
({5})
Ihre Herangehensweise ist gerade in der heutigen Debatte absolut fatal. Die Fraktion der AfD fordert daher eine differenzierte Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit, verbunden mit einer unabhängigen Betrachtung der Erinnerungskultur, ohne Beeinflussung von zeitgeistigen, sogenannten antirassistischen Bewegungen, sprich: linker Ideologien und Bewegungen wie #BlackLivesMatter.
({6})
Denken Sie an die Redezeit? Die ist nämlich rum.
Das ist jetzt gerade die halbe Minute.
Ja, voran, voran! Letzter Satz.
Der Kollege Lindh hat so viel Wumms – ich bin sicher, er kommt bei seiner Rede auch mit fünf Minuten aus und schenkt mir eine Minute, oder?
So, Herr Bystron, entweder Sie sagen jetzt noch einen Satz, oder das war’s. Danke schön.
Okay, danke.
({0})
Danke schön. Und bitte die Maske aufsetzen. Danke schön, Herr Bystron.
({0})
Jetzt ist Ruhe! Nächster Redner – –
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Jetzt ist Ruhe! Ich werde das überprüfen. Darauf können Sie sich verlassen. -Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Helge Lindh.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo Barbara Hendricks recht hat, hat sie recht.
({0})
Abgesehen davon haben Sie, Herr Dr. Jongen, und Sie, Herr Bystron, und die AfD es wieder mal geschafft, zu beweisen, dass Freud damit recht hatte, dass die Psychoanalyse funktioniert; denn wer derart von einer traumatisierten Endlosschleife spricht und so oft von Schuld und Verantwortung, der hat offensichtlich ein solches Trauma, einen Schuldkomplex sowie einen massiven Minderwertigkeitskomplex. Anders ist das nicht erklärbar.
({1})
Wir müssen aber deutlich machen, dass Kolonialismus kein abstraktes Phänomen ist, sondern ganz konkrete Folgen hatte und hat: für Menschen in der Vergangenheit und für Menschen in der Gegenwart. Er hat Folgen in den Herkunftsgesellschaften, aber auch hier; denn die postkolonialen Strukturen leben hier weiter und sind zutiefst verwoben mit aktuellem Rassismus.
Zugleich ist Kolonialismus der Gegensatz von Demokratie und mit ihr nicht vereinbar. Deshalb darf man hier nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern muss deutlich machen, dass das, was die AfD gerade eben, aber auch gestern im Parlament und im Einlassgebaren in Bezug auf die Liegenschaften des Parlaments vorgeführt hat, ein zutiefst undemokratisches und zugleich koloniales Gehabe ist. Sie gehen mit diesem Parlament um wie die übelsten, dummdreisten Kolonialisten.
({2})
Darüber hinaus – –
({3})
– Regen Sie sich doch nicht auf! Ich weiß – Ihre Aufregung ist die beste Bestätigung –: Ich habe den wunden Punkt getroffen, wie so üblich. Darauf kann man sich verlassen.
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Kommen wir jetzt zu der Beweisführung, zu Ihrem Schuldkomplex. Das ist in dem Fall thematisch genau passend; denn eine Reise ins Herz des Kolonialismus, über den wir sprechen, ist hier gleichbedeutend mit einer Reise in die Hirne der AfD. Sie haben mit Ihren beiden Anträgen nichts anderes getan, als mustergültig vorgeführt, wie koloniales Denken funktioniert.
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Schauen wir uns das mal an: Sie schreiben da ernsthaft – und das ist keine Satire von Böhmermann; ich dachte zuerst, die beiden Anträge hätte Böhmermann geschrieben; aber sie sind von Ihnen –, man müsse die Kolonialzeit doch auch differenziert – differenziert! – betrachten. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass Sie bei Diskussionen über den Islamismus oder über den Linksextremismus einmal gesagt hätten, man müsse das differenziert betrachten. Da haben Sie vielmehr jeden angegriffen, der versucht hat, etwas nuanciert oder detailliert zu sagen. Plötzlich aber fordern Sie eine differenzierte Betrachtung.
Darüber hinaus steht an mindestens drei Stellen in den Anträgen, man solle auch – ich zitiere – die gewinnbringenden Seiten des Kolonialismus deutlich machen – die gewinnbringenden Seiten! Die Einzigen, die daran einen Gewinn hatten, waren die Kolonialisten; die Opfer aber fühlen sich durch solche Ausdrücke zutiefst gedemütigt und verachtet. Schämen Sie sich für solche Formulierungen!
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Und es geht noch weiter: Das, was Frau Müntefering und andere so eindrucksvoll geschildert haben, das, was man nicht anders als als Genozid bezeichnen kann, das nennen Sie – ich zitiere – „unverhältnismäßige Härten“. Unverhältnismäßige Härten – was würden Sie denn sagen, wenn wir über Terrortaten sprächen und sagten, das seien unverhältnismäßige Härten? Sie würden explodieren vor Wut. Das ist eine zutiefst inakzeptable Verharmlosung des Kolonialismus und dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
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Sie hören damit aber nicht auf. Sie zeigen mustergültig genau, wie Kolonialismus funktioniert. Was war Kolonialismus? Das war Unterdrückung, Demütigung, Ermordung von Menschen aus ökonomischen Gründen und aufgrund kultureller Hegemonialansprüche. Das Ganze wurde dann noch verbrämt mit der Überzeugung, man würde diese Länder entwickeln, man selbst sei auf einer höheren Stufe der Zivilisation.
Diese Verbrämung präsentieren Sie auch wieder grandios, indem Sie sinngemäß darauf hinweisen, dass die Herkunftsgesellschaften gar nicht in der Lage wären, die Artefakte genügend zu betreuen. Ein Argument dafür, dass nicht restituiert werden soll – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –, ist ja – –
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Hampel?
Ich habe ja das Prinzip, dass ich immer gerne Zwischenbemerkungen erlaube, –
Ja oder nein?
– weil das auch eine Lernerfahrung für Herrn Hampel ist, die ich ihm dann gleich bieten werde. Deshalb: sehr gerne.
Hätten Sie auch mit Ja oder Nein beantworten können. So, Herr Hampel.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit, Ihnen eine Frage zu stellen. – Der Name von Trotha ist hier schon gefallen; das ist in der Tat ein dunkles Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, obwohl es, wie der Kollege Bystron schon sagte, rechtlich geahndet wurde.
Selbst ein Militär wie der General von Lettow-Vorbeck hat nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Buch über Afrika geschrieben, er sei schon während des Krieges zu der Erkenntnis gekommen, dass man die afrikanischen Staaten möglichst schnell in die Unabhängigkeit entlassen soll. Ich glaube, das hat keine andere Kolonialmacht zu dem Zeitpunkt angemerkt. Es gibt noch einige andere Beispiele dafür in der deutschen Kolonialgeschichte.
Worauf ich hinaus möchte, lieber Herr Lindh, ist Folgendes: Ich höre ganz viel über die Kolonialmächte; ich glaube aber, die Deutschen sind die Letzten, die sich darüber Gedanken machen müssen. Briten und Franzosen haben, so glaube ich, eine ganz andere Geschichte aufzuarbeiten als wir.
Eine Region lassen Sie aber immer völlig außer Acht, und dahin geht meine Frage. Haben Sie schon einmal die arabischen Staaten aufgefordert, ihre Geschichte aufzuarbeiten? Diese haben über 500 Jahre lang Sklavenjagd in Afrika betrieben, bis in das Herz von Afrika hinein, und haben ein Drittel einer jeden Generation weggefangen und versklavt.
({0})
Habe ich schon einmal von Ihnen gehört, dass die arabischen Staaten aufgefordert werden, diese Geschichte aufzuarbeiten?
Die Frage ist angekommen. – Herr Lindh.
({0})
– Jetzt ist Herr Lindh dran.
Ganz ruhig bleiben! – Ich muss bestätigen, was ich eben gesagt habe: Ich danke für die Frage, weil Sie das gebracht haben, was ich erwartet habe. Das war eine wunderbare Vorlage, Sie noch einmal in Ihrer argumentativen Ärmlichkeit bloßzustellen. Das mache ich gerne.
Erstens ist es ein ziemlich dürftiges Argument, von einem Massenmord und von Gewalt abzulenken, indem man darauf hinweist, die anderen hätten auch Gewalt angewendet. Ist das erwachsen? – Nein, das ist wirklich kein erwachsenes Argument, also können Sie das nicht ernsthaft so meinen.
Zum Zweiten. Ich wäre ganz vorsichtig bei Urteilen von deutscher und europäischer Seite über arabische Staaten. Um einen Einstieg in den postkolonialen Diskurs zu finden, empfehle ich Ihnen als Lektüre etwa „Orientalismus“ von Edward Said. Er beschreibt, wie unser Bild des arabischen Raumes – Ihres ganz besonders – durch zutiefst koloniales, rassistisches Denken geprägt ist. Im Übrigen: Die Verhältnisse im arabischen Raum – mit allen Folgen, aller Gewalt – sind auch maßgeblich durch europäische, eurozentristische Politik und dortige Grenzziehungen ermöglicht worden. Das heißt, Ihr Argument zielt auf Sie zurück: Wenn Sie von der Gewalt im arabischen Raum sprechen, sprechen Sie von europäischer Gewalt.
({0})
Vielen Dank, dass Sie auf diese Verbrechen, die auch in den kolonialen Zusammenhang gehören, noch einmal hingewiesen haben. Ich danke Ihnen.
Kommen Sie zurück zu Ihrer Rede, Herr Lindh.
Kommen wir nach diesen erweiternden und das ganze Bild noch abrundenden Ausführungen von Herrn Hampel zurück zum Thema. Sie haben – ich war dabei, es deutlich zu machen – selbst mustergültig vorgeführt, was Kolonialismus bedeutet. In Bezug auf Rückgabe von Human Remains, von Artefakten sagen Sie – ich zitiere; denn Sie müssen sich an Ihren Worten messen lassen –, die deutsche Regierung müsse den Herkunftsgesellschaften verdeutlichen, dass die Rückgabe von Kulturgütern nur in Ausnahmefällen gewährt wird.
Gnadenvoll – so Ihr Verständnis – gewährt der deutsche Staat in Ausnahmefällen den Opfern von Unterdrückung, den Opfern von Massenmord, den Opfern von Gewalt Rückgabe. Das ist die Perfektionierung kolonialistischen Denkens. Wie kann man ernsthaft nach all der Gewalt, nach dieser Vorgeschichte die Opfer, die beraubt wurden, die noch heute darunter leiden, in Form dieser Belehrung erniedrigen und deutlich machen: „Nur wenn wir uns gnadenvoll ihrer erbarmen, könnten sie einzelne Kunstwerke womöglich zurückbekommen“?
Nein, das ist nicht unser Verständnis von Aufarbeitung des Kolonialismus. Wir werden kontinuierlich und auf eine andere Weise, nämlich in Kooperation mit den Herkunftsgesellschaften und mit einer Abgabe von Kontrolle, mit einer Haltung von Demut – das, was Sie nie besessen haben, was Sie nie besitzen werden – diese Frage angehen. Es wird uns gelingen, den Kolonialismus aufzuarbeiten und den Kolonialismus in Gestalt der AfD aus diesem Parlament künftig zu vertreiben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Vielen Dank, Kollege Helge Lindh. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hartmut Ebbing.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut einem Jahr forderte die AfD noch, die deutsche Kolonialzeit kulturpolitisch differenziert aufzuarbeiten.
({0})
Auch wenn Ihr damaliger Antrag schon vor Unwahrheiten und gezieltem Populismus strotzte, weswegen wir als FDP ihn auch abgelehnt haben, versuchten Sie damals noch, Ihre Verherrlichung des deutschen Kolonialismus und Ihre Verachtung der Herkunftsgesellschaften ansatzweise zu kaschieren. Davon ist in Ihrem heutigen Antrag nichts mehr zu spüren. Jetzt fordern Sie nicht nur einen pauschalen Stopp jeglicher Restitutionen und ziehen sich auf das unwürdige Argument der Verjährung zurück, sondern Sie versteigen sich auch noch in wilde Verschwörungstheorien, wonach Deutschland und Frankreich Restitutionen gezielt nutzen würden, um – ich zitiere – „im ‚Großen Spielʼ um Afrika gegenüber asiatischen Mächten oder anderen ausländischen Konkurrenten an Einfluss zu gewinnen.“ Das ist wirklich grotesk.
({1})
Man kann bei der Rückgabe von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten durchaus verschiedener Meinung sein, was die Dimension und die Art und Weise der Rückgabe anbelangt. Selbst über eine Beweislastumkehr, wie es die Grünen fordern, kann man zumindest diskutieren; aber eine pauschale Verweigerung jeglicher Restitutionsansprüche, wie die AfD es fordert, ist nicht nur anachronistisch und weltfremd, sondern bringt uns auch vor allem keinen einzigen Schritt voran.
({2})
In klaren Fällen muss selbstverständlich restituiert werden; aber auch dafür braucht es verbindliche Rahmenbedingungen. Daher fordern wir als FDP zunächst eine breitgefächerte Erforschung der Bestände in den deutschen Museen mit einer gleichzeitigen Digitalisierung. Bei klaren Fällen fordern wir entweder Rückgabe der Gegenstände oder das Finden von fairen und gerechten Lösungen mit den Herkunftsländern. Bei Streitfällen soll eine dafür eingesetzte Ethikkommission entscheiden, ob und vor allen Dingen an wen ein Objekt gegebenenfalls zurückgegeben werden soll. Diese Ethikkommission muss natürlich auch mit Mitgliedern der Herkunftsländer besetzt werden.
({3})
Klar muss aber auch sein, dass wir nur dann restituieren, wenn die Herkunftsstaaten die Prinzipien der UNESCO-Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes anerkennen und aktuell – analog zur Haager Konvention – nicht in Kriegs- und Konfliktregionen liegen. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir nicht in eine Art Neokolonialismus verfallen und einfach einseitig Regeln festsetzen, weil wir mal wieder glauben: Wir alle wissen es besser. – Es ist essenziell, dass wir gemeinsam mit den Herkunftsgesellschaften faire und gerechte Lösungen auf Augenhöhe finden.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Hartmut Ebbing. – Nächster Redner: mit voller Redezeit für die CDU/CSU-Fraktion Ansgar Heveling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die zwingend notwendige Frage der Provenienz ist die Voraussetzung für museale Präsentation oder Restitution. Bei genauer Betrachtung ist allerdings die Frage nach dem Umgang mit den Objekten, deren Provenienz geklärt ist, der Punkt, wo die Diskussion wirklich interessant wird. Hier geht es dann nicht mehr um die Frage der Klärung von Provenienzen, sondern um den Umgang mit musealen Objekten vor dem Hintergrund dessen, was man jeweils als historisch gerecht einschätzt.
Unter anderem mit diesen Worten eröffnete der Präsident des Deutschen Historischen Museums, Professor Raphael Gross, im Juni 2018 das Symposium „Die Säule von Cape Cross – Koloniale Objekte und historische Gerechtigkeit“, ein Symposium über den Umgang mit derjenigen Wappensäule, die im Jahr 2006 noch wenig prominent, wenig beachtet und ohne Kontextualisierung in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums zu finden war.
13 Jahre, ein Rückgabeersuchen aus Namibia und einen beispielhaften kulturellen wie politischen Dialog zwischen den Nationen später ist die Säule nun, wenn auch noch nicht in voller Gänze, seit dem vergangenen Jahr restituiert. Ich darf Professor Gross an dieser Stelle noch einmal zitieren mit den Worten:
Zur historischen Urteilskraft gehört aber diese Fähigkeit, sich der eigenen Wertung bewusst zu werden.
Und so steht die Chronologie der Säule von Cape Cross wie mittlerweile eine Vielzahl weiterer Objekte exemplarisch für den Wandel nicht nur im Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, sondern darüber hinaus auch für ein grundsätzlich verändertes Bewusstsein im Umgang mit der Gesamtheit unserer kolonialen Vergangenheit.
Es stimmt, dass wir uns in Deutschland lange nicht ausreichend mit diesem Teil unserer Geschichte auseinandergesetzt haben und dass der deutsche Kolonialismus auch in unserem historischen Gedenken kaum eine Rolle gespielt hat; hier pflichte ich dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich im Grundsatz bei. Wo ich aber ausdrücklich widerspreche, ist, den Eindruck zu erwecken, wir würden uns immer noch nicht ausreichend differenziert bis mitunter überhaupt nicht mit dem Thema der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus im Allgemeinen bzw. kulturpolitisch mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten im Speziellen befassen.
Die Forderungen der vorliegenden Anträge sind dabei bekannt; in ähnlicher Form lagen sie alle mindestens einmal bereits vor. Es wird wieder der Eindruck erweckt, Deutschland komme seiner Verantwortung nicht nach, stehe nicht im internationalen Dialog mit den Betroffenen. In Bezug auf das angesprochene Sammlungsgut wird suggeriert, es handele sich bei allen Exponaten, von denen wir sprechen, um ein und dieselbe Objektgruppe sowie um ein und dieselbe Herkunftsgesellschaft. Daraus erwächst auf der einen Seite die Idee einer grundsätzlichen Restitution, ohne die Provenienz vorher weiter zu klären, oder auf der anderen Seite gar der aus heutiger Sicht grotesk anmutende Gedanke, kein einziges koloniales Gut mehr zu restituieren. Dass beides zu kurz greift, wissen wir nicht erst seit dem Diskurs um die Säule von Cape Cross.
Seitdem wir uns im Koalitionsvertrag zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte explizit bekannt haben, ist einiges geschehen. Es gibt die ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Es gibt die Kontaktstelle für ebendieses. Es gibt einen zusätzlichen Etat beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste zur Erforschung von Provenienzen. Es gibt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, und es gibt die Digitalisierung der Bestände und vieles mehr.
Ich sage nicht, dass alles getan ist. Die Aufgabe der Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte bleibt eine ausdauernde. Für unsere Entwicklung als Gesellschaft müssen wir sie sehr ernst nehmen. In diesem Sinne freuen wir uns auf weitere konstruktive Gespräche.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Ansgar Heveling. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Eva-Maria Schreiber.
({0})
Geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Als Bismarck 1878 seine Schutzzollpolitik zur Sicherung der deutschen Wirtschaft einführte, dämmerte ihm, dass auch Deutschland Kolonien braucht. 1885, ein Jahr nach dem Beginn der Berliner Kongokonferenz, war Deutschland drittgrößte Kolonialmacht, und zwar bis zum Ende des Erstens Weltkriegs. Die Völker wurden ausgebeutet und unterdrückt. Es gab Hunderttausende Tote. Trotzdem geistert ein Mythos durch viele Köpfe – Herr Hampel hat es ja gerade bewiesen –, zum Beispiel durch den des Afrikabeauftragten der Bundesregierung Günter Nooke, der deutsche Kolonialismus sei ja gar nicht so schlimm gewesen. Damit muss endlich Schluss sein.
({0})
Zur Erinnerung zwei Beispiele: fast 300 000 getötete Menschen in Tansania beim Maji-Maji-Krieg und die Verbrechen an Herero und Nama mit über 70 000 Toten in Namibia. Das sind Kriegsverbrechen, das ist Völkermord und muss auch so genannt werden.
({1})
Ich halte es mit Richard von Weizsäcker, der sagte: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ In dem Fall heißt das: Deutschland muss endlich zu seiner historischen Verantwortung stehen.
({2})
Bis heute hat keine Bundesregierung offiziell um Verzeihung gebeten, etwa für den Völkermord an Herero und Nama. Bis heute fehlt eine Aufarbeitung der Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht. Beides ist überfällig.
({3})
Letztes Jahr war ich in Tansania und Kamerun. Eine drängende Frage begegnete mir überall: die nach der Rückgabe geraubter Kulturgüter und der Gebeine von Ahnen. Unsere Regierung verharrt in Nachforschungen. Die AfD – und das ist unglaublich – jammert in ihrem Antrag über dann leere Museen, als gäbe es keinen 3-D-Druck, und bezweifelt den Raub. Und über den Rest mag ich jetzt gar nicht reden. Schämen Sie sich!
({4})
Generell fehlt bei vielen hierzulande die Einsicht, dass die koloniale Vergangenheit bis heute nachwirkt. Aber genau sie war die Grundlage für die Ungleichheit in den internationalen Beziehungen. Sie sorgt für die Ungleichheit in der Handelspolitik, bei der Verteilung von wirtschaftlichem Reichtum, Landbesitz und beim Zugriff auf natürliche Ressourcen. Das muss sich endlich ändern.
({5})
Seit Jahren besteht die Linke darauf, dass sich der Umgang mit diesem Teil der Geschichte ändert. Ein erster Schritt wäre die Gründung einer unabhängigen Stiftung öffentlichen Rechts zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus – ich bin gleich so weit, Frau Präsidentin –, die auch über eine Rückgabe von Kulturgütern und menschlichen Gebeinen verhandelt. Dazu gehört, den Kolonialismus unmissverständlich als Verbrechen und Quelle für heutige Formen von Rassismus zu benennen. Er ist Grundlage für seine Ausbreitung im Globalen Süden und der dortigen Zerstörung der Umwelt. Das muss ein Ende haben.
({6})
Schlussendlich. Dazu gehört eine Umstrukturierung der Außen-, Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik hin zu einer Politik, die nicht den Profit, sondern die Rechte aller Menschen im Blick hat.
Frau Kollegin!
Denn Menschenrechte sind unteilbar.
Danke.
({0})
Und die Redezeit ist nicht zu verlängern. Danke schön, Eva-Maria Schreiber. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich, Augsburg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war richtig und notwendig, dass wir heute im Bundestag die Debatte über die Aufarbeitung unserer kolonialen Geschichte geführt haben. Es gehört zum demokratischen Grundkonsens in diesem Haus, dass die Aufarbeitung geschichtlichen Unrechts unserem Land Würde zurückgegeben hat. Das galt für die Aufarbeitung des NS-Unrechts, für die Aufarbeitung der SED-Diktatur; aber es muss auch für den Teil der Geschichte gelten, der zu lange im Dunkeln geblieben ist, nämlich die Aufarbeitung des kolonialen Unrechts.
({0})
Was steckt dahinter, wenn 1884/1885 auf der sogenannten Kongokonferenz der Kontinent Afrika beinahe wie ein Kuchen – das ist angesprochen worden – aufgeteilt worden ist? Nichts anderes als ein menschenverachtendes und rassistisches Weltbild. Dieses Welt- und Menschenbild hat zu Gewaltherrschaft in weiten Teilen Afrikas geführt, mit furchtbaren Verbrechen, mit einem Völkermord an den Herero und Nama, mit einer blutigen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in Tansania. Diese Gräueltaten dürfen nicht vergessen werden. Wir müssen uns der historischen Verantwortung stellen.
({1})
Es hat mich nicht nur empört, sondern auch bedrückt, wie die Redner der AfD hier agiert haben, indem sie quasi nur von „Schuldkult“ gesprochen haben.
({2})
Kein einziges Wort der Empathie mit den Opfern. Das ist beschämend, meine Damen und Herren.
({3})
Ein Teil dieser Aufarbeitung behandelt die Frage, wie man mit Kulturgütern umgeht. Kulturgegenstände sind Zeichen von Erinnerung, von Identität und Wertschätzung. Deswegen ist es richtig, dass wir diesen Teil, die Identität, auch den afrikanischen Staaten zurückgeben, denen er vor über 100 Jahren geraubt worden ist. Man muss auch sagen: „geraubt“. Denn selbst wenn die Kulturgegenstände – in Anführungszeichen – „hergeschenkt“ oder „verkauft“ worden sind, lag doch dem Erwerb eine strukturelle Ungleichheit gegenüber: da die Gewaltherrschaft und dort die Abgabe der Kulturgegenstände.
Deswegen brauchen wir einen gemeinsamen Dialog. Wir brauchen eine Provenienzforschung. Wir brauchen entsprechende Mittel, um diese Gegenstände zurückzukaufen und in einem gemeinsamen Dialog und Rückgabeprozess an die Herkunftsländer zu geben. Ich glaube, das ist nicht nur eine deutsche, sondern auch eine gesamteuropäische Verantwortung.
Dann müssen wir darüber sprechen, wie wir mit den afrikanischen Staaten insgesamt umgehen. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht mehr von einer Politik für Afrika sprechen. Afrika ist ein Kontinent mit 54 Nationen und 30 Millionen Quadratkilometern. Es geht um einen Dialog und eine Politik mit den afrikanischen Staaten.
({4})
Es geht um Augenhöhe, und es geht um Verständnis. Deswegen ist die Debatte so wichtig.
Wir müssen uns fragen: In welcher Welt wollen wir leben? Ich glaube, wir können nur in einer vernetzten Welt des Respekts und des Miteinanders leben. Da ist unsere ehrliche und offene Aufarbeitung der kolonialen Geschichte ein wichtiger Baustein, um diesen Respekt und dieses Miteinander weiter zu fördern. In diesem Sinne arbeiten wir an den Anträgen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! SOS kommt aus allen Klassenzimmern und auf allen Kanälen. Wissen Sie, was das größte Problem dabei ist? Es ist schlicht und ergreifend die Mangelwirtschaft an so vielen Schulen, die Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern das Leben extrem schwer macht.
({0})
Es ist der Mangel an Personal. Genau das ist ja der Hintergrund, weshalb sich so gegen die Teilung von Klassen gestemmt wird. Es ist der Mangel an vernünftig ausgestatteten Schulen: Toiletten gehen nicht, Fenster sind seit vielen Monaten nicht zu öffnen, Griffe fehlen. Und es ist der Mangel an notwendigem Material. Das beginnt bei mobilen Lüftungsgeräten. Nur fest installierte werden gefördert, und das sind auch nur 14 an der Zahl – und das bei circa 32 000 Schulen. Das ist der Hintergrund, vor dem Präsenz- und Fernunterricht momentan nur selten gehen. Es ist der unsägliche Mangel an Computern, an leistungsfähigem Internet, an bezahlbaren Tarifen für alle Kinder.
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Es sind die jahrelangen Sparorgien, die uns in genau diese Mangelwirtschaft geführt haben. Ich kann mich ganz persönlich gut an die Auseinandersetzungen erinnern – damals war ich noch bildungspolitische Sprecherin –, die wir zum Beispiel im Landtag von Sachsen-Anhalt mit einem SPD-Finanzminister – ich kann Ihnen das leider nicht ersparen – um jede einzelne Lehrerstelle führen mussten.
Was muss getan werden? Zum einen muss die Mangelwirtschaft beendet werden.
({2})
Das beginnt bei der Förderung von mobilen Geräten für die Lüftung vor allem an Schulen. Zum anderen, liebe Kolleginnen und Kollegen, schreiben Sie endlich ins Sozialgesetzbuch: „Kinder haben das Recht, durch das Bildungs- und Teilhabepaket einen Computer und Bildungstarife zu bekommen“!
({3})
Und investieren Sie endlich mehr in Schule und Kita! Wir haben einen riesigen Investitionsstau.
({4})
Heute Morgen ging über den Ticker: Beim soundsovielten Autogipfel – ich kann die gar nicht mehr zählen – wurden jetzt insgesamt 5 Milliarden Euro lockergemacht. Meine Damen und Herren, das ist die falsche Schwerpunktsetzung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht die Abschlüsse sind jetzt das Wichtigste, nicht das Sammeln von Tests, von Zensuren, sondern die kreative Suche nach neuen Lernformen und Lernräumen. In meinem Bekanntenkreis erlebe ich gerade hautnah die Ängste einer 14-Jährigen. Ihr Vater ist positiv getestet; sie muss zu Hause in Quarantäne bleiben. Und ihre eigentliche Sorge ist jetzt: Sie muss, wenn sie in die Schule zurückkehrt, vier Klassenarbeiten, vier Tests schreiben. Meine Damen und Herren, eine solche Debatte ist eine Bildungsbremse pur; sie ist absurd.
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Auf diese Weise treiben wir Schülerinnen und Schülern die Lust am Lernen aus, und Lust ist bekanntlich die stärkste Motivation.
Frau Bundeskanzlerin, berufen Sie schnell die Bildungs- und Kultusministerrunde ein! Nach dem soundsovielten Autogipfel wäre jetzt mal ein Bildungsgipfel dran. Ich gehe jede Wette ein: Die Ministerinnen und Minister gerieten in Erklärungsnot angesichts des öffentlichen Drucks, wenn sie dieser Einladung nicht folgen würden und vielleicht noch einen Streit über die Zuständigkeit vom Zaun brächen.
({7})
Es muss was getan werden, und zwar schnell; denn über die Überschrift „Bildungsland“ lachen die Leute, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zwar nicht aus lauter Freude, sondern weil sie seit Langem frustriert sind.
({8})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesministerin Karliczek ist im Moment im Haushaltsausschuss, kämpft dort für mehr Mittel für Bildung und Forschung
({0})
und kann deshalb nicht hier im Plenum sein.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in welcher Situation befinden wir uns? Aktuell sind rund 300 000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne. Das sind nicht einmal 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Mit anderen Worten: 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler gehen ganz normal in die Schule
({2})
– natürlich immer mit den bekannten Regeln: Abstand halten, Hände waschen, Mund-Nase-Schutz tragen, regelmäßig lüften –; denn wir wollen, dass die Schulen während der Pandemie offen bleiben, solange es irgendwie verantwortbar ist, meine Damen und Herren.
({3})
Schließlich geht es um das Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung. Es geht darum, dass alle Schülerinnen und Schüler die Chance auf gute Bildung bekommen, und es geht darum, dass sich die Familien darauf verlassen können, dass ihre Kinder in den Schulen gut und verlässlich betreut werden, gerade die kleineren. Dafür nehmen wir alle Anstrengungen in Kauf. Dafür reduzieren wir woanders die sozialen Kontakte. Dafür muten wir vielen anderen erhebliche Einschnitte in ihrem Leben zu. Dass gerade auch die wirtschaftlich und sozial schwer Betroffenen bereit sind, den gesellschaftlichen Konsens für offene Schulen und Kitas mitzutragen, dafür möchte ich ihnen von ganzem Herzen danken.
({4})
Wir haben aus der ersten Pandemiewelle im Frühjahr gelernt. Damals mussten die Schulen von einem Tag auf den anderen geschlossen werden. Es wurde Fernunterricht von zu Hause organisiert, oft improvisiert. Wir sind heute in einer anderen Situation. Das Gros der Schulen ist offen. Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sind auch im Fernunterricht erreichbar. Bund und Länder, Schulleiter und Lehrkräfte haben die Sommermonate genutzt.
Wo stehen wir jetzt? Um die Schulen offen zu halten, haben die Bundesländer einen Stufenplan beschlossen. Je nach Entwicklung des dynamischen Infektionsgeschehens haben die Länder für vier verschiedene Szenarien Maßnahmen beschlossen: erstens Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen, zweitens eingeschränkter Regelbetrieb, drittens ein Wechselmodell mit Teilung von Lerngruppen und Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht und viertens Distanzunterricht. Nur wenn es die Pandemie gar nicht mehr anders zulässt, kommen als letzte Maßnahme Schulschließungen infrage.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bund stellt so viel Geld für die Schulen zur Verfügung wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Am Ende werden es allein für den DigitalPakt Schule 6,5 Milliarden Euro sein, und das ist wahrlich eine große Hausnummer.
({5})
In der Pandemie brauchen wir die digitalen Möglichkeiten dringender denn je. Deshalb hat die Regierungskoalition im Sommer noch einmal kräftig nachgelegt. Mit 500 Millionen Euro sorgen wir für digitale Endgeräte für Schülerinnen und Schüler, die kein eigenes Gerät besitzen, damit alle Kinder und Jugendlichen am digitalen Unterricht mitwirken können. Mit 500 Millionen Euro statten wir die Lehrkräfte mit Laptops aus, und mit 500 Millionen Euro bezahlen wir die Administratoren, damit die digitale Technik auch wirklich läuft und die Lehrkräfte von dieser Aufgabe entlastet werden.
({6})
Das alles sind eigentlich keine Bundesaufgaben. Aber danach fragen wir in dieser Krise nicht. Wir handeln als Bund, und wir helfen, gerade diese Regierungskoalition.
({7})
Handeln, das tun im Übrigen auch unsere Schulen. Die Lehrerinnen und Lehrer leisten Großartiges vor Ort in diesen Tagen, um guten Unterricht in Coronazeiten zu ermöglichen.
({8})
Die Schulleitungen leisten Großes, um den Schulbetrieb immer wieder neu zu organisieren. Auch die Schülerinnen und Schüler leisten ihren Beitrag: Sie tragen Masken auf den Fluren und auf den Schulhöfen. Deshalb sage ich Ihnen: Reden Sie nicht das Engagement all derjenigen klein, die diesen Laden am Laufen halten!
({9})
– Da Sie so laut rufen, richte ich mich an die Vertreter der Linkspartei:
({10})
Sie stellen doch in Thüringen den Kultusminister. Thüringen hat erst 150 000 Euro Landesmittel im DigitalPakt Schule verausgabt und keine Bundesmittel abgerufen.
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Andere Länder sind deutlich schneller und besser, um ihre Schulen zu unterstützen. Schauen Sie sich doch einmal die Fakten in den Bundesländern an.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Kinder sind keine Treiber des Infektionsgeschehens.
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Aber die Schülerinnen und Schüler sind ein wesentlicher Teil des Infektionsgeschehens, wie gerade in diesen Tagen die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina noch einmal unterstrichen hat. Dies zeigen uns die Zahlen aus anderen europäischen Ländern, aber auch aktuelle Zahlen des Robert-Koch-Instituts für Deutschland. Wenn wir uns die Infektionszahlen bei den 10- bis 19-Jährigen anschauen, stellen wir fest, dass sie besonders gravierend sind. Ich denke, dieses Thema verdient deshalb eine ganz besondere Aufmerksamkeit, gerade auch in der Diskussion der zuständigen Bundesländer.
Meine Damen und Herren, es sind gerade keine normalen, sondern außergewöhnliche Zeiten. Wir müssen die Maßnahmen gegen die Pandemie immer wieder anpassen, je nach Lage immer wieder nachjustieren, um gute Bildung auch in Zeiten von Corona zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Linksfraktion, man muss, wenn jemand etwas Richtiges sagt, das auch mal loben, und wir tun das, egal von welcher Fraktion es kommt. Das ist, glaube ich, wichtiger Teil einer parlamentarischen Kultur, den einige von Ihnen vielleicht ein bisschen vergessen haben. Insofern: Vielen Dank dafür, dass Sie dieses wichtige Thema angestoßen haben.
Aber, Frau Kollegin Bull-Bischoff, wenn Sie mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen, zeigen mindestens zwei Finger zurück. Kollege Rachel hat es schon zu Recht angedeutet: Sie sind ja in zwei Ländern in Regierungsverantwortung. Sie sind in Berlin beteiligt und in Thüringen vorneweg.
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Die Probleme, die Sie angesprochen haben, sind ja nicht erst seit gestern bekannt, sondern haben einen langen Vorlauf. Da frage ich mich schon: Was ist denn unter der Ägide Ihres KMK-Präsidenten Holter so Großartiges geschehen? Ich kann mich an keinen großen Aufbruch für unsere Bildungslandschaft erinnern. In der KMK wäre doch der richtige Ort, die Weichen zu stellen und die Schulen voranzubringen.
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Meine Damen und Herren, was uns jetzt auf die Füße fällt, ist doch genau das, was jahrelang versäumt worden ist. Die Klassen sind viel zu groß, sie sind überfüllt. Das ist keine neue Erkenntnis in der Pandemie, sondern das ist schon länger so. Lehrer klagen seit Jahrzehnten darüber. Aber was geschieht stattdessen? Hören wir etwas von einer Einstellungsoffensive, dass wir mehr Lehrer bräuchten oder dass mehr Lehrer eingestellt werden?
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Nichts dergleichen. Stattdessen treibt man auf dem Rücken der Schüler Projekte voran, die der Computer- und Softwareindustrie nutzen. Und selbst die helfen uns jetzt nicht in der Pandemie. Sie haben diesen DigitalPakt hier durchgedrückt, haben sich alle miteinander für diese Errungenschaft gefeiert. Aber jetzt in der Pandemie, wo man den DigitalPakt bräuchte, stellen wir fest: Er hilft gar nicht.
Was geholfen hätte, wäre eine frühzeitige Investition in das Personal gewesen. Was auch geholfen hätte – wir haben die Vorschläge dazu vorgelegt –, wäre beispielsweise eine Renovierung der Schultoiletten gewesen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Fragen Sie mal Schüler – falls Sie keine eigenen Kinder haben, die an einer Schule sind –, wie es immer noch an manchen Schulen auf den Toiletten aussieht. Das ist ein unmenschlicher Zustand, der einer modernen Zivilisation nicht würdig ist.
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Ich möchte ein Wort noch zu den Maßnahmen sagen, von denen man jetzt hört. Das geht in die Richtung der Bundesregierung. Wir lasen vor Kurzem in der Zeitung von einem Vorschlag, um die Pandemie jetzt in den Griff zu bekommen und einzudämmen, dass die Kinder in den Schulen sich überlegen sollten, den Kreis ihrer Freunde zu reduzieren. Jedes Kind solle sich doch bitte schön entscheiden, mit welchem Freund es sich treffen möge. Ja, ich weiß, der Vorschlag wurde wohl auch auf Druck der Öffentlichkeit und der Kultusminister vorerst zurückgenommen. Aber, meine Damen und Herren, das zeigt schon, welche Gedankenspiele hier möglich geworden sind, gerade auch seit den Entscheidungen gestern. Das muss man sich mal vorstellen: Kleine Kinder werden genötigt, zu sagen: Ich treffe mich jetzt nur noch mit dem Hans oder dem Anton oder einem anderen.
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Das ist unmenschlich, meine Damen und Herren. Auch Kinder- und Jugendpsychologen haben darauf hingewiesen, dass Sie mit solchen Maßnahmen nicht die Pandemie eindämmen, sondern unseren Kindern, unseren Jugendlichen schweren Schaden zufügen werden.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend auf die Frage eingehen, ob Schulschließungen wirklich notwendig sind. Zum Glück sind wir mittlerweile so weit, dass wir – hoffentlich alle – solche viel zu langen Schulschließungen, wie wir sie hatten, vermeiden wollen. Aber wie sieht es denn tatsächlich an den Schulen aus?
Dankenswerterweise haben wir eine Studie vorliegen, die inzwischen schon dreimal wiederholt worden ist, von der Medizinischen Fakultät der TU Dresden und des Dresdener Universitätsklinikums Carl Gustav Carus. Sie testeten im Mai 2020 im ersten Schritt immerhin 2 045 Schüler bzw. Lehrer an den Schulen. Dabei waren 507 Lehrer im Alter von 30 bis 66 Jahren beteiligt. Am Institut für Virologie konnten bei zwölf Proben zweifelsfrei Antikörper nachgewiesen werden. Unter dem Strich hat diese Studie ergeben, dass Schulen eben nicht das sind, was hier teilweise behauptet worden ist, nämlich Hotspots für die Ausbreitung dieser Pandemie.
Diese Studie, meine Damen und Herren, macht doch Hoffnung. Zu Recht hat der Studienleiter gesagt, dass eine flächendeckende Schulschließung nicht notwendig ist. Vielmehr betont Wieland Kiess, Direktor der Leipziger Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: „Wenn wir Kindern schaden wollen, dann sind Schulschließungen sehr effektiv.“ Wir sollten sie verhindern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Saskia Esken für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Lehrkräfte! Liebe Eltern! Liebe Schülerinnen und Schüler! Denn wir sprechen ja heute über Schule.
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Wir sprechen über Zukunft. Der einfachste Weg, die Zukunft vorherzusagen – das Zitat kennen Sie; ich formuliere es einmal anders –, ist, ein Versprechen zu geben und es dann auch zu halten.
Wir haben uns im Sommer alle in die Hand versprochen – lieber Herr Frömming, dazu braucht es Ihre Fraktion nicht –, dass es Schulschließungen nicht geben wird, nicht mehr geben darf. Wir wollen nicht zulassen, dass Familien und dass die Bildungschancen vor allem von Kindern von Gering- und Normalverdienern noch einmal die Verlierer der Pandemiebekämpfung sind.
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Denn geschlossene Schulen sind doch nichts anderes als verschlossene Lebens- und Bildungswege für Kinder, die ein Recht auf Chancengleichheit haben.
Geschlossene Schulen bedeuten schwere psychische Belastungen für Kinder und für die Familien eine krasse Überforderung. Viel zu oft sind Schulschließungen auch schlicht gleichbedeutend mit Betriebsschließungen,
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weil Väter und Mütter nicht arbeiten können, wenn ihre Kinder nicht betreut sind. Deshalb sage ich es auch heute in aller Klarheit: Die SPD steht zu ihrem Versprechen. Wir wollen keine Schulen mehr schließen.
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Aber wir werden nur dann erfolgreich sein, wenn wir auch die Realität der Pandemie anerkennen. Wir haben es mit einem hochaggressiven Virus zu tun, dessen Langzeitschäden wir noch nicht kennen, und das – anders als lange geglaubt – auch Schulkinder nicht verschont, insbesondere die älteren.
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Glücklicherweise erkranken sie nur sehr selten schwer. Und doch können sie andere anstecken: nicht nur Mitschülerinnen und Geschwister, sondern eben auch Lehrkräfte, Eltern und Großeltern und damit auch Angehörige von Risikogruppen.
Wir müssen eines begreifen: Bildungsgerechtigkeit und Gesundheitsschutz sind kein Widerspruch, sie sind keine Zielkonflikte. Wir können Sie zusammenbringen. Durch halbierte Lerngruppen und einen Wechsel aus Präsenz- und digitalem Distanzunterricht können wir das Infektionsrisiko massiv senken. Ein solches hybrides Wechselmodell können zumindest die mittleren und die höheren Jahrgänge auch ohne Betreuung der Eltern meistern. Wenn zudem die Schüler im Präsenzunterricht Masken tragen, dann hat das Virus eigentlich nur noch minimale Chancen. Dann können wir unser Versprechen halten, auch unter schwierigen Bedingungen.
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Die pädagogischen Konzepte für ein solches Wechselmodell sind bekannt, sie sind erprobt. Im Inverted Classroom, dem umgedrehten Klassenzimmer,
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erhalten die Schülerinnen und Schüler den Input zu Hause mit Lernvideos, mit Rechercheaufträgen, während Übung und Vertiefung dann im Klassenzimmer erfolgen. In der halbierten Lerngruppe erhält jeder und jede die individuelle Betreuung, die er oder sie benötigt.
Die Konzepte sind also da, und sie sind erprobt. Wir brauchen jetzt nur noch den Mut, neue Wege zu gehen und diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Die Politik in Bund und Ländern braucht den Mut, auf die Kreativität und das Verantwortungsbewusstsein von Lehrkräften, von Eltern und Schülern zu vertrauen und sie mit allem zu unterstützen, was sie dazu brauchen.
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Schulen und Lehrkräfte müssen digitale Bildungsangebote organisieren können, und jedes Kind muss die Möglichkeit haben, diese digitalen Bildungsangebote der Schule auch wahrzunehmen. Wir haben deshalb dafür gesorgt, dass das möglich ist. Die Koalition hat im Rahmen des Zukunftspaketes dieses Konjunkturpakets beschlossen, den DigitalPakt um weitere 1,5 Milliarden Euro aufzustocken. 500 Millionen Euro wurden bereitgestellt, um alle Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten zu versorgen, deren Eltern das nicht leisten können. 500 Millionen Euro gibt es für Endgeräte für Lehrkräfte, und weitere 500 Millionen Euro für die Administration dieser Geräte.
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Ein großer Gamechanger in den Schulen. Ich finde, das kann sich sehen lassen.
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Die Zukunft
– so sagte wiederum Victor Hugo –
hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.
Wir müssen zu den Tapferen gehören. Das ist unser Mandat, das ist unsere Pflicht, gerade jetzt in der schwersten Krise, in der gefährlichsten Pandemie seit 100 Jahren. Wir müssen die Chancen der digitalen Bildung erkennen und nutzen. Wenn wir jetzt den Mut haben, in der Bildungspolitik neue digitale Weg zu gehen, dann meistern wir nicht nur diese Pandemie, sondern dann erschließen wir eine ganz neue Zukunft für unser Bildungssystem, und zwar dauerhaft – für die Tapferen und für unsere Kinder.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Katja Suding für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Monaten steht die Welt Kopf. Viele Menschen sind in Sorge, dass sie selbst oder Familienmitglieder, Freunde und Bekannte an Covid erkranken und dass dieser Verlauf auch sehr schwer sein könnte. Das ist aber nur die eine Seite. Es sind vor allen Dingen die wirtschaftlichen und die sozialen Folgen der Pandemiebewältigung, die Bürgerinnen und Bürger schwer belasten.
Als Abgeordnete ist es unsere Aufgabe, dieses Gesamtbild in den Blick zu nehmen. Es wäre absolut fatal, wenn wir nur auf Corona und die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung schauten. Wir müssen auch ganz genau hinschauen, welche Folgen diese Maßnahmen haben, und dann mit kühlem Kopf abwägen und kluge Konzepte entwickeln.
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Ich sage das, weil das ganz besonders für die Kindergärten und die Schulen gilt; denn hier sind die Auswirkungen auf die Kinder und ihre Eltern dramatisch.
Wir erinnern uns alle noch sehr gut und sehr schmerzhaft an das bundesweite Unterrichtsdesaster, das wir zu Beginn der Coronapandemie erlebt haben.
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Die anfänglichen Schulschließungen in den ersten Wochen, vielleicht auch in den ersten wenigen Tagen, geschahen zu einer Zeit, in der wir alle noch fast nichts über das Virus wussten und als auch kaum Zeit war, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen und Hygienemaßnahmen zu ergreifen. Das war sicherlich nachvollziehbar und auch angemessen.
Dann aber im Laufe der Wochen und Monate die Klassenräume tatsächlich ohne jede Kenntnis über das Infektionsgeschehen in den Schulen ganz oder so gut wie geschlossen zu halten, das war damals ein riesengroßer Fehler. Über viel zu lange Zeit wurde unseren Kindern damals das Grundrecht auf Bildung verwehrt, und das war dramatisch.
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Es hatte wirklich erschütternde Folgen: Die Schüler haben während des ersten Schul-Lockdowns etwa ein Drittel des Lernstoffs des vergangenen Schuljahres verpasst. Allein das wird sie, über ihr Berufsleben gerechnet, im Durchschnitt rund 3 bis 4 Prozent ihres Erwerbseinkommens kosten.
Aber nicht nur unsere Kinder haben unter dieser Situation gelitten. Die Schulschließungen haben auch Eltern und unter ihnen überwiegend die Mütter durch die enorme Mehrfachbelastung aus Erwerbsarbeit, Haushalt, Betreuung und Homeschooling an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit und darüber hinaus gebracht.
Wenn Schulen schließen, dann fällt für viele Kinder der für ihre soziale Entwicklung so wichtige Kontakt zu Lehrkräften und Mitschülern weg. Besonders für von Gewalt bedrohte Kinder kann das Verschwinden des Sozialraums Schule schlimme Folgen haben. In ohnehin angespannten Situationen erhöhen geschlossene Kitas und Schulen das familiäre Konfliktpotenzial immens. Bereits im Sommer berichtete die Deutsche Presse-Agentur über steigende Zahlen von häuslicher Gewalt gegen Kinder. Auch das sind eben die traurigen und oft übersehenen Folgen von Schulschließungen, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen.
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Deshalb, meine Damen und Herren, müssen Bund und Länder noch viel klarer machen: Flächendeckende Schulschließungen wird es nie wieder geben. Und auch zu einer Halbierung von Klassen, die ohne zusätzliche Lehrkräfte einem Teil-Schul-Lockdown gleichkommt, darf es nie wieder kommen.
Seit zehn Monaten müssen wir nun schon mit dem Virus leben. Seit zehn Monaten wächst aber auch unser Wissen im Umgang mit Covid. Immer wieder bestätigen Studien, dass insbesondere Kinder unter zehn Jahren nur eine geringe Viruslast tragen, sie sich also seltener anstecken und das Virus weniger stark verbreiten. Und nur 1,8 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, also nur ein sehr, sehr kleiner Teil der Kids, ist derzeit in Quarantäne; das sagt die Kultusministerkonferenz. Wer in dieser Situation den Präsenzunterricht bundesweit beschränken will – ich nehme mit großer Sorge die Stimmen auch außerhalb dieses Hauses zur Kenntnis –, dem fehlt es schlicht an den belastbaren empirischen Fakten, meine Damen und Herren.
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Es ist jetzt einfach der falsche Zeitpunkt, das Schuljahr bereits verloren zu geben. Stattdessen brauchen wir neue Entschlossenheit und neuen Mut für kluge Hygienekonzepte. Studien der Universität der Bundeswehr und der Uni Frankfurt kamen bereits vor Wochen zu dem Ergebnis, dass Luftfiltergeräte die Aerosolkonzentration im Klassenraum um 90 Prozent reduzieren können. Nutzen wir also die technischen Möglichkeiten und statten wir die Klassenräume endlich mit solchen Luftfiltergeräten aus.
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Hier ist auch Frau Karliczek gefragt, und da reicht auch das Versprechen, wie ich es hier heute mehrfach gehört habe, nicht aus. Es müssen eben auch die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, damit dieses Versprechen umgesetzt werden kann. Einige Bundesländer sind bereits erste Schritte in diese Richtung gegangen. Die Landesregierung in NRW beispielsweise hat kurzfristig 50 Millionen Euro für die Anschaffung von Luftfiltergeräten bereitgestellt.
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Das Bild, das Herr Rachel hier eben gezeichnet hat, geht wirklich komplett an der Realität vorbei. Die Bundesregierung hat den Sommer eben nicht genutzt, um die Schulen pandemiefest zu machen. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle auch noch einmal an Frau Karliczek, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und endlich eine krisensichere Infrastruktur zu schaffen, damit wir den Präsenzunterricht durch Luftfilter und durch eine gute digitale Ausstattung, also auch die Ausschüttung aus den Mitteln des DigitalPakts, so gut wie möglich stattfinden lassen können, auch über den Winter. Die Frau Ministerin – bitte richten Sie ihr das aus – soll endlich aufwachen. Nur so werden wir einen erneuten Kollaps des Bildungssystems verhindern.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Margit Stumpp das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Damen und Herren! Aus der ersten Welle der Pandemie haben wir gelernt und Kitas sowie Schulen offen gehalten; denn wie sehr sich mangelnder Kontakt zu den Lehrkräften auf den Lernerfolg auswirkt, haben uns die Schulschließungen schmerzhaft vor Augen geführt. Je jünger die Kinder sind, umso drastischer sind die Folgen, umso mehr werden Bildungschancen geschmälert.
Eine andere Erkenntnis, Frau Suding, scheint allerdings trügerisch zu sein: Die steigenden Infektionszahlen in den Schulen nähren Zweifel an der These, dass Kinder bei Weitem nicht so infektiös seien wie Erwachsene. Inzwischen scheint es, als zeigten Kinder eher atypische Krankheitsverläufe. Folge: Die Krankheit wird nicht erkannt; die Kinder können aber dennoch ansteckend sein. Das erhöht die Ansteckungsgefahr, erschwert die Nachverfolgung und die Eindämmung der Pandemie.
Um tatsächlich Klarheit zu bekommen, müssten wir in Schulen regelmäßig und flächendeckend testen. Diese Kapazitäten haben wir nicht. Das ist bekannt, und trotzdem haben sich die Mehrzahl der Verantwortlichen nicht mit einem Plan B, mit dem besseren Organisieren von Pandemiemaßnahmen oder notwendigen Schulschließungen auseinandergesetzt. Das war und ist fahrlässig.
Über den Sommer und danach wurde es geradezu sträflich versäumt, die Schulen für eine zweite Welle vorzubereiten. Denn die bisherigen Maßnahmen, die mühsam erarbeiteten und umgesetzten individuellen Hygienepläne, die AHA+L-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske plus Lüften –, reichen eben nicht mehr aus, um die Infektionszahlen in Schulen einzudämmen. Wir brauchen zusätzliche Maßnahmen.
Es wurde erwähnt: Untersuchungen zeigen, dass mobile Luftfilter die Virenlast deutlich reduzieren können; HEPA-Filter scheinen sehr wirksam zu sein und sind sofort einsetzbar. Deshalb fordern wir erstens im Haushalt 500 Millionen Euro für ein Förderprogramm „Mobile Luftfilter“ ausschließlich für finanzschwache Kommunen bzw. Quartiere.
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Der Verteilungsschlüssel soll sich an der Einwohnerzahl, dem Kassenkreditbestand und der Arbeitslosenzahl orientieren, damit das Geld dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird.
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Wir brauchen zweitens ein Förderprogramm für die digitale Grundausstattung aller Schulen.
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Organisation, Technik, Pädagogik: Die Mittel des Digitalpakts können darauf aufbauend genutzt werden. Damit digitale Strukturen nachhaltig und verlässlich geschaffen werden, brauchen wir zudem dessen Verstetigung in einem Digitalpakt plus.
Die digitale Grundausstattung ist zwingend – dritter Punkt –, damit die jetzt notwendigen Blended-Learning-Konzepte umgesetzt werden können – ja, da gibt es Konzepte –, weil es zwischen Vollzeitpräsenzunterricht und Schulschließungen doch viele Zwischenstufen gibt, um das Infektionsgeschehen vor Ort in Griff zu bekommen: versetzter Unterrichtsbeginn, geteilte Klassen, feste Lerngruppen oder größere Räumlichkeiten. Damit eine zweite Bildungskrise ausbleibt, die vor allem die eh schon Benachteiligten am härtesten trifft, braucht es jetzt die intelligente und pandemieadäquate Kombination aus Unterricht im Klassenraum und digitalen Angeboten im Fernunterricht.
Wir brauchen viertens eine Bundeszentrale für digitale und Medienbildung, die Orientierung und Unterstützung für Lehrkräfte und Schulträger bietet. Dafür fordern wir 10 Millionen Euro pro Jahr; denn niedrigschwellige verlässliche Information ist ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierung an Schulen.
Last, but not least müssen wir den Bildungsföderalismus auf tragfähige Füße stellen. Die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems – Stichwort: PISA – die Durchlässigkeit, die Chancengerechtigkeit waren schon vor der Krise schwach. Doch seit dem Frühjahr werden die Baustellen und Unzulänglichkeiten gnadenlos sichtbar.
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Frau Suding, die KMK kümmert sich noch nicht einmal um zentrale Informationen über geschlossene Schulen bzw. Coronafälle in Bildungseinrichtungen – wir haben nachgefragt –, während sich die Bildungsministerin ohne Inspiration und Ideen durch die Krise wurschtelt. Ergebnis: Kinder, Lehrkräfte und Eltern vermissen schmerzlich gemeinsame Standards und Leitplanken. Verschärft wird dies noch durch eine vielstimmige und verwirrende Kommunikation, die eher verunsichert als stützt.
Bildung ist eine gesamtpolitische Aufgabe. Wenn die Krise retrospektiv die Bildung wenigstens in Teilen vorangebracht haben soll, dann müssen wir aus dem jetzt Offensichtlichen die richtigen Schlüsse ziehen. Lassen Sie uns endlich die Grundlagen dafür schaffen, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam tatkräftig, nachhaltig und gezielt für gute Bildung sorgen können!
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Dafür braucht es ein Kooperationsgebot statt des endlosen Hin- und Herschiebens von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Das können und das wollen die Betroffenen nicht mehr hören. Sie erwarten von uns zu Recht Orientierung und Lösungen; jetzt mehr denn je.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Dietlind Tiemann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben alle heute sicherlich Zeitung gelesen oder wieder gehört, wie sich die Infektionszahlen entwickeln, natürlich auch in Schulen. Das wollen wir nicht wegdiskutieren. Aber wir wissen zum einen auch, wie die Verhältnismäßigkeit der Zahlen ist. Zum anderen – das ist bei den Vorrednern schon ein Stück weit sehr deutlich geworden –: Bangemachen hilft nicht, Frau Suding und Frau Stumpp. Überholen ohne einzuholen hat auch schon einmal nicht funktioniert.
Das heißt, wenn wir immer wieder infrage stellen, was wir gemacht haben, dann ist es richtig. Wir haben infrage zu stellen: Ist das richtig, was wir entschieden haben, und wie kommt es an? Aber doch nicht immer in einer Form, dass wir sagen: Dann machen wir einmal schnell etwas Neues. – Gelder beschlossen, Gelder noch nicht alle abgerufen, Gelder noch nicht alle umgesetzt, aber wir sagen schon einmal, wofür wir das nächste Geld brauchen. – Ich denke, das ist der falsche Weg.
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Fragen Sie einfach einmal einige Schulleiter. Ich habe 14 Jahre damit zu tun gehabt, vielleicht zum Glück nicht in einer Zeit wie heute. Sie können gerne einmal nachfragen. Jeder Schulleiter sagt Ihnen: Geben Sie mir einmal ein Stückchen Planungssicherheit, ein bisschen Ruhe, dass wir auch einmal arbeiten können. – Das ist das Gebot der Stunde.
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Gelder, die wir beschließen, müssen auch in Zeiten wie diesen, in außergewöhnlichen Zeiten, entsprechend Rahmenbedingungen vergeben werden. Sie alle wissen, die Diskussion über die Medienkonzepte ist so hochgekommen, weil es hieß: Die Mittel können nicht abgerufen werden, da die Vorbereitungen der Länder, Kommunen und der Träger noch nicht so weit gewesen ist, weil die Schulen einfach die Voraussetzungen nicht hatten. – Genau an dieser Stelle haben wir entschieden, zu sagen: Dann kommen die Medienkonzepte später, aber sie kommen; denn sie sind Voraussetzung für den Abruf.
Es ist an dieser Stelle ganz wichtig, zu sagen: Wir bestreiten nicht, dass die Verunsicherung groß ist, nicht nur wegen der Zahlen – die muss man immer in Relation setzen –, sondern auch wegen täglich neuer Berichte. Jeder analysiert, jeder hat eine Meinung, jeder gibt sie preis. In dieser Mediengesellschaft können Sie stündlich, täglich, manchmal minütlich neue Erkenntnisse lesen. Wie soll jemand, der für Kinder und Jugendliche Verantwortung hat, das dann noch umsetzen? In einer Situation, in der wir uns als Bund verantwortlich sehen, darf es nicht dazu kommen, dass wir sagen: Umgesetzt wird es nicht, weil die Länder es nicht machen und die Kommunen nicht hinterherkommen. – Das ist nicht die richtige Art und Weise, das führt zu Verunsicherung. Wichtig ist, dass diese Themen hier auf den Tisch kommen und dass wir wissen, wo der Hase im Pfeffer liegt, wo wir fragen können und müssen: Wo haben wir anzusetzen?
Was wir geleistet haben, welche Beschlüsse wir gefasst haben, das wissen Sie alle bestens. Dankenswerterweise hat Herr Staatssekretär Rachel noch einmal darauf hingewiesen. Ich glaube, eines ist ganz wichtig neben der Planungssicherheit – darunter verstehe ich auch unser gemeinsames Interesse und unsere gemeinsame Verantwortung; liebe Kollegen der AfD, wenn Sie einmal zuhören würden –: Wir wollen die Schulen offen lassen; nicht um jeden Preis, mit großer Verantwortung. – Aber das, was wir in der ersten Welle der Pandemie alle gemeinsam gelernt haben, können wir heute als Erkenntnis einsetzen. Wir wissen gut, wie wir zu reagieren haben; denn das Letzte, was wir machen sollten, wäre es, Schulen zu schließen.
Es gibt noch viele Möglichkeiten, die man verbessern kann. Mir würden viele einfallen, nicht nur, dass das Geld, das beschlossen wurde, abgerufen wird und an den Stellen wirklich umgesetzt wird, wofür es gedacht wird. Ja, es gibt Möglichkeiten. Wissen Sie, wenn man heute über Block- und Schichtunterricht spricht, dann halte ich es nicht für eine Strafe, wenn eine Klasse mit 28 Schülern, die heute auch noch so unterrichtet wird, dann mit 14 Schülern unterrichtet wird. Das wäre ganz toll. Aber Sie müssen natürlich die Lehrerstunden dafür haben, das wissen wir auch alle. Wichtig sind Kontinuität und Augenmaß bei dem, was wir zu entscheiden haben. Das Gebot der Stunde ist Umsetzung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion in diese Richtung zu führen, hilft uns allen ein Stückchen weiter.
Wenn wir uns hier einig sind, dass die Mittel für die Entwicklung in den Schulen, die hier bei uns zu beschließen sind, Eingang in den Haushalt finden, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Wir alle sollten in unseren Wahlkreisen darauf achten, dass das, was beschlossen wird, unabhängig von der Farbenlehre der Parteien vor Ort, auch umgesetzt wird; denn es geht um unseren Nachwuchs, es geht um die Kinder und Jugendlichen, um die Zukunft unserer Bundesrepublik. Darüber haben wir zu befinden. Das entscheiden wir hier. Ich bin der festen Auffassung, wir sind auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Robby Schlund für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Fernsehzuschauer! Jeder von uns hat seinen ganz eigenen SOS-Morsecode und einschlägige Erfahrungen mit Schultoiletten. Wir sind uns doch einig, dass die Hygiene auf den Schultoiletten – früher wie heute – absolut verbesserungswürdig ist. Denken Sie doch zurück: Da fehlt es an Seife, alles ist vollgeschmiert, und meistens sind die Becken verstopft oder defekt. Jedenfalls ist dieser Schulbereich natürlich anfällig für übertragbare Krankheiten. Es ist nicht zu leugnen, dass selbst damals in der DDR das sogenannte Hygienepersonal für eine ordentliche Sauberkeit und Hygiene gesorgt hat.
Kommen wir aber nun zum eigentlichen Heiligen Gral: die Maskenfrage. Es macht natürlich überhaupt keinen Sinn, wenn in der Klasse zwar auf Masken verzichtet wird, aber die Kinder sich auf den Gängen wieder vermischen und nur beim Schuleingang die Masken getragen werden. Was für ein Quatsch, was für ein Irrsinn! Masken überhaupt zu tragen, das mag für ältere Schüler über 14 Jahren noch zu diskutieren sein, aber bei kleineren Kindern, die noch durch die Funktion ihrer Thymusdrüse geschützt sind, definitiv nicht.
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Insofern der Vorschlag, die Maskenpflicht überhaupt erst ab dem 14. Lebensjahr einzuführen, zumal die sogenannten Alltagsmasken – wir reden hier nicht über FFP2- oder FFP3-Masken – selbst fast gar keine Wirkung haben und Viren durchlassen, wie es im Übrigen Studien eindrucksvoll belegen. Sie können es gerne nachlesen.
Die Schließung vieler kleiner Schuleinrichtungen zeigt sich nun auch aus Pandemiesicht als ein Kardinalfehler. Kleinere lokale Einheiten in semiautarken Wirtschaftsclustern würden die Ausbreitung verhindern. Das setzt aber voraus, meine Damen und Herren, dass man auch willens ist, mehr in Bildung zu investieren. Neben Lehrern zählt dazu auch Sicherheits- und Hygienepersonal.
Die Lüftungsversuche sind vom Ansatz her nicht so verkehrt, aber auch hier wissen wir alle aus eigener Erfahrung: Die meisten Fenster in den Schulen sind kaputt oder klemmen. Investitionsstau, wo man nur hinschaut. Und da, wo die Fenster tatsächlich einmal funktionieren, trifft es eine zufällig ganz besonders grippeanfällige Klasse. Wie konnte so etwas in einem modernen Land wie Deutschland passieren?
Aus der pandemischen Wundertüte werden jetzt Unsummen für Lüftungssysteme geopfert. Aber ich will nochmals darauf hinweisen, dass Kinder unter 14 Jahren zur Entwicklung ihres Immunsystems eine Freund-Feind-Erkennung brauchen.
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Dieses Training macht sehr effizient die sogenannte Thymusdrüse, die circa nach dem 14. Lebensjahr verschwindet.
Und noch etwas, meine Damen und Herren: Durch die ständige Filterung der Luft kommt es zur Hospitalisierung des Klassenzimmers.
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Die Folgen sind gehäufte Allergieneigung und – –
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– Ja, was quatschen Sie dazwischen? Lesen Sie mal bitte in Studien nach, und lassen Sie hier nicht nur so populistisches Zeug los.
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Es ist doch wahr: Sie leben in Ihrem eigenen Brei, anstatt die Folgen im Blick zu haben: die gehäufte Allergieneigung und funktionelle Immunschwäche. Das sind doch die Probleme, mit denen wir uns in der Zukunft beschäftigen müssen. Das ist aber das, was unsere Kinder nun, in diesen Zeiten, am wenigsten brauchen.
Die Kinder neigen durch das völlig verfehlte Management zu aggressivem Fehlverhalten, leiden unter Müdigkeit und Konzentrationsschwäche, und der sensomotorisch-psychosoziale Entwicklungsprozess ist erheblich gestört.
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Der derzeitige Umgang in der Schule führt bei den Kindern zu Stress, Angst und Zukunftsverdrossenheit.
Mein Wunsch an alle Abgeordneten hier im Haus ist, ohne dieses Lockdown-Geschwafel offen und verantwortungsbewusst mit der Situation umzugehen. Statt Angst sollte man den Kindern Zuversicht und Visionen geben.
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– Was Sie machen: Sie betrügen sie um ihre Kindheit und Jugend.
Wie sagte so schön Bettina Wegner über die Kinder – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Grade klare Menschen wär’n ein schönes Ziel.Leute ohne Rückgrat hab’n wir schon zu viel.
Schauen Sie einfach mal zurück auf gestern, auf die Straße: Das sind unsere Menschen. Für die sollten Sie hier sitzen.
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Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in einer pandemischen Lage. Was wir jetzt schaffen müssen, ist, dass wir gut durchkommen, gesund bleiben und dafür sorgen, dass diejenigen, die krank werden, die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten, dass wir das Recht auf Bildung sichern, gerade für diejenigen, die es ohnehin schon am schwersten haben, und dass wir die richtigen Lehren aus der Pandemie ziehen, auch für die Zeit danach; denn es wird auch eine Zeit nach der Coronapandemie geben.
Deswegen: Die Situation ist herausfordernd. Schätzungen gehen davon aus, dass sich derzeit etwa 300 000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne befinden. Das ist eine enorme Herausforderung für den Schulalltag, jeden Tag eine neue Situation; das ist gar keine Frage. Ich will es aber auch einmal umgekehrt betrachten: Umgekehrt heißt das eben auch, dass über 8 Millionen Schülerinnen und Schüler allein an allgemeinbildenden Schulen – da kommen noch mal 2 Millionen in den berufsbildenden Schulen dazu – derzeit in die Schule gehen und ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können, teilweise unter täglich veränderten Rahmenbedingungen. Das ist eine großartige Leistung, die unsere Schulen und die Schulverwaltungen jeden Tag aufs Neue für Schülerinnen und Schüler erbringen.
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Diese Menschen, die sich jeden Tag darum bemühen, verdienen jetzt auch Klarheit, wie es weitergeht. Die Hoffnung liegt auf der Konferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern in der nächsten Woche. Ich finde es richtig, zu überlegen – und ich höre auch schon, dass beispielsweise das Bundesland Hamburg dazu Vorschläge erarbeitet –, wie es im Schulbetrieb weitergehen kann. Ich finde es richtig, dass das die Länder machen. Sie sind am Schulbetrieb näher dran als das Kanzleramt. Aber es ist jetzt auch wichtig, dass sich die Regierungschefs von Bund und Ländern in der nächsten Woche einigen, wie es weitergeht – langfristige Lösungen, klare und verbindliche Vorgaben und ein Vorgehen, das in allen Ländern gilt. Es ist ein klarer Weg notwendig, weil wir sonst die Schulen nicht offen halten können. Deswegen: ein klarer Weg, damit die Schulen geöffnet bleiben können.
Und wir haben was erreicht. Der erste Bildungsort, den die Kinder erleben, ist die Familie. Gerade dort treffen sie auf ganz unterschiedliche Lernumgebungen. Damit keiner abgehängt wird – gerade in den Zeiten, in denen der Präsenzunterricht runtergefahren wird –, haben wir den Weg dafür bereitet, dass digitale Endgeräte beschafft werden können, dass Lernplattformen eingerichtet werden können und dass hoffentlich bald auch der günstige Netzanschluss kommt. Das alles haben wir schon erreicht.
Das Lernen zu Hause trifft auf völlig unterschiedliche Voraussetzungen und Lernumgebungen in den Elternhäusern. Jedes Kind bringt seine eigene Geschichte mit, bevor es in die Schule kommt. Aber jedes Kind verdient immer die gleichen Chancen und einen guten Start. Dafür können wir etwas tun. Das ist Chancengleichheit, die wir sicherstellen wollen.
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Wir haben viel gelernt. Von den 500 Millionen Euro, die für die Beschaffung von digitalen Endgeräten für Schülerinnen und Schüler bereitgestellt werden, wird nach meinen Informationen fast das gesamte Geld noch in diesem Jahr abgerufen. Das Geld fließt ab. Wir haben aber auch gelernt, dass der Verteilungsschlüssel, der gewählt worden ist, nicht die soziale Lage abbildet, sondern dass das Geld nach der Bevölkerungszahl verteilt wird. Der Fehler ist jetzt gemacht; die Bitte an die Bundesregierung ist aber, bei zukünftigen Vorhaben darauf zu achten, dass das Geld nach Bedürftigkeit und nicht mit der Gießkanne verteilt wird; da sollen Bayern und Baden-Württemberg ruhig schreien. Meine Bitte ist, so eine Vereinbarung in Zukunft nicht mehr zu unterschreiben, sondern an der Stelle für Gerechtigkeit zu sorgen.
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Was wir auch hören, ist – wir haben viel gelernt –, dass Lehrerinnen und Lehrer gerne auch mit digitalen Lernmitteln den Unterricht gestalten wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass solche Lernmittel entwickelt werden und dass die Lehrerinnen und Lehrer darauf zugreifen und sie vor allem rechtssicher nutzen können, dass sie sich in keiner rechtlichen Grauzone bewegen. Deswegen hier der Hinweis: Die Koalition hat eine Strategie für Open Educational Resources, für frei teilbare Lernmittel, vereinbart. Wir wünschen uns, dass dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag jetzt auch zügig umgesetzt wird. Die Lehrerinnen und Lehrer brauchen Rechtssicherheit für den Einsatz digitaler Lernmaterialien.
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Jetzt steht natürlich die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs in der Krise im Mittelpunkt – das ist völlig klar –; aber es wird, wie gesagt, auch eine Zeit nach Corona geben. Corona hat jetzt schonungslos offengelegt, wo unsere Defizite sind. Aber wenn wir die richtigen Lehren ziehen, dann kann Corona auch ein Beschleuniger für die Schul- und Unterrichtsentwicklung und insbesondere die Digitalisierung werden. Genau das sollte unser Anspruch sein. Digital unterstütztes Lernen erweitert die Lernmöglichkeiten, ermöglicht individualisiertes Lerntempo, ermöglicht Kooperation – wichtige Voraussetzungen, um in der zukünftigen Arbeitsgesellschaft zurechtzukommen. Digitalisierung kann auch Lehrerarbeit und Verwaltungsarbeit unterstützen.
Deshalb noch mal zum Beginn meiner Rede: 8 Millionen Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen können zur Schule gehen. Wenn wir das Engagement der vielen Menschen, die heute jeden Tag dafür sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen können, wertschätzen wollen und sollen, dann darf die Unterstützung nach der Krise nicht nachlassen, dann darf es nicht bei Krisenbewältigung bleiben, dann muss der Weg in die Digitalisierung weitergegangen werden, und zwar zum Nutzen von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Astrid Mannes das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wenn wir bislang verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen sind und besser dastehen als die meisten Länder um uns herum, so gilt es jetzt doch, alles zu tun, um das dynamische Infektionsgeschehen einzudämmen und ein Zusammenbrechen des Gesundheitssystems zu verhindern. Unser Ehrgeiz muss darin liegen, flächendeckend wieder den Schwellenwert von unter 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner zu erreichen. Und daher ist es richtig, dass unsere Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten im engen und ständigen Austausch stehen; denn es geht nur im engen Schulterschluss.
Aber Kinder dürfen nicht die Verlierer der Pandemie sein, und daher ist es jetzt wichtig, dass die Voraussetzungen für digitales Lernen vorhanden sind. Der Bund unterstützt hier sehr engagiert. Wir haben das vorhin schon gehört.
Das Handeln des Bundes bleibt aber Stückwerk, wenn es nicht von den Ländern, den Kreisen, Städten und Gemeinden im engen Miteinander flankiert wird. Und es ist schon von allen Fraktionen bekräftigt worden, wie wichtig es ist, die Schulen auch bei diesem hohen Infektionsgeschehen weiter offen zu halten.
Wir wollen alles tun, um Schulschließungen zu vermeiden. Wir können auf die Erfahrungen aus dem Frühjahr zurückgreifen und wissen nun, wie wichtig es ist, Präsenzunterricht so lange wie möglich zu ermöglichen. Darin bestätigt uns auch eine Umfrage des ifo-Instituts vom Juni dieses Jahres, die zeigt, dass Schüler trotz des weitverbreiteten Onlineunterrichts im Schnitt nicht einmal halb so viel lernen, wenn die Schule geschlossen ist. Die tägliche Lernzeit war demnach von 7,4 Stunden auf 3,6 Stunden gesunken.
Die Leopoldina erklärt aktuell, dass die Schulen vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung a) für das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen und b) für das Infektionsgeschehen insgesamt jetzt in die Lage versetzt werden müssen, konsequent alle dringend notwendigen Schutzmaßnahmen unbürokratisch ergreifen zu können. Die Leopoldina hat konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, die eingehalten werden sollen, um die Schulen weiter offen halten zu können. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Länder diese Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften prüfen und umsetzen.
Eine wichtige Empfehlung der Leopoldina wie auch des Robert-Koch-Instituts ist das regelmäßige Lüften. Bayern wird mit 50 Millionen Euro den Einbau von Lüftungsanlagen in Schulen und Kitas fördern, und auch andere Bundesländer – so auch mein Bundesland Hessen – haben angekündigt, Gelder für die Ausstattung der Schulen mit Lüftungsanlagen bereitzustellen.
Entscheidend ist auch, dass Schülern während der Quarantänezeiten Distanzlernen ermöglicht wird. Um dies zu ermöglichen, hat die Bundesregierung finanzschwere Programme für die Digitalisierung an den Schulen einschließlich der Anschaffung von Endgeräten und der IT-Unterstützung bereitgestellt; das hat der Staatssekretär vorhin schon ausgeführt.
Es darf natürlich nicht sein, dass man Abstands- und Hygienemaßnahmen in der Schule verordnet und gleichzeitig dieselben Schüler auf dem Weg zur Schule in den Schulbussen kaum den Abstand einhalten können. Auch hier sind die zuständigen Ebenen mit kreativen Lösungsansätzen gefordert.
Ich möchte zum Schluss auch noch einen ganz herzlichen Dank an die Schulleitungen, an die Lehrkräfte sowie an die Eltern und Schüler für den sehr konstruktiven Umgang mit dieser schweren Situation aussprechen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind mittendrin in der zweiten Welle der Pandemie, und mittlerweile ist klar: Auch Kinder, auch Schülerinnen und Schüler sind unter den Infizierten und können die Krankheit weiterverbreiten. Die Frage, die jetzt im Raum steht und die die Menschen beschäftigt, ist: Wie geht es weiter mit den Schulen, wie geht es weiter mit den Bildungseinrichtungen? Droht wieder die völlige Schulschließung wie im Frühjahr mit allen negativen Folgen für die Kinder, für ihr soziales Leben, für ihre Bildungschancen und mit den negativen Folgen für die Berufstätigkeit der Eltern und für die Gleichstellung von Frauen?
Gleichzeitig sorgen sich natürlich die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler um ihre Gesundheit, wenn sie zum Beispiel nach einer Fahrt im überfüllten Bus oder in der überfüllten Bahn dann im Klassenzimmer auf andere 20 bis 30 Menschen treffen, die den gleichen Weg hinter sich haben. Ich finde, das sind wichtige Fragen, und ich finde es absolut skandalös, wie wenig die Bundesregierung bislang hier beizutragen hat und wie wenig sie das alles offenbar interessiert. Das ist ungeheuerlich!
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Was muss das Ziel sein, Kolleginnen und Kollegen? Das Ziel muss sein, die Schulen und Bildungseinrichtungen möglichst offen zu halten – da sind wir uns einig – und trotzdem keine unnötigen Risiken für die Beschäftigten und die Schülerinnen und Schüler einzugehen. Das ist doch das Ziel. Aber für die Erreichung dieses Zieles muss man etwas machen. Dafür braucht es doch einen Plan. Da darf sich diese Große Koalition nicht länger aus der Verantwortung stehlen.
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Das, was wir jetzt gerade erleben, kommt wirklich nicht überraschend. Es war bekannt, dass es eine zweite Welle geben wird; es war bekannt, dass es schwieriger werden wird, die Pandemie in der kalten Jahreszeit in den Griff zu kriegen, weil sich das Virus eben besonders gut in geschlossenen Räumen verbreitet. Meine Partei Die Linke hat wirklich im Wochentakt den Sommer über Vorschläge gemacht, wie man einigermaßen pandemiefest über die Wintermonate kommen kann,
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mit Ideen für einen besseren Infektionsschutz am Arbeitsplatz oder zum Beispiel mit der frühen Beschaffung von Luftfiltern.
Und was macht die Bundesregierung? Ende Oktober legen Sie ein Förderprogramm für Lüftungsanlagen in öffentlichen Einrichtungen auf. Im Oktober! Und dann fördern Sie noch nicht mal mobile Luftfilter, obwohl deren Wirksamkeit auch längst nachgewiesen wurde. Ja, wie kurzsichtig ist das denn, bitte schön?
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Und über die Frage von baulichen Maßnahmen an Schulen haben Sie sich bis jetzt gar keinen Kopf gemacht. Dabei wissen wir von Hunderten Schulen, bei denen sich nicht mal die Fenster öffnen lassen aufgrund der baulichen Gegebenheiten. Warum gibt es hier keine Vorschläge? Warum passiert denn da nichts?
Es ist ein kapitales Versagen dieser Regierung, dass Sie das letzte halbe Jahr, dass Sie wichtige Monate einfach haben verstreichen lassen, in denen man vieles hätte auf den Weg bringen können, das uns jetzt dabei geholfen hätte, drastische Maßnahmen zu verhindern. Das wäre die Aufgabe dieser Regierung gewesen.
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Sie sagen immer, dass Sie Schulschließungen vermeiden wollen. Das ist ja auch richtig; denn natürlich geht es darum, Bildung zu gewährleisten. Darauf haben die Kinder und die jungen Menschen einfach ein Recht. Aber mit dem Aufsagen dieses Satzes ist es doch nicht getan. Das ist doch kein Beten des Rosenkranzes.
Die Wahrheit ist: Wegen der Versäumnisse dieser Regierung wird das Szenario von Homeschooling und Schulschließungen immer wahrscheinlicher. Das ist die Situation. Und wen wird das dann wieder am härtesten treffen? Die Alleinerziehenden, diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich ihre Arbeitszeiten eben nicht flexibel einteilen können. Und es wird diejenigen Schülerinnen und Schüler am heftigsten treffen, die eben nicht aus begüterten und topgebildeten Elternhäusern kommen, für die kein neuer Laptop und schnelles Internet bereitstehen, sondern bei denen vielleicht Sprachbarrieren bestehen und wo die Eltern vielleicht nicht helfen können. Eine Schulschließung unter solchen Vorzeichen ist ein Programm zur sozialen Spaltung, und das ist nicht hinnehmbar.
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Kolleginnen und Kollegen, die Schulen und Bildungseinrichtungen haben nicht erst seit gestern ein Problem. Seit Jahren gibt es einen Lehrkräftemangel, der mit dafür verantwortlich ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer schon lange vor der Pandemie zu einer der am schlimmsten überlasteten Berufsgruppen zählen, der es natürlich auch jetzt gerade erschwert, die Klassen zu teilen. Warum machen Sie nicht endlich etwas dagegen? Warum legen Sie nicht endlich ein Programm für die Ausbildung von mehr Lehrkräften auf? Das ist doch überfällig, Kolleginnen und Kollegen.
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Ich sage Ihnen: Einen wirklichen Gesundheitsschutz an Schulen gibt es nur durch Investitionen. Dafür muss man Geld in die Hand nehmen, und zwar spätestens jetzt. Die Lufthansa haben Sie mit einem Milliardenpaket gerettet, für Rüstungsprojekte mobilisieren Sie im Rahmen des großen Konjunkturpakets 10 Milliarden Euro, aber für 8 Millionen Schülerinnen und Schüler und für 800 000 Lehrkräfte in diesem Land lässt sich kaum Geld mobilisieren. So eine Schieflage! Das können Sie niemandem erklären. Machen Sie endlich Politik für die Menschen, die es am dringendsten brauchen!
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Von 1995 bis 2009 war ich Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Die Rede, die wir gerade gehört haben, hätte ich damals in der Zeit der Schröder/Fischer-Regierung auch halten können. Manche von uns haben sie auch damals im Landtag von Nordrhein-Westfalen gehalten, als wir in der Opposition waren und mit dem Verweis auf Bonn bzw. Berlin gesagt haben: Es ist unerträglich, wie schlecht die Ausstattung von allem ist, weil der Finanzminister des Bundes nicht genügend Geld gibt.
Aber, verehrte Frau Kollegin, ich finde, so eine Rede dürfen Sie im Deutschen Bundestag nicht halten, und heute schon gar nicht;
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denn die Länder, finanziell jedenfalls, sind durch die Politik der vergangenen Koalitionsregierungen stärker geworden als der Bund. Der Bund ist durch deren permanente erfolgreiche Einwerbung von Mitteln aus dem Bundeshaushalt für viele, viele Zwecke in eine Belastungssituation geraten; jedenfalls ist nicht jeden Tag Wunschkonzert.
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Ich finde, Sie machen es sich ein klein bisschen zu einfach, wenn Sie von der grundsätzlichen Aufteilung der Aufgaben ablenken.
Bildungspolitik ist nach dem Grundgesetz nun mal Sache der Länder; sie ist das Privileg der Länder. Die Länder halten sich den Bund, dem sie Aufgaben übertragen, und die anderen Aufgaben erfüllen sie selbst.
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Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie sagen: Wir nehmen einfach die Länder aus der Verantwortung heraus.
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Ich will mich bei Ihnen von den Linken trotzdem für eines bedanken. Sie schreiben in Ihrem Antrag „Unterstützung für Schulen in der Pandemie“, den wir demnächst beraten werden – es geht in dieser Drucksache um die gleiche Thematik wie in dieser Aktuellen Stunde –:
Die von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen, um die Pandemie einzudämmen und damit das Leben vieler Menschen zu schützen und alle Beschäftigten im Medizin- und Pflegesektor nicht zu überfordern, sind im Grundsatz notwendig und richtig –
– danke dafür –
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aber nicht ausreichend.
Ja, welche Opposition bezeichnet die Maßnahmen der Regierung schon als ausreichend? Das verlange ich nicht, und das erwarte ich auch nicht.
Aber ich sage, weil das in dieser Ausführlichkeit noch gar nicht hier vorgetragen worden ist, Danke dafür, dass wir uns in der Frage des Fortbestehens der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder angenähert haben. Bei der gestrigen Entscheidung gab es 422 Jastimmen und 134 Enthaltungen bei der FDP und bei den Linken. Das nehme ich als ein Zeichen des gemeinsamen Sorgens.
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Ich glaube, dass wir die Maßnahmen, die wir jetzt getroffen haben, optimistisch beurteilen können; denn wir erleben in der Tat ein Abfedern der exponentiellen Dynamik. Die Notbremse zeigt also Wirkung, und sie zeigt ihre Berechtigung. Die Vereinbarung der Regierungschefinnen und ‑chefs hatte eine klare Botschaft: Schulen und Kindergärten bleiben offen, die Länder entscheiden über die erforderlichen Schutzmaßnahmen.
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Ich sage an dieser Stelle: Ich will, dass das möglich bleibt, aber Sie haben recht, wenn Sie darauf aufmerksam machen, dass in den Schulen das Infektionsrisiko nicht gleich null ist und dass es natürlich auch durch Schülerinnen und Schüler zu einem Eintrag von Infektionen in ihre Familien kommen kann, und zwar auch in solche Familien, in denen möglicherweise Hochrisikopersonen leben.
Deswegen bedarf die Frage, wie wir das Infektionsrisiko zurückdrängen können, in der Tat intensiver Beachtung. Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie auf die Präventionsmaßnahmen in Schulen während der Covid-19-Pandemie aufmerksam machen, die das Robert-Koch-Institut vorgelegt hat. Diese Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Schulen erkenne ich in den Anträgen auch teilweise wieder.
An die FDP habe ich eine Frage. Sie sagen, das von den Schulen ausgehende epidemiologische Risiko sei winzig, eigentlich seien die Schulen keine Virenschleudern; so hat es einer Ihrer Landesminister vor ein paar Tagen im Gespräch mit einem Journalisten formuliert. Aber wenn das der Fall ist, dann frage ich mich natürlich schon: Aus welchem Grund sollen wir dann alle Schulräume mit Lüftungsfiltern ausstatten? Ich habe mir im Sommer von Firmen Lüftungsfilter für mein Büro vorstellen lassen. Für Räume mit einer Größe von 10 mal 10 Quadratmetern oder 10 mal 8 Quadratmetern wurden Preise von bis zu 90 000 Euro aufgerufen. Sie sagen, man kann kleine Geräte zum Preis von 300 bis 500 Euro in den Ecken aufstellen.
Kollege Henke, das ist hochspannend, aber die Frage müssen Sie mit der FDP an anderer Stelle klären und jetzt einen Punkt setzen.
Ja. – Ich erinnere nur noch an den Hinweis von Staatssekretär Bareiß von gestern: Im Rahmen des Förderprogramms des Wirtschaftsministeriums kann man über den Einsatz von mobilen Luftfiltern reden, wenn ein entsprechender Beleg für ihre Wirksamkeit vorliegt.
So.
Aber dazu müsste das Infektionsgeschehen in den Schulen ein anderes als von Ihnen behauptet sein. Ich denke, über die Anträge können wir dann noch mal beraten.
Herr Henke, bei der nächsten Aufforderung muss ich den Knopf hier bedienen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und für Ihre Großzügigkeit. – Jetzt darf ich nicht vergessen, die Maske wieder aufzusetzen, –
Das ist richtig.
– sonst kriege ich den nächsten Tadel.
Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marja-Liisa Völlers das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit zweieinhalb Wochen leben wir jetzt im sogenannten Lockdown light. Wir sind uns, so denke ich, alle einig, dass Schulen so lange wie verantwortbar offen bleiben müssen. Aber wenn das Infektionsgeschehen weiter stark zunehmen würde, bliebe uns nichts anderes übrig, als wieder vermehrt digital zu unterrichten. Deshalb müssen wir vor allem eines werden: schneller.
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Ja, vieles hat zu lange gedauert, angefangen damit, dass der DigitalPakt Schule schon in der letzten Wahlperiode hätte an den Start gehen müssen. Daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Woran wir aber noch etwas ändern können, ist die Beschleunigung des Mittelabflusses; das dauert nämlich echt zu lange. Deshalb haben wir hier eine entscheidende Anpassung vorgenommen. Von den Schulen und Schulträgern wissen wir aus vielen Gesprächen, dass vor allem die Ausarbeitung der geforderten Medienkonzepte die Antragstellung in die Länge zieht. Deshalb können sie jetzt nachgereicht werden. Das ist ein Riesengewinn – eigentlich. Denn es scheint so, als würden das nicht alle wissen.
Erst vor zwei Tagen stand in der „Berliner Morgenpost“, dass Schulleitungen beklagen, dass die Prüfung der Medienkonzepte alles verzögere. Da frage ich mich: Was haben das Bundesbildungsministerium, Herr Rachel, und die Ministerin eigentlich kommunikativ unternommen, um diese Informationen richtig und vor allem auch weit in der Republik zu streuen? Eigentlich sollten aus Ihrem Haus die Ideen doch nur so heraussprudeln. So richtig bekommt man davon aber, ehrlich gesagt, nichts mit.
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Dass sich die CDU-Kanzlerin zusammen mit unserer Parteivorsitzenden des Themas annehmen musste, sagt eigentlich schon alles über den aktuellen Zustand in Ihrem Hause aus.
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Großen Tatendrang habe ich auch bei der Umsetzung der drei zusätzlichen Pakete zum DigitalPakt vermisst. Dabei setzen diese zusätzlichen Mittel an so wichtigen Stellen an. Wir als Koalition haben dreimal jeweils 500 Millionen Euro in die Hand genommen. Warum? Im Frühjahr haben wir gesehen, dass einige Schülerinnen und Schüler komplett abgehängt waren, weil sich ihre Familien nicht einfach so ein Tablet oder einen Laptop leisten konnten. Deshalb können sie jetzt über ihre Schulen ein Leihgerät erhalten. Diese 500 Millionen Euro hätte es ohne die SPD übrigens nicht gegeben.
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Das Programm läuft vergleichsweise gut. Inzwischen sind nahezu alle Mittel verausgabt, und die Geräte sind sogar größtenteils schon in den Klassen angekommen.
Weil Technik alleine aber nichts bringt, haben wir ein weiteres Mal 500 Millionen Euro in die Hand genommen. Damit unterstützen wir die Länder beim Aufbau von IT-Beratungsstrukturen an ihren Schulen. Diese Bund-Länder-Vereinbarung ist zum Glück seit Anfang November in Kraft. Ich kann nur sagen: endlich. Es liegt nun an den Ländern, dass diese Mittel schnell vor Ort eingesetzt werden können.
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Außerdem wissen wir, dass sich Lehrkräfte mit der Nutzung privater Technik datenschutzrechtlich in eine eher heikle Situation begeben. Deshalb statten wir sie für weitere 500 Millionen Euro mit Tablets oder Laptops aus. Es ist wichtig, dass sie nicht mehr auf die Nutzung ihrer privaten Geräte angewiesen sind. Auch das wird zu ihrer Entlastung beitragen.
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Diese brauchen sie dringend; denn sie stemmen gerade eine Mammutaufgabe.
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An dieser Stelle noch mal mein großer Dank an alle Lehrkräfte in unseren Schulen!
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Zu diesem Programm laufen gerade noch die letzten Verhandlungen; das wurde hier schon mehrfach angesprochen. Ich erwarte nun von Ihnen bzw. stellvertretend von Staatssekretär Rachel, dass Sie dem Ganzen jetzt noch mal mit Nachdruck hinterhergehen. Ende August wurde es beschlossen; knapp drei Monate später ist die Vereinbarung immer noch nicht in Kraft. Das kann es doch echt nicht sein!
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Die Geräte müssen vor Weihnachten in den Schulen bei unseren Lehrkräften ankommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich dürfen wir uns nicht auf all diesen großartigen Maßnahmen ausruhen. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir noch weitere Ideen, um die Situation zu verbessern. So fordern wir zum Beispiel schon seit dem Sommer, dass Lehramtsstudierende in den Schulen aushelfen dürfen. Mein Bundesland Niedersachsen hat sich hier inzwischen mit 45 Millionen Euro selbst auf den Weg gemacht. Ab Dezember werden dort Lehramtsstudierende im Unterricht helfen, beispielsweise dort, wo die festen Lehrerinnen und Lehrer zur Risikogruppe gehören. Solche pragmatischen Lösungen brauchen wir dringend im ganzen Land. Daran sollten sich alle anderen Bundesländer ein Beispiel nehmen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Andreas Steier für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich fasse zusammen: Die Linken sind immer gut im Reden, aber weniger gut im Machen.
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Hier große Belehrungen abhalten, das können sie;
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aber wenn sie liefern müssen, dann wird es sehr schnell ganz, ganz düster. Ein Vorschlag: Rufen Sie einfach mal bei den Landesregierungen an, wo Sie mit in der Regierung sind.
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Es ist im deutschen Föderalismus so, dass erst einmal die Länder dafür verantwortlich sind, Bildung umzusetzen. An dieser Situation hat Corona überhaupt nichts geändert. Dort, wo die Linken Regierungsverantwortung tragen, läuft es in der Bildungspolitik nämlich immer sehr, sehr schlecht.
Ein Beispiel: Berlin. Manche Schulen in der Hauptstadt haben aufgrund Ihrer Untätigkeit im Bildungssenat bereits eigene Konzepte für hybriden Unterricht erarbeitet. Es gibt extra Taskforces von Eltern hier in Berlin, um an Gymnasien und Oberschulen den Unterricht zu gestalten. Eltern berichten, dass die Bildungssenatorin aber solche auf Eigeninitiative gewachsenen Konzepte stoppt und auf Präsenz statt auf digitale Bildung setzt.
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Sie muss das tun, weil sie es den ganzen Sommer verschlafen hat, entsprechende Konzepte vor Ort umzusetzen.
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In diesem Senat trägt Ihre Partei Verantwortung, hier vor Ort in Berlin. In der Senatsverwaltung hier in Berlin liegt die eigentliche, originäre Zuständigkeit für Bildung.
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Was mich an dem Bericht aber besonders bewegt: Die Eigenverantwortung in den Schulen gehört in dieser Pandemiesituation eigentlich besonders gestärkt; denn Schulleiter, Lehrer, Eltern und Schüler wissen am besten, worauf es vor Ort in den Schulen ankommt.
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Eltern und Schüler haben hier bereits viel auf die Beine gestellt. Die Politik müsste sich aus meiner Sicht erst mal die Frage stellen: „Wie können wir das ermöglichen?“, und nicht: Wo liegen die Probleme?
An dieser Stelle möchte ich gerne ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen, eine Schule in meiner Heimat, die immer besonders gute digitale Konzepte auf die Beine gestellt hat und gerade in dieser Pandemie auch eine gute Lösung gefunden hat: das Balthasar-Neumann-Technikum in meinem Wahlkreis Trier. Diese Schule ist ein Paradebeispiel dafür, wie digitale Konzepte vor Ort durch Eigeninitiative zu guten Ideen und erfolgreichem Handeln geführt haben. Dort wurde durch digitale Konzepte bereits in der Stunde null im März, als der erste Lockdown zustande gekommen war,
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der Unterricht eins zu eins digital umgesetzt. Da wurde keine Schulstunde pausiert, sondern der Stundenplan wurde eins zu eins umgesetzt. Solche Leuchtturmprojekte sollten in meinen Augen gefördert und nicht blockiert werden.
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Um die Schulen aber auch in der aktuellen Krisenzeit weiterhin gut durch die Krise zu bringen, denke ich, müssen wir alle anpacken, damit wir diese Krise wirklich bewältigen. Wir brauchen gute Ideen vor Ort, und diese gilt es auch vor Ort zu stärken. Und wir brauchen natürlich auch eine verantwortungsvolle Landespolitik in den einzelnen Bundesländern.
Wir vom Bund – der Staatssekretär hat es eben gesagt – haben vorgelegt. Wir haben Mittel bereitgestellt in der Coronapandemie. Wir rüsten die Schulen mit Laptops und anderem technischen Equipment aus. Wir investieren 500 Millionen Euro dafür, dass auch Schüler, die in sozial benachteiligten Familien leben, diese Geräte bekommen. Da sind jetzt auch die Länder gefordert, diese Konzepte umzusetzen, damit die Schüler diese Geräte vor Ort bekommen.
Was mich besonders ärgert, ist: Wir haben bereits weit vor der Coronakrise, schon vor einem Jahr,
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mit dem DigitalPakt Schule den Schulen Mittel in Höhe von über 5 Milliarden Euro bereitgestellt, um digitale Ausstattung vor Ort zur Verfügung zu stellen.
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Man sieht auch: Einige Bundesländer haben ihre Hausaufgaben gemacht. Sachsen zum Beispiel hat bereits im September letzten Jahres viele Mittel aus diesem Pakt abgerufen. Aber andere Bundesländer haben ihre Hausaufgaben eben nicht gemacht. Da sollte man auch einmal nachfragen. Eigenverantwortung gehört auch dazu. Wenn man Mittel bekommt, muss man auch dafür sorgen, dass diese Mittel vor Ort eingesetzt werden. Das, meine Damen und Herren, gehört auch zur Ehrlichkeit in der Debatte.
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Lassen Sie uns also gemeinsam weiter daran arbeiten, wie wir die Schulen auch in der Krise entsprechend gut durch die aktuell schwierige Zeit bringen. Aber hierzu muss natürlich jeder seine eigenen Hausaufgaben vor Ort bewältigen.
Kollege Steier.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin.
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Es bleibt dabei: In der Aktuellen Stunde sind die fünf Minuten nicht die Mindestredezeit, sondern die Höchstredezeit.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir debattieren heute in zweiter Lesung den Jahresbericht 2019 – in diesem Fall des Wehrbeauftragten; denn dieser Bericht stammt noch von meinem Vorgänger Dr. Bartels, dem ich an dieser Stelle danke, nicht nur für diesen Bericht, sondern vor allem für seine engagierte Wahrnehmung des Amtes in den vergangenen fünf Jahren.
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Mittlerweile bin ich fast sechs Monate im Amt, und ich bin sehr froh, dass ich den Sommer gut genutzt habe für viele Truppenbesuche und zahlreiche Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten; denn leider können wegen Corona viele Begegnungen nicht stattfinden. Besonders schade ist, dass ich bisher noch nicht in die Einsatzgebiete im Ausland reisen konnte. Videoschalten ermöglichen zwar einen Austausch, ersetzen aber nicht das persönliche Gespräch und den Eindruck vor Ort.
Wie unsere gesamte Gesellschaft, so beschäftigt und belastet die Pandemie natürlich auch die Bundeswehr. Ausbildung, Übung und Einsatz sind stark beeinträchtigt durch die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Ausbildung wird verschoben oder verkürzt, Lehrgänge können nicht stattfinden, und eine ausreichende Unterbringung ist noch schwieriger als ohnehin schon. Der Ausfall der Auswahlkonferenz für Feldwebel hat Unverständnis hervorgerufen und zu viel Unruhe in der Truppe geführt. Aber die in der Bundeswehr im Vergleich noch immer niedrigen Infektionszahlen im Inland und im Ausland zeigen, dass das strenge und konsequente Hygienekonzept des Sanitätsdienstes genau richtig ist. Auch wenn die Quarantäne unangenehm ist und mich dazu zahlreiche Eingaben erreicht haben: Es geht nicht anders.
Sehr geehrte Abgeordnete, bei meinen Truppenbesuchen habe ich festgestellt, dass überall dort die schwierige Lage gut bewältigt wird und tragbare Lösungen gefunden werden, wo vor Ort, am Standort und im Verband, verantwortungsvoll entschieden und gehandelt wird. Kreativität, Flexibilität und vor allen Dingen gute Kommunikation sind maßgeblich, auch für hohe Akzeptanz der notwendigen Maßnahmen.
An dieser Stelle danke ich sehr, sehr herzlich den vielen Soldatinnen und Soldaten, die seit Ausbruch der Coronapandemie Amtshilfe zur Eindämmung des Virus leisten, für ihre großartige Unterstützung.
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Sie helfen in Gesundheitsämtern beim Testen und bei der Nachverfolgung von Infektionsketten, bei der Logistik, in der Altenpflege und sogar mit der Militärmusik unter dem Motto „Musik gegen Einsamkeit“ in Seniorenheimen. Über 7 700 Soldatinnen und Soldaten sind im Einsatz; täglich werden es mehr. 15 000 sind in Bereitschaft, weitere 18 000 im Sanitätsdienst. Über 1 000 Amtshilfeersuchen wurden gebilligt, fast 700 bereits erledigt. Auch wenn das nicht der Kernauftrag unserer Bundeswehr ist, zeigt sich, was die Truppe kann, und darauf können wir sehr stolz sein. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten unser Dank, unsere Anerkennung und unser Respekt.
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Danken möchte ich ebenso den Soldatinnen und Soldaten, die trotz Corona im Inland wie in den zahlreichen Auslandseinsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen ihren Auftrag erfüllen und ihren Dienst leisten für Frieden, Freiheit und unsere Sicherheit. Aktuell besorgt uns der angekündigte Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Es ist gut, dass die Bundeswehr bereits Vorbereitungen für einen geordneten Rückzug getroffen hat. Oberstes Gebot ist die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten.
Der Jahresbericht 2019 beschreibt die bekannten, seit Jahren bestehenden und leider weiterhin aktuellen Probleme der Bundeswehr: zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie. Soldatinnen und Soldaten brauchen in Ausbildung, Übung und Einsatz gute Ausrüstungen. Dass dies nicht immer und überall gewährleistet ist, ist inakzeptabel. Es wäre gut, Frau Ministerin, wenn wir nicht erst 2031, sondern deutlich davor feststellen könnten, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bestens ausgestattet sind. Das muss absolute Priorität haben.
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Ehrlich gesagt, sehr geehrte Abgeordnete, das muss bei einem Verteidigungshaushalt von rund 50 Milliarden Euro auch möglich sein. Ich begrüße daher, Frau Ministerin, dass Sie vorgestern gesagt haben, dass die Grundausstattung und die Mittel des täglichen Betriebs in Zukunft Vorrang haben sollen. Das ist der richtige Weg.
Die materielle Einsatzbereitschaft von derzeit etwas über 70 Prozent muss auch deutlich erhöht werden. Hier gab es leider im Jahr 2019 kaum Fortschritte. Fehlende oder nicht einsatzfähige Fahrzeuge, Hubschrauber oder Schiffe, fehlendes Werkzeug, unzureichende Ausrüstung, das ist leider häufig der Grund für die berechtigte Unzufriedenheit von Soldatinnen und Soldaten. Es ist absolut unverständlich, dass es nicht gelingt, selbst die Beschaffung von kleinen Ausrüstungsgegenständen wie Schutzwesten, Gehörschutz oder Rucksäcken deutlich zu beschleunigen. Die Strukturen und Prozesse müssen dringend verändert werden. Das zeigen leider auch die gerade erst gescheiterten Vergabeverfahren beim Schweren Transporthubschrauber und dem neuen Sturmgewehr. Ich hoffe deshalb, dass die „Initiative Einsatzbereitschaft“ in den nächsten Jahren wirksam wird und die Verfahren einfacher und schneller werden. Wir brauchen auch hier mehr Flexibilität, mehr Verantwortungsbewusstsein und klarere Entscheidungsstrukturen. Diejenigen, sehr geehrte Abgeordnete, die für die militärische Auftragserfüllung verantwortlich sind, die müssen wieder mehr Kompetenzen und Ressourcenverantwortung bekommen.
Sehr geehrte Abgeordnete, die klare Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten leistet jeden Tag verantwortungsvoll ihren Dienst für unser Land, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Deswegen sagen wir ganz klar: Rechtsextremismus hat in der Bundeswehr keinen Platz; er widerspricht Ehre und Kameradschaft.
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Jeder einzelne Fall ist einer zu viel und muss zügig und gleichzeitig gründlich aufgeklärt werden – das gilt auch für jedes Kennverhältnis und jede Chatgruppe –, damit deutlich wird, welche Verbindungen es gibt, ob Netzwerke entstehen oder ob Netzwerke bereits bestehen. Aufklärung ist unerlässlich.
Der Zwischenbericht zu den Reformen beim KSK zeigt – das ist jedenfalls mein Eindruck –, dass die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen auf einem guten Weg ist. Ich war bisher zweimal beim KSK, habe Gespräche mit zahlreichen Soldatinnen und Soldaten geführt und mir beim Potenzialfeststellungsverfahren einen Eindruck verschafft. Ende November, Anfang Dezember reise ich ein drittes Mal. Ich denke, dass das KSK eine gute Zukunft hat, wenn es so weitergeht.
Auch beim BAMAD sind weitere Anstrengungen erforderlich, insbesondere bei den Sicherheitsüberprüfungen und bei den Reservistinnen und Reservisten.
Sehr geehrte Abgeordnete, gestatten Sie mir eine Anmerkung zur Wehrpflicht, weil ich mich Anfang Juli dazu geäußert hatte und weil morgen hier Anträge dazu diskutiert werden. Selbstverständlich habe ich nie die Rückkehr zur alten Wehrpflicht gefordert. Dennoch erlaube ich mir, zu sagen, dass es 2011 trotz der damaligen Schwierigkeiten mit der Wehrpflicht und vor allen Dingen wegen der Wehrgerechtigkeit und vor dem Hintergrund der damals veränderten Weltlage eine falsche Entscheidung war, die Wehrpflicht auszusetzen, zumal ohne Konzept. Ich würde mir wünschen – und es würde mich freuen, wenn das auch hier im Bundestag unterstützt würde –, dass wir im nächsten Jahr, zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht, ganz ruhig und sachlich darüber diskutieren,
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wo wir heute stehen und ob wir mit den bisherigen Konzepten genügend junge Leute und einen ausreichenden Querschnitt unserer Gesellschaft für die Bundeswehr begeistern.
Genau vor einer Woche haben wir 65 Jahre Bundeswehr gefeiert. Wir können stolz sein auf unsere Soldatinnen und Soldaten. Sie stehen ein mit ihrem Leben für unsere Freiheit, Sicherheit, Demokratie und für unseren Rechtsstaat. Sie verdienen Dank, Anerkennung, Wertschätzung und Respekt. Der Bundespräsident, sehr geehrte Abgeordnete, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es keine Distanz geben darf zwischen Bundeswehr, Gesellschaft und Politik.
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Das ist ein Auftrag hier an uns alle. Das bedeutet und erfordert auch, dass die seit Jahren bestehenden Mängel endlich für die Truppe spürbar behoben werden müssen. Das darf die Truppe von Parlament und Regierung erwarten.
Der Jahresbericht beschreibt ganz genau, wo die Mängel, die Fehler und Versäumnisse liegen und wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt. Damit verbunden ist die klare Erwartung und Forderung an das Ministerium, an die militärische und politische Führung, diesen Bericht als Grundlage zu nehmen für Reformen, für Lösungen und für Verbesserungen zum Wohl unserer Soldatinnen und Soldaten.
Ich habe mir vorgenommen, während meiner Amtszeit immer auch das Positive zu betonen, das, worauf wir stolz sein können, das, was jeden Tag geleistet wird, und das, was auf einem guten Weg ist.
Abschließend möchte ich sehr, sehr herzlich allen danken, die zu diesem Jahresbericht beigetragen haben, natürlich noch einmal meinem Vorgänger, Herrn Dr. Bartels, und ganz besonders allen Soldatinnen und Soldaten sowie den Kolleginnen und Kollegen im Amt der Wehrbeauftragten.
Ganz herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Bundesministerin der Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Dr. Bartels! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, Frau Högl! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Abgeordnete! Wir sind heute hier, um den Bericht des Wehrbeauftragten 2019 zu besprechen. Ich darf zu Beginn meiner Rede ganz herzlich Herrn Dr. Bartels und all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Erstellung des Berichtes danken und der aktuellen Wehrbeauftragten, Frau Högl, für diese ausgewogene Darstellung, insbesondere für den Dank an unsere Männer und Frauen, wo immer sie sich zurzeit im Einsatz befinden.
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Gestatten Sie mir bitte mit Blick auf die aktuellen Ereignisse einige Worte zu den bekanntgewordenen Plänen der USA zur Truppenreduzierung in Afghanistan und im Irak. Diese kurzfristige Entscheidung des scheidenden US-Präsidenten Trump ist keine gute Entscheidung für die NATO sowie für unsere Freunde und Partner in den Operationen Resolute Support und Counter Daesh. Vor allem ist es keine gute Entscheidung für die Menschen in Afghanistan und im Irak selbst.
Aber diese Entwicklung trifft uns nicht unerwartet. Wir haben gewusst, dass eine solche Truppenreduzierung möglich ist, und wir haben uns darauf vorbereitet. Wir haben unterschiedliche Szenarien entwickelt und vorausgeplant. Die Bundeswehr hat Fachleute vor Ort, sodass die Folgen der US-Truppenreduzierung schnell eingeschätzt und geeignete Maßnahmen umgesetzt werden können.
Kurzfristig kommt es nun darauf an, im engen Austausch mit der NATO und mit unseren Partnern festzustellen, welche Unterstützung die US-Kräfte in Afghanistan noch weiter leisten werden und welche Möglichkeiten wir dann als Allianz haben, unseren Auftrag zu erfüllen. Von dieser konkreten Ausplanung wird abhängen, ob wir kurzfristig für den 15. Januar nächsten Jahres oder danach unsere Missionen entsprechend anpassen müssen. Dabei hat natürlich die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten sowie unserer Verbündeten absoluten Vorrang, insbesondere im Norden, wo wir als Rahmennation für 15 Länder unseren Dienst verrichten.
Wir haben in der NATO mit den USA vereinbart, dass vor einem Ende dieser Mission in Afghanistan Bedingungen stehen, die erfüllt sein müssen. Darüber verhandeln im Moment afghanische Regierung und Taliban im Friedensprozess in Doha. Jede voreilige und unkalkulierte Verringerung der Truppen – da bin ich mir mit meinem Kollegen Heiko Maas sehr einig – setzt diesen Friedensprozess, der schon schwierig genug ist, weiter unter Druck. Deswegen sollten wir darauf setzen, dass in Ruhe ausverhandelt werden kann, damit dieses Land zu Ruhe und Stabilität finden kann.
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Ich möchte Ihnen, liebe Frau Högl, zuerst einmal persönlich für das große Engagement danken. Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gesagt, Sie hätten sich als erstes Thema nicht gerade „Rechtsextremismus und KSK“ gewünscht, und trotzdem haben Sie, als ich Sie darum gebeten habe, den Reformprozess beim KSK zu begleiten, sofort zugesagt. Sie tun dies – das darf ich Ihnen voller Hochachtung sagen, auch nach Rückmeldung vieler Soldatinnen und Soldaten, besonders beim KSK – mit einer hohen Sensibilität, mit einer großen Anerkennung. Dafür darf ich Ihnen, auch im Namen der betroffenen Männer, mein ganz herzliches Dankeschön sagen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Themen, die der Jahresbericht 2019 aufwirft, sind leider nicht neu. Das ist der Grund, weshalb wir im Februar dieses Jahres mit der „Initiative Einsatzbereitschaft“ begonnen haben. Es zeigen sich schon erkennbare Verbesserungen, etwa beim Eurofighter und auch an anderen Stellen. Es wird aber trotzdem deutlich, dass es damit allein nicht getan ist.
Wir müssen weiter an der Reform des Beschaffungswesens arbeiten, vorzugsweise mit den Beschäftigten in diesem Bereich. Wir müssen weiter gemeinsam mit der Industrie, aber auch durch strukturelle Veränderungen, etwa bei der Heeresinstandsetzungslogistik, dafür sorgen, dass wir Material so zur Verfügung haben, dass unsere Truppe wirklich damit arbeiten kann.
Sie werden mich immer an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, mit einem realistischen Blick die Dinge offen anzusprechen und vor allen Dingen auch kraftvoll anzupacken. Meine Bitte an Sie ist es aber, nicht nur die Themen in den Raum zu stellen, wo wir nach wie vor erkennbare Probleme haben, sondern auch die Bereiche zu betonen, in denen wir Fortschritte gemacht haben; denn auch das gehört zur Wirklichkeit der Bundeswehr. Auch darauf sind unsere Männer und Frauen stolz. Sie beweisen gerade jetzt in der Coronazeit, dass sie in der Lage sind, jeden Auftrag, den wir an sie stellen, jeden Einsatz, in den wir sie schicken, entsprechend durchzuführen, und das ist etwas, worauf wir alle miteinander stolz sein können.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Elsner von Gronow für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begehen in diesem Jahr das 65-jährige Bestehen der Bundeswehr – eigentlich ein Grund zum Feiern, doch unter Coronabedingungen schwierig und von linken Teilen der Gesellschaft eh nicht gewollt, da hier Ablehnung oder bestenfalls freundliches Desinteresse gegenüber unseren Soldaten vorherrscht.
Das erklärt auch die geringe Beachtung, die dieses Jubiläum in den Medien, in der Öffentlichkeit und seitens der Regierung erfährt. Das ist sehr bedauerlich, ist es doch die Bundeswehr, sind es doch unsere Soldaten, die seit 65 Jahren für die Souveränität Deutschlands und für die Freiheit der Deutschen dienen und bereit sind, mit ihrem Leben dafür einzutreten. Ich danke ihnen dafür.
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Der Bericht des Wehrbeauftragten gibt allerdings weniger Anlass zum Feiern. Seit Jahren schon könnte man ihn überschreiben mit „Pleiten, Pech und Pannen“. Wir haben schon mehrfach darüber gesprochen. Daher erspare ich Ihnen eine Aufzählung der fast zahllosen Probleme; sie sind bekannt. Die Reaktion der Regierung sieht man in ihrem Kommentar zum Bericht: gefällige Worte, positiv klingende Absichtserklärungen, Schönfärberei.
Die Realität spricht aber eine andere Sprache, und das schon seit vielen Jahren. Die Regierung ist also offenbar nicht willens oder nicht fähig, Sicherheitspolitik im Sinne unserer Soldaten, im Sinne unseres Volkes zu gestalten. Immer mehr Menschen in unserem Land erkennen das und werden hoffentlich bei den nächsten Wahlen Konsequenzen daraus ziehen und vor allem die von der linksgewendeten Merkel-CDU angestrebte schwarz-grüne Koalition verhindern. Ökosozialisten in der Regierung wären der nächste Schritt Richtung Abgrund, der nächste Angriff auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in unserem Land.
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Angesichts der vielen negativen Entwicklungen auch in diesem Jahr hoffe ich, dass der Bericht unter Frau Dr. Högl ein wertvolles Hilfsmittel des Parlaments bleibt und die Mängel in der Bundeswehr weiter schonungslos aufdeckt. Was aber nicht passieren darf, ist, dass er als weiteres Mittel im einseitig ideologiegetriebenen Kampf gegen rechts missbraucht wird. Er muss weiter dem Wohl der Soldaten dienen; dieser braucht mehr Schutz denn je.
Man höre sich beispielsweise mal an, was für eine inquisitorische Frage Soldaten nach einem 45-Kilometer-Marsch im Zustand der körperlichen und geistigen Erschöpfung gestellt wird: Gefreiter Schnürschuh, was halten Sie denn vom menschengemachten Klimawandel oder den möglichen Gefahren von Migration für Deutschland? -
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Was will man denn mit diesen Fragen herausbekommen? Eine extremistische, gar verfassungsfeindliche Gesinnung?
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Soldaten mit einer solchen Geisteshaltung zu identifizieren und aus der Truppe zu entfernen, wäre ein legitimes Ansinnen. Mit solchen Fragen aber finden Sie das nicht heraus. Sie finden bestenfalls heraus, ob der Soldat der von Regierung und Medien vorgegebenen Mainstream-Meinung folgt, ob er politisch auch weit genug links ist.
Es ist völlig skurril, so etwas bei Soldaten zu suchen; denn Linke werden, zumindest in freien Gesellschaften, eher nicht Soldaten, weil vieles, was für den Soldaten wichtig, ja unabdingbar ist, um den Dienst für unser Vaterland zu leisten, dem Linken nun mal fremd ist: Werte wie Treue, Kameradschaft, Vaterlandsliebe, Realismus und Traditionen.
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Was angeblich vermieden werden soll, nämlich eine politisierte Bundeswehr, wird mit solchen Maßnahmen jedoch erst recht betrieben. Aber das ist wohl in Ordnung, solange es nur im Sinne der Regierung erfolgt. Und was wäre dann der nächste Schritt? Wie bei allen linksideologischen Armeen, den Politoffizier einzuführen?
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Nein, meine Damen und Herren, das darf nicht sein. Der Soldat eines freiheitlich-demokratischen Landes muss genau so freiheitlich-demokratisch handeln und denken, leben und wählen dürfen wie alle anderen Bürger. Dafür trete ich ein; denn der einzige Schwur, den ich in meinem Leben geleistet habe, verpflichtet mich, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Das werde ich – ob als Soldat oder Parlamentarier, jederzeit und gegen jedermann.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! – Auch nach dem Wechsel jetzt kann ich es bei dieser Anrede belassen. – Sehr geehrte Frau Dr. Högl! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! Lieber Hans-Peter Bartels! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure es ein wenig, dass unser Kollege von Gronow diese Rede zum Wehrbeauftragtenbericht genutzt hat, die AfD-Ideologie zu verbreiten, anstatt sich mal sachlich mit dem Bericht auseinanderzusetzen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ansehen der Bundeswehr ist gut. So sagen es jedenfalls die Umfragen. Man nimmt Soldatinnen und Soldaten in Deutschland positiv wahr. Soldatinnen und Soldaten helfen beim Einsatz gegen Borkenkäfer, sie sind im Rahmen der Covidkrise tätig, und sie unterstützen Menschen bei Hochwasser.
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– Ich komme noch darauf. – Diese positive Wahrnehmung verstellt ein wenig den Blick auf die eigentlichen Aufgaben unserer Streitkräfte und ihre Verfasstheit.
Natürlich danken wir den Streitkräften jeden Tag für das, was sie außerhalb ihres eigentlichen Einsatzauftrages tun. Die meisten Menschen wissen einfach zu wenig über unsere, über ihre Armee. Der Bundespräsident sprach anlässlich des 65. Gründungstages der Bundeswehr von einem freundlichen Desinteresse. Das ist sehr freundlich ausgedrückt. Und auch unsere Wehrbeauftragte sprach eben von einer Distanz. Natürlich sind wir dankbar für diese Hilfseinsätze; aber noch dankbarer sollten wir sein für eine Armee, die für Sicherheit, für Freiheit und für Demokratie in unserem Lande sorgt.
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Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, die unter der Kontrolle von uns Abgeordneten steht, von Menschen also, denen Wähler und Wählerinnen irgendwann mal ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Aber auch die Soldatinnen und Soldaten vertrauen uns, vertrauen darauf, dass wir ihnen den höchstmöglichen Schutz gewähren und sie mit Problemen nicht alleine lassen. Und ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern: Wenn wir Soldaten in internationale Einsätze schicken, dann muss auch das Equipment entsprechend gut sein. Wir können unsere Einsätze nicht überdehnen, sondern müssen sie immer an unseren Möglichkeiten ausrichten.
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Wir verfügen mit dem Amt der Wehrbeauftragten/des Wehrbeauftragten über ein parlamentarisches Kontrollorgan. Weltweit gehören wir mit dieser Ombudsstelle zu den Wegbereitern für ähnliche Institutionen. Die Kontrollrechte der Wehrbeauftragten gehen weit über die von der OSZE geforderten Standards hinaus, und darauf können wir als Deutsche getrost stolz sein.
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Die Arbeit der Wehrbeauftragten wird offenbar auch von der Bundesregierung geschätzt. Als ich die Stellungnahme des BMVg in die Hand nahm, erwartete ich an vielen Stellen eine Blockadehaltung; das hat sich beim weiteren Lesen aber nicht gezeigt. Frau Ministerin, auch Ihre Position zu den Kritikpunkten ist eher eine konstruktive, als dass Sie zu einer Blockadehaltung neigen.
Ich bin mit dem derzeitigen Zustand der Bundeswehr trotzdem nicht zufrieden. Man kann natürlich richtigerweise nicht mit einer schnellen Mängelbeseitigung rechnen. Dazu ist der Apparat zu schwerfällig, zu groß, und die Struktur des BMVg ist auch zu komplex; wir haben ja schon sehr oft über das Thema „Neustrukturierung des BMVg“ gesprochen. Ich möchte deswegen heute nicht noch einmal alle Thesen, die wir bei der ersten Lesung hier artikuliert haben, wiederholen. Ich möchte mich auch nicht noch mal über das KSK und das Stichwort „Einsatzbereitschaft“ auslassen.
Ich möchte mich ein bisschen dem Personal und der kleinen Ausstattung widmen. Man kann zum Beispiel bei dem Besetzungsgrad der Dienstposten einen Fortschritt sehen. So konnte dieser bei den Hubschrauberführeroffizieren im Heer auf 75 Prozent gesteigert werden; das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Auch bei der Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten geht es in die richtige Richtung. Mit einer nachvollziehbaren Priorisierung der Kräfte der nationalen Krisenvorsorge und der VJTF 2023 werden nun auch sukzessive die geforderten gehörschutzkompatiblen Gefechtshelme beschafft.
Aber in diesem Zusammenhang gibt es auch Probleme. Die Ausbildung einer Soldatin verzögerte sich um mehrere Jahre, weil ein aus medizinischen Gründen notwendiger spezieller Gefechtshelm nicht zur Verfügung gestellt wurde. Als Grund wurde genannt – das war der Tenor in der Stellungnahme des BMVg –, dass diese Art von Gefechtshelm nur an ganz bestimmte Truppenteile ausgereicht wird, nämlich den Luftlandeeinheiten. Warum kann man in solchen begründeten Einzelfällen nicht zu einer flexiblen Lösung kommen?
Ein anderes Beispiel. Ich war kürzlich in Feldkirchen bei einem Sanitätslehrgang, wo es darum ging, wie unsere Soldaten für den nächsten Mali-Einsatz ausgerüstet und ausgebildet werden. Ein Soldat berichtete mir dort, dass eine Kampfausstattung erst circa sechs Wochen vor dem Einsatz bereitgestellt wurde – das Bundesverteidigungsministerium geht sogar von acht Wochen aus –, sodass diese Ausrüstung, das heißt Kleidungsstücke, ohne Anprobe in der Transportkiste in das Zielland verschickt wurde; keines dieser Kleidungsstücke passte. Das kann nicht sein.
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Präventiv möchte ich auch noch auf eine andere Herausforderung hinweisen, nämlich die Energiewende. Ich denke, die Bundesregierung tut gut daran, auch selbst voranzuschreiten, in ihrem eigenen Verantwortungsbereich die Energiewende voranzutreiben. Und ich finde es sehr gut, dass darüber diskutiert wird, dass die Fahrzeugflotten auf Elektromobilität umgerüstet werden. Ich finde es sehr gut, dass Bundeswehrangehörige kostenlos mit der Deutschen Bahn fahren können. Aber es lässt sich noch mehr machen. Viele Firmen bieten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kostenlos Wallboxen an, damit sie, wenn sie zur Arbeit kommen, dort ihre Elektroautos aufladen können. Ich denke, solche Auflademöglichkeiten sollte es auch für Kasernen geben,
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sodass Soldatinnen und Soldaten auch ökologisch an ihren Standort kommen.
Meine sehr verehrte Damen und Herren – ich sehe, meine Redezeit ist im Minus –, ich möchte an dieser Stelle noch ein ganz herzliches Dankeschön sagen, auch an die Wehrbeauftragte. Hans-Peter Bartels hat sehr große Fußstapfen hinterlassen, und obwohl Frau Dr. Högl sicherlich eine kleinere Schuhgröße hat, hat sie doch gezeigt, dass sie in den ersten 100 Tagen sehr viel Dampf gemacht hat. Ich denke, sie wächst sehr, sehr gut in diese Fußstapfen hinein.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Eberhard Brecht. – Schönen Nachmittag von mir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Genau, die Maske, Herr Dr. Brecht. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
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Aber die Hose unterscheidet uns.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Wehrbeauftragte, wir haben den Bericht Ihres Vorgängers vor uns liegen; Herr Bartels, ich freue mich, Sie hier zu sehen. Es ist ein schonungsloser Bericht, weil die Soldatinnen und Soldaten an der Hierarchie vorbei ihre Sorgen und Probleme schildern können. Von letzteren konnten wir uns auch immer bei unseren Besuchen an den Standorten ein Bild machen.
Ich war gerade letzte Woche bei der Marine:
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Die Festrumpfschlauchboote: immer noch nicht zugelaufen. Die Spezialkräfte sind frustriert und haben jetzt ihre Fähigkeiten beim Inspekteur abgemeldet. Das Geld ist da, der Auftrag erteilt und im Nirwana der Beschaffungsbürokratie verschwunden. Die Marineflieger in Nordholz, zu deren Fähigkeiten gehört, Jagd auf U-Boote zu machen, können ihre Fähigkeiten bald auch an der Tür abgeben, weil bis heute nicht geklärt ist, wie das Nachfolgemodell ihres Fluggerätes aussieht. Das alles ist unfassbar; aber es sind Symptome eines komplett in sich gelähmten Systems. Durch die Zentralisierung ist keine Entscheidungskompetenz mehr bei denjenigen, die den Bedarf der Truppe kennen; sie sind beim Beschaffungsprozess komplett außen vor.
Was erwarten wir eigentlich, meine Damen und Herren, von einer Bundeswehr, in der Soldatinnen und Soldaten auf die Verteidigung unseres Landes ihren Eid leisten, im Ernstfall ihr Leben riskieren, in Friedenszeiten aber so gut wie jeder Verantwortung beraubt werden?
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Bezeichnend aber ist: Wir leisten uns Dreisternegeneräle im Bundesverteidigungsministerium im Rang eines Abteilungsleiters, die, nüchtern betrachtet, kaum was zu melden haben. Wir leisten uns unter anderem Spezialkräfte, fragmentiert und verteilt über die Teilstreitkräfte, anstatt sie ihrer strategischen Aufgabe entsprechend direkt – das wäre auch gut für die Kontrolle – der Ministerin zu unterstellen, wie in allen Armeen der Welt. Frau Wehrbeauftragte, auf diese Verantwortungsdiffusion haben Sie gerade hingewiesen; denn diese Diffusion beginnt ganz oben und läuft laufmaschengleich bis tief nach unten.
Frau Ministerin, ändern Sie die Strukturen in Ihrem Haus! Sie haben die Macht dazu. Haben Sie auch den Mut! Ihre Aufgabe ist es, die Bundeswehr umzubauen zu einer kompakten, einsatzbereiten Armee. Das Primat allen Handels liegt dabei immer bei der Politik; aber Sie brauchen dabei auch die Expertise des Militärs. Ein Generalinspekteur, meine Damen und Herren, untersteht keinem Staatssekretär. Ein Generalinspekteur muss diesem auf Augenhöhe begegnen.
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Der Umbau der Bundeswehr, meine Damen und Herren, vor zehn Jahren mag damals organisatorisch richtig gewesen sein. Heute, nach den Erfahrungen von 2014, heute, herausgefordert durch den internationalen Terrorismus, heute, in Partnerschaft und Verantwortung in der EU und der NATO, ist es Zeit, diese Strukturen aufzubrechen.
Meine Damen und Herren, Frau Ministerin, der französische Präsident ist sauer. Die Amerikaner haben einen dicken Hals. Verlassen Sie sich nicht darauf, dass President-elect Biden einen schmaleren Hals hat. Denn wer den Mund spitzt, sollte pfeifen. Oder wie Sie es selbst vorgestern gesagt haben – Zitat –: Man muss endlich mal vom Reden zum Handeln kommen.
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Frau Ministerin, unsere Unterstützung haben Sie. Wenn Sie loslegen, sind wir dabei.
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Vielen Dank, Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz.
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Frau Präsidentin! Liebe Eva Högl! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wehrbeauftragten! Meine Damen und Herren! Als wir hier vor wenigen Monaten den Jahresbericht 2019 das erste Mal diskutierten, hatten wir gerade diesen Waffenfund im Garten eines KSK-Soldaten in Sachsen erlebt. Wir haben danach viel diskutiert über Rechtsextremismus in der Bundeswehr und speziell beim KSK. Die Bundesregierung erweckt in ihrem Kommentar zum Jahresbericht den Eindruck, sie habe das Problem im Griff.
Wir aber sagen: Es gibt eine Höchstzahl von rechtsextremen Verdachtsfällen in der Bundeswehr, Dutzende davon im und um das KSK. Und es beruhigt uns nicht, dass die Munitions- und Sprengstoffverluste laut Bundesregierung wohl Buchungsfehler sind; aber genau kann sie das nicht sagen. Meine Damen und Herren, das ist hoch riskant. Klären Sie auf, wo die Munition und der Sprengstoff verblieben sind!
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Was uns aber misstrauisch macht, ist, dass das BMVg bereits neue Einsätze für das KSK plant und ab Anfang 2021 wieder eine stärkere operative Rolle für das KSK vorsieht. Wir sagen ganz klar: Stellen Sie die Einsatzfähigkeit des KSK nicht vor die Gründlichkeit der Aufklärung der rechtsextremen Vorfälle!
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Da sehen wir Eva Högl auch ganz klar in der Verantwortung, einen ganz klaren Blick drauf zu haben.
Die Linke lehnt die Auslandseinsätze der Bundeswehr grundsätzlich ab; das ist Ihnen bekannt. Was aber unserer Meinung nach gar nicht geht, ist, dass die Einsätze auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten ausgetragen werden, wie man zum Beispiel an der Verlängerung der Stehzeit von vier auf sechs Monate im Einsatz sieht. Hinzu kommen die langen Quarantänezeiten. Das bedeutet für die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien eine hohe Belastung. Wir sagen ganz klar: Es kann nicht sein, dass die Familien die Konsequenzen der Ausweitung von Bundeswehreinsätzen tragen müssen. Sorgen Sie dafür, dass die Soldatinnen und Soldaten nach Hause kommen! Sorgen Sie dafür, dass die Soldatinnen und Soldaten Weihnachten mit ihren Familien feiern können!
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Die Aufgabe des Wehrbeauftragten bzw. der Wehrbeauftragten ist es laut Wehrbeauftragtengesetz, die Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und die Grundsätze der Inneren Führung zu schützen. Hans-Peter Bartels haben wir immer für seine Reden für mehr Aufrüstung kritisiert. Dass Sie, Frau Högl, sich jetzt starkmachen für die Beschaffung von Kampfdrohnen,
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das ist uns mehr als sauer aufgestoßen.
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Kampfdrohnen schützen nicht, sie töten. Sie führen zu Belastungsstörungen bei der Bevölkerung in den Einsatzländern und bei den Soldatinnen und Soldaten, die sie steuern. Sie entgrenzen den Krieg und bringen uns näher an automatische Kriegsführung heran.
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Frau Högl und die SPD-Fraktion, wir sagen ganz klar: Sagen Sie Nein zu der Beschaffung von Kampfdrohnen!
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Frau Kollegin, das war es. Danke schön, Christine Buchholz. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Tobias Lindner.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion dankt dem ehemaligen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels für seine Arbeit für diesen Bericht und freut sich auf die Arbeit mit Ihnen, Frau Dr. Högl.
Frau Ministerin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie hier zu Afghanistan ein paar Worte gesagt haben. Ich glaube, in diesen Tagen – das haben uns auch die letzten vier Jahre in Washington gelehrt – muss man sehr vorsichtig sein, was Twitterbotschaften des scheidenden US-Präsidenten Donald Trump betrifft. Nicht alles, was er twittert, stimmt, und noch weit weniger davon wird dann auch in die Realität umgesetzt.
Aber es ist richtig: Wir sind es nicht nur der Bevölkerung in Afghanistan, sondern auch unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig, für alle Szenarien gewappnet zu sein. Deswegen ist es richtig, dass auch die Bundeswehr jetzt verschiedene Perspektiven für einen Abzug ausplant. Ich kann Ihnen nur sagen: Als Deutscher Bundestag erwarten wir natürlich von Ihnen, zeitnah und stetig darüber informiert zu werden, wenn sich an der Lage und der Situation etwas ändert, Frau Ministerin.
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Wenn man über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten spricht, vor allem über den Jahresbericht 2019, dann darf das Thema „Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ keine Leerstelle sein. Es war gut, es war richtig, aber es war viel zu spät, dass das Verteidigungsministerium eingestanden hat: Ja, wir haben ein ernsthaftes Problem mit Rechtsextremismus in der Truppe. – Wir haben ein Problem, das sich vielleicht in der Fallzahl im Prozentbereich bewegen mag. Aber es droht den Dienst jeder Soldatin, jedes Soldaten, der treu auf dem Boden unserer Verfassung erfolgt, in den Dreck zu ziehen und das Vertrauen darin zu untergraben, wenn diesen Fällen nicht mit allem Nachdruck nachgegangen wird.
Und ja, es ist gut, dass die Häufung der Fälle im Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr nicht mehr nur auf irgendeinen Zufall zurückgeführt wird, sondern dass Sie, Frau Kramp-Karrenbauer, auch der Frage nachgehen: Was sind systematische Ursachen dafür, dass es zu dieser überproportionalen Häufung von Vorkommnissen im KSK gekommen ist?
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Um es klar und deutlich zu sagen: Wir dürfen an dem Punkt aber auch nicht stehen bleiben. Ich erwarte von Ihnen, wir erwarten von Ihnen, dass Sie da auch präventiv in der ganzen Truppe tätig sind. Es darf nie wieder vorkommen, dass wir über Jahre hinweg so eine Häufung von Fällen haben und erst dann tätig werden. Wenn in diesen Tagen mir zu Ohren kommt, dass beispielsweise die Zahl der Stunden für politische Bildung von Soldatinnen und Soldaten nicht zunimmt, was sie eigentlich müsste, sondern abnimmt, dann sehe ich, dass da ja noch ein weiter Weg zu gehen ist. Ich kann Sie nur auffordern: Gehen Sie diesen Weg! Bleiben Sie nicht beim KSK stehen, Frau Kramp-Karrenbauer!
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Es wäre an dieser Stelle noch viel zu sagen, unter anderem, dass ich es irgendwie seltsam finde, in einer Grundsatzrede über den Indopazifik zu reden, wenn wir es noch nicht mal schaffen, rechtssicher ein neues Sturmgewehr zu beschaffen. Aber das werden wir natürlich in den Ausschussberatungen weiter thematisieren.
Ich danke Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Aufmerksamkeit. Ich danke unseren Soldatinnen und Soldaten, gerade in diesen Tagen, in Zeiten von Corona, für ihren Dienst.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Tobias Lindner. – Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Kerstin Vieregge.
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Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche haben wir den 65. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr gefeiert.
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Nach dem verlorenen Kriege stellte dies für die junge Bundesrepublik einen zentralen Schritt auf dem Weg zur Souveränität des Landes und zur Anerkennung im westlichen Bündnis dar. Damals bestand für viele Soldaten ein Widerspruch zwischen dem Bild des soldatischen Kriegers, ausgebildet, um zu kämpfen und zu siegen, und eben den neuen Prinzipien der jungen Bundeswehr. Heute jedoch mit Blick auf den 61. Jahresbericht des Wehrbeauftragten unseres Parlaments ist dieser Widerspruch aufgelöst. Niemand zweifelt mehr an der Sinnhaftigkeit der Institution. Die Soldatinnen und Soldaten, aber auch die zivilen Bediensteten sind nach rund einem Vierteljahrhundert mit ganz unterschiedlichen Einsätzen, insbesondere mit den Erfahrungen aus Afghanistan, angekommen, und zwar mit Erfolg angekommen; denn die Männer und Frauen unserer Armee haben sowohl im Auslandseinsatz als auch bei schwierigen Aufträgen im Inland ihre Leistungsfähigkeit mehrfach eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
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Die Beteiligung der Bundeswehr im Kampf gegen die Coronapandemie ist das beste Beispiel dafür.
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Jahresberichte des Wehrbeauftragten sind aber auch immer ein Spiegelbild der Lage unserer Bundeswehr, so auch diesmal. Der vorliegende Bericht zeigt, dass man weiter mit Personallücken, materialer Mängelwirtschaft und Bürokratie zu kämpfen hat. Für eine Armee im Frieden ist das nicht ungewöhnlich. Doch es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Probleme nachdrücklicher anzugehen. Die vielzitierten Trendwenden müssen in der Truppe noch spürbarer werden.
Naturgemäß möchte ich einen kurzen Blick auf die personelle Einsatzbereitschaftslage werfen. Ja, mit dem Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz und dem Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz haben wir wirklich viel für die Bundeswehr getan. Dienstzufriedenheit hat eben auch mit Sozial- und Fürsorgewesen zu tun; das möchte ich einmal ganz positiv betonen. Doch noch immer sind leider zahlreiche Dienstposten unbesetzt. Laut Bericht verzeichnete man Ende 2019 ein Fehl in Höhe von 21 000 bei den Offizieren und Unteroffizieren und von 2 100 bei den Mannschaften. Dieser Mangel betrifft vor allem hochqualifiziertes Fachpersonal, wie beispielsweise Hubschrauberpiloten, Fernmeldetechniker oder auch Ärzte. Neben der Materiallage ist also die Personallage ein Problem, welches den Kern der Bundeswehr berührt. Hier gilt es, nicht einfach abzuwarten und auf Heilung zu hoffen, sondern wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen. Ich würde mir sehr wünschen, dass dies gelingt.
Abschließend danke natürlich auch ich Herrn Dr. Bartels, aber auch Frau Dr. Högl nebst ihrer Mitarbeiterschaft für die sehr gute Arbeit. Ich freue mich auf ein weiterhin erfolgreiches Miteinander im Sinne unserer Bundeswehr.
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Vielen Dank, Kerstin Vieregge. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Reinhard Brandl.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass der alte Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels unter uns ist; ein guter Mann.
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– Der ehemalige Wehrbeauftragte.
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Ich freue mich so, dass der ehemalige Wehrbeauftragte uns auch noch weiter begleitet in der sicherheitspolitischen Debatte und kluge Papiere verfasst. Ich würde mich freuen, auch in Zukunft weiter von ihm zu hören. Lieber Hans-Peter, schön dass du da bist!
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Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, dass die neue Wehrbeauftragte gut ins Amt gekommen ist. Nach fünf Monaten kann ich sagen: Eva Högl, eine gute Frau!
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– Frau Strack-Zimmermann, zu Ihnen habe ich das noch nicht gesagt.
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Aber Sie haben ja noch eine Zeit lang Zeit. Sie können sich das bei mir noch verdienen.
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Was ich zu Frau Högl sagen wollte: Frau Högl hat einen guten Blick auch auf die Herausforderungen, vor denen die Bundeswehr steht.
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Meine Damen und Herren, ich will jetzt wieder ernst werden, weil die Bundeswehr im Kern kein attraktiver Arbeitgeber ist. Die Soldaten, die sich für diesen Beruf entscheiden, nehmen große Entbehrungen für sich und ihre Familien auf sich. Das, was wir ihnen schuldig sind, das Mindeste, was wir tun können, ist, dass wir versuchen, die Rahmenbedingungen, unter denen sie ihren schwierigen Job machen, zu verbessern.
Frau Högl, Sie sind die Anwältin der Soldaten. Sie sind aber auch unser Auge und Ohr, und Sie sind auch so etwas wie ein Briefkasten für die Soldaten. Durch Sie erfahren wir sehr viel, was in der Bundeswehr vorgeht, und Sie helfen uns auch dabei, die Stellschrauben so zu drehen, dass der Dienst in der Bundeswehr für die Soldatinnen und Soldaten so gut, so angenehm wie möglich erfolgt.
Aber neben diesen vielen kleinen Stellschrauben in der Truppe gibt es auch ein paar große Stellschrauben, die wir gemeinsam hier im Parlament drehen müssen:
Die erste ist politische Rückendeckung. Unsere Soldaten brauchen unser Zutrauen und unser Vertrauen, auch in schwierigen Situationen.
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Zum Beispiel eine Situation wie beim KSK war für die Bundeswehr und für die betroffene Einheit eine schwierige Situation. Deswegen ist es wichtig, dass man auch hier den richtigen Ton findet, nicht wegschaut, aber auch keine Vorverurteilungen vornimmt und keine pauschalen Urteile fällt. Herzlichen Dank dafür!
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Die zweite große Stellschraube ist das Thema Ausrüstung. Es ist einem Soldaten, der in Mali in einen Hinterhalt gerät, nicht zu erklären, dass die Drohne, die über ihn wacht, im Fall der Fälle nicht eingreifen kann, sondern er eine Stunde auf einen amerikanischen Hubschrauber warten muss. Deswegen brauchen unsere Soldatinnen und Soldaten zu ihrem Schutz die Ausrüstung für ihre Arbeit. Ich bin froh, dass die Wehrbeauftragte hier so klar Position bezogen hat.
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Und ich brauche das Ende Ihrer Rede.
Ja, aber ich habe noch eine dritte Stellschraube, Frau Präsidentin.
Hätten Sie nicht so viel genderpolitisch geredet, dann wären Sie durchgekommen.
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Die dritte Stellschraube wären die Finanzen; auch die sind wichtig. Ich hoffe, dass wir in den Haushaltsberatungen der Bundeswehr viel Geld zur Verfügung stellen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Reinhard Brandl. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger hat mal gesagt: „Amerika hat keine dauerhaften Freunde oder Feinde, nur Interessen.“ Ich glaube, das ist im Hinblick auf die Debatte, die wir jetzt zum Thema „Nord Stream 2“ führen, ungemein wichtig. Ich bin überzeugter Transatlantiker, muss aber sagen: Die USA betreiben hier eine knallharte Interessenpolitik. – Das ist legitim; denn auch wir als Europäer, als Deutsche haben Interessen. Nur: Im Fall Nord Stream 2 sind es nicht die gleichen Interessen.
Was wir aktuell feststellen, ist, dass auch der neue amerikanische Präsident, der gewählte, Joe Biden, hier nicht von der Position der Trump-Regierung abweicht, sondern – ganz im Gegenteil – vielleicht sogar noch härtere Sanktionen beschließen und das auf die Versicherungs- und Zertifizierungsfirmen ausweiten wird. Um es klar zu sagen: Wir lehnen seitens der Bundesregierung, aber auch als Unionsfraktion exterritoriale Sanktionen ab. Mein geschätzter Kollege Philipp Amthor wird darauf später auch noch eingehen.
Ich muss auch von einer anderen Seite her warnen. Was wir sehen, ist, dass es nicht nur völkerrechtswidrige exterritoriale Sanktionen sind, sondern dass vor allem auch sehr viel Doppelmoral in dieser Debatte im Spiel ist. Die USA importieren selber russisches Öl auf Rekordniveau. Weil viele US-Raffinerien das leichte, beim Fracking entstehende und geförderte Erdöl selbst nicht verarbeiten können, haben sich seit 2018 die amerikanischen Importe aus Russland mittlerweile auf 11 Millionen Tonnen pro Jahr verdoppelt. Das zeigt, dass die Amerikaner hier europäische Unternehmen sanktionieren möchten, eigene Konzerne aber aus dieser Sanktionierung herauslassen möchten. Das ist mit uns, gerade seitens der Unionsfraktion und der Bundesregierung, nicht zu machen.
Ich möchte kurz auf drei Themen eingehen, die zeigen, warum wir Nord Stream 2 brauchen und warum diese Pipeline Deutschland und Europa nützt.
Erstens: die Versorgungssicherheit. Wir sehen, dass es in den letzten Jahren einen wachsenden Anteil von Gas am EU-Primärenergiemix gibt und dieser sich auch weiter ausweiten wird. 1994 betrug der Anteil 18 Prozent, 2014 lag er schon bei 22 Prozent, und 2035 soll dieser Anteil 28 Prozent betragen. Gleichzeitig sehen wir, dass europäische Förderländer wegfallen: Großbritannien, Norwegen, die Niederlande. Das heißt, wir haben insgesamt einen höheren Importbedarf bei dem Thema Gas.
Wir sehen auch nicht, dass wir eine einseitige Abhängigkeit von Russland haben. Ich kann Ihnen das als ostdeutscher Kollege sagen: Selbst in den dunkelsten Stunden des Kalten Krieges gab es stets verlässliche Lieferungen seitens Russlands.
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Was wir aber sehen, ist, dass durch Nord Stream 2 eine Diversifizierung der Gasversorgung entsteht, weil nämlich mehr Wettbewerb mit günstigeren Preisen für Endverbraucher entsteht. Wir sehen auch, dass man über die sogenannten Reverse Flow Capabilities osteuropäische Partner wie die Ukraine, wie Polen, wie Belarus mitversorgen kann, indem das Gas nicht nur aus einer Richtung, von Russland, in diese Länder strömt, sondern eben auch aus Europa in diese Länder zurückströmen kann. Das heißt, auch hier führt das zu einer Reduzierung der Abhängigkeiten der europäischen Partner.
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Zweitens. Wir sehen Gas nach wie vor als emissionsarmen fossilen Energieträger, der gerade beim Stichwort „Blauer Wasserstoff“ eine Brückenfunktion einnehmen kann; und ein Land, das gleichzeitig aus der Kohle und aus der Kernenergie aussteigt, sollte nicht den Fehler machen, auch die Gasversorgung aus dem Blick zu verlieren. Deshalb halten wir es für wichtig, Nord Stream 2 weiterzuführen.
Abschließend geht es auch um die geopolitischen Interessen. Russland muss nicht an Europa verkaufen, sondern hat auf dem Weltmarkt auch andere Möglichkeiten, etwa sich an China und andere Partner anzunähern. Das ist nicht in unserem Interesse.
Herr Kollege.
Es ist in unserem Interesse – Frau Präsidentin, damit möchte ich schließen –, gerade auch aufgrund von wachsenden Handelsbeziehungen innerhalb Asiens hier in der Region mit der europäischen Nachbarschaft gut zusammenzuarbeiten und gemeinsame Projekte zu realisieren; und Nord Stream 2 kann eines dieser Projekte sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Leif-Erik Holm.
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Sehr geehrte Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute um Mitternacht läuft wieder ein Ultimatum ab. Die USA drohen all jenen mit Sanktionen, die Dienstleistungen, Ausrüstung oder Geld für den Weiterbau von Nord Stream 2 bereitstellen. Das betrifft auch den Fährhafen Sassnitz in meinem Wahlkreis, in dem Tausende Rohre für die Verlegung der letzten 130 Kilometer der Pipeline bereitliegen. Ein Sprecher des Hafens hat sich heute zu diesem Ultimatum geäußert. Er sagte wörtlich: Das ist nicht unsere Angelegenheit, das betrifft die Bundesrepublik Deutschland. – Und weiter, fast beschwörend: Und die Bundesregierung schützt ihre Bürger und Unternehmen. – Aber tut sie das? Ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck, dass sich die Kanzlerin hier wegduckt. Wo sind denn Merkels klare Ansagen nach den wüsten Drohungen der US-Senatoren? Wo sind die eindeutigen Reaktionen nach diesem Ultimatum des State Departments? Es passiert einfach nichts, und das geht gar nicht!
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– Habe ich gelesen, vielen Dank für den Hinweis.
Hofft man im Kanzleramt denn wirklich, dass sich unter einem neuen US-Präsidenten alles zum Guten wendet? Das wäre wirklich reine Traumtänzerei. Joe Biden hat sich schon 2016 als Vizepräsident klar geäußert; er sprach von einem „bad deal for Europe“. Ist es natürlich nicht, aber damit ist die Richtung klar. Im US-Kongress ist man sich nahezu einig über weitere Sanktionen, und die werden wahrscheinlich noch im Dezember verabschiedet werden.
Nord Stream 2 steht also weiter unter massivem Feuer, und Merkel versteckt sich. Schlimmer noch: Sie wackelt. Nach dem Anschlag auf Nawalny gab es ein merkliches Abrücken vom Projekt. Das halten wir für höchst bedenklich, zumal nicht mal klar ist, wer hinter dem Attentat steckt. Die Kanzlerin, sie wackelt. Deshalb müssen wir als Volksvertreter dieser Regierung einen klaren Auftrag geben.
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Auch drei Viertel der Deutschen wollen eine Fertigstellung von Nord Stream 2, weil es einfach ein sinnvolles Projekt ist für Deutschland und für ganz Europa. Diese Bürger haben einfach mal recht.
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Die Pipeline ist zu 97 Prozent fertig. Fast 10 Milliarden Euro sind bereits verbaut. Es wäre doch ein Wahnsinn, wenn dieses Geld der Investoren im Ostseesand versenkt würde. Wenn diese Regierung am Ende sogar selbst einknicken sollte, dann werden wir Steuerzahler Schadensersatz in Milliardenhöhe zahlen dürfen, und das können wir uns zumal in der aktuellen Lage in unserem Land überhaupt nicht leisten.
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Deshalb ist es so wichtig, dass der Bundestag ein klares Zeichen in Richtung USA setzt: Deutschland gestaltet seine Energiepolitik völlig selbstständig,
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entscheidet im eigenen nationalen Interesse und verbittet sich die Einmischung aus Übersee.
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Extraterritoriale Sanktionen sind völkerrechtswidrig. Schon die Androhung solcher Maßnahmen ist einfach nicht hinnehmbar. Natürlich wollen auch wir gute Beziehungen zu den USA, und wir teilen viele Werte;
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das ist völlig klar. Wir aber handeln selbstbestimmt und nicht als Büttel Washingtons.
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Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, nicht zu wackeln und zu wanken, sondern endlich aktiv zu handeln, um dieses wichtige Projekt zum Erfolg zu führen.
Ich freue mich sehr, dass im Wirtschaftsausschuss die anderen Fraktionen unseren Argumenten für Nord Stream 2 zugestimmt haben – Herr Hauptmann hat es ja gerade auch getan, das ist sehr erfreulich –, abgesehen natürlich von den Grünen, die an ihrer energiepolitischen Geisterfahrt weiter festhalten wollen – das ist ja auch völlig klar –: Ausstieg aus der Kohle, aus der Kernenergie und aus dem Gas. Sehr interessante Idee!
Liebe Kollegen, Sie sollten die inhaltliche Unterstützung heute auch in der Abstimmung dokumentieren und endlich das parteipolitische Klein-Klein hinter sich lassen. Meine Damen und Herren, das erwarten die Bürger auch von Ihnen. Es geht hier nicht ums Parteibuch, es geht um unser Land.
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Wir brauchen endlich klare Kante für Nord Stream 2, für unsere Energiesicherheit, für umweltfreundliches Gas und auch für die Völkerverständigung.
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Herzlichen Dank.
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Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in sechs Punkten kurz auf das Thema Nord Stream eingehen. Wir haben uns ja schon öfter hiermit beschäftigt, aber wir tun das auch gerne noch mal.
Erster Punkt. Nord Stream 2 dient der deutschen und vor allem auch der europäischen Energiesicherheit.
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Es dient der Diversifizierung der europäischen Gasversorgung. Das ist gut so, und deswegen brauchen wir Nord Stream 2, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Zweitens. Eine moderne Pipeline hat weniger Leckagen, hat weniger Methanschlupf und dient somit auch der Umwelt und dem Klimaschutz. Das muss man gerade in Richtung der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen sagen.
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Drittens. Es ist auch keine verlorene Investition, wie die Grünen immer behaupten. Denn später kann diese Pipeline mit leichten Umbaumaßnahmen genutzt werden, um Blauen, also CO2-freien Wasserstoff auch nach Europa zu bringen.
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Deswegen ist es keine verlorene Investition, sondern eine Investition in die Zukunft, um sozusagen so lange eine Brücke zu haben, bis wir genügend Grünen Wasserstoff haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Viertens, auch das ist wichtig: Nun lassen Sie doch Joe Biden und die neue amerikanische Administration erst mal mit der Arbeit anfangen. Lassen Sie uns ihnen doch mal das Gespräch anbieten. Lassen Sie uns doch mit ihnen reden. Ich glaube, dass wir dort ein anderes Verhandlungsklima haben, dass es da eben nicht um extraterritoriale Sanktionen geht, dass man auch mit Joe Biden und den Amerikanern reden kann, wohl wissend, dass auch die Demokraten Nord Stream 2 skeptisch gegenüberstehen; aber ich glaube, es gibt eine andere Verhandlungskultur. Lassen wir Joe Biden doch erst mal starten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Fünftens. Eine Pipeline ist immer auch eine Brücke, eine Brücke des Dialoges. Wir müssen mit Russland den politischen Dialog führen, und das geht besser, wenn wir mit ihnen auch Handel treiben. Wir müssen mit ihnen über die Situation der Menschenrechte, die Situation der LGBTIQ+-Community sprechen. All das müssen wir mit Russland klären, auch hart klären; denn das, was da läuft, sind Menschenrechtsverstöße, die wir nicht akzeptieren können.
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Aber ich sage Ihnen: Wenn wir eine Brücke zu Russland haben, dann ist das so wie im Kalten Krieg; denn da gab es auch die Gasversorgung, und das hat uns für den politischen Dialog genützt.
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– Gucken Sie mal ins Geschichtsbuch zu Willy Brandt; das war eine wichtige Brücke.
Mir ist es lieber, wir verhandeln mit Russland und wir beziehen Gas aus Russland, als dass wir zulassen, dass Russland sein Gas Richtung China bringt. Diese Allianz wäre eine, die uns größere Sorgen machen müsste. Also: Es ist auch außenpolitisch ein wichtiger Punkt, diese Pipeline als Brücke zu nutzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Jetzt zur AfD. Der Antrag, den Sie uns hier vorlegen, ist aus der Zeit gefallen; das sieht man auch, wenn man auf das Datum guckt. Der Antrag ist ja schon ein paar Tage alt, und seitdem hat sich die Welt weitergedreht. Ehrlich gesagt: Herr Holm, ich frage mich, wo Sie waren. Wir hatten das Thema doch im Wirtschaftsausschuss. Es gab zur Sitzung gestern einen Bericht. Der ist zwar intern, nur für den Dienstgebrauch – deshalb kann man daraus jetzt nicht zitieren –, aber gucken Sie mal da rein. Da steht haargenau und kleinteilig drin, wann die Bundesregierung mit wem gesprochen hat, dass es europäisch abgestimmte Initiativen von 24 Ländern und dem Auswärtigen Dienst der EU gibt. All das steht drin.
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Deswegen: Wir brauchen die Bundesregierung hier doch nicht zu etwas aufzufordern, was sie eh schon tut, nämlich unser Interesse zu vertreten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ehrlich gesagt: Herr Holm und die AfD, wer hat denn die Anhörung im Wirtschaftsausschuss zu Nord Stream 2 beantragt? Das war die Große Koalition!
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Wir müssen uns da von Ihnen nichts sagen lassen.
Dieser Antrag ist überflüssig; ihm brauchen wir nicht zuzustimmen. Die Bundesregierung handelt, und das Parlament steht, wie man sieht, in der großen Breite mehrheitlich für Nord Stream 2. Lassen Sie uns dieses Projekt zeitnah auf den Weg bringen!
In diesem Sinne: Alles Gute und Glück auf!
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Vielen Dank, Timon Gremmels. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Martin Neumann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt Nord Stream 2 hat ohne Zweifel energiepolitische Bedeutung, national wie auch europäisch. Und genau deshalb stimmen wir der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu.
Wir Freie Demokraten sprechen uns für ein Moratorium aus, bis sich die russischen Behörden um eine ehrliche Aufklärung des Falls Nawalny bemühen. Ein Aussitzen darf und kann es nicht geben; denn Menschenrechte haben kein Ablaufdatum.
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Gleichwohl lehnen wir bei Nord Stream 2 Einmischungen von außen und Sanktionsdrohungen der USA ab und kritisieren die sich leider nicht ändernde Tonalität unter dem neugewählten US-Präsidenten Biden. Unser Ziel muss es sein, eine deutliche Verbesserung der transatlantischen Beziehungen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist in den europäischen Binnenmarkt für Gas integriert. Die Importkapazitäten sind vorhanden. Der Markt ist wettbewerbsfähig. Mit zusätzlichen Optionen – darum geht es, glaube ich, auch bei diesem Projekt – und einer stärkeren Diversifizierung steigern wir unsere Resilienz.
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Nord Stream 2 ist damit eine relevante, aber keine entscheidende Ergänzung für die Energieversorgung. Auch unsere Position als Importland für Energie, das wir schon immer waren, können wir gegenüber den Lieferländern auf diese Weise verbessern.
Aber, meine Damen und Herren, Nord Stream 2 ist mittlerweile nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein hochpolitisches Projekt geworden. Mehrere Milliarden Euro aus privatwirtschaftlicher Hand sind bereits in dieses Projekt geflossen. Das heißt: Alle an dem Projekt beteiligten Unternehmen – insgesamt zwölf bisher – wären die großen Verlierer. Die Investitions- und Rechtssicherheit würde erheblich belastet. – Hier darf ich noch mal an die Pläne der Grünen erinnern, die Entschädigungen durch den Steuerzahler in den Raum geworfen haben.
Wir sollten auch nicht vergessen, meine Damen und Herren: Russland ist viel stärker abhängig davon, dass es Gas exportieren kann, als dass Europa davon abhängig wäre.
Von Anfang an waren der Bau der Leitung und die Unterstützung von Nord Stream 2 durch die Bundesregierung ein politischer Fehler. Knapp ein Jahr nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2015 sendete dies ein falsches Signal an Russland.
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Stets stand für die Koalition der energie- und wirtschaftspolitische Nutzen im Vordergrund, ohne die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung mitzuberücksichtigen.
Das Kind ist nun in den Brunnen gefallen. Jetzt müssen wir unsere Energiequellen diversifizieren und zugleich dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten der EU möglichst eng zusammenarbeiten. Das muss das Ziel sein. Besonders Deutschland ist ja auf Gas angewiesen, wenn wir 2022 aus der Kernenergie und bis 2038 aus der Kohleverstromung aussteigen und die Versorgung dann noch nicht vollständig aus regenerativen Energiequellen sichergestellt werden kann.
Zum Abschluss. Eine möglichst große Vielfalt an Bezugsquellen führt aufgrund des Wettbewerbs außerdem zu günstigen Preisen. Also: Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Neumann. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Klaus Ernst.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Erstes zum Antrag der AfD. Wir werden dem Antrag nicht zustimmen. Ich sage Ihnen auch, warum. Im Gegensatz zu der vorgetragenen Rede, Herr Holm, ist der Antrag ja sehr, sehr defensiv. Sie fordern nämlich, dass die KfW einspringt, wenn die Finanzierung von Nord Stream 2 nicht mehr gesichert ist.
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– Nee, nee, nee. Lesen Sie doch Ihren eigenen Antrag! – Das ist eine sehr defensive Haltung. Wir fordern, dass wir uns gegen die amerikanischen Sanktionen wehren. Das ist bei Weitem besser, als sich ein bisschen unter dem Tisch anzunähern.
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Zweitens zu dem Antrag der Grünen. Wenn ich es richtig sehe – wo ist denn Herr Krischer? da ist er! –, sind Sie die Einzigen, die aus dem Projekt mit aller Wucht aussteigen wollen. Sie wissen genau, dass, wenn wir aussteigen würden, dies dazu führen würde, dass wir amerikanisches LNG-Gas importieren müssten.
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– Ja, ja. Sie leugnen es immer. – Wissen Sie, was das ist? Die Haltung „LNG-Gas statt russisches Erdgas“ ist nicht mehr richtig grün, sondern schon ein bisschen verwelkt. Sie sollten mal Ihre Position bei dieser Frage überprüfen.
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Meine Damen und Herren – das jetzt an uns alle gerichtet –, es ist eine Illusion, dass durch einen Präsidentenwechsel in den USA nun auch eine Änderung bei deren Energiepolitik eintreten wird; das glaubt doch hier wirklich keiner. Wir wissen, dass die entsprechenden Initiativen von beiden Parteien ausgegangen sind und beide Parteien in dieser Hinsicht ähnlich ticken.
Mich erinnert das schon ein bisschen an mafiöse Methoden. Ich will das mal darstellen: Wie handelt die Mafia? Die sagt zu denen, die eine Kneipe haben: Wenn ihr nicht Schutzgeld zahlt und euch von uns nicht beschützen lasst, hauen wir euch den Laden kurz und klein. – Genauso ist es bezogen auf Nord Stream 2. Wir wollen uns nicht von den US-Amerikanern beschützen lassen, weil wir selber unsere Energiepolitik bestimmen wollen. Und wenn wir so handeln, kommen die US-Amerikaner und sagen: Dann hauen wir euch den Laden kurz und klein. – Das kann doch unter Freunden nicht die richtige Herangehensweise sein, meine Damen und Herren.
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Allein schon an dieser Stelle müssten die Grünen doch aufspringen und sagen: Wir verteidigen die Souveränität dieser Republik auch gegenüber den US-Amerikanern.
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Aber nein, da hört man von euch in dieser Frage leider überhaupt nichts.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass es inzwischen doch eine breite Mehrheit zu geben scheint, nun zu härteren Maßnahmen zu kommen. Zwar hat die Bundesregierung bisher – es ist von meinem Vorredner dargestellt worden – durchaus etwas zustande gebracht. Wir haben uns im Wirtschaftsausschuss darüber unterhalten; wir haben dort auch ein bisschen Bewegung hineinbekommen. Das war gut und richtig, aber jetzt müssen wir schnell handeln. Denn zurzeit setzen sich in Amerika Senat und Repräsentantenhaus zusammen und denken über eine Verschärfung der Sanktionen nach.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?
Gerne, ja.
Ja, das denke ich mir.
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Eine kurze Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Holm.
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– Ja, er hat es ja genehmigt.
Da habe ich noch nicht gewusst, wer es war.
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Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich folge Ihnen sehr entspannt. Ich glaube, Sie können unserem Antrag tatsächlich zustimmen; denn Sie haben anfangs einen anderen Antrag erwähnt, nämlich den, den wir gestern im Ausschuss diskutiert haben. Um den geht es nicht. Den können Sie meinetwegen, wenn es an der Zeit ist, auch ablehnen. Dagegen spricht nichts.
Heute reden wir aber über einen Generalantrag, der es auch Ihnen ermöglichen sollte, dem zuzustimmen.
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Es geht heute nämlich darum, die Bundesregierung aufzufordern, dieses Projekt zu einem guten Ende zu führen, also alle Unterstützung für das Projekt Nord Stream 2 zu geben. Das sollte unterstützungsfähig für alle hier im Hause sein – außer für die Grünen natürlich.
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Herr Ernst.
Herr Holm, dann hätten Sie aber auch da konkreter sein sollen. In Ihrem Antrag erwähnen Sie ja wörtlich die KfW, die dann einspringen soll, wenn es um eine Finanzierung – –
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– Bitte, das ist der.
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Selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen: Was fehlt – auch in Ihrer Position –, ist, dass wir eindeutig sagen, welche Sanktionen wir denn nun wollen. Ich kann Ihnen sagen, dazu gibt es inzwischen einen Thinktank, der sich darüber Gedanken macht. Der sagt: Wir brauchen eine eigene Institution, die sich mit Gegenmaßnahmen beschäftigt. Weiterhin: Wir müssen das tun, was die US-Amerikaner auch machen, nämlich zum Beispiel einzelne Personen sanktionieren über Einreiseverbote oder möglicherweise über das Einfrieren von Vermögen. Genau dasselbe, was sie uns androhen. Nur auf das hören sie.
Ich schlage außerdem vor, zu sagen: Lasst uns doch mal darüber diskutieren, was mit dem Importgas aus Amerika ist. Wenn wir das Importgas mit Strafzöllen belegen, dann würden die US-Amerikaner vielleicht merken, dass wir es ernst meinen und nicht nur mit Wattebäuschchen werfen. Das ist die richtige Position.
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Gut. Diese Frage ist jetzt geklärt. Danke, Herr Holm. – Noch 18 Sekunden Redezeit.
Meine Damen und Herren, ich glaube, ich bin – jedenfalls meinerseits – am Ende der Diskussion angelangt. Ich wollte noch sagen: Jetzt haben wir noch die Chance, uns zu wehren, weil die US-Amerikaner gerade noch diskutieren. Wir sollten das aber schnell tun, und wir sollten deutlich machen, dass wir es ernst meinen. Denn wenn wir das nicht tun, kommen wir unter die Räder, auch wegen anderer Dinge. Die USA könnten ja auch sanktionieren, dass wir weiter mit China handeln, wenn sie das nicht mehr wollen. Also wehret – in dem Fall tatsächlich – den Anfängen, und macht rechtzeitig Schluss mit so einer Politik! Lasst uns uns wehren, und zwar gemeinsam.
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Vielen Dank, Klaus Ernst. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Oliver Krischer.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Klaus Ernst, einen Politiker der Linkspartei, der ausgerechnet Gerhard Schröder – Gerhard Schröder! – als Sachverständigen für Nord Stream 2 in den Wirtschaftsausschuss einlädt, den kann ich hier in dieser Debatte nicht ernst nehmen
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oder nur begrenzt ernst nehmen. Das muss man an der Stelle mal sagen.
Um es klar zu sagen: Sowenig die Sanktionsdrohungen der USA auch hinnehmbar sind,
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das ändert überhaupt nichts daran, dass Nord Stream 2 ein grundfalsches Projekt ist, meine Damen und Herren.
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Denn Nord Stream 2 dient nicht unserer Versorgungssicherheit, es spaltet Europa, und es ist eine Wette gegen die Klimaschutzziele, erst recht gegen die verschärften Klimaschutzziele von Ursula von der Leyen und der EU-Kommission, die wir jetzt beschlossen haben. Dass Sie das immer negieren, zeigt, dass es Ihnen nicht um Klimaschutz, dass es Ihnen nicht um erneuerbare Energien und dass es Ihnen nicht um einen Green Deal in Europa geht.
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Wer Nord Stream 2 will, lehnt das an der Stelle ab.
Herr Krischer, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder ‑frage des Kollegen Klaus Ernst?
Aber immer gerne.
Gut. – Herr Ernst.
Danke, Herr Krischer. – Also, ich bin jetzt ein bisschen überrascht, dass Sie mir vorwerfen, wir hätten den Ex-Kanzler eingeladen. Es war die Entscheidung des Wirtschaftsausschusses. Wir haben ihn nicht als Vertreter von Nord Stream eingeladen, sondern als Ex-Kanzler zur Frage der Souveränität Europas.
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Das ist genau der Punkt, den Sie in der Diskussion vernachlässigen.
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Jetzt ist Herr Ernst dran und führt aus.
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: War es denn nicht so, dass ihr mit dem Gerhard Schröder einige Jahre in der Koalition wart, viel näher gekuschelt habt? War das denn nicht so?
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Und wenn das so ist, Kollege Krischer, dass das die Wahrheit ist – die kann man ja nun nicht leugnen –, dann würde ich an Ihrer Stelle ein bisschen vorsichtig sein, wenn wir den Ex-Kanzler zu einer Sachfrage in den Wirtschaftsausschuss einladen, zu der er als Ex-Kanzler vielleicht tatsächlich was zu sagen hätte, vielleicht auch Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Ernst. – Jetzt Herr Krischer, bitte.
Lieber Klaus Ernst, das ist ja nun eine Lachnummer an sich.
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Ich habe während der ganzen Anhörung überlegt, mal die Frage zu stellen: Was sagt eigentlich dieser Gerhard Schröder, der hier von den Linken vorgeschlagen wurde, zu der Agenda 2010?
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Dass Sie den als Sachverständigen zu Nord Stream 2 einladen,
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ist doch unglaublich. Das zeigt, wie sehr Sie irrlichtern
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und dass Sie an der Stelle überhaupt kein Interesse und keine Ahnung haben, sich für die Klimaschutzziele, für eine europäische Integration einzusetzen. Sie verfolgen alleine die Interessen Putins und Russlands. Das ist Ihr Ziel, und darum geht es Ihnen, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Jetzt geht es weiter mit der Rede.
Wenn man sich mal anguckt, wer denn genau von Nord Stream 2 profitiert – so falsch es ist –, stellt man fest, dass es zwei Profiteure gibt. Der eine sind die Konzerne, die das Ding betreiben, und der andere ist das System Putin.
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Und die, meine Damen und Herren, finanzieren Sie damit. Sie finanzieren damit diejenigen, unter denen die Menschen in Syrien, in Belarus, in der Ukraine leiden, nämlich dieses System Putin.
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Das gehört an der Stelle auch dazu.
Herr Kollege, entschuldigen Sie. – Erlauben Sie noch mal eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung, dieses Mal von Herrn Mieruch?
Nein. – Dann heißt es – das haben wir wieder gehört –, man würde damit LNG-Gas befördern, man würde damit den Import von diesem Gas nach Europa befördern. Ich habe die Bundesregierung mal gefragt: Herr Altmaier – das Wirtschaftsministerium ist ja hier vertreten –, worauf beruht eigentlich die Behauptung, die hier gerade auch wieder gemacht worden ist, dass wir dieses Gas in Europa benötigen?
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Die Antwort ist: 2016 hat es eine Studie der Gazprom AG gegeben. – Und das ist die Begründung dafür, dass die Bundesregierung Nord Stream 2 unterstützt. Es kann doch, ehrlich gesagt, nicht sein, dass die Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland von der Nord Stream AG gemacht wird und das dafür herhalten muss.
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Das ist unglaublich! Wenn es noch einer Bankrotterklärung des Wirtschaftsministeriums in dieser Frage bedurfte, dann ist es das.
Aber einer setzt noch eins drauf, und das ist der Kollege Olaf Scholz. Eben wurde ja das Fracking-Gas erwähnt. Olaf Scholz will nicht nur Nord Stream 2, sondern er will auch noch den Zugang zu amerikanischem LNG-Gas ermöglichen
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und mit 1 Milliarde Euro Steuergeld LNG-Terminals in Deutschland finanzieren. Daran arbeitet er bisher noch. Meine Damen und Herren, das hat nun wirklich nichts mehr mit Klimaschutz, mit europäischer Energiepolitik und gar nichts mehr mit Energiewende zu tun, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
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Es muss im Sinne des Klimaschutzes unser Ziel sein, unabhängiger von Russland und Putin zu werden. Denn wir hängen nicht nur beim Gas von Putin ab, wir sind genauso abhängig beim Erdöl und auch bei der Kohle. Fossile Energieträger bedeuten Abhängigkeit vom System Putin. Das muss beendet werden mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, mit dem Green Deal in Europa und Deutschland. Das müsste unsere gemeinsame Aufgabe sein, statt beständiger Treueschwüre zu Nord Stream 2 in diesem Deutschen Bundestag.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Oliver Krischer. – Nächster Redner in dieser lebendigen Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Philipp Amthor. Jetzt müssen Sie liefern.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir in dieser durchaus lebendigen, in dieser weltpolitischen Debatte und vor allem nach dieser grünen Irrfahrt dann doch, als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für das nordöstliche Mecklenburg-Vorpommern
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noch einmal den Blick darauf zu werfen, wie die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis die Lage sehen, auf die Menschen im Nordosten der Republik, auf die Menschen im Seebad Lubmin, wo Nord Stream 2 anlanden soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen sagen, was die Menschen in meinem Wahlkreis definitiv nicht wollen: Sie wollen nicht zum Spielball der Weltpolitik werden. Sie wollen nicht das Kollateralopfer internationaler Politik werden; denn sie haben nichts Unrechtes getan, sondern nur ihre Arbeit.
Und ich kann Ihnen auch sagen, was die Menschen vor Ort erwarten. Sie erwarten, dass diese Pipeline Nord Stream 2 fertiggestellt wird. Und ich sage Ihnen: Diese Erwartung haben die Menschen vor Ort völlig zu Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Denn die Menschen vor Ort möchten keine Bau- und Investitionsruine, und das möchte ich als Bundestagesabgeordneter in Lubmin auch nicht.
Stattdessen möchte ich Unterstützung für die Unternehmen, für die Firmen, für die Menschen, die vor Ort an der Fertigstellung dieser Pipeline arbeiten. Wir müssen auch in der Debatte heute noch mal betonen: Die Fertigstellung dieser Pipeline liegt nicht nur im russischen Interesse, sie liegt vor allem im Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Das ist das klare Zeichen dieser Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Ja, ich wollte gerne auf die Argumente eingehen.
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Aber wenn Sie meine Redezeit verlängern wollen: Herzlich gerne.
Darauf werde ich achten, dass das nicht übertrieben wird.
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Herr Kotré.
Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. – Ich vernehme ja mit Freude, dass also auch Sie hinter dem Nord-Stream-2-Projekt stehen. Dann brauchen wir an dieser Stelle eigentlich gar nicht weiter zu diskutieren. Dann müssen wir eben zu der Frage kommen: „Wie setzen wir das um?“, und daran anschließend zu der Frage: Was tun Sie konkret?
Wir sind jetzt schon, glaube ich, ein Jahr in der Diskussion. Die Kanzlerin sagt, sie will reden. Nur: Reden alleine hilft ja nicht. – Wir haben den Altkanzler Schröder gehört: Die Amerikaner hören nur auf Druck. – Wir haben heute hier auch schon gehört, was man machen könnte.
Was sind denn jetzt die ganz konkreten Vorschläge, um dieses Projekt zu Ende zu führen, um die Sanktionen beenden zu können und um den US-Amerikanern ganz klar zu sagen: „So geht’s nicht; ihr müsst euch zurückziehen“?
Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege Kotré. – Ich fände es schon gut, wenn konkrete Vorschläge mal von der Fraktion kommen würden, die so einen Antrag hier stellt. Von Ihnen kamen sie nicht.
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Ich kann sagen: Es geht aber noch kürzer als durch Ihren Antrag; denn die Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 entspricht der geltenden Rechts- und Genehmigungslage in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben kein Interesse, daran etwas zu ändern. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist. Sie haben gestern hier noch in einer großen Schauspielnummer Plakate mit dem Todesdatum des Grundgesetzes aufgehängt. Für uns gilt das noch, und deswegen halten wir uns auch an geltendes Recht: Das Projekt entspricht der Rechtslage und ist fertigzustellen. Wir arbeiten konstruktiv, und das unterscheidet uns von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will, bevor ich auf Ihren dünnen Antrag zurückkomme, den Blick noch einmal auf das Projekt insgesamt werfen. Es liegt im Interesse der Energiesicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Und ich will sagen: Die Forderungen nach einem Baustopp für Nord Stream 2 sind als Antwort auf den Fall Nawalny erhoben worden. Ich möchte in dieser Situation – auch mit Blick auf die außenpolitische Lage in Russland – noch einmal betonen: Es ist richtig, und es ist notwendig, dass wir im Fall Nawalny klare Antworten, aber auch kluge Antworten finden. Eine kluge Antwort im Fall Nawalny kann aus meiner Sicht nur eine europäische Antwort sein. Und eine europäische Antwort kann man eben nicht geben, indem man diese Antwort auf ein Einzelprojekt, auf Nord Stream 2, verengt.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn wir schon über Sanktionen diskutieren, dann sollten wir nicht über Sanktionen diskutieren, die zuallererst die heimische Wirtschaft in Deutschland treffen, sondern dann sollten wir über Sanktionen diskutieren, die die Verantwortungsträger für die Situation in Russland treffen. Dafür ist Nord Stream 2 ungeeignet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn es um die Geeignetheit von Sanktionen geht, ist es natürlich richtig, darauf hinzuweisen, dass es auch unsere Erwartung an die Vereinigten Staaten von Amerika ist, dass sie ihrerseits geeignete Sanktionen vorsehen. Und das klare Zeichen, das wir heute auch gesendet haben, ist, dass für uns extraterritoriale Sanktionen nicht dazugehören.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch einmal auf den Antrag der AfD zurück. Er ist ja wirklich sehr schmal. Ich habe mir das noch einmal angeschaut: 79 Worte. – 79 Worte, das ist Politik, die auf einen Bierdeckel passt.
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Ich habe nichts gegen Politik, die auf einen Bierdeckel passt; die finde ich grundsätzlich gut für unser Land. Für komplexe Probleme wie das Problem Nord Stream 2 greift es aber zu kurz.
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Sie gehen mit keinem Wort auf die Repressionen in Russland ein. Sie fordern, dass man sich an die geltende Rechtslage hält. Dazu muss man uns nicht auffordern. Wir werden uns für die Realisierung dieses Projekts einsetzen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Johann Saathoff. Da freue ich mich immer.
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Frau Präsidentin, die Freude ist auf beiden Seiten des Pults. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es gleich zu Beginn: Wir kommen tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis. Und es ist schon eine ganz besondere Situation für mich, jetzt nach drei Jahren besonders rechter Politiker im Parlament zu erleben, dass wir zu dem gleichen Ergebnis kommen. Aber ich würde mir an Ihrer Stelle nichts darauf einbilden; denn die Grundlage für unser Ergebnis könnte unterschiedlicher eigentlich gar nicht sein.
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In Ihrer Begründung lese ich, dass Sie die Aussetzung der Nutzung fossiler Energien infrage stellen, dass Sie die Energiewende infrage stellen. War am Anfang von Ihrer Seite noch die Rede davon, dass es den Klimawandel eventuell gar nicht geben könnte, sagen Sie jetzt – immerhin ein Lernprozess –: Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel. – Das ist zwar genauso falsch; aber Sie haben sich in dem Bereich immerhin schon entwickelt.
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Wir als Sozialdemokraten haben ein klares Bekenntnis. Wir bekennen uns nämlich zu den Erneuerbaren, und wir wollen sie ausbauen.
Sie haben das gleiche Ergebnis, aber das ist ungefähr so wie bei einer Matheklausur, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es werden 40 Fragen gestellt, und Sie haben 40-mal geraten, weil Sie keine Ahnung haben. Einmal haben Sie richtig gelegen. Deswegen kommt es bei der Bewertung der Matheklausur nicht auf das Ergebnis an, sondern es kommt auf den Rechenweg an – zu Recht. Und guckt man sich den Rechenweg Ihres Antrags an, dann muss man als Schulnote sagen: Das ist ungenügend. – Ich hätte auch noch andere Worte dafür gefunden.
Die Nord-Stream-2-Pipeline ist energiepolitisch notwendig. Wir steigen aus Kohle und Atomenergie aus,
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und wir wollen in erneuerbare Energien einsteigen – ich gebe zu, in der Großen Koalition die einen mehr, die anderen weniger. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, dass wir die Ausbaupfade Wind und PV, unsere Lastträger der erneuerbaren Energien, weiter voranbringen.
Aber es ist ein Spiel mit dem Feuer, Oli Krischer, jetzt zu sagen: Wir brauchen kein Gas. – Natürlich brauchen wir Gas, um eventuelle Versorgungslücken zu schließen und sicherzustellen, dass wir die Energiewende auch hinbekommen.
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Und wir brauchen eine Diversifizierung der Gasversorgung. Denn es geht nicht nur um Deutschland. Es geht um die europäische Gasversorgung. Nord Stream 2 ist ein Projekt der europäischen Gasversorgung. Das wird viel zu selten erwähnt. Wenn wir auf den europäischen Markt gucken, dann sehen wir, dass in den Niederlanden die Gasquelle gerade wegfällt. Das heißt, wir haben gar nicht mehr so viele Quellen; unsere Quellen werden knapp.
Ich bitte alle Beteiligten, auch mal daran zu denken, dass wir Erdgas nicht nur für die Energiewende brauchen – dafür brauchen wir es natürlich auch –, aber vor allen Dingen als Rohstoff für die chemische Industrie. Wir werden immer Gas brauchen, auch nach 2050.
Eine Gaspipeline kann man danach auch für andere Dinge verwenden. Russland hat ein Potenzial des Tausendfachen der installierten Onshorewindenergieleistungen, wie wir sie im Moment in Deutschland haben. Man kann daraus Wasserstoff produzieren und das auch nach Deutschland transportieren.
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Aber mir geht es auch noch um etwas anderes. Es geht nämlich nur vordergründig um eine Pipeline, also um eine physikalische Verbindung. Eigentlich geht es darum, dass man die Verbindung zwischen Deutschland und Russland noch mal thematisieren will. Ja, die Beziehungen sind belastet, keine Frage, und ja, wir müssen unangenehme Wahrheiten aussprechen. Aber wir müssen auch Brücken bauen. Wir müssen sehen, dass Zivilgesellschaft zusammenkommt, dass Menschen sich begegnen können. Wir wollen Brücken bauen und tiefe Wurzeln des Friedens schlagen.
Frau Präsidentin: Wenn de Wuddels deep genug bünt, broukt man vöör Wind neet bang ween.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ja, bitte aber wie immer jetzt die Übersetzung für die Süddeutschen.
Damit habe ich gerechnet. Also: Wenn die Wurzeln tief genug sind, dann braucht man keine Angst vor dem Wind zu haben.
Vielen herzlichen Dank, lieber Johann Saathoff. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns seit einer Reihe von Jahren immer wieder und mit steigender Bedeutung bzw. Wertigkeit mit dem Pipelineprojekt Nord Stream 2. Ja, ich muss selbstkritisch anmerken: Während der ganzen ersten Zeit habe ich, haben wir, hat die Bundesregierung die geopolitische Dimension dieses Projekts sicherlich unterschätzt. Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Wir lassen uns von Russland nicht in irgendwelche Energieabhängigkeiten hineinzwängen.
Ja, der Bezug von russischem Gas und auch Öl hat in der Zwischenzeit einen recht hohen prozentualen Anteil erreicht. Ich kann aber nicht erkennen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Nord Stream 2 jetzt das entscheidende Jota noch hinzufügt und uns in eine totale Energieabhängigkeit versetzt und damit auch dem totalen Druck Russlands aussetzt. Russland – das möchte ich an dieser Stelle auch sagen – sollte wissen, dass wir die fehlende Transparenz, unter welchen Umweltschutz- und Arbeitsschutzbedingungen das Gas gefördert wird und wie die Gewinnung des Gases vonstattengeht, anmahnen. Wir werden in Zukunft genauer hinschauen. Wir fordern mehr Transparenz.
Ich bekenne mich ganz klar zu dem Pipelineprojekt Nord Stream 2 und sage an die Adresse Russlands: Ob nach der Fertigstellung des zweiten Pipelinestrangs jemals oder zumindest ein Stück weit Volumengas durch diese Pipeline fließen wird, machen wir auch von dieser angemahnten Transparenz bei Umwelt- und Arbeitsschutz abhängig.
Wir sind in den Bereichen Energiesicherheit und Energiediversifizierung breit aufgestellt und werden diesen Weg auch weiterhin gehen. Konkret: Auch in Zukunft werden wir aus Norwegen, aus den Niederlanden Gas beziehen. Und wir haben auch unseren amerikanischen Freunden angeboten – und das ist richtig so –, zukünftig deren Flüssiggas abzunehmen. Das finde ich ausdrücklich richtig und gut.
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Nicht richtig und nicht gut ist hingegen, wenn jetzt verlangt wird, dass Deutschland in nationalen Alleingängen auf Dinge im Zusammenhang mit Nord Stream 2 reagiert. Nein, das gehört auf die EU-Ebene, insbesondere wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, dass über hundert Unternehmen, die über zwölf EU-Mitgliedstaaten verteilt sind, in den Bau der Pipeline einbezogen sind, meine Damen und Herren. Ich sage aber auch an die amerikanischen Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks gerichtet: Bitte habt Verständnis dafür, lernt, dass die Europäer sich um ihre eigenen Energiesicherheitsinteressen kümmern. Wir lehnen extraterritorial wirkende Sanktionen ausdrücklich ab.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. Ich möchte abschließend sagen, dass meiner Überzeugung nach die politische Debatte um Nord Stream 2 künstlich und verhältnismäßig überhöht ist, gerade im transatlantischen Dialog. Lasst uns doch endlich wieder an einer transatlantischen Positivagenda arbeiten.
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Die Chance und die Zeit dazu waren doch lange nicht so gut wie jetzt. Lasst uns zu einem Aufbau eines neuen Westens zurückkommen: Let’s do it.
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Vielen Dank, Peter Beyer. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute ein Gesetz mit drei großen Regelungsinhalten: die Rechtsgrundlage für die Digitale Rentenübersicht und die Modernisierung der Sozialversicherungswahlen sowie die rechtlichen Regelungen des Zugangs und der Belegung von Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung. Für meine Fraktion wird mein Kollege Michael Gerdes nachher einiges zur Modernisierung der Sozialversicherungswahlen sagen. Ich will mich auf die beiden anderen großen Themen beschränken.
Zunächst zur Rechtsgrundlage für die Digitale Rentenübersicht. Die Digitale Rentenübersicht ist ein großer Schritt. Sie ermöglicht den einzelnen Beschäftigten einen Überblick über die Altersvorsorge in unterschiedlichen Bereichen. Ich weiß, die Lösung, die wir heute beschließen, ist noch nicht perfekt. Aber wir starten jetzt und wollen dann auf dem weiteren Weg möglichst viele einsammeln, damit die Digitale Rentenübersicht immer weiter ausgebaut und verbessert wird. Genau dieser Weg ist am Montag auch von der Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung bestätigt und empfohlen worden. Und dieser Weg, meine Damen und Herren, gilt im föderalen Staat auch für die Beamten in den Ländern. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Ländern die Möglichkeit geben, mit ihrer Beamtenversorgung auch an der Digitalen Rentenübersicht teilzunehmen. Und das stellen wir heute sicher.
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Meine Damen und Herren, neben den finanziellen Leistungen durch die Rentenversicherung sind die Leistungen zur Rehabilitation von großer Bedeutung für die Beschäftigten. Wir haben uns entschlossen, das Verfahren für die Zulassung und die Belegung von Rehaeinrichtungen umfassend gesetzlich zu regeln. Dabei geht es darum, Rechtssicherheit für alle Beteiligten und ein Höchstmaß an Transparenz zu schaffen. Für uns sind dabei wichtig: eine hohe Qualität, faire Kostensätze die Rehaeinrichtungen, gute Bezahlung für die Beschäftigten und das Wunsch- und Wahlrecht für die Versicherten.
Die Änderungen, die wir im parlamentarischen Verfahren auf den Weg gebracht haben und heute mit diesem Gesetz beschließen, sind genau in diesem Sinne. Mit dem Ziel guter Qualität und Innovationen schaffen wir ein Beratergremium unter Beteiligung der Leistungsanbieter und verbinden damit auch den Auftrag an die Rentenversicherung und an die Leistungsanbieter, gemeinsam für faire Kostensätze zu sorgen und einen Konfliktlösungsmechanismus zu etablieren, wenn man sich über die Kostensätze nicht einigen kann.
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Dieses Konzept, meine Damen und Herren, ist in der Anhörung von allen Beteiligten sehr gelobt worden.
Gleichzeitig stellen wir noch mal klar, dass wir tarifliche Bezahlung in allen Rehaeinrichtungen wollen. Wir stärken das Prinzip der tariflichen Bezahlung.
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Schließlich stärken wir mit dem Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen im Ausschuss beschlossen haben, noch mal das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten – über den Gesetzentwurf der Bundesregierung hinaus. Wir schaffen damit auch eine große Transparenz im Gesetz, wie dieses Wunsch- und Wahlrecht im Einzelnen umgesetzt werden kann, umgesetzt werden muss – vom eigenen Vorschlagsrecht des Versicherten bei der Antragstellung bis dahin, dass die Rentenversicherung, wenn der Versicherte keinen Vorschlag macht oder sein Vorschlag nicht passt, mehrere Vorschläge zu Rehaeinrichtungen machen muss.
Meine Damen und Herren, mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir insgesamt die Rolle des Sozialstaats als Partner der Beschäftigten im Arbeitsleben. Ich bitte um Zustimmung zu diesem im Ausschuss geänderten Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Rosemann. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 29. Oktober, also vor drei Wochen, hatten wir hier im Plenum die erste Lesung dieses Gesetzespaketes, am 4. November die Beratung im Ausschuss, am Montag dieser Woche die Anhörung, und heute beschließen wir schon in zweiter und dritter Lesung. Das nenne ich mal Tempo.
Aber warum muss dieses Gesetz so dringend durch das Parlament gejagt werden? Sollte hier nicht Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen, vor allem, da es sich ja hier um drei unterschiedliche Gesetze zu drei unterschiedlichen Themen handelt? Dieses Tempo ist für mich unverständlich, ganz besonders, da sich bei der Anhörung am Montag herausgestellt hat, dass in allen drei Teilen dieses Gesetzes Änderungsbedarf besteht. Das sehen wir jetzt auch am Änderungsantrag der Koalition, der am Dienstag verteilt wurde und der ein Sammelsurium an Änderungen enthält, teilweise sogar Omnibusse, die mit dem ursprünglichen Gesetz eher weniger zu tun haben.
Als AfD-Fraktion hatten wir schon in erster Lesung Bedenken bei einigen Themen geäußert. Diese Bedenken hörten wir auch von den zur Anhörung geladenen Experten. Ich möchte hier kurz auf alle drei Teile dieses Gesetzespaketes eingehen:
Erstens: Digitale Rentenübersicht. Wir sind uns doch alle einig: Die Bürger müssen über die eigene Altersvorsorge besser aufgeklärt werden, und dazu gehört auch, die Versorgungsansprüche jeder Säule der Altersvorsorge transparent darzustellen. Das leistet dieses Gesetz leider nicht; denn es werden eben nicht alle Versorgungseinrichtungen aufgenommen. Berufsständische Versorgungswerke oder Pensionszusagen von Arbeitgebern fehlen hier. Damit wird der ursprüngliche Zweck einer umfassenden Auskunft eben nicht erfüllt.
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Auch die Möglichkeit einer zentralen Speicherung sollte überdacht werden. Das ist nicht nötig und würde das System unnötig aufblähen.
Zweitens: die Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Das ist ein zu begrüßendes Vorhaben, aber auch hier ist eben nicht alles gut. Ich hatte in meiner Rede zur ersten Lesung schon darauf hingewiesen, dass wir uns als AfD entschieden gegen die vorgesehene Geschlechterquote aussprechen. Die Zulässigkeit von Geschlechterquoten bei Wahlen ist verfassungsrechtlich äußerst problematisch, da sie dem Grundsatz der Freiheit der Wahl widerspricht. Das sehen nicht nur wir kritisch; auch in den Stellungnahmen von Experten wurde von dieser Vorgabe abgeraten. Hier wurde nicht nur auf die jüngsten Urteile des Thüringer Verfassungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg zum Paritätsgesetz verwiesen, sondern auch auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes Rheinland-Pfalz von Juni 2014. Es ist für uns absolut unverständlich, dass das BMAS an diesem ideologischen Vorhaben festhält und damit die Ergebnisse der kommenden Sozialwahlen angreifbar macht.
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Drittens: die Regelungen zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Hier wieder dasselbe: Das BMAS möchte Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Diskriminierungsfreiheit und Gleichbehandlung bei der Beschaffung medizinischer Rehaleistungen durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung gewährleisten. Das Ziel ist ja gut, nur an der Qualität der Umsetzung mangelt es wieder. Das Problem hierbei ist die führende Rolle der DRV Bund: Die DRV Bund soll bilaterale Vereinbarungen treffen. Die DRV Bund soll ein Vergütungssystem schaffen. Es gilt das Qualitätssicherungsverfahren der DRV Bund. Es ist keinerlei Beteiligung von Leistungserbringern vorgesehen.
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Alle relevanten Festlegungen in Sachen Zulassung, Belegungsauswahl, Qualitätssicherung und Vergütung werden einseitig von der DRV Bund getroffen. Hier muss auf jeden Fall nachgebessert werden. Experten in der Anhörung haben dazu ja sehr gute Vorschläge gemacht,
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beispielsweise die Beteiligung von Leistungserbringern oder die Einrichtung von Schiedsstellen.
Zusammenfassend muss ich sagen: eigentlich drei begrüßenswerte Gesetzesvorhaben, eigentlich auch ganz gute Ansätze, aber leider jeweils auf den letzten Metern verrannt
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und damit für uns als AfD-Fraktion nicht zustimmungsfähig. Wir werden uns hier enthalten.
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Vielen Dank, Ulrike Schielke-Ziesing. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Max Straubinger.
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Es gibt wirklich unfassbar viele Zwischengespräche. Wir sind mitten in einer Debatte, und ich würde Sie bitten, Gespräche woanders und nicht hier im Plenum zu führen.
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So, jetzt ist Herr Straubinger dran.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es jemandem immer wieder zu schnell geht, wie es bei der AfD festzustellen ist, dann zeigt sich sehr deutlich, dass wir es sind, die die Diskussionen führen und letztendlich an der Arbeit orientiert sind – Sie offensichtlich nicht, Frau Kollegin, und deshalb geht es Ihnen einfach zu schnell.
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Werte Damen und Herren, Kollege Rosemann hat schon auf drei Regelungsbereiche hingewiesen: die Digitale Rentenübersicht, die Neuregelung der Sozialversicherungswahlen und die Regelungen zur Beschaffung von Rehaleistungen. Ich möchte einen vierten Bereich hinzufügen: Die Veränderungen bei der landwirtschaftlichen Alterskasse und die Verbesserungen beim Zuschuss sind gerade für die klein strukturierte Landwirtschaft und für die kleinen Bauern in unserem Lande sehr bedeutsam. Deshalb stehen wir voll und ganz hinter unserem Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung mit den Änderungen, die im Ausschuss bereits beschlossen worden sind, verabschieden wollen, um Verbesserungen herbeizuführen.
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Kollege Zech wird auf die Digitale Rentenübersicht und auf die Sozialversicherungswahlen eingehen. Mir ist es wichtig, die besondere Situation in der Reha und damit natürlich auch in den entsprechenden Betrieben herauszustellen. Ich glaube, die Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Reha bedurfte einer größeren Transparenz. Ich bin überzeugt, dass wir dies mit dem Gesetz auch erreichen werden und damit die Vergabe der Rehaleistungen europarechtskonform gestalten. Dementsprechend wird es im SGB VI neu geregelt. Es war und ist nicht ganz einfach; denn wir müssen dabei einen schwierigen Spagat bewältigen: Wir brauchen eine Anpassung an das EU-Vergaberecht, aber vor allen Dingen auch ein an objektiven Kriterien orientiertes, diskriminierungsfrei vorzunehmendes Zulassungsverfahren. Wir haben natürlich auch das Recht der Selbstverwaltung zu berücksichtigen; das gehört da mit eingebunden.
Wir müssen die Interessen der Rehaeinrichtungen, vor allem natürlich auch die der Rehabilitanden im Blick haben. Ich glaube, das ist uns auch gelungen, indem wir hier das Wunsch- und Wahlrecht und damit vor allen Dingen auch das Wunsch- und Wahlrecht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und des Neunten Buches Sozialgesetzbuch in besonderer Weise herausstellen. Das ist meines Erachtens eine großartige Leistung, die wir hier erbringen.
Wir werden natürlich dann die qualitätsstarke Rehalandschaft mit stärken. Vor allen Dingen werden wir trotz aller Gleichwertigkeit, die wir mit Blick auf die Leistungen herbeiführen wollen, die entsprechenden Unterschiede hinsichtlich der verschiedensten Tarifverträge, der Tarifverträge in den unterschiedlichen Regionen, aber natürlich auch des kirchlichen Arbeitsrechts mit aufnehmen und in besonderer Weise berücksichtigen. Tarifstärkung ist ein gemeinsames Ziel der Union, aber auch insgesamt dieser Bundesregierung; das kommt hier mit zum Ausdruck.
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Ich glaube, dass wir damit auch viele Dinge erreichen, also beispielsweise das Wunsch- und Wahlrecht stärken, damit die Versicherten ihre Wünsche vorher mit einbringen können und diese dann dementsprechend auch berücksichtigt werden können. Dafür müssen wir ein entsprechendes Zulassungsverfahren schaffen. Das bedeutet, dass dann, wenn für die Rehaeinrichtung ein Zulassungsverfahren im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung geschaffen worden ist, dies gleichzeitig auch für die Krankenversicherung gilt, und umgekehrt soll es genauso sein. Ich nehme an und hoffe, dass sich alle Beteiligten in besonderer Weise einigen, um damit einen Bürokratieabbau herbeizuführen; das ist ja unser aller gemeinsames Anliegen. Mit der Einführung eines Beratergremiums wird der konsensuale Entscheidungsprozess institutionalisiert. Ich glaube, dass dies wichtig ist.
Da muss man einfach auch sehen: Die FDP will hier ein Schiedsstellenverfahren. Aber ein Schiedsstellenverfahren, glaube ich, ist zu apodiktisch. Es ist besser, die Rehaleistungen mit dem konsensualen Verfahren monetär zu untermauern und zu organisieren. Ich bin überzeugt, dass wir dies hiermit erreichen.
Wichtig ist, dass wir starke qualitätsorientierte Standards erarbeiten, die dann auch für die zukünftige Entwicklung in der Reha in besonderer Weise gelten, auch für die Betriebe in der gemeinsamen Arbeit mit dem Rentenversicherungsträger und mit den gesetzlichen Krankenkassen. Bei aller Unzulänglichkeit eines Gesetzgebungsverfahrens, werte Kolleginnen und Kollegen: Ich bin überzeugt, dass wir uns in ein paar Jahren – denn dieses Verfahren ist als ein Prozess angelegt, der sich entwickeln muss – mit den Ergebnissen und möglicherweise mit Neuausrichtungen zu befassen haben.
Mir sei es in den letzten Sekunden meiner Redezeit noch gestattet, auf die Verbesserungen der landwirtschaftlichen Alterskasse einzugehen. Seit 1999 wurde das Zuschusswesen in der landwirtschaftlichen Alterskasse nicht verändert. Das bedeutet, dass hier aufgrund der Preisentwicklung die Zuschüsse für die landwirtschaftlichen Betriebe letztendlich immer weniger geworden sind, vor allen Dingen für die kleinen Betriebe. Wir schaffen jetzt eine Verdoppelung der 15 500 Euro, die bisher die Grenze beim Einkommen darstellten, um noch einen Beitragszuschuss zu erhalten, und heben sie auf 31 000 Euro an. Das ist letztendlich der langen Zeitdauer der Nichtanpassung entsprungen. Diese Grenze wird dann jedes Jahr linear angepasst, so wie die Rechnungsgrößen sich entwickeln.
Das ist ein großer Fortschritt und Hilfe und unterstützt die kleinbäuerliche Landwirtschaft in unserem Land, der wir uns alle in diesem Haus verschrieben haben. In diesem Sinne ist das auch eine großartige Leistung für die Bäuerinnen und Bauern.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Max Straubinger. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere daran: Jetzt haben Sie noch elf Minuten Zeit für die namentliche Abstimmung. Das sollte jetzt aber kein Rausschmeißer für den nächsten Redner sein. Er weiß aber, dass ich das so ganz sicher nicht gemeint habe. – Ich gebe jetzt das Wort für die FDP-Fraktion Johannes Vogel.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das könnte hier auf den ersten Blick wie eine dröge Fachdebatte wirken, aber es könnte in Wahrheit auch das Wasser in der Wüste der Rentenpolitik dieser Koalition sein.
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Während Sie in der Rentenpolitik sonst immer, fast immer auf dem grundsätzlich falschen Weg sind, lieber Herr Arbeitsminister, gilt das für die digitale Renteninformation – so nenne ich sie; säulenübergreifende Renteninformation, so bezeichnen Sie sie – ausdrücklich nicht. Altersvorsorge ist mehr als gesetzliche Rente, und moderne Lebensläufe sind vielfältig. Menschen wechseln, nicht nur zwischen Arbeitgebern. Sie wechseln auch mal zwischen Anstellung und Selbstständigkeit, vielleicht ins Beamtentum, vielleicht auch wieder zurück.
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Hier Portabilität zu schaffen, wäre die ganz große politische Aufgabe. Aber Transparenz zu schaffen, ist zumindest ein großer Schritt in die richtige Richtung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb finden wir es gut, dass Sie das angehen. Ehrlich gesagt, sind uns andere Länder hier einige Jahre voraus. Also, es wird Zeit, dass wir in Deutschland vorankommen.
Über die Hälfte der Deutschen können, nach repräsentativen Umfragen immer wieder bestätigt, nicht sagen, wie viel Geld sie im Alter einmal bekommen werden. Im Gegensatz zu Dänemark: Das Land hat seit vielen Jahren ein tolles digitales Vorsorgekonto, ganz einfach nutzbar mit einer App. Fünf Jahre nach Einführung hat über die Hälfte der Dänen dieses Angebot schon regelmäßig genutzt. Also, es lohnt, hier voranzukommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insofern Lob für dieses Vorhaben.
Aber man muss fairerweise auch sagen: In der Anhörung hat einer der Experten für dieses Thema das Ganze mit einem Puzzlespiel verglichen. Er hat gesagt: Einige Teile des Puzzles liegen auf dem Tisch, andere liegen unter dem Tisch. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger einfach keinen Überblick. – Ich finde, das Bild ist sehr treffend. Um im Bild zu bleiben, muss man ehrlicherweise sagen: Das, was Sie machen, ist: Sie setzen die Puzzleteile auf dem Tisch zusammen, aber die Puzzleteile unter dem Tisch bleiben immer noch außerhalb Ihrer Sicht.
Um es mal konkret zu machen: keine Regelungen zu Versorgungswerken, zu Beamten, zu betrieblichen Pensionszusagen, gar keine zu Banken-, Aktien- und Fondssparplänen. Ausgerechnet die Aktienwelt lassen Sie komplett außen vor.
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Ja, selbst die VBL, die Zusatzversorgung der Angestellten des Bundes und der Länder, ist nicht komplett Teil dieses Gesetzgebungsvorhabens. Sie stellen eben nicht sicher, dass alle Bürgerinnen und Bürger – so haben es uns die Dänen erfolgreich vorgemacht – in einer solchen Übersicht auch wirklich einen Überblick über ihre gesamte Altersvorsorge bekommen. Das wäre eine digitale Rentenübersicht, die den Namen auch verdient. Das brauchen wir auch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Also, Sie sind auf dem richtigen Weg. Aber Sie springen ein wenig zu kurz, und das gilt leider auch für den zweiten Teil dieses Gesetzgebungsvorhabens, die Sozialwahlen, zu denen ich zum Abschluss auch ganz kurz noch etwas sagen will. Die Sozialwahlen – das sage ich für die Bürgerinnen und Bürger, die möglicherweise gerade zuschauen oder sich das nachher anschauen – sind die Wahlen zur Selbstverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung, der Krankenversicherung, also ihrer sozialen Sicherungssysteme. Die sind seit vielen Jahren reformbedürftig. Gut, dass Sie das angehen.
Nur: Das krasseste Reformbedürfnis bei diesen Sozialwahlen ist doch ganz eindeutig das Thema der sogenannten Friedenswahlen. Was heißt denn Friedenswahlen? Das ist eigentlich ein Oxymoron. Das heißt nämlich, dass gar keine Wahl stattfindet, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist auch heute bei Sozialwahlen noch möglich. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Wahl ohne Auswahl. Das ist ungefähr wie Weihnachten ohne Weihnachtsmann.
Das ist wie Rede ohne Redezeit.
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Das funktioniert nicht. Es wäre notwendig, dieses Thema anzugehen, wenn Sie die Sozialwahlen reformieren. Hier springen Sie leider auch zu kurz. – In diesem Sinne: Für dieses Gesetz gibt es von uns eine Enthaltung.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, lieber Johannes Vogel. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer möchte das nicht, im Alter von 30, 40 oder 50 Jahren mit einem Blick auf einer Rentenübersicht sehen, wohin die eigene finanzielle Reise im Alter gehen wird? Werde ich meinen Lebensstandard im Alter halten können? Werde ich Abstriche machen müssen? Werden sich meine langjährigen Beitragszahlungen gelohnt haben? Wenn die Rentenübersicht diese Fragen beantworten würde, dann wäre sie eine gute Sache. Aber dann dürfte diese Rentenübersicht erstens nicht nur eine digitale sein, sondern sie müsste ganz „old school“ auch mit der Post verschickt werden; denn viele Menschen haben kein Internet, oder sie misstrauen den Onlinediensten aus anderen Gründen; das sind Millionen. Warum nehmen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, diese Kritik der Sozialverbände nicht ernst?
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Zweitens müssen die zu erwartenden Renten aus der gesetzlichen Rente, aus Betriebsrenten oder aus Riester-Renten auf einen Blick vergleichbar sein; das wäre doch ein deutlicher Mehrwert gegenüber den heute versandten Standmitteilungen. Aber auch da bleiben Sie leider hinter den Erwartungen der Versicherten zurück, und das ist schlecht.
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Verehrter Herr Minister Heil, zu meinem Bedauern machen Sie es wie so oft und packen in das Gesetz noch andere – sachfremde – Themen hinein. Ihre Vorschläge zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind nach den Änderungen im Nachgang der öffentlichen Anhörung weitgehend okay. Nur beim Übergangsgeld droht vielen Versicherten sogar eine Leistungsverschlechterung; auch das ist schlecht. Deswegen, sage ich, ist dieser Teil nur so lala.
Und dann komme ich zu dem Vorhaben hinsichtlich der Sozialwahlen bei den Selbstverwaltungen der Sozialversicherungen. Auch da gehen Ihre Vorschläge grundsätzlich in die richtige Richtung. Nur, auch hier sind sie nicht ambitioniert genug. Ein Beispiel: Warum nicht auch Verbände mit sozialer Zielsetzung – wie beispielsweise die Sozialverbände – berechtigt werden, Vorschlagslisten einzureichen, erschließt sich mir zum Beispiel nicht.
Deswegen sage ich Ihnen: Insgesamt sind die Mängel in den drei Bereichen Rentenübersicht, Reha und Sozialwahlen leider so groß, dass Die Linke diesem grundsätzlich richtigen Gesetz nicht zustimmen kann. Es ist ein Gesetz verpasster Chancen.
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Darum werden wir uns enthalten.
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Meine Damen und Herren, ein Wort zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu den Sozialwahlen. Die Stoßrichtung des Antrags – Verbesserung der Sozialwahlen – tragen wir Linken mit. Aber wir sind vor allem mit Blick auf die Onlinewahlen skeptisch. Entweder sind Onlinewahlen nicht geheim, oder sie sind nicht öffentlich nachvollziehbar. Deshalb werden wir uns auch bei dem Antrag der Grünen enthalten, wiewohl auch er insgesamt gut ist.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Matthias W. Birkwald, Ihre digitale Skepsis ist ja
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im Ausschuss für Arbeit und Soziales hinlänglich bekannt,
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auch was das Ausschussformat anbelangt, wenn wir online tagen. Dass Sie dann die digitale Rentenübersicht kritisieren und die Onlinewahlen, passt da natürlich ins Bild.
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Und wir haben ja durch ein kleines Gespräch am Rande des Ausschusses auch erfahren, dass Sie zu Hause noch ein gedrucktes Telefonbuch haben.
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Aber okay, Vielfalt ist ja auch ein Wert.
Die gesetzlichen Änderungen, die jetzt vorgenommen werden, insbesondere auch diejenigen, die durch den Änderungsantrag hinzugekommen sind – bei der Beschaffung von Rehaleistungen –, verbessern in der Tat das Gesetz und werden – das will ich gleich vorwegsagen – dazu führen, dass wir zustimmen.
Dass das Wunsch- und Wahlrecht ausgebaut wird, dass Anerkennungsverfahren verändert werden, ist auf jeden Fall begrüßenswert. Ob allerdings Ihr Verfahren zur konsensualen Preisfindung zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern erfolgreich sein wird, Herr Straubinger, das wird sich noch erweisen. Es wäre ja schön, wenn dem so wäre. Aber wir wissen gerade aus dem Bereich der Rehapolitik, der Behindertenpolitik, dass da ja meistens die eine Seite der anderen Seite das Schwarze unter dem Fingernagel nicht gönnt und dass deswegen gerade die Leistungsberechtigten allzu oft auf der Strecke bleiben. Da sagen wir: Da fehlt nicht nur bei den Reha‑Rentenleistungen ein Sanktionsmechanismus, wenn die beiden Seiten – Leistungserbringer, Kostenträger – einfach unfähig sind, sich zu einigen.
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Das darf nicht auf dem Rücken von Menschen – oftmals Menschen mit Behinderungen – ausgetragen werden.
Im Hinblick auf die Sozialwahlen – dazu haben wir auch einen eigenen Antrag eingebracht – wäre wirklich mehr Mut vonnöten gewesen, um die Seite der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht nur nicht zu zersplittern, sondern sie zu stärken.
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Ein Punkt ist in der Debatte viel zu wenig beachtet worden, nämlich dass die beitragsfrei Mitversicherten kein aktives Wahlrecht in der Selbstverwaltung haben; das muss man sich einmal vorstellen! Das sind ganz überwiegend Frauen. Ich bin mit meinem Mitarbeiter eben noch einmal die Zahlen durchgegangen: Es sind fast 3 Millionen mitversicherte Frauen und 300 000 mitversicherte Männer. Ja, sie zahlen keine Beiträge; für sie werden aber durch die hauptversicherte Person Beiträge gezahlt. Diese Mitversicherten sind aber in besonderem Maße betroffen von den Leistungsentscheidungen, gerade auch der Krankenkassen. Wir wollen eine Demokratisierung und Stärkung gerade in diesem Bereich, und wir werden – das ist ja bekannt – in der nächsten Legislaturperiode den Versichertenkreis noch ausweiten durch erste Schritte in die Bürgerversicherung. Dann kommen ja auch Selbstständige und andere – Stichwort „Wahlfreiheit für Beamte“ – mit hinein.
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Wenn man die Bürgerversicherung einführt, muss man das Wahlrecht sowieso universell ausgestalten und die Selbstverwaltung stärken. Das werden wir in der nächsten Wahlperiode übernehmen.
Danke.
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Vielen Dank, Markus Kurth.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 14 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. Ich frage jetzt, ob es noch ein Mitglied des Hauses gibt, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat. – Ich sehe niemanden hektisch rennen. Es scheint so, dass alle abgestimmt haben, die abstimmen wollten.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wie immer wird Ihnen das Ergebnis der Abstimmung später bekannt gegeben.
Dann komme ich jetzt zum nächsten Redner; das ist für die SPD-Fraktion Michael Gerdes.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Rehaverbesserung hat Martin Rosemann bereits ausgeführt. Mit der heutigen Abstimmung beschließen wir auch eine Reform der Sozialversicherungswahlen. Ich bin sehr froh, dass wir uns schlussendlich einigen konnten. Ich begleite dieses Thema gut sieben Jahre, und ich wäre gern schneller zu einer Einigung gekommen.
Nach ausführlichen Beratungen der Koalitionsfraktionen und Anhörung der Sachverständigen bringen wir einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ein. Es bleibt bei der Fünfprozentklausel und bei der Möglichkeit der Listenverbindung. Was sich aber ab der nächsten Sozialwahl ändern wird, ist die Tatsache, dass die Kandidatenliste eine Frauenquote von 40 Prozent erfüllen muss.
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Das war uns als SPD-Fraktion besonders wichtig. Frauen sind in den Gremien der Sozialversicherungen derzeit unterrepräsentiert, obwohl sie in manchen Zweigen der Sozialversicherung, etwa bei der Rentenversicherung, mehr als die Hälfte der Mitglieder ausmachen. Ich hoffe sehr, dass künftig mehr Frauen ihren Weg in die Selbstverwaltung finden und auch mitbestimmen werden.
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Gut finde ich auch die neuen Regelungen bezüglich der Freistellung und Fortbildung von ehrenamtlichen Interessenvertretern. Schulungen sind absolut notwendig. Nicht nur, dass die Selbstverwalter viel Verantwortung tragen, auch die Anforderungen sind hoch: Sie müssen Gliederungen des Versicherungssystems kennen, Haushaltspläne und Bilanzen lesen, Hilfen bezüglich der Versicherungsleistung geben. All dieses Wissen fällt nicht vom Himmel, sondern muss durch zeitintensive Schulung erlernt werden. Und diesen Zugang verbessern wir deutlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Selbstverwaltung der Sozialversicherungszweige hat eine lange Tradition. Damit es eine gute Tradition bleibt, wollen wir mehr Wahlbeteiligung und Transparenz. Das tun wir mit dem Gesetz von heute. Wir stärken den vielen Selbstverwaltern den Rücken. Demokratie braucht Teilnehmer, aktive Wähler wie aktive Interessenvertreter. Die Selbstverwaltung ist eine Bedingung für das solidarische Miteinander in den Sozialversicherungen. Die Interessen von Versicherten und Arbeitgebern werden zu gleichen Teilen vertreten. Diesen Ausgleich der Interessen wollen wir selbstverständlich erhalten. Deshalb bleiben auch die Friedenswahlen weiterhin möglich, lieber Johannes Vogel.
Abschließend noch ein Wort zu einem weiteren Regelungsinhalt des Gesetzes, der Digitalen Rentenübersicht. Viele Menschen sorgen neben ihrer gesetzlichen Rente betrieblich und privat vor. Nun schaffen wir eine Möglichkeit, dass sie auf einen Blick sehen können, was sie im Alter erwartet. Hier geht es um mehr als um eine Serviceleistung. Hier geht es um eine bessere Einschätzung des späteren Lebensstandards. So weiß man schneller, ob und wie man an der einen oder anderen Stellschraube noch drehen sollte.
Wir hoffen in diesem Zusammenhang übrigens auch auf einen ambitionierten Beitrag der Bundesländer, indem sie ihre Landesbeamtinnen und Landesbeamten einbeziehen. Es soll schließlich ein Überblick werden, der in die Breite wirkt.
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Die Digitale Rentenübersicht ist jedenfalls ein ambitioniertes Projekt – auch datenschutztechnisch. Es ist wichtig, dass die Übersicht kommt. Andere Nationen machen uns das bereits vor.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank, Michael Gerdes. – Zum Abschluss dieser Debatte hat Tobias Zech das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das ist eigentlich ein ziemlich guter Erfolg: Drei Oppositionsfraktionen enthalten sich, eine stimmt dafür. Die Koalition hat heute also einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine breite Zustimmung im Parlament hat; es gibt zumindest keine einzige Gegenstimme.
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Jetzt hoffe ich mal, dass ich das in den letzten fünf Minuten nicht noch vermassele,
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sondern vielleicht sogar den einen oder anderen noch überzeuge, mit uns mitzugehen.
Alle drei Bereiche, die wir heute regeln, schaffen eine klare Verbesserung bei der Transparenz in der Altersvorsorge. Wir schaffen eine Übersicht der gesetzlichen, der betrieblichen und der privaten Altersvorsorge. Der Kollege Vogel hat vorhin gesagt: Dieses Projekt hätte viel schneller gehen müssen; andere haben uns überholt. – Ich kann Ihnen versichern: Seit 20 Jahren wird das hier diskutiert. Ich bin froh, dass wir heute diesen Startschuss geben, und es ist ein Startschuss. Denn wir schaffen hier heute keinen Abschluss, sondern wir starten einen Vorgang. Herr Vogel, sehen Sie es doch als unternehmerische Gründung.
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– Sie hören mir jetzt nicht zu; dann spreche ich nicht mehr mit Ihnen.
Herr Vogel, Sie sind gerade angesprochen worden.
Nein, kein Problem. So wichtig ist es wohl nicht.
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Wenn wir mit einem Thema neu starten, wie zum Beispiel jetzt hinsichtlich der Altersvorsorge, dann starten wir einen Vorgang, und der muss natürlich noch verbessert werden. Sehen Sie das Projekt der Koalition und des Arbeitsministeriums doch als Gründertum, als Entrepreneurship. Geben Sie dem doch eine Chance, und stimmen Sie heute zu! Verbessern können wir es über den Prozess immer noch. Wenn man ein so wichtiges Vorhaben von vornherein mit Nichtachtung oder Enthaltung bestraft, dann halte ich das für nicht angemessen.
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Wir schaffen etwas, was perspektivisch zu mehr Vorsorge und Transparenz führt.
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– Matthias, zu dir komme ich gleich.
Herr Minister, wir wecken mit dem Gesetz natürlich schon die Erwartung, dass wir die Vorsorgeprodukte auch an die Lebenswirklichkeit der Menschen anpassen. Wenn Sie, wie wir alle wahrscheinlich, in den letzten Tagen das Vermögensbarometer 2020 des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes bekommen haben und mal gucken, wo die Menschen in Deutschland ihr Geld abseits der gesetzlichen Rente anlegen, dann sehen Sie, dass auf Platz Nummer eins die private Lebensversicherung steht. Die haben wir abgedeckt. Auf Platz Nummer zwei liegt die private Rentenversicherung. Die haben wir auch abgedeckt. Auf Platz Nummer drei liegen Investmentfonds und Sparverträge. Die haben wir noch nicht zu 100 Prozent abgedeckt. Das ist die Lebenswirklichkeit der Menschen und muss in den nächsten Monaten und dann auch in der Evaluation mitbedacht werden.
Auf Platz Nummer fünf liegt übrigens die bAV. Die haben wir auch abgedeckt. By the way: Auf Platz Nummer zehn liegt die Riester-Rente. Das ist spannend. Wir sollten vielleicht auch noch mal darüber nachdenken, hier mehr Attraktivität zu schaffen; denn die Riester-Rente liegt nach dem aktuellen Vermögensbarometer noch hinter dem Tagesgeldkonto, das auf Platz acht liegt. Das ist sicher kein guter Platz und sicherlich auch keine gute Aussage hinsichtlich der Attraktivität dieses Produkts.
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Ein weiterer Punkt, den wir heute verbessern – über Rehaleistungen haben wir schon viel diskutiert –, sind die Sozialwahlen. Auch bei den Sozialwahlen gehen wir in die richtige Richtung. Wir verbessern sie und erhalten – das halte ich für unglaublich wichtig – die 5-Prozent-Klausel, sodass wir es Splittergruppen eben nicht erlauben, hier mit einzudringen. Wir versuchen, die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen weiter zu stärken und schaffen mit einer Sollbestimmung auch einen klaren Anspruch in Bezug auf mehr Frauen in der Selbstverwaltung.
Allerdings muss das Ziel sein, die Teilnahme an den Sozialwahlen und die Transparenz weiter zu steigern. Deswegen, Herr Kurth: Ich kann Ihrem Antrag sehr vieles abgewinnen. Es sind sehr bedenkenswerte Punkte für die Sozialwahlen dabei. Ich bin Optimist und hoffe, dass sich mit dem, was wir heute auf den Weg bringen, die Beteiligung an den Sozialwahlen weiter verstetigt und verstärkt und dass sie attraktiver werden. Sollte das perspektivisch nicht gelingen, dann werden wir uns wirklich Gedanken darüber machen müssen, wie wir mit Friedenswahlen und grundsätzlich mit dem System der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen umgehen.
Ich kann nur sagen: Alle drei Punkte, die wir beschließen, schaffen eine klare Verbesserung für die Menschen im Land und eröffnen einen klaren Weg nach vorn. Ich kann Sie alle, die sich jetzt enthalten wollen, nur einladen, sich noch mal einen Ruck zu geben und mitzustimmen. Jetzt kommt ja bald der Advent, die Zeit der Hoffnung. Geben Sie uns ein bisschen Hoffnung mit! Stimmen Sie mit uns! Das ist gut fürs Land, das ist gut fürs Karma
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und gut für die Stimmung hier im Raum.
Herzlichen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, lieber Tobias Zech. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gibt die großen und die kleinen Räder bei der inneren Sicherheit, die man drehen kann, um die Lage im Land besser und sicherer zu machen. Wir haben in den letzten Tagen und Wochen hier über viele Themen debattiert. Mir ist wichtig: Wir drehen jeden Stein um, wenn es darum geht, das Land und die Sicherheitslage im Land weiter zu verbessern.
Wir haben in den letzten Tagen viel über die großen Räder debattiert: über den Rechtsextremismus in Halle und Hanau, über islamistische Gefahren, gestern noch über die Grauen Wölfe, auch über linksterroristische Krawalle in Hamburg, Berlin oder Leipzig. Wir kämpfen auch weiterhin für eine gute und vor allem zeitgemäße Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden. Dazu gehört es, alle Phänomene von Kriminalität und Unsicherheit in den Blick zu nehmen und auch nicht abzuwägen. Es gibt für uns keine gute und keine schlechte Gewalt, und ein starker Rechtsstaat unterscheidet auch nicht zwischen höheren und niederen Zwecken.
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Deswegen möchte ich ausdrücklich mit Blick auf den gestrigen Tag und die Geschehnisse hier in Berlin den vielen Polizistinnen und Polizisten Danke sagen, die uns alle rund um dieses Gebäude geschützt und beschützt haben und das sehr abgeklärt und sachlich draußen überstanden haben. Vielen Dank! Ich hoffe, dass alle gesund wieder nach Hause gekommen sind.
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Wenn wir uns bei den großen Rädern nicht verzetteln in irgendwelchen Misstrauensdebatten gegenüber unseren Sicherheitsbehörden, dann können wir auch die vermeintlich kleinen Räder drehen. Ein vermeintlich kleines Rad mit allerdings sehr großer Wirkung haben wir heute vor uns: den Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermarktung und Verwendung von Ausgangsstoffen für Explosivstoffe. Was sehr technisch klingt, hat einen sehr konkreten Hintergrund. Viele erinnern sich vielleicht noch an die Anschläge auf Kirchen in Sri Lanka Ostern 2019. Über 250 Tote waren zu beklagen. Das, was zum Bau dieser schrecklichen Bomben verwendet wurde, waren eigentlich Alltagsstoffe.
Deswegen regeln wir jetzt gesetzlich die Abgabe und den Verkauf bestimmter Alltagsstoffe, wenn normale, handelsübliche Mengen überschritten werden. Es geht um Wasserstoffperoxid oder auch Salpetersäure, um allgemein bekannte und in hoher Dosierung gefährliche Stoffe.
Wir haben die Transaktion bestimmter Stoffe mit einer Meldepflicht belegt. Hier sind Stoffe wie Schwefelsäure oder Ammoniumnitrat, eher als Kunstdünger bekannt, zu nennen. Auch sie können für Attentate verwendet werden.
Das Gesetz enthält weiter begleitende Vorschriften zu Durchführung und Vollzug. Wir nehmen Wirtschaft, wir nehmen Verwender, aber auch Onlinemarktplätze in die Pflicht. Und wir geben den Sicherheitsbehörden und auch unserem Zoll hier ein sehr scharfes Schwert an die Hand – das machen wir nicht ohne Zweck, sondern mit Blick auf die innere Sicherheit, um die Menschen im Land zu schützen –: Testkäufe, Speicherung relevanter Vorgänge, aber auch bei dringender Gefahr das Betreten von Geschäftsräumen bis hin – bei konkreten Verdachtsmomenten – zur Durchsuchung von Wohnungen; Artikel 13 des Grundgesetzes ist berührt. Wir haben bezüglich einer entsprechenden Bandenkriminalität und entsprechender Gefahrenlagen sogar die Strafprozessordnung geändert und die Telekommunikationsüberwachung bei bandenmäßigen Taten auf die Agenda genommen.
Das alles haben wir sehr geräuschlos und einvernehmlich gemacht. Mit Blick auf die Gesetzesvorhaben, die wir als Nächstes vor der Brust haben, wünsche ich mir, dass wir auch bei anderen Themen dieses Vertrauen in unsere Behörden haben. Es wird viel über innere Sicherheit geredet – viele fühlen sich dazu berufen –, wir haben aber immer noch Tausende Hinweise ausländischer Dienste, beispielsweise auf Kindesmissbrauch, die wir nicht nachverfolgen können, weil IP-Adressen schlichtweg nicht mehr vorliegen und nicht mehr so lange gespeichert werden können, wie das nötig wäre, um solche Taten zu verhindern und aufzuklären. Da müssen wir gemeinsam ran.
Fazit hier: Wir haben mit einem vermeintlich kleinen Rad viel Sicherheit geschaffen und hoffentlich viel Leid von unserem Land abgewendet.
Vielen Dank.
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Der Abgeordnete Martin Hess ist der nächste Redner für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Wir stimmen heute über einen Gesetzentwurf zur Durchführung der EU-Verordnung zu Explosivstoffen ab. Da bestimmte chemische Ausgangsstoffe von Terroristen zur Herstellung von Sprengsätzen missbraucht werden können, ist diese Regelung sicherlich zur Bekämpfung des Terrors erforderlich, und sie wird auch unsere Zustimmung finden. Aber eines muss hier auch klar gesagt werden: Verantwortlich für die exorbitant hohe Terrorgefahr in unserem Land ist diese Bundesregierung mit ihrer völlig verfehlten Sicherheitspolitik.
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Sie liegen bereits mit Ihrer Lageanalyse falsch. Sie behaupten hier in diesem Hohen Hause immer wieder, wie übrigens die anderen Fraktionen auch, der Rechtsextremismus sei die größte Sicherheitsgefahr in unserem Lande.
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Dabei wissen wir aber alle – Sie auch –, dass uns durch den verhinderten Rizinanschlag in Köln, durch einen einzigen islamistischen Terroranschlag bis zu 27 000 Opfer drohten. 27 000 Opfer eines islamistischen Terroranschlages, das macht doch jedem die Dimensionen klar und zeigt uns doch eines: Der islamistische Terror ist und bleibt die größte Sicherheitsgefahr für die Bürger unseres Landes.
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Deshalb müssen wir endlich die richtigen Prioritäten setzen, und die Regierung muss schleunigst diesen sicherheitspolitischen Kurs korrigieren. Bekämpfen Sie endlich die Ursachen des islamistischen Terrors, und hören Sie auf mit der Symptombehandlung, wie Sie es jetzt mit diesem Gesetzentwurf wieder machen. Solange Sie diese Kurskorrektur nicht vollziehen, so lange können Sie Gesetzesverschärfungen durchsetzen, wie Sie wollen, die Sicherheitslage in unserem Land wird sich nicht bessern. Und die AfD ist nicht bereit, das massive Sicherheitsversagen dieser Regierung weiter hinzunehmen.
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Bekämpfung des islamistischen Terrors, meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeutet vor allem die Zerstörung seiner Grundlagen. Das heißt, wir müssen endlich im wahrsten Sinne des Wortes dem fundamentalistischen Islam den Kampf ansagen. Wir dürfen nicht weiter hinnehmen, dass der politische Islam immer weiter um sich greift und dieser Staat quasi hilflos zusieht. Wir müssen zeigen, dass unsere Demokratie wehrhaft und vor allem bereit ist, ihre Werte offensiv zu verteidigen. Und diese Werte – und auch das ist und bleibt Fakt – sind mit dem politischen Islam nicht kompatibel.
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Aber der Innenminister tut genau das Gegenteil. Er biedert sich den islamistischen Verbänden an, er setzt sich im Rahmen der von ihm initiierten Islamkonferenz mit Islamisten zusammen. Die gemäßigten, die vernünftigen Muslime, die eigentlich Gesprächspartner der Regierung sein müssten, die ziehen sich immer weiter zurück, zuletzt auch der anerkannte, profunde Kenner und Kritiker des Islam Hamed Abdel-Samad. Dieser hat nach seinem Rückzug Folgendes gesagt – ich zitiere aus einem Interview mit dem „Cicero“ vom 11. November dieses Jahres:
Wenn es um den Islam geht, gibt es nur die AfD als Opposition. Die CDU und SPD wollen doch nur die Stimmen der Muslime bei den Wahlen gewinnen.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wer unsere Grund- und Werteordnung und die Sicherheitsinteressen der deutschen Bevölkerung zur Disposition stellt, um mehr Wählerstimmen zu generieren, der befördert sehenden Auges den ansteigenden Islamismus in unserem Land und ist mitverantwortlich für die immer stärker werdende islamistische Terrorgefahr in unserem Land.
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Einen solchen Ausverkauf vitaler Sicherheitsinteressen unserer Bürger wird die AfD nicht weiter zulassen. Wenn wir den Kampf gegen den islamistischen Terror gewinnen wollen, wenn also der Innenminister diesen Kampf nicht nur verwalten, sondern auch gewinnen will, dann müssen wir jetzt endlich klare Kante gegenüber den islamistischen Verbänden zeigen. Mit Islamisten berät man sich nicht. Mit Islamisten verhandelt man nicht. Islamisten macht man unzweideutig klar, dass für sie keine Sonderrechte in unserem Land gelten können. Unsere Gesetze und Regeln dürfen niemals Verhandlungsmasse sein.
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Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland. Diese klare Ansage ist es, die die Islamisten brauchen. Diese Erkenntnis ist die unabdingbare Grundlage, um den islamistischen Terror zu besiegen. Deshalb mein Appell an die Regierung: Fangen Sie endlich damit an!
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Helge Lindh.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hess, warum überrascht es mich nicht, dass Sie bei einem Gesetzentwurf zum Thema „Ausgangsstoffe für Explosivstoffe“ Ausführungen zum Islamismus machen? Warum überrascht mich das nicht?
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Das war doch programmiert.
Noch eine kleine Anregung für Sie: Am Wochenende hatte ich die Unehre, so muss ich es nennen, auf dem Rathausplatz bei mir zu Hause mit Herrn Stürzenberger zu streiten. Dieser hat nahezu wortgleiche Ausführungen gemacht, wie Sie sie gebracht haben zum Thema „politischer Islam und Islamismus“, und von seinen Fans kam mehrfach der Ruf – mich betreffend –: „Parasit“. Entsprechende Strafanzeigen sind erfolgt. Da sehen Sie es: Das sind Ihre Fans; die bezeichnen Demokratinnen und Demokraten als Parasiten. Das sagt, glaube ich, alles dazu.
Außerdem würde ich die Gegenthese aufstellen. Der Kollege Henrichmann – und andere werden das sicher auch noch tun – hat die materielle Sicherheitsfrage beschrieben und die konkrete parlamentarische Arbeit. Es wäre ein Beitrag von Ihnen zur Sicherheit in diesem Land, wenn Sie in diesem Fall auch mal zur Sache sprechen und nicht über die Gefährdungen schwadronieren würden, die von der Regierung ausgehen, oder wenn Sie nicht alle Musliminnen und Muslime in diesem Land unter Generalverdacht stellten. Das ist einfach nur geschmacklos, widerlich und unpassend.
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Zudem ist es noch unsachgemäß; denn wenn wir viele dieser Debatten, die Sie anfachen, gar nicht erst führen müssten und uns stattdessen auf die tatsächlichen Sicherheitsfragen konzentrieren könnten, wäre dieses Land ein sichereres. Deshalb sind Sie auch Sicherheitsverhinderer.
Dieser Gesetzentwurf sagt bei diesem so nüchtern wirkenden Thema aber auch einiges über unseren Parlamentarismus. Zwei Dinge will ich da hervorheben. Zum einen geht es um genau das, was ich eben angedeutet habe: um konkrete sachliche Arbeit, die beim Leben der Menschen ansetzt und dieses Land sicherer macht und die eine bessere Kontrolle und größere Möglichkeiten seitens der Sicherheitsbehörden in Deutschland und in Europa auf den Weg bringt. Diese sachliche Arbeit geschieht häufig. Zum anderen ist es etwas, das von sehr vielen hier im Raum sehr konstruktiv begleitet wird. Das passiert alltäglich. Ganz viel von dem, was wir machen, wirkt nicht spektakulär, ist aber von der Sache und einem konstruktiven Diskurs getragen.
Gerade nach dem, was ich von Ihnen eben erlebt habe, und weil ich den Kollegen Kuhle sehe, möchte ich diesen Moment dafür nutzen, noch etwas zu sagen: Wir haben nämlich in den letzten Tagen gesehen, dass man über höchst kontroverse Themen wie den Infektionsschutz bei unterschiedlicher Meinung – da nenne ich Herrn Kuhle; ich kann aber auch Herrn von Notz nennen, Frau Pau und viele andere – sehr wohl hart streiten kann, auch anders abstimmen kann, dabei aber gleichzeitig – und dafür danke ich den Oppositionsfraktionen ausdrücklich – die Regierung verteidigt, wenn sie unbotmäßigen, ja absolut widerlichen Anklagen und Vorwürfen ausgesetzt ist. Das war für mich ein Glanzpunkt des Parlamentarismus, und das sollte Ihnen ein Beispiel sein.
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Kommen wir jetzt zu den sachlichen Ausgangspositionen. Ich möchte keine Thesen aufstellen über Musliminnen und Muslime, sondern ich möchte über die Problematik sprechen. Diese Problematik wird uns deutlich, wenn wir zum Beispiel an den drohenden Anschlag denken, den Halil D. und seine Frau geplant hatten.
Die Situation war folgende: 2015 kauften die beiden 3 Liter eines solchen Ausgangsstoffes. Das fiel der Mitarbeiterin des Baumarktes auf. Es gab da noch keine Rechtsgrundlage, um entsprechend zu handeln; aber sie erfasste zumindest die Personalien. Sie hat sich jedoch nicht die Identitätsnachweise zeigen lassen; das musste sie auch nicht. Die Identitäten, die diese beiden Personen angaben, waren falsch. Die Frau benachrichtigte aber, weil sie wachsam war, die Ermittlungsbehörden, und mit aufwendigen Verfahren wurden letztlich die Identitäten festgestellt.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wo diese Gesetzgebung ansetzt. Durch die Einrichtung von Kontaktstellen in den Ländern – bei uns hier in Deutschland föderalistisch organisiert – und durch die Kompetenzen der Inspektionsbehörden wird genau das möglich: Marktteilnehmerinnen und ‑teilnehmer und auch Onlineplattformen werden dazu angehalten, sich Identitätsnachweise zeigen zu lassen. Außerdem sind sie berechtigt – sie sollen das auch tun –, die Personalien zu erfassen, die weitergegeben werden können bei auffälligen, merkwürdigen Transaktionen. Ferner sollen sie sich auch beim Abhandenkommen von größeren Mengen solcher Ausgangsstoffe melden.
Das ist eine Gesetzgebung, die konkret da ansetzt, wo es bislang Probleme gab. Alle Ihre Ausführungen hätten hier nicht weitergeholfen, diese Gesetzgebung aber sehr wohl. Deshalb ist es ein vernünftiges und notwendiges Gesetz.
Es schafft auch, basierend auf der EU-Verordnung, neue Strafvorschriften. Diejenigen, die illegalerweise solche Ausgangsstoffe verwenden, um illegale Sprengstoffe herzustellen, können mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren bzw. von bis zu fünf Jahren belegt werden, wenn sie gewerbsmäßig oder bandenmäßig handeln. Auch das ist eine wichtige und notwendige Maßnahme.
Darüber hinaus haben wir in diesem sehr konstruktiven parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren unsere Möglichkeiten genutzt: Wir führen eben nicht ein Genehmigungsverfahren durch, wie es die EU-Verordnung ermöglicht, sondern wir sehen im Sinne der Sicherheit davon ab und werden das umsetzen, was die besten Bedingungen für unsere Sicherheitsbehörden schafft und die Zuständigkeiten von Bund und Land klar regelt.
Und dann machen wir noch etwas Konkretes, Praktisches. Sie wollten ja, dass ich zur Sache rede, was Sie nicht gemacht haben; deshalb tue ich es, sozusagen als Ersatz für Sie. Wir schaffen die Möglichkeiten, dass Marktteilnehmerinnen und ‑teilnehmer, auch solche, die auf Onlineplattformen aktiv sind, geschult und sensibilisiert werden. Auch das ist notwendig; denn die Leute verfügen nicht automatisch über die Kenntnisse, dass man aus Wasserstoffperoxid, das man auch zum Blondieren oder zur Schimmelbekämpfung verwenden kann, auch Sprengstoff herstellen kann, ebenso aus Ammoniumnitrat.
Was es bedeutet, dass man auch mit geringen Chemiekenntnissen so etwas anrichten kann, das wissen wir spätestens seit den schrecklichen Anschlägen des Anders Breivik, seit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center und seit dem Oklahoma-Bomber, dem Rechtsextremisten – auch wenn es Ihnen nicht passen mag – Timothy McVeigh. All dies sind erschreckende Beispiele.
Damit wir nicht mehr erleben müssen, dass man, wenn man zum Beispiel auf einer Onlineplattform wie Amazon oder anderswo Ammoniumnitrat bestellt, aufgrund der Algorithmen praktischerweise direkt Hinweise erhält, was man sonst noch bestellen kann, um zum Beispiel alles für einen Terrorismus-Baukasten beisammen zu haben, machen wir dieses Gesetz. Das ist vernünftig, parlamentarisch entschieden und basiert auf der konstruktiven Zusammenarbeit von Regierung und Opposition. Außerdem macht es das Leben von Menschen sicherer.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Anschläge der letzten Wochen in Österreich, in Frankreich und in Deutschland haben uns gezeigt, dass die Gefahr des Terrorismus nach wie vor besteht. Nicht immer, aber immer wieder sind es Alltagsgegenstände, die bei solchen Straftaten als Waffen verwendet werden.
Das kann ein Küchenmesser sein, das in einem Geschäft erworben wurde, wie bei dem Anschlag Anfang Oktober in Dresden. Das können auch Rizinussamen sein, die im Internet bestellt worden sind, wie bei einem geplanten Anschlag im Jahr 2018 in Köln, der von unseren Sicherheitsbehörden vereitelt worden ist. Das kann aber auch, wie im Jahr 2011 in Norwegen, Ammoniumnitrat sein, das als Dünger erworben worden ist und dann anschließend in eine gefährliche Autobombe umgewandelt wurde.
Heute soll es um die Vermarktung und Verwendung von Ausgangsstoffen für Explosivstoffe gehen. Der europäische Gesetzgeber hat im vergangenen Jahr dazu eine Verordnung vorgelegt. Die Bundesregierung legt uns heute eine Begleitgesetzgebung vor. Dabei geht es insbesondere darum, dass in den Ländern Kontaktstellen geschaffen und die Sicherheitsbehörden mit Kontrollbefugnissen ausgestattet werden sollen.
Insgesamt – das kann man, glaube ich, sagen – ist der vorgelegte Gesetzentwurf angemessen und ausgeglichen, und deswegen wird die Fraktion der Freien Demokraten auch zustimmen. Ich will aber zwei kritische Anmerkungen zu dem Regierungskonzept machen:
Erstens. Die neuen Regelungen – das geht auch aus den Stellungnahmen des Bundesrates hervor – sind in bürokratischer Hinsicht eine erhebliche Belastung für die Wirtschaft. Es entstehen zusätzliche Belastungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich zudem erheblichen Strafandrohungen ausgesetzt sehen. Außerdem – der Kollege Henrichmann hat es erwähnt – gibt es einschneidende Ermittlungsbefugnisse in diesen Bereichen.
Angesichts dieser Einschnitte ist überhaupt nicht nachzuvollziehen, warum die Bundesregierung, warum CDU/CSU und SPD von einer möglichen Ausnahmegenehmigung für bestimmte Stoffe keinen Gebrauch gemacht haben. Das sieht die Verordnung nämlich ausdrücklich vor. Wir erleben hier wieder einmal, dass die Bundesregierung europäische Vorgaben überobligationsmäßig umsetzt. Das kennen wir schon aus anderen Bereichen, die in diesem Zusammenhang immer wieder zum Tragen kommen, zum Beispiel beim Waffenrecht – ich erinnere an die EU-Feuerwaffenrichtlinie –, wo Sie wiederum das europäische Recht überobligationsmäßig umgesetzt haben und die betroffenen Kreise mit unnützer Bürokratie überziehen. Das stößt auf deutliche Kritik der Freien Demokraten.
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Zweitens haben die Freien Demokraten im vergangenen Jahr mit einer Kleinen Anfrage zum Thema „Handel mit Explosivgrundstoffen und giftigen Substanzen im Internet“ darauf aufmerksam gemacht, dass es oft gar nicht um das Recht geht, sondern um die tatsächliche Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden und Onlineplattformen, auf denen man entsprechende Stoffe bestellen kann. Es ist richtig: Sowohl der Staat als auch private Unternehmen müssen daran mitarbeiten, dass das geltende Recht umgesetzt wird, und bei der Verhinderung von solchen Taten zusammenwirken.
Aber wir müssen die Kriterien bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und Onlineplattformen im Internet auch klar, transparent und rechtsstaatlich benennen. Wir können heute nicht erkennen, nach welchen Kriterien Onlineplattformen und Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. Sie haben sich in der Antwort auf die entsprechende Anfrage auch geweigert, das einmal transparent für die Bürger und die betroffenen Rechtskreise darzulegen. Das geht so nicht. Hier erwarten wir mehr Rechtssicherheit, mehr Klarheit und mehr Transparenz. Wir stimmen gerne zu, werden aber das weitere Verfahren sehr aufmerksam beobachten.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf regelt die Begleitvorschriften zu einer EU-Verordnung, mit der die Abgabe von Ausgangsmaterial für die Sprengstoffherstellung an Unbefugte verboten wird; denn es muss verhindert werden – das sieht Die Linke ganz genauso –, dass solche Stoffe in die Hände von Kriminellen oder Terroristen gelangen. Deswegen unterstützen wir diesen Gesetzentwurf.
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In den letzten 50 Jahren wurden allein von Neonazis mehr als 123 Sprengstoffanschläge in Deutschland begangen. Ich erinnere an einen der schwersten, den faschistischen Anschlag auf das Münchener Oktoberfest vor 40 Jahren mit 13 Toten und zahlreichen zum Teil schwerverletzten Menschen. Die Bedrohung wächst weiter. Faschisten und Reichsbürger, rechte Prepper und Gladio-Seilschaften in der Bundeswehr, aber auch in der Polizei rüsten für den Tag X. Sie legen Waffendepots an, und sie planen Anschläge, um einen Bürgerkrieg zu provozieren. Mehrere rechte Terrorzellen wurden zum Glück in den letzten Jahren ausgehoben, ehe sie ihre Mordpläne umsetzen konnten.
Dazu kommen Dschihadisten, die bereit sind, Massenmorde an vermeintlich Ungläubigen zu verüben. Bombenbauanleitungen im Internet weisen ihnen den Weg in Baumärkte und Apotheken; denn TATP – auch bekannt als Sprengstoff der Terroristen – ist ein hochexplosives Gemisch aus Alltagschemikalien. Es ist völlig richtig, den ungeregelten Verkauf, der hierfür notwendigen Ausgangsstoffe wie Wasserstoffperoxid, aber auch anderer Stoffe in größeren Mengen zu unterbinden. Mit der EU-Verordnung ist das unserer Meinung nach mit richtigem Augenmaß gelungen.
Es ist auch richtig, speziell geschulte Aufsichtsbehörden zu schaffen – da habe ich den Kollegen Kuhle, ehrlich gesagt, nicht so ganz verstanden; denn das ist ja auch Teil der Gesetzgebung –, die Meldungen über verdächtige Transaktionen von Ausgangsstoffen oder deren Abhandenkommen entgegennehmen. Denn diese Aufgabe kann in der Tat nicht den Apotheken und dem Handel allein überlassen werden. Aus diesen Gründen stimmen wir, wie gesagt, dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Zum Schluss will ich sagen: Die besten Gesetze gegen die Verbreitung von Explosionsstoffen nützen allerdings nichts, wenn der größte Waffenbesitzer im Land, die Bundeswehr, undichte Stellen hat.
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Wenn beim Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr mal eben 60 Kilogramm Sprengstoff verloren gehen und dieser Sprengstoff später bei rechtsextremistischen Soldaten im Garten gefunden wird, dann ist das wirklich mehr als beunruhigend. Hier brauchen wir den politischen Willen, endlich konsequent gegen solche Strukturen in der Bundeswehr und anderswo vorzugehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die Kollegin Dr. Irene Mihalic hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
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Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute ein Gesetz auf Basis einer EU-Verordnung, einer Verordnung mit – in Anführungsstrichen – „explosiver Wirkung“. Es geht um das Thema Sicherheit. Wir als Staat haben die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass sich unsere Bürger sicher fühlen; denn ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. Wenn ich mir überlegen muss, ob ich sicher bin, wenn ich – in normalen Zeiten – auf den Weihnachtsmarkt oder zum Weinfest gehe und mir nicht sicher bin, ist meine individuelle Entscheidungsfreiheit schon ein Stück weit eingeschränkt. Deshalb ist das Wichtigste, was wir als Staat machen können, die Freiheit unserer Bürger dadurch zu gewähren, dass wir entsprechende Sicherheit gewährleisten, zum Schutz beitragen.
Meine Damen und Herren, blicken wir in die Vergangenheit: Nach Anschlägen, ob von Linksextremisten, Rechtsextremisten oder Islamisten, wurde immer gefragt – zu Recht natürlich –, ob der Staat alles getan hat, was in seiner Macht steht. Was ist passiert? Wer hat die Verantwortung getragen? Welche Fehler wurden gemacht usw. usf.? Auf der anderen Seite muss man auch klar sagen: Es gibt in einer freiheitlichen Gesellschaft niemals einen hundertprozentigen Schutz; aber unsere Aufgabe ist, diesen 100 Prozent so nahe zu kommen wie irgend möglich.
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Dazu hat die Bundesregierung, haben die sie tragenden Fraktionen in den letzten Jahren einiges beigetragen. Ich erinnere an die Personalaufstockung bei den unterschiedlichen Sicherheitsbehörden: ob im Bundesnachrichtendienst, bei der Bundespolizei, beim Verfassungsschutz. Das alles sind richtige Maßnahmen, die wir getroffen haben. Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass Terrorismus vor Grenzen natürlich nicht haltmacht; Terrorismus ist nun leider einmal supranational aufgestellt. Deshalb müssen wir auf internationaler und europäischer Ebene prüfen, ob die Instrumentarien, die uns zur Verfügung stehen, tatsächlich funktionieren. Wir haben vor Kurzem über Europol diskutiert; auch das ist eine wichtige Institution. Wir sollten darüber nachdenken, inwieweit wir Europol noch stärken können; auch da ist noch Luft nach oben, auch was den vorliegenden Gesetzentwurf betrifft.
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Wir setzen mit dem Gesetz eine EU-Richtlinie um, mit der wir es den Behörden ermöglichen, bestimmte Chemikalien besser im Blick zu haben, die Ausgangsstoffe für Explosivstoffe sind; Kollege Lindh hat einige Beispiele genannt. Ich erinnere an Köln, wo beispielsweise jemand versucht hat, mit zwölf Fässern Wasserstoffperoxid eine entsprechende Detonation auszulösen. Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es darum, im Hinblick auf besagte Chemikalien Verdachtsfälle beim Verkauf oder auch deren Verlust melden zu können. Das halte ich auch für richtig. Die Länder müssen in unserer föderalen Republik diese Regelungen umsetzen, und sie bekommen von uns dafür die entsprechenden Instrumentarien an die Hand gegeben, was aus meiner Sicht natürlich richtig ist.
Schließlich, meine Damen und Herren, ist es wichtig, dass die zuständigen Stellen Meldewege nennen können, um Verdachtsfälle, Verstöße zu erfassen. Aber ich darf auch darauf hinweisen, dass in der Vergangenheit mehrfach die Situation entstanden ist, dass verschiedene einzelne Institutionen Informationen bekommen haben, diese aber nicht entsprechend vernetzt worden sind. Und genau das ist jetzt vorgesehen, diese Informationen können vernetzt werden. Deshalb ist es richtig, dass unter Wahrung des Datenschutzes diese Möglichkeiten geschaffen werden. Aber ein Datenschutz, der zum Täterschutz mutiert, ist, zumindest aus meiner Sicht, nicht richtig. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir eine solche Entscheidung mit der Möglichkeit der Vernetzung heute treffen.
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Letzter Satz, Herr Präsident. Wir sind in diesem Hause nicht immer einer Meinung. Ich freue mich sehr, dass wir bei diesem Gesetz einer Meinung sind. Daher haben wir, glaube ich, gute Arbeit geleistet.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Gesetzes mag sperrig sein; der Inhalt ist aber ein weiterer wichtiger Baustein in der Terrorismusbekämpfung. Denn wir wissen, dass sich aus bis dato zum Teil frei erhältlichen Stoffen wie Wasserstoffperoxid, Aceton und Säure relativ einfach beispielsweise das Sprengstoffgemisch Triacetontriperoxid, kurz TATP, herstellen lässt. Das Problem liegt darin, dass diese Stoffe einerseits legitime Verwendungszwecke zum Beispiel in der Industrie, aber zum Teil auch im Haushalt haben, anderseits jedoch auch Potenzial zur kriminellen und zur schadhaften Nutzung, sprich: insbesondere zur Herstellung von Sprengsätzen, bieten.
Das genannte TATP ist von Terroristen in Sprengstoffwesten bei den Anschlägen in Paris 2015 verwendet worden. Es kam auch bei den späteren Anschlägen in Brüssel zum Einsatz. Wasserstoffperoxid wiederum ist 2016 in großer Menge bei Terrorverdächtigen gefunden worden, die einen Anschlag auf den Frankfurter Flughafen planten. TATP ist 2019 bei einem in Berlin festgenommenen Syrer gefunden worden, der Terroranschläge plante. Schließlich kam ein 13-Jähriger in die Schlagzeilen, weil er 300 Gramm Sprengstoff zusammengemischt hatte, und zwar mit Zutaten aus der Apotheke nach einer Anleitung aus dem Internet. Ich will am Ende dieser Liste nur daran erinnern, dass es sich bei der verheerenden Explosion in Beirut in diesem Jahr ebenfalls um genau solche Stoffe gehandelt hat. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind der Umgang, der Vertrieb und die Lagerung dieser Stoffe ein sicherheitspolitisch durchaus relevantes Thema, und deshalb ist es von hoher praktischer Bedeutung, wenn wir den Handelsverkehr mit solchen Stoffen beschränken und die Verbreitungswege nachvollziehbar machen.
In dem neuen Regelwerk regeln wir Meldepflichten, die Einrichtung nationaler Kontaktstellen zur Abgabe von Verdachtsmeldungen, die Einrichtung von Inspektionsbehörden, Straf- und Bußgeldvorschriften und die Mitwirkung des Zolls bei der Verhinderung des illegalen Verbringens von Stoffen nach Deutschland. Im parlamentarischen Verfahren wurden gegenüber der EU-Ausgangsstoffverordnung weitere Anregungen des Bundesrates aufgegriffen und dabei insbesondere die Befugnisse der Inspektionsbehörden erweitert.
Lieber Konstantin Kuhle, weil du geradezu darum gebettelt hast: Wir erlauben es uns gelegentlich, wenn es um Sicherheitsfragen geht, auch überobligationsmäßig zu regeln, weil unser Anspruch in der Sicherheitspolitik auch ein überobligationsmäßiger ist.
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Dieses Gesetz macht Deutschland sicherer und verbessert den Schutz der Bevölkerung vor Anschlägen mit selbstgebauten Sprengsätzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Kuffer. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion legt heute den Antrag „Femizide in Deutschland untersuchen, benennen und verhindern“ vor. Ein Femizid ist die Tötung einer Frau in einem geschlechtsbezogenen Kontext. Das sind Tötungen, die in einem Zusammenhang mit der Abwertung und Unterdrückung von Frauen stehen. Frauen, die selbstbestimmt über ihr Leben, ihren Körper, ihre Sexualität entscheiden wollen, Frauen, die sich anders verhalten, als ihr Umfeld und gesellschaftliche Rollenerwartungen es vielleicht als richtig ansehen, Frauen, die sich trennen oder getrennt haben, weil sie ihr eigenes Leben führen wollen, werden von denen, die dies nicht dulden, gewaltvoll bestraft.
Femizide kommen weltweit vor, auch hierzulande. Doch während andere Regierungen zumindest versuchen, Femizide systematisch zu erfassen und eine Strategie zu entwickeln, will sich die Bundesregierung nicht mal den Definitionen der WHO und der Vereinten Nationen anschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist aber dringend notwendig, dies zu tun und darüber zu reden.
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Im Jahr 2019 wurden 117 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet; 191 entkamen dem Versuch. Das ergibt alle 26 Stunden eine versuchte Tötung, jeden dritten Tag eine vollendete. Weitere 150 Frauen wurden außerhalb von Partnerschaften getötet. Das macht insgesamt 267 getötete Frauen im Jahr 2019 – mindestens. Ob ein Femizid vorliegt, wird nämlich nicht geprüft. Wie auch, solange es offiziell gar keine Femizide gibt?
Femizide sind keine dramatischen Einzelfälle, keine Beziehungsdramen oder Familientragödien. Femizide geschehen, weil die Täter, geschützt durch ein gesellschaftliches Verständnis, wie eine Frau zu sein und zu handeln hat, entsprechend gewaltvoll reagieren. Das zeigt sich leider auch in der Rechtsprechung, in der Eifersucht und Verlustangst immer noch als strafmildernd angesehen werden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand tötet aus Liebe. Es geht um Macht, es geht um Eigentumsansprüche, es geht um Unterordnung, es geht um Kontrolle im Geschlechterverhältnis. Um das an dieser Stelle klarzustellen: Meine Fraktion will keinen neuen Straftatbestand Femizide einführen. Aber wir wollen, dass das bestehende Recht die Geschlechterverhältnisse berücksichtigt.
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Es geht perspektivisch um eine Veränderung des Bewusstseins. Wir müssen die patriarchale Kultur des Zusammenlebens überwinden.
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Solange Männer denken, über Frauen bestimmen und sich über sie hinwegsetzen zu dürfen, so lange werden das Ministerium und das BKA jährlich über höhere Fallzahlen von Gewalt und Femiziden berichten.
Wenn Femizide nicht als solche benannt werden, verschwindet die gesellschaftliche Dimension der Taten. Es wird der Eindruck vermittelt, die Tat sei irrelevant für die Öffentlichkeit und reine Privatangelegenheit zwischen Täter und Opfer. Die richtige Einordnung der Gründe und Motive, die Einsicht in die gesellschaftliche Dimension des Phänomens ist aber notwendig, um diese Gewalt zu bekämpfen und um überhaupt vor so einer Gewalt schützen zu können.
Wirklich verhindert werden können Femizide nur, wenn wir die dahinterliegenden Strukturen anerkennen und gezielt verändern. Genau deshalb, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, fehlt mir jegliches Verständnis für Ihre Verweigerung, Femizide auch als solche anzuerkennen.
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Das wäre nämlich ein außerordentlich wichtiger Schritt, der erst mal auch gar nichts kostet.
Was wir aber auch ganz dringend brauchen, ist die Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle, die neben umfangreicher Datenerhebung auch zu Risikomomenten forschen soll, damit endlich gezielt Maßnahmen zur Verhinderung dieser Morde an Frauen entwickelt werden können.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Pantel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, die traurige Wahrheit ist: Gewalt in Partnerschaften gehört für einige in Deutschland zu ihrem Alltag. Und ja, wir haben gemeinsam schon sehr viel dagegen unternommen. Werte Kollegen der Opposition, trotz Ihrer Forderungen nach mehr Beratung, mehr Geld und mehr Stellen lese ich viel Zustimmung für unsere Arbeit. Sie fordern in Ihren Anträgen teilweise Dinge, die wir längst umgesetzt haben. Wir haben in den letzten Jahren viele Gesetze beschlossen, die die Täter härter bestrafen und die Opfer unterstützen oder beschützen sollen. Das Hilfesystem wurde massiv erweitert, und die Länder haben mehr Geld für ihre Aufgaben zur Verfügung gestellt bekommen. So können die Länder vor Ort ihrer Aufgabe besser gerecht werden, so wie es unser Föderalismus vorsieht.
Trotz der Aufgabenverteilung haben wir ein niedrigschwelliges Unterstützungsangebot auf Bundesebene geschaffen, eben weil wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und die Opfer unterstützen und schützen wollen. Das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, wo den Frauen Beratung und Ersthilfe in 18 verschiedenen Sprachen angeboten werden, hat sich bewährt. Oder der Runde Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“. Das sind Beispiele unserer Zusatzangebote. Wir unterstützen mit der Initiative „Stärker als Gewalt“ zum Beispiel die anonyme Spurensicherung in Gewaltschutzambulanzen und ‑kliniken. Innerhalb einer 72-Stunden-Frist können die Opfer alle Spuren sichern lassen, ohne sich in dieser Ausnahmesituation für oder gegen eine Anzeige entscheiden zu müssen.
Erst 2016 haben wir Verschärfungen des Sexualstrafgesetzes beschlossen. Auch damals hatten alle Fraktionen gesagt: „Ja, wir unterstützen das“, und sie alle haben dann mit uns die Gesetze verabschiedet. Die AfD beschäftigt sich in ihrem Antrag mit Zwangsehen. Ja, Zwangsehen gehören nicht zu unserer offenen Gesellschaft, und sie sind ein großes Problem für die Betroffenen.
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Deshalb stehen sie seit 2011 unter Strafe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen, zum Beispiel anonyme Zufluchtsstätten sowie Online- und Telefonberatung. Das Thema Ihres Antrags ist wichtig – das sehen wir auch –, aber in der Sache hilft uns Ihr Antrag nicht weiter.
Auch wurde in Coronazeiten auf einen erhöhten Bedarf reagiert. Die FDP fordert in ihrem Antrag, Bund, Länder und Kommunen sollten alle Bemühungen unternehmen, um von häuslicher Gewalt betroffene Menschen in Schutzeinrichtungen unterzubringen. Genau das tun wir bereits. Um das voranzubringen, wurde der Runde Tisch gegen Gewalt mit den Ländern eingerichtet. Er stellt für Maßnahmen pro Jahr 30 Millionen Euro zur Verfügung.
Wir hatten bereits vor drei Jahren auch die Einrichtung eines Onlineregisters für Schutzeinrichtungen gefordert; derzeit wird auch daran gearbeitet. In NRW gibt es das bereits. Dort gibt es eine Onlinekarte mit allen Frauenhäusern und ihren Belegungssituationen. In Nordrhein-Westfalen haben wir auch in Coronazeiten noch freie Kapazitäten. Um das bundesweit zu realisieren, brauchen wir aber die Unterstützung der Länder. Genau solche Arbeitsfelder werden am Runden Tisch besprochen und erarbeitet.
Die Linksfraktion schreibt: „Frauen werden getötet,“ – das haben wir eben gehört – „weil sie Frauen sind.“ Solche Vereinfachungen helfen den Opfern nicht. 71 Prozent aller Opfer von versuchtem oder vollendetem Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen waren 2019 männlich. Bei gefährlicher Körperverletzung in Partnerschaften sind 30 Prozent der Opfer Männer. Wir folgern daraus aber nicht: „Männer werden getötet und geschlagen, weil sie Männer sind“, zumal auch die Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen bei Männern verstärkt wird. Für uns steht jedes Opfer, das von Gewalt betroffen ist, im Mittelpunkt und nicht das Geschlecht.
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Dass wir gegebenenfalls geschlechtsbezogene Maßnahmen ergreifen wie zum Beispiel bei häuslicher Gewalt oder einer drohenden Zwangsverheiratung, ist jedem klar.
Die Linken behaupten, Polizei und Justiz seien nicht ausreichend in Bezug auf Gewalt an Frauen ausgebildet, und es bestehe ein Bedarf an Fortbildung. Ist Ihnen entgangen, dass das Thema „häusliche Gewalt“ seit 1990 fester Bestandteil der polizeilichen Ausbildung ist? Die Initiative ging damals von Nordrhein-Westfalen aus. Seitdem haben alle Länder das Thema „häusliche Gewalt“ in ihre kriminalpolizeiliche Ausbildung übernommen. Die Sensibilität bei den Polizisten ist also da und hoch. Aus der Praxis in Nordrhein-Westfalen weiß ich, dass die Polizei nach einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt alle wichtigen Daten an die Frauenberatungsstellen schickt. Da meldet sich dann die Frauenberatungsstelle bei der jeweiligen Frau mit der Frage, ob sie Hilfe haben möchte. Eines ist auch klar: Mehr Frauen in der Polizei haben auch zu mehr Sensibilität bei dem Thema „häusliche Gewalt“ geführt. Das Bundeskriminalamt hat uns die Zahlen vorgelegt. Sie von der Linken sagten: Wir hätten nichts Detailliertes.
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– Richtig, Frauen sind Menschen und Männer auch. Deshalb unterscheiden wir nicht nach dem Geschlecht,
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sondern die Würde des Menschen ist unantastbar.
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– Nur nach dem Geschlecht zu urteilen, ist undifferenziert. Ich habe gesagt: Wir müssen unterschiedliche Maßnahmen ergreifen, und das tun wir. Wir schauen auch genau hin.
Registriert wurden im Jahr 2019 in Partnerschaften über 141 000 Opfer von Mord, Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Bedrohung, Stalking und Freiheitsberaubung. Frauen sind mit 81 Prozent weiterhin die größte Opfergruppe. Deshalb haben wir spezielle Angebote dafür. Wir wissen auch, dass 35 Prozent der Tatverdächtigen eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit haben. Dafür haben wir auch gesonderte Angebote.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Genau diese Angebote machen wir. Wir haben den genauen Blick dafür. Wir haben unsere Angebote, und dafür danke ich dem Ministerium. Auch die Einrichtung des Runden Tisches gegen Gewalt an Frauen war die richtige Maßnahme.
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Herzlichen Dank.
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Frau Kollegin, ein Mundschutz ist angebracht. – Sehr schön.
Die Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! An jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau ermordet, und zwar aus einem einzigen Grund: weil sie eine Frau ist. Femizid nennt sich dieses Verbrechen, und Deutschland ist einer der Brennpunkte dieser gezielten Frauentötungen geworden. Nun könnte man natürlich rätseln, was die Gründe für diese Frauenverachtung sind. Klar, es könnte, wie die Linke ständig und auch im vorliegen Antrag behauptet, an hierarchischen Geschlechtsverhältnissen liegen, an patriarchaler Dominanz. Diese führe zur Unterdrückung von Frauen, nicht selten auch zu direkt angewandter Gewalt und manchmal zum Tod.
Nun gibt es Gesellschaften, in denen Frauen geschätzt werden. Deutschland war einmal eine solche Gesellschaft.
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Und es gibt Gesellschaften, in denen Frauen wie Dreck behandelt werden, wie verfügbare Sklavinnen, wie Menschen zweiter Klasse, die man im Kindesalter zwangsverheiraten kann, die man auch mal aus Gründen der Ehre ermorden darf.
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Das sind Gesellschaften, die man in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten antreffen kann. Deutschland ist auf dem besten Weg, zu einer solchen Gesellschaft zu werden. Sie machen Berlin zu Bagdad.
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Das ist schlichtweg die Folge Ihrer Politik der ungehemmten Migration. Sie beschweren sich zu Recht über patriarchale Dominanz, importieren aber zeitgleich massenhaft aggressive Machos aus den patriarchalsten Gesellschaften überhaupt. Wie bitte schön passt das zusammen?
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Viele der Migranten aus diesen Gesellschaften, die nach Deutschland hineingemerkelt worden sind, wollen sich in unsere Gesellschaft überhaupt nicht integrieren, geschweige denn assimilieren.
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Warum? Weil sie es aufgrund Ihrer Politik gar nicht müssen. Weil sie uns aufgrund unserer mangelnden Identität –
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
– nein –, mangelnden Selbstachtung und mangelnden Stärke nicht respektieren oder als erstrebenswertes Vorbild sehen. Und so halten diese Machos an ihrem hergebrachten Frauenbild fest und behandeln Frauen weiter wie Menschen zweiter Klasse, Menschen, die nach Belieben begrabscht, geschlagen und ermordet werden können.
Schauen Sie sich einfach mal die Zahlen an. Die Opferzahlen partnerschaftlicher Gewaltverbrechen steigen seit 2015 stetig. Mittlerweile sind jährlich über 140 000 Menschen Opfer partnerschaftlicher Gewalt, 80 Prozent davon Frauen. Was auffällt: Bei einem Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung von 12 Prozent sind 33 Prozent der Täter häuslicher Gewalt Migranten. Deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund sind da noch nicht einmal erfasst.
Die Frauenhäuser platzen weiter aus allen Nähten. Übrigens haben fast 70 Prozent der Bewohnerinnen von Frauenhäusern einen Migrationshintergrund. Vor sieben Jahren war es nicht einmal die Hälfte.
Wer aus Gründen devoter Kultursensibilität, politischer Korrektheit oder schlicht ideologischer Feigheit absichtlich ganze Tätergruppen und deren kulturelle und religiöse Hintergründe ausblendet, der befördert eine Kultur der Gewalt gegen Frauen.
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Also hören Sie endlich auf mit Ihrer verlogenen Multikultiromantik!
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Gerade diejenigen auf der linken Seite des Hauses, die sich so gerne als Frauenrechtlerinnen bezeichnen, betreiben eine Politik, die archaische Vorstellungen und die Unterdrückung der Frau millionenfach nach Deutschland holt. Aber davon ist in dem Antrag keine Rede, kein Wort zu Multikulti, null.
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Ja, meine Damen und Herren, davor verschließen Sie die Augen. Sie wollen ja schließlich kultursensibel genug sein, bloß nicht anecken. Aber wer hier Ross und Reiter nicht benennt, der führt letztlich eine Phantomdebatte, der meint es nicht ernst, der will Frauen nicht wirklich helfen. Es ist Ihre utopiebesoffene Multikultipolitik, deren Folgen für viele Frauen zum realen Albtraum werden.
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Untersuchen Sie die Umstände, die zu Femiziden führen! Aber dann machen Sie das bitte vollständig und vor allem ehrlich! Wer Frauen schützen will, der muss sich auch ideologiefrei mit den Ursachen für die angestiegene Gewalt gegenüber Frauen in Deutschland auseinandersetzen. Wer offenkundige Zusammenhänge nicht sehen will, der macht sich mitschuldig, mitschuldig an unterdrückten Frauen, mitschuldig an verprügelten Frauen, mitschuldig an ermordeten Frauen, mitschuldig am Femizid.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Anke Domscheit-Berg, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Wie immer schafft es die AfD, faktenfrei zu argumentieren und dabei maximal rassistisch zu sein.
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Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit und habe schon vor Jahren, bevor eine gewisse Anzahl Flüchtlinge nach Deutschland kam, das Buch „Ein bisschen gleich ist nicht genug!“ geschrieben, das ein Kapitel über das Thema „Gewalt gegen Frauen“ enthält. Darin sind auch Statistiken enthalten. Ich kann Ihnen gerne eine Kopie zukommen lassen.
Ich lese Ihnen mal ein paar Zahlen vor: 2014 waren es 160 Femizide pro Jahr. 2015 waren es 136, also weniger als 160. Seitdem verzeichnen wir fast jedes Jahr eine absinkende Zahl. Ich will damit nicht sagen, dass das Problem klein geworden ist; es ist immer noch skandalös groß. Aber 2019 waren es 117 Femizide, im Vergleich zu 160 im Jahre 2014 offensichtlich ein Rückgang. Das zeigt, dass Ihre rassistische Argumentation nicht Fakten standhält
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und Sie blind dafür sind, dass es dieses Phänomen bei uns in Deutschland gibt und schon immer gab und dass das nichts mit dem von Ihnen beschriebenen Zusammenhang zu tun hat.
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Frau Harder-Kühnel, wollen Sie antworten? – Bitte schön.
Es ist wunderbar, dass Sie jetzt Werbung für Ihr Buch gemacht haben; aber ich orientiere mich dann doch lieber an den Fakten statt an den von Ihnen zusammengeklaubten Zahlen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gülistan Yüksel, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In sechs Tagen, am 25. November, ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Er ist ein Aufruf an uns alle, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen den Kampf anzusagen und dabei nicht wie hier auf der rechten Seite Unterschiede nach Herkunft, Nationalität oder dergleichen zu machen.
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Die vorliegenden Anträge zeigen uns eindrücklich, dass diese sich analog, digital, physisch und psychisch äußert. Gewalt in welcher Form auch immer ist inakzeptabel und darf niemals geduldet werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lassen Sie uns parteiübergreifend dafür streiten, wie wir Gewalt und Kriminalität gegen Frauen verhindern können, wie wir Femizide konsequent und angemessen bestrafen und nicht länger bagatellisieren. Geschlechtsspezifische Morde müssen als solche erkannt und verurteilt werden; denn jede Gewalttat ist eine zu viel.
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Deshalb haben wir gehandelt. Mit der bundesweiten Initiative „Stärker als Gewalt“ wollen wir Betroffene, Angehörige und Dritte sensibilisieren, Gewalt frühzeitig zu erkennen und auch zu handeln. Ich freue mich sehr, dass auch das größte Einkaufszentrum meines Wahlkreises unsere Initiative mit einem eigens produzierten Videospot und gut sichtbaren Plakaten unterstützt.
Wir wissen: Die Coronapandemie lässt die Fallzahlen häuslicher und sexueller Gewalt in Deutschland leider weiter ansteigen. Fehlender Kontakt zu Kolleginnen und Freundinnen, Zukunftsängste, das Leben auf engem Raum und finanzielle Sorgen erhöhen die Gewaltbereitschaft deutlich. Deshalb informiert die Aktion „Zuhause nicht sicher?“, die von Verbänden und von Deutschlands großen Einzelhandelsketten unterstützt wird, zusätzlich mit Plakaten, Aufklebern und Hinweisen auf dem Kassenbeleg über das Hilfsangebot. Auch mit dem „Hilfetelefon“, das rund um die Uhr erreichbar ist, bieten wir kostenlos, anonym und in 17 Sprachen Unterstützung an. Darüber hinaus sind wir beim Thema Frauenhäuser tätig. Wir haben den Runden Tisch „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ eingesetzt, an dem Bund, Länder, Kommunen und Fachverbände endlich zusammensitzen, um über Problemlagen und Verbesserungen zu beraten. Für das kommende Jahr sind konkrete Ergebnisse angekündigt, an denen wir uns alle orientieren wollen. Und seit Anfang des Jahres finanzieren wir mit insgesamt 120 Millionen Euro zusätzlich den Bau und die Sanierung von Frauenhäusern in Deutschland. Damit unterstützen wir die Länder und Kommunen, die für die Frauenhausfinanzierung zuständig sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, kein Mensch in unserem Land darf Opfer von Gewalt oder Hass werden, in welcher Form auch immer. Wir können nur gemeinsam als Gesellschaft dagegen kämpfen. Deswegen müssen wir alle hinschauen, handeln und Gewalt anzeigen.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Abgeordnete Nicole Bauer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Dieses Jahr hinterlässt Spuren. Bei manchen am ganzen Körper.“ Diese Botschaft lesen wir auf den Plakaten der Kampagne „#sicherheim“ gegen häusliche Gewalt. Die Coronakrise verschärft, was wir zuvor schon wussten, das besorgniserregende Problem, welches wir wahrnehmen, der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegenüber Frauen. Das zeigt auch der enorme Anstieg der Zahl der Anrufe beim „Hilfetelefon“ in den letzten Monaten.
Auch unabhängig von Corona bewegen sich die Zahlen zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland auf hohem Niveau, Tendenz steigend. Sie haben es versäumt, hier tätig zu werden und die Istanbul-Konvention rasch umzusetzen, liebe Bundesregierung. Das fällt uns nun auf die Füße. Wir Freie Demokraten wollen früher ansetzen, früher eingreifen, um Schlimmeres, ja um Schlimmstes, wie die Kollegin der Linken es gesagt hat, zu verhindern. Deshalb haben wir einen umfassenden Antrag vorgelegt. Drei wesentliche Forderungen daraus:
Erstens wollen wir eine vertrauliche, schriftliche Routineabfrage zur häuslichen Gewalt bei einem Frauenarztbesuch. Für viele Betroffene ist die Hemmschwelle groß, sich zu öffnen und Hilfe zu suchen, gerade in Zeiten, wo wir Kontaktbeschränkungen haben. Frauenärztinnen und ‑ärzte genießen aber ein hohes Vertrauen. Sie können eine Schlüsselrolle zur frühen Erkennung und zur Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen übernehmen. Binden wir sie also in unser aktives Hilfesystem ein, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Zweitens fordern wir als FDP neben dem „Hilfetelefon“ eine bessere Onlineberatung, beispielsweise in Form einer getarnten App, um Unterstützung und Beratung zu erhalten, Missbrauch zu melden und zu dokumentieren, ganz diskret, ohne die Aufmerksamkeit des Täters auf sich zu ziehen, verlässlich, kostenlos, rund um die Uhr, in verschiedenen Sprachen erhältlich. Erweitern wir also an dieser Stelle unser bestehendes Hilfesystem, und nutzen wir vor allem die Chancen der Digitalisierung!
Drittens sind wir ganz klar für ein bundesweit einheitliches Onlineregister für Plätze in Frauenhäusern und Schutzeinrichtungen. Spätestens durch Corona kennen wir doch alle das Register DIVI für Intensivbetten. Gleiches ist auch hier möglich, aber dazu braucht es ausreichend Schutzplätze und vor allem eine gesicherte und bundesweit einheitliche Finanzierung.
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Nur so können wir tatsächlich gewährleisten, dass Betroffene Schutz finden und unkompliziert und schnell untergebracht werden. Also auch an dieser Stelle: Lassen Sie uns das Hilfesystem verbessern!
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Um das noch einmal konkret zu sagen: Der Bund trägt eine Verantwortung, spätestens seit der Istanbul-Konvention. Mir nützt es nichts, wenn die Verantwortung ständig auf die Länder oder auf die Kommunen geschoben wird. Strategie, Koordinierung, Monitoring – hier tut der Bund einfach zu wenig. Wir bewegen uns in einem Schneckentempo voran. Also: Wir haben jetzt noch ein Jahr bis zum Ende der Legislatur. Bitte, liebe Bundesregierung, zünden Sie Ihren Turbo und gehen Sie voran!
Vielen Dank.
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Die Kollegin Ulle Schauws hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft – genauer gesagt: die patriarchale Struktur, die unsere Gesellschaft nach wie vor dominiert – bringt Gewalt gegen Frauen hervor. Was bisher gegen Gewalt an Frauen unternommen wurde, reicht nicht aus. Dabei ist offensichtlich, was zu tun ist.
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Jede Frau, unabhängig von Herkunft, Wohnort, ihrem sozialen Status oder Aufenthaltstitel, braucht Zugang zu Hilfe und Schutz, wenn sie von Gewalt betroffen ist. Das verlangt die Istanbul-Konvention, der wir uns verpflichtet haben. Wir Grünen haben darum vor einem Jahr einen konkreten Vorschlag für die dauerhafte finanzielle Verbesserung der Frauenhäuser unter Bundesbeteiligung mit einem Rechtsanspruch für Frauen eingebracht – bisher als einzige Fraktion. Im Haushalt gehen wir jetzt den nächsten Schritt und unterlegen dies mit 300 Millionen Euro. Ob von der Ministerin zum Rechtsanspruch für Frauen, wie angekündigt, bald etwas kommt – da bin ich gespannt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zahl in der diesjährigen Polizeilichen Kriminalstatistik ist alarmierend hoch. Wir können nicht hinnehmen, dass das weiterhin so bleibt, einfach ohne Folgen. Vor allem Tötungen von Frauen durch Partner oder Expartner bleiben auf einem stabil hohen Niveau. Wir begrüßen darum den Antrag der Linken und die Forderungen des Deutschen Juristinnenbundes zur Partnerschaftsgewalt.
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In unserem Antrag fordere ich mit meiner Kollegin Dr. Irene Mihalic, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik spezifiziert und die sogenannte Partnerschaftsgewalt genau erfasst wird. So können bessere Präventionsstrategien entwickelt und Gewalt gegen Frauen und Tötungen wirksamer bekämpft werden.
Bekannt ist, dass rechtsextreme Täter neben ihrer rassistischen und antisemitischen Motivation sehr häufig zutiefst frauenfeindlich sind. Eine Auseinandersetzung mit dem rechten Frauenhass blieb bisher aber aus. Ich sage Ihnen: Das ist eine sehr unterschätzte Gefahr für Frauen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere im Internet und in den sozialen Netzwerken schlägt Frauen und Mädchen eine Welle von Gewalt und Hass entgegen. Täter diskreditieren und verdrängen diese aus den sozialen Netzwerken. Wenn wir uns mit diesem wachsenden Phänomen von Frauenhass nicht differenzierter auseinandersetzen, können wir es nicht bekämpfen.
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Deshalb fordern wir Grüne – da schaue ich auf die Kollegin Renate Künast noch einmal extra –, dass frauenfeindliche Motive endlich im Rahmen von politisch motivierter Kriminalität, sogenannter Hasskriminalität, erfasst werden.
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Bei den regionalen Staatsanwaltschaften sollen der Einsatz gegen Hasskriminalität durch Sonderdezernate verbessert und Beauftragte auf Landesebene dazu eingesetzt werden. Gemeinsam mit unseren grünen Justizsenatorinnen und ‑ministerinnen wollen wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe dazu einrichten.
Wir können und müssen beim Gewaltschutz für Frauen mehr tun. Handeln wir!
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Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Nina Warken.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Was sich in Deutschland vielerorts hinter verschlossenen Türen abspielt, findet sich häufig in den Lokal- und Boulevardzeitungen unter folgenden Überschriften: „Mann bringt Ex-Freundin um“ oder „Ehemann sperrt Frau drei Monate in den Keller“. Erst heute haben wir wieder Ähnliches lesen können. Kurzfristig gibt es dann einen öffentlichen Aufschrei. Dabei sind Frauen jeden Tag Opfer von Hass und Demütigungen; es kriegt nur kaum jemand mit. Das ist traurige Realität. Die Coronapandemie hat dieses Problem sicher nicht besser gemacht; im Gegenteil.
Wir alle sind uns einig, dass solchen Straftaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln begegnet werden muss. Aber auch wenn alle diese Fälle schlimm sind, gilt es zunächst, zu schauen, wie diese Straftaten einzuordnen sind; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie bringen in Ihrem Antrag – mit diesem möchte ich mich hier gerne befassen – diese Fälle mit Hasskriminalität in Verbindung. Da bedarf es meines Erachtens einer Klarstellung.
Hasskriminalität umfasst politisch oder weltanschaulich motivierte Straftaten, bei denen das Opfer aufgrund seiner tatsächlichen oder unterstellten Zugehörigkeit zu einer dem Täter verhassten sozialen Gruppe ausgewählt wird. Dem Täter geht es also nicht um das Opfer als solches, sondern er möchte mit der Tat eine Wirkung in der Gesellschaft erzielen. Um solche politisch motivierten Taten handelt es sich aber nicht, wenn Frauen durch ihre Partner häusliche Gewalt erfahren oder Mädchen auf Facebook beleidigende Nachrichten bekommen. Doch natürlich müssen auch diese Straftaten in den Statistiken hinreichend abgebildet werden; das ist zutreffend.
Sie bemängeln in Ihrem Antrag, dass es im Hinblick auf Gewaltstraftaten keine Opferstatistiken in Deutschland gebe. Gewaltstraftaten gegen Frauen werden aber bereits seit Jahren statistisch über das Geschlecht des Opfers erfasst. Die kriminalstatistischen Auswertungen der Partnerschaftsgewalt bilden in Deutschland seit 2011 die Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung im Hinblick auf die Beziehungsart sowie auch in Bezug auf den räumlich-sozialen Kontext in der Polizeilichen Kriminalstatistik ab. Welche weiteren Erkenntnisse, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sich darüber hinaus von der Aufnahme des jeweiligen Tatwerkzeugs in die Statistik erwarten, wie im Antrag gefordert, ergibt sich zumindest aus dem Antrag selbst nicht.
In Ihrem Antrag fordern Sie ferner, den kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen politisch motivierter Kriminalität zu erweitern und das Kriterium „Frauenhass“ bei der Zuordnung von Straftaten zum Bereich Hasskriminalität zu ergänzen. Hier gibt es aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Lücke. Eine der Kategorien des Bundeskriminalamts zur statistischen Erfassung von Hasskriminalität ist bereits heute die „sexuelle Orientierung und/oder sexuelle Identität“. Die „sexuelle Identität“ betrifft auch und gerade das Geschlecht.
Sehr geehrte Damen und Herren, in dieser Form werden Straftaten gegen Frauen bereits statistisch im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes erfasst. Diese Straftaten stehen in einem Kausalzusammenhang mit der Identität „Frau“, sind also ganz klar frauenfeindlich. Es gibt also bereits eine spezifische Abbildungsmöglichkeit von Straftaten, welche aus frauenfeindlichen Motiven begangen werden. Wir halten eine Doppelerfassung an dieser Stelle für nicht zielführend. Für alle, die darüber ehrlich berichten und aufklären wollen und nicht nur an einer reißerischen Überschrift interessiert sind, gibt es, denke ich, genügend Statistiken.
Sie fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen, Anstrengungen zur Aufklärung und Ahndung frauenfeindlich motivierter Straftaten im Internet und in sozialen Netzwerken. Das ist richtig und wichtig; das sehen wir auch so. Tatsächlich wurden aber gerade die Aufklärungs- und Verfolgungsmöglichkeiten für Hasskriminalität, egal gegen wen sie sich richtet, bereits verstärkt. Im Oktober 2019 wurde ein umfangreiches Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, gerade auch im Internet, beschlossen. Ein entsprechendes Gesetz haben wir auf den Weg gebracht. Darin werden zum Beispiel die Anbieter großer Netzwerke verpflichtet, strafbare Inhalte zu melden. Dafür wird beim Bundeskriminalamt eine neue Zentralstelle eingerichtet. Um Tatverdächtige identifizieren und Beweise sichern zu können, werden klare Rechtsgrundlagen zur Auskunftserteilung von Anbietern gegenüber Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden geschaffen. Hetze, Drohungen und Beleidigungen im Netz werden wegen der besonders hohen Reichweite härter und besser verfolgt.
Nun kommen wir zu dem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den ich für den entscheidendsten halte bei der Bekämpfung von Kriminalität gegenüber Frauen: die Prävention. Denn mit einer Diskussion um die Benennung einzelner Kategorien im Bereich der deutschen Kriminalstatistik ist keiner Frau geholfen, die sich im stillen Kämmerlein vor ihrem Peiniger fürchtet. Bereits jetzt gilt der Kriminalität gegen Frauen und insbesondere auch in der Familie unser besonderes Augenmerk. Beispielsweise hat das Bundesfamilienministerium zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention das Aktionsprogramm zur Prävention und Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder aufgelegt; meine Kollegin Sylvia Pantel hat dazu ausführlich vorgetragen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir den betroffenen Frauen helfen wollen, müssen wir schauen, welche Maßnahmen wirklich weiterhelfen. Wir müssen in diesem Haus außerdem bei unseren Regelungskompetenzen bleiben, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen; denn die von Ihnen angesprochenen Punkte und geforderten Maßnahmen betreffen zu großen Teilen die Zuständigkeiten der Länder.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.
Ich komme zum Ende. – Der Antrag der Grünen, liebe Kolleginnen und Kollegen, enthält zwar gute Ansätze, aber in der vorgelegten Form ist er abzulehnen.
Herzlichen Dank.
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Die Kollegin Leni Breymaier ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. – Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kein Eifersuchtsdrama, es ist Mord. Es ist keine Familientragödie, es ist Mord. Es ist kein Beziehungsdrama, es ist Mord. Es ist kein Ehrenmord, es ist Mord. Weltweit sind es täglich 137 tote Frauen – 3 tote Frauen in der halben Stunde, in der wir hier über das Thema debattieren.
Niemand ist für eine Frau so gefährlich wie der eigene Partner. Femizide sind Tötungsverbrechen an Frauen alleine wegen ihres Geschlechts. In Deutschland sind Trennungstötungen ein Standardfall. Die ersten drei Monate nach der Trennung sind die gefährlichsten. Der Deutsche Juristinnenbund sagt: Weder die Justiz noch das gesellschaftliche Umfeld dürfen Femizide mit Nachsicht, Verständnis oder Strafmilderung begegnen. – Das ist eine Seite: Sensibilität für das Thema. Die andere Seite ist: Auch höhere Bestrafung macht die Opfer nicht mehr lebendig; im besten Fall wirkt sie abschreckend.
Doch wie kann man die Frauen schützen? Bei 30 Prozent der Femizide sind Täter bereits durch häufige Gewalt aufgefallen und waren aktenkundig. Sogenannte Fallkonferenzen können helfen, solche Auffälligkeiten besser zu erkennen. Häusliche Gewalt betrifft nicht nur eine bestimmte Kultur oder einen bestimmten Personenkreis; sie ist überall vorhanden. Gewalt gegen Frauen ist unabhängig vom sozialen Status, vom Geld oder von der Bildung. Frau Harder-Kühnel, Machos gibt es nicht nur bei Menschen mit Migrationshintergrund, Machos gibt es überall. Es wäre mir echt neu, dass die Männer hier im Haus alle Feministen sind, insbesondere auf der rechten Seite.
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Viele Einzelmaßnahmen, die die Frauenministerin angestoßen hat, hat meine Kollegin Gülistan Yüksel aufgezählt. Hier dürfen wir auch nicht nachlassen; denn solange die Zahlen sind, wie sie sind, können wir nicht aufhören, an dem Thema weiterzuarbeiten.
Ich will zum Schluss aber noch auf einen weiteren Aspekt der Morde wegen Frauenhass eingehen: Morde an Frauen in der Prostitution. Seit 2002 sind in Deutschland 102 dieser Frauen ermordet worden. Die Mörder waren in aller Regel ihre Freier oder Zuhälter – Männer, die glauben, mit Geld kann man alles kaufen, den Körper, die Seele, die Würde und schließlich noch das Leben der Frauen. Frauen in der Prostitution haben eine zwölfmal höhere Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, als jeder andere Mensch.
Im April wurde die 19-jährige Andrea lebend mit einer umgebundenen Betonplatte in der Weser versenkt; Mittäter vermutlich der Zuhälter. Vor sieben Wochen wurde die Leiche von Leyhan gefunden; der Mörder wahrscheinlich ihr letzter Freier. Auf der Suche nach Spuren fand die Polizei auf seinem Dachboden eine weitere Frauenleiche. Auch ihnen sind wir es schuldig, nicht nachzulassen und mehr gegen Femizide zu unternehmen.
Ich freue mich auf die Beratungen der Anträge im Ausschuss und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Ministerinnen Karliczek und Giffey! Corona kam, und auf einmal mussten im Frühjahr unsere Schulen und Kitas schließen. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutete das nicht nur, dass sie ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr sehen konnten, sondern für viele eben auch, dass sie keinen Ort zum Lernen mehr hatten.
Wie groß das Ausmaß des Schadens ist, zeigen jetzt erste wissenschaftliche Studien. Bildungsforscher der Universität Oxford haben die Auswirkung der Schulschließung auf Grundschulkinder in den Niederlanden untersucht. Das Ergebnis bestätigt leider, was viele von uns schon befürchtet hatten: Der durchschnittliche Lernverlust entspricht etwa einem Fünftel des Schuljahres und damit exakt dem Zeitraum der Schulschließung selbst. – Und noch schlimmer: Die Bildungslücke klafft weiter auseinander. Für Kinder, deren Eltern keine Hochschulausbildung haben, war der Verlust an Wissen um bis zu 55 Prozent höher.
Das hat natürlich nichts mit dem mangelnden Engagement der Eltern zu tun. Das so deutlich zu sagen, ist mir an dieser Stelle ganz wichtig. Fast alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Aber nicht alle können es geben; denn sie haben nicht alle die notwendigen Mittel, zum Beispiel das nötige Kleingeld, um Nachhilfe zu bezahlen.
Es ist deshalb unsere Aufgabe als Politik, ein gutes Angebot zu ermöglichen. Corona zeigt uns in aller Deutlichkeit, wie wichtig es ist, dass Kinder eine gute Lernumgebung haben.
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Diese können wir mit guter Ganztagsbetreuung weiter verbessern. Deshalb sage ich auch ganz klar: Wir brauchen den Rechtsanspruch als ein Angebot.
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Es ist gut, dass wir heute mit dem Ganztagsfinanzierungsgesetz einen ersten Schritt auf dem Weg dahin gemeinsam gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz stehen die Mittel für den Ausbau der Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab sofort bereit. 2 Milliarden Euro hatten wir als SPD mit der Union im Koalitionsvertrag vereinbart. Bis zu 1,5 Milliarden Euro packt der Bund jetzt bis Ende 2021 obendrauf, um diesem so wichtigen Vorhaben einen zusätzlichen Schub zu geben.
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Doch damit das gelingt, müssen wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Da spreche ich jetzt ganz besonders die Kolleginnen und Kollegen aus dem grün-schwarz regierten Baden-Württemberg an. Es ist das einzige Bundesland, das gerade den Abschluss der Bund-Länder-Vereinbarung für die Bonusmittel aufhält. Ist den Kollegen dort eigentlich bewusst, was sie da tun? Sie blockieren gerade den Ausbau der Ganztagsbetreuung in ganz Deutschland, und das in einer Situation, in der wir an allen Ecken und Enden sehen, wie wichtig genau diese Ganztagsbetreuung ist.
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Sehr geehrte Damen und Herren, wir dürfen diese Chance nicht vertun. Als Lehrerin, die viele Jahre an einer Ganztagsschule tätig war, weiß ich sehr gut, was Kinder erreichen können, wenn sie eine gute Ganztagsbetreuung erfahren. Ich hatte Schülerinnen, die innerhalb von einem Schuljahr einen wahnsinnigen Sprung gemacht haben, und Schüler, die sich für Musikinstrumente begeisterten, die sie vorher noch nie gesehen haben.
Guter Ganztag schafft Chancen. Er bewirkt ganz viel – im Bildungsbereich, aber eben auch in den Familien. Wir sorgen damit auch für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir stärken Frauen, die sonst oftmals zurückstecken müssen, und wir stärken die Wirtschaft, indem mehr Fachkräfte zur Verfügung stehen.
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Bildungschancen, Familien, Gleichstellung, Wirtschaft – vier Bereiche, von denen jeder einzelne es wert ist, dass wir für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter kämpfen. Gehen wir diesen Weg gemeinsam.
Herzlichen Dank.
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Als Nächstes hat das Wort der Abgeordnete Martin Reichardt, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich die Gelegenheit ergreifen, mich bei den Zehntausenden Eltern zu bedanken, die gestern in Berlin, aber auch in ganz Deutschland gegen alle Hetze ein wichtiges Zeichen für die Freiheit, für die Demokratie und damit für die Zukunft unserer Kinder in Deutschland gesetzt haben.
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Wir, die AfD, fordern als einzige Partei die Wahlfreiheit der Eltern zwischen staatlicher Betreuung und Betreuung zu Hause. Der vorliegende Entwurf unterstützt leider wieder nur die staatliche Betreuung.
Familienpolitik in Deutschland orientiert sich leider schon lange nicht mehr an den Bedürfnissen von Eltern und Kindern. Sie ist Tummelplatz für Quotenfrauen geworden, die ideologische Projekte vorantreiben und ideologisch schief argumentieren.
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So wird auch in diesem Gesetzentwurf die Ganztagsbetreuung wieder einseitig als Beitrag zur Gleichberechtigung gepriesen. Das ist ein Problem; denn viele Eltern arbeiten im Prekärlohn. Sie sind gezwungen, beide Vollzeit zu arbeiten. Dieser Zwang wird dann als Gleichberechtigung verkauft. Dies kümmert aber unsere Ministerin nicht; auch die Unmöglichkeit der Umsetzung der Maßnahmen aufgrund Hunderttausender fehlender Erzieher interessiert nicht.
Die Prioritäten im Ministerium zeigt die Homepage: „Frauen in Führungspositionen – Eine verbindliche Quote wirkt“, „Das Coronavirus und die Gleichstellung der Geschlechter“, außerdem „Rechte von Homo-, Bi-, Trans- und Intersexuellen stärken“ – hier liegen die Prioritäten. Unterdessen ist dann aber auch die ohnehin mickrige Fachkräfteoffensive zur Gewinnung der nicht vorhandenen Erzieher endgültig eingeschlafen, und hier liegt ein weiteres Problem.
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Davon, dass das Kindeswohl in Deutschland durch die Coronahysterie mit Füßen getreten wird, hört man von unserer Ministerin ebenfalls kein Wort: kein Wort über die geforderten Kontaktbeschränkungen für Kinder, kein Wort über eiskalte Klassenzimmer und Isolation, kein Wort über die Studie, die feststellt, dass Kinder keine Treiber der Infektion sind.
Seit der hysterischen Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wurstelt unsere Quotenministerin nur noch in den Trümmern ihrer wissenschaftlichen Reputation herum, meine Damen und Herren.
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Sie wird für Kinder und Familien damit eine politische Katastrophe von nationaler Tragweite
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und leider nichts anderes. Hätten Sie sich in dieser Zeit wenigstens um eine solide Finanzierung des Gesetzes gekümmert! Aber auch hier: Fehlanzeige!
Unterdessen kümmern sich aber Eltern von Grundschülern in Deutschland um Entschuldigungsaufsätze, weil ihre Kinder die Masken falsch aufsetzen. Deutschland wartet endlich auf Ihren Entschuldigungsaufsatz für den schamlosen Betrug bei Ihrer Doktorarbeit.
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Eine sozialdemokratische Quotenfrau empfindet aber offensichtlich keine Scham und keine Reue. So etwas darf in Deutschland offensichtlich leider nur noch von alten weißen Männern und Kindern gefordert werden. Dass Sie von der SPD mit Ihrem Verhalten und der offensichtlich bei Ihnen vorhandenen Ganovenehre so etwas noch bestärken, ist darum noch viel schlimmer.
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Lieber Kollege, jetzt mäßigen Sie sich bitte, ja! Also, das muss jetzt wirklich nicht sein.
Von Eltern hätte man verlangt, auf ein Kind erzieherisch einzuwirken, das hier offensichtlich geschummelt hat. Von der SPD kann man so etwas aber leider nicht mehr verlangen, und darum müssen wir als Opposition das hier übernehmen.
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Gerade in Zeiten der Krise bedarf es einer integren Ministerin, die als Vorbild für die Menschen und besonders für die Kinder im Lande unangreifbar ist. Sie, Frau Giffey, sind dazu erkennbarerweise nicht geeignet. Sie beschädigen Ihr Amt, Sie beschädigen die Demokratie in Deutschland.
Zu Ihrer hoffentlich letzten Gesetzesinitiative werden wir uns hier enthalten.
Herr Kollege, die Zeit ist abgelaufen.
Besonders im Interesse von Familien fordere ich Sie letztmalig zum Rücktritt auf. Das wäre an der Zeit.
Vielen Dank.
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Herr Kollege, bitte auf dem Weg zum Platz Maske aufsetzen. Auch wenn Sie sich so aufregen, immer daran denken: Maske. – Der Kollege Maik Beermann ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Reichardt hat gerade von Erziehung gesprochen.
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Ich stelle mir ernsthaft die Frage, wo und in welcher Weise bei manch einem aus der rechten Ecke dieses Hauses überhaupt Erziehung stattgefunden hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir sind hier an einem Ort, wo man die Meinung äußern darf und soll; das stimmt. Aber hier willkürlich in diesem Falle gewählte Parlamentarierinnen oder eben ernannte Ministerinnen als „Quotenfrauen“ zu bezeichnen, entschuldigen Sie, das geht überhaupt gar nicht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen heute ein Fundament, indem wir das Ganztagsfinanzierungsgesetz auf den Weg bringen. Warum machen wir das? Wir tun das, weil wir einen Bruch kitten wollen, einen Bruch, der nämlich dann entsteht, wenn Eltern ihre Kinder in eine Kita geben, um sie dort qualitativ gut betreuen zu lassen, und irgendwann, wenn die Kinder in die Grundschule kommen, ein Problem entsteht; denn die Ganztagsbetreuung, die im Kindergarten gewährleistet wurde, ist mit einem Male in der Grundschule nicht mehr vorhanden.
Damit stellen wir uns einer Aufgabe, die nicht originär Aufgabe des Bundes ist; aber weil wir es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansehen, beteiligen wir uns. Deswegen sagen wir: Ja, 2 Milliarden Euro, die im Koalitionsvertrag und auch im Kabinettsbeschluss letztendlich verankert waren, haben wir noch mit 1,5 Milliarden Euro aus den Konjunkturpaket aufgestockt. Somit haben wir die Mittel fast verdoppelt, und es stehen 3,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen zur Verfügung. Das ist schon ein ordentlicher, vernünftiger Schluck aus der Pulle.
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Natürlich steht auch die CDU/CSU-Fraktion von Anfang an hinter der Wahlfreiheit von Familien. Aber die Familien sollen es auch einfach selbst entscheiden. Herr Reichardt, es bringt nichts, einfach nur wieder irgendwelche Phrasen und Floskeln hier in den Raum zu stellen, ohne faktenbasiert zu argumentieren.
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– Sie können jetzt weiter sagen: Das stimmt nicht. – 71 Prozent der befragten Familien sagen, dass sie gerne Ganztagsbetreuungsangebote im Grundschulalter in Anspruch nehmen möchten, und erst für 48 Prozent wird dies aktuell abgedeckt. Das heißt, wir haben eine große Lücke, und die muss gekittet werden. Dafür sind wir hier, und darum legen wir heute das Fundament.
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Wenn es darum geht, dass wir heute nicht nur Mittel beschließen, dann hat die Kollegin Völlers schon richtigerweise darauf hingewiesen, dass ein Bundesland noch blockiert. Das finde ich persönlich äußerst ärgerlich und auch schade. Für Niedersachsen bedeutet das beispielsweise, dass über 70 Millionen Euro derzeit noch nicht ausgezahlt werden können, dass sich Niedersachsen nicht auf den Weg machen kann, um sich beispielsweise um das wichtige Thema der Fachkräfteoffensive zu kümmern, um sich sozusagen auf den Weg zu machen, auch bauliche Maßnahmen schon voranzubringen oder eben zu planen.
Das ist ein Problem, und deswegen sollten wir uns alle bemühen, auf jeden Fall auch die Kolleginnen und Kollegen, die in Baden-Württemberg beheimatet sind, da noch mal etwas genauer hinzugucken und den Kolleginnen und Kollegen im dortigen Landtag auf die Füße zu treten, dass sie, auf Deutsch gesagt, in die Pötte kommen.
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Aber eines ist uns auch wichtig, und das ist uns beim Gute-KiTa-Gesetz so ein bisschen abhandengekommen: Wir müssen bei dieser Fragestellung auch auf Qualität setzen. Wir wollen keine Verwahranstalten für Kinder. Wir wollen Betreuungseinrichtungen mit einem guten Betreuungsangebot, wo der Name Programm ist, nicht Einrichtungen, wo letztendlich nur eine Aufbewahrung von Kindern stattfindet. Dafür müssen wir uns dann im Anschluss, wenn wir über den Rechtsanspruch diskutieren, einsetzen.
Heute aber ist ein guter Tag: 3,5 Milliarden Euro stellen wir zur Verfügung. Darüber freue ich mich, und ich glaube, ein Großteil dieses Hauses auch.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Matthias Seestern-Pauly.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frauen Ministerinnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule bis 2025 einzuführen. In den sozialen Medien haben Sie, Frau Ministerin Giffey, im Oktober 2019 versprochen, dass der entsprechende Gesetzentwurf Anfang 2020 vorliegen wird. Einen Monat später heißt es dann plötzlich in der Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche Frage: Der Gesetzentwurf wird irgendwann im Jahr 2020 vorliegen. – Im Juni 2020 antworteten Sie auf meine erneute Nachfrage zum Sachstand, dass eine Arbeitsgruppe Ganztagsbetreuung eingerichtet wurde, die zwar noch nicht getagt hat, aber – Zitat – „zügig zu Ergebnissen kommen soll“.
Frau Ministerin, Sie schieben den Gesetzentwurf zum Rechtsanspruch immer wieder auf. Sie bleiben bei reinen Ankündigungen, und Ihre Formulierungen werden immer schwammiger. Ihre Ankündigungspolitik stößt an ihre Grenzen. Das wissen Sie genau. Sie hätten den Gesetzentwurf spätestens nach der Sommerpause vorlegen müssen, um den Rechtsanspruch, wie versprochen, bis zum Jahr 2025 umsetzen zu können.
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Das sage nicht ich, das hat Ihnen der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in der öffentlichen Anhörung zur Einrichtung eines Sondervermögens gesagt. Sie aber tun weiterhin so, als würden Sie mit dem Sondervermögen Ihren Ankündigungen zum Rechtsanspruch tatsächlich Taten folgen lassen. Um es ganz deutlich zu sagen: Das tun Sie nicht – leider.
Mit Ihrer Politik der schönen Verpackung wecken Sie Erwartungen, die Sie nicht erfüllen werden. Das wird zu Enttäuschungen führen, und das wird die Politikverdrossenheit weiter befeuern. Frau Ministerin, wenn es Ihnen mit Ihren Ankündigungen ernst wäre, könnten Sie seriös beantworten, woher Sie eigentlich die für Ihr Versprechen benötigten Fachkräfte nehmen wollen. Da hilft es auch nicht, wenn lapidar darauf hingewiesen wird, dass dafür angeblich und ausschließlich die Länder zuständig seien.
Schauen Sie an dieser Stelle nach Nordrhein-Westfalen! Dort hat der liberale Familienminister Joachim Stamm nicht nur die praxisintegrierte Ausbildung konsequent gestärkt, sondern auch die Ausbildungskapazitäten im Bereich Sozialpädagogik wurden mehr als verdreifacht. Dasselbe gilt im Übrigen für Schleswig-Holstein.
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– Ja, gucken Sie nach! Das ist vollkommen richtig. Da, wo wir Freien Demokraten in Verantwortung stehen, Herr Kollege Rix, kommen die Länder ihrer Verantwortung nach.
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Sie belassen es aber lieber bei Ankündigungen und erklären sich im Zweifelsfall trotz Ihres Versprechens für nicht zuständig. Das ist keine gemeinsame Politik im Sinne unserer Familien. Das ist ein Gegeneinanderausspielen und ein Sichwegducken auf Kosten unserer Kinder. Beenden Sie dieses Theater! Oder seien Sie wenigstens so ehrlich: Der Rechtsanspruch wird von Ihnen nicht kommen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat als Nächstes der Kollege Norbert Müller, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Kind von der Kita in die Grundschule wechselt, dann gibt es zumindest bei mir in Brandenburg ein großes Einschulungsfest. Dann ist für viele Kinder auch gegeben, dass das Kind in der Grundschule in der ersten, zweiten, dritten oder auch vierten Klasse eine Nachmittagsbetreuung im Hort hat. Aber das ist nicht überall in Deutschland Realität. Deswegen tragen wir den Grundsatz, einen Rechtsanspruch für eine Ganztagsbetreuung im Grundschulalter gesetzlich zu regeln, mit. Das finden wir als Linke gut, und das haben wir politisch immer gefordert, weil wir es auch für eine Frage der Bildungsgerechtigkeit halten.
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Wir fanden es auch richtig, dass die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag geregelt hat, dass die Einführung des Rechtsanspruchs bis 2025 im Sozialgesetzbuch VIII, also im Kinder- und Jugendhilferecht, verankert sein soll. Aber Sie legen bis heute gar keinen Gesetzentwurf für einen Rechtsanspruch vor. Statt wieder schöne Reden vom Kollegen Beermann und der Kollegin Völlers zu hören, was der Ganztag alles können müsste, hätten wir erwartet, dass Sie erstens vorlegen: Wie ist Ihr Vorschlag? Wie soll der Rechtsanspruch konkret gesetzlich verankert werden?
Zweitens müssten Sie einen Vorschlag unterbreiten: Wie kommen wir zu ausreichenden Fachkräften? Wir wissen, dass im Moment allein im Kitabereich – da arbeiten genau dieselben Fachkräfte, die wir im Ganztag bräuchten – über 300 000 Plätze fehlen. Kitaplätze fehlen nicht nur, weil die Gebäude fehlen. Sie fehlen zum großen Teil, weil bereits im Kitabereich die Fachkräfte fehlen.
Drittens. Ich hätte erwartet, dass Sie vorlegen, wie wir Qualität gesetzlich verankern. Wir haben doch die Erfahrungen aus dem Kitaausbau, wo wir über Jahre gesehen haben, dass der Ausbau zwar quantitativ mehr oder weniger eine Erfolgsgeschichte ist, aber dass in der Kita nicht überall gute Qualität gegeben ist, weil man dies nicht bereits beim Rechtsanspruch mit geregelt hat. Das hätten wir jetzt tun müssen. Ich erwarte eigentlich, dass Sie dafür endlich Konzepte vorlegen.
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Viertens. Sie müssen eine auskömmliche und ausreichende Finanzierung vorlegen. Das müsste eigentlich selbstverständlich sein, auch nach den Erfahrungen mit dem Kitaausbau. Statt der 7 Milliarden bis 8 Milliarden Euro Investitionskosten, die auf Länder und Kommunen für den Ausbau im Ganztag zukommen, bringen Sie 3,5 Milliarden Euro auf. Das ist besser als die 2 Milliarden Euro im Koalitionsvertrag, aber es ist nur die Hälfte.
Sie treffen gar keine Aussage zu den Betriebskosten, die sich auf ungefähr 4 Milliarden Euro im Jahr belaufen. Das müssen am Ende Länder und Kommunen schultern. Da sagen die: Das ist Ihre originäre Aufgabe. – Wissen Sie, was passiert, wenn die Kommunen und Länder das tun sollen? Die streichen dafür in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, und zwar bei den sogenannten freiwilligen Leistungen. Was dann stirbt, sind die Kinder- und Jugendbibliothek vor Ort und der Jugendklub. Sie werden geschlossen, um den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz zu erfüllen. Richtig wäre gewesen, Sie würden sich auskömmlich an der Finanzierung der Betriebskosten beteiligen.
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Den Gesetzentwurf für das Sondervermögen haben Sie im Februar auf den Weg gebracht. Das ist jetzt neun Monate her. In Wahrheit ist das Jahr 2025 – darauf hat Kollege Seestern-Pauly hingewiesen – gar nicht mehr zu schaffen. In Wahrheit haben Sie selber in Ihrer Bund-Länder-AG, die Sie eingerichtet haben, bereits festgehalten, dass der Rechtsanspruch ab 2025 – wenn er überhaupt noch in dieser Wahlperiode kommt – nicht im Grundschulbereich für alle Kinder gilt, sondern maximal noch für die ersten Klassen. Das passiert hier.
Ich hätte in dieser Debatte erwartet, dass Sie so ehrlich sind und sagen: Wir schaffen es nicht; wir kommen mit den Ländern nicht hin. Die Finanzierung ist nicht auskömmlich geklärt. Deswegen werden wir das Jahr 2025 nicht halten, aber wir bemühen uns. – Das wäre ein ehrlicher Schritt gewesen, anstatt hier so eine Feierstunde abzuhalten.
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Deswegen sagen wir als Linke: Schaffen Sie guten Ganztag! Das ist Ihr Job. Legen Sie Vorschläge für die Fachkräfteoffensive, Qualitätssicherung und auskömmliche Finanzierung vor! Dann sind wir an Ihrer Seite. So können wir uns nur enthalten.
Vielen Dank.
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Die Abgeordnete Ekin Deligöz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seestern-Pauly, ich habe Ihrer Rede aufmerksam zugehört und dreimal das Wort „leider“ gezählt. Das „leider“ teile ich, aber ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, dass ausgerechnet Sie das hier so betonen. Denn gestern und heute hat Ihre Fraktion im Haushaltsausschuss beantragt, die Mittel für die Ganztagsschule zu streichen.
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Mittel zu streichen und hier „leider“ zu sagen, passt leider nicht zusammen.
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– Zweimal 750 Millionen – ich komme dazu –, aber Sie wollen es komplett streichen.
Ja, wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf, weil es auch um ein Gerechtigkeitsversprechen in der Bildung geht und weil es ein großer und wichtiger Schritt ist, der hier gegangen wird. Deshalb haben Sie unsere Unterstützung.
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Aber, ehrlich gesagt, möchte ich mich nicht mit Kritik zurückhalten. Denn Sie bleiben auf halber Strecke stehen. Es reicht nicht, das einfach nur zu versprechen, sondern Sie müssen es auch gut machen. Ich muss bedauerlicherweise sagen: Sie machen es leider nicht gut. Ich nenne Ihnen drei Gründe.
Der erste Grund ist: Eigentlich haben Sie einen Gesetzentwurf für den Rechtsanspruch angekündigt. Der scheint jetzt in weite Ferne gerückt. Denn wir hören nichts mehr davon. Wir warten immer noch darauf, dass Sie den Gesetzentwurf, was Sie versprochen haben, auch hier im Bundestag einbringen. Ich bezweifle, dass es noch in dieser Wahlperiode geschieht.
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Zweitens. Sie machen einen billigen Taschenspielertrick. Ich sage Ihnen auch, warum. In der Theorie sprechen Sie von 2 Milliarden Euro Basismitteln und zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro Bonusmitteln aus dem Konjunkturpaket. In der Theorie mag das richtig sein. In der Praxis schreiben Sie im gleichen Gesetzentwurf: Wenn die 2 Milliarden Euro bis Ende 2021 – warum auch immer, Beispiel Pandemie – nicht in Anspruch genommen oder nicht in voller Höhe abgerufen werden sollten, dann stehen die 1,5 Milliarden Euro auch nicht in voller Höhe zur Verfügung, sondern die Reste sollen zurück in den Bundeshaushalt fließen.
Das heißt, Sie sprechen zwar von 3,5 Milliarden Euro, de facto nehmen Sie es aber über die andere Tasche wieder zurück und sagen: Ätsch, bätsch, war nichts! – Wenn dann Baden-Württemberg sagt: „Hey, das ist ein Trick; so funktioniert das nicht“, dann sagen Sie: Warum kritisieren die uns denn? – Ich verstehe schon, warum Baden-Württemberg uns kritisiert: Sie fallen auf so eine einfache Falle nicht rein.
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Drittens. Was dieses Land braucht, ist nicht nur die Infrastruktur, sondern auch das Personal, die Qualität, das, was wir in den Schulen unseren Schülerinnen und Schülern anbieten.
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Darüber reden Sie, ehrlich gesagt, überhaupt nicht mehr. Damit genügen Sie insgesamt nicht Ihrem eigenen Anspruch, den Sie hier selber formulieren. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, Kritik zu üben und es besser zu machen.
Es besser machen: Das können wir von den Grünen. Die entsprechenden Anträge haben wir eingebracht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Ulrike Bahr.
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir wissen schon lange, dass wir für Kinder im Grundschulalter und ihre Familien verlässliche Angebote zur Bildung und Betreuung brauchen; aber die letzten neun Coronamonate haben noch einmal besonders deutlich gemacht, wie wichtig für Kinder und für Eltern eine gute und verlässliche Betreuungsinfrastruktur ist –
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wichtig für die Förderung der Kinder, wichtig für die Familien, wichtig auch für die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Nur so kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktionieren. Und nur so können wir auf dem Weg zu mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung weitergehen.
Homeschooling und Fernunterricht haben die Gräben vertieft: Da sind Kinder, die zu Hause gefördert werden und auf Hilfe und Infrastruktur zurückgreifen können, und da sind Kinder, die sich ein Stück weit selbst überlassen bleiben und zum Teil von der Schule gar nicht mehr erreicht werden konnten. Umgekehrt wissen wir aus zahlreichen Studien, dass guter, qualitativ hochwertiger Ganztag mit einem vielfältigen Angebot an Bildung und Betreuung die Kinder stärkt und Nachteile der sozialen Herkunft ein Stück weit ausgleichen kann.
Darum bin ich froh, dass wir mit dem heute zu beschließenden Ganztagsfinanzierungsgesetz den ersten Schritt hin zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder gehen. Das Sondervermögen, das wir heute errichten, wird noch einmal kräftig mit Mitteln aus dem Nachtragshaushalt aufgestockt. Insgesamt stehen den Kommunen, wie erwähnt, jetzt 3,5 Milliarden Euro zum Ausbau der Ganztagsbetreuung zur Verfügung.
Umso wichtiger ist es, dass es jetzt zügig weitergehen kann. Bund und Länder haben sich schon in groben Zügen auf die inhaltliche Ausgestaltung des Rechtsanspruchs verständigt. Die ursprünglich geplanten Investitionsmittel von 2 Milliarden Euro sind noch einmal um 75 Prozent erhöht worden. Auch hat unser Finanzminister Olaf Scholz bereits signalisiert, dass der Bund sich dauerhaft an den Betriebskosten beteiligen wird.
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Und es gibt ausreichend Zeit: Der Rechtsanspruch soll erst 2025 in Kraft treten.
Unter diesen Voraussetzungen gilt es, die Zeit jetzt auch gut zu nutzen. Und es wäre den Familien nicht zu vermitteln, wenn durch die schwarz-grüne Blockadehaltung in Baden-Württemberg die Verwaltungsvereinbarung zu den Beschleunigungsmitteln und der Gesetzentwurf zum Rechtsanspruch weiter verzögert würden. Ich hoffe sehr, dass die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin in der Konferenz am 2. Dezember endlich die nötige Verständigung erzielen und sich über die Eckpunkte einigen.
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Denn das Geld aus dem Sondervermögen muss sicher eingeplant werden, für vorbereitende Planungen, für Baumaßnahmen oder für die bessere Ausstattung bestehender Einrichtungen in der Ganztagsbetreuung.
Stiftungen, Schulen und Jugendhilfe haben zudem die Zeit genutzt und gute Konzepte für einen an Beteiligung und einem umfassenden Bildungsverständnis ausgerichteten Ganztag entwickelt. Es wird Zeit, dass diese Konzepte mit Leben gefüllt werden und wir den Rechtsanspruch endlich verankern können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Abstimmung im Anschluss an die Debatte markiert einen dritten Höhepunkt beim Thema „Familie und Betreuung von Kindern“ in den letzten Jahren. Kurz zusammengefasst: 1996 führte die Union den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung ab dem vierten Lebensjahr ein. 2013 folgte der Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige. Und mit dem Ganztagsfinanzierungsgesetz wird in diesem Jahr nun die Brücke von der Kita- und Vorschulzeit zur Betreuung im Grundschulalter geschlagen. Welche Chancen dieser Rechtsanspruch bietet, hat mein Kollege Maik Beermann schon ausführlich erläutert.
Ich will kurz aus meiner Sicht auf die bildungspolitische Dimension des Vorhabens eingehen. Dass Bildung in der frühen Kindheit eine zentrale Bedeutung hat, zeigen die Ergebnisse der Bildungsforschung eindeutig. Förderung ist deshalb grundlegend für den weiteren Bildungserfolg. Sie entscheidet maßgeblich über Entwicklungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen, wie uns allen bekannt ist. Dass sich diese Erkenntnisse nun auf drei Rechtsansprüche erstrecken und den Weg in neue Beschlüsse der KMK gefunden haben, ist schon ein toller Erfolg und das Ergebnis langer und harter Arbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Für die Union ist klar: Bildung und Erziehung waren und bleiben zuerst die Aufgaben der Eltern. Dieser Grundgedanke kommt auch in der Errichtung des Sondervermögens zum Ausdruck. Wir wollen nicht nur eine Form des Ganztags fördern, sondern uns selbstverständlich am Bedarf der Eltern und ganz besonders der Kinder orientieren und alle drei Formen – Hort, geschlossener und offener Ganztag – gleichberechtigt nebeneinanderstellen; wir wollen nichts davon verordnen. Damit erhöhen wir die Akzeptanz bei den Eltern und stellen sicher, dass die gebotenen Chancen kein Kindertraum bleiben, sondern zur Realität werden.
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Gleiches gilt für die Beschleunigungs- und Bonusmittel aus dem Änderungsantrag. Wir belohnen die Länder, welche frühzeitig in Sanierung und Ausbau der Kinderbetreuung investieren. Die dafür bereitgestellten 1,5 Milliarden Euro unterstreichen genau diese Haltung. Je früher die Länder mit den Investitionen beginnen, desto eher wird aus dem Rechtsanspruch ein echter Mehrwert für alle.
Beide Entscheidungen sind eine gute Grundlage für die kommenden Beratungen, wenn es dann um die Inhalte geht. Hier wollen wir selbstverständlich das Thema Qualität fortschreiben. Ein qualitativ ansprechendes, flächendeckendes Betreuungsangebot von der Kita bis zum Ende der Grundschule ist mehr als eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf; es ist mehr als nur Spiel und Spaß mit den Klassenkameraden. Es ist die Möglichkeit, eigene Talente zu entdecken, eigene Neigungen zu entwickeln, ein Instrument zu erlernen, Sport zu treiben, künstlerische Tätigkeiten auszuüben, aber auch einfach mal in Aufgaben reinzuschnuppern, die künftig vielleicht im Ehrenamt, zum Beispiel bei freiwilligen Feuerwehren, ausgeübt werden. Kurzum: Es ist für manche die Perspektive, welche sein oder ihr Zuhause ihm oder ihr nicht unbedingt ermöglicht hat, die aber damit ermöglicht wird.
Diesem Ziel sind wir heute einen großen Schritt näher gekommen. Deshalb bitte ich natürlich um große Zustimmung.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Marcus Weinberg.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da kann ich gerne anschließen: Die Republik mag heute fälschlicherweise nicht mit Spannung auf diese Debatte schauen; aber das Gesetz, das wir heute verabschieden werden, ist eine wichtige Voraussetzung für eine der größten bildungspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, nämlich endlich einen Rechtsanspruch für Kinder im Grundschulalter auf eine Ganztagsbetreuung zu schaffen. Deswegen ist es wichtig, dass wir heute das Gesetz verabschieden.
Aber ein bisschen wichtiger – das müssen wir eingestehen – mag dann doch der 2. Dezember sein, an dem die Ministerpräsidentenkonferenz stattfindet. Diese Konferenz ist wichtig; das muss die Botschaft der heutigen Debatte sein. Frau Bahr war so nett, den Wunsch zu äußern, dass es eine Einigung der Ministerpräsidenten gibt. Ich sage: Wünschen ist nett – wir fordern das. Warum fordern wir das?
Erstens: weil eine Einigung beweisen würde, dass dieses föderative System – das betonen ja gerade diejenigen, die in den Ländern Verantwortung tragen, immer wieder – auch bei großen nationalen Aufgaben funktioniert.
Zweitens: weil wir damit endlich eine der wichtigsten Veränderungen in der Bildungspolitik erreichen würden, nämlich den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz.
Drittens: weil es – das möchte ich in dieser Zeit nicht außer Acht lassen – nach den langen Debatten der letzten Wochen und Monate über die Frage, was wir, was die Kinder während der Coronapandemie im Bildungsbereich erlebt haben, im Hinblick auf die Wahrnehmung der Funktionsweise der Politik durch die Eltern fatal wäre, wenn es uns nicht gelänge, dies hinzubekommen. Deswegen ist es wichtig, und deswegen muss der 2. Dezember ein Erfolg werden,
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zumal die Dinge, die wesentlich sind, erfüllt sind: Erstens diskutieren wir nicht mehr wochen- und stundenlang über die Frage, wie die Form der Ausgestaltung bei der Ganztagsbetreuung aussieht. Das haben wir hinter uns. Ich glaube, das ist inhaltlich ein guter Weg. Zweitens – das ist Kernelement der heutigen Debatte –: Die finanziellen Voraussetzungen werden geschaffen. Das ist ein bisschen wie – als Hamburger darf ich das sagen – auf dem Fischmarkt.
Man sieht: Die Kompetenz liegt tatsächlich bei den Ländern – das betone ich auch gern noch mal –, aber weil das eine nationale Aufgabe ist, sagen wir trotzdem: 2 Milliarden Euro als Basisfinanzierung gibt es von uns obendrauf. Falls das nicht reicht – Stichwort „Corona“ –, gibt es über einen Nachtragshaushalt noch 1,5 Milliarden Euro obendrauf. Noch mal: Weil wir unsere Verantwortung wahrnehmen, beteiligen wir uns an den Betriebskosten.
Jetzt ist es aber an den Ländern, zu sagen: Wir nehmen das Geld nicht nur an, sondern wir verpflichten uns auch, dass wir den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz bis 2025 umsetzen. – Da muss auch nichts mehr geschoben werden; das ist uns, glaube ich, allen klar.
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Das entspricht eben nicht einer ideologischen Verdummung oder sonst etwas. Es ist immer von der Wahlfreiheit der Eltern die Rede. Da muss man zunächst einmal wissen: Das Beste für die Wahlfreiheit der Eltern sind immer Rechtsansprüche. Dann kann ich als Elternteil sagen: Ich habe darauf einen Anspruch. Deswegen habe ich die freie Wahl.
Es wurde bereits gesagt: Etwa 70 Prozent in Westdeutschland und ungefähr 90 Prozent in Ostdeutschland wollen einen guten, hochwertigen Betreuungsplatz. Da kommt es auf die Qualität an – da bin ich bei der Kollegin –, die wir umsetzen müssen. Es ist tatsächlich so – jetzt bin ich noch einmal bei der Kollegin der Grünen; Herr Seestern-Pauly hatte ja schon sein Erlebnis mit Schein und Sein –, dass die Kollegen in Baden-Württemberg – das sagen wir auch unseren Kollegen, und Sie mögen es bitte ebenfalls weitergeben – hier seit Jahren über die Bedeutung der Ganztagsbetreuung reden. Bitte – jetzt sind Sie in der Verantwortung in Baden-Württemberg – legen Sie Wert darauf, dass die Umsetzung erfolgt.
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Warum erfolgt sie nicht? Weil – Stichwort „Betriebserlaubnis“ und Stichwort „Schulaufsicht“ – die Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Das wollen wir aber nicht deshalb, weil wir uns das wünschen, sondern das wollen wir, weil damit auch Dinge wie zum Beispiel der Kinderschutz verbunden sind.
Deswegen gehen Sie und wir und diejenigen, die das unterstützen, jetzt auch raus, werben dafür, dass wir am 2. Dezember hoffentlich ein gutes Ergebnis bei der Ministerpräsidentenkonferenz erreichen und wir den Rechtsanspruch dann umsetzen können.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Hätte unser Land den von der AfD geforderten Nationalen Sicherheitsrat heute schon, dann wäre uns die Coronakrise in diesem Ausmaß wahrscheinlich erspart geblieben.
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Ein Nationaler Sicherheitsrat hätte die ausführliche Studie des Robert-Koch-Instituts von 2012 nicht wie die Bundesregierung in irgendeine Archivecke geschmissen, sondern er hätte diese detaillierte Blaupause zur Bekämpfung der Viruskrankheit in einen mit allen Fachressorts abgesprochenen praktischen Aktionsplan umgesetzt.
Ein Nationaler Sicherheitsrat hätte der Bundesregierung wahrscheinlich das empfohlen, was ich schon zu Anfang der Coronakrise gefordert habe, nämlich – das ist das, was kein Experte bezweifelt – die Erkenntnis, dass 85 Prozent der Infizierten diese Krankheit entweder mit leichten oder gar keinen Symptomen wahrnehmen, nur 15 Prozent der ernsthaft oder sehr ernsthaft Erkrankten intensiv behandelt werden müssen oder gar an Leib und Leben bedroht sind. Eine nationale Strategie wäre es dann gewesen, zuallererst diese Risikogruppen professionell zu schützen und so einen totalen Lockdown mit Kosten von Hunderten von Milliarden Euro zu vermeiden.
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Das Gleiche gilt für ein Konzept des Innenministeriums aus dem Jahre 2016 unter dem Titel „Konzeption Zivile Verteidigung“. Da werden die Schwachstellen auf diesem Gebiet minutiös aufgezeigt. Es werden Lösungen angeboten. Schon damals warnten die Innenexperten zum Beispiel vor einem durch Ihre Energiewende herbeigeführten Blackout – katastrophal in den Auswirkungen, und zwar in einem solchen Ausmaß, wie es sich die Bürger draußen im Lande bis jetzt gar nicht vorstellen können.
Obwohl die Studie ein umfangreiches Katastrophenszenario detailliert beschreibt, Lösungsansätze bietet und auch sagt, wer es umsetzen soll, ist in unserem Lande nichts geschehen – weil es eben keine nationale fachübergreifende Koordinierungsstelle gibt, in der alle Erkenntnisse zusammenlaufen und die erforderliche Umsetzung von Lösungsvorschlägen erfolgt.
So wie ich hier das Nichtstun der Regierung und ihre nicht vorhandene Strategie in den vergangenen Jahren bei den innenpolitischen Herausforderungen beklage, sehe ich diesen Mangel genauso in unseren außenpolitischen Beziehungen. Wie ein Kaninchen auf die Schlange starrt, so starrt das Merkel-Kabinett nun seit Jahren auf die rasanten politischen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen in China.
Langzeitstrategie? Fehlanzeige, Herr Kollege! Statt sich nach entsprechenden Verbündeten – in diesem Falle zum Beispiel den Vereinigten Staaten oder Russland – umzusehen, um die immensen Herausforderungen aus dem Reich der Mitte parieren zu können, haben wir erfolgreich beide strategisch möglichen Partner verprellt. Wir haben es dagegen zugelassen, dass modernste Hightechfirmen wie KUKA in chinesische Hände übergingen, und wir zahlen immer noch – ich glaube, bis zum Jahre 2021 – Hunderte von Millionen in Entwicklungsprojekte in China. Das müssen Sie dem Bürger draußen erst mal erklären, meine Damen und Herren.
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Jedes andere Land hält uns für bekloppt. Auf der einen Seite können wir bei G-5-Staaten nicht mithalten, und auf der anderen Seite zahlen wir noch Entwicklungsgelder.
Man kann diese Beispiele fortführen: Wie gehen wir auf Dauer mit einer veränderten amerikanischen Weltsicht um? Welche Werte verbinden uns wirklich noch, auch mit einer Biden-Regierung? Achtung, meine Damen und Herren! Wo müssen wir uns nach neuen Partnern umsehen, und wo halten nach wie vor die alten Bande?
Wie wollen wir auf Dauer mit einem Russland umgehen, das sich nach Jahrhunderten der Zarenherrschaft und knapp 70 Jahren Sowjetdiktatur zaghaft in Richtung Demokratie entwickelt? Welch eine Ignoranz und welch ein Unverständnis, zu glauben, dass dieser Prozess innerhalb einer Generation abgeschlossen sein kann. Sie können aber, meine Damen und Herren, Russland nicht nach Südamerika verschieben. Es wird immer unser großer Nachbar im Osten bleiben. Wer formuliert hier die deutsche Langzeitstrategie?
Wer hat ein dauerhaftes Konzept, wie mit den osmanischen Großmannsträumen von Herrn Erdogan umzugehen ist? Wo müssen wir der türkischen Regierung in den Arm fallen, wenn zum Beispiel Herr Erdogan versucht, über seine Landsleute in Deutschland deutsche Politik zu beeinflussen? Wo und mit wem können wir auf die türkische Politik Einfluss wiedergewinnen?
Wer hat im Kanzleramt und im Außenamt die Strategie für eine Friedenslösung im Vorderen und Mittleren Orient? Herr Kushner, der Nichtdiplomat aus den USA, hat es uns vorgemacht. Wer hat die Konzepte hier in Berlin? Keiner. Wir wurschteln uns von einer Krise zur anderen durch und meinen, wir Deutschen seien immer noch ein wichtiger Player im Weltgeschehen. Merkt dieses Haus nicht, dass wir diese Rolle seit Jahren verloren haben, dass uns unsere völlig unnötige Positionierung bei zwischenstaatlichen Konflikten – auch fern von uns – aus der klassischen Vermittlerrolle herausdrängt?
Ein Nationaler Sicherheitsrat, der personell und konzeptionell in der Lage ist, im deutschen Interesse Strategien über die Dauer einer Legislaturperiode hinaus zu entwerfen, ist deshalb längst überfällig. Wir brauchen diese ständige und strukturierte Einrichtung, organisatorisch und personell, um diese Weitsicht in den drängendsten innen- und außenpolitischen Fragen ressortübergreifend zu entwickeln.
Ansonsten entwickelt sich Deutschland zu dem, was viele unserer Nachbarn immer noch befürchten: dass wir wirtschaftlich ein Riese, politisch aber zu einem Zwerg degradiert werden. Ich bitte Sie deshalb, unseren Antrag zu unterstützen und einem deutschen Nationalen Sicherheitsrat zuzustimmen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Roderich Kiesewetter.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist gut, dass wir wieder über das Thema Sicherheitsrat reden, weil die Unterschiede damit deutlich werden. Ich habe, Herr Kollege Hampel, Ihrer Rede sehr sorgfältig zugehört. Ich habe nicht ein Mal „Vereinte Nationen“ gehört, ich habe nicht ein Mal „NATO“ oder „EU“ gehört; ich habe nur „Deutschland“ und „der Rest der Welt“ gehört.
Wir leben in einer immer mehr vernetzten Welt; damit müssen wir auch mit einem deutlich vernetzten Politikansatz in die Welt gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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In Ihrem Antrag sind die Vereinten Nationen nur in einem Nebensatz erwähnt, und nicht ein Mal erwähnt sind die EU oder die NATO. Deswegen möchte ich gerne zu Vorstellungen der Union und vielleicht auch anderer Teile dieses Hauses kommen.
Heute hat Bundesentwicklungsminister Gerd Müller bei der Veröffentlichung des Polypandemie-Berichts der Münchner Sicherheitskonferenz einen Bundessicherheitsrat für Sicherheit, Frieden und Entwicklung gefordert. Vorgestern hat unsere Bundesverteidigungsministerin an der Universität der Bundeswehr in Hamburg sehr klar die Aufwertung des Bundessicherheitsrates zu einem Nationalen Sicherheitsrat gefordert; dasselbe hat sie an der Bundeswehruniversität in München bereits vor einem Jahr gesagt. Des Weiteren hat unser Koalitionspartner in der letzten Woche ein Papier vorgelegt über die 28. Armee, also über eine Armee für die Europäische Union. Ich will damit sagen: Worauf basiert denn das Ganze? Das sind doch Beiträge, Vorstellungen, Überlegungen, Vorschläge zur Mitgestaltung der Globalisierung. Das ist ein Beitrag, wie Deutschland sich einbringen will, um Weltpolitikfähigkeit anzupacken und nicht zu kommentieren.
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Worauf geht das Ganze zurück? Im Jahr 2016 wurde das Weißbuch veröffentlicht. In diesem Weißbuch, das wir nie in diesem Hause diskutiert haben, wird sehr klar festgehalten, dass der Bundessicherheitsrat aufgewertet werden soll zu einem strategischen Ideengeber, zu einem Koordinator der verschiedenen Ressortinteressen. Warum ist das so wichtig? Es ist wichtig, um die Ressorts auch – ich sage das mal als frei gewählter Abgeordneter – dazu zu zwingen, der Bundesregierung die wesentlichen Prioritätensetzungen ihrer Häuser zu bringen. Dann muss ein Bundessicherheitsrat – das kann ein Staatssekretärsausschuss auf Dauer nicht leisten – diese Priorisierungen bewerten und in ein Gesamtkonzept einbringen. Wir müssen den Mut aufbringen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das in den nächsten Koalitionsverhandlungen zum Thema zu machen.
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Ich möchte das unterstreichen, weil die Welt um uns herum ja nicht stehen bleibt. Wir waren am Wochenende alle relativ überrascht, als das – mal schauen, ob ich es zusammenbringe – „Regional Comprehensive Economic Partnership“-Programm im Fernen Osten, in Asien, gegründet wurde. Es geht um einen Wirtschaftsraum, einen Freihandelsraum für 2,2 Milliarden Menschen. Das ist eine geoökonomische Herausforderung. Da werden Standards gesetzt. Dort wird auch Sicherheitspolitik im Sinne der Digitalisierung, der Cyberräume, aber auch des Umgangs im Welthandel gesetzt. Diese Standards wollen wir doch mit beeinflussen. Um uns einzubringen, brauchen wir dann auf europäischer Ebene besser abgestimmte deutsche Interessen, und das kann ein Bundessicherheitsrat leisten.
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Lassen Sie uns den Mut aufbringen, in der Großen Koalition darauf hinzuwirken und bei unseren anderen Partnern hier in diesem Hause darauf hinzuwirken, dass das Thema der Wahlprogramme wird.
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Es geht darum, dass wir Weltpolitikfähigkeit in der Praxis schaffen. Dazu brauchen wir einen großen Sprung zur Mitgestaltung der Globalisierung und nicht ein verzagtes Trippeln am nationalen Straßenrand. In diesem Sinne lehnen wir den Antrag ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Lassen Sie mich eines sagen: Der Antrag mit dem Titel „Deutschland braucht einen Nationalen Sicherheitsrat“ ist hervorragend. Er spricht davon, dass wir eine Gesamtstrategie brauchen, die über die Ressorts hinweg abgestimmt wird, und er fordert die Bundesregierung auf, noch in dieser Legislaturperiode einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten. Unterzeichnet ist er mit Datum 10. März 2020: „Christian Lindner und Fraktion“.
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Meine Damen und Herren, wir haben bereits vor einem halben Jahr genau einen solchen Antrag gestellt. Aber ich will mich hier den Worten des Kollegen Kiesewetter anschließen: Das ist ein Antrag, der einen völlig anderen Geist atmet als das Machwerk aus der AfD-Fraktion.
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Die stellen tatsächlich sieben Forderungen auf für einen Nationalen Sicherheitsrat mit einer entlarvenden Reihenfolge von Prioritäten:
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Punkt eins: Deutschland bleibt als Nationalstaat erhalten.
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– Ich kenne niemanden in diesem Haus, der das bezweifeln würde.
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Punkt zwei, Punkt drei, Punkt vier: Die nationale Souveränität Deutschlands muss verteidigt werden. – Ich kenne niemanden in diesem Haus, der das anders sehen würde. Aber die Reihenfolge, die Prioritätensetzung ist interessant.
Punkt fünf: Wir stärken die deutsche Wirtschaft im Ausland.
Punkt sechs: Wir stärken die deutsche Wirtschaft im Ausland noch ein bisschen mehr.
Und Punkt sieben ist dann: „Deutschland setzt sich für ein friedliches Miteinander der Völker ein …“
Meine Damen und Herren, wenn das die Prioritätensetzung einer Fraktion des Deutschen Bundestages ist, dann sind wir in diesem Haus auf dem Holzweg.
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Ich freue mich darauf, dass wir diesen Antrag gemeinsam ablehnen werden.
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Jetzt muss ich allerdings, lieber Kollege Kiesewetter, nach den lobenden Worten eben eines auch sagen: Die Bundesregierung hat seit Erscheinen des letzten Weißbuches im Jahr 2016 sich selbst die Hausaufgabe gegeben, den Bundessicherheitsrat, der zurzeit ja ein ganz eng umrissenes Aufgabengebiet hat, der hinter verschlossenen Türen tagt, der kein permanentes Sekretariat hat, der keinen Unterbau hat, aufzuwerten zu einem Organ, mit dem Deutschland tatsächlich mal eine ressortabgestimmte, ressortübergreifende internationale Strategie formulieren kann. Dieser Hausaufgabe ist die Bundesregierung nicht nur nicht nachgekommen, nein. Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer äußert zwar regelmäßig, dass sie das für eine gute Idee hält, aber wenn wir dann – und das haben wir als Fraktion getan – nachfragen, wie sie sich das genau vorstellt, kommt als Antwort aus der Bundesregierung Folgendes, Zitat: „Die Fragen 2 bis 5 werden zusammen beantwortet. Die Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer hat langfristig orientiert und perspektivisch skizziert, was eine künftige Bundesregierung eines Tages vielleicht tun könnte.“
Meine Damen und Herren, das ist keine ernsthafte Politik.
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Wenn ich mir die Hausaufgabe selber gebe, dann muss ich sie auch erledigen. Deswegen, meine Damen und Herren: Richten wir einen Nationalen Sicherheitsrat ein! Bündeln wir die internationale Strategie der Bundesregierung! Debattieren wir sie regelmäßig hier im Hohen Haus!
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Das ist der richtige Weg – aber nicht im Geiste dieses Antrags der Kollegen von rechts außen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Graf Lambsdorff. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela De Ridder, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste, jedenfalls die einzelnen! Den Bundessicherheitsrat gibt es bereits seit 1955. Er hat seitdem einige Reformen durchlaufen, etwa infolge von Nine‑Eleven, dem Attentat auf das World Trade Center in New York. Danach wurden nämlich adäquate Maßnahmen im Bundessicherheitsrat entwickelt und abgestimmt. Das war also schon vor 20 Jahren eine Weitung des Portfolios.
Benötigen wir heute weitere Reformen? Die Pandemie hat wie keine zweite Momentaufnahme gezeigt, wie wichtig uns globale Sicherheitsfragen sein müssen. Insbesondere benötigen wir eine Erweiterung um gesundheitspolitische und sozioökonomische, aber auch um ökologische und energiepolitische Fragen und Gesichtspunkte. Insbesondere in der Außen- und Verteidigungspolitik wird daher zu Recht danach verlangt, dass wir einen neuen Sicherheitsbegriff diskutieren, bedenkt man etwa die europäische Souveränität, zu der es keinerlei Alternative gibt.
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Vielen Dank, Graf Lambsdorff!
Voraussetzung für unsere Sicherheit im europäischen Kontext etwa ist, dass wir als Staaten der Europäischen Union zusammenhalten und dass wir – in der Tat, lieber Roderich Kiesewetter – mit der NATO ein starkes Bündnis pflegen.
De Gaulle soll einmal gesagt haben, zwischen Ländern gebe es keine Freundschaften, sehr wohl aber Interessen.
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Der französische Präsident Macron und unsere Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer haben sich zu Beginn dieser Woche ein kleines publizistisches Scharmützel geleistet, was die europäische Souveränität anbelangt. Räumt man einmal alle Missverständnisse, lieber Peter Beyer, beiseite, dann haben wohl eher Außenminister Heiko Maas – wir sprachen heute Morgen darüber – und sein französischer Kollege Jean-Yves Le Drian recht: Wir brauchen ein neues transatlantisches Verhältnis, einen neuen New Deal, und wir brauchen mehr europäische Kohäsion.
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Das muss sich auch in unseren unterschiedlichen, ressortübergreifenden Politiken niederschlagen, etwa wenn wir über Digitalisierung und Innovationstechniken sprechen, aber auch, wenn wir über Bots oder Kriegspropaganda reden und – Sie ahnen es schon – wenn wir über Russland und China sprechen. Wir brauchen also neue Formate, oder wir müssen die alten neu beleben. Ist dies etwa aufgehoben in dem simplen Konzept für einen Nationalen Sicherheitsrat, wie ihn die AfD fordert? Mitnichten!
Selbstverständlich kann die Kohäsion zwischen den unterschiedlichen Häusern noch intensiviert werden. Im Bundessicherheitsrat etwa wird ja ohnehin ressortübergreifend zusammengearbeitet. Herr Hampel, das sollten Sie einfach nur zur Kenntnis nehmen.
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Dass all die aufgeworfenen Fragen dort auch beantwortet werden müssen, ist nicht nur klug, sondern auch selbstverständlich.
Das alleine reicht aber nicht. Das Parlament – und damit wir Abgeordnete – muss sich noch viel intensiver mit diesen Fragen beschäftigen. Das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit.
Mit Blick auf gestern frage ich die Herren von der AfD: Warum fordern Sie eigentlich nicht für uns mehr Sicherheit und mehr Sicherheitspolitik und gerade bei diesem Thema eine Stärkung des Parlaments?
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. De Ridder. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
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Guten Abend, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Letzte, was Deutschland braucht, ist ein geheim tagender Nationaler Sicherheitsrat. Die AfD will den Bundessicherheitsrat entsprechend aufwerten und damit noch mehr Entscheidungen, die existenziell für die Sicherheit in Deutschland sind, hinter verschlossene Türen verlagern.
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Sie reden sonst immer nur von Kriegskabinetten, wollen aber eigentlich selbst gerne eines schaffen.
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Die AfD will hier die Entparlamentarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, nach dem Idealbild des verblichenen deutschen Kaiserreichs.
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– Doch. Lesen Sie einfach mal Ihren Antrag!
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Mit einer Außenpolitik der Geheimkabinette ist Deutschland in seiner Geschichte nun wahrlich nicht gut gefahren.
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Aber zurück in die Gegenwart. Entscheidungen im geheimen Kabinett des Bundessicherheitsrats gefährden bereits jetzt die Sicherheit in Deutschland und den Frieden weltweit massiv. Stellen wir uns einmal vor, diese geheimen Entscheidungen dieses Ministergremiums über Rüstungsexporte würden auf noch mehr Bereiche ausgedehnt werden, wie das in diesem vorliegenden Antrag gefordert wird. Was würde das denn bedeuten? Das kann meiner Meinung nach niemand ernsthaft wollen, der durch und durch Parlamentarier ist.
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Bereits jetzt gefährdet der Bundessicherheitsrat als Ausschuss des Bundeskabinetts durch seine Entscheidungen über die Kriegswaffenexporte an Diktaturen oder an autoritäre Regime, die nicht zuletzt, wie Saudi-Arabien und Katar, den islamistischen Terrorismus weltweit fördern, auch die Sicherheit in Europa. Der Bundessicherheitsrat profitiert geradezu davon, dass er eben geheim tagt. So schotten sich die Minister der Union und der SPD gegen eine öffentliche Diskussion ab. Ihre folgenreichen Entscheidungen können erst dann öffentlich diskutiert werden, wenn sie bereits getroffen sind, und das ist eigentlich nichts anderes als eine Aushebelung von demokratischen Prinzipien in einem parlamentarischen System.
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Statt das weiter auszuweiten, muss endlich Schluss gemacht werden mit dieser Geheimniskrämerei.
Eine tatsächliche Reform der deutschen Sicherheitsarchitektur muss in eine ganz andere Richtung gehen. Entscheidungen über Rüstungsexporte, über Kriegswaffenexporte, die müssen vom Bundestag getroffen werden, die müssen hier öffentlich im Parlament und vor der Öffentlichkeit, vor der Bevölkerung diskutiert werden können.
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Ich sage das nicht nur als Parlamentarierin, sondern auch als überzeugte Linke. Meine Fraktion ist die einzige Fraktion hier im Deutschen Bundestag, die Rüstungsexporte eigentlich generell verbieten will.
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Es ist nicht einzusehen, dass weiter grünes Licht für das Geschäft mit dem Tod gegeben werden soll. Alle Erfahrung zeigt, dass deutsche Rüstungsexporte mit dazu beitragen, weltweit Spannungs- und Kriegsgebiete zu schaffen oder zu befeuern. Es darf nicht sein, dass der Profit der Rüstungsschmieden, die davon profitieren, für uns quasi von existenzieller Bedeutung ist.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Existenzielle Sicherheitsentscheidungen müssen wieder im Deutschen Bundestag getroffen werden, wo sie von 1949 bis 1955 in der Bundesrepublik auch getroffen wurden, bis Konrad Adenauer seinen Verteidigungsrat gegründet hat.
Frau Kollegin.
Und deshalb: Nein zu diesem Antrag.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben vor etwa einem halben Jahr einen Antrag der FDP zum gleichen Thema behandelt. Herr Kollege Lambsdorff, so gut war der auch wieder nicht.
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– Bestimmt! Ich gebe aber zu: Verglichen mit dem, was jetzt hier vorliegt, war der brillant – einverstanden.
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Jetzt hat die AfD einen Antrag mit einem ähnlichen Titel vorgelegt. Nachdem ich ihn gelesen habe, frage ich jetzt mal mit den Worten meines großartigen niederbayerischen Kollegen Erhard Grundl: Braucht’s des?
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Ehrlich gesagt: Nein.
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Das einzig Spannende daran sind die Grundsätze, die Sie formulieren und die einen sehr, sehr tiefen Einblick in Ihre Gedankenwelt geben: Absage an die NATO, Absage an die Europäische Union. Die Vereinten Nationen seien einfach „eine internationale Organisation“; so werden sie betitelt. Und dann fordern Sie von der Bundesregierung, sie möge hier bitte „eine nationale Sicherheitsstrategie für die nächsten zwanzig Jahre“ vorlegen.
Vor 20 Jahren hatten wir das Jahr 2000. 9/11 ist seitdem passiert, die Besetzung der Krim ist seitdem passiert, die Cyberwelt ist komplett explodiert; das ist eine ganz andere Welt. Was wir 2000 zusammen aufgeschrieben hätten, hätte heute null Komma null Bestand. Was sagt uns das? Sie wollen in eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Und das ist das Problem.
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Das ist nicht nur in diesem Themenbereich so; das sieht man in ganz vielen Bereichen. Das sieht man beispielsweise auch daran, dass Deutschland – ich zitiere – „seine Wirtschaftsinteressen aktiv … gegenüber internationalen Wettbewerbern“ verfolgen soll. Die Mittel beschreiben Sie nicht genau; aber die schreiben Sie ja in die Sicherheitsstrategie und nicht in die Wirtschaftsstrategie. Das mutet ein bisschen nach Kanonenbootpolitik an; aber wir werden das hoffentlich niemals erfahren.
Dann wird es besonders spannend, wenn Sie sagen, es gehe hier um den Schutz der Souveränität. Ja, wir sind alle für den Schutz der Souveränität. Aber bei uns in den Reihen gibt es keine Abgeordneten, über die die russischen Sicherheitsbehörden schreiben, sie seien unter kompletter Kontrolle derer. Deshalb ist die Frage: Wer tritt hier eigentlich für Souveränität ein, und wer hat sie längst verkauft? Insofern müssen wir uns von Ihnen nun wirklich nichts sagen lassen.
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Das Problem ist: Es ist ja richtig, dass wir mehr Kohärenz brauchen. Aber die Kohärenz darf nicht „versicherheitlicht“ werden; das ist das, was Sie machen. Es gibt ja Gruppen, die tatsächlich Kohärenz schaffen, beispielsweise die GKKE oder die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, die eine wundervolle Arbeit mit zu wenig Mitteln und auch zu wenig Andockung an die Administration machen.
Und ja: Es ist sehr misslich, wenn der Außenminister auf einer Pressekonferenz in Istanbul erfährt, was die Verteidigungsministerin von sich gegeben hat, die ihm aber eine SMS geschrieben hatte. Und dann ruft der Außenminister dazu auf, dass es eine Lateinamerika-Initiative geben soll, und vier Monate später kommt dann der Minister für Entwicklungszusammenarbeit und streicht einfach fast alle Gelder, die es für Lateinamerika gibt. Das ist keine Kohärenz. Für Kohärenz braucht es politischen Willen, und den gibt es in dieser Bundesregierung nicht. Das ist extrem bedauerlich. Für all das braucht es aber keinen Nationalen Sicherheitsrat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Nächster Redner ist der Kollege Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der AfD ist bemerkenswert. Bemerkenswert ist etwa – das wurde schon angesprochen – die Überschrift. Dann fällt er aber stark ab. Deswegen muss man bemerken, dass er viel zu eng im nationalen Kontext verhaftet ist: Alles rein national, deswegen irrational. Denn Sicherheit ist heute eine gesamtgesellschaftliche und eine staatliche Aufgabe, und sie ist im internationalen Kontext zu sehen.
Dabei ist umfassend zu beachten, dass die Bürger einen Anspruch auf Sicherheit haben und dass sie auch bereit sind, ihre Freiheitsrechte ein Stück weit einschränken zu lassen, verbunden mit dem Anspruch, dass der Staat Schutz liefert. Die Verantwortung für diesen Schutz allein einem Rat zu übertragen, das ist zu kurz gedacht, meine Damen und Herren. Wir müssen im Verhältnis von Sicherheit und Freiheit viel mehr Maß und Mitte finden. Und hier beginnt das Problem mit dem Antrag der AfD: Sie finden kein Maß und keine Mitte. Das ist auch gestern in der gesundheitspolitischen Debatte über den Anspruch der Bevölkerung auf Gesundheitsschutz deutlich geworden: Sie ignorieren einfach den Anspruch der Bevölkerung auf Schutz vor der Covid-19-Gefahr und verunsichern die Bevölkerung. Diese Art von Sicherheitsstruktur brauchen wir in Deutschland nicht. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab, meine Damen und Herren.
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Die AfD glaubt, mit Einrichtung einer Ministerialstelle im Kanzleramt Sicherheitsvorsorge abbilden zu können. Wir vertrauen der Ministerialbürokratie; aber wir vertrauen nicht der AfD, die dem Parlament die Sicherheitsdebatte quasi mit Gewalt entziehen will und hier die Axt anlegt. Wir haben erprobte Grundsätze der repräsentativen Demokratie und des Parlamentarismus für den Umgang mit einer umfassenden Verantwortung für unser Land.
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Sie suggerieren Souveränität „in einem prosperierenden Europa“ – so steht es in dem Antrag –, ignorieren aber gleichzeitig die Verletzung souveräner Staaten. Hier ist die völkerrechtswidrige Annexion der Krim genannt worden; das ist eben auch von Herrn Nouripour angesprochen worden. Nicht das Recht des Stärkeren ist maßgeblich, sondern für uns ist maßgeblich, dass die Souveränität vom Souverän abgebildet wird und dass wir in der Lage sind, uns jeder sicherheitspolitischen Herausforderung zu stellen, 24/7/365, und das 360 Grad. Das ist souverän! Man kann nicht die Leitlinien für 20 Jahre festlegen, wie das hier im Antrag steht. Ihr Antrag spiegelt zwar Ihren begrenzten nationalen Ansatz wider; aber er ignoriert völlig die globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen.
Wir haben den Anspruch, Probleme multilateral zu lösen, und zwar nicht immer nur militärisch, nein, vielmehr im Rahmen eines vernetzten Ansatzes: diplomatisch, bildungspolitisch, wirtschaftspolitisch, eingebunden in Institutionen wie NATO, EU, OSZE, VN. Das ist die Strategie. Die Bundesverteidigungsministerin hat sehr deutlich gemacht, dass wir die transatlantische Achse wieder stärken wollen, dass wir zusammen mit Frankreich in Europa deutlich machen wollen: Gemeinsam schaffen wir Frieden, nicht rein national, wie Sie das anstreben. Wir wollen verlässliche Strukturen abbilden und gemeinsam Verantwortung übernehmen für Frieden und Freiheit in einem vereinten Europa. Das ist unsere Verantwortung. Deswegen ist es verantwortungsvoll, Ihren Antrag abzulehnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mutter aller nationalen Sicherheitsräte ist der amerikanische. Es handelt sich um eine 1947 geschaffene Regierungsbehörde, in der sich mehrere Minister und die Direktoren der Sicherheitsbehörden versammeln und die vom Präsidenten persönlich geleitet wird. An diesem Beispiel orientiert sich die in regelmäßigen Abständen wiederholte Forderung, auch in Deutschland einen Sicherheitsrat einzuberufen. Begründet wird der Vorschlag regelmäßig mit der Notwendigkeit einer besseren Abstimmung der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Handels- und Entwicklungspolitik, um endlich weltpolitikfähig zu werden. Wie wir von Roderich Kiesewetter gehört haben, sind die Aufzählung und das Eigenschaftswort selbst allerdings Zitate aus der Grundsatzrede der Bundesverteidigungsministerin, die sie vorgestern hielt.
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Besonders laut erschallt der Ruf nach dem Sicherheitsrat aus dem Bereich Sicherheit und Verteidigung. Ein Blick in die Geschichte des amerikanischen Vorbilds erklärt auch, warum. Der Sicherheitsrat hat dort den Einfluss des Verteidigungsministeriums auf die Außenpolitik massiv gestärkt. Sein allererster Rat an Präsident Truman lief auf eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsetats hinaus.
Ich habe Verständnis für jede Amtsinhaberin oder jeden Amtsinhaber im Bendlerblock, die oder den dieses Vorbild spontan überzeugt. Es ist dennoch für unsere politischen Verhältnisse nicht geeignet; denn anders als die USA ist Deutschland keine Präsidialdemokratie. Die Koordination der Politikfelder muss bei uns zwingend im Kabinett erfolgen, weil es sich aus den gleichen Koalitionspartnern zusammensetzt wie die jeweilige parlamentarische Mehrheit. Ein sicherheitspolitisches Nebenkabinett kann dazu ebenso wenig etwas beitragen, wie eine scheinbar objektive Regierungsbehörde kein Ersatz für politische Willensbildung sein kann.
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Die Aufgabe, die Koordinierung vorzubereiten, auch unter Einbeziehung der Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste, liegt im Kanzleramt; da gehört sie auch hin. In den letzten sieben Jahren war die so koordinierte politische Willensbildung durchaus erfolgreich. Auch ohne Sicherheitsrat hat die Koalition den Notwendigkeiten Rechnung getragen und zum Beispiel die Verteidigungsausgaben bis 2021 um insgesamt bald 50 Prozent erhöht. Die zitierte Weltpolitikfähigkeit unseres Landes hängt vom Konsens der Regierungskoalition ab, nicht von einem Nationalen Sicherheitsrat. So funktioniert unser politisches System, und es funktioniert gut. Die SPD-Fraktion will daran nichts ändern.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Felgentreu. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen der AfD, schön, dass Sie sich dem Thema Sicherheit widmen. Mit Blick auf gestern ist das zynisch.
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Vielleicht kümmern Sie sich erst mal darum, dass alle Ihre Fraktionsmitglieder die Sicherheit dieses Hauses respektieren.
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Dann können wir gern auf das Thema nationale Sicherheit blicken.
Da fällt Ihnen also am Dienstag, eine gute Stunde nach der beeindruckenden Rede unserer Verteidigungsministerin, ein, dass Sie mal einen Antrag zum Thema nationale Sicherheit machen. Dazu schnappen Sie sich die Überschrift aus der Rede der Ministerin: Wir brauchen einen Nationalen Sicherheitsrat. Vielleicht hätten Sie noch mehr übernehmen sollen; dann wäre der Antrag vielleicht besser geworden. Sie listen außen- und sicherheitspolitische Grundsätze auf und reden unter anderem davon, dass sich Deutschland wirtschaftlich von Europa abkoppeln soll. Da kann man nur den Kopf schütteln.
Aber besonderes Kopfschütteln ruft bei mir hervor, dass Sie von Sicherheit reden und in Ihrem Antrag kein einziges Mal die NATO und transatlantische Beziehungen erwähnen.
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Dieser Antrag ist deshalb abzulehnen, meine Damen und Herren. Das hat mit der Realität unserer Sicherheitspolitik nichts zu tun.
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Es ist klar, dass wir unsere Sicherheitsarchitektur weiterentwickeln müssen. Die Herausforderungen ändern sich. Die strategische Gesamtlage ändert sich. Da ist es nur selbstverständlich, dass wir über effiziente Entscheidungsprozesse nachdenken müssen. Ich möchte hier betonen: Die CSU und die Unionsfraktion haben schon in der Vergangenheit einen Nationalen Sicherheitsrat gefordert und Grundsatzpapiere vorgelegt. Das „Weißbuch 2016“, unser letztes großes Dokument, ist auf unsere Initiative hin entstanden. Und ich sage ganz entschieden: Der Sicherheitsrat muss spätestens in der nächsten Legislatur angegangen werden.
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Lassen Sie mich hier noch sagen: Wenn wir über Sicherheit und Strategie reden, dann müssen wir auch über unsere Bundeswehr sprechen. Hier stehen wir an einem entscheidenden Punkt:
Erstens. Haushaltsfragen werden infolge der Pandemie schwieriger. Wir müssen aber schauen, dass in den nächsten Jahren trotzdem genug Geld in unsere Bundeswehr fließt. Weder globale Entwicklungen noch die Notwendigkeiten unserer Streitkräfte warten darauf, dass Corona vorbei ist.
Zweitens müssen wir auch deshalb weiter in unsere Bundeswehr investieren, weil wir jetzt die Chance auf einen transatlantischen Neubeginn haben, und diesen wollen wir nutzen. Das politische Klima wird mit Joe Biden besser werden, aber auch er wird fordern, dass Europa seine Versprechen hält. Und das wollen wir auch.
Meine Damen und Herren, für mich steht fest: Für strategische Klarheit und effiziente Entscheidungsprozesse brauchen wir einen Nationalen Sicherheitsrat. Wir brauchen auch einen klar definierten sicherheitspolitischen Weg für unser Land. Den wird die Unionsfraktion entschlossen mitgestalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hatte mit dem Gute-KiTa-Gesetz damit begonnen, Gesetzen Namen zu geben, die man sich endlich merken kann. Leider wird sich vermutlich kaum jemand an das Gesetz erinnern, das wir jetzt in zweiter und dritter Lesung hier beraten, nämlich das Gesetz zur Anpassung der Ergänzungszuweisungen des Bundes nach § 11 Absatz 4 des Finanzausgleichsgesetzes und zur Beteiligung des Bundes an den flüchtlingsbezogenen Kosten der Länder.
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Eigentlich ist das total schade; denn mit diesem Gesetz und den Vorgängergesetzen unterstützen wir von Bundesseite seit 2015 die Länder und Kommunen sehr verlässlich bei der Integration von Geflüchteten. In diesem Gesetz sind es 653 Millionen Euro.
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Hinzu kommt die Unterstützung kleinerer Bundesländer durch eine Erhöhung der sogenannten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen um 103 Millionen Euro pro Jahr und vor allem – das ist besonders wichtig in diesem Gesetz – auch durch eine Unterstützung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst in Höhe von 200 Millionen Euro als erste Tranche von insgesamt 3,1 Milliarden Euro in den nächsten Jahren. Das nehmen wir in die Hand, damit wir sofort, aber auch in den nächsten Jahren mehr Personal für den Gesundheitsdienst gewinnen können, damit wir die Digitalisierung voranbringen und die Strukturen modernisieren können, damit wir aber auch die Attraktivität des öffentlichen Gesundheitswesens steigern können.
Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass man dieses Gesetz auch hätte nennen können „Die-Koalition-hält-Wort-Gesetz“ oder „Bund-und-Land-Hand-in-Hand-Gesetz“. Das würde jedenfalls ziemlich gut passen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich das mal in Gänze an: 5 Milliarden Euro beim DigitalPakt Schule, vier Kitainvestitionsprogramme mit insgesamt 4,4 Milliarden Euro, 3 Milliarden Euro beim Onlinezugangsgesetz, weitere Investitionen in die Bereitschaftspolizeien der Länder, 5,5 Milliarden Euro beim Gute-KiTa-Gesetz und ein paar Milliarden Euro beim erst vorhin beschlossenen Ganztagsfinanzierungsgesetz.
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Das alles zeigt an: Der Bund nimmt seine gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahr und unterstützt Länder und Kommunen. Das gilt auch, aber eben nicht nur, in Zeiten einer Pandemie.
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Uns – das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen – kommt es in erster Linie darauf an, die Probleme der Menschen zu lösen und die Herausforderungen in unserem Land anzugehen. Dafür interessieren sich, meine ich, die Menschen viel mehr als für die Frage, wer jetzt akribisch ganz genau wofür zuständig ist.
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Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss man sagen: Dieses Gesetz liefert sehr viel Gutes, auch Klarheit. Auch wenn der Name etwas holprig geraten ist, sagen wir: Hier muss man zustimmen. Ich glaube, es täte uns allen sehr gut, wenn wir hier eine breite Mehrheit zustande bringen könnten.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank Herr Kollege Gerster. – Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen bedanken, die ihre Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, wenn sie ihre Maske nicht im Gesicht tragen. Das erspart mir Ordnungsrufe, und das ist doch schön. Die sozialdemokratischen Freunde wissen, wen ich meine. Also, es geht doch.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Boehringer, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Ziel des heute vorliegenden Gesetzentwurfes ist neben zwei technischen Anpassungen die Fortführung flüchtlingsbezogener Zahlungen an die Bundesländer: 500 Millionen Euro pro Jahr für neu ankommende oder für bereits abgelehnte Asylbewerber. Nach fünf Jahren solcher Zahlungen könnte man fast schon von einem Routinevorgang sprechen, und genau das hat mein Vorredner auch mehr oder weniger getan. Doch das sollte keine Routine sein, wenn nach so langer Zeit Asylbewerber noch immer ungesteuert nach Deutschland kommen.
Dabei umfasst der vorliegende Gesetzentwurf nur einen ganz kleinen Teil dieser Kosten. Über den ganzen Bundeshaushalt hinweg reden wir von jährlich über 6 Milliarden Euro, mit denen der Bund die Migrationskosten kompensiert, etwa über die eben beschlossene Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft sowie über viele andere Integrations- und Sozialprogramme. Das sollte man nicht vergessen, wenn man heute nur über diesen kleinen technischen Teil spricht. Alle diese Milliarden sind zu einem guten Teil Migrationsfolgekosten, auch wenn die Bundesregierung trotz vieler Nachfragen eine genaue Quantifizierung dieser Maßnahmen ganz konsequent verhindert.
Warum wohl ist der Bund seit 2016 so großzügig bei der Kompensation für die Länder? Die Antwort ist einfach: Wie auch an vielen anderen Stellen erkauft sich die Regierung in Sachen Integration das Wohlwollen der Landesfinanzminister und indirekt auch der kommunalen Kämmerer, die über die Landeszuweisungen ebenfalls stark entlastet werden.
Die Versorgung der Flüchtlinge ist für die Länder und die Kommunen sehr teuer. Die Migrationspolitik wäre alleine schon wegen der Kosten bei Lokalpolitikern schon lange nicht mehr mehrheitsfähig. Der Bund beseitigt darum per Geldzuweisung den Widerstand der Länder und Gemeinden gegen eine Migrationspolitik, die ohne Kompensations- und Schweigegeld in bürgernahen Kommunen schon lange nicht mehr durchsetzbar wäre.
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Die Zustimmung wird dabei inzwischen nicht mehr nur mit Steuergeld, sondern seit 2020 auch mit Neuverschuldungsgeld erkauft. Die Perspektive der Länder und Kommunen ist dabei durchaus verständlich: Das mit den Flüchtlingen war 2015 die Idee von Frau Merkel, also soll der Bund gefälligst dafür zahlen.
Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Richtig wäre einfach ein grundlegender Politikwechsel:
Erstens. Wer nicht asylberechtigt ist, der kommt nicht ins Land. Man denke etwa an rechtlich durchaus zulässige Asylprüfungsverfahren in Afrika. Wieso ist man nicht längst dazu übergegangen? Wenn man Asylanträge in den Herkunftsländern stellen könnte, würde man die ganze Schlepperindustrie schlagartig trockenlegen; es gäbe dann auch keine Ertrinkenden mehr im Mittelmeer.
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Zweitens. Wer nicht bleibeberechtigt ist, der muss leider gehen. In den Niederlanden prüft man Asylanträge in unter acht Monaten. Bei uns dauert das doppelt so lange, und selbst nach Ablehnung der Anträge werden sehr oft keine Abschiebungen durchgeführt. All das wäre extrem effektiv, auch bezüglich der Kosten – von sonstigen Schäden durch geduldete Gefährder, Islamisten und Kriminelle ganz zu schweigen. Ist das Populismus? Nein, es ist reine Empirie und Mathematik.
Richtig wäre zudem, Fluchtursachen abzustellen. Die größte aller Fluchtursachen nach Deutschland, das sind neben der Bevölkerungsexplosion in Afrika und Arabien genau die Sozialleistungen, die hierzulande für Migranten bereitgehalten werden. Doch diese Ursache wird mit dem Gesetz heute überhaupt nicht angegangen, und deshalb lehnt die AfD-Fraktion den Gesetzentwurf ab. Es gibt kein richtiges Verhalten im falschen System. Gehen Sie endlich die Ursache an, anstatt sich immer wieder mit Geld aus dem Problem herauszukaufen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Boehringer. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Sie können sich vorstellen: Ich lege in meiner Rede einen etwas anderen Schwerpunkt.
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„Gesetz zur Anpassung der Ergänzungszuweisungen des Bundes nach § 11 Absatz 4 des Finanzausgleichsgesetzes und zur Beteiligung des Bundes an den flüchtlingsbezogenen Kosten der Länder“ – was für ein sperriger Titel! Dahinter verbergen sich drei Themenschwerpunkte:
Erstens. Eine technische Korrektur: Es gibt besondere Ergänzungszuweisungen an empfangsbedürftige Länder für hohe Kosten der politischen Führung. Das sind Zuweisungen an zehn Länder. Dahinter verbirgt sich eine Berechnung des Statistischen Bundesamtes. Das verursacht 114 Millionen Euro Mehrbelastung beim Bund; insoweit in Ordnung.
Zweitens: die erste Tranche von 200 Millionen Euro von zugesagten 3,1 Milliarden Euro für den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Das ist eine Umsetzung des Beschlusses der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder von Ende September dieses Jahres. Damit werden drei Ziele verfolgt: den Personalbestand in den öffentlichen Gesundheitsämtern zu erhöhen, die Attraktivität des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zu erhöhen – dafür wird auf der Länderebene ein Maßnahmenbündel sicherlich individuell erarbeitet werden –, und die Aus-, Fort- und Weiterbildung im Öffentlichen Gesundheitsdienst soll gesteigert werden.
Wir wissen doch alle – wir kriegen das doch jetzt mit –, dass bei dieser Dynamik der Pandemie die öffentlichen Gesundheitsämter an die Leistungsgrenze kommen. Die Inzidenzwerte und die Infektionszahlen sind so hoch, dass die Infektionsketten nicht mehr verfolgt werden können. Wie löst man das Problem pragmatisch? Man löst es pragmatisch durch Amtshilfe der Bundeswehr in vielen Bereichen. Das zeigt aus meiner Sicht mal wieder die Leistungsfähigkeit und ‑willigkeit der Soldatinnen und Soldaten, und deswegen an dieser Stelle einen herzlichen Dank an die Truppe!
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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden aus verschiedenen Bereichen in den Verwaltungen abgezogen. Sie bekommen eine kurze Einweisung und verfolgen dann die Infektionsketten. So kann man sich kurzzeitig helfen. Aber das führt ja nicht weiter; denn sie fehlen an anderen Stellen. Das ist ja logisch. Die Aufgaben bleiben liegen. Deswegen ist es so wichtig, den Personalbestand in den öffentlichen Gesundheitsämtern zu erhöhen. Deswegen wundert mich an dieser Stelle, dass die erste Tranche von 200 Millionen Euro im Vergleich zu der insgesamt zugesagten Summe so gering angesetzt ist.
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Aber dieser Betrag ist mit den Ländern abgestimmt, er ist so vereinbart, und deswegen schreiben wir ihn fest. Und die Länder müssen an dieser Stelle auch die zweckentsprechende Verwendung der Mittel nachweisen,
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und da sei mir die Anmerkung erlaubt: Darauf werden wir auch achten.
Der dritte Schwerpunkt in diesem Gesetz: die Kompensationszahlung an die Länder zum Ausgleich der Kosten für Asylbewerber. Mein Vorredner hat das ausführlich aus seiner Sicht beschrieben; ich habe eine andere Meinung dazu. Das Verfahren ist seit 2016 eingeübt. Wie funktioniert es? Es werden zuerst Abschlagszahlungen anhand der geschätzten Asylbewerberzahlen geleistet und im Nachgang dann eine Spitzabrechnung anhand der tatsächlich ermittelten Zahlen, tagesgenau anhand der tatsächlich ermittelten Zahlen. Und was wird gezahlt? 670 Euro pro Monat pro Asylbewerber von dem Zeitpunkt der Registrierung bis zur ersten Entscheidung des BAMF und einmalig 670 Euro für jede ablehnende Entscheidung. Auch hier liegt eine politische Entscheidung zugrunde: Die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, dass dieses Verfahren im Jahre 2020 und 2021 fortgesetzt werden soll.
Eine Anmerkung an dieser Stelle: Hochgerechnet bedeuten die aktuellen Zahlen, dass wir in diesem Jahr 120 000 Asylbewerber erwarten. Die Zahlen sind bei Weitem nicht mehr so hoch wie 2015 und 2016. Und deshalb ist aus meiner Sicht finanzpolitisch, haushalterisch irgendwann der Punkt gekommen, dass man mal wieder zu der ursprünglichen Kostenteilung zwischen Bund und Ländern zurückkehren müsste,
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so wie die Kostenteilung auch gesetzmäßig vorgesehen ist; denn diese Zahlen kennen wir auch aus vorangegangenen Jahren oder Jahrzehnten. Die Länder – das haben wir auch schon bei den Vorrednern gehört – werden bei unserer länder- und kommunalfreundlichen Politik in dieser Hinsicht finanziell nun wirklich nicht überfordert.
Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, entlastet dieses Gesetz die Länder, insbesondere die kleineren, und Kommunen um rund 1 Milliarde Euro – ein weiteres Beispiel für länder- und kommunalfreundliches Handeln dieser Bundesregierung und des Bundes.
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Ich schätze, wenn die Debatte zu einer anderen Zeit stattgefunden hätte, wäre sie natürlich von vielen Vertretern der Länderebene begleitet worden,
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die das alles ordnungsgemäß gewürdigt hätten. Ich unterstelle mal: Es liegt schlicht und ergreifend an der Zeit, dass die Länderbank nicht vollzählig besetzt ist.
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Es darf nicht zur Selbstverständlichkeit werden, dass wir hier immer wieder Länder und Kommunen ordnungsgemäß und mit aller Kraft entlasten.
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Wir müssen auch mal wieder auf die ursprünglichen Zuständigkeiten und die Finanzverantwortung zurückkommen.
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Wir müssen aufpassen, dass wir auch und gerade als Bund unsere finanzielle Leistungsfähigkeit im Auge haben. Sondersituationen, in denen wir helfen wollen und in denen wir helfen werden, müssen auch irgendwann wieder auslaufen, wenn die Grundlage für diese Hilfe nicht mehr gegeben ist.
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Dann kommen wir Schritt für Schritt wieder zu der ursprünglichen Aufteilung zurück: Finanzverantwortung und Aufgabenverantwortung Hand in Hand und nicht zu viele Mischverwaltungstatbestände.
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Das wäre mal ein Schritt in die richtige Richtung; aber wir haben Vereinbarungen getroffen, die werden eingehalten, die schaffen Vertrauen. Daran halten wir uns auch, und deswegen werden wir dieses Gesetz beschließen. Ich empfehle allen die Zustimmung, aber bitte unter Berücksichtigung der einen oder anderen Anmerkung von mir.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Und nun hören wir die Worte des Kollegen Otto Fricke, FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzter Herr diensthabender Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Berghegger, die Worte zum Bund-Länder-Verhältnis höre ich wohl, allein mir und meiner Fraktion fehlt der Glaube.
Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf – er wurde vom Kollegen Berghegger gut erläutert – ist nichts anderes als eine Ausführung dessen, was die Regierungsebenen von Bund und Ländern beschließen und wodurch Milliarden vom Bund an die Länder fließen. Damit wir das hier noch mal klarmachen: In diesem Jahr hat der Bund 30 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen als die Länder; im nächsten Jahr sind es 25 Milliarden Euro weniger. Und dennoch rühmt sich die Koalition, dass sie den Ländern neben all den anderen Hilfen, die wir schon geben, eine weitere Milliarde zukommen lässt. Das ist nicht die Wahrnehmung von bundespolitischer Verantwortung, sondern das ist Geld geben, um Ruhe zu haben. Da macht die FDP nicht mit.
({0})
Im Einzelnen. Bei der Frage der Verrechnung habe ich große Zweifel: Ob die Kosten für Asylsuchende und abgelehnte Asylbewerber nachher wirklich spitz abgerechnet werden oder ob wir nur eine Zwischenabrechnung bekommen, werden wir dann sehen. Wir hatten mal eine Asylrücklage des Finanzministers von 45 Milliarden Euro; sie ist inzwischen auch anderswohin diffundiert. Sie nennt sich „allgemeine Rücklage“ und wird für Schulden verwendet, von denen man noch gar nicht weiß, wie hoch sie sein werden.
Übrigens: Es wird vergessen, dass ein weiteres Gesetz geändert wird ‑das wird nämlich übersehen –: das Zukunftsinvestitionsgesetz. Da wird mal eben gesagt: Das Gesetz wird aufgehoben, damit es nicht noch Schadensersatzansprüche des Bundes gegenüber den Ländern geben könnte. – Auch da geben wir den Ländern, die wirklich sehr zahlreich hier vertreten sind – Ironie aus –, Möglichkeiten, sich finanziell besserzustellen.
Der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, 200 Millionen Euro. Ja, schön! Warum nur 200 Millionen? Genau! Haben wir jetzt ein dringendes Problem im Öffentlichen Gesundheitsdienst, ja oder nein? Und wenn es dringend ist: Wieso werden dann von den angeblich versprochenen 4 Milliarden Euro nur 200 Millionen Euro bereitgestellt? In der Sache geht man in die richtige Richtung, aber faktisch kommt man ja noch nicht einmal aus dem Startblock heraus. Da sollen wir zustimmen? Nein, das werden wir nicht!
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Schließlich. Wer will, der lese sich einfach mal den Gesetzentwurf durch, wenn es um die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen – das ist für mich das Schönste – geht, um dieses wunderbare Gesetz noch mal in Teilen zu zitieren. Da steht direkt am Anfang, dass mit diesem Gesetz kleine leistungsschwache Länder wegen der Kosten der politischen Führung vom Bund Geld brauchen: kleine leistungsschwache Länder. Von den 16 Ländern sind danach 10 Länder leistungsschwach, obwohl sie 30 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen als der Bund haben. Ich nenne Ihnen mal einige Beispiele: Schleswig-Holstein: kleines leistungsschwaches Land; Sachsen: kleines leistungsschwaches Land. Ernsthaft? Ist das wirklich Ihre Meinung? Und dafür geben wir dann am Ende 600 Millionen Euro?
Ich finde, dazu kann einem nur Shakespeare einfallen – damit möchte ich dann auch enden –: Hamlet, zweiter Aufzug, zweite Szene. Polonius: Ich dachte, es wäre Wahnsinn und doch steckt Methode dahinter. – Eine Methode, der meine Fraktion nicht folgen wird.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Fricke. – Da sich Ironie im Protokoll so schlecht vermitteln lässt, stelle ich fest, dass die Bundesratsbank nicht besetzt ist.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lange hat es gedauert, doch jetzt erhalten Länder und Kommunen vom Bund endlich die versprochenen Gelder für die sogenannten flüchtlingsbezogenen Kosten. Das wurde höchste Zeit, und darum wird Die Linke diesem Gesetz auch zustimmen, meine Damen und Herren.
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Aber wenn wir hier über flüchtlingsbezogene Kosten in Deutschland sprechen, dürfen wir auf keinen Fall die Situation von geflüchteten Menschen vergessen, die vor und hinter den Mauern Europas unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden. Das muss endlich ein Ende haben, meine Damen und Herren.
({1})
Rund 200 deutsche Städte, Gemeinden und Landkreise haben sich bereit erklärt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Ich finde, meine Fraktion findet: Das ist gelebter Humanismus. Das muss von der Bundesregierung unterstützt und darf nicht blockiert werden.
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Wir fordern also die Bundesregierung auf, dieses Angebot endlich anzunehmen und nicht weiter zu blockieren.
Sie wissen alle: Die Situation auf Lesbos ist seit Jahren absolut unzumutbar. Was muss eigentlich nach Coronaausbrüchen, Feuern, Überschwemmungen und Angriffen von Rechtsextremen noch passieren, dass die Menschen endlich dort rausgeholt werden? Das ist unwürdig. Die Europäische Union muss hier endlich handeln – und natürlich auch die Bundesregierung, meine Damen und Herren.
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Auch auf dem griechischen Festland müssen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren, oft ohne Zugang zu sanitären Anlagen, Wasser und ausreichend Nahrung. Diese Menschen müssen sofort evakuiert werden. Ich finde, wir müssen doch wenigstens damit anfangen, Menschenrechte in Europa durchzusetzen.
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An Geld – das haben wir ja in den letzten Wochen oft genug erlebt – kann es nicht liegen. Schauen Sie sich mal die Berechnung der Bundesregierung an, was eigentlich so alles flüchtlingsbezogene Kosten sind. Da sträuben sich einem doch die Haare, wenn man liest, dass zum Beispiel auch Auslandseinsätze der Bundeswehr da eingerechnet werden.
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Damit werden die Kosten extrem hochgetrieben, künstlich hochgezogen,
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und mit diesen hohen Kosten wird auch Rechtsextremen in die Hände gespielt. Das dürfen wir nicht dulden, meine Damen und Herren.
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Sie haben wahrscheinlich heute alle den Medien entnommen, dass der Senat von Berlin, die Regierung von Berlin, jetzt den Bundesinnenminister Seehofer vor dem Bundesverwaltungsgericht verklagen will, damit er endlich die Aufnahme von Flüchtlingen gestattet. Ich finde, so einer Klage sollte es eigentlich nicht bedürfen. Die Bundesregierung muss aufhören, zu blockieren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Durch das dynamische Infektionsgeschehen wurden dieser Tage immer wieder neue Sicherheitsmaßnahmen notwendig. Bei alledem möchte ich heute eine Lanze für die Kommunen brechen: Sie haben sich in den letzten Monaten immer wieder neu auf die Umstände eingestellt. Sie haben schnell Maßnahmen zum Schutz der Menschen eingeleitet. Sie haben bewiesen, dass sie sehr fähige Krisenmanagerinnen sind. Dennoch sind mancherorts die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Insofern ist es gut, dass heute damit begonnen wird, den Öffentlichen Gesundheitsdienst besserzustellen. Dem werden wir auch zustimmen, auch oder gerade wegen des sperrigen Titels dieses Gesetzentwurfes.
({0})
Doch was braucht es für eine tatsächliche Verbesserung im Öffentlichen Gesundheitsdienst? Wie viele zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bräuchte es in den überlasteten Ämtern? Sicherlich nicht nur jeweils vier pro Behörde. Wann sollen sie ihren Dienst antreten können? Sicherlich nicht erst in der zweiten Hälfte nächsten Jahres. Mehr gibt dieses Gesetz an dieser Stelle aber leider nicht her. Gut gemeint ist eben nicht immer zwangsläufig gut gemacht. Es braucht mehr Mittel – und das schneller, und daher fordern wir fürs nächste Jahr 150 Millionen Euro zusätzlich.
({1})
Der Bund muss die Gesundheitsämter bestmöglich unterstützen, und die Finanzhilfen dürfen nicht mit der Gießkanne verteilt werden. Sie müssen zielgerichtet dort ankommen, wo die Ämter ihrer Arbeitsbelastung kaum noch Herr werden.
Ein weiterer Schwachpunkt des Gesetzentwurfs ist, dass unklar bleibt, wie es nach 2027 weitergeht. Dann sollen die Bundesmittel nämlich nicht mehr fließen. Jetzt eine Struktur aufbauen und nachher die Verantwortung für ihre Fortführung den Ländern vor die Füße kippen: Wir wissen von vielen anderen vergleichbaren Finanzierungen, welche Probleme das häufig mit sich bringt. Ich will dabei ausdrücklich nicht sagen: Der Bund muss weiter bezahlen. Aber ich finde: Der Bund muss gemeinsam mit den Ländern die Verantwortung übernehmen, wie wir die Strukturen aufrechterhalten.
({2})
Bei den Bedarfen für Geflüchtete ist es ganz ähnlich – deren Finanzierung hat das Gesetz ja auch zum Gegenstand –: Es ist gut, dass sich der Bund finanziell beteiligt, und es ist auch gut, dass die Bundesmittel jetzt doch noch spitz abgerechnet werden können. Aber die Hilfen erreichen nicht zwangsläufig die Orte, an denen sie am dringendsten benötigt werden.
Wir brauchen endlich ein bedarfsorientiertes überjähriges System, um die Flüchtlingskosten zu schultern. Jedes Jahr erneut dieses Geschacher zwischen Bund und Ländern ums Geld: Das ist unwürdig. Das ist auch nicht zweckmäßig. Auf diese Weise können die Kommunen kaum planen und auch der Bund nicht.
Gesundheitswesen, Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten und, und, und: Wir müssen die Krise nutzen und die Kommunen endlich in die Lage versetzen, ihre Aufgaben in Eigenverantwortung umzusetzen – und das am besten im Rahmen einer Gemeindefinanzreform. Denn auf die Kommunen kommt es an.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Die Kollegin Sonja Amalie Steffen, SPD-Fraktion, und der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin etwas eilig hier nach vorne gegangen, weil wir jetzt ein Thema besprechen, das das Wirtschaftsministerium betrifft, und weder der Minister noch irgendjemand anderes aus dem Ministerium, zum Beispiel ein Staatssekretär, zur Verfügung steht.
({0})
Ich frage Sie, Herr Präsident: Wie machen wir da weiter? Werden wir als Parlament inzwischen noch nicht mal so wahrgenommen, dass einer der Parlamentarischen Staatssekretäre sich bemüht, um 21 Uhr hier ins Plenum zu kommen?
({1})
Ich frage mich: Wie sollen wir damit umgehen? Sollen wir jetzt alle unsere Reden zu Protokoll geben?
({2})
Herr Kollege Houben, ich bin ja nicht derjenige, der beim Spiel „Sie fragen, ich antworte“ mitspielen muss.
Es wäre so schön gewesen.
Aber es gibt parlamentarische Möglichkeiten, die Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer auch kennt; jedenfalls andere Parlamentarische Geschäftsführer kennen sie.
({0})
Herr Staatsminister Hoppenstedt erklärt, man versuche, jemanden zu erreichen; es könne auch nicht so lange dauern. Ich weiß jetzt nicht, ob das die Intervention der Bundesregierung war, uns zu bitten, zu warten, oder so.
({1})
Aber da wir in einer Debatte sind, Herr Kollege Houben, haben Sie nach wie vor das Wort. – Es muss sich hierbei um eine Zwischenfrage handeln, Herr Kollege Thomae, bitte.
Ich habe mich schon gemeldet mit dem Antrag, den Minister herbeizurufen.
({0})
Sie bringen mich jetzt wirklich in Schwierigkeiten, Herr Kollege Thomae, weil in der Tat der Zwischenruf des wiedererwachten Kollegen Dehm „Nicht während einer Rede!“ zutreffend ist.
({0})
– Genau. – Ich würde mal sagen: Herr Kollege Houben, beenden Sie Ihre Rede, und danach werde ich diesen Geschäftsordnungsantrag zur Abstimmung aufrufen.
Gut. – Meine Damen und Herren, es ist deutlich: Wir haben Gründerwoche, aber das Interesse des Wirtschaftsministeriums ist scheinbar nicht nur im Plenum gleich null, sondern auch sonst. Es wird für diese wichtige Woche keine Werbung betrieben. Es wird nichts gemacht. Es finden Hunderte von Veranstaltungen in Deutschland statt, aber offensichtlich hat die Bundesregierung an jungen Gründern kein Interesse.
({0})
– Herr Hauptmann, wenn Sie meinen, mit solchen Zwischenbemerkungen die Fehlleistungen Ihrer Regierung kompensieren zu können, dann kann ich nur sagen: Sie müssen sich noch ein bisschen mehr bemühen.
({1})
Wichtig ist, meine Damen und Herren – –
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– Frau Staatssekretärin, ich begrüße Sie hier. Frau Winkelmeier-Becker, immerhin sind Sie gekommen. Besser spät als nie!
Dass Gründungen wichtig sind, haben wir auch aktuell zur Kenntnis nehmen können. Wir denken an die Covid-19-Impfstoffe. Interessanterweise wurde das betreffende Unternehmen von einem Ehepaar mit türkischen Wurzeln gegründet. Gerade Ausländer oder Menschen mit einem Migrationshintergrund sind besonders erfolgreich bei der Gründung von Unternehmen, und wir sollten sie besonders unterstützen.
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Wir haben in unserem Land ein enormes Potenzial. Wir leben davon, was die Menschen in Deutschland zwischen den Ohren haben, und nicht davon, was wir vielleicht unter unseren Füßen gerne hätten, nämlich Gold oder Öl. Wir brauchen also Anstrengungen, wir brauchen Engagement. An dieser Stelle möchte ich sagen: Wir sollten die Menschen mehr ermutigen.
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Gerade die Jugend muss ermutigt werden, den Weg zu gehen in Eigenverantwortung, in unternehmerische Tätigkeiten. Dazu trägt unser Antrag bei. Wir freuen uns auf die Debatte darüber. Und wir würden uns freuen, wenn Sie am Ende Ideen, die wir hier vorgetragen haben, dann auch aufnehmen würden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Houben.
Herr Kollege Thomae, da nun das Ministerium vertreten ist, vermute ich mal – auch wenn die Restaurants geschlossen sind und wir sonst nicht wissen, was wir tun sollen –, dass sich Ihr Antrag, den Minister herbeizuzitieren, damit erledigt hat.
Nach den Gepflogenheiten des Hauses kann auch ein Staatssekretär die Regierung vertreten.
({0})
– Auch diese kann das.
Wunderbar! – Dann erhält jetzt die Kollegin Astrid Grotelüschen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Herr Houben, ich glaube, ich habe den Antrag Ihrer Fraktion intensiver gelesen und werde mehr Inhalte vortragen, als Sie das gerade in Ihrer Redezeit getan haben.
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Macht ja nix! Der Antrag kommt ja noch in den Ausschuss; das ist so.
({1})
Der Antrag, über den wir heute beraten, ist betitelt mit „Mit Gründergeist aus der Krise – Neue Chancen für junge Unternehmer“. Mit dieser Überschrift findet er zunächst einmal mein Interesse.
({2})
Denn das Thema „Gründen“ ist insgesamt wichtig. Jede einzelne Gründung, egal ob als Neustart, in einer Unternehmensnachfolge oder als Start-up, als Dienstleistung oder im Handwerk, stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und natürlich auch die jeweilige Gründerregion. Deshalb gestalten wir als Union gemeinsam mit dem Wirtschaftsministerium, das nun dankenswerterweise durch die Staatssekretärin Elisabeth Winkelmeier-Becker vertreten ist, genau unter diesem Aspekt unsere Politik.
Die Coronapandemie hat Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ob sie jedoch dazu führt, dass es zu weniger Gründungsgeschehen kommt, ist aus meiner Sicht noch zu hinterfragen; Herr Houben, Sie haben das in Ihrem Antrag angesprochen. Wie heißt es doch so schön im Volksmund: Not macht erfinderisch. Das bedeutet einfach, dass es gerade in Krisen möglicherweise zu ganz wertvollen Impulsen kommt, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Ich kann sagen: Die aktuellen Gründungszahlen in meiner Heimat, im Landkreis Oldenburg, also in meinem Wahlkreis, lassen das hoffen. Sie sind jedenfalls stabil.
Im Gegensatz dazu zeichnen Sie von der FDP ein wirklich düsteres Bild. Sie sprechen vom Ende unserer Gründungskultur. Das gelingt Ihnen nur, weil Sie teilweise die Zahlen heraussuchen oder die Zusammenhänge herstellen, die genau dieses Bild bestärken sollen. Ich will deshalb Ihre im Fokus stehenden Aussagen auf der Grundlage der gleichen Daten um die positiven RKW-Zahlen ergänzen, die Sie uns vorenthalten haben.
Erstens. Wir können uns freuen über die höchste TEA-Gründungsquote im zweiten Jahr hintereinander. Sie liegt jetzt bei 7,6 Prozent.
Zweitens. Nach Angaben des RKW ist das Wachstum vor allem auf sehr junge Gründerpersonen, nämlich auf die Gruppen der 18- bis 24-Jährigen und der 25- bis 34-Jährigen, zurückzuführen.
Ich finde, beide Veränderungen sind wirklich Grund zur Freude. Wir haben insgesamt 10 Prozent mehr Menschen, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, als noch im Jahr 2018. Das zeigt: Wir sind mit unseren Maßnahmen insgesamt auf einem richtigen Weg, und wir setzen zielgerichtete Impulse für Gründerinnen und Gründer.
({3})
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Antrag versucht die FDP, insbesondere auf minderjährige Gründer einzugehen. Und das meinte ich eben damit, als ich sagte: Ich habe keinen Satz dazu gehört. „Versucht“ ist der richtige Ausdruck; denn es gelingt Ihnen nicht wirklich. Das liegt natürlich an der Argumentation und den daraus abgeleiteten Maßnahmen. Sie wechseln halt ganz oft die Perspektive: minderjährige Gründer, allgemeines Gründungsgeschehen.
Was den Antrag natürlich qualitativ – wenn ich das mal so sagen darf – herunterzieht,
({4})
ist die Tatsache, dass zu drei viertel Forderungen aufgestellt werden, die durchaus richtig sind, die aber nicht in die Gestaltungsmöglichkeit des Bundes fallen. So sprechen Sie zum größten Teil von Aufgaben, die die Kultus- und Bauministerien der Länder betreffen. Die Aufgaben reichen teilweise bis auf die Kommunalebene wie der geforderte günstige Miet- oder Arbeitsraum.
({5})
Ich kann als noch aktive Kommunalpolitikerin nur sagen: Wir haben doch hier auch eine Eigeninitiative. Sie ist gefragt und sollte auch dort bleiben. Auch hier nenne ich wieder als Beispiel meine Region mit dem Gründerzentrum Oldenburg, der Uni, der Wirtschaftsförderung, der örtlichen Handwerkskammer oder der IHK, die gemeinsam mit Seniormentoren und Meisterbetrieben wirklich beispielhaft für Gründer eintreten und sie begleiten.
Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht ausdrücklich auf Finanzierungsinstrumente eingehen, weil ich mich im Rahmen meiner Zeit nur auf die inhaltlichen Forderungen Ihres Antrags beziehen kann. Ich will deshalb zum Schluss kommen mit dem Hinweis auf die vor zwei Jahren erfolgreich gestartete Gründeroffensive des Wirtschaftsministeriums, die zehn zentrale Punkte für Gründungen definiert und auch eine Vielzahl modernisierter Maßnahmen umsetzt. Ich finde, ein klasse Format!
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Herr Houben, Sie haben es auch angesprochen: Die Gründerwoche ist ein Beispiel. Sie läuft noch bis Sonntag mit über 1 600 Akteuren. Die zentrale Botschaft in diesem Jahr ist: Mut machen. Denn, um mit den Worten von Walt Disney zu sprechen: „Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen.“ Genau deshalb sollten wir als Politik das tun. Wir sollten Mut machen und begleiten auf dem Weg zum Traumberuf des Gründers.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({7})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Kollegen von der FDP, Ihr Antrag heute kommt ja ganz unschuldig daher, so als ob es die vergangenen Monate überhaupt nicht gegeben hätte. Er sagt im Grunde, dass Sie überhaupt nicht verstanden haben, was in diesem Land gerade vorgeht – Gründerwoche hin, Gründerwoche her.
Es geht in diesem Moment nicht mehr darum, die Zahl der Unternehmensgründer wieder zu steigern. Es geht in diesem Moment nicht mehr darum, Rahmenbedingungen zu verbessern. Es geht in diesem Moment darum, freies Unternehmertum überhaupt zu retten, liebe Kollegen von der FDP.
({0})
Denn diese Regierung führt unser Land geradewegs in einen Staatsbankrott mit der Folge einer Staatswirtschaft, und in einer solchen haben Mittelstand und Start-ups keinen Platz mehr.
Natürlich beinhaltet Ihr Antrag ganz vernünftige Forderungen.
Die Etablierung eines Schulfachs „Wirtschaftslehre“ wäre gut und wichtig. Wichtiger wäre aber, dass es überhaupt wieder geregelten Unterricht an Schulen und Hochschulen gibt.
({1})
Die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für minderjährige Gründer ist richtig und auch wichtig. Wichtiger wäre aber, dass die Menschen überhaupt wieder ihren Berufen nachkommen können, dass die willkürlich verhängten Berufsverbote aufgehoben werden.
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Die Bereitstellung von mehr Wagniskapital für junge Unternehmen und Start-ups vor allem in der Wachstumsphase durch Zukunftsfonds ist richtig und wichtig.
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Wichtiger wäre aber eine Geldpolitik, die die elende Benachteiligung des Mittelstands zugunsten der Konzerne und Finanzinvestoren endlich beendet.
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Die Entbürokratisierung durch Digitalisierung von Verwaltung ist richtig und wichtig, besonders wichtig sogar; denn wenn die Exekutive hier besondere Anstrengungen unternimmt, hat sie vielleicht nicht mehr so viele Kapazitäten für die Einmischung in das Privatleben der Menschen.
Die wichtigste Forderung, meine Damen und Herren von der FDP, haben Sie in Ihrem Antrag allerdings vergessen, nämlich die nach der Wiederherstellung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Denn ohne die ist ein freies Unternehmertum, egal ob für jüngere oder für ältere Menschen, schlichtweg nicht denkbar.
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Auch wenn wir junges Unternehmertum besonders fördern wollen, dürfen wir nicht die Balance aus den Augen verlieren. Für den Wiederaufbau dieses Landes nach der Merkel-Ära werden wir mehr Unternehmer brauchen, werden wir mehr auch junge Unternehmer brauchen. Der vor dem Lockdown vorhandene Fachkräftemangel wird sich nach dem Lockdown eher noch verstärken. Auch die Landflucht wird eher zunehmen als sich umkehren. Besonders wichtig wird es also sein, die jungen Menschen auch an das Handwerk heranzuführen. Wir brauchen eben nicht nur Ingenieure, sondern auch Techniker. Das duale Ausbildungssystem muss gestärkt werden und attraktiver werden.
Wichtig wird sein, die ländlichen Räume zu stärken, indem besonders dort Schul- und Weiterbildung erhalten bleiben oder vielmehr erst wieder ermöglicht werden. Wichtig wird sein, dass mobiles Arbeiten gerade auch in den ländlichen Räumen durch massiven und beschleunigten Ausbau der digitalen Infrastruktur ermöglicht wird.
Meine Damen und Herren, Zivilisationsbrüche haben auch immer Chancen eröffnet. Nutzen wir sie gemeinsam für unser Land und für seine Bürger!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Komning. – Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kommen zu einer doch lebhaften Debatte heute Abend: Deutschland als Land der Dichter und Denker und – wir würden uns das natürlich alle wünschen – Deutschland als Land der Gründerinnen und Gründer. Es gibt Erfolgsgeschichten; CureVac ist erwähnt worden. Das ist, glaube ich, eine der Erfolgsgeschichten, die gerade in verdammt schwierigen Zeiten, wie wir sie als Land durchleben, Hoffnung macht, eine Erfolgsgeschichte eines jungen Unternehmens. Aber – das ist ja auch mehrfach angesprochen worden – wir haben auf dem Weg zu dem Ziel, vielleicht Gründungsland Nummer eins zu werden, in der Tat noch ein bisschen Wegstrecke vor uns.
Aber, Herr Houben, wenn Sie sich in Ihrem Antrag schon auf den RKW-Gründungsmonitor beziehen – da gebe ich der Kollegin Grotelüschen ausdrücklich recht –, dann müssen Sie eben auch das gesamte Bild an der Stelle abdecken, das in den Studien, die Sie anführen, dargestellt wird.
Meine Damen und Herren, der Start-up-Monitor aus dem letzten Jahr zum Beispiel hat deutlich gemacht, dass über die Hälfte, 60 Prozent, aller Jungunternehmerinnen und ‑unternehmer sehr optimistisch in die Zukunft gucken, davon ausgehen, dass ihre Geschäfte besser werden, planen, Menschen einzustellen, im Durchschnitt acht Personen pro junges Unternehmen. Das sind doch Perspektiven, die deutlich machen, welches Potenzial der deutschen Innovationskraft in den jungen Unternehmen in unserem Land steckt.
({0})
Der Monitor zeigt aber eben auch – und deswegen müssen wir uns damit auseinandersetzen –, wo Bedarf ist. Es sagen an der Stelle über ein Drittel der Unternehmen, dass sie besser und mehr wachsen könnten, wenn sie einen besseren Zugang zu Kapital hätten. Deswegen ist genau das einer der Schwerpunkte, die wir uns in der Bundesregierung, in der Koalition vorgenommen haben. Wir werden mit dem Zukunftsfonds – ich vermute, das haben Sie wahrgenommen – 10 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um zweierlei zu machen:
Auf der einen Seite machen wir das, was in den letzten Jahren gut lief. Wir stellen insbesondere in der Gründungsphase Kapital für Unternehmen bereit: durch EXIST, durch Coparion, den High-Tech Gründerfonds oder die neugegründete KfW Capital. Wir sagen: Das ist die eine Säule, mit der wir mehr von dem machen, was gut in unserem Land funktioniert, um junge Gründerinnen und Gründer zu unterstützen.
Über die zweite Hälfte dieser 10 Milliarden Euro sagen wir: Es gibt in Deutschland einen Bedarf nicht nur in der Anfangsphase von Unternehmen, sondern auch, wenn es um die Skalierung, wenn es ums Wachstum geht, dort, wo eben Finanzierungsrunden im zweistelligen Millionenbereich notwendig sind. Mit der zweiten Säule dieses Zukunftsfonds werden wir genau hier für zusätzliches Geld sorgen. Dort wollen wir mit dem Geld des Staates, des Bundes, mit unser aller Geld privates Geld hebeln, sprich sein Dazubringen anregen, um am Ende die Lücke bei der Finanzierung, die die Unternehmen haben, zu schließen.
Meine Damen und Herren, so geht es, wenn man sich mit den wirklichen Fakten, den Erkenntnissen der Studien auseinandersetzt. Dann handelt man nämlich. Der Zukunftsfonds, den wir hier planen, ist genau dafür ein Beweis.
({1})
Wir haben eine große Aufgabe – auch das ist ein Ergebnis aus dem Monitor –, weil wir bei der Frage der Mitarbeiterbeteiligung bessere Regeln brauchen. Wir haben nämlich zum Beispiel beim Dry Income heute die Situation, dass, wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt – übrigens machen das rund 80 Prozent der Start-ups auch –, das Einkommen beim Zufluss der Beteiligung, wo aber gar kein Geld fließt, besteuert werden muss. Deswegen wird es hier ganz kurzfristig eine Änderung geben, sodass das Dry Income, also das Einkommen durch die Mitarbeiterbeteiligung, eben nicht beim Zufluss der Beteiligung, sondern dann, wenn man sie in Gehalt umwandelt, besteuert werden wird. Ein echter Gewinn gerade für viele Unternehmen, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Erfolg beteiligen wollen.
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Also, meine Damen und Herren: Wir haben erkannt, was die Gründerinnen und Gründer in unserem Land brauchen. Wir packen es an. Wir packen es an, dass in Zukunft mehr Frauen gründen können. Wir packen es an, dass insbesondere im Bereich von sozialen und nachhaltigen verantwortungsvollen Gründungen, im Social Entrepreneurship, gegründet werden kann. Und, meine Damen und Herren, wir haben nicht nur die Hightechgründungen in den Großstädten im Blick, sondern wir schauen eben auch, wie wir gerade auch im Mittelstand, im Handwerksbereich vielen Gründerinnen und Gründern in der Fläche helfen können.
Das, meine Damen und Herren, ist unsere Politik, wenn es um Gründungen geht, statt auf der Grundlage der Hälfte der Zahlen halbdünne Anträge zu schreiben.
({3})
Lassen Sie mich deswegen zum Abschluss mal ein Wort direkt an die Menschen in unserem Land richten, die mutig sind, die Verantwortung als Gründerinnen oder Gründer übernehmen, und das in schwierigen Monaten: Danke Ihnen – danke Ihnen dafür, dass Sie mutig sind, und danke dafür, dass Sie auch in schwierigen Zeiten Verantwortung übernehmen für Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir brauchen Sie in solch schwierigen Zeiten mehr denn je. Vielen Dank für Ihren Mut! Vielen Dank für Ihre Verantwortung!
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Wenn man den Zahlen der FDP-Fraktion Glauben schenken darf, dann gibt es in unserem Land deutlich weniger junge Unternehmerinnen und Unternehmer. Und es gibt auch weniger Unternehmensgründungen in dieser Altersgruppe, beides im Vergleich zu anderen Wirtschaftsnationen. Das ist sicherlich kein Zufall; das hat Ursachen. Und es ist sehr spannend, konstruktiv darüber nachzudenken, ob sich das ändern muss und mit welchen Mitteln man dann am besten vorgeht.
Junge Menschen haben in der Regel die Eigenschaft, Dinge grundsätzlich anders zu machen als die Generationen vor ihnen. Und ja, auch die Wahrscheinlichkeit, dass mal etwas schiefläuft, ist höher, weil Erfahrungen fehlen und Fehler gemacht werden. Solange die Betroffenen aber aus den Fehlern lernen, sollte das weniger ein Problem sein.
({0})
Es muss aber auch einen gewissen Schutz geben, dass sich junge Menschen nicht Konsequenzen aufladen, die nachher ihr ganzes Leben – oder zumindest große Teile davon – negativ prägen können. Der Slogan „Fördern und Fordern“ wäre hier trefflicher angebracht als im Sozialgesetzbuch.
({1})
Junge Menschen, die ihre Kreativität ausleben wollen, indem sie sich selbstständig machen, müssen mehr gefördert werden.
Es muss aber auch ein spezielles Sicherheitsnetz eingebaut werden. Selbstständigkeit heißt in Deutschland auch, dass man nicht automatisch in den gesetzlichen Sicherungssystemen drin ist. Deshalb unterstreicht die Linksfraktion ihre grundsätzliche Forderung, dass alle Einkommen in die gesetzlichen Sicherungssysteme einzahlen müssen – also in Gesundheit, Pflege, Rente und Schutz vor Erwerbslosigkeit.
({2})
Spätestens hier unterscheiden wir uns von den Antragstellern der FDP-Fraktion.
Worüber wir aber vor allen Dingen ernsthaft nachdenken müssen, ist die Frage: Wann ist ein junger Mensch volljährig? Volljährigkeit, Geschäftsfähigkeit, Strafmündigkeit, eigene Haftung, Haftung der Erziehungsberechtigten: alles spannende und gleichzeitig auch sehr komplizierte juristische Fragen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die harte Grenze von 18 Jahren, was die Volljährigkeit angeht, nicht mehr zeitgemäß ist.
Was aber gar nicht geht, ist, dass unter 18-Jährige sehr wohl ein Unternehmen gründen oder auch den Führerschein machen können; aber das Wahlrecht hier für den Bundestag bekommen sie nicht.
({3})
Nein! Entweder lassen wir alles so, wie es ist, oder – und das wäre mein Ansinnen – wir öffnen diese starre Altersgrenze.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine letzte Anmerkung, auf die mich mein geschätzter Kollege Diether Dehm, mittelstandspolitischer Sprecher unserer Fraktion, hingewiesen hat: Wenn Sie jungen Unternehmen wirklich helfen wollen, dann geben Sie ihnen endlich eine Chance, und zwar, indem sie auch mehr öffentliche Aufträge für ihre Arbeit bekommen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Lutze. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, besonders der FDP! Ihre Überschriften klingen ja immer toll.
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Beim Lesen entpuppen sich Ihre Anträge aber leider häufig als Luftballons,
({1})
die Luft verlierend durch den Raum fliegen und schließlich inhaltslos auf hartem Boden landen.
({2})
Gründergeist stärken: Das finden wir natürlich auch gut und wollen auch, dass hier in den Schulen mehr passiert, und zwar egal ob an Gymnasium, Real- oder Gesamtschule. Verständnis für die Wirtschaft und unternehmerisches Handeln: Dazu gehört aber auch die Anleitung von Mitarbeitenden, Rechte von Angestellten, gesundes Arbeiten und Motivation – auch all das sollte schon frühzeitig in der Schule besprochen werden.
({3})
Respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander, Verständnis für verschiedene Ansichten und Kompromissfindung – all das ist in Unternehmen und im Leben wichtig, genauso wie der Umgang mit Verantwortung und Geld. Und an vielen Schulen gibt es bereits Schüler/-innenunternehmen – eine gute Sache, die es zu fördern gilt. Ja, wir müssen junges Unternehmertum stärken und Selbstständigkeit fördern.
Zum Thema Gründungskultur gehört aber auch das Thema „zweite Chance“. Aktuell beraten wir auch die Verkürzung der Restschuldbefreiung. Deshalb sollten alle, die sich hier für Gründergeist einsetzen – ich gucke mal besonders auf die Kolleginnen der CDU –,
({4})
auch für eine deutliche Verkürzung der Eintragung der Insolvenz bei Auskunfteien einsetzen.
({5})
Denn ein negativer Schufa-Eintrag, auch noch drei Jahre nach der Restschuldbefreiung, ist ein echtes Hindernis für weitere unternehmerische Versuche, teilweise ja auch schon, um nur ein neues Bankkonto oder ein Handy zu bekommen. Und so bestrafen wir momentan die Bereitschaft, unternehmerisches Risiko einzugehen im Hinblick auf den Fall des Scheiterns. Und gerade für junge Menschen ist das ein großes Hemmnis.
({6})
Aber noch mal zurück zu dem Antrag. Mitarbeiter/-innenbeteiligung wollen wir auch. Ich habe sehr aufmerksam und sehr freudig gehört, was Herr Mohrs gerade gesagt hat. Wir warten und freuen uns auf Ihren Entwurf.
Das Thema Zukunftsfonds ist ebenfalls angesprochen worden. Gerade in Zeiten von klammen Kassen wäre es aber sinnvoll, hier sehr zielgerichtet zu fördern, insbesondere nachhaltige, sogenannte Moonshot-Projekte. Das sind Bereiche wie GreenTech, künstliche Intelligenz, nachhaltige Mobilität oder Life Science mit meist sehr komplexen Geschäftsmodellen, bei denen es noch schwieriger ist, am Markt eine Finanzierung zu bekommen. One-Stop-Shop, weniger Bürokratie, bessere Förderung von Social Entrepreneurship – fordern wir alles auch und haben wir auch schon früher in Anträge gegossen.
Ganz besonders am Herzen liegt uns hier die Förderung von Frauen. So haben wir zum Beispiel, ähnlich wie in Irland mit dem Competitive Start Fund for Female Entrepreneurs, einen entsprechenden Fonds bei der KfW gefordert. Denn Gründerinnen erhalten nachweislich weiterhin seltener einen Kredit als Gründer. Das Gleiche gilt für junge Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund.
Apropos Gründerinnen. Liebe FDP, im Titel des Antrags steht: „Chancen für junge Unternehmer“. Und im Antrag haben Sie einen sehr bemerkenswerten Satz stehen; den möchte ich zitieren:
Ein besonderer Fokus muss dabei auf weiblichen Gründern liegen,
({7})
die bislang deutlich unterrepräsentiert sind.
Das ist sehr entlarvend, und damit schließe ich.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Letzter Redner zu diesem Tageordnungspunkt ist der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen in Deutschland das Gründertum stärken. Wir wollen mehr Gründer in Deutschland, die erfolgreich werden, wachsen können und damit den Wohlstand von morgen sichern. Das Spannende dabei ist: Wir brauchen dafür nicht den FDP-Antrag, sondern das macht die Bundesregierung bereits.
Herr Houben, es gibt eine aktuelle Umfrage unter Gründerinnen und Gründern, und da ist die Zustimmung für die FDP auf den niedrigsten Stand seit 2013, seitdem diese Umfrage erstmals durchgeführt wurde, gefallen. Mit einem Antrag wie dem Ihrigen, in dem Sie bestehende Instrumente der Bundesregierung zitieren und damit darauf hinweisen, was alles schon passiert, und mit einer Rede, in der Sie nicht einen einzigen Punkt aus Ihrem eigenen Antrag vorstellen, glaube ich, kriegen Sie das Vertrauen der Gründerinnen und Gründer im unserem Land so nicht zurück.
({0})
Ich möchte gerne einmal auf die Punkte in Ihrem Antrag eingehen.
Gehen wir auf das Thema Mitarbeiterbeteiligung ein – ein wichtiges Thema. Es eint uns, dass wir im internationalen Wettbewerb das Thema „Mitarbeiterbeteiligung für Gründerinnen und Gründer“ angehen und uns dafür einsetzen wollen, dass die Steuer erst dann fällig wird, wenn es zu einer Veräußerung der Beteiligung kommt, und dass wir die Umsatzsteuerbefreiung für Investmentfonds ausweiten wollen. Das macht die Bundesregierung; soll dieses Jahr noch ins Kabinett kommen.
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Zweites Beispiel: Zukunftsfonds. Es gibt einen Koalitionsbeschluss aus dem November 2019 zur Auflegung des Zukunftsfonds und einen zweiten Koalitionsbeschluss aus dem August 2020, dass wir noch in diesem Jahr die Realisierung dieses Zukunftsfonds schaffen. Wir haben beschlossen: 10 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern wollen wir dafür zur Verfügung stellen. Wir warten lediglich auf die Haushaltsberatungen mit der Verabschiedung des Haushalts 2021. Dann legt diese Bundesregierung los. Also das, was Sie angesprochen haben, passiert bereits.
Wir sind aber einen Schritt weiter gegangen. Wir haben gesagt: In einer Krisenphase wie der Coronakrise wollen wir uns nicht nur mit einem Zukunftsfonds für die Zukunft befassen, sondern mit sehr irdischen und realen Problemen der Start-up-Szene und der Venturecapital-Landschaft im Hier und Jetzt. Deswegen hat die Bundesregierung in enger Absprache mit uns im Parlament einen 2-Milliarden-Euro-Fonds aufgelegt, der gerade im Jahr 2020 Hilfe zur Selbsthilfe geben soll. Er soll die Gründerinnen und Gründer nämlich dabei unterstützen, dass das Kapital nicht abgezogen wird, sondern dass sie weiterhin wachsen können.
Und siehe da: Die aktuellen Zahlen zeigen, dass 1,4 Milliarden Euro für 500 junge, wachstumsorientierte Start-ups bereits bewilligt wurden. Sie sehen: Die Bundesregierung hat ein Instrument mit der KfW, und dieses Instrument wird seitens des Marktes, seitens der Gründer und seitens der Fonds auch noch angenommen. Ich glaube, auch hier erkennen wir die Schwarzmalerei seitens der AfD.
Wir sehen keinen Einbruch im Venturecapital-Markt. Vielmehr sehen wir, dass 90 Prozent der Start-ups sogar Neueinstellungen auch in einer Krisenphase wie 2020 planen. Es ist historisch, dass wir zum ersten Mal in einer Krisensituation Start-ups in den Fokus unserer Hilfsprogramme genommen haben. Das ist der Verdienst dieser Bundesregierung mit der Koalitionsfraktion.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir gehen jetzt weiter beim Thema Zukunftsfonds. Wir sagen, wir wollen 10 Milliarden Euro öffentliche Gelder bereitstellen, und wir wollen eine Hebelwirkung erzielen, nämlich in Richtung privaten Kapitals: Versicherungen, Pensionsfonds, Family Offices. Alle sollen Anreize bekommen und hier investieren, sodass wir durch diese Hebelwirkung in den nächsten Jahren 30 Milliarden Euro bereitstellen. Damit wird dieser Start-up- und Venturecapital-Markt, den wir in Deutschland haben, nicht nur der größte in Europa, sondern wir werden auch aufholen zum weltweiten Standard, nämlich zu den USA. Das, was wir vorlegen, ist in Europa einmalig. Es ist sechsfach so ambitioniert wie die Vorstellung unserer französischen Partner.
Ich möchte gerne auf ein paar Punkte eingehen.
1 Milliarde Euro für Deep-Tech-Fonds. Wir wollen, dass das Herzstück dieses Zukunftsfonds ein Wasserfallmodell wird, indem wir das Risiko splitten: erst auf die Fondsebene, dann auf die Start-up-Ebene. Wir werden diese Gelder über ein breites Maßnahmenpaket dem gesamten Ökosystem zur Verfügung stellen.
Wir werden die KfW Capital stärken. Wir werden den Europäischen Investitionsfonds stärken, den High-Tech Gründerfonds, Coparion. Das sind alles Maßnahmen, die bereits beschlossen sind und wo wir in einer ganz engen parlamentarischen Abstimmung mit der Bundesregierung sind.
In dem Antrag kommt auch das Thema Social Entrepreneurship vor, ein Thema, das wir auch schon einzeln breit diskutiert haben. Auch hier lohnt ein Blick in den aktuellen Haushalt: Im Haushalt 2020 des BMWi stehen bereits 7,5 Millionen Euro für nichttechnische und soziale Innovationsförderung bereit, im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung weitere 6 Millionen Euro für den Zeitraum 2020 bis 2023. Das heißt, wir haben ein ressortübergreifendes Konzept zur Förderung und Intensivierung auch beim Thema Social Entrepreneurship auf den Weg gebracht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns doch auch mal einen Blick auf das wagen, wo wir mit Stolz sagen können: Hier packen es auch die Start-ups bis in die Bundesliga. – Wir haben aktuell mit Delivery Hero das erste DAX-Unternehmen, das ein Start-up ist. Wir haben gerade 70 000 Start-ups in Deutschland, viele davon sind hoch innovativ. Wir haben eine neue Dynamik mit dem Zukunftsfonds. Jüngst, in der letzten Woche, hat eine Meldung viele überrascht: Das junge Start-up Flaschenpost wurde von Dr. Oetker für knapp 1 Milliarde Euro übernommen – hier an diesem Markt in Deutschland.
Das heißt, Kapital ist vorhanden, viele Ideen sind vorhanden, es gibt kreative Firmen, die am Markt bestehen und sich beweisen wollen. Von daher ist mir gar nicht angst und bange um diesen Start-up-Markt; ganz im Gegenteil. Die Bundesregierung leistet hier mit der Koalitionsfraktion hervorragende Arbeit, damit wir unseren Wohlstand hier in Deutschland auch in Zukunft durch innovative Start-ups sichern können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hauptmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens zum Bundesmeldegesetz gehen wir einen weiteren Schritt zur Digitalisierung unserer Verwaltung und zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes. Ja, ich gebe zu: Debatten zum Verwaltungsrecht nach 21 Uhr hauen nicht jeden vom Hocker, zumal dann nicht, wenn es sich auch noch um ein Orchideenthema wie das Melderecht handelt.
Es ist ganz sicher richtig, was der Kollege Staatssekretär Günter Krings schon in der ersten Lesung gesagt hat: Bei dieser Novelle handelt es sich gewissermaßen um „parlamentarisches Schwarzbrot“. – Aber wir wissen auch: Schwarzbrot ist gesund.
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So ist es auch gut für die Verwaltung. Wir haben es im parlamentarischen Verfahren geschafft, den richtigen Aufstrich dazu zu servieren. Deswegen gehen wir heute eigentlich ganz froh in diese letzte Runde zum Bundesmeldegesetz.
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Schauen wir uns noch mal die zentralen Inhalte an; es sind vier Punkte. Erstens. Es ist den Bürgern erstmals möglich, selbst ihre Daten über ein Verwaltungsportal aus dem Melderegister abzurufen. Das finden wir richtig, und das soll in Zukunft auch noch für weitere Verwaltungsdienstleistungen der Fall sein. Zweitens verbessern wir den länderübergreifenden Datenabruf. Drittens vereinfachen wir melderechtliche Prozesse. Und viertens verbessern wir die Datenverfügbarkeit und die Datenqualität in den Registern.
Das alles ist gelungen im Rahmen einer – ich kann sagen – konstruktiven Debatte. Im parlamentarischen Verfahren konnten verschiedene Anliegen – auch des Bundesrates – berücksichtigt werden, insbesondere etwa der Umstand, dass Personen in Krankenhäusern, in Justizvollzugsanstalten und etwa auch in Asylbewerbereinrichtungen keinen pauschalen, automatischen Sperrvermerk mehr eingetragen bekommen. Das ist eine richtige Anregung des Bundesrates gewesen. Dass das ganze Verfahren konstruktiv ist, zeigt sich auch daran, dass die Serviceopposition der FDP zustimmt. Das ist doch eine gute Sache. Hier können wir schon sagen: Dem Grunde nach haben wir hier einen guten Konsens erzielt.
Bedenken gibt es trotzdem. Das liegt in der Natur der Sache; denn jedes Mal, wenn es um die verbesserte Digitalisierung von Verwaltungen geht, treffen wir auf den klassischen Zielkonflikt von Datenschutz und digitaler Verwaltung. Wer digitale Verwaltung möchte, der braucht einen Staat, der auch über Daten verfügt. Natürlich kann man pauschal unter Hinweis auf die grundrechtliche Lage hinsichtlich des Datenschutzes das alles in Abrede stellen. Aber ich sage hier auch ganz deutlich: Eines geht nur: entweder Datenschutz bis zum allerletzten oder eine digitale Verwaltung, die dem Staat auch Daten anvertraut und ihm die Verarbeitung von Daten zutraut. – Für uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist das kein Gegensatz, sondern wir sagen: Das geht zusammen. Daten sind auch beim Staat in der richtigen Hand. Es ist sinnvoll, diese Daten zur Verfügung zu stellen, um insgesamt die Qualität von Verwaltungen zu verbessern.
Dazu leisten wir heute mit dem Melderecht einen Beitrag und werden insgesamt dafür Sorge tragen, dass es weiter vorangeht. Das wird nicht der letzte Schritt auf dem Weg zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes sein, sondern ein erster großer. Auf diesen weiteren Weg freuen wir uns. Wir werben um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Joana Cotar, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Ganz langsam macht sich die Regierung an die Digitalisierung der Verwaltung. Was im Jahr 2020 eigentlich schon längst Standard sein sollte, geht bei uns nur in Trippelschritten voran. Aber ich will nicht klagen; ich bin ja froh, dass überhaupt irgendetwas passiert und wir uns auch in der Verwaltung dem 21. Jahrhundert annähern, wenn auch langsam.
Daher begrüße ich durchaus Teile der vorgelegten Änderung des Bundesmeldegesetzes. Dass Verwaltungsleistungen des Melderechts demnächst elektronisch über Verwaltungsportale angeboten werden, das ist ein Fortschritt. Dass die Bürger dann selbst ihre Meldedaten aus dem Melderegister abrufen und für verschiedene Zwecke weiter nutzen können, das entlastet die Behörden, das entlastet die Bürger, das spart Zeit und Kosten und baut Bürokratie ab. Das ist gut; in die Richtung können Sie gerne weitermachen, liebe Kollegen. Vielleicht kommen wir dann auch mal bei einer One-Stop-Lösung für die Verwaltung an, und die Bürger müssen ihre Zeit nicht mehr auf den Ämtern verschwenden.
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Ebenso kann der erleichterte Abruf von Behördendaten zwischen den Behörden zu gesenkten Kosten und besserer Bekämpfung konkreter Gefahren führen. Auch die Protokollierung der Zugriffe zum Zwecke der Datenschutzkontrolle ist eine wirklich gute Sache. Schön wäre es, wenn die Bürger dann auch noch die Möglichkeit bekämen, nachzuprüfen, wer denn wann auf ihre eigenen Daten zugegriffen hat. So viel Transparenz und so viel Kontrolle müssten sein. Hier muss die Regierung definitiv nachlegen.
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Wo Licht ist, ist aber auch Schatten, und so gibt es in diesem Gesetz leider auch bedenkliche Abschnitte. Bei automatisiertem Datenabruf, freien Suchen in Datenbeständen, Auskünften trotz Auskunftssperre besteht immer Missbrauchspotenzial. Zwar werden hier enge Grenzen gesetzt; die rein technische Möglichkeit, einfach und schnell auf Datensätze zuzugreifen, bleibt aber ein Risiko.
Darüber hinaus hat der Datenschutzbeauftragte richtigerweise bemängelt, dass nun vielfach sensible Daten ohne ersichtlichen Grund nicht nur in den ursprünglichen, teils geschützten Datenbanken, sondern langfristig auch in vielen anderen Datenbanken und Datensätzen gespeichert werden. Er bemängelt außerdem richtigerweise, dass den Ländern nun bei dem automatisierten Abruf einheitliche Regeln übergestülpt werden, die keinen erkennbaren Nutzen haben. Die Länder haben bereits eigene entsprechende Regeln. Hier werden unnötigerweise, ja unzulässigerweise Kompetenzen verschoben.
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Schließlich sieht er eine große Gefahr in der Aufweichung der Auskunftssperre, und genau dieser Ansicht ist zuzustimmen. Im März dieses Jahres hat die AfD-Fraktion einen Antrag vorgelegt, um Politiker unabhängig davon, ob sie auf kommunaler Ebene oder auf Landes- oder Bundesebene tätig sind, sowie Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes, Richter und Schöffen sowie Soldaten besser zu schützen. Wir wollten ihnen die Beantragung einer Auskunftssperre deutlich erleichtern. Auf Antrag sollten die Meldebehörden Mitgliedern dieser Personengruppen eine Auskunftssperre eintragen, auch ohne dass konkrete Gefährdungshinweise vorgelegt werden.
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Gerade wir von der AfD können ein Lied davon singen, wie es sich anfühlt, wenn der eigene Wohnort und die eigene Adresse auf einer interaktiven Karte im Internet zu finden sind. Die vielen daraus resultierenden Angriffe treffen oft gerade unsere Kommunalpolitiker. Da brennen Autos ab, da werden Wände beschmiert, Scheiben eingeschmissen; selbst vor Kinderzimmern wird nicht haltgemacht. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, liebe Kollegen. Es kann und darf nicht sein, dass jemand aus Angst vor Übergriffen nicht mehr kommunalpolitisch aktiv wird.
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Die Chancen, hierfür tätig zu werden, haben Sie leider mit diesem Gesetz wieder verpasst. Eine bürgerfreundliche, effiziente und kostensparende Digitalisierung der Verwaltung, vor allem bei Behörden mit Kundenkontakt, ist absolut wünschenswert und absolut notwendig.
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Wie gesagt, ich bin für jeden Trippelschritt dankbar, und deswegen hätten wir eigentlich auch gerne diesem Gesetz heute zugestimmt. Aber es gibt im Bereich Datenschutz eben doch noch einige Punkte, die wir kritisch sehen, und daher reicht es heute leider nur für eine Enthaltung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Cotar. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde nicht sieben Minuten sprechen; dann bleiben Sie glücklich, dann bleibt meine Parlamentarische Geschäftsführerin glücklich, und der PG der Linken bleibt auch glücklich. Da ich im Ausschuss erinnert wurde, dass ich letztes Mal in extenso die Romantik dieses Gesetzes entfaltet habe, will ich das diesmal nicht mit zu viel Inhalt kaputtmachen, Redundanzen vermeiden und mich aufs Wesentliche konzentrieren.
Ein Wesentliches ist: Es geht nicht primär nur Abgeordneten der AfD so. Ich kann sagen: In Bezug auf meine Adresse und mein Büro, meine E-Mail-Adressen und ähnliche Accounts habe auch ich unerfreuliche Erfahrungen gemacht. Das liegt aber insbesondere an Freundinnen und Freunden der AfD. Insofern ist das, glaube ich, nicht vor allem Ihr Problem,
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sondern auch das Problem vieler anderer, aber aus der umgekehrten Situation heraus. Und Sie wissen genau – das war eine leichte bis schwere Irreführung –, dass wir im Gesetz gegen Hasskriminalität, das hoffentlich demnächst unterzeichnet werden wird, genau dieses Thema angehen. Das hat aber nichts mit dieser Novellierung zu tun.
Was ist der Kern dieses Gesetzes, was ist die Romantik? Wir versuchen, Datenschutz mit Datenverfügbarkeit, mit Datenabruf und Datenqualität zu vereinbaren. Und wir haben erkannt, dass es in der Theorie die gute Idee des Onlinezugangsgesetzes gibt, aber dass es Probleme in der Umsetzung gibt, und sie, gerade im länderübergreifenden Austausch – das ist auch sicherheitsrelevant –, müssen behoben werden. Daran arbeiten wir hier und verändern den automatisierten Abruf entsprechend und versehen ihn mit einer Protokollierung. Ich glaube, das ist etwas sehr Gutes. Das stärkt den Datenschutz, und es stärkt auch die Transparenz für Bürgerinnen und Bürger, und das verdient Applaus. – Ich habe es in der ersten Rede auch nicht erwähnt; deshalb keine Redundanz.
Zum Zweiten – wir haben ja auch so etwas wie eine Rechenschaftspflicht – gibt es parlamentarische Änderungen. Das betrifft zum einen die bedingten Sperrvermerke. Weder die Regelungen des Bundesrates noch die Lösung, die das BMI vielleicht unbedingt wollte, haben wir genommen, sondern wir haben als Lösung einen salomonischen Zwischenweg gefunden, indem Frauenhäuser und andere besonders sensible Einrichtungen wie etwa Senioreneinrichtungen weiter geschützt bleiben, aber bei JVAs und Flüchtlingsunterkünften dieser bedingte Sperrvermerk nicht mehr gilt.
Ein weiterer Punkt ist das große Thema Geldwäsche. Auch da sind die Möglichkeiten der FIU als ermittelnde Behörde gestärkt worden, aber auch das verhältnismäßig und maßvoll.
Insofern war es ein wirklich sehr vernünftiges Gesetzgebungsverfahren, und ich danke auch sehr – heute ist der Tag des Lobes der Opposition –, dass die FDP im Ausschuss äußerst konstruktiv kritisiert hat, Herr Höferlin, aber auch gelobt hat. Ihre Kollegin Frau Teuteberg sollte sich ein Beispiel nehmen; sie hat nicht so freundlich gelobt
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und in der letzten Ausschusssitzung die SPD in die Nähe der SED gerückt. Wir – das ist mein letztes Wort – sind bei solchen Ausführungen schon empfindlich; denn wir erinnern uns daran, dass es schon einen Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus gibt. Dieser Begriff der Zwangsvereinigung wurde von Gustav Dahrendorf geprägt, und Gustav Dahrendorf war der Vater von Ralf Dahrendorf, einem berühmten Liberalen. Insofern: Diese kleine Nachhilfe und Information reichen Sie an Frau Teuteberg weiter.
Ich danke Herrn Höferlin für die wunderbare Zusammenarbeit. Ein gutes Gesetz – beschließen wir es, und gehen wir in den Abend.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Ich bin schon zusammengezuckt, als er gesagt hat, er wolle die Redezeit nicht ausnutzen. Das letzte Mal hat er sie einfach überschritten.
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Aber heute hat er sich an sein Versprechen gehalten.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das mit dem Unterschreiten der Redezeit, Herr Kollege Lindh, müssen Sie noch ein bisschen üben. Sie kündigen es immer an. Aber macht ja nichts; solange die Reden romantisch sind, ist alles gut.
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– Das ist gut; dann haben Sie es diesmal geschafft.
Ich will kurz darauf eingehen, weil Sie es auch genannt haben: Das Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität hat Sperreinträge enthalten. Weil es derzeit beim Bundespräsidenten als offensichtlich verfassungswidrig liegt – sonst würde er es ja unterschreiben –, hätten Sie schon die Chance gehabt, in dieser Novelle und diesem Gesetz zur Änderung des Bundesmeldegesetzes den Punkt der Auskunftssperren, den Sie ja selbst – ich würde sagen: das ganze Haus – als wichtig ansehen, zu regeln. So vergeuden wir leider wertvolle Zeit. Wir haben auch damals einen Vorschlag gemacht. Es wäre jetzt die Gelegenheit gewesen, hier nachzusteuern, anstatt zu warten, bis das Reparaturgesetz zu dem anderen, dem wahrscheinlich verfassungswidrigen Gesetz kommt.
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Aber jetzt kurz zum heute behandelten Meldegesetz. Sie haben es selbst schon ausgiebig gelobt. Ich will mich da nicht zu sehr einbringen. Aber es sind tatsächlich ein paar wirklich gute Dinge drin. Im Bereich der Verwaltungsdigitalisierung bringt uns das ein großes Stück voran.
Ich will auf einen Punkt besonders eingehen, der schon erwähnt wurde, nämlich die „Protokollierungspflicht bei automatisiertem Abruf und bei Datenbestätigung“ in § 40. Hier geht es im Prinzip darum, dass protokolliert wird, wenn auf Daten von Menschen zugegriffen wird. Herr Kollege Amthor, Sie sagen, dass Datenschutz und Datenverwendung bei Behörden nicht immer zusammengeht. Doch, es geht.
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Ich würde mir wünschen, die Bundesregierung, Herr Kollege Krings, würde bei der Transparenz bei Datennutzung noch viel stärker vorangehen. Das ist der entscheidende Punkt, mit dem man das verbinden kann.
Wir können zum Beispiel einen Blick nach Estland werfen. Dort wird auch auf Datenbestände zugegriffen. Aber jede Bürgerin, jeder Bürger hat mit seiner elektronischen ID die Möglichkeit, diesen Zugriff auf einem Protokollserver abzurufen. Man kann Vertrauen in die Datenverarbeitung seitens des Staates erzeugen, indem man Transparenz schafft.
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Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie angegangen sind. Allerdings sind Sie leider auf halbem Weg stehen geblieben. Sie protokollieren zwar, Sie schaffen es aber nicht, dem Bürger die Möglichkeit zu geben, das auch abzurufen und zu kontrollieren. Das wäre das Finale gewesen. Sie haben ein Datencockpit – wir werden gleich noch über ein weiteres Gesetz sprechen – in einem anderen Verfahren vorgesehen. Es wäre schön gewesen, wenn Sie das hier auch eingebaut hätten. Es gibt verschiedene Stellen, wo Behörden in Zukunft auf Daten zugreifen oder Daten untereinander austauschen können. Wir Freien Demokraten sind sehr dafür und Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die Datenverarbeitung in der öffentlichen Hand transparent zu machen, wo es geht, indem Sie diese protokollieren und damit das Vertrauen der Bürger in die Datenverarbeitung steigern.
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Wir hatten auch einige Kritikpunkte, zum Beispiel die Verwendung bei den Kirchen. Heute haben Sie die wichtigen Punkte gesagt, bei denen es vorangeht: die Digitalisierung der Wohnungsummeldung, die Einführung des vorausgefüllten Meldescheins, die digitale Meldebestätigung und die Protokollierungspflicht. Das finden wir gut. Deswegen werden wir das Gesetz trotz einiger Kritikpunkte unterstützen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. – Die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bürokratieabbau und digitale Verwaltungsdienstleistungen haben erst recht in Zeiten der Pandemie einen besonderen Wert. Der hier vorliegende Gesetzentwurf regelt aber viel mehr. Da fangen nicht nur aus Sicht meiner Fraktion, sondern auch aus Sicht des Bundesdatenschutzbeauftragten die Probleme an.
Vieles ist nicht schlüssig. Viele Fragen lassen Sie unbeantwortet: Welche Behörden verfügen bereits über hinreichende Zugänge zu bestehenden Registern? Ist es wirklich notwendig, dass Daten nun im größeren Umfang auch im Melderegister gedoppelt werden? Entspricht das überhaupt dem Stand der Technik, und ist das wirklich der beste Weg?
Ist es nicht besser, wenn Abfragen aus Datenschutzaspekten erst separat erfolgen und dann zusammengeführt werden? Nicht ohne Grund wurden hier im Bundestag zu den bereits angesprochenen Registern spezielle Gesetze verabschiedet, die neben Fragen der Speicherung und Löschung auch die Übermittlung der Daten regeln.
Meine Damen und Herren, es entsteht der Eindruck, dass hier von Verbesserungen geredet wird, ohne sich wirklich einmal anzuschauen, was es konkret für Verbesserungen in der Praxis braucht. Wieder einmal nehmen Sie keine Rücksicht, wenn es um die Daten von registrierten Ausländerinnen und Ausländern geht. Der Bundesdatenschutzbeauftragte bemängelt zu Recht, dass Sie die Hürden, die Sie im Gesetz im Hinblick auf die AZR-Nummer, die Ausländerzentralregisternummer, ausdrücklich festgeschrieben haben – § 10 Absatz 4 AZRG – übergehen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zum Thema Auskunftssperren kommen. Das wurde heute schon erwähnt. Anfang des Jahres waren wir beim Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität schon einen Schritt weiter. Das Gesetz ist aber, Herr Lindh, wie Sie alle wissen, wegen verfassungsrechtlicher Probleme bisher nicht ausgefertigt und folglich auch nicht in Kraft getreten. So läuft aber auch der Schutzmechanismus im vorliegenden Gesetz ins Leere. Was nutzt der Schutz gegen unbefugte und missbräuchliche Abfragen, solange keine Registersperre eingetragen wurde? Dann nutzt diese Regelung den Betroffenen herzlich wenig. Ein Umstand, den Sie zu vertreten haben, meine Damen und Herren.
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Für uns ist das jedenfalls ein gewichtiger Grund – ich komme zum Schluss –, weshalb wir diesem Gesetz trotz einiger positiver Aspekte, liebe FDP, nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Das macht es auch nicht wirklich gut. Ich erinnere noch einmal daran: Ich habe Verständnis dafür, dass man bei der Erschöpfungsmentalität, die hier im Raume Platz greift, regelmäßig vergisst, die Maske aufzusetzen. Ich erinnere daran, dass das Präsidium gebeten ist – ich meine nicht Sie, Frau Polat, sondern einen Kollegen aus der Fraktion Die Linke –, die Tragepflicht der Maske durch Ordnungsrufe und auch durch Ordnungsgeld durchzusetzen.
Der Kollege Tankred Schipanski und der Kollege Marc Henrichmann, beide CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Sachen Verwaltungsdigitalisierung war das eben verabschiedete Meldegesetz für heute der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich.
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– Ich hätte noch eine andere Einleitung anzubieten, Herr Kollege.
Ein Registermodernisierungsgesetz hört sich zunächst wie ein Beispiel für ein Oxymoron an. Die Kombination aus „Register“ und „modern“ drängt sich nicht jedem sofort auf. Aber umso wichtiger ist es, dass die Modernisierung unserer Registerlandschaft auch Platz greift, um die Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland, konkret das Onlinezugangsgesetz, voranzubringen.
Heute erledigen viele von uns Einkäufe oder auch Bankgeschäfte digital von zu Hause, bequem von unterwegs. Der Gang zur Behörde muss aber ebenfalls virtueller werden – jedenfalls die Möglichkeit dazu – und vom Mobiltelefon aus möglich sein. Es geht uns darum: Bürgerinnen und Bürger wollen wir von Nachweispflichten, wo es möglich ist, entlasten. So muss zum Beispiel eine Geburtsurkunde nur noch einmal vorgelegt werden und nicht bei jedem Antrag in einer anderen Behörde erneut. Bereits vorhandene Dokumente können aus anderen Registern abgefragt werden. Ja, das klingt selbstverständlich, ist es aber heute leider noch nicht.
Durchgehend digitale Verwaltungsvorgänge von der Antragstellung bis zum Bescheid sind aber nur möglich, wenn Daten zweifelsfrei der richtigen Person zugeordnet werden können. Das ist heute nicht der Fall. Für eine registerübergreifend eindeutige Zuordnung brauchen wir daher ein veränderungsfestes Ordnungsmerkmal, das stets auf die richtige Person verweist. Deutschland hat glücklicherweise bereits heute eine Identifikationsnummer in den Registern, die die qualitativen Anforderungen erfüllt. Das ist die Steuer-ID. Sie ermöglicht seit über zehn Jahren die eindeutige, die zuverlässige Zuordnung von Personen in Verwaltungsvorgängen mit steuerlichem Bezug.
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Dieses vorhandene Ordnungsmerkmal kann in seiner Funktion ohne Weiteres auf Register erweitert werden, die für die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes wichtig sind. Das tun wir unter voller Wahrung aller datenschutzrechtlichen Anforderungen, eine Profilbildung werden wir dabei weiterhin wirksam ausschließen.
Dazu haben wir im Gesetzentwurf ein ganzes Paket an Maßnahmen vorgesehen, die ein äußerst hohes Datenschutz- und Transparenzniveau sicherstellen. Als Beispiel nenne ich das sogenannte 4‑Corner-Modell. Hier stehen zwischen einzelnen Verwaltungsbereichen digitale Wächter, die nur gesetzlich erlaubte Datenübermittlungen durchlassen. Genau damit ist eben eine Profilbildung wirksam ausgeschlossen. Zusätzlich können mit dem Datencockpit – eben wurde es schon vom Kollegen Höferlin angesprochen – Verwaltungsvorgänge transparent protokolliert und so für die Bürgerinnen und Bürger auch nachvollziehbar gemacht werden.
Meine Damen und Herren, 21 Mitgliedstaaten der Europäischen Union nutzen bereits eine registerübergreifende, einheitliche und offene Identifikationsnummer. Die Datenschutz-Grundverordnung lässt eine solche auch ausdrücklich zu. Ein einziges Land in der Europäischen Union hat sich bisher gegen eine einheitliche Identifikationsnummer entschieden, aber der Preis sind hier auf nationaler Ebene zentralisierte Melderegister. Ich kann in dieser Lösung kein Mehr an Datenschutz erkennen.
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Wir haben in Deutschland eine dezentrale Registerlandschaft, und ich finde, das soll auch so bleiben. Umso mehr brauchen wir aber eine einheitliche Identifikationsnummer. Ansonsten bleibt das Once-Only-Prinzip – von allen gefordert – eben nur ein frommer Wunsch der Digitalisierung.
Meine Damen und Herren, mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf – und dann hoffentlich bald Gesetz – gehen wir einen großen Schritt, um in Sachen Digitalisierung endlich wieder zur europäischen Spitzengruppe aufzuschließen; denn da gehören wir hin. Aber dazu brauchen wir ebendieses Gesetz. Ich bitte daher um Unterstützung.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der Abgeordnete Uwe Schulz hat das Wort für die Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD unterstützt jede Maßnahme, sinnvolle digitale Lösungen für Behörden und Verwaltungen einzuführen. Wichtig ist für uns nur eines: Alles muss auf den Kunden, muss auf den Bürger zugeschnitten sein.
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– Warum Sie beim Wort „Kunden“ lachen, verstehe ich nicht. – Mit dem geplanten Registermodernisierungsgesetz sollen nun die Basisdaten der Bürger zentralisiert werden. Und ganz sicher macht ein solches Projekt auch Sinn. Wenn aber absehbar ist, dass in diesem Zuge der gläserne Bürger entsteht, ist die Schmerzgrenze für uns als AfD überschritten.
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Denn genau diesen gläsernen Bürger scheint die Bundesregierung zu wollen. Und wenn der Entwurf umgesetzt wird, sind es nur noch wenige Schritte, und der Staat erhält auf Knopfdruck umfangreiche Profile über jeden Bürger.
Der größte Schwachpunkt des Entwurfs ist die Einführung einer einheitlichen Identifikationsnummer; denn mit einer solchen Nummer werden Verhaltensaufzeichnungen möglich. Trotzdem hat man nun – und Herr Dr. Krings sagte es – die im Jahr 2007 eingeführte Steuer-ID auserkoren, obwohl seinerzeit zugesagt wurde, genau das aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu tun. Und natürlich warnen Bundesverfassungsgericht und der Bundesbeauftragte für den Datenschutz wieder davor, diese Nummer zu verwenden. Diese Warnrufe ignoriert die Bundesregierung aber ebenso wie die Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages.
Auch der Blick nach Österreich interessiert nicht, obwohl man dort auch ohne Konflikt mit der Verfassung das Datenmanagement kennnummernbasiert zentralisiert hat. Und was sagt das Ministerium von Herrn Seehofer zum Modell der Österreicher? Das Verfahren sei zu teuer, und die Umsetzung dauere zu lange. – Ja, meine Damen und Herren, diese Bundesregierung unterwirft sich zwar gerne allen möglichen internationalen Behörden und NGOs; aber in Sachen Datensicherheit einmal vom Nachbarland Österreich zu lernen, das ist offenbar zu aufwendig.
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Amüsant ist in diesem Zusammenhang, dass Minister Seehofer mir gestern hier in diesem Raum zurief, dass er jetzt schon 50 Jahre für die Sicherheit Deutschlands arbeite. Aber, Herr Minister Seehofer – er ist nicht da –, nicht die Jahre zählen, sondern nur der Erfolg. Und gerade wenn es die Datensicherheit unserer Bürger betrifft, gilt nicht „quick and dirty“, sondern es zählt einzig und allein die Sorgfalt, und die darf auch ruhig mal etwas teurer sein.
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Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist der nächste Schritt zum gläsernen Bürger, und er passt in die Zeit. Gestern haben wir erlebt, wie weit die Regierung mit der Gängelung des Volkes gehen will. Und mittlerweile muss jeder erkennen, dass staatliche Überwachung und Reglementierung bis tief in die Privatsphäre hineinreichen sollen.
Meine Damen und Herren, mit dem geplanten Gesetz wird es möglich sein, persönliche Daten aus vielen Ecken zusammenzuführen und zu verwenden – Daten, die auch die Coronadetektive gut für ihr schmutziges Geschäft verwenden können; denn an die Einführung einer solchen Spitzelorganisation denkt Herr Lauterbach von der SPD bereits ganz offen, ohne dabei zurückgepfiffen zu werden, meine Damen und Herren.
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Aber lassen Sie sich gesagt sein: Mit der AfD wird es keine modernen Blockwarte geben. Kein privater und kein staatlicher Schnüffler soll die Daten unserer Bürger in die Hände bekommen, und kein Regierungsbeauftragter darf in die tiefste Privatsphäre unserer Staatsbürger eindringen.
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Der Gesetzentwurf soll offenbar wieder im Schweinsgalopp durch die Gremien getrieben werden – auch das kennen wir schon –, und sicher wird auch unser Bundespräsident und Volljurist Steinmeier seinen Füller wieder betanken und zur Unterzeichnung schnell bereitstehen. Es ist halt alles wie immer.
Vielen Dank.
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Zu seiner soundsovielten Rede am heutigen Tag
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hat das Wort der Kollege Helge Lindh von der SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, das war wirklich Humor. Respekt!
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Aber ich werde mich kurz halten; denn ich bin Serviceregierung, und Herr von Notz muss in den PUA –,
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und deshalb werde ich nicht die sieben Minuten ausschöpfen.
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Ich erwarte dann aber auch in Zukunft Gegenleistungen für diese Geste der Zeitverknappung.
Wir sprechen hier nicht etwa über einen Geheimplan der Regierung, den gläsernen Bürger zu schaffen und diesen Staat durch Durchdringungsmaßnahmen zu einer Diktatur werden zu lassen. Ich finde es auch etwas, nein, ich finde es vollkommen daneben, dass Sie, wenn ich Sie nicht falsch verstanden habe, in diesem Zusammenhang von „Blockwarten“ sprechen, zumal sich die AfD mit Blockwarten wirklich besser auskennt als alle anderen Fraktionen hier im Parlament.
Daher will ich doch deutlich machen, dass bei aller Kritik, die auch legitim ist – und ich werde ganz kurz auf mögliche und nachvollziehbare Kritik eingehen –, auch eine Intentionalität da sein muss. Ich glaube, Herr Professor Krings hat es deutlich gemacht, dass hier kein Geheimplan oder Masterplan zur Durchdringung der Geheim- und Intimsphären der Bürgerinnen und Bürger vorliegt, sondern es geht um Servicefreundlichkeit, es geht darum, Bürgerfreundlichkeit zu schaffen. Und wir haben ein reales Problem: Wir haben um die 220 dezentrale Register und entsprechend auch unterschiedliche Datenqualitäten. Und „servicefreundlich“ heißt für Bürgerinnen und Bürger „once only“, dass die Daten also möglichst nur einmal abgegeben werden und dann alles ohne Aufwand und mit besserer Qualität erfolgt.
Also: Was ist das Ziel dieses Gesetzgebungsverfahrens? Datenqualität, Sparen von Aufwand beim Abgeben von Daten und eindeutige Identifizierbarkeit der Person. Und das ist im jetzigen Zustand nicht gegeben. Was ist das Instrument, mit dem wir das herstellen wollen? Es ist ein gemeinsames Ordnungsmerkmal, über das diese Verbindung von Datenkorpora erfolgen soll. Und die entscheidende Frage ist jetzt: Wie macht man es? Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten: Man nimmt eine Identifikationsnummer, einen Identifikator, oder mehrere. Und die Entscheidung, die mit dem Gesetzentwurf getroffen wurde – sie ist natürlich nicht alternativlos –, ist, einen Identifikator zu nehmen und es konkret über die Steuer-ID zu machen. – So viel zu der Lösung, die Sinn hat, die nachvollziehbar ist und die im Endergebnis für Bürgerinnen und Bürger Vorteile hat.
Ich will es aber nicht – wir sind in der ersten Lesung – bei dieser Lobpreisung belassen, sondern auch die kritischen Punkte ganz kurz erwähnen. Die Steuer-ID ist ursprünglich nicht für diesen Zweck geschaffen worden. Und bei ihrer Einführung gab es auch schon – das kann man ehrlich so erwähnen – die Befürchtung, dass sie für andere Zwecke verwandt wird, und das wird jetzt der Fall sein. Und wir werden darüber befinden müssen, ob es so angemessen, verhältnismäßig ist oder nicht.
Deshalb ist es notwendig, dass wir Korrekturmechanismen haben: zum einen das Datencockpit, damit Bürger nachvollziehen können, wo Daten ausgetauscht werden, zum anderen das schon beschriebene 4‑Corner-Modell, um die Rechtmäßigkeit des Datenaustausches zwischen Behörden durch eine dritte Instanz überschaubar, klar und sicher zu prüfen.
Es wird die Entscheidung im parlamentarischen Verfahren sein, zu gucken, dass das Ganze verfassungsfest ist. Deshalb: Wenn wir nur eine Nummer als Identifikationsnummer nehmen, müssen wir besonders auf die Verfassungsmäßigkeit achten, wir müssen besonders hohe Sicherheitsrichtlinien einziehen, damit auch der BfDI, der große Skepsis hat, zufrieden sein wird.
Das wird unsere Arbeit in der nächsten Zeit sein. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu einem vernünftigen, guten und im Sinne der Bürger nachvollziehbaren Ergebnis kommen werden. Daher freue ich mich auf das parlamentarische Verfahren, wünsche Ihnen allen einen guten Tag und grüße noch mal den äußerst humorvollen Präsidenten.
Vielen Dank.
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Der auch äußerst dankbar ist, weil Sie immerhin drei Minuten Redezeit eingespart haben, und das schafft heute keiner mehr. – Der nächste Redner ist der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Drei Minuten einzusparen, schaffe ich bei drei Minuten Redezeit nicht; tut mir leid.
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Der aktuelle Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Ulrich Kelber, die ehemaligen Datenschutzbeauftragten Peter Schaar und Hans Peter Bull, die Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder, die Gesellschaft für Informatik, LOAD, der Verein für liberale Netzpolitik, der Bitkom, der Deutsche Anwaltverein, die Humanistische Union, der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der Bundesrat: All diese Personen, all diese Organisationen warnen ausdrücklich vor der Verfassungswidrigkeit dieses heute zu diskutierenden Gesetzentwurfs.
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Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die sie haben, machen sich vor allen Dingen an einem Punkt fest, nämlich am Einsatz der Steuer-ID als einheitliches Personenkennzeichen. Dass sie alle miteinander glauben, das sei verfassungswidrig, das sollte Ihnen zu denken geben, liebe Bundesregierung.
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Ich schließe mich dieser Einschätzung an. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht war in seiner Aussage im Volkszählungsurteil sehr klar. Auch der Bundesfinanzhof hat bei der Einführung der Steuer-ID damals genau festgehalten, dass er die Steuer-ID aus gewichtigen Gründen ausnahmsweise für zulässig hält, sie sich dann aber auf den Einsatz im Steuerverfahren begrenzt.
Genau das ist jetzt nicht mehr der Fall, genau das soll anders werden. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten eine Stelle aus der Datenschutzkonferenz zum Registermodernisierungsgesetz. Zitat:
Auch wenn die Corona-Pandemie zeigt, wie notwendig eine Beschleunigung der Digitalisierung ist, darf dies nicht als Argument dafür benutzt werden, verfassungsrechtlich notwendige Nachbesserungen unter Hinweis auf den „Eilbedarf“ unter den Tisch fallen zu lassen.
Treffender kann man es eigentlich nicht formulieren.
Die verfassungsrechtliche Kritik ist insgesamt vernichtend. Sie führen das Argument an, dass Sie jetzt Ihre E-Government-Strategie zu Ende bringen wollen – bis 2022 müssen Sie ja durch sein; das haben Sie sehr oft gesagt –, weshalb eben andere Alternativen zunächst nicht mehr geprüft werden. Das kann man aber so nicht einfach durchgehen lassen, meine Damen und Herren.
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Sie steuern mit diesem Gesetz sehenden Auges in eine Verfassungsklage hinein. Dabei gäbe es ja Alternativen zur Steuer-ID. Es gibt auch Alternativen zu diesem einheitlichen Personenkennzeichen. Statt Steuer-ID könnte man andere Methoden nehmen, siehe Beispiel Österreich; Herr Professor Krings, Sie haben es selbst schon gesagt. Ich bin ja auch der Meinung, dass man das österreichische Modell nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen kann. Aber dem Gedanken, der dahintersteht, kann man sich schon nähern. Letztlich würde das nachher auch die Verfassungsmäßigkeit wiederherstellen.
Wenn Sie jetzt lediglich die Kosten- und Zeitargumente anführen, dann ist das, ehrlich gesagt, rechtsstaatlich schon fast eine Bankrotterklärung, weil das nicht sein darf. Sie können am Ende aus Zeit- und Kostengründen nicht in Verfassungsbeschwerden reinlaufen. Ich bin gespannt, wie die Landesbehörden dieses Gesetz nachher anwenden und wie Sie das in Zukunft den Landesdatenschutzbeauftragten erklären wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Landesbehörden das Gesetz anwenden werden, wenn ihre eigenen Landesdatenschutzbeauftragten es jetzt schon als verfassungswidrig ansehen.
Ich erwarte, dass wir das Registermodernisierungsgesetz auf einen verfassungsgemäßen Weg bringen, und freue mich auf die weiteren Beratungen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieses Gesetz hätte in der Tat einen wohlklingenderen Namen verdient und auch die Primetime; denn das, was dahintersteckt, ist das, was wir alle wollen,
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nämlich die digitale Verwaltung, aber nicht als Selbstzweck, sondern mit viel Mehrwert auch für Bürgerinnen und Bürger: das Once-Only-Prinzip – schon erklärt –, medienbruchfreie OZG-Anträge usw., 50 Register insgesamt, die eingebunden werden sollen und müssen an das Onlinezugangsgesetz.
Ziel ist, Bürger und Wirtschaft zu entlasten, damit Daten nicht immer und immer wieder neu zusammengesucht und übertragen werden müssen, sondern einmal da sind und allen nutzen. Darum brauchen wir interoperable und modernisierte digitale Register. Die bekannte Steuer-ID als zentrales, als übergreifendes und vor allem auch funktionierendes Merkmal drängt sich nahezu auf.
Es sind verschiedene Sicherungsmechanismen angesprochen worden, die auch die Datenschutzaspekte deutlich berücksichtigen. Wir haben gehört vom 4-Corner-Modell, also Datenübertragung nicht von Behörde zu Behörde, sondern über eine dritte Stelle, was auf EU‑Ebene bei Datenaustausch schon entsprechender Standard ist. Das Bundesverwaltungsamt als Instanz, die Protokollierung betreibt, ist im Hinblick auf die Datenschutzdebatte ein weiterer Sicherungsmechanismus.
Die DSGVO sieht ausdrücklich vor, die nationale Kennziffer zu verwenden. Es wurde angesprochen: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird jetzt als Kriterium herangezogen, warum das Ganze nicht funktionieren soll. Ich möchte noch einmal deutlich darauf hinweisen: Das Urteil ist – wir haben es gerade nachgeschaut – von 1983, also zehn Jahre älter als der Kollege Amthor, hat er mir gerade gesagt.
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Zu der Zeit gab es weder Internet noch sonst irgendwelche Technik. Deswegen hinkt der Vergleich mit diesem Sachverhalt deutlich.
Wir müssen jetzt, glaube ich, aufpassen. Ja, auch ich habe den Bericht der Datenschutzkonferenz gelesen. Ich frage mich ernsthaft, wenn 21 Staaten in der Europäischen Union das Prinzip, das wir in Deutschland in diesem Gesetzentwurf jetzt anstreben, haben und es funktioniert und datenschutzrechtlich offenbar dort auch angewandt werden kann, warum es dann in Deutschland andere Standards gibt, die verhindern sollen, dass wir genauso arbeiten.
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Österreich ist angesprochen worden als vermeintliches Musterbeispiel. Noch einmal: 21 Staaten machen es so, wie wir es anstreben. Österreich – das einzige Land innerhalb der Europäischen Union, das einen anderen Weg geht – hat ein zentrales Register auf Bundesebene geschaffen, sozusagen einen großen Container mit entsprechenden Registerdaten. Wir arbeiten vernetzt von oben bis unten dezentral und föderal; ich glaube, das dient dem Datenschutz deutlich mehr als die österreichische Lösung.
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Was die Österreicher auch nicht tun, wir aber vorhaben, ist, diesen Mechanismus nicht nur auszuwalzen auf die Bundesebene, sondern auch die Kommunal- und die Landesverwaltungen mitzunehmen. Das macht Österreich eben nicht. Insofern ist das deutsche Modell auch hier, denke ich, deutlich effektiver und auch besser.
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Es wird seinen Grund haben, warum niemand in der Europäischen Union bislang Österreich gefolgt ist.
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Der Umbau der Registerlandschaft ist angesprochen worden. Ja, er ist teuer und zeitaufwendig. Nur, wir reden hier nicht über wenige Monate. Die Studie, die Sie ansprechen, sagt, dass es ungefähr doppelt so lange dauert – und dann reden wir gefühlt über zehn Jahre – auf dem Weg zur Registermodernisierung und entsprechenden Zurverfügungstellung von Onlinedienstleistungen. Ob wir uns das leisten wollen? Natürlich müssen wir in diesen Bereich eintauchen. Aber es ist ja nicht so, als hätte hier keine verfassungsrechtliche Prüfung stattgefunden. Das BMI ist nicht allein, auch das BMJV trägt diese Lösung in dieser Form mit.
Ich glaube, hier sind jetzt die Datenschutzbeauftragten und auch die Datenschutzkonferenz gefordert, ihre eigenen Standpunkte einmal zu hinterfragen und auch einmal zu schauen, wie wir eine – natürlich datenschutzsichere – Lösung finden. Ich finde manches in der Stellungnahme der Datenschutzkonferenz mehr als schwierig. Das gilt auch für die Grunddaten beispielsweise, die bei der österreichischen Lösung im zentralen Register gespeichert sind, die wir auf der deutschen Ebene so nicht hätten. Wir brauchen eine zukunftsgewandte Lösung. Wir brauchen ein Lösen der Bremse. Wir brauchen mehr Digitalisierung, und die brauchen wir schnell.
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Ich glaube, es gibt gute Argumente, datenschutzrechtliche Bedenken ernst zu nehmen und trotzdem den Weg zu gehen, wie wir ihn beschreiten. Ich freue mich auf die digitale und auf die bürgerfreundliche Zukunft. Heute beginnt sie, glaube ich, mit guten Beratungen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Jetzt freuen wir uns auf die letzte Rednerin des heutigen Tages, die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion.