Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab.
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Der Verfassungsrechtler und ehemalige Bundesminister der CDU Rupert Scholz nennt den Vorgang jetzt schlicht „verfassungswidrig“.
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Zugleich ist das Ganze fachlich eine Gesetzesfarce und eine eilige Flickschusterei.
Die AfD beantragt heute die Rücküberweisung des Gesetzentwurfs in die Ausschüsse. Wir können ihn heute nicht debattieren. Der Gesetzentwurf muss runter von der Tagesordnung.
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Unglaubliches mussten die Abgeordneten erleben, wie sie berichten. Der wichtigste parlamentarische Ausschuss in dieser Angelegenheit ist der federführende Gesundheitsausschuss. Er sollte am Montag um 10.30 Uhr tagen. Entscheidende Änderungsanträge lieferte die Regierung aber erst kurz davor, um 9.30 Uhr, eng bedruckte 36 Seiten. Niemand konnte das rechtzeitig lesen oder inhaltlich kritisieren oder auch nur überfliegen. Kein Mensch!
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Trotzdem peitschten die Koalitionsparteien mit ihrer Mehrheit dieses wichtige und so problematische Gesetz durch den Ausschuss. Was für eine arrogante Missachtung des Parlaments! Das dürfen wir nicht zulassen.
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Geben Sie die Vorlage zurück in die Ausschüsse, meine Damen und Herren!
Im EU-Ausschuss, so wird uns berichtet, tönte der SPD-Obmann lauthals, man könne dem Gesetzentwurf nicht zustimmen; Änderungsanträge seien viel zu kurzfristig eingegangen, es fehlte jede Zeit zur Prüfung. Man lehne ihn daher ab. Am Ende stimmte die SPD im Ausschuss dann aber zu,
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obwohl sie eigentlich dagegen war. Kann man sich als Parlamentarier mehr verbiegen? Früher hatten Sozialdemokraten mal Rückgrat; ich erinnere mich noch an die Zeit von Helmut Schmidt. Das ist aber lange vorbei.
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Ein ähnliches Spektakel im Rechtsausschuss: Die Vorlagen kamen viel zu spät, manche wurden gar nicht verschickt. Alle Oppositionsfraktionen begehrten dagegen auf. Sie wurden eiskalt überstimmt, das Gesetz ohne echte Beratung auch durch diesen Ausschuss gedrückt. Dabei ist es eines der wichtigsten in der Geschichte der Bundesrepublik. Keines schnitt tiefer ein in die Freiheitsrechte der Menschen: Berufsfreiheit, Reisefreiheit, Freiheit der Person, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung und, und, und. So was muss man doch in den Ausschüssen besprechen und beraten. Das geht nicht im Hauruckverfahren.
Meine Damen und Herren, wie resümiert Merkels Gesetzentwurf unter Punkt C? „Alternativen“: „Keine.“
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Typisch Merkel: mal wieder alternativlos. Aber es gibt eine Alternative für Deutschland.
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Das Wort zur Geschäftsordnung erhält nun der Kollege Grosse-Brömer, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben soeben erlebt, wie ein politisch Ertrinkender verzweifelt nach Halt sucht.
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Sie saufen politisch ab, weil Sie keine Themen haben, keine Ideen und keine Antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Deswegen müssen Sie sich mit der Geschäftsordnung beschäftigen.
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Gestalten können Sie nicht. Sie können nur dagegen sein, und das ist größtenteils mit Verleumdungen und Unwahrheiten verbunden.
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Sie wissen das, und deswegen sind Sie gerade so betroffen.
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Im Übrigen wird Ihre Rechnung nicht aufgehen. Die Menschen im Lande sind nicht so dumm, Ihnen auf den Leim zu gehen.
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Beschäftigen Sie sich damit! Versuchen Sie mal, programmatisch zu arbeiten! Ich weiß, das ist ungewohnt für Sie; aber es lohnt sich.
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Wir schließen heute ein vollkommen geordnetes Gesetzgebungsverfahren ab, an dem das Parlament massiv beteiligt war.
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– Ja, Sie nicht, weil Sie sich nicht eingebracht haben.
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Herr Brandner, Ihre Maske sitzt nicht richtig.
Das ist völlig unstreitig: Alle Vorgaben unserer Verfassung, unserer Geschäftsordnung werden eingehalten.
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Haben Sie hier vorhin irgendwelche Argumente gehört, wo das nicht der Fall sein soll? Fehlanzeige. Erste Lesung, Anhörung, Beratung im Ausschuss, stundenlang. Vielleicht waren Sie nicht dabei, Herr Baumann.
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Vielleicht haben Sie es nicht mitbekommen. Aber alle anderen haben stundenlang an diesem Gesetz gearbeitet.
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Wir beschließen im Übrigen heute ein Gesetz, das für Klarheit und Rechtssicherheit sorgt, vor allem für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. Wir beschließen es heute, weil darin die Befugnisse der Exekutive, der Regierungen, konkret definiert werden. Sie werden enger und nicht weiter gefasst. Wir beschließen es auch, damit noch klarer wird, dass der Bundestag das erste und das letzte Wort zu diesen Maßnahmen hat.
Damit das klar ist: Dieses Gesetz ist nicht nur ein Bevölkerungsschutzgesetz. Dieses Gesetz ist vor allen Dingen ein Parlamentsstärkungsgesetz, meine Damen und Herren.
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Und wir beschließen es deshalb, weil wir zur Bekämpfung der Pandemie weiter handeln müssen, weil es um Menschenleben geht und weil wir Zustände wie in unseren Nachbarländern nicht wollen, sondern sie verhindern wollen. Das ist der Punkt, um den es geht.
Meine Damen und Herren, einer von Ihrer Truppe hat sich vor Kurzem verplappert. Er hat gesagt: „Der AfD geht es gut, wenn es Deutschland schlecht geht.“ Das ist Ihr Credo.
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Deshalb wollen Sie dieses Gesetz nicht. Wir machen da nicht mit. Wir wollen, dass Deutschland diese Pandemie besiegt. Wir wollen das gemeinsam machen, demokratisch und entschlossen. Deswegen beschließen wir heute dieses Gesetz.
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Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? – Herr Kollege Buschmann.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Welchen Grund für diesen Antrag könnte man als seriöse Oppositionsfraktion haben? Vielleicht, dass man noch keine Meinung zu diesem Gesetz entwickeln konnte. Ich glaube, das war möglich. Die Linke lehnt es ab, die Grünen sind dafür, wir lehnen es ab. Wenn Sie immer noch nicht wissen, wie Sie zu § 28a IfSG stehen, dann ist das Ihr Problem und nicht das Problem dieses Hauses.
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Welchen seriösen weiteren Grund, diesen Geschäftsordnungsantrag zu stellen, könnte man anführen? Vielleicht, dass man Änderungsvorschläge hat, diese sogenannten Alternativen, die Sie ja im Namen führen. Im Ausschuss war von Ihnen nichts zu hören, nichts haben Sie vorgelegt.
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Die Grünen haben einen Änderungsantrag vorgelegt. Wir haben einen Änderungsantrag mit einem neuen Abschnitt über 16 Seiten vorgelegt.
Es war möglich, Alternativen zu formulieren. Sie reden nur darüber; wir tun es, und dass wir es getan haben, zeigt, dass es geht, meine Damen und Herren.
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In Wahrheit geht es Ihnen doch um was ganz anderes. Der Antrag ist ja nicht am Montag, auch nicht am Dienstag angekündigt worden, sondern gestern Abend, heute Morgen stellte er sich so ein. Was ist der wahre Grund? Seien Sie doch ehrlich: Sie haben gemerkt, dass Ihre radikalen Freunde da draußen in Social Media dazu aufrufen,
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die Wege ins Parlament zu blockieren; und weil Sie die für sich einnehmen wollen, wollen Sie genauso den Weg der Gesetzgebung blockieren, wie die da draußen den Weg ins Parlament blockieren wollen.
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Sie wollen sich mitversammeln hinter der Rede von einem „Ermächtigungsgesetz“ und sonstigen Banalisierungen. Sie wollen die Institutionen in den Schmutz ziehen, weil Sie sie hassen. Das ist der eigentliche Beweggrund für das, was Sie hier tun. Sie haben keine Alternativen, Sie wollen nur Krawall machen.
Bei diesem Quatsch machen wir nicht mit. Das Gesetz, das die GroKo vorlegt, ist schlecht,
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aber es errichtet keine Diktatur.
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Nächster Redner zur Geschäftsordnung ist der Kollege Carsten Schneider, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute hier um 12 Uhr zusammengekommen, um ein Gesetz zu novellieren: das Bevölkerungsschutzgesetz. Herr Kollege Buschmann hat gerade darauf hingewiesen, dass draußen Demonstrationen stattfinden, dass es Aufrufe auch von Ihrer Fraktion, der AfD, gab, die Eingänge zu blockieren, den Gesetzgeber bei seiner Arbeit zu behindern.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin den vielen Polizistinnen und Polizisten – es sind über 2 000 – aus neun Bundesländern, die heute hier in Berlin sind, dankbar, dass sie ihren Job machen, uns die Gelegenheit geben, unsere Arbeit zu machen, ordentlich zu beraten
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und nicht wie Sie mit der Angst und der Sorge der Menschen in Deutschland zu spielen und letztendlich nur zu provozieren, wie auch Ihr Auftritt heute zeigt.
Weil es Ihnen aber um nichts anderes geht, als die Institution des Bundestages, die Institutionen unserer Verfassung – der Bundesrat ist heute auch gut vertreten – in den Dreck zu ziehen und zu diskreditieren, will ich hier klar sagen: Das Verfahren, das wir gewählt haben, ist ein zügiges. Angesichts der Pandemielage ist das aber auch notwendig.
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Es ist im Rahmen der demokratischen und parlamentarischen Gepflogenheiten.
Wir hatten hier eine erste Lesung in der letzten Sitzungswoche. Dazu haben verschiedene gesprochen; auch Sie hatten die Gelegenheit. Dann gab es den Gesetzentwurf, den wir um einen § 28a IfSG ergänzt haben; der ist bekannt, den haben wir als Fraktion mit eingebracht. Wir haben danach, in der darauffolgenden Woche, sachgerecht eine Anhörung stattfinden lassen. Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Opposition wurden auch über die Änderungen informiert, die wir als Koalition planen.
Dann haben wir tatsächlich Folgendes gemacht: Wir haben diesen § 28a, der nur für diese eine Pandemie gilt, umgeschrieben, geändert aufgrund der Kenntnisse, die wir von den Sachverständigen und auch aus der Debatte hier im Parlament erlangt hatten. Dafür will ich mich ganz herzlich bedanken.
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Ich halte es für einen zwingend notwendigen Prozess, hier noch mal deutlich zu machen, dass Ihre Irreführung nur dazu führt, dass die Demokratie diskreditiert wird.
Eines will ich hier noch sagen. Aus Ihren Stimmen, aus Ihren Reihen kommt das Gerede, das Verächtlichmachen des Parlaments, vor allen Dingen noch mit Bezügen zum Jahr 1933. Sie haben das mit der Ermächtigung hier als Keyword wieder angetextet, Herr Baumann. Es geht Ihnen um einen Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz. Ich sage Ihnen als Sozialdemokrat, einer Fraktion, deren Mitglieder 1933 – nicht hier im Reichstag, sondern in der Krolloper – durch die Spaliere der SA und der SS marschiert sind, wohl wissend, dass ihnen danach der Tod drohen kann, und er hat ihnen auch gedroht: Unsere Sozialdemokraten konnten noch hierhergehen, haben abgestimmt und gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt. Die Kommunisten waren schon ausgeschlossen, waren im KZ oder anderswo.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Leute wie Sie mit solchen geschichtlichen Parallelen spielen, diskreditieren Sie nicht nur unsere Demokratie, sondern Sie machen sie auch verächtlich, und genau das wollen Sie. Wir lehnen das ab.
Vielen Dank.
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Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor.
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und vor allen Dingen: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Ich weiß, insbesondere Ihnen haben wir im letzten halben Jahr viel abverlangt, und ich bin allen dankbar, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bisher mitgetragen haben und auch weiterhin mittragen.
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In den vielen E-Mails, Telefonaten und Gesprächen während dieser Zeit, auch zu diesem Gesetz konkret, habe ich echte Sorge gespürt. Sie alle bitte ich: Bleiben Sie bei uns! Bilden Sie sich Ihre Meinung anhand der Debatten der demokratischen Parteien in diesem Bundestag!
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Trauen Sie nicht einigen wenigen, die unter dem Deckmantel, Grundrechte schützen zu wollen, uns Abgeordnete diskreditieren oder gar an der Debatte hindern wollen! Ich jedenfalls lasse mich durch solche Angriffe nicht einschüchtern.
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Tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, befinden wir uns weiterhin in einer kritischen Phase der Pandemie. Der Verlauf der letzten paar Tage lässt zwar hoffen, dass wir die Infektionsdynamik unterbrechen konnten. Von einer Wiederbeherrschbarkeit des Infektionsgeschehens sind wir aber noch deutlich entfernt.
Das dritte Bevölkerungsschutzgesetz ist deshalb insbesondere wegen der weiteren Maßnahmen zur Eindämmung dieses Virus so dringend notwendig. Wir bereiten in diesem Gesetz vor allem das Verfahren für die endlich in greifbarer Nähe liegenden Impfungen vor. Die technischen Einzelheiten überlassen wir dann der Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums.
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Wir setzen ebenfalls im Gesetz den Rechtsrahmen für eine Impfstrategie. Wir regeln den Anspruch auf Schutzimpfung und vorrangige Berücksichtigung besonders vulnerabler Personengruppen. Berücksichtigt werden zum Beispiel aber auch Menschen, die diese Gruppen pflegen, behandeln oder betreuen. Übrigens – jetzt Achtung! –: Wir sehen einen Anspruch auf die Impfung vor und keine Impfpflicht.
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Wir brauchen auch weitere Testkapazitäten. Deswegen binden wir die zahnärztlichen und tierärztlichen Labore in die Laboruntersuchungen ein.
Wir wollen besonders viele vulnerable Gruppen zusätzlich schützen. Wir sehen dafür einen Anspruch auf FFP2-Schutzmasken vor, vor allen Dingen, um das Ansteckungsrisiko noch mal zu vermindern.
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Diesen Anspruch, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir Unionsabgeordnete übrigens gegen viele Widerstände durchgesetzt.
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Die Krankenhäuser, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen bei den aktuellen Intensivzahlen vor allem Liquidität, wenn sie für notwendige Behandlungen erneut, wie im März, planbare Operationen zugunsten der Covid-19-Patienten verschieben müssen. Und anders als noch im Frühjahr unterstützen wir heute gezielt die Kliniken, die notwendige Versorgungsstrukturen vorweisen, konkret also diejenigen der Stufen II und III, die an der Notfallversorgung teilnehmen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in den vergangenen Wochen wurde deutlich, dass es weiterer Präzisierung im Infektionsschutzgesetz bedarf. Stichworte sind die fortdauernd notwendigen Kontaktbeschränkungen; bisher gibt es keine speziellen Medikamente; der Impfstoff ist noch nicht verfügbar.
Und ich habe es noch nie erlebt, dass ein Gesetz so missverstanden wurde.
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Mit § 28 Infektionsschutzgesetz weiten wir gerade nicht den Handlungsspielraum der Regierung aus, sondern wir engen ihn ein,
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und nur dann, wenn wir im Parlament eine epidemische Lage feststellen. Solange diese Feststellung andauert, kann die Exekutive bestimmte vorgegebene Maßnahmen ausführen und anordnen, und zwar mittels Rechtsverordnung. Sobald wir Abgeordnete die epidemische Lage beenden, sind diese Maßnahmen hinfällig. Die Maßnahmen bleiben auch gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar.
Wir schränken auch nicht einseitig irgendwelche Grundrechte ein, sondern wir setzen in § 28a den Rechtsrahmen für den Ausgleich dieser Grundrechte.
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Es gibt doch nicht nur die Grundrechte derjenigen, die von den Einschränkungen betroffen sind, wenn wir die Ausbreitung des Virus verhindern wollen. Der Staat ist doch auch dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit all jener verpflichtet – das sind wir alle –, die durch die Pandemie gefährdet sind. Das ist doch die Wahrheit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle dürfen es auch nicht hinnehmen, dass manche – ich betone: manche – den Bots, den Verschwörungserzählern, den Schwurblern, denjenigen, die unseren Staat grundsätzlich ablehnen, mehr vertrauen als uns im Parlament.
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Ich will um das Vertrauen der großen Mehrheit in unsere Demokratie, in unseren Rechtsstaat und in unsere Institutionen kämpfen. Wir Unionsabgeordneten sind davon überzeugt, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetz ist. Wir sind davon überzeugt, dass wir nachher dem Antrag, den Fortbestand der pandemischen Lage festzustellen, zustimmen können. Ich empfehle Ihnen allen die Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vertrauen ist eine der wichtigsten Ressourcen der Gesellschaft. Man kann es bekanntlich verspielen. Wenn Menschen einander nicht mehr vertrauen, endet der Wille zur Kooperation, und es entsteht Unfrieden. Wenn Teile der Bevölkerung der Regierung nicht vertrauen, bilden sich Risse im gesellschaftlichen Gefüge. Wenn die Regierung und regierungsnahe Medien
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diese Teile der Bevölkerung stigmatisieren und beschimpfen oder gar mit dem Verfassungsschutz bedrohen, statt mit ihnen zu reden, werden diese Risse tiefer, und das Misstrauen wird größer.
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Und, meine Damen und Herren, wenn Abgeordnete von der Polizei zu Boden geworfen werden, dann darf man fragen: Wo sind wir eigentlich angekommen in diesem Land?
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In einem Rechtsstaat wird das Grundvertrauen institutionell gesichert durch die Grundrechte, meine Damen und Herren. Heribert Prantl – bei Gott kein Freund der AfD –, der Chefkommentator der „Süddeutschen Zeitung“, hat dazu bemerkenswerte Worte geschrieben bzw. gesprochen – ich zitiere mit Zustimmung des Präsidenten –: Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie die Grundlagen unseres Lebens bilden. Grundrechte sind gerade für die Notzeiten da. Wenn sie in Krisen und Notzeiten weggeschoben werden,
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dann sind sie nichts wert, dann kann man sie vergessen. – Heribert Prantl, nicht Alexander Gauland.
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Das Infektionsschutzgesetz der Bundesregierung ist die größte Grundrechtseinschränkung in der Geschichte der Bundesrepublik.
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Wenn wir den Gedankengang von Herrn Prantl fortsetzen, heißt das: Wir können die Grundrechte vergessen. Das Misstrauen, meine Damen und Herren, wird explodieren.
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Das sehen Sie auf den Straßen, das sehen Sie in der Aggression, die Sie überall spüren,
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und Sie sehen es in vielen Städten und heute auch vor dem Bundestag. Diese Menschen treten für ihre Grundrechte ein und müssen nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden!
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Viele Bürger haben existenzielle Sorgen und Fragen.
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Sie wollen nicht nur wissen, wie es mit ihren Geschäften, Lokalen oder Kulturstätten weitergehen soll,
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sondern sie fürchten angesichts ausgesetzter Grundrechte um ihre Freiheit. Corona-App, Kontaktverfolgung, digitale Gesundheitskontrolle, indirekte Impfpflicht: Das sind ja alles Symptome einer nahenden smarten Gesundheitsdiktatur.
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Die Menschen fragen sich beispielsweise, ob sie Nachteile haben werden, wenn sie sich nicht impfen oder sich nicht registrieren lassen wollen.
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Kommt man dann eines Tages nicht mehr ins Restaurant oder zum Sport oder ins Ausland? Wer so etwas fragt, den nennt man bekanntlich Verschwörungstheoretiker. Doch in China ist diese Art Totalüberwachung bereits Fakt, und wir wollen auf diesem Wege kein Stück mitgehen.
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Die „FAZ“, der man nicht zu nahe treten wird, wenn man sie „regierungsnah“ nennt,
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twittert:
Die hohen #Corona-Zahlen in vielen westlichen Ländern werfen die beunruhigende Frage auf, ob offene Gesellschaften weniger geeignet sind, auf globale Bedrohungen zu reagieren als autoritäre Systeme.
Will dort jemand schon mit dem Zaunpfahl winken?
In einer Sachverständigenstellungnahme hat die Vertreterin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht der Ruhr-Universität Bochum vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages ausgeführt – Zitat –:
Der geplante § 28a IfSG genügt den Vorgaben von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz nicht. Die Vorschrift lässt keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen erkennen, sondern will offenbar einseitig das bisherige Vorgehen während der Corona-Epidemie legitimieren.
So die Sachverständige im Gesundheitsausschuss.
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„Keinerlei Abwägung“, so verhält es sich. Denn was ist es anderes als maßlos und unausgewogen, wenn die Unverletzlichkeit der Wohnung zur Disposition gestellt wird, wenn die Kanzlerin allen Ernstes erklärt, Kinder sollten nur noch einen Freund treffen dürfen?
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Haben wir denn die Pest im Lande, Frau Bundeskanzlerin?
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Meine Damen und Herren, was ist eine Pandemie von nationaler Tragweite? Wer das definiert, verfügt heute über den Ausnahmezustand. Anscheinend ist Herr Drosten der aktuelle deutsche Souverän, und die Argumente anderer Virologen und Epidemiologen, die sich gegen den Lockdown aussprechen, werden beiseitegewischt,
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etwa das Papier von Herrn Streeck und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, das auch zahlreiche Ärzteverbände unterzeichnet haben. Die Unterzeichner fordern ein bundesweit einheitliches Ampelsystem, anhand dessen sich sowohl auf Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennen lässt. Sie setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung. Sie plädieren für die Förderung von Hygienekonzepten anstelle von Schließungen sowie für den Schutz von Risikogruppen durch spezielle Maßnahmen. Wir unterstützen solche vernünftigen Ideen, so wie wir uns den wirtschaftlich und zwischenmenschlich ruinösen Notstandsmaßnahmen widersetzen.
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Wir werden noch viele Monate mit dem Virus leben müssen, und die Bürger wissen das. Die meisten gehen verantwortungsvoll mit der Situation um, so wie die Wirte, die Bühnenkünstler, die Konzertveranstalter verantwortungsvoll mit der Lage umgingen: Sie haben sämtliche Besucher registriert, sie haben ihre Kapazitäten beschränkt, sie haben Hygienekonzepte entwickelt und dafür bei sinkenden Einnahmen Geld ausgegeben. Dass man sie trotzdem zusperrt, ist unerträglich, und das läuft auf Diktatur hinaus.
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Ich habe an dieser Stelle schon gesagt – und ich werde nicht müde, es zu wiederholen –: Der Souverän dieses Landes ist das deutsche Volk, repräsentiert durch dieses Parlament. Nur dieses Parlament kann Grundrechtseinschränkungen beschließen, und zwar nach Abwägung aller Argumente auf eine exakt begrenzte Zeit. Nicht mal das haben Sie festgelegt: eine exakt begrenzte Zeit.
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Meine Damen und Herren, dass die Regierung die vom Volk gewählten Abgeordneten vor vollendete Tatsachen stellt, widerspricht dem Geist der Demokratie und dem Grundgesetz.
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Allein deswegen lehnen wir dieses Gesetz ab – und nicht, Herr Buschmann, weil wir dieses Parlament nicht wollen, weil wir die Demokratie nicht wollen, sondern weil wir offensichtlich in diesem Lande die einzige demokratische Fraktion sind.
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Ich bedanke mich. Hoffentlich haben auch die anderen mal was gelernt!
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Bärbel Bas, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Kommen wir mal zurück zu den Fakten.
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Wir haben in den letzten Tagen alle sehr viele Zuschriften bekommen, und die nehmen wir auch sehr ernst –
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vielleicht nicht alle, vor allen Dingen nicht die, die dieses Gesetz mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 gleichsetzen, was den Holocaust wirklich verharmlost.
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Das muss ich an der Stelle noch mal zurückweisen.
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Die Befürchtung ist, dass wir mit diesem Entwurf die Ermächtigungen für die Bundesregierung oder für einzelne Minister oder Landesregierungen ausweiten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Das muss man an der Stelle noch mal festhalten.
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Ich will noch mal deutlich machen: Wir hatten bisher eine Generalklausel, auf deren Grundlage viele Verordnungen umgesetzt wurden. Diese präzisieren wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Das ist doch genau der Punkt, nämlich dass wir einschränken, dass wir sagen: Wir befristen die Maßnahmen, wir müssen sie begründen. – Das ist doch der richtige Schritt: dass wir von dieser Generalklausel wegkommen, die Maßnahmen definieren und sagen, wie sie Schritt für Schritt umgesetzt werden dürfen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, den ich noch mal nennen will, weil in vielen Mails, die wir bekommen haben, die Befürchtung geäußert wird, wir würden hier viel zu viel Ermächtigung an die Länder geben. Das ist nicht der Fall.
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Frau Kollegin Bas, der Kollege Schinnenburg, FDP, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, im Moment nicht. Danke.
Ich will noch mal zu den Fakten kommen. Wir müssen im Moment unsere Kontakte reduzieren. Natürlich kann man sich über jede einzelne Maßnahme streiten. Warum dieser Bereich geschlossen wird, ein anderer nicht, warum Schulen aufbleiben, darüber kann man sich trefflich streiten. Aber am Ende bleibt Fakt: Wir müssen insgesamt die Kontakte reduzieren, weil wir sonst die drei Probleme, die wir im Moment haben, nicht lösen können. Darauf hat auch die AfD keine Antwort.
Ein Problem ist: Unsere Labore sind, weil wir sehr viel testen – und das ist gut und richtig –, am Limit. Deswegen haben wir in diesen Gesetzentwurf jetzt die Regelung aufgenommen, dass wir die Testungen auf tiermedizinische und zahnärztliche Labore ausweiten. Das ist genau der Hintergrund. Auch deshalb ist es wichtig, das Gesetz heute zu beschließen.
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Der zweite Punkt betrifft die Krankenhäuser; das ist auch ein Fakt, den man nicht wegdiskutieren kann. Reden Sie doch mit den Kolleginnen und Kollegen, die in den Krankenhäusern arbeiten, reden Sie mit den Patientinnen und Patienten und den Angehörigen! Corona ist da. Es verursacht schwere Erkrankungen, die sogar zum Tod führen können. Wir müssen die Krankenhäuser jetzt finanziell stützen und vor allen Dingen auch den Gesundheitsschutz berücksichtigen, wenn wir Maßnahmen gegeneinander abwägen.
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Das ist auch ein Recht, das im Grundgesetz verankert ist. Natürlich muss man das gegenüber anderen Freiheitsrechten abwägen. Das tun wir hier aber auch; deswegen diskutieren wir das hier heute. Es ist aber wichtig, dass dieser Gesetzentwurf eine Stärkung der Krankenhäuser beinhaltet.
Übrigens, wenn viele Coronapatienten auf den Intensivstationen sind und wir andere Operationen deshalb verschieben müssen, ist das auch ein Fakt, den wir betrachten müssen. Denn die Menschen, die auf eine planbare Operation warten, haben es verdient, dass wir die Infektionszahlen insgesamt runterbringen,
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damit auch sie einen Platz auf einer Intensivstation bekommen, der nach einer Operation vielleicht notwendig ist.
Der dritte Punkt – das ist eine positive Botschaft –: Wir bereiten uns auf die Impfungen vor. Es gibt Impfstoffe, und zwar nicht nur einen, sondern wahrscheinlich sogar mehrere. Ich möchte mal den Aufschrei in der Bevölkerung hören, wenn wir jetzt keine Maßnahmen ergreifen, um uns darauf vorzubereiten, indem wir zum Beispiel Zentren aufbauen, indem wir Impfstoffe einkaufen, indem wir produzieren. Es ist doch wichtig, dass die Menschen, die dies wollen, auch geimpft werden können. Das hat nichts mit einer Impfpflicht zu tun,
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sondern das ist auch ein Grundrecht. Da muss man doch sagen: Das ist mal positiv; denn wir sorgen dafür, dass es Impfungen gibt.
Übrigens haben wir Fortschritte im Arzneimittelbereich zu verzeichnen. Es werden Arzneimittel auf den Markt kommen, die schwere Verläufe abmildern können. Wir werden bei den Tests besser. Insofern werden wir diese 17 einschränkenden Maßnahmen, die in § 28a Infektionsschutzgesetz aufgelistet sind, am Ende nicht mehr brauchen, wenn wir beim Schnelltesten besser werden, wenn wir Medikamente, Arzneimittel und Impfstoffe haben. Das ist doch die Perspektive, auf die wir jetzt hinarbeiten.
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Es ist deshalb wichtig, die Kontakte jetzt einzuschränken, dass wir durchhalten und die Maßnahmen durchsetzen, um dies zu erreichen. Das ist unser gemeinsames Ziel, und deshalb kann die SPD-Fraktion diesem Gesetz auch guten Gewissens zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten diesen Gesetzentwurf im Zusammenhang mit konkreten Maßnahmen. Anfang November sind einschneidende Freiheitseinschränkungen befristet für diesen Monat beschlossen worden. Wenige Tage, im Grunde Stunden nachdem diese eigentlich befristeten Maßnahmen beschlossen worden sind, wurde bereits aus der Spitze der Regierungskoalition infrage gestellt, ob diese Befristung tatsächlich Bestand haben kann.
Am Montag dieser Woche wollte das Bundeskanzleramt selbst noch zusätzliche Freiheitseinschränkungen, ohne dass die bisherigen Beschränkungen bei Gastronomie, Kultur, Sport und Freizeiteinrichtungen konkret analysiert worden wären. Durch solche raschen Veränderungen von Positionen, Einschätzungen und Ankündigungen stellt man das unverändert große Vertrauen der Bevölkerung in die Politik unnötig auf die Probe.
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Unverändert fehlt eine dauerhaft durchhaltbare Risikostrategie. In den Beschlüssen von Bund und Ländern am Montag gibt es aber bereits eine Richtungsweisung. Wir haben bereits vor Monaten vorgeschlagen, besonders von gesundheitlichen Risiken Betroffenen FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen.
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Wir begrüßen, dass die Regierung diesen Schritt jetzt geht; aber es müsste konsequenter erfolgen. Wir müssen die vulnerablen Gruppen konsequent schützen; denn das wäre ein Baustein, um Freiheits- und Gesundheitsschutz besser auszubalancieren als bisher.
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Das neue Infektionsschutzgesetz leistet zu einer durchhaltbaren Risikostrategie leider nur wenige Beiträge, etwa mit Blick auf die Teststrategie oder die Digitalisierung. Wir lehnen es aber insbesondere wegen seines § 28a ab. Er ist im Kern eine Aufzählung von Freiheitseinschränkungen. Diese Grundrechtseingriffe müssten nach dem Prinzip „Wenn-dann“ klar einer konkret definierten Situation zugeordnet werden.
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Nur dann können die Menschen staatliches Handeln einschätzen. Nur dann wissen auch Landesregierungen und Kommunen, welche Maßnahme in welcher Lage zu ergreifen ist. Es ist ein schweres Versäumnis von Union und SPD, dass diese klare Zuordnung unterlassen wird.
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Wie notwendig sie wäre, hat sich am Sonntag und Montag ja gezeigt: Bund und Länder haben sich beispielsweise über die Frage der Halbierung des Schulunterrichts zerlegt. In der Sache wie vom Verfahren her war das Vorgehen des Kanzleramtes fragwürdig. Wieder Millionen Familien im Stich zu lassen und gerade den Schwächsten ihr Bürgerrecht auf Bildung zu nehmen, das ist weder sinnvoll noch notwendig.
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Aber vor allem hat sie am Montag gezeigt, dass die gemeinsame Bewertungsgrundlage für die Lage und ein Verständnis über eine angemessene Reaktion fehlen. Wir, das Parlament, können in einer dynamischen Lage nicht täglich neu beurteilen. Aber wir können und wir müssen die Entscheidungen der Regierungen lenken und ihnen klare Leitplanken geben, wenn in Grundrechte eingegriffen wird. Der Entwurf von Union und SPD gibt der Regierung aber keine Leitplanken vor, sondern er stellt – im Gegenteil – einen Freifahrschein aus.
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Im Übrigen auch: Die alleinige Orientierung an der Zahl von 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner ist willkürlich gegriffen. Sie spiegelt nur die aktuelle Personalsituation der Gesundheitsbehörden wider.
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Auch andere Kriterien müssen berücksichtigt werden, um die pandemische Lage einschätzen zu können. Insbesondere nach Verfügbarkeit eines Impfstoffs und der Impfung besonders gefährdeter Personen wird sich auch die Bewertung der Pandemie ändern. Die praktische Tauglichkeit Ihres Gesetzesvorschlags hat deshalb eine viel zu geringe Halbwertszeit.
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Zudem unterscheidet sich das Pandemiegeschehen regional. In Schleswig-Holstein gibt es andere Zahlen als in Bayern; deshalb muss ein regional differenziertes Vorgehen weiter möglich sein. Es kann eine Lage eintreten, in der auch empfindliche Grundrechtseingriffe nötig sind, empfindlichere sogar als im Moment. Es fehlt aber die Möglichkeit, dass sich beispielsweise Betriebe durch eine behördlich genehmigte Hygienekonzeption von Beschränkungen befreien können. Für Gastronomie und Kultur wäre das eine Chance auf Öffnung.
Stattdessen gibt es in der Aufzählung von Union und SPD sogar überflüssige Maßnahmen wie eine allgemeine Ausgangssperre für Menschen. Vom Vor-die-Tür-Treten geht aber kein Infektionsrisiko aus. Halten Sie das im Normtext tatsächlich für erforderlich, selbst wenn es nur als Ultima Ratio gemeint ist? Für uns wäre Hausarrest für Menschen prinzipiell unverhältnismäßig, und deshalb sollte diese Maßnahme besser gar nicht im Gesetz erwähnt werden.
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Zu diesem und zu anderen Aspekten haben wir Ihnen konkrete Vorschläge unterbreitet. Es wäre im allgemeinen Interesse, wenn sich die politische Debatte schließlich auf Entscheidungen in der Sache und nicht schon auf die Rechtsgrundlage konzentrieren könnte. Im Frühjahr hatte sich die Regierungskoalition noch um Gemeinsamkeiten mit der Opposition bemüht. Jetzt, im Herbst, gab es nicht einmal ein Gesprächsangebot von Union und SPD, Herr Brinkhaus.
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Das ist die Entscheidung des zuständigen Fachministers und der Regierungsfraktionen. Es gibt auch keine Verpflichtung für Sie, den Austausch mit der Opposition zu suchen. Aber die Suche nach Gemeinsamkeiten hier im Haus, das wäre zugleich ein Beitrag zur Befriedung eines gesellschaftlichen Konflikts gewesen.
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Nächster Redner ist der Kollege Jan Korte, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zur Kritik am Gesetz komme, will ich schon noch mal eines deutlich sagen: Das ist kein Gesetz, das in die Diktatur führt. Wer das behauptet, verhöhnt die Opfer von Diktatur
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und diejenigen, die gefoltert, geknechtet und ermordet wurden. So weit unten darf man nicht ankommen.
Meine Damen und Herren, nun zum Gesetz, das wir ablehnen werden. Denn – ich will das noch mal deutlich sagen – diese Bundesregierung hat den Sommer verpennt. Sie hätte Zeit gehabt, hier eine Analyse vorzulegen. Das hat sie nicht getan.
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Und ja, das Verfahren, Kollege Grosse-Brömer, ist zulässig. Politisch klug ist es in diesen Zeiten nicht. Der Bundestag ist, Frau Bundeskanzlerin, kein Bremsklotz, den man hier nach Gutdünken mal mit Anwesenheit beglücken kann oder nicht, sondern er ist zentral für die Meinungsfindung und für die Nachvollziehbarkeit der Pandemiebekämpfung, liebe Kolleginnen und Kollegen; um das klar zu sagen.
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Die überwältigende Mehrheit der Menschen zeigt ja ein solidarisches Grundverhalten – jeden Tag, jedes Wochenende –, und ohne die wird es nicht laufen. Deswegen finde ich, dass – wenn man so will – fast schon monarchische Züge – nach den MPKs wird verkündet, was jetzt passiert – der Sache nicht angemessen sind. Damit verspielt man Akzeptanz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ja, in der Tat, es gibt gute Verbesserungen, die Sie vorgelegt haben, beispielsweise dass die Gästelisten aus Restaurants natürlich nur zur Bekämpfung der Pandemie nutzbar gemacht werden dürfen; das ist richtig. Dass mehr Begründung eingefordert wird, ist richtig. Und auch, dass bundeseinheitliche Regelungen angestrebt werden, ist richtig.
Aber ich will es auf den Punkt bringen, warum man diesem Gesetz nicht zustimmen kann – das will ich ganz deutlich sagen –: Jeder Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte, die so bitter erkämpft worden sind, die so unser Fundament sind, auf dem wir uns hier streiten können, bedarf der Debatte und der Zustimmung oder der Ablehnung des Bundestages. Und genau das ist nicht vorgesehen.
({4})
Deswegen kann man dem nicht zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist auch eine demokratische Grundsatzfrage, dass in einer Demokratie Regierungen niemals über solche massiven Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte entscheiden dürfen. Das ist nicht zulässig. Das muss hier geschehen, wenn überhaupt und wenn es notwendig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Denn – das will ich schon sagen; Sie kennen die Debatten, Sie kennen auch die aktuellen Zahlen – die Akzeptanz sinkt. Wir müssen aufpassen, dass diese schreckliche Coronakrise, die schon so viele Tote gefordert hat, nicht zu einer schleichenden Demokratiekrise wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dann hätten wir ein doppeltes Problem. Deswegen ist es entscheidend – das entspricht ja auch der Logik; sonst verstehen die Leute das doch nicht –, dass wir vor allen Maßnahmen und auch vor den Runden mit den Ministerpräsidenten hier eine Debatte – auch mit der Bundeskanzlerin – darüber führen, was Sie dort verhandeln und was Ihre Linie ist. Nur so geht es.
({6})
Danach hier mal vorbeizukommen und das mitzuteilen, kann doch nicht Ihr Ernst sein. So geht es auf jeden Fall nicht.
Was bewegt eigentlich die Menschen? Was stellt man fest, wenn man mit denen spricht? Wenn man morgens zur Kita geht, dann quatscht man mit den Eltern usw. usf. Was bewegt die Leute? Bewegen tut die Leute vor allem, ob die Maßnahmen, die in weiten Teilen natürlich auch richtig sind, eigentlich plausibel sind.
Nicht plausibel ist Folgendes: Es wird auf der einen Seite Kontaktbeschränkung gefordert und durchgesetzt, und gleichzeitig gibt es allen Ernstes verkaufsoffene Sonntage. Das versteht doch wirklich kein Mensch mehr da draußen.
({7})
Kinder sollen nur noch, so die Empfehlung, einen Freund treffen – mal gucken, wie eine Umsetzung überhaupt möglich ist –, und gleichzeitig sehen die Leute, dass die Kinder morgens mit 30 anderen Kindern zusammen in der Grundschule sitzen. Das ist doch nicht logisch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Auch nicht verstanden wird, dass man ruck, zuck 9 Milliarden Euro für die Lufthansa zur Verfügung stellt, aber 0 Milliarden Euro für ein bundesweites Luftfilterprogramm für die Schulklassen. Das versteht kein Mensch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Ich will auch eines sagen: Ein Ziel in den nächsten Tagen muss doch sein, dass jeder Schüler, jeder Lehrer, jede Pflegekraft so schnell einen Test und ein Testergebnis bekommt wie jeder Bundesligaspieler. Das müsste Ihre Aufgabe in dieser Woche sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich möchte noch eine Anmerkung machen. In diesen wirklich schwierigen und schlimmen Zeiten, die uns ja auch Sorgen machen, wo man mit den Leuten spricht, die viel Angst haben, wie das weitergeht, muss man mal daran erinnern, was Leute auf sich nehmen: Leute nehmen von ihren wenigen Urlaubstagen freiwillig Urlaub, um eine Woche in Quarantäne zu gehen, damit sie ihre Eltern und Großeltern treffen dürfen.
Das, was Sie völlig verpennt haben – um das deutlich zu sagen –, ist – und das wäre verantwortungsvoll gewesen –, eine Zukunftsskizze, hier einmal eine Perspektive für die Zeit nach der Pandemie vorzustellen.
({11})
Der Staat pfiff schon aus dem letzten Loch vor der Pandemie. Laut Ministerpräsident Haseloff in Sachsen-Anhalt gab es schon vor der Pandemie 2 000 Lehrer zu wenig – schon vor der Pandemie! Jetzt wäre es doch mal eine Zusage, umgehend die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zu beenden,
({12})
umgehend eine Entprivatisierung der Krankenhäuser anzugehen. Die Marktlogik muss raus aus unserer Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man mit den Leuten spricht, fragen sie natürlich auch: Wer bezahlt das alles? Das ist ja eine berechtigte Frage. In der Regel ist es so, dass, wenn man fragt: „Was denkt ihr denn, wer das bezahlt?“, mittlerweile die resignierte Antwort kommt: Es wird so sein wie immer; wir kleinen Leute werden es bezahlen. – Deswegen wäre es ein richtiges Zeichen, hier im Bundestag endlich für die Milliardäre in diesem Land eine Vermögensabgabe zu beschließen, damit es nicht so läuft wie immer, liebe Kolleginnen und Kollegen,
({13})
und das Versprechen abzugeben, dass nach der Bundestagswahl und nach der Pandemie der Sozialstaat nicht weiter abgerissen wird, sondern dass er – im Gegenteil – gestärkt wird, weil er Menschen Sicherheit gibt. Wenn man das beherzigen würde, dann hätte man größere Akzeptanz. Dann würde man die Leute einladen, für eine bessere Zukunft zu arbeiten und bei der Bekämpfung der Pandemie mitzumachen, und dann hätte man eine Chance auf einen solidarischere,
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eine gerechtere und eine viel lebenswertere Gesellschaft nach der Pandemie. Vielleicht könnte man so eine neue Zeit des Gemeinsamen hinbekommen. Das wäre angemessen.
Vielen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir schaffen heute für notwendige Eingriffe in die Grundrechte einen gesetzlichen Rahmen. Wir definieren den Zweck der Maßnahmen: Der Zweck ist die Sicherung der Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens.
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Daran werden die Gerichte in Zukunft die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit der Rechtsverordnungen der Länder messen.
({1})
Wir verpflichten die Länder dazu, ihre Rechtsverordnungen zu begründen, und wir befristen die Geltung auf vier Wochen.
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Für Untersagungen von Versammlungen und religiösen Zusammenkünften, für Besuchsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen und Krankenhäusern gelten in Zukunft erhöhte Voraussetzungen. Unter allen Umständen muss in Zukunft ein Minimum an sozialen Kontakten gewahrt bleiben.
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Der besondere Verfassungsrang von Kunst und Kultur wird anerkannt. Kontaktdaten dürfen nur noch zur Nachverfolgung von Infektionsketten verarbeitet und weitergegeben werden; eine eindeutige Löschfrist ist festgelegt. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wird gesetzlich definiert.
Wir legen damit heute die Grundlage dafür, dass gut begründete, evidenzbasierte Maßnahmen auch einer gerichtlichen Kontrolle standhalten.
({4})
Das schulden wir all denjenigen, die jetzt auf den Intensivstationen und in den Gesundheitsämtern mit dieser zweiten Infektionswelle kämpfen, und wir schulden es ihnen heute.
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Sind wir rundherum glücklich mit diesem Gesetzentwurf? Nein, das sind wir nicht. Einen Schönheitspreis wird er nicht gewinnen. Es wäre gut gewesen, schon in diesem Gesetz für Bürgerinnen und Bürger klar erkennbar zu machen, dass sich doch auch unsere Abwägungen seit März und April geändert haben. Wir sind uns doch hier vielfach einig – Ministerpräsidenten stimmen uns zu, hier im Haus stimmen uns viele zu –, dass zum Beispiel das Kindeswohl einen viel höheren Stellenwert in der Abwägung haben muss. Das hätten wir in den Gesetzentwurf reinschreiben können.
({6})
Kinder und Jugendliche brauchen den Kontakt zu anderen Kindern. Und Kontakt- und Reisebeschränkungen müssen natürlich respektieren, dass Familie, Partnerschaft und Ehe geschützt sind.
({7})
Bei der Untersagung von Konzerten müssen wir andere Abwägungen treffen als bei der Absage eines Kochkurses. Und die sogenannte Arbeitsquarantäne, mit der ausländische Saisonarbeitskräfte trotz Infektion weiter ausgebeutet werden, muss beendet werden.
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Wir Grüne wollen mehr als das, was in diesem Gesetz steht: Wir wollen eine umfassendere Berichtspflicht der Bundesregierung. Und wir sind immer noch davon überzeugt: Mit einem Pandemierat können wir all diese Fragen „Was ist der richtige Maßstab? Bei welcher Inzidenz müssen Maßnahmen ergänzt werden?“ vernünftig, unter Einbeziehung diversen Sachverstandes diskutieren und damit diese gesetzliche Grundlage auch verbessern.
({9})
Wir bitten Sie deswegen um Unterstützung für unseren Änderungsantrag. Ich halte diesen Änderungsantrag auch im Bundesrat für zustimmungsfähig. Der Gesetzentwurf der Koalition kann für uns nur ein Anfang sein; vielleicht ist er in Teilen sogar auch nur ein Provisorium. Die Gerichte werden uns weitere Hinweise geben. Wir müssen die Frage der Entschädigung anpacken – da beißt die Maus keinen Faden ab –; wir müssen sie gesetzlich regeln.
Herr Korte, einen eigenen Vorschlag der Linken sehe ich hier nicht.
({10})
Sie sagen, die Bundesregierung hätte seit Sommer Zeit gehabt. Ich höre nur: Hätte, hätte, hätte. – Der Leiter der Staatskanzlei in Thüringen, Benjamin Hoff, hat ein sehr schönes Video ins Internet gestellt, in dem er begründet, warum er nachher im Bundesrat diesem Gesetzentwurf zustimmt.
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Den Laden hält man so nicht zusammen.
({12})
Die FDP – Herr Lindner ist ausnahmsweise noch da –
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gewinnt, wie so oft, heute den Preis für schönen Schein. Ihr gestern Abend verschickter Änderungsantrag ist von der Regelungstechnik tatsächlich deutlich besser als der Entwurf der Koalition. Er ist deutlich besser.
({14})
Er ähnelt sogar verdächtig stark einem Entwurf, der in meiner Schublade liegt.
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Über manches müsste man streiten: Dass die Schließung von Schulen einfacher möglich sein soll als die Schließung von Betrieben, überzeugt mich nicht.
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Bei dem komplexen Thema der Entschädigung sind Sie gerade nicht präzise, sondern ziemlich grob und ziemlich schlampig.
Aber die Details mal weggelassen: Das hätte eine gute Diskussionsgrundlage sein können. Krise bewältigt man aber nicht mit schönen Anträgen. Ich habe in der letzten Woche mehr als mir und mehr als der Koalition lieb ist mit Vertretern der Koalition telefoniert. Ich bin ihnen hinterhergelaufen.
({17})
Ich sehe aufgrund dessen wesentliche Verbesserungen in dem geänderten Gesetzentwurf, der auch mit den Ländern abgestimmt ist.
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Sie haben offenbar kein einziges Mal irgendwo angerufen. Sie haben nicht versucht, diesen Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Im Ausschuss am Montag habe ich von Ihnen nur die Klage gehört, wie kurz die Beratungsfrist sei. Die Beratungsfrist für Ihren Änderungsantrag ist null, weil Sie ihn gestern Abend erst verschickt haben.
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Wir reden hier heute über die Verfassung. Sie wissen ganz genau, dass dieses Gesetz im Bundesrat zustimmungspflichtig ist und dass nicht ein Buchstabe Ihres Änderungsantrags – nicht ein Buchstabe! – mit den Bundesländern abgestimmt ist,
({20})
insbesondere nicht die unbestimmte Entschädigungsregelung, die unkalkulierte Risiken auf die Länder verschiebt. Sie wissen, dass das auch Ihre Landesregierungen nicht mittragen werden, nicht diese Woche und auch nicht nächste Woche. Wenn das anders sein sollte, dann zeigen Sie mir die Unterschrift Ihres Generalsekretärs unter diesem Änderungsantrag.
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Sie stellen also einen Änderungsantrag, von dem Sie wissen, dass er jetzt im Bundesrat nicht zustimmungsfähig ist.
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Das sieht nur auf den ersten Blick gut aus. In Wahrheit ist das die alte Haltung der FDP: Lieber nicht! Lieber kein Problem lösen!
Vielen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis.
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Herr Bundesminister, ich darf Sie einen Moment unterbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Parlament tragen wir unterschiedliche Meinungen mit Argumenten aus – sie mögen gut oder schlecht sein –, aber wir tragen sie nicht mit Transparenten und ähnlichen Dingen aus.
({0})
Deswegen ist meine dringende Bitte – das ist jetzt eine Bitte; ich kann es aber auch gleich so entscheiden –: Bitte entfernen Sie diese Plakate unverzüglich!
({1})
Wenn Sie sie nicht entfernen, muss ich Sie zur Ordnung rufen. Also bitte: Legen Sie sie weg!
({2})
Wenn wir uns alle ans Grundgesetz halten, ist das gut.
({3})
Jetzt entfernen Sie die Plakate!
Das Wort hat der Bundesminister Jens Spahn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie ist ein Jahrhundertereignis, ein Naturereignis, ja, gleichsam eine Naturkatastrophe. Sie ist eine Zumutung und eine Bewährungsprobe. Sie ist schicksalhaft über uns gekommen in unserer modernen, komplexen Zeit.
({0})
In dieser Jahrhundertpandemie ist klar: Egal was wir tun oder ob wir nichts tun: Es entsteht Schaden. Egal was wir entscheiden oder ob wir gar nicht entscheiden: Es entsteht Schaden. Die Frage ist: Wo entsteht welcher Schaden? Es geht um wirtschaftlichen Schaden für viele einzelne Bürgerinnen und Bürger und für die Volkswirtschaft; es geht um sozialen Schaden, menschliche Härten und Ausnahmesituationen; es geht um gesundheitlichen Schaden, Leid und Tod. Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sichert?
Nein, Herr Präsident, ich möchte meine Rede jetzt gerne im Gesamtzusammenhang halten.
({0})
Bitte.
Wir müssen nun gewichten, Prioritäten setzen, abwägen und tun dies seit Beginn der Pandemie. Die Wissenschaft kann uns beraten, liefert Fakten und Einschätzungen; aber kein Virologe, kein Infektiologe, kein Mikrobiologe, kein Professor Drosten und auch kein Professor Bhakdi kann uns die Aufgabe abnehmen, diese Entscheidungen zu treffen.
({0})
Wir im Deutschen Bundestag und in der von ihm legitimierten Regierung müssen gewichten, welchen Schaden wir wo wie ertragen wollen und ertragen können. Der Schutz der Gesundheit gilt dabei nicht absolut. Ja, er ist mit anderen Grundrechten abzuwägen; aber die körperliche Unversehrtheit steht übrigens auch in diesem Grundgesetz, das Sie gerade hochgehalten haben. Ist Ihnen das Leid – davon habe ich gar nichts gehört, Herr Gauland – auf den Intensivstationen, in den Krankenhäusern, in den Familien, von denjenigen, die Langzeitschäden haben, egal?
({1})
Das ist doch die Frage, die sich stellt.
Der Schutz der Gesundheit gilt nicht absolut; aber wir haben entschieden, dass der Schutz der Gesundheit in dieser Pandemie ein relativ stärkeres Gewicht bekommt. Wir haben uns entschieden, mit großer Mehrheit entschieden, in der Gesellschaft und hier im Parlament, dass wir keine Überforderung unseres Gesundheitssystems akzeptieren wollen. Leid durch Krankheit, Intensivmedizin, Beatmung und Tod können wir zwar nicht absolut vermeiden, aber wir wollen dieses Leid bestmöglich reduzieren. Steigende Infektionszahlen – an dieser praktischen Erkenntnis führt auch die spannendste theoretische Debatte nicht vorbei – führen in unserer alternden Gesellschaft bei den Eigenschaften dieses Virus früher oder später zu steigendem Leid auf unseren Intensivstationen und zum Kontrollverlust bei exponentiellem Wachstum.
Und um das zu vermeiden, müssen die Infektionszahlen runter, und vor allem müssen sie in ihrer Entwicklung unter Kontrolle bleiben. Ja, wir haben mit den aktuellen Maßnahmen Tritt gefasst, wir haben das exponentielle Wachstum gestoppt; aber wir sind noch nicht über den Berg. Und als Bundesminister für Gesundheit sage ich Ihnen, dass ich diese Gewichtung, diese starke Ausrichtung auf bestmöglichen Gesundheitsschutz in dieser Pandemie weiterhin richtig finde.
({2})
Da aber nichts absolut gelten kann, auch nicht der Schutz der Gesundheit, geht es um die richtige Balance, das richtige Austarieren. Um diese Balance ringen wir doch alle jeden Tag, jeder in seinem Alltag, wir als Gesellschaft und wir in der politischen Vertretung und Führung dieses Landes. Es geht darum, wirtschaftliche Härten abzufedern und durch Hilfe, Unterstützung, Konjunkturpakete erträglich zu machen. Es geht darum, jeden Tag mehr und besser dieses Virus beherrschen zu können: durch die AHA-Regeln, durch das Reduzieren von Kontakten, durch neue und mehr Testmöglichkeiten und immer bessere Schutzkonzepte, durch neue und bessere Medikamente, und ja, als entscheidenden Schritt zur tatsächlichen Kontrolle über dieses Virus vor allem auch durchs Impfen. Und weil ja schon wieder anderes behauptet wird, auch in den sozialen Medien: Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben. Hören Sie endlich auf, anderes zu behaupten!
({3})
Gleichzeitig macht es doch Mut, es gibt Zuversicht – es ist Licht am Ende des Tunnels –,
({4})
dass wir in diesen dunklen Novembertagen ernsthaft damit rechnen können, dass es so schnell einen Impfstoff geben wird wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Impfen ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit.
({5})
Impfen vermeidet jeden Tag unzähliges Leid und Krankheit. Impfen ist Fortschritt im besten Sinne,
({6})
und es macht mich ein Stück stolz, dass der erste Impfstoff, der Wirksamkeit zeigt, aus Deutschland kommt und hier entwickelt worden ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Wir sind, meine Damen und Herren, bis hierhin gut durch diese Krise gekommen – im Vergleich mit der Situation in anderen Ländern, auch in dieser zweiten Welle. Und ich frage mich manchmal schon: In welchem anderen Land wären Sie eigentlich lieber? Keines unserer Nachbarländer hat mit milderen Mitteln diese Pandemie unter Kontrolle bekommen.
({8})
Wo wären Sie eigentlich lieber als in der Bundesrepublik Deutschland? Das würde mich manchmal schon interessieren.
Dass wir bis hierhin vergleichsweise gut durch diese Pandemie gekommen sind, auch in dieser zweiten Welle, ist vor allem so, weil die allermeisten Bürgerinnen und Bürger auf sich und ihre Mitmenschen achten und sie schützen, und es ist so, weil die große Mehrheit der Deutschen unsere Politik mitträgt.
Und ja, nicht wenige zweifeln,
({9})
hadern, haben Sorgen oder Bedenken. Und doch tragen auch sie in großer Mehrheit den grundsätzlichen Ansatz unserer Politik und die Entscheidungen mit.
Und ja, Lautsein, Dagegensein, sogar das Offensichtliche leugnen – all das ist möglich und muss möglich sein in einem freien, offenen Land. Aber wer laut ist, ist deswegen noch lange nicht im Recht und schon gar nicht nur wegen seiner Lautstärke in der Mehrheit.
({10})
Debatte ist nötig, Kontroverse ist nötig, aber doch nicht unerbittlich und voller Härte, sondern so, dass wir zusammenbleiben. Zusammenhalt ist das, was dieses Land am meisten braucht in dieser Pandemie. Ihre Rede war jedenfalls kein Beitrag zum Zusammenhalt in diesem Land, Herr Gauland.
({11})
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen weiter gut durch diese Krise kommen. Dafür müssen wir uns immer wieder der Lage anpassen. Das Virus ist dynamisch; wir müssen es auch sein.
({12})
Daher nun das dritte Bevölkerungsschutzgesetz in neun Monaten, das uns in dynamischer Lage die rechtliche Grundlage gibt, mit diesem Virus noch besser umzugehen. Wir als Bundesregierung und die Landesregierungen brauchen in dieser Pandemie die Befugnisse und Instrumente, zu handeln und zu entscheiden – zum Schutz und zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger. Diese Befugnisse und diese Instrumente können uns nur von dem vom deutschen Volk gewählten Bundestag gegeben werden, und darum bitten wir Sie heute.
({13})
Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – In unserem Nachbarland Dänemark ist das Coronavirus ja bereits seit einigen Wochen mutiert. Ich habe die Bundesregierung gefragt, welche Maßnahmen sie denn ergreift, um unsere Mitbürger vor diesem mutierten Virus zu schützen. Die Antwort war: Sie tut nichts – keine Grenzkontrollen, keine flächendeckenden Gesundheitstests für Einreisende aus Dänemark –; es gibt keine speziellen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor dem mutierten Virus.
Auf der anderen Seite will man hier nun im Eilverfahren ein Gesetz durchpeitschen, mit dem nahezu alle Grundrechte ausgehebelt und die Grundlage für staatliche Willkür und Kontrolle festgeschrieben werden. Wie willkürlich gehandelt wird, konnten wir ja bereits letzte Woche in Bayern sehen, wo es ein Gerichtsurteil gab, wonach Fitnessstudios geöffnet werden dürfen. Daraufhin hat die Bayerische Staatsregierung gesagt: Dann machen wir ein komplettes Verbot für den Indoorsport.
Meine Frage an der Stelle ist: Wie kann es sein, dass unter dem Vorwand des Schutzes der Bevölkerung massive Grundrechtseinschränkungen beschlossen werden sollen, während die Bundesregierung nichts unternimmt, um die deutschen Bürger vor dem mutierten Virus aus Dänemark zu schützen? Und müsste man, wenn es wirklich um den Schutz der Menschen ginge und wenn es so ist, wie Sie, Herr Spahn, gesagt haben: „Das Virus ist dynamisch; wir müssen es auch sein“, dann nicht mit den vorhandenen Mitteln erst mal realen Gefahren wie Mutationen des Virus begegnen, anstatt sich mit massiven Grundrechtseinschränkungen selbst zu ermächtigen?
({0})
Herr Bundesminister, wenn Sie mögen, haben Sie das Wort zur Entgegnung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, das Friedrich-Loeffler-Institut für die Veterinärmedizin wie auch unsere Behörden im Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit sind im engen Austausch mit Dänemark, waren es von der ersten Stunde an, als es entsprechende Meldungen gab. Wir sind im europäischen Austausch zu dieser Frage.
Wir machen nur einen Unterschied: Wir treffen Entscheidungen auf Basis von Fakten.
({0})
Alles, was wir bis jetzt im engen Austausch mit den dänischen Kolleginnen und Kollegen auf wissenschaftlicher Basis an Erkenntnissen haben, ist: Es gibt viele Spekulationen, aber überhaupt keine Erkenntnisse zu dem, was Sie gerade unterstellt haben. Solange wir keine Fakten haben und keine Evidenz, ergreifen wir nicht Maßnahmen, nur um irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({1})
Zum Zweiten machen Sie jetzt auch ein wenig die Argumentation Ihres eigenen Fraktionsvorsitzenden hinfällig.
({2})
Entweder ist dieses Virus, wie von ihm dargestellt, nicht weiter schlimm und braucht keine Maßnahmen, oder aber wir müssen schon bei dem leisesten Verdacht selbst ohne wissenschaftliche Basis Maßnahmen ergreifen. Beides zusammen geht nicht. Beides geht nicht!
({3})
Deswegen: Ihnen geht es am Ende immer nur um eins, egal ob so rum oder so rum: Hauptsache Krawall! – Wir schützen derweil unsere Bürgerinnen und Bürger.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister Spahn! Ja, wir müssen in der Pandemie Entscheidungen treffen. Aber die Entscheidungen würden wir gern hier im Parlament treffen; denn ein Minister oder eine Regierung sind nun mal nicht die besseren Gesetzgeber. Die Debatten darüber gehören in die Parlamente, wo die Interessen der Bürgerinnen und Bürger auch abgebildet werden.
({0})
In unserem umfangreichen Änderungsantrag schlagen wir vor: Wenn die Regierung bundesweite Maßnahmen der Länder herbeiführen möchte, ist sie verpflichtet, vorher die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.
({1})
Das ist die richtige Maßnahme; denn damit hätten wir solch ein peinliches Hinterzimmerchaos, wie wir es in den letzten Wochen erlebt haben, nicht mehr nötig, meine Damen und Herren.
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Ihr Gesetz ist handwerklich schlecht gemacht. Ihrem Gesetz fehlt die rechtsstaatliche Bestimmtheit. Sie haben einfach einen unbestimmten Rechtsbegriff gegen einen anderen unbestimmten Rechtsbegriff ausgetauscht. Es bleibt völlig unklar, welche Freiheitseinschränkungen in welcher Lage angemessen sind.
Wir – das will ich hier betonen – haben konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Wir schlagen ein abgestuftes Konzept von Maßnahmen vor, die sich am jeweiligen Infektionsgeschehen orientieren. Tatbestand – Rechtsfolge, so macht man das. Das ist klar. Das ist nachvollziehbar, meine Damen und Herren.
({3})
So weiß man in jeder Situation, mit welcher Maßnahme zu rechnen ist.
Wir halten pauschale Schließungen für falsch. Wir sehen es so: Wenn ein anerkanntes Hygienekonzept nachgewiesen wird und ein Infektionsrisiko unwahrscheinlich ist, dann können Kultureinrichtungen öffnen, dann kann die Gastronomie geöffnet werden, dann die Hotellerie. Nichts ist ungerechter als pauschale Schließungen, meine Damen und Herren!
({4})
Außerdem ist uns Ihre Definition einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu weit gefasst. Des Weiteren wollen wir, dass die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach zwei Monaten automatisch endet. Auch das haben wir beantragt.
Meine Damen und Herren, unser Änderungsantrag ist der Goldstandard; das wurde von Frau Rottmann ja auch schon festgestellt.
({5})
Das kann man von Ihrem Gesetz nicht sagen.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Frauke Petry.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Großen Koalition ist immerhin schon der dritte innerhalb von acht Monaten und weist immer noch gravierende Mängel auf. Sie erklären sich als Vertreter des Parlaments für das Krisenthema Corona genau genommen für nicht mehr zuständig. Stattdessen delegieren Sie die Verantwortung dafür an Regierung und Behörden. Das ist mit Blick auf die zum Teil gravierenden Grundrechtseinschränkungen bis hin zur Frage der Unverletzlichkeit der Wohnung ein Ausweis von erschreckender Feigheit. Parlamentarier haben sich persönlich ihrer Verantwortung zu stellen und selbige zu übernehmen. Ausgerechnet die neue virtuelle Ministerpräsidentenkonferenz ist verfassungsrechtlich nicht existent – soll ich sagen „illegal“? – und hat zudem gerade ihre Handlungsunfähigkeit bewiesen.
({0})
Aber Sie, liebe Koalition, beauftragen genau diese Runde mit dem Regieren auf dem Verordnungsweg.
Sie schaffen im Robert-Koch-Institut eine neue Doppelstruktur zur Datenerhebung und können wieder einmal der Sammelwut nicht widerstehen. Die versprochene Anonymität der Daten, der stets geforderte Datenschutz, wird so ad absurdum geführt, weil sich die Person hinter vielen einzelnen Datenpuzzleteilen problemlos identifizieren lässt. In Ihrem Gesetz wimmelt es von unbestimmten Bewertungsmaßstäben. Ob Sie von einer bedrohlichen Krankheit reden, so als ob es hier um gefühlte Kategorien gehen darf, oder einen willkürlichen Inzidenzwert von 50 positiven PCR-Tests pro Woche festlegen: Weder das eine noch das andere wird der Hürde für Grundrechtseinschränkungen gerecht. Sie kümmern sich also weder um ein handwerklich gutes Gesetz noch um die Folgen in zahlreichen Wirtschaftszweigen. Wer so in die Grundlage unserer Werteordnung eingreift, meine Damen und Herren, muss die Sprechblase von der liberalen Demokratie bitte schön nie mehr in den eigenen Mund nehmen.
Und dann noch eins: Wir freuen uns alle in diesem Haus auf hoffentlich sichere Impfungen für alle, die sich impfen lassen wollen. Wenn das aber so ist, was ist Ihr Gesetzentwurf von heute dann überhaupt noch wert? Dann sind all die Grundrechtseinschränkungen, die Sie hier heute beschlossen sehen wollen, überhaupt und gar nicht mehr verhältnismäßig und auf dem Rechtsweg problemlos angreifbar. Was für eine Verschwendung von Parlamentszeit und Steuergeldern, meine Damen und Herren!
({1})
Was Sie heute beschließen, ist ein Entmündigungsgesetz. Das ist als Signal des Parlaments schon schlimm genug. Aber dass Sie ohne jegliche Scham die Bürger auch noch zu betreuungsbedürftigen Kindern degradieren, das ist skandalös.
Frau Kollegin.
Sich dagegen zu wehren, ist geradezu eine demokratische Bürgerpflicht.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Lage ist dramatisch. Die Infektionszahlen steigen deutlich. Und vor allem: Immer mehr Menschen erkranken schwer an Corona. In genau dieser dramatischen Lage müssen wir dafür sorgen, dass wir Corona effektiv bekämpfen. Dazu gehört, dass wir die Maßnahmen auf eine sichere Rechtsgrundlage stellen, dass wir die Bürgerrechte der Bürgerinnen und Bürger schützen und dass wir starke Parlamente haben – nach wie vor, auch in der Coronakrise.
({0})
Wenn jetzt ernsthaft behauptet wird, dass dieses Gesetz wie das Ermächtigungsgesetz der Nazis wirken würde, dann sage ich: Das ist vollkommen absurd.
({1})
Das Ermächtigungsgesetz der Nazis war der Auftakt für die Nazibarbarei, die Millionen Menschen in Deutschland und in Europa das Leben gekostet hat. Wir machen genau das Gegenteil: Wir schützen die Gesundheit, wir schützen das Leben unserer Bürgerinnen und Bürger, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Insbesondere mit unseren Änderungen kann man das Gesetz guten Gewissens als Regierungsbegrenzungsgesetz bezeichnen; denn wir verringern die Befugnisse der Regierungen in Bund und Ländern.
Herr Kollege Fechner, ich habe zwei Wünsche für Zwischenfragen, einmal vom Kollegen Bystron und einmal vom Kollegen Dr. Schinnenburg. Gestatten Sie die Fragen?
Nein, die Debatte hat ein hohes Niveau; deswegen möchte ich jetzt keine Zwischenfragen von der AfD.
({0})
Die Bundesregierung muss uns zukünftig über die aktuelle Lage berichten, und die Landesregierungen dürfen die Schutzmaßnahmen nur dann treffen, wenn wir als Parlament das Vorliegen einer epidemischen Lage beschlossen haben und wenn, wie wir das hier im Parlament vorgegeben haben, die Voraussetzungen, nämlich bestimmte Infektionszahlen, erfüllt sind. Wir haben als Parlament hier also klare Leitplanken für die Schutzmaßnahmen vorgegeben. Und wir haben eine doppelte Befristung für die Schutzmaßnahmen: Die Maßnahmen können von den Ländern nur so lange ergriffen werden, wie die epidemische Lage gilt, und die Länder müssen sie auf vier Wochen befristen – grundsätzlich – und müssen sie auch begründen. Auch das ist eine ganz wichtige Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Ganz entscheidend ist, dass wir auch in der Coronakrise die Grundrechte der Bürger wahren. Auch dem dient dieses Gesetz. Ja, zum Schutz der Bürger vor Corona sind Grundrechtseingriffe erforderlich, etwa durch Hygienekonzepte oder Abstandsmaßnahmen. Das fordern übrigens auch die Oppositionsanträge von Grünen und FDP. Aber genau deshalb befristen wir die Maßnahmen: weil das Legitimationsdruck schafft und so von den Landesregierungen immer wieder überprüft werden muss, ob eine Maßnahme noch notwendig ist, ob wir sie tatsächlich noch brauchen oder ob sie eben zu sehr in die Grundrechte der Bürger eingreift.
({2})
Wir schaffen insbesondere für den grundrechtsrelevanten Bereich – für Versammlungen, für Gottesdienste, für Ausgangsbeschränkungen oder bei Besuchsverboten – deutlich höhere Hürden für die Eingriffe.
Herr Kollege Fechner, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie keine Zwischenfragen zulassen wollen?
Frau Rottmann hat so gut mitgearbeitet bei dem Gesetz. Sie darf was fragen.
Ach so, also jetzt doch. Gut, dann muss ich Sie in Zukunft wieder fragen, ob Sie Zwischenfragen zulassen.
({0})
Frau Kollegin Rottmann, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, lieber Herr Fechner, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe gerade eine Nachricht erhalten von der Sachverständigen Andrea Kießling, die ja für die SPD viel gearbeitet hat, die wir benannt hatten als Sachverständige für die Anhörung des Gesundheitsausschusses. Frau Kießling hat mich gebeten, Herrn Gauland etwas auszurichten,
({0})
nämlich dass sie sich verbittet, von ihm hier irreführend zitiert zu werden,
({1})
weil die Aussage, mit der sie hier zitiert worden ist, sich ausdrücklich auf den ursprünglichen Gesetzentwurf bezieht
({2})
und nicht auf den Gesetzentwurf, der hier heute zur Debatte steht.
({3})
Stimmen Sie mir zu, Herr Fechner, dass das ein ganz typischer Umgang der AfD mit Wahrheit und mit dem Verfassungsrecht ist?
({4})
Liebe Frau Kollegin Rottmann, ich stimme Ihnen voll und ganz zu.
({0})
Ich will das als Gelegenheit nehmen, um noch mal ausdrücklich darauf zu verweisen, dass wir diesen Gesetzentwurf eng mit der Wissenschaft beraten haben, mit der von Ihnen genannten Sachverständigen, aber auch denjenigen, die in der Anhörung anwesend waren. Insbesondere zu den Änderungen hören wir durchaus auch Lob. Deswegen danke ich Ihnen für Ihre Zwischenfrage. Ich stimme Ihnen auch in der Beurteilung zu, dass es der AfD einmal mehr darauf ankommt, lieber die Menschen aufzuhetzen, anstatt hier Sacharbeit für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu machen.
({1})
Ich komme zurück zu meiner Rede. – An vielen Stellen sichern wir die Grundrechte. Zum Beispiel haben wir ausdrücklich im Gesetz festgelegt, dass die Gesundheitsschutzmaßnahmen immer abgewogen werden müssen mit den sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Auch das ist eine ganz wichtige Maßnahme, um die Grundrechte bei uns auch in der Pandemie zu sichern.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen bei den hohen Infektionszahlen dringend Schutzmaßnahmen, aber es ist entscheidend, vor allem für die Akzeptanz und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Schutzmaßnahmen, dass dabei die Grundrechte auch in der Pandemie gesichert sind, dass wir starke Parlamente haben und dass wir rechtssichere Rechtsgrundlagen für diese Maßnahmen schaffen. Das machen wir mit diesem Gesetz. Stimmen wir ihm zu!
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile jetzt zu zwei Zwischenbemerkungen zunächst dem Kollegen Bystron, AfD, und dann dem Kollegen Dr. Schinnenburg, FDP, das Wort und bitte Sie, Herr Kollege Fechner, wenn Sie mögen, auf beide Zwischenbemerkungen zusammen zu antworten. Sie haben dafür gegebenenfalls die doppelte Redezeit. Es geht Ihnen also nichts verloren. – Herr Kollege Bystron, bitte.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich habe auch eine Nachricht, nämlich von den Menschen, die diese Diskussion leider nicht mitverfolgen können. Die sind gerade in diesen Minuten, wo wir hier diskutieren, nämlich mitten in der Demonstration vor dem Reichstag.
({0})
Die haben geschrieben: Wir haben uns alle hingesetzt und werden trotzdem mit Wasserwerfern beschossen. Wie soll das friedlich bleiben, wenn die Polizei gegen das eigene Volk so vorgeht? Bitte richten Sie das allen Parlamentariern aus.
Der Polizeieinsatz wurde angeordnet wegen Nichttragen einer Maske. Die Menschen werden wie Vieh zusammengepfercht, weil sie angeblich keine Abstände einhalten.
({1})
Das ist schon der Vorgeschmack auf das, was Sie hier mit Ihrem Gesetz durchzupeitschen versuchen.
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Herr Kollege Dr. Schinnenburg. – Sie brauchen nicht stehen zu bleiben, Herr Bystron. Da zwei Zwischenbemerkungen hintereinander gemacht werden, sind wir in der Auslegung der Regel großzügig. – Herr Kollege Dr. Schinnenburg.
Herr Fechner, zunächst einmal ist es mir peinlich, dass ich nach diesem Beitrag zu Ihnen sprechen muss. Rein technisch ging es nicht anders. Es muss leider so sein.
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Herr Fechner, ich möchte Sie an die Sitzung des Rechtsausschusses am Montag erinnern. Wir waren ja beide da. Da wurde sehr deutlich, dass in § 28a Infektionsschutzgesetz fälschlicherweise nur ein Kriterium für die Beschlussfassung von Maßnahmen angesetzt wird, nämlich nur die Inzidenz. Ihr Fraktionskollege Herr Lauterbach sagt, es müsste zumindest noch das Alter der Infizierten berücksichtigt werden. Meine persönliche Meinung ist, dass noch weitere Kriterien dazukommen müssen. Dann sagte eine andere Kollegin Ihrer Fraktion: Ja, da besteht offenbar noch Nachbesserungsbedarf. Das müssen wir dann später einmal machen. – Meine Frage ist: Halten Sie es für seriös, wenn Ihre eigene Fraktion feststellt, dass an einer ganz entscheidenden Stelle Nachbesserungsbedarf besteht, dennoch diesem Gesetz zuzustimmen? Ich halte das nicht für seriös. Was sagen Sie dazu?
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Herr Kollege Dr. Fechner.
Herr Kollege, die Ausschussmitglieder der SPD im Rechtsausschuss sind die personifizierte Seriosität. Das kann ich Ihnen versichern.
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Und Sie müssen das Gesetz schon einmal genau lesen. Dort steht „insbesondere“ vor den Inzidenzzahlen. Und das gibt uns die nötige Flexibilität.
Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass zahlreiche FDP-regierte Länder diesen Gesetzentwurf begrüßt haben, sogar teilweise gefordert haben,
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und dass wir auch in einem engen Austausch mit den Rechtspolitikern Ihrer Fraktion zu diesem wichtigen Gesetz waren.
Wenn jetzt kritisiert wird, dass Polizeimaßnahmen ergriffen werden, dann verweise ich auf das, was ich eben gesagt habe. Gerade weil uns das Versammlungsrecht so wichtig ist, haben wir die Hürden für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sehr, sehr hoch gesetzt.
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Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Uwe Kamann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 709 Abgeordnete, vom Volk gewählt, mit einem verfassungsgemäßen Auftrag hier im Bundestag. Wir sitzen hier nicht, damit wir diesen Auftrag einfach wegdelegieren. Diejenigen, die für diese Ausprägung des Infektionsschutzgesetzes stimmen werden, sollten sich überlegen, ob sie hier tatsächlich richtig sitzen; denn sie wollen oder können ihr Mandat offenbar nicht verantwortungsvoll erfüllen.
Der Gesetzentwurf hat neben anderen drei wesentliche Schwächen: Der Datenschutz wird nicht ausreichend beachtet. Die Pandemiebewertungen beruhen ausschließlich auf subjektiven, quasi gefühlten Kriterien, statt auf nachprüfbaren Fakten; damit wird das Tor für Missbrauch sperrangelweit geöffnet, und, Herr Spahn, wir wissen nicht, wer hier in Zukunft das Sagen hat. Und: Die kontinuierlich fehlende Einbindung des Bundestages ist nicht hinnehmbar. Alle drei elementare Missstände haben wir, mein LKR-Parteikollege Mario Mieruch, die Abgeordnete Dr. Petry und ich, in unserem Änderungsantrag revidiert und korrigiert. Wir sind nicht bereit, tiefgreifende Einschnitte in die Grundrechte unserer Bürger ohne valide Grundlage und Beteiligung dieses Parlaments hinzunehmen.
Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie deshalb unserem Änderungsantrag zu. Sollten Sie dieses nachlässige und eilig gestrickte Gesetz ohne Änderung heute wieder mal im Schweinsgalopp durchwinken, können Sie sich jetzt schon darauf verlassen, dass das Gesetz direkt vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Welches Licht das auf uns Bundestagsabgeordnete wirft, können Sie sich selber denken. Beginnen Sie doch bei einem so wichtigen Thema einen breiten demokratischen Diskurs. Nicht nur wir, sondern auch die Bürger werden es Ihnen danken.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das Ursprungsanliegen dieses dritten Bevölkerungsschutzgesetzes war die Grundlegung einer Impfstrategie – nochmals: keiner Impfpflicht! – und die Vervielfachung der Testmöglichkeiten. Das habe ich dieser Tage einem Journalisten erklärt. Die Antwort war: Uns interessiert mehr der Konflikt. – Draußen, vor dem Deutschen Bundestag, wird dieser Konflikt gerade lautstark von Demonstranten artikuliert. Warum das nur ohne Maske geht, erschließt sich mir nicht.
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Für manche Beschwer habe ich an der Stelle aber Verständnis. Auch ich verspüre diesen Pandemieverdruss, auch meine Grundrechte werden eingeschränkt. Ich weiß aber, wofür, nämlich für meine, für unsere Gesundheit.
Historisch war es üblich, für Unglück, gegen das man sich nicht wehren konnte, einen Sündenbock zu suchen. Die Politik ganz allgemein bietet sich in modernen Zeiten offenbar dafür an. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, täuschen Sie sich nicht – das sage ich gerade in Richtung AfD –: Am Schluss wird da nicht differenziert werden.
Mir tut das Ganze als gutmeinender Volksvertreter in der Seele weh. Ich glaube aber, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass wir das alle aushalten müssen. Wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestags, tragen die Verantwortung: vom Tag eins, dem Tag, als wir die epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt haben, bis zu diesem dritten Bevölkerungsschutzgesetz. Deshalb richtet sich mein Appell an alle Mitglieder des Hohen Hauses: Man kann über alles diskutieren, über alles debattieren, stehlen Sie sich aber nicht aus der Verantwortung, widerstehen Sie dem Versuch, meine Damen und Herren, aus der Pandemie ein politisches Geschäft zu machen!
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Schauen Sie hin, wie sich ein kleiner Teil der Demonstranten radikalisiert. Befeuern Sie das nicht mit fahrlässigen, unabgewogenen Argumentationen! Der Preis dafür ist zu hoch.
Der Wolf im Schafspelz sitzt wie immer ganz rechts.
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Ja, schauen Sie, die Grundrechte vorzuschieben, um damit das Vertrauen in unseren Rechtsstaat zu erschüttern, ist ein geradezu perverses Kalkül, und – das muss man doch einmal sagen – genau das tun Sie.
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Ich erwarte im Übrigen auch, dass sich alle Demokraten hier im Hause gegen den Begriff „Ermächtigungsgesetz“ verwahren.
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Ich erwarte, dass Sie – auch Sie – sagen, dass dieser historische Bezug bodenlos ist. Und, wenn ich das noch anfügen darf: Uniformen, wie Sie sich hier ein bisschen andeuten, tun keinem Parlament gut.
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Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
Nein, Herr Präsident, ich gestatte keine Zwischenfrage aus der AfD. Das ist immer dasselbe: Die wollen ihren YouTube-Kanal füllen, und am Schluss geschieht das nur ausschnittsweise. – Oder glauben Sie im Ernst, dass die Art und Weise, wie der Bundesgesundheitsminister vorhin den AfD-Kollegen versenkt hat, auch auf YouTube gesendet wird?
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Das wäre einmal schön, dann hätten Sie an der Stelle auch einmal für einen Beitrag zur Wahrheit und Klarheit gesorgt. Das wäre eine gute Sache.
Der § 28a des Infektionsschutzgesetzes ist, meine Damen und Herren, das Gegenteil von dem, was Sie hier als Ermächtigungsgesetz beschreiben. Wir bestimmen 17 spezifische Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wir legen fest, dass sich die Länder bei der Auswahl dieser Mittel an der Dynamik der Ausbreitung zu orientieren haben. Wir ziehen für besonders grundrechtssensible Verbote wie Verbote von Versammlungen, Gottesdiensten oder Besuchen im Seniorenheim klare Grenzen ein. Und, meine Damen und Herren, wir befristen die Eingriffe der Länder auf vier Wochen und verlangen klare Begründungen für Verlängerungen. Wo ist denn da eigentlich Ihre Beschwer?
Aber eines tun wir nicht, meine Damen und Herren, wir übernehmen nicht Regierungshandeln oder Zuständigkeiten der Länder. Der Deutsche Bundestag kontrolliert die Regierung, er ersetzt sie nicht. Wer sagt, wir schafften die Demokratie ab, der lügt.
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Ich will auch noch einmal ganz deutlich sagen: Wir schaffen keinen Impfzwang. Wir sorgen dafür, dass eine Grundlage geschaffen wird, damit man am Schluss auch impfen kann; denn die Frage wird doch nicht heißen: Wer muss? Sondern: Wer darf und wann? Ich bitte die Menschen, sich das mal vor Augen zu führen.
Bei all dem, was wir momentan an Argumentation hören, wäre mir wichtig, dass sich die Menschen draußen selbst ein Bild machen, dass sie nicht alles glauben, was in den sozialen Medien verbreitet wird, und dass sie sich immer die Frage stellen: Cui bono? – Wem nutzt das? Damit wäre viel geholfen, meine Damen und Herren.
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Hilde Mattheis, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir im März über das erste Bevölkerungsschutzgesetz diskutiert und das erste Mal darüber debattiert haben, war uns allen klar: Die Entscheidung für Handlungen liegt beim Parlament. Und wir haben gesagt: Das Parlament entscheidet über eine epidemische Lage von nationaler Tragweite, und das Parlament entscheidet auch, wann sie beendet ist.
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Wir haben vor allen Dingen gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn sich die Lage zwischendurch wesentlich verbessert, obliegt es diesem Parlament, festzustellen, dass eine entsprechende epidemische Lage vorbei ist. All das hat am Beginn der Debatte der AfD nicht genügt. Da hat sie gesagt: Ihr seid nicht restriktiv genug,
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ihr seid nicht konsequent genug. – So begann diese Debatte hier in diesem Parlament, und jetzt drehen Sie es herum.
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Wir als Parlament lernen dazu. Wir sagen: Ja, wir müssen genauer definieren, wann eine entsprechende Notlage eintritt. Das haben wir jetzt gemacht. Im Gesetz steht die Definition drin, und daran müssen sich alle halten. Wir haben gesagt: Wir erhöhen die Hürden für die Maßnahmen, wir stärken das Kontrollrecht des Parlaments. Die Bundesregierung muss und darf hier regelmäßig berichten. Keine Woche vergeht, in der die Bundesregierung nicht in irgendeiner Weise über die Pandemie berichtet und in der wir hier nicht darüber debattieren. Ich weiß nicht, wo Sie waren.
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Wir haben außerdem gesagt: Der vielstimmige Chor bei den Maßnahmen führt zu Irritationen, und das wirkt sich auf die Zustimmung in der Bevölkerung aus. Daher wollen wir diesen vielstimmigen Chor einschränken. Wir wollen, dass klar nachvollziehbar ist, wann in welchem Land und bei uns im Bund welche Maßnahme getätigt wird. Das machen wir jetzt. Ich bitte um Zustimmung zum Gesetzentwurf; denn wir brauchen hier die Akzeptanz in der Bevölkerung; sie liegt auf einem hohen Level. Ich bin sicher, dass uns mit viel Transparenz und mit einer klaren Linie die Akzeptanz, die wir brauchen, nicht verloren geht.
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Und wir brauchen sie. Wir kennen doch die Zahlen. Wir wissen auch, wie schwierig es im Moment ist. Wir wissen: Die Situation in den Krankenhäusern ist aufs Äußerste angespannt. Pflegekräfte, der Öffentliche Gesundheitsdienst – alle sind an der Belastungsgrenze.
Ja, hier müssen wir viel tun, und wir hier im Parlament sind nicht nur bereit, zu diskutieren, sondern wir sind auch bereit, viel zu tun, und zwar nicht nur über das dritte Bevölkerungsschutzgesetz. Und ich gucke mal in Richtung von Herrn Korte: Die Erhebung einer Vermögensteuer ist im Infektionsschutzgesetz nicht enthalten.
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Darüber können wir gerne diskutieren, aber heute diskutieren wir über den Bevölkerungsschutz.
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Deshalb: Mit den vielen Maßnahmen, die auch unser Finanzminister auf den Weg gebracht hat, schaffen wir die Rahmenbedingungen.
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Frau Kollegin Mattheis, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?
Nein, danke, Herr Präsident.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind natürlich ein lernendes System. Natürlich reagieren wir auf die Notwendigkeiten. Deshalb sichern wir mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz die Grundrechte, indem wir höhere Hürden für Einschränkungen einbauen. Wir machen die Maßnahmen transparenter und nachvollziehbar, und es gibt eine Begründungspflicht. Mit diesem Konzert an Maßnahmen hoffen wir auf die Zustimmung der Bevölkerung; denn wir brauchen weitere Anstrengungen, um diese Pandemie einzudämmen.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, im Großen und Ganzen war das eine sehr gute Debatte, die letztlich auch gezeigt hat, dass das alles nicht so ganz einfach ist – weder die Situation, in der wir sind, noch die Frage, wie wir damit umgehen. Und es ist auch nicht so einfach, die Gratwanderung zu schaffen: auf der einen Seite als Parlament sehr konkret zu sagen, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen und innerhalb welcher Grenzen die Bundesregierung und die Landesregierungen handeln dürfen und wo Flexibilität gegeben ist, und auf der anderen Seite zu sagen, wie es gelingt, zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit, zum Schutze der Menschen und vor allem zum Schutze der älteren, schwächeren und kranken Menschen das Notwendige zu tun. Diese Entscheidungen haben sich viele – ich glaube, auch in den Regierungsfraktionen, mit Sicherheit auch in der Fraktion der Grünen – nicht leicht gemacht.
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Am Ende des Tages verhält es sich natürlich so: Das, worüber wir heute abstimmen, ist im Zweifel nie ganz das Gelbe vom Ei. Vielmehr verhält es sich so, wie es in einer Demokratie immer ist: Es ist die Kunst des Kompromisses. Und bei einem zustimmungspflichtigen Gesetz kommt es nicht nur darauf an, eine Mehrheit hier im Hause zu gewinnen, sondern nachher um 15 Uhr im Bundesrat auch die Länder davon zu überzeugen, dass es richtig und notwendig ist, was wir hier machen. Genau das haben wir getan.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zunächst den Vorwurf zurückweisen, dass wir nicht auf die Opposition zugegangen wären und das Gespräch gesucht hätten. Das war definitiv nicht der Fall. Es war vor allen Dingen so, dass wir in der vergangenen Woche viele Experten gehört haben. Wir haben auch in der Expertenanhörung miteinander gesprochen. Sie haben ja gesehen: Das, was heute auf dem Tisch des Hauses liegt, ist etwas anderes als das, was wir am Freitag vorletzter Woche hier ins Parlament eingebracht haben. Aus meiner Sicht ist es ein gutes Zeichen, dass das Parlament nicht nur stoisch an dem festhält, was eingebracht wurde, sondern dass es auch in der Lage ist, daran zu arbeiten, es zu verbessern und zu schauen: Wo gibt es kluge Hinweise von Experten, wo gibt es auch kluge Hinweise aus der Opposition, die wir aufnehmen können, um das Gesetz am Ende besser zu machen? Genau das ist gelungen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die Grenzen, innerhalb derer die Landesregierungen tätig werden können, in diesem Gesetz sehr klar geregelt. Wir haben Regelbeispiele benannt und keine Standardmaßnahmen, damit die Flexibilität für die Landesregierungen erhalten bleibt, in dieser Krise angemessen reagieren zu können; darum geht es. Und wir haben klar festgelegt: Was sind die Schwellenwerte, nach denen eingegriffen werden darf, nach denen Schutzmaßnahmen ergriffen werden dürfen? Ich glaube, es ist der richtige Ansatz, dabei auf Inzidenzen zu setzen, weil diese ein Frühindikator sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn man auf die Auslastung der Intensivbetten achtet, dann kann es zu spät sein, um angemessen reagieren zu können.
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Herr Kollege Frei, es gibt zwei Wünsche, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ja.
Bitte, Herr Kollege, Sie sind der Erste, dann folgt der Kollege Thomae, wenn ich richtig informiert bin.
Erst kommt der Kollege von der AfD. Bitte sehr.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frei, dass Sie die Gelegenheit geben – das ist sehr parlamentarisch –, eine Zwischenfrage zu stellen; die Kollegen davor haben das leider nicht zugelassen.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten Einschränkungen erfahren, in Bezug auf die Freiheit der Person,
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bei der Versammlungsfreiheit, bei der Freizügigkeit und eben auch in Bezug auf die Unverletzlichkeit der Wohnung.
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Das sind Dinge, die hier in diesem Kontext diskutiert worden sind.
Machen Sie sich doch heute bitte ehrlich: Der Grund für dieses Gesetz ist doch eigentlich, dass – Stück für Stück – bundesweit ein Gericht nach dem anderen die Maßnahmen, die Sie getroffen haben, als verfassungswidrig eingestuft hat. Das ist doch der eigentliche Grund, warum wir hier heute zusammenkommen und darüber diskutieren.
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Jetzt schaffen Sie die Grundlage dafür, dass die Gerichte uns zukünftig nicht weiter vor dieser Politik schützen können.
Herr Kollege Frei.
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– Herr Kollege, Sie müssen jetzt zuhören. Der Kollege Frei antwortet Ihnen.
Ich will Ihre Frage gerne beantworten. Wenn Sie sich einmal die Gerichtsurteile der vergangenen Wochen ansehen, dann sehen Sie, dass einzelne Verwaltungsgerichte beispielsweise auf Basis des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu einem anderen Ergebnis gekommen sind und deswegen einzelne Regelungen in einzelnen Ländern aufgehoben haben. Es ist übrigens ganz interessant, dass vor anderen Verwaltungsgerichten die Rechtsverordnungen anderer Länder unter dem gleichen Gesichtspunkt gehalten haben. Da kann man sehen: Es kommt eben im Einzelnen auch darauf an, wie eine Rechtsverordnung formuliert ist.
Der zweite Punkt ist: Die Regelungen, die die Bundesregierung und die Landesregierungen bisher getroffen haben – sie betreffen die §§ 28 und 32 des Infektionsschutzgesetzes –, sind auf der Grundlage einer Generalklausel in Kraft getreten. Schauen wir uns einmal das Bayerische Verwaltungsgericht, das letzte Obergericht, das dazu geurteilt hat, an. Es hat gesagt, dass die Generalklausel grundsätzlich eine Möglichkeit für solche Maßnahmen ist, aber dass wir unter dem Gesichtspunkt, dass diese Pandemie und die Krise seit acht Monaten andauern und wir in der Tat – Sie haben sie beschrieben – sehr tiefe Grundrechtsbeschränkungen haben, für die Zukunft eine konkreter gefasste, eine bestimmtere Rechtsgrundlage brauchen. Diese schaffen wir mit dem § 28a und im Übrigen auch mit § 5 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz, wo wir eine Legaldefinition der epidemischen Lage nationaler Tragweite vornehmen.
Wir müssen für die Vergangenheit nichts rechtfertigen. Wir schaffen Grundlagen für die Zukunft, weil wir wollen, dass sowohl die Bundesregierung wie auch die Landesregierungen auch in Zukunft in der Lage sind, angemessen auf die Pandemie zu reagieren, und zwar weil Sie es nicht wissen, weil ich es nicht weiß und weil auch sonst niemand weiß, wie sich diese Krise weiterentwickelt.
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Danke sehr. – Jetzt kommt die Zwischenfrage des Kollegen Thomae.
Vielen Dank, Herr Kollege Frei, für die Zulassung der Zwischenfrage. – Sie sagten soeben, dass man mit Gesprächsangeboten auf die Opposition zugegangen sei. Ich will keinesfalls den Vorwurf im Raum stehen lassen, dass wir auf Gesprächsangebote nicht eingehen würden. Wir hatten in der Tat am Wochenende telefoniert – ich schlage nämlich nie ein Gespräch mit Ihnen aus, Herr Kollege Frei –, aber da ging es zunächst einmal um andere Themen: Graue Wölfe und dergleichen mehr. Es ging dann auch um den § 28a Infektionsschutzgesetz. Sie kündigten mir in der Tat an, dass die Koalition aus dem für sie verheerenden Ergebnis der Sachverständigenanhörung am Donnerstag Konsequenzen ziehen würde. Ein Verhandlungsangebot habe ich unserem Gespräch aber nicht entnehmen können. Was sollte denn das für ein Verhandlungsangebot gewesen sein, Herr Kollege Frei? Welchen Grund sollte das gehabt haben? Ist sich etwa die Koalition der Stimmen ihrer eigenen Fraktionsangehörigen so unsicher, dass sie die Stimmen der Opposition noch für sich erwerben will?
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Lieber Herr Thomae, es ist richtig, dass wir am Wochenende und auch Ende letzter Woche mehrfach miteinander telefoniert und über unterschiedliche Themen gesprochen haben.
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Mir geht es ähnlich wie Ihnen, ich genieße die Gespräche mit Ihnen; deswegen würde ich diese umgekehrt auch nie ausschlagen.
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Aber Sie haben natürlich recht: Es gibt einen Unterschied zwischen Verhandlungen und Gesprächen; Frau Rottmann, wir hatten uns auch darüber unterhalten.
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Da muss ich den Kolleginnen und Kollegen der FDP einfach Folgendes sagen: Um richtig über einen Text verhandeln zu können, muss man entweder einer Landesregierung angehören und es muss im Bundesrat um ein zustimmungspflichtiges Gesetz gehen oder man muss eben hier auf Bundesebene mitregieren. Das hat die FDP bedauerlicherweise ausgeschlagen, und deswegen müssen wir das anders handhaben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen eines sagen: Wir sind auf vieles eingegangen – auf die Opposition, auf Experten und anderes mehr –, wir haben das Gesetz verbessert und bestimmter gemacht. Aber eines muss auch klar sein: Bei allen Rechten, die es zum Schutz von Minderheiten auch im Bundestag gibt – und zwar vom Anfang bis zum Ende –, ist es zu respektieren, wenn die Mehrheit das anders sieht.
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Es ist gesagt worden: 84 Prozent der Deutschen sind entweder mit der Gesundheitspolitik der Bundesregierung zufrieden, oder sie glauben, dass die Maßnahmen nicht einschneidend genug sind.
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Ich glaube, dass das hier in diesem Haus ziemlich ebenso ist. Deshalb müssen Sie es ertragen: Wir bringen hier heute einen Antrag ein, wir stimmen darüber ab. Wir stellen heute nochmals fest, dass die epidemische Lage nationaler Tragweite fortbesteht. Wir sagen deshalb ganz klar: Damit schaffen wir als Parlamentsmehrheit die Rechte für die Bundesregierung und die Landesregierungen, angemessen zu handeln.
Ich möchte ganz zum Schluss nur eines sagen: An dieser Stelle kommt es nicht nur darauf an, juristische Seminare zu bestehen. An dieser Stelle kommt es auch darauf an, etwas zum Schutz der Menschen zu tun. Da geht es auch darum, dass man, auch wenn man nicht mit allem zu hundert Prozent einverstanden ist, bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung zu übernehmen, das hat auch etwas mit Führung in unserem Land zu tun. Das ist nicht nur die Aufgabe der Bundesregierung; da sind wir alle gefordert.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Bilder, die uns erreichen, angesichts der Nachrichten rund um den Deutschen Bundestag, unser Parlament, nutze ich die Gelegenheit, um mich an dieser Stelle bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, bei den Einsatzkräften der Landes- und der Bundespolizei und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten ganz herzlich zu bedanken, die hier den parlamentarischen Ablauf gewährleisten. Im Namen der Bundesregierung will ich sagen: Ich bedanke mich besonders bei den Einsatzkräften der Polizei, die in dieser Situation unsere Demokratie beschützen.
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Die Coronapandemie ist die größte politische Herausforderung in unserer Generation. Und ja – darüber haben wir gerade im Rahmen der Diskussion um das Infektionsschutzgesetz gesprochen, sie ist vor allen Dingen die größte Gesundheitskrise, der wir zu begegnen haben. Die Bundesregierung ist entschlossen, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und mitzuhelfen, dass wir gut durch diese Gesundheitskrise kommen.
Aber wir wollen auch mithelfen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise bewältigt werden. Wir wollen in einer Zeit, in der viele Menschen sich angesichts steigender Infektionszahlen Gedanken um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Angehörigen machen, ihnen andere Sorgen, wo immer es geht, von den Schultern nehmen: die um ihre Existenz und um die sozialen Folgen.
Das ist angesichts der Tatsache, dass wir es auch mit der größten Wirtschaftskrise in unserer Generation zu tun haben, kein leichtes Unterfangen. Aber ich will deutlich hervorheben, was wir an den Start bringen, um dieses Land auf diesem Weg sicher und gut durch die Krise zu führen. Wir haben uns, glaube ich, im internationalen Vergleich angesichts der Größe der Herausforderungen bisher sehr, sehr wacker geschlagen – mit den Mitteln, die wir in der Bundesregierung schnell und rasch ergriffen haben und denen der Deutsche Bundestag auch gesetzgeberisch den Segen gegeben hat: Das sind die konjunkturellen Maßnahmen. Das sind die Überbrückungshilfen.
Aber das schärfste Instrument, das wir im Moment haben, um Brücken über ein tiefes wirtschaftliches Tal zu bauen, sind die Regeln der Kurzarbeit. Es geht um Millionen von Arbeitsplätzen, die wir derzeit sichern. Der Deutsche Bundestag wird am Freitag einen Gesetzentwurf beraten, den wir im Kabinett beschlossen haben und mit dem wir diese Brücke auch in das kommende Jahr verlängern, um Unternehmen zu helfen, aber auch um mitzuhelfen, Beschäftigte, deren Arbeitsplatz angesichts der wirtschaftlichen Folgen bedroht ist, in Beschäftigung zu halten. Das ist auch deshalb notwendig, damit die Unternehmen dann, wenn wir die Krise überwunden haben, wenn die Wirtschaft wieder anzieht, durchstarten können und die Fachkräfte an Bord sind, um das wirtschaftliche Geschehen voranzubringen.
Ich kann Ihnen angesichts der Tatsache, dass wir zwar Corona und wenig physische Begegnungen haben, aber im Moment auch die deutsche Ratspräsidentschaft innehaben, sagen, dass die allermeisten Länder in Europa versuchen, diesen deutschen Weg der Kurzarbeit zur Überwindung der Krise zu gehen. Wir haben ja im Rahmen der europäischen Hilfen mit den SURE-Mitteln diesen Weg auch anderen Ländern, die diese Ressourcen nicht haben, geebnet. Wir sehen uns auch durch das Sachverständigengutachten bestätigt, das deutlich macht, dass das der richtige Weg ist, um durch diese Krise zu kommen.
Wir müssen aber, meine Damen und Herren, auch die sozialen Folgen der Krise im Blick behalten. Deshalb haben wir, wo immer es geht, versucht, soziale Härten abzufedern, zum Beispiel mit dem vereinfachten Zugang zur Grundsicherung, der jetzt auch noch mal in das nächste Jahr verlängert wird. Konkret geht es darum, dass wir den Menschen, die ihre Existenz nicht eigenständig sichern können und keine anderweitigen Hilfen haben, den vereinfachten Zugang ermöglichen, indem von einer Prüfung von nicht erheblichem Vermögen abgesehen wird und indem beispielsweise auch die realen Kosten der Unterkunft übernommen werden. Es muss sich also in dieser Krisensituation niemand, der auf Grundsicherung angewiesen ist, auch gleichzeitig um die Angemessenheit seines Wohnraums und seiner Unterkunft Sorgen machen. Auch das ist ein wichtiger Schritt.
Ich könnte die Liste lange fortsetzen, aber aufgrund der Kürze der Zeit kann ich das nicht tun. Ich will nur eins deutlich machen: In dieser Zeit bewährt sich, dass wir im internationalen Vergleich einen starken Sozialstaat haben. Als Bundesarbeits- und Sozialminister bin ich gewillt, meinen Beitrag zu leisten. Ich bin diesem Parlament sehr, sehr dankbar, dass wir nicht nur die Krisenfolgen bewältigen und dieses Land sicher durch die Krise führen, sondern dass wir auch grundlegende Konsequenzen ziehen. Wir sehen in dieser Coronakrise wie unter einem Brennglas, was in diesem Land vorher gut war und funktioniert. Wir sehen aber auch Missstände, die wir grundlegend beseitigen müssen. Zum Beispiel die Tatsache, dass viele sogenannte Heldinnen und Helden des Alltags zu wenig verdienen. Wir wollen bessere Löhne für die Pflegekräfte in diesem Land durchsetzen, meine Damen und Herren.
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Ich nenne als ein anderes Beispiel, dass es in bestimmten Arbeitsbereichen zu Infektionsgeschehen gekommen ist aufgrund von unseriösen und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Ich rede von der Fleischindustrie in diesem Land. Ich bitte diesen Bundestag, dass wir ein Arbeitsschutzkontrollgesetz verabschieden, das mit diesen Verhältnissen grundlegend aufräumt, und zwar ohne Schlupflöcher, die dann wieder zu Missbrauch führen können.
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Also, meine Damen und Herren, in diesen Zeiten hält dieses Land zusammen, auch wenn wir Abstand halten müssen. In diesen Zeiten erleben wir, dass wir in unserem Gemeinwesen auch Defizite haben. Aber ich will sagen: Auf den sozialen Rechtsstaat in diesem Land, auf unser Gesundheitswesen, auf die Arbeit der Pflegekräfte, auch auf die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit und in den Jobcentern, auf diejenigen, die mithelfen, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu bewältigen, kann dieses Land in diesen schwierigen Zeiten durchaus stolz sein.
Ich freue mich auf Ihre Fragen. – Herzlichen Dank.
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Die erste Frage stellt der Kollege Martin Sichert, AfD.
Herr Minister Heil, die EU-Kommission will die Euro-7-Norm einführen, die schärfste Abgasnorm aller Zeiten. Nach dieser Norm sollen spätestens 2025 alle produzierten Fahrzeuge in allen Situationen, also selbst mit Anhänger und bergauf, praktisch emissionsfrei sein. Diese Norm kommt quasi einem Verbot von Verbrennungsmotoren gleich. Durch den Vorschlag der EU-Kommission sind Hunderttausende Arbeitsplätze direkt und Millionen Arbeitsplätze im Umfeld der deutschen Automobilindustrie gefährdet.
Was sagen Sie als Arbeitsminister den Millionen Familien, deren wirtschaftliche Existenz hier auf dem Spiel steht? Können die Menschen sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung sich gegebenenfalls gegen die EU-Kommission stellt oder massiv darauf einwirken wird, nachzuverhandeln, damit die Arbeitsplätze dieser Menschen auch in Zukunft geschützt sind?
Herr Kollege, als Arbeitsminister und als Abgeordneter, der aus einer Automobilregion kommt, kann ich Ihnen dazu Folgendes sagen: Wir hatten gestern die Konzertierte Aktion Mobilität. Wir haben die Sozialpartner an Bord gehabt, wir haben die Bundesministerien und die Autoländer an Bord gehabt, um über konkrete Maßnahmen zu reden. Denn eins ist richtig: Die Automobilwirtschaft in Deutschland – und da geht es nicht nur um die großen Hersteller, sondern auch um die Zulieferindustrie – das ist die Flaggschiffindustrie unserer Nation – mit einer hohen Wertschöpfung, mit einer hohen Tarifbindung, mit viel Mitbestimmung.
Diese Industrie ist in dreierlei Hinsicht im Moment herausgefordert: durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise und durch eine doppelte Transformation: durch Digitalisierung und den Weg zu neuen klimafreundlichen und klimaschützenden Antrieben. Das ist eine gigantische Transformation. Das Ziel der Bundesregierung ist, mitzuhelfen, dass dieses Land auch in 10 und 15 Jahren noch Mobilitätsstandort und Automobilstandort mit hochwertigen Arbeitsplätzen ist.
Deshalb haben wir gesagt: Wir wollen diese Transformation nicht verweigern, sondern mithelfen, dass sie gelingt, beispielsweise mit Investitionen in Forschung und Entwicklung, beispielsweise mit Anreizen für neue Antriebe – Stichwort „Elektromobilität“ –, beispielsweise mit dem Ausbau der Ladeinfrastruktur. Als Arbeitsminister leiste ich meinen Beitrag, indem wir auf Qualifizierung setzen, damit die Beschäftigten von heute auch die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen.
Die Diskussion über neue Normen in der Europäischen Union wird zu führen sein. Die Kommission hat ihre Vorschläge vorgelegt, und wir werden uns unsere Meinung dazu bilden und Sie dann darüber auch informieren, Herr Kollege.
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Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Ich habe jetzt sehr, sehr viel von Ihnen gehört. Ganz kurz noch mal die Nachfrage: Können die Menschen sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzen wird, dass diese Euro-7-Norm abgeschwächt wird oder gegebenenfalls die Bundesregierung ihr Veto auf europäischer Ebene einlegen wird, um die ganzen Arbeitsplätze, die in Deutschland an der Automobilindustrie hängen, zu schützen?
Herr Kollege, die Kolleginnen und Kollegen in der Automobilindustrie können sich auf eines verlassen: dass diese Bundesregierung Arbeit und Umwelt nicht gegeneinander ausspielt, sondern dass wir dafür sorgen, dass die Transformation gelingt. Dafür sind verschiedene notwendige Maßnahmen da, und wir werden Sie über unsere Maßnahmen auch stets informieren.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben in den letzten Wochen einen Vorschlag zum Thema Homeoffice gemacht. Darüber haben wir uns alle gefreut. Über die Verpflichtung, 24 Tage Homeoffice zu gewähren, haben wir gesagt, dass wir das nicht so gut finden. Ich möchte noch mal konkret auf dieses Problem eingehen, weil ich glaube, dass wir beim Thema Homeoffice jetzt handeln müssen.
Es geht mir um die Flexibilisierung der Arbeitszeit gerade im Zusammenhang mit Homeoffice und darum, dass man Ruhezeiten manchmal nicht so einhalten kann, wie man sie einhalten sollte, weil man zwischendurch vielleicht Hausaufgaben mit den Kindern macht. Ich würde Sie gerne fragen: Sind Sie bereit, jetzt Regelungen für die Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Blick auf das Thema Homeoffice und auf die entsprechenden Ruhezeiten in Angriff zu nehmen?
Herr Kollege, wir erleben gerade in der Coronapandemie einen eher ungeplanten Großversuch mit dem Homeoffice. Dabei kommt es übrigens zu Dingen, die es in normalen Zeiten nicht geben sollte. Ich kann Ihnen aus persönlicher Erfahrung mal ein praktisches Beispiel nennen: Homeoffice und Homeschooling gehen überhaupt nicht zusammen. Aber Tatsache ist, dass sich viele Beschäftigte mehr Möglichkeiten für das mobile Arbeiten und für das Homeoffice wünschen und dass wir im Moment erleben, dass technisch viel, viel mehr möglich ist, als früher gedacht. Und dafür brauchen wir tatsächlich einen modernen Ordnungsrahmen.
Ich habe einen Rechtsanspruch vorgeschlagen, den Sie nicht wollen. Ich muss feststellen, dass Sie da noch nicht so weit sind, aber ich bin mit Ihnen der Meinung, dass wir jetzt tatsächlich das tun müssen, was notwendig ist, um einen vernünftigen, modernen Ordnungsrahmen zu schaffen. Darüber werden wir miteinander reden. Wir befinden uns gerade mit dem Kanzleramt und innerhalb der Bundesregierung in der Abstimmung über einen entsprechenden Gesetzentwurf.
Ich will nur eines jetzt schon deutlich sagen: Wir müssen auch aufpassen, dass Homeoffice nicht zur Entgrenzung der Arbeit ins Private führt. Um es an dieser Stelle in einfachen Worten zu sagen: Auch im Homeoffice muss mal Feierabend sein. Und der Sinn von Arbeitszeitgesetzen ist, die Gesundheit von Beschäftigten zu schützen, ob sie im Homeoffice oder an ihrem physischen Arbeitsplatz sind.
Das wollte ich an dieser Stelle deutlich sagen. Alles andere werden wir miteinander zu diskutieren haben.
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Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir dort auch aufpassen müssen. Aber, Herr Minister, lassen Sie uns auch der Realität ins Auge schauen. Lassen Sie uns gemeinsam ein Arbeitszeitgesetz unter Berücksichtigung des Themas Homeoffice und des Themas Ruhezeiten machen! Die CDU/CSU-Fraktion wird da gerne mit Ihnen zusammenarbeiten, um eine gute Lösung zu finden.
Ich danke Ihnen für die Anregung. Für gute Lösungen bin ich immer offen, aber ich sage Ihnen das noch mal sehr deutlich: Ich glaube, dass unser Arbeitszeitgesetz viel, viel flexibler ist, als sich das einige einreden.
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Es gibt keinen starren Achtstundentag; es gibt die Möglichkeit des flexiblen Einsatzes. Es gibt zig Tarifverträge, in denen das entsprechend geregelt ist.
Einen Grundsatz sollten wir aber miteinander haben: Die vollständige Entgrenzung von Erwerbsarbeit ins Privatleben kann nicht im Interesse einer sozialen Marktwirtschaft sein.
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Jetzt möchte der Kollege Dr. Rosemann, SPD, dazu eine Frage stellen.
Herr Minister, es hat ja in den vergangenen Wochen verschiedentlich die Aussage gegeben, man bräuchte jetzt keinen Rechtsrahmen und keinen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten mehr, weil man in der Pandemie ja gesehen hätte, dass so viele Beschäftigte im Homeoffice arbeiten würden.
Was halten Sie von dieser Aussage? Teilen Sie diese Einschätzung, oder sind Sie der Auffassung, dass es weiterhin einen Rechtsrahmen braucht, wie er ja auch im Koalitionsvertrag verabredet ist?
Herr Kollege Rosemann, ich danke Ihnen für die Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, aufzuklären. Es gibt Bereiche, in denen kein Homeoffice gemacht werden kann; das ist richtig. Man kann zum Beispiel ein Stahlwerk nicht vom Wohnzimmer aus betreiben. Es gibt aber viel mehr Möglichkeiten und zum Teil auch in einzelnen Berufen einzelne Tätigkeiten, die man durchaus mobil oder von zu Hause aus erledigen kann.
Mein Ziel ist, dass wir den Menschen mehr Möglichkeiten geben, das selbstbestimmt zu entscheiden – da, wo es möglich ist. Mein Ziel ist auch, dass Arbeitgeber und Beschäftigte das einfach miteinander besprechen und vereinbaren können, aber dass nicht willkürlich aus Prinzip gesagt wird: „Das geht aber nicht“, sondern dass es nur dann nicht geht, wenn es erhebliche betriebliche Gründe dagegen gibt. Das ist der Unterschied.
Ich hatte an dieser Stelle einen Vorschlag für einen Rechtsanspruch auf 24 Tage Homeoffice gemacht. Auch dieser Anspruch hätte abgelehnt werden können, wenn betriebliche Gründe dagegen sprechen. Das ist aber nicht mehrheitsfähig.
Da ich im Sinne des Fortschritts der Meinung bin, dass wir jetzt das miteinander vereinbaren sollten, was wir miteinander vereinbaren können, habe ich einen Vorschlag gemacht, den Sie kennen. Ich sage nämlich: Wir brauchen zumindest ein Erörterungsrecht – das kennen wir aus anderen Teilen des Arbeitsrechts übrigens auch –, um dafür zu sorgen, dass Arbeitgeber und Beschäftigte das miteinander besprechen. Aber das Recht muss zumindest da sein, um den Anspruch anzumelden und darüber zu reden und auch zu verhandeln.
Daneben brauchen wir Maßnahmen, um Lücken im Unfallschutz zu schließen, die es beim Homeoffice durchaus gibt. Wir brauchen außerdem Maßnahmen gegen die Entgrenzung von Arbeit, und wir brauchen auch Standards für den Arbeitsschutz.
Das meine ich mit einem modernen Ordnungsrahmen. Deshalb die herzliche Einladung an alle hier im Parlament. Wir arbeiten in der Koalition jetzt an einem Gesetzentwurf, und dann schaffen wir auch diesen modernen Ordnungsrahmen.
Herr Minister.
Diesen können wir später noch weiterentwickeln, Herr Präsident.
Herr Minister, Sie treten auch für geregelte Arbeitszeiten ein.
Das stimmt.
Im weiteren Sinne fällt darunter auch die Regelung für Redezeiten – insbesondere für Minister.
Das stimmt.
Achten Sie bitte streng darauf.
Mein Mitleid mit Ministern hält sich aber in Grenzen, Herr Präsident.
Ja, aber ich muss für Ordnung sorgen.
Das stimmt.
Deswegen stellt jetzt die nächste Frage der Kollege Johannes Vogel, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Herr Minister, ich widerstehe der Versuchung, das Thema Homeoffice zu vertiefen; das machen wir bei nächster Gelegenheit.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Frage, wie wir in dieser Krise eigentlich mit den Erwerbstätigen in unserem Land umgehen. Wir haben große Einigkeit in diesem Haus – von der Regierung bis zur Opposition –, dass wir mit der Kurzarbeit und auch den Krisenregeln für die Kurzarbeit Beschäftigte schützen müssen. Wir haben auch große Einigkeit, dass es eine außergewöhnliche Krise ist, die außergewöhnlicher wirtschaftspolitischer Maßnahmen bedarf, zum Beispiel die Unterstützung von Konzernen wie der Lufthansa.
In einer solchen Situation haben Sie Selbstständige seit vielen Monaten aber im Regen stehen gelassen. Wir haben uns den Mund fusselig geredet, dass auch die Lebenshaltungskosten bei moderner Selbstständigkeit übernommen werden müssen. Seit letzten Freitag gibt es die Ankündigung des Finanzministers, hier etwas zu tun. Allerdings wird hier eine Lösung vorgeschlagen, mit der man, wenn man es auf die Monate hochrechnet, je nach Rechenweise auf eine Unterstützung von 700 Euro oder 300 Euro im Monat – wenn man die letzten Monate noch dazu nimmt – kommt. Man könnte also auch sagen: Sie haben so lange gerechnet, bis weniger als Hartz IV rauskommt.
Herr Kollege.
Können Sie verstehen, dass die Betroffenen das eher als Unternehmerhohn denn als Unternehmerlohn begreifen, und brauchen wir auch für die Selbstständigen nicht endlich eine dauerhafte Lösung, die fair ist?
Herr Minister.
Herr Kollege, wenn das so wäre, wie Sie es dargestellt haben, würde ich das Gefühl verstehen, aber das entspricht ja nicht den Tatsachen. Denn Tatsache ist, dass diese Bundesregierung nicht nur die Novemberhilfen beschlossen hat, die sich pauschaliert an den Umsätzen orientieren und den vom Lockdown unmittelbar oder mittelbar Betroffenen jetzt wirklich milliardenschwer helfen, sondern dass der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister auch für die Überbrückungshilfen III sorgen werden. Dazu liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der vor allen Dingen Selbstständigen – auch Soloselbstständigen – zugutekommt und bei dem die Grundsicherung – dafür werden wir sorgen – übrigens nicht angerechnet wird.
Deshalb bitte ich Sie um Fairness an dieser Stelle. Ich weiß, dass Sie da Anschluss finden wollen. Aber Selbstständige gegen Beschäftigte oder andere Grundsicherungsbezieher auszuspielen, geht nun auch nicht.
({0})
Wir tun, was wir können, um Selbstständigen zu helfen. Uns zu unterstellen, dass wir kein Herz für Selbstständige hätten, ist schlicht und ergreifend nicht fair.
Gucken Sie sich die Vorschläge an. Dann sehen Sie, dass wir an dieser Stelle nicht nur den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung haben, den viele übrigens trotzdem auch brauchen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen, sondern dass wir auch die Grundsicherung nicht auf die Überbrückungshilfen III anrechnen werden – und zwar auch mit einer pauschalierten Lösung. – Herzlichen Dank.
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Danke sehr. – Nachfrage, Herr Vogel?
Herr Minister, lieber Hubertus Heil, ich muss schon entschieden zurückweisen, dass wir hier irgendwelche Gruppen gegeneinander ausspielen würden. Wer seit Monaten die Selbstständigen im Regen stehen lässt, ist doch diese Bundesregierung.
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Wir halten Ihnen mit anderen Kolleginnen und Kollegen der Opposition – zum Beispiel von den Grünen und anderen – vor, dass Sie seit Monaten die Frage der Lebenshaltungskosten nicht beantwortet haben. Ich habe Ihnen einen Brief dazu geschrieben, der über Monate nicht beantwortet wurde. Jetzt übernimmt der Bundesfinanzminister unsere Argumentation eins zu eins, schlägt aber eine Lösung vor, die finanziell nicht ausreicht, weil sie gedeckelt ist. Wer spielt denn hier in diesem Land Gruppen von Erwerbstätigen gegeneinander aus?
({1})
Herr Kollege, ich habe nur darauf hingewiesen, dass Ihre Darstellung nicht stimmt, nämlich dass das weniger ist als die Grundsicherung. Denn diese Überbrückungshilfen III, die pauschaliert ausgezahlt werden, werden eben nicht auf die Grundsicherung angerechnet. Das heißt im Klartext, dass jemand, der als Selbstständiger in Not ist, im Zweifelsfall die Überbrückungshilfen bekommt, weil er sie braucht, dass er die Grundsicherung bekommt und dass übrigens auch die Kosten der Unterkunft vollständig übernommen werden. Wenn Sie das zusammenrechnen an dieser Stelle, ist das das, was da getan wird. Sie haben recht, dass bei den Überbrückungshilfen I und II nachgesteuert werden musste. Ich war nie hartherzig, sondern ich habe sehr deutlich gemacht, dass wir an dieser Stelle etwas tun müssen.
Ich will auch sagen, dass wir, wenn wir über Selbstständige reden, sehr differenzieren müssen. Wir haben in diesem Land in vielen Bereichen Selbstständige, die Gott sei Dank nicht in Not sind. Wir haben aber auch Soloselbstständige, denen es zum Teil sehr, sehr dreckig geht. Und wir haben jetzt zum Beispiel Restaurantbesitzer – und das empört mich sehr –, die versuchen, jetzt im Lockdown über die Runden zu kommen, und denen wir mit den Novemberhilfen helfen. Und dann gibt es Lieferplattformen, die jetzt nicht rund 15 Prozent vom Umsatz haben wollen, sondern 30 Prozent. Das ist unanständig.
Um solche Themen sollten wir uns auch gemeinsam kümmern. Wir sollten uns über die Frage unterhalten, was wir für Selbstständige tun können. Ich sage aber noch einmal: Das, was Olaf Scholz und Peter Altmaier für die Novemberhilfen und für die Überbrückungshilfen vorgeschlagen haben, hilft Selbstständigen konkret, und zwar mehr als so manche Rede hier im Parlament. – Herzlichen Dank.
Danke sehr. – Herr Minister, wenn Sie sich ein bisschen besser an die Redezeitbegrenzung halten würden, die mit dem Aufleuchten der roten Ampel angezeigt wird, könnten wir den ohnehin schon durcheinandergeratenen Zeitplan einigermaßen einhalten.
Herr Präsident, ich gelobe Besserung. Rot ist für mich nur immer die Farbe des Fortschritts; deshalb habe ich das gerade durcheinandergebracht.
({0})
Herr Kollege Lehmann.
Herr Minister, ich möchte gerne nachfragen. Es ist ja so, dass bei Soloselbstständigen, die keine Grundsicherung erhalten, die Neustarthilfe ab jetzt gerechnet etwa 714 Euro pro Monat beträgt, wie der Kollege Vogel richtig ausgeführt hat, und damit unterhalb des Existenzminimums liegt.
Es gibt eine Alternative, die Sie angedeutet haben, nämlich die Grundsicherung weiter zu vereinfachen und besser zu machen, auch für Soloselbstständige. Deswegen möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie zustimmen, dass der Zugang zur Grundsicherung noch einfacher und unbürokratischer werden kann, beispielsweise durch den Wegfall der Anrechnung des Partnereinkommens oder durch den Wegfall der Vermögensprüfung; das hat der Kollege Carsten Schneider übrigens öffentlich gefordert. Ich frage Sie daher: Werden Sie dieser Vereinfachung der Grundsicherung zustimmen und dazu einen Gesetzentwurf vorlegen?
Herr Minister.
Herr Kollege Lehmann, nach meinem ursprünglichen Entwurf sollte in den Krisenzeiten für alle ganz davon abgesehen werden, die Vermögensprüfung durchzuziehen. Dann ist im Wege der Verhandlung hier im Bundestag, auch auf Wunsch der Unionsfraktion, der Punkt „erhebliches Vermögen“ ins Spiel gekommen. Das hat bei einigen Selbstständigen zu Problemen bei der Alterssicherung und beim Betriebsvermögen geführt. Das haben wir mittlerweile untergesetzlich stark vereinfacht, und das wissen Sie auch.
Ich bin grundsätzlich dafür, dass wir die Grundsicherung weiter entbürokratisieren und weiterentwickeln; das ist doch gar keine Frage. Erst mal ist es jedoch wichtig, dass wir den Zugang zur Grundsicherung weiterhin offenhalten und vereinfachen, und zwar für alle Bezieher von Grundsicherung. Da können wir Menschen, die in der Grundsicherung sind – ob sie früher Selbstständige waren, ob sie zuvor schon in der Grundsicherung waren oder ob sie Beschäftigte sind –, nicht unterschiedlich behandeln.
Deshalb kann ich eines nicht zusagen, auch wenn sich das viele wünschen: Wir haben bei der Grundsicherung das Prinzip der Bedarfsgemeinschaft und damit die Einstandspflicht hinsichtlich des Partnereinkommens. Da kann es aber nicht sein, dass für Beschäftigte das Partnereinkommen angerechnet wird, für Selbstständige aber nicht. Das müssen wir gleichbehandeln.
Alles andere ist Gegenstand von Debatten über die Zukunft des Sozialstaates, die Sie gerne mit mir führen können. Akut geht es darum, dass wir den vereinfachten Zugang zur Grundsicherung weiter verlängern werden.
Danke sehr. – Wilfried Oellers, CDU/CSU, möchte dazu noch eine Frage stellen.
Vielen Dank. – Herr Minister, wir haben seit 2018 die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, die auch seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gefördert wird. Jetzt erreichen uns in den letzten Tagen besorgte Briefe der Träger von den EUTBs, die Sorge haben, dass sie ihr Angebot in den nächsten Jahren nicht aufrechterhalten können. Das hat unter anderem mit Themen zu tun wie den bürokratischen Anforderungen bei der Antragstellung usw. Das wird Ihnen sicherlich bekannt sein.
Meine Frage ist: Welche Maßnahmen wird Ihr Haus ergreifen, damit die Träger der EUTBs auch in den kommenden Jahren ihr Angebot aufrechterhalten können?
Herr Kollege Oellers, an sich sollten Zusatzfragen zum jeweiligen Thema gestellt werden.
({0})
Mir war gemeldet worden, dass Sie zum Thema Homeoffice eine zusätzliche Frage stellen wollten. – Dann war es ein Missverständnis.
Das war ein Missverständnis.
Jetzt ist die Frage gestellt. Der Minister wird sie behandeln, und anschließend stellt die Kollegin Barbara Hendricks die nächste Frage.
Herr Kollege Oellers, die unabhängige ergänzende Teilhabeberatung ist ein großer Fortschritt, den dieses Parlament im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes beschlossen hat, und eigentlich eine große Erfolgsgeschichte. Ich glaube, wir haben dort über 1 800 Stellen, und in vielen Bereichen läuft das sehr reibungslos. Trotzdem gibt es die Rückmeldungen, die Sie beschrieben haben. Wir versuchen, dem nachzugehen und die Probleme zu lösen. Es ist so, dass wir nach dem Start im Jahr 2018 mittlerweile viele auslaufende Angebote haben. Die gute Nachricht ist, dass fast alle verlängert werden.
Es gibt aber Kritik im Einzelfall. Wir sind im Gespräch, um die Probleme zu lösen und dann dafür zu sorgen, dass wir dauerhaft die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung in Deutschland implementieren, die den Menschen mit Behinderung wirklich hilft, gleichberechtigt teilzuhaben. Für mich ist es eine vorbildhafte Art des Sozialstaates, dass Menschen nicht immer genau wissen müssen, welches Sozialgesetzbuch für sie verantwortlich ist, sondern dass ihnen einfach geholfen und Rat gegeben wird. Das ist eine Erfolgsgeschichte, und wo es Probleme gibt, werden wir sie lösen.
Danke sehr. – Bevor ich der Kollegin Barbara Hendricks das Wort zu ihrer Frage gebe, weise ich darauf hin, dass jetzt noch fünf Minuten Zeit für die Stimmabgabe für die beiden namentlichen Abstimmungen ist. In fünf Minuten werden die Abstimmungen geschlossen. – Frau Kollegin Hendricks, Sie haben das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, ich komme zurück auf das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Wir waren uns im Sommer, als wir es mit dem Infektionsgeschehen in manchen Fleischindustriebetrieben zu tun hatten, alle einig, dass wir diese ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse endlich unterbinden müssen, die zudem in der Regel noch mit Wuchermieten verbunden sind. Damit haben wir auch in den kleinen Städten und Gemeinden in meiner niederrheinischen Heimat zu tun. Dort arbeiten bulgarische und rumänische Arbeitnehmer auf der niederländischen Seite in der Fleischindustrie, wohnen aber auf der deutschen Seite.
Wir hatten uns im Regierungsentwurf darauf verständigt – in der ersten Lesung waren wir uns einig –, dass wir sowohl die Werkverträge als auch die Leiharbeit in den Kernbereichen der Fleischindustrie abschaffen wollen. Nach dem, was ich jetzt höre, möchte die Union die Leiharbeit aber weiterhin beibehalten. Sind Sie mit mir der Auffassung, dass man damit das Problem nicht lösen kann, dass die Arbeitgeber in der Fleischindustrie keine Verantwortung für ihre Arbeitnehmer übernehmen?
({0})
Liebe Frau Kollegin Dr. Hendricks, im Kern hat das Arbeitsschutzkontrollgesetz eine Reihe von Elementen. Zunächst geht es darum, dass wir tatsächlich die Kontrolldichte für bestehendes Recht und für zukünftiges Recht in dieser Branche und für alle Branchen steigern müssen, weil der Arbeitsschutz in vielen Ländern in den letzten Jahren kaputtgespart wurde. Unsere Erfahrung ist: Wenn man nicht nachguckt, werden Regeln umgangen.
Wir wollen in dieser Branche aus den Gründen, die Sie genannt haben, eine verpflichtende digitale Arbeitszeitaufzeichnung. Wir wollen auch klare Standards für Sammelunterkünfte; das geht über die Fleischindustrie hinaus. Wir wollen menschenwürdige Unterkünfte; denn auch die Unterkünfte waren Teil des Infektionsgeschehens. Lassen Sie es mich mal so sagen: Die Verhältnisse waren vor Corona schon ein Skandal, und es ist schlimm, dass es dieser Pandemie bedurfte, um politische Mehrheiten zusammenzubringen, damit in diesem Bereich mal grundlegend aufgeräumt wird.
Aber den Kern haben Sie benannt: Es geht um klare Verantwortlichkeiten in dieser Branche, und deshalb wollen wir das Verbot von Werkverträgen und im Regierungsentwurf auch das Verbot von Leiharbeit, damit es keine Ausweichreaktionen an dieser Stelle gibt.
Meine Bitte an dieses Parlament ist, nicht auf die Sirenenklänge einzelner Lobbyisten zu hören, denen manchmal kein Argument zu blöde ist, um ihr Geschäftsmodell, das nicht in Ordnung ist, zu prolongieren. Eines will ich an dieser Stelle auch sagen: Die Grillsaison ist gut planbar, und danach kommt die Weihnachtssaison. Es gibt durchaus Möglichkeiten, solche Auftragsspitzen abzudecken. Es gibt Arbeitszeitkonten. Es gibt auch die Möglichkeit, mit Befristungen mit Sachgrund zu arbeiten.
Herr Minister.
Meine Bitte ist: Schaffen wir ein Gesetz, das nicht wieder ausgetrickst wird von findigen Leuten, die ein Modell der Ausbeutung von Menschen aus Mittel- und Osteuropa in unserem Land fortsetzen wollen.
({0})
Danke sehr. – Keine Nachfrage, Frau Kollegin Hendricks?
Nein danke, das ist okay so.
Aber der Kollege Max Straubinger hat eine Nachfrage.
Lieber Herr Minister, Sie haben wieder mit Verve vorgetragen, dass die Missstände eingedämmt bzw. beseitigt werden müssen. Da sind wir uns doch alle einig. Ich glaube, wir sind uns auch einig, dass unabhängig vom Arbeitsverhältnis und von der Vertragsform – ob vollzeitbeschäftigt, ob als Werkvertragsmitarbeiter oder auch als Zeitarbeiter im Betrieb eingesetzt – für alle die gleichen Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Rahmenbedingungen gelten müssen. Es ist in besonderer Weise der Auftrag der Bundesländer, dem nachzukommen. Deshalb unterstütze ich Ihren Vorschlag.
Aber ist es nicht genauso wichtig, die Flexibilität in den Betrieben zu erhalten, um Arbeitsspitzen abzufedern – das ist nicht immer mit Arbeitszeitkonten zu erledigen –, und dies auch mit zur Umsetzung zu bringen?
Sie verteidigen Ihren Gesetzentwurf, das ist völlig klar. Aber er enthält Dinge wie das Kooperationsverbot oder die unnötige und auch schwierige Abgrenzung zum Handwerk. Hier müssen wir Kompromisse finden. Da müssen Sie sich bewegen.
Danke sehr. – Herr Minister.
Herr Kollege Straubinger, es ist nicht mein Gesetzentwurf. Es sind Eckpunkte der Bundesregierung, es ist ein Gesetzentwurf der Bundesregierung.
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Es hat eine erste Lesung gegeben. Es ist nichts, was ich mir einfach so ausgedacht habe. Es gab im Sommer einen großen Konsens, dass wir hier aufräumen.
Jetzt haben wir erlebt, dass weitere Argumente vorgebracht wurden. Im parlamentarischen Verfahren kann sich immer was an einem Gesetz ändern; gar keine Frage. Das Strucksche Gesetz gilt. Aber ich habe eine Bitte: Schreiben Sie nicht Schlupflöcher in das Gesetz, die wieder missbraucht werden!
({1})
Das ist doch die Erfahrung, die wir hier als Parlament gemacht haben.
Die Argumente, die Sie genannt haben, sind ja nicht stichhaltig. Es gibt Möglichkeiten, Auftragsspitzen abzufedern. Es ist für die Branche eine Riesenumstellung, wenn Werkverträge und Leiharbeit nicht mehr möglich sind; gar keine Frage. Aber dieses Geschäftsmodell gehört im Interesse der Beschäftigten, des Arbeitsschutzes, des Gesundheitsschutzes und eines fairen Europas grundlegend überarbeitet. Das ist meine persönliche Überzeugung.
({2})
Nicht einfach so weitermachen und neue Geschäftsmodelle suchen, sondern Verantwortung übernehmen! Sie haben die Möglichkeit von Arbeitszeitkonten. Warum eigentlich ist das keine Möglichkeit, um Auftragsspitzen abzufedern? Sie haben die Möglichkeit der Sachgrundbefristung. So kann man Auftragsspitzen abfedern.
Aber was nicht geht, ist, unter neuem Namen Werkverträge nicht mehr zuzulassen, dafür aber den Leiharbeitsfirmen das gleiche miese Geschäftsmodell vorzuschreiben, das nicht in Ordnung war. Das ist eine Katastrophe. Wie lange wollen Sie eigentlich noch warten und das verzögern? Das ist eine Schande für das Land.
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Meine Bitte ist, an dieser Stelle mitzumachen und nicht immer wieder einen Weg zu finden, auf diese Sirenenklänge zu hören.
Danke sehr. – Jetzt muss ich doch mal eine Bemerkung machen; ich war schon öfters in Versuchung, mich dazu veranlasst zu sehen. Der Tagesordnungspunkt heißt „Befragung der Bundesregierung“, nicht „Befragung der Minister zu einzelnen persönlichen Standpunkten“. Es ist eine Befragung der Bundesregierung, und die Bundesregierung teilt jeweils mit, welcher Minister, welches Mitglied der Bundesregierung im Rahmen der Befragung zur Antwort zur Verfügung steht.
({0})
Jetzt stellt die Kollegin Jutta Krellmann, Die Linke, eine Frage an die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesarbeitsminister.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Hubertus Heil, ich hatte mich schon vor zwei oder drei Wochen darauf eingestellt, dass ich eine Rede im Bundestag genau zu diesem Gesetz halten würde, und war völlig überrascht, dass plötzlich die Uhren wieder anders gingen.
Herrn Straubinger kann ich nur empfehlen: Geben Sie mal weiter, dass die zuständige Gewerkschaft NGG zur Beratung in Bezug auf flexibles Arbeiten zur Verfügung steht! Das machen die richtig klasse.
Meine konkrete Frage ist: Wann geht es denn jetzt los? Machen wir das nächste Woche? Kann ich mich darauf einstellen, nächste Woche hier im Bundestag zu reden, oder wie soll es weitergehen? Eigentlich soll es ja am 1. Januar 2021 starten. Nach meinem Dafürhalten ist das schon fast gar nicht mehr möglich. Deswegen: Machen Sie bitte mal eine Zeitangabe, wann es denn losgehen soll, ob wir das bis zum Ende des Jahres noch schaffen, damit genau die Sachen passieren, die Sie selbst eben eingefordert haben!
({0})
Danke sehr. – Herr Minister.
Frau Kollegin Krellmann, ich kann an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen: Es liegt in der Hand des Deutschen Bundestages, ein Gesetz zu beschließen, und nicht in der Hand der Bundesregierung. Deshalb ist ganz klar: Unser Gesetzentwurf ist im Kabinett beschlossen worden. Es ist ein zustimmungspflichtiges Gesetz. Deshalb ist es, wenn man sich ein bisschen mit den Fristen auskennt, für die Frage, ob es zum 1. Januar in Kraft tritt, notwendig, dass es in der nächsten Sitzungswoche hier auch verabschiedet wird. Dann muss der Bundesrat zustimmen, und dann muss der Bundespräsident unterschreiben; sonst wird es sehr, sehr knapp, um es freundlich zu formulieren.
Aber das ist ein Hinweis, den ich als Parlamentarier gemacht habe. Es liegt in der Hand der Fraktionen dieses Hauses, die zweite und dritte Lesung auf die Tagesordnung zu setzen, und dafür braucht es Mehrheiten.
Danke sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, die Legislatur neigt sich schon dem Ende zu, und es sind noch einige Dinge offen, die dringend umgesetzt werden müssen, entweder weil sie im Koalitionsvertrag stehen oder weil sie gesetzgeberisch notwendig sind.
Das ist zum Ersten die Einschränkung der sachgrundlosen Befristung. Soweit ich weiß, liegt dafür schon ein Gesetzentwurf in der Schublade.
Das ist zum Zweiten die Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Es ist ganz interessant, dass während des ersten Lockdowns von April bis Juni die Anzahl der unbezahlten Überstunden eigentlich kaum abgenommen hat.
Zum Dritten ist es die Evaluation des Mindestlohngesetzes, die ja gesetzlich festgeschrieben ist. Wie ist denn da der Sachstand? Bis wann können wir denn mit der Umsetzung rechnen?
Das sind lauter Dinge, die für Millionen von Beschäftigten elementar wichtig sind.
({0})
Frau Kollegin Ferschl, der Bundesregierung insgesamt, auch meinem Ministerium, lasse ich alles Mögliche vorwerfen, aber nicht, dass es faul ist. Wir haben dieses Parlament mit sehr, sehr vielen Gesetzentwürfen beglückt und auch viele davon verabschiedet. Richtig ist – das gilt gerade in diesem Pandemiemodus –, dass zum Beispiel die veränderten Regeln zur Kurzarbeit beschlossen wurden, mehrfach gesetzgeberisch das Arbeitsschutzkontrollgesetz geändert wurde, der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung, das SodEG und viele andere Dinge mehr.
Es ist aber auch richtig: Wir haben noch eine ganz Menge vor an dieser Stelle. Das betrifft auch die drei angesprochenen Themen. Das betrifft die Frage des Arbeitsrechtes. Da ist der Koalitionsvertrag der Meinung, dass wir die sachgrundlose Befristung an dieser Stelle eindämmen sollen. Das wird als Gesetzentwurf noch kommen. Bei der Evaluierung des Mindestlohns bin ich gesetzgeberisch gebunden, das noch in diesem Jahr vorzulegen. Das ist auch beauftragt; das sieht das Gesetz aus 2015 vor. In der Frage des Arbeitszeiturteils sind wir seitens der Bundesregierung in der Prüfung. Es ist ein Urteil auf ein spanisches Unternehmen. Wir prüfen es auf die Frage der Notwendigkeiten, was das für Deutschland bedeutet, und auch die Frage der Umsetzung. Dazu sind wir auch mit den Sozialpartnern im Gespräch.
Aber eins will ich Ihnen noch sagen: Überstunden müssen heute schon aufgezeichnet werden. Das ist die Rechtslage in Deutschland.
Frau Kollegin.
Danke schön. – Faulheit habe ich dem Ministerium mit Sicherheit nicht unterstellt, um es noch mal ganz deutlich zu machen.
Aber ich habe noch eine kurze Nachfrage zum Thema Mindestlohnevaluierung: Warum verzögert sich die Veröffentlichung des entsprechenden Berichts? Offensichtlich liegt er dem Ministerium ja seit September vor. Da wäre es doch letztendlich auch wichtig, den jetzt hier zu diskutieren. Die Frage ist auch: Spielen der zu niedrige Mindestlohn und auch die unzureichenden Kontrollen des Mindestlohns in diesem Bericht eine Rolle?
Frau Kollegin, da unterstellen Sie was, das nicht ganz richtig ist, wenn ich das offen sagen darf, weil die Evaluation des Mindestlohns eine Beauftragung verschiedener Institute und wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen zu verschiedenen Aspekten des Mindestlohns betrifft. Sie betrifft die Frage der Angemessenheit, der Höhe der Kontrollen, der Wirkung auf den Arbeitsmarkt und vieles andere mehr.
Uns liegen Teilergebnisse von wissenschaftlichen Einrichtungen vor. Die konsolidieren wir zu einem Bericht. Der wird noch in diesem Jahr vorgestellt, damit wir die Debatten, die Sie führen wollen, auch miteinander führen können.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. – Sie sind sowieso dran.
Dann wird es keine Nachfrage, sondern eine richtige Frage. Vielen Dank, Herr Präsident.
Dann haben Sie noch eine Nachfrage.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Minister, wir haben momentan schon den Eindruck, dass eigentlich nur noch über Gesetze aus Ihrem Hause bzw. über Gesetze, die über Ihr Haus von der Bundesregierung kommen, abgestimmt wird, die etwas mit der Pandemie zu tun haben. Alle anderen werden ja momentan blockiert. Wir hatten gerade das Gesetz zum Recht auf Homeoffice und das Arbeitsschutzkontrollgesetz schon angesprochen.
Ich möchte jetzt nachfragen, was mit dem Gesetz zum EuGH-Urteil über die Dokumentation der Arbeitszeit ist. Sie haben gerade eben gesagt, dass Sie das prüfen werden, weil sich das Urteil auf eine Klage aus Spanien bezieht. Jetzt ist es 19 Monate her, seitdem das EuGH-Urteil gefällt wurde. Wir haben zwei Gutachten. Eins liegt bei Ihnen im Haus, das andere liegt bei Minister Altmaier im Wirtschaftsministerium. Wie lang braucht es denn, bis es endlich Rechtssicherheit für die Beschäftigten und für die Unternehmen gibt? Meine konkrete Frage ist: Wie lang braucht es? Wann liegt endlich ein Gesetzentwurf vor, nachdem es ebendiese zwei Gutachten gibt?
({0})
Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, zum einen stimmt es nicht ganz: Wir beraten eine Fülle von Gesetzen, einige mit unmittelbarem Pandemiebezug. Ich bin übrigens der Meinung: Das Arbeitsschutzkontrollgesetz hat durchaus einen. Wir schließen zum Beispiel ja morgen im Bundestag auch die Beratung zum Gesetz Digitale Rentenübersicht ab und verändern das Wahlrecht für die Sozialversicherungen, verbessern die Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Es ist also nicht so, dass wir nur Pandemiebekämpfungsgesetze machen, sondern noch eine ganze Menge mehr. Aber wir machen auch viel in diesem Bereich; darauf habe ich vorhin hingewiesen.
Zur Frage der Arbeitszeitaufzeichnung in diesem Punkt: Wir haben die Rechtslage in Deutschland, dass es Arbeitszeitaufzeichnungspflichten gibt für Schwarzarbeit gefahrgeneigte Betriebe. Sie kennen noch die Debatte, die es damals um den Mindestlohn, als er eingeführt wurde, und die Dokumentationspflichten gegeben hat. Wir haben darüber hinaus auch eine Aufzeichnungspflicht für Überstunden; darauf habe ich vorhin hingewiesen.
Wir prüfen jetzt auf Basis des Urteils, was es an Umsetzungsnotwendigkeiten gibt, nicht nur juristisch, sondern dann auch die Frage, wie man es umsetzt. Denn darin sind wir uns sicherlich einig: Verlässliche Arbeitszeitdokumentation muss nicht immer nur die Stechuhr sein, sondern es gibt modernere Methoden, die auch verhältnismäßig sind.
Wir müssen auch noch Fragen klären, die den Sozialpartnern wichtig sind, auch den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, zum Beispiel, wie wir mit Vertrauensarbeitszeit umgehen. Das ist alles also gar nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Deshalb prüfen wir nicht nur innerhalb der Bundesregierung, sondern sind zur Umsetzung des Urteils mit den Sozialpartnern im Gespräch.
Danke sehr. – Nachfrage?
Vielen Dank. – Also, in den Gutachten stehen ja schon ganz viele, ganz konkrete Vorschläge drin; aber egal.
Ich würde jetzt noch mal was zum Homeoffice nachfragen; denn dazu hatte ich mich vorhin gemeldet, bin aber nicht drangekommen. Von daher mache ich es jetzt. Sie haben vorhin ganz deutlich gesagt, dass Homeoffice, mobiles Arbeiten nicht dazu führen darf, dass die Grenzen von Arbeit und Privatleben verschwimmen; das sehen wir auch so. Sie haben auch gesagt, das Arbeitszeitgesetz würde da eigentlich einiges bieten, es gebe Flexibilität usw.
Ich möchte noch mal ganz konkret nachfragen: Wird es so sein, dass Sie nicht an das Arbeitszeitgesetz gehen, dass das Arbeitszeitgesetz so bleibt, wie es jetzt ist, nicht verändert wird und Sie auch nicht den Umweg über die sogenannten Experimentierräume gehen, die ja im Koalitionsvertrag stehen?
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Frau Kollegin Müller-Gemmeke, das entscheidet am Ende ein Parlament. Aber mein Vorschlag ist klar: Ich will an das Arbeitszeitgesetz – auch im Rahmen des mobilen Arbeitens – ran, weil wir zum Beispiel das brauchen, was Sie in Ihrer Frage vorher angesprochen haben, nämlich eine verlässliche Dokumentation, die dazu führt, dass das Homeoffice nicht zur Entgrenzung von Arbeit ins Private führt. Das kann man auch technisch moderner lösen, zum Beispiel digital.
Ich bin der Meinung: Wir müssen eine arbeitszeitrechtliche Regelung zur Dokumentation von Arbeitszeit beim mobilen Arbeiten einführen, weil es schon Hinweise darauf gibt, dass diese neuen Formen des mobilen Arbeitens dazu führen, dass Arbeitszeitgesetze nicht mehr eingehalten werden.
Das andere Projekt ist Teil des Koalitionsvertrages, aber nicht Teil meines Vorschlages zum mobilen Arbeiten.
Danke sehr. – Der Kollege Dr. Kraft, AfD, hat eine Nachfrage.
Vielen Dank. – Weil das Thema Homeoffice angesprochen worden ist: Die angesprochenen Probleme – Arbeitszeiterfassung, Einhaltung von Ruhepausen etc. – betreffen ja definitiv diejenigen Personen, die aus dem Office in das Homeoffice wechseln. Was ist denn mit den Zulieferern am Ort des ehemaligen Offices? Ich rede jetzt von Kurierdiensten, ich rede von Snacklieferdiensten, von Leuten, die eine kleine Snackbar betrieben haben, von Personen, die eine gastronomische Einheit im Gewerbeviertel gehabt haben, die selbst dann, wenn sie aufmachen dürften – was sie jetzt nicht dürfen –, dort gar keinen Umsatz mehr machen.
Sind die Belange dieser Personen von Ihrem Haus – da wir einen gewissen Mangel in der Form, wie die Arbeit ausgeführt wird, beobachten können – mit den bisherigen Regelungen zufriedenstellend abgedeckt? Und werden diese Leute nicht, wenn die Maßnahmen eines Tages hoffentlich mal zu Ende sind, vor großen substanziellen Einschränkungen stehen, weil ihr Modell des Wirtschaftens, das darauf ausgerichtet ist, dass Leute zu dem Ort der Arbeit kommen, so nicht mehr anwendbar ist?
Herr Minister.
Ich versuche, die Frage zu verstehen, Herr Kollege,
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und will sie dahin gehend beantworten, dass es beim Rechtsrahmen für mobiles Arbeiten nicht um eine Pandemiebekämpfungsmaßnahme geht, sondern um die Frage, wie wir Flexibilität, die technischer Fortschritt in einzelnen Berufen und Tätigkeiten ermöglicht, für Beschäftigte möglich machen können, ohne dass ihre Arbeitnehmerschutzrechte unter die Räder kommen.
Der zweite Teil Ihrer Frage bezieht sich auf die Frage – wenn ich das richtig verstanden habe –: Wie helfen wir Menschen, die zum Beispiel von einschränkenden Maßnahmen in der Gastronomie betroffen sind, also den Beschäftigten und auch den Selbstständigen? Ich habe vorhin auf die Novemberhilfen, auf die Überbrückungshilfen hingewiesen und auch auf das, was wir im Bereich der Wirtschaftspolitik tun und was wir im Bereich des vereinfachten Zugangs zur Grundsicherung tun.
Sind damit alle zufrieden? Meine Antwort ist: Nein! Denn natürlich sind das Härten für viele Menschen. Auch ich habe mit Unternehmern gesprochen, die am Telefon geweint haben, weil sie sich um ihre Existenz Gedanken machen. Aber eins will ich an dieser Stelle auch sagen: Es gibt kein Land der Erde, das so viel tut, diese Pandemie nicht nur zu bekämpfen, sondern die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzufedern. Nennen Sie mir eins! Russland ist es jedenfalls nicht – wollte ich nur mal sagen.
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Danke sehr. – Jetzt unterbreche ich die Regierungsbefragung und komme zurück zu Tagesordnungspunkt 1 a.
Herr Präsident! Herr Minister – bzw. liebe Bundesregierung, vertreten durch Sie –, das Thema Grundrente war im Endeffekt ja ein großes PR-Element der Bundesregierung im Laufe dieser Legislaturperiode. Millionen haben darauf keinen Anspruch. Jetzt hat aber eine Anfrage des Kollegen Springer ergeben, dass 485 000 Menschen gar nicht besser dastehen werden als mit Grundsicherung, wenn sie denn die Grundrente in Anspruch nehmen. Denn wenn man im Schnitt 0,5 oder weniger Entgeltpunkte über 35 Beitragsjahre hat – und Sie wissen selbst: 0,5 Entgeltpunkte, das entspricht einem aktuellen Bruttoverdienst von circa 19 452 Euro –, dann stehen diese Leute schlechter da, dann haben sie weniger als die Grundsicherung, wo der Bruttobedarf ja normalerweise bei 827 Euro liegt.
Angesichts dieser Berechnungen aus Ihrem Haus, die ja nun offiziell mitgeteilt worden sind: Was ergibt sich daraus für die Bundesregierung als Reaktion? Werden Sie die Grundrente wieder abschaffen, zurücknehmen, oder werden Sie sie nachbessern? Welche Regelungen würden Sie dann vorschlagen bzw. mit welchen Kosten würden Sie kalkulieren? Oder sagen Sie einfach denen, die die ganze Zeit fleißig waren: „Pech, ihr habt halt jetzt weniger als die, die nie gearbeitet haben“?
Herr Kollege Kleinwächter, ich glaube, dass Ihre Frage auch auf einem gewissen Irrtum über das beschlossene Gesetz beruht;
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denn das Gesetz hat mehrere Elemente. Zum einen ist da die Grundrente, die Sie geschildert haben, im Sinne der Höherbewertung von Rentenpunkten, wenn bestimmte Voraussetzungen, nämlich mindestens 33 Jahre eingezahlt, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt zu haben, vorliegen. Es gibt zusätzlich für diejenigen, bei denen diese Voraussetzungen vorliegen, die aber im Grundsicherungsbereich davon nicht profitieren würden, einen Freibetrag in der Grundsicherung.
Davon profitieren 1,3 Millionen Menschen, übrigens – was mich freut – überwiegend Frauen mit Erwerbsbiografien, wie ich sie eben beschrieben habe. Es profitieren übrigens überproportional viele Frauen in Ostdeutschland, weil die oft in diese Bereiche kommen, aber aufgrund von viel zu niedrigen Löhnen bisher nicht viel mehr haben als die Grundsicherung.
Also, wenn Sie es kurz haben wollen: Die Grundrente ist ein großer Meilenstein. Die kann man zukünftig auch noch weiterentwickeln. Ich prophezeie Ihnen, dass keine Bundesregierung, egal welche einmal regieren wird, sie wieder abschaffen wird, weil sie ein wichtiges Element in unserem System der Alterssicherung ist, das dazu führt, dass es ein Stück mehr Gerechtigkeit in Bezug auf den Respekt vor Lebensleistung gibt.
Nachfrage, Herr Kollege Kleinwächter?
Ja. – Das grundsätzliche Problem ist allerdings, dass das Versprechen, dass die Menschen letztendlich nicht in die Grundsicherung fallen, dadurch nicht eingelöst wird. Sie haben selbst von einem Freibetrag bei der Grundsicherung gesprochen. Aber dann sind diese Menschen doch auf Grundsicherung angewiesen und können eben trotz der Grundrente oder des entsprechenden Aufschlags – entgegen dem, was Sie versprochen haben – die Grundsicherung im Wesentlichen nicht vermeiden.
Also: Sehen Sie angesichts der Zahlen – tatsächlich werden eine halbe Million Rentnerinnen und Rentner nicht in der Lage sein, trotz der Aufstockung durch Ihre Grundrente das Grundsicherungsniveau zu überschreiten und damit aus der Grundsicherung herauszukommen – überhaupt keinen Nachbesserungsbedarf?
Herr Kleinwächter, Sie haben vorhin in Ihrer ersten Frage – und in der zweiten wiederholen Sie den Fehler – gesagt, dass es Leuten durch die Grundrente schlechter gehe. Das kann ich nicht feststellen. Wir haben diese beiden Stränge: die eigentliche Grundrente und flankierend die Freibeträge in der Grundsicherung für ganz bestimmte Fälle, die dazu führen, dass Menschen mehr Geld in der Tasche haben. Das nenne ich nicht „schlechtergestellt“.
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Der Kollege Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, hat eine Nachfrage.
Sehr geehrter Herr Minister, lieber Hubertus Heil, ich stimme voll und ganz zu, dass die Grundrente einen sozialpolitischen Meilenstein darstellt.
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Gleichwohl ist sie noch erheblich verbesserungsfähig. Aber wir haben es zum ersten Mal mit der Situation zu tun, dass jahrzehntelange Zugehörigkeit zur gesetzlichen Rentenversicherung zu einer, wenn sie ausgebaut ist, grundsicherungsfesten Leistung führt.
Wäre jetzt, wo viele Selbstständige in der Krise Rücklagen fürs Alter auflösen müssen, nicht der richtige Zeitpunkt, zu sagen: „Für Selbstständige lohnt sich die Absicherung über die gesetzliche Rentenversicherung“? Denn sie ist eine pfändungs- und insolvenzsichere Möglichkeit und bei den Beiträgen auch an die Leistungsfähigkeit der Selbstständigen angepasst. Ihre Planungen sehen allerdings eine Altersvorsorgepflicht vor, wo man aus der Rentenversicherung herausoptieren kann. Welches private Produkt soll das bieten und zu welchem Preis? Gibt es da überhaupt etwas Vergleichbares zu dem, was die Grundrente – erst recht, wenn sie verbessert ist – bieten kann?
Herr Minister.
Herr Kollege, zum einen will ich noch mal zur Grundrente sagen: Das kommt mir ein bisschen vor wie bei der Pflegeversicherung. Daran sind auch Verschiedene beteiligt gewesen, sie einzuführen. Es hat viele Jahre gedauert, sie einzuführen. Sie ist dann gekommen, sie ist nie wieder abgeschafft worden; aber sie kann immer noch schöner gemacht werden. So wird es – das prophezeie ich – auch mit der Grundrente sein. Sie ist das Ergebnis eines Kompromisses, sie ist ein Meilenstein; aber darauf kann man aufbauen.
Sie wirkt sich sehr positiv auf die Selbstständigen aus, die jetzt schon in der Rentenversicherung sind, und zwar auch auf viele, die prekär verdient haben. Deshalb ist sie ein zusätzliches Argument für die Attraktivität der gesetzlichen Rentenversicherung, dafür, sich freiwillig zu versichern.
Aber die Bundesregierung will weiter gehen. Wir haben im Koalitionsvertrag vorgesehen, dass wir dafür sorgen wollen, dass alle Selbstständigen im Alter verlässlich abgesichert sind. Dazu hat der Koalitionsvertrag mir ein paar Aufgaben gegeben. Es geht um die gesetzliche Rentenversicherung. Es gibt auch die Möglichkeit, auszuoptieren, wie Sie es beschrieben haben, nach dem Vorschlag des Koalitionsvertrages allerdings nur mit verlässlichen Produkten. Bisher gibt es nach meiner Kenntnis an dieser Stelle nur eins. Und wir meinen auch nicht diejenigen, die schon in Sondersystemen abgesichert sind, sondern wir meinen diejenigen, die im Moment als Selbstständige im Alter abgesichert sind. Verlassen Sie sich darauf: Mein Gesetzentwurf kommt.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU.
Ein Freund des Homeoffice.
Genau. – Herr Minister, lieber Hubertus, ich wollte noch mal auf deine Bemerkung zurückkommen: Homeoffice und Homeschooling gehen nicht gut zusammen. – Dem würden wir sicher zustimmen. Als Vater von vier Kindern weiß ich, wovon ich rede.
Ich habe nur zwei, aber ich stimme zu.
Ja, da sind wir uns einig. – Jetzt hat sich das Arbeitsministerium – und damit auch die Bundesregierung – bisher nicht zu den weiteren Vorschlägen geäußert, unabhängig von den Themen „Rechtsanspruch“ und „Arbeitszeit“. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass es Nachbarschaftsbüros oder, Neudeutsch, Coworking Spaces auch im ländlichen Raum geben soll, damit die Trennung zwischen Arbeitsstätte und Privatwohnung besser ist, die Leute aber nicht in die Stadt pendeln müssen, sondern eben in das tagsüber typischerweise leer stehende Vereinsheim oder Gemeindezentrum pendeln können. Wir haben außerdem ein Recht auf Nichterreichbarkeit vorgeschlagen. Dazu – Umsetzung über eine App – gibt es bisher keine Äußerung, und auch der neue Gesetzentwurf der Bundesregierung, der sich jetzt in Abstimmung befindet, verhält sich dazu nicht.
Herr Minister.
Also, rein rechtlich darf ich mich, weil ich für die Bundesregierung spreche, über interne Abstimmungen in der Bundesregierung nicht äußern; aber es kann sein, dass Sie aus internen Abstimmungen wissen.
Ich kann nur ganz grundsätzlich sagen: Sie haben von „wir“ gesprochen. Ich wusste immer nicht, ob das Ihre Meinung oder ein Positionspapier Ihrer Arbeitsgruppe oder eine Beschlusslage Ihrer Partei ist. Aber lassen Sie uns doch mal Folgendes machen: Wenn wir es im Kabinett beschlossen haben, dann gucken wir mal, welche Ihrer schönen Ideen darin enthalten ist und welche wir dann im parlamentarischen Verfahren noch zu besprechen haben, damit wir gute Lösungen für einen modernen Ordnungsrahmen für mobiles Arbeiten hinbekommen.
Nachfrage? – Herr Heilmann.
Ich hätte dazu eine Nachfrage. – Das könnten wir ja vielleicht auch mit dem Bundesfinanzminister zusammen tun; denn die Frage ist, ob wir Arbeitnehmer nicht davor bewahren müssen, in steuerliche Schwierigkeiten zu kommen. Wenn der Arbeitgeber Ausstattungen bezahlt – konkret: er zahlt einen Breitbandanschluss oder zahlt einen Schreibtischstuhl, der natürlich auch privat genutzt wird, also außerhalb der Arbeitszeit –, dann entstehen da steuerliche Unschärfen, und die müsste man meiner Ansicht nach dringend lösen. Und man müsste ein weiteres Problem lösen. Ich glaube, alle hier wollen nicht, dass es Hausbesuche des Arbeitgebers gibt, um zu überprüfen, ob der Arbeitsschutz zu Hause gewährleistet ist. Da gibt es die Idee, das mit einer App-Lösung, also mit einer digitalen Lösung, zu machen. Ist es nicht denkbar, dass die Bundesregierung schon vor ihrem Gesetzentwurf und nicht erst im parlamentarischen Verfahren –
Herr Heilmann.
– über solche weiteren Ideen befindet?
Danke sehr.
Wir können gern telefonieren. Für die Bundesregierung will ich nur sagen: Der Gesetzentwurf, der mir vorschwebt und der jetzt in der Abstimmung ist, ist da, glaube ich, schon ein bisschen weiter, als Sie denken. Es wird nicht so sein, dass das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zum Beispiel durch Besuche vom Arbeitgeber angetastet wird, sondern es geht um Hinweise für Arbeitsschutzstandards im Homeoffice.
Das Zweite, was Sie angesprochen haben, sind steuerliche Fragen. Die stellen sich in vielerlei Hinsicht. Sie sind jetzt nicht Teil meines Gesetzentwurfs, weil es, wie gesagt, einer ist, der in meinem Kompetenzbereich liegt. Aber es gibt ja eine Reihe von Diskussionen. Zum Beispiel ist die steuerliche Absetzbarkeit ein großes Thema. Bisher kann man nur ein wirkliches Arbeitszimmer geltend machen. Wer hat das schon? – Das sind Diskussionen, die geführt werden. Das muss im politischen Raum geklärt werden. Aber man muss natürlich auch die finanziellen Folgen im Kopf haben bei all dem, was man sich steuerrechtlich wünschen mag.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Carl-Julius Cronenberg, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, noch mal zurück zum Arbeitsschutzkontrollgesetz. Der missbräuchliche Einsatz von Werkverträgen hat in der schlachtenden und zerlegenden Industrie zu skandalösen Missbräuchen geführt; Sie haben das im Eingangsstatement ausgeführt. Keinen missbräuchlichen Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten oder Zeitarbeitern gab und gibt es dagegen in der allein verarbeitenden – nicht schlachtenden und nicht zerlegenden – Fleischindustrie. Das haben die Sachverständigen in der Anhörung und auch der NRW-Minister Laumann ausgeführt und bestätigt. Gerade diese Unternehmen sind aber betroffen vom übermächtigen Lebensmitteleinzelhandel auf der Absatzseite und von der übermächtigen Zerlege- und Schlachtindustrie auf der Beschaffungsseite und sind oft sehr anständig. Saisonale Spitzen mögen sie einplanen können, Sonderaktionen des Lebensmitteleinzelhandels dagegen nicht. Und eine coronabedingte Quarantäne für die Stammbelegschaft kann man auch nicht einplanen. Deshalb die Frage: Welches Schutzziel genau verfolgt die Bundesregierung mit dem Verbot von Arbeitnehmerüberlassung für die allein fleischverarbeitende mittelständische Industrie?
Herr Minister.
Herr Cronenberg, als kundiger Thebaner wissen Sie, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vorsieht, dass wir kleine Handwerksbetriebe mit diesem Gesetz überziehen; denn da besteht das Problem tatsächlich nicht. Es geht nicht um die kleine Landschlachterei. Der Gesetzentwurf sieht einen Schwellenwert von 50 Beschäftigten vor und die Voraussetzung, dass es wirklich ein Handwerksunternehmen ist, aber nicht eine neue Konstruktion von großen Fleischkonzernen mit Sub-Sub-Subunternehmer. Das haben wir ausgeschlossen; weil diese Branche sehr, sehr findig ist.
Die Aufteilung von verschiedenen Produktionsschritten ist nicht ganz einfach abzugrenzen an dieser Stelle, weil es beispielsweise einen großen Konzern gibt, der sehr in Rede war, bei dem es Missbrauch gibt, der sowohl Tiere tötet als auch zerlegt und verwurstet, also verarbeitet. Das heißt, die Frage der Abgrenzung von bestimmten Bereichen ist nicht ganz leicht.
Unabhängig davon müssen wir feststellen, dass es nicht nur bei Werkverträgen Missbrauch gegeben hat. Es gibt im Moment nicht so wahnsinnig viele Leiharbeitsverträge, weil es eben so viele Werkverträge gibt. Aber auch bei den Leiharbeitsverhältnissen in diesem Bereich haben wir ausweislich der Kontrollen der Bundespolizei, auch aktueller Kontrollen, massiven Missbrauch.
Ich kann mal umgekehrt fragen: Was spricht eigentlich dagegen, dass diese Unternehmen ihre Leute fest anstellen, wenn es andere Flexibilitätsmöglichkeiten gibt, die ich vorhin geschildert habe? Das nenne ich verhältnismäßig. Die Begründung, nach der Sie gefragt haben, ergibt sich aus Gründen der Wirtschaftsordnung und Vorkommnissen, die wir in dieser Industrie erlebt haben. Sie wissen, dass es auch in anderen Branchen, beispielsweise im Baubereich, besondere Arbeitsschutzregelungen gibt. Zum Beispiel ist da Leiharbeit besonders eingeschränkt, weil man seine Erfahrungen gemacht hat.
Vielen Dank. – Nachfrage, Herr Cronenberg?
Ja, vielen Dank. – Kurze Bemerkung: Dass sie immer noch warten, hängt damit zusammen, dass Sie gerade die mittelständischen fleischverarbeitenden Unternehmen nicht genug berücksichtigen. Das nur als Kommentar.
Sie sprechen sich, Herr Minister, gerne und oft für mehr Tarifbindung aus, auch gerne für Allgemeinverbindlichkeit. Nun hat die Schlacht- und Zerlegeindustrie, die Fleischindustrie, ihren jahrelangen Widerstand gegen sozialpartnerschaftliche Regelungen aufgegeben und bietet eine tarifliche Lösung an. Tarifverträge bieten mehr Rechtssicherheit. Das kann man dann ja auch gut für allgemeinverbindlich erklären. Von daher stellt sich die Frage, wieso Sie das Angebot der Fleischindustrie nicht annehmen, eine in europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Hinsicht sicherere tarifliche Lösung vorzuziehen.
Ich habe überhaupt nichts gegen mehr Tarifbindung. Die Bundesregierung hat ausweislich des Koalitionsvertrages das Ziel, dass wir mehr Tarifbindung in Deutschland bekommen. Aber Tarifbindung jetzt anzubieten, um ein Gesetz, das einem nicht passt, zu umgehen, ist ein bisschen tricky.
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Warum machen wir denn nicht beides? Warum machen wir nicht ein Gesetz, das einen klaren Rahmen setzt, und zusätzlich Tarifverträge? Aber an dieser Stelle haben wir unsere Erfahrungen mit Ankündigungen der Branche, mit Selbstverpflichtung. Man kann doch nicht so blind sein, dass immer wieder dasselbe Spiel mit dem Gesetzgeber gemacht wird.
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Da ist ein Skandal, dann will man aufräumen, und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird man versuchen, das Gesetz abzuschwurbeln mit dem hehren Schwur von Selbstverpflichtung, oder, wenn es ein scharfes Gesetz gibt, versucht man, das trickreich mit neuen Konstruktionen zu umgehen. Das ist das Ergebnis von 2017, was wir erlebt haben.
Deshalb sage ich an dieser Stelle: Wir brauchen ein wasserdichtes Gesetz. Ich würde mich sehr freuen, wenn es zusätzlich noch einen Tarifvertrag gibt für anständige Löhne in dieser Branche. Das wäre auch mal eine gute Idee, damit wir nicht immer nur über den Mindestlohn reden, wenn es um solche Sachen geht.
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Nachfrage aus der SPD? – Bitte.
Vielen Dank. – Herr Minister, zum Arbeitsschutzkontrollgesetz: Welche Rolle spielen denn für Sie die Beratungsstellen des Projekts „Faire Mobilität“? Was zeigen die auf? Wie geht es den Beschäftigten dort? Können Sie dazu mal etwas sagen, bitte?
Ja, Herr Kollege Rützel, das kann ich sehr gerne, weil dieser Bundestag dankenswerterweise nicht nur die erneuerte europäische Richtlinie zum Entsendegesetz umgesetzt hat, sondern mit dem Entsendegesetz auch das Projekt „Faire Mobilität“ weiter gestärkt hat und auch finanziert.
Worum geht es? Es geht darum, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten und aus anderen Ländern der Europäischen Union oder von woanders her kommen, über ihre Rechte aufklären, und zwar auch in ihrer Muttersprache. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist ja eine große Errungenschaft, eine der großen Freiheiten in Europa und ein großer Fortschritt. Aber es darf hier keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse geben. Deshalb ist die faire Mobilität sehr, sehr wichtig, und ich bin sehr dankbar über die Arbeit, die geleistet wird – die auch aus meinem Ministerium heraus finanziert wird – von denjenigen, die unmittelbar vor Ort beraten.
Und: Die „Faire Mobilität“ ist insofern auch gut, als sie uns über Vorkommnisse in der Branche berichten kann und dies ja auch öffentlich tut und den Finger in die Wunde legt, genau wie übrigens ein Pfarrer, den ich hier einmal nennen will, den Pfarrer Kossen, ein katholischer Geistlicher, der sehr engagiert ist in der seelsorgerischen und sozialen diakonischen Arbeit in diesem Bereich und dem ich mal für sein Engagement für Beschäftigte, die von solchen ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen betroffen sind, im Namen der Bundesregierung tatsächlich danken will.
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Die nächste Frage stellt die Kollegin Daniela Kolbe, SPD.
Vielen Dank. – Wir haben jetzt coronainduziert viel über sehr aktuelle Themen gesprochen. Ich wollte trotzdem den Blick weiten; denn wir haben ja auch die EU-Ratspräsidentschaft inne, allerdings unter einem anderen Vorzeichen, mit vielen digitalen Sitzungen, also wahrscheinlich anders als gedacht. Aber vielleicht können Sie uns informieren, wo Sie aus Ihrer Sicht als Arbeits- und Sozialminister dort Akzente setzen konnten und können. Denn es ist ja notwendig – Stichwort: Mindestlöhne und Plattformarbeit –, dort an vielen Stellen auch wirklich Akzente zu setzen.
Ich antworte unter Einhaltung der Regeln, Herr Präsident, im Telegrammstil. – Erstens. Wir haben, glaube ich, trotz der Coronabedingungen und der Tatsache, dass wir nicht physisch zusammenkommen konnten, im europäischen Arbeits- und Sozialministerrat schon eine Reihe von Dingen bewegt. Wir hatten auf dem letzten Rat zum Beispiel Ratsschlussfolgerungen für eine europäische Mindestsicherung, die im Kampf gegen Armut die Kommission auffordern, weitere Schritte für verlässliche Grundsicherungssysteme zu machen. Sie sollen diskriminierungsfrei sein, sie sollen angemessen sein, und sie sollen Menschen, wo immer es geht, auch helfen, aus der Grundsicherung oder einer Mindestsicherung durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik wieder rauszukommen. Die verlängerte Jugendgarantie ist in diesen Zeiten auch ein ganz, ganz wichtiges Signal an die Jugend Europas und schafft eine Chance auf Ausbildung und Beschäftigung. Das sind zwei ganz akute Dinge gewesen beim letzten EPSCO.
Es gibt drei Dinge, die wir noch vor uns haben. Da ist erstens die Frage: Wie gehen wir mit Plattformökonomie um? Es gibt zweitens den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne und zur Stärkung von Sozialpartnerschaft. Es gibt drittens ein Aktionsprogramm zur Stärkung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in globalen Lieferketten, um diese auf europäischer Ebene voranzubringen.
Eine Sache habe ich eben im Zusammenhang mit der Frage zum Arbeitsschutzkontrollgesetz vergessen: Ich bin froh, dass wir uns mit den Mitgliedstaaten auf Maßnahmen zum Schutz von Saisonarbeitskräften in Europa verständigt haben; denn die leiden unter dieser Pandemie besonders.
Danke sehr. – Der Kollege Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen, hat dazu eine Nachfrage.
Danke schön. – Jetzt ist gerade das Stichwort „Ratspräsidentschaft“ gefallen, und da ist mir natürlich sofort eingefallen, Herr Minister Heil, dass Sie und Minister Müller hoch und heilig versprochen haben, das Thema Lieferkettengesetz auf die Agenda zu setzen. Voraussetzung dafür war natürlich, dass Sie irgendwann einmal auch so was wie ein Eckpunktepapier in Deutschland präsentieren. Das erste Mal wurde das für März versprochen, dann für Mai, Juni, Juli, dann zweimal für August, und jetzt ist es wieder nicht gekommen. Woran scheitert es denn? Das ist eine zentrale Frage, die uns eigentlich in ganz Deutschland sehr berührt. Wir wissen, dass Minister Altmaier und die Kanzlerin persönlich eine positive Entwicklung auf dem Gebiet blockieren. Der zentrale Streitpunkt ist die Frage, ob die Unternehmen tatsächlich eine zivilrechtliche Haftung eingehen sollen oder nicht. Wann ändern Sie das?
Herr Minister.
Herr Kollege, es ist tatsächlich so, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, dass wenn sich nach zwei Überprüfungen zu wenige Unternehmen, die im internationalen Bereich tätig sind, an ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten halten, wir dann ein Lieferkettengesetz machen. Dazu habe ich Vorstellungen entwickelt, die sich in vielen Bereichen mit den Vorschlägen des Kollegen Müller decken. Wir sind jetzt in Abstimmung.
Ich sage Ihnen: Mein Ziel ist nach wie vor, dass wir ein Lieferkettengesetz bekommen, das auch wirkt und Rechtsfolgen hat. Denn wenn wir ein Gesetz machen, das sozusagen fürs Schaufenster ist, aber für das Bemühen um menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nichts bringt, dann sollte man das gar nicht erst anfassen. Es muss ein wirksames Gesetz sein. Es sollte allerdings auch verhältnismäßig sein. Wir reden zwischen den Bundesministerien gerade darüber, wie wir das hinkriegen und wie wir das ausgestalten.
Ich nenne Ihnen zwei Gründe, warum ich zuversichtlich bin, dass wir das am Ende doch hinkriegen: weil wir erstens göttlichen Beistand haben – die EKD hat das noch mal bekräftigt, und auch die katholische Kirche ist sehr aktiv. Aber vor allen Dingen, weil zweitens immer mehr Unternehmen in Deutschland ein solches Gesetz fordern. Die sagen: Wir kümmern uns in den globalen Lieferketten im Kampf gegen Sklavenarbeit und Kinderarbeit, und wir wollen nicht im Wettbewerb gegenüber Unternehmen benachteiligt sein, die sich nicht kümmern. Das ist ein breites gesellschaftliches Thema. Wir sind in Gesprächen. Wenn es nach mir geht, können wir die schnell abschließen. Aber ein paar Tage dauert es wohl noch.
Danke sehr. – Jetzt habe ich zwei Nachfragen, eine vom Kollegen Kleinwächter und eine vom Kollegen Dr. Hoffmann. – Herr Kleinwächter.
Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Minister, vielen Dank. – Es fielen in der Tat die Worte „Ratspräsidentschaft“ und „Lieferkettengesetz“. Da stellt sich mir die Frage, wie Sie in der deutschen Ratspräsidentschaft, insbesondere in den Sozialausschüssen und ‑verhandlungen, die Differenz und den Konflikt mit nationaler Souveränität erlebt haben. Der trifft ja sowieso beim Lieferkettengesetz mit Blick auf die Länder zu, aus denen exportiert wird. Er trifft aber auch bei dem Rahmen für Mindestlöhne oder Mindestsicherungssysteme zu, die in der Debatte sind.
Welche Debatten gibt es auf europäischer Ebene gerade darüber, insbesondere von Staaten, die sagen: „Wir lassen uns wenig in unsere Sozialpolitik oder Sozialsystem hineinfunken“? Welche Konflikte sehen Sie da im Moment in Ihrer Verhandlung mit den entsprechenden EU-Partnern?
Herr Kollege Kleinwächter, für die Bundesregierung, auch für mich ganz persönlich, kann ich sagen, dass wir im Bereich der Lieferkettengesetzgebung überhaupt gar keine rechtlichen Probleme sehen, zumal es zum Beispiel eine europäische Kompetenz in der Handelspolitik gibt.
Der Punkt ist eher andersherum. Es gibt ja die Ankündigung eines Vorschlags des zuständigen EU-Kommissars für eine europäische Lösung für ein Lieferkettengesetz, die natürlich immer die größere und bessere ist. Ist diese Ankündigung eine Ausrede dafür, in Deutschland jetzt nichts zu machen? Wir in der Bundesregierung sind der Meinung: Nein, wir wollen ein nationales Gesetz und dann möglichst auch einen europäischen Rahmen. – Das kollidiert überhaupt nicht mit EU-Recht.
Ihre zweite Frage bezog sich auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für einen Rechtsrahmen zur Stärkung der Sozialpartnerschaft und zur Frage auch eines EU-Rahmens für Mindestlöhne. Meine fachliche Einschätzung ist, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission, den man noch eingehender prüfen muss, durchaus mit EU-Recht vereinbar ist, auch Richtliniencharakter hat. Da gibt es einen einschlägigen Artikel des Europäischen Vertrages, den wir im Europaausschuss ja auch schon diskutiert haben, der durchaus auf Arbeitsbedingungen abstellt. Es ist kein Eingriff in die nationalen Kompetenzen, die im Bereich der Sozialpolitik durchaus eher bei den Mitgliedstaaten liegen.
Danke sehr. – Dr. Hoffmann, FDP.
Herr Präsident, vielen Dank. – Herr Minister, auch ich wollte noch etwas zum Lieferkettengesetz sagen. Sie haben zu Recht gesagt: Die europäische Lösung ist die bessere Lösung, deshalb muss man dafür eintreten. – Wenn Sie jetzt aber ein nationales Gesetz machen, erhalten wir in Europa ja einen Flickenteppich unterschiedlichster Regulierungen, die dann wieder einen Wasserbildeffekt haben werden.
Aber ich will auf was ganz anderes hinaus: Die Elfenbeinküste, der größte Kakaoproduzent der Welt, ist mit Kinderarbeit, mit Sklavenarbeit in Verbindung zu bringen. Die Bundesregierung, gerade das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, behandelt die Elfenbeinküste als Reformstaat, sozusagen als vorbildlichen Staat, und die Elfenbeinküste genießt dadurch Privilegien. Die Frage ist: Können wir Sklaverei und Kinderarbeit nicht besser entgegenwirken, indem wir beim Außenministerium, aber auch beim Entwicklungsministerium in diesem Land vorsprechen und versuchen, dafür zu sorgen, dass die nationalen Regierungen gegen Kinderarbeit vorgehen? Das hätte doch sicherlich eine größere Wirkung als ein Lieferkettengesetz, das der Edeka-Händler am Ende des Tages durchsetzen soll.
Herr Kollege, erst mal will ich im Namen der Bundesregierung feststellen – das ist für mich erfreulich –, dass Sie offensichtlich irgendwie doch für ein Lieferkettengesetz sind; aber für ein europäisches, wenn ich es richtig verstanden habe.
Sie haben gefragt: Gibt es dann einen Flickenteppich? – Den haben wir heute schon. Die Franzosen haben ein Lieferkettengesetz, die Niederländer haben Ansätze. Großbritannien ist nicht mehr in der Europäischen Union, hat aber auch was. Es gibt beispielsweise die europäische Richtlinie für Konfliktmineralien. Und es gibt bei uns die Bemühungen.
Es wird allerdings – das weiß jeder – noch eine Zeit dauern, bis Europa eine Regelung zu Ende verhandelt hat. Die Frage ist: Ist das für uns eine Ausrede, oder haben wir nicht den Ehrgeiz, in Deutschland als größter Wirtschaftsraum in der Europäischen Union und als stärkste Volkswirtschaft eigene Vorstellungen und Maßstäbe zu haben? Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass wir diesen Weg in Deutschland finden wollen.
Zu Ihrer zweiten Frage. Das eine ist kein Ersatz für das andere. Wenn ich es richtig verstehe, ist es der Begriff der „Reformpartnerschaft“, der Sie stört im Zusammenhang mit Ländern, die nach wie vor auch in diesen Bereichen Probleme haben. Ich kann sagen: Wir müssen auch mit solchen Ländern – wie immer Sie es nennen – arbeiten, um die Verhältnisse zu verbessern; es soll ein Anreiz sein. Bei drei Dingen sehe ich Chancen, dass wir tatsächlich in Bezug – und das ist ja das Ziel – auf die menschenrechtliche Situation besser werden, vor allen Dingen in der Arbeitswelt Fortschritte machen.
Erstens: Handelsverträge. Da geht es um Nachhaltigkeitskapitel und die Frage, wie man sie durchsetzt. Das ist eine Frage der staatlichen Handelspolitik, die auf europäischer Ebene liegt: mit anderen Wirtschaftsräumen oder unter dem Dach der WTO.
Zweitens: die Frage von menschenrechtlichen Sorgfaltsplichten, die sich an Unternehmen richten. Da – das will ich sagen – verlangen wir von Unternehmen übrigens nichts Unverhältnismäßiges. Die sollen Risiken analysieren, die sollen geeignete Maßnahmen ergreifen, und die sollen darüber berichten. Dann sollen sie übrigens nach meinen Vorstellungen nicht haften. Vielmehr geht es darum, dass sie sich bemühen. Nicht der Erfolg ist sozusagen der Rechtsgrund, sondern die Bemühenspflicht.
Danke sehr.
Das Dritte ist die Frage der Entwicklungszusammenarbeit, die der Kollege Müller, wie ich finde, in guter Weise gestaltet.
Danke sehr. – Ich mache darauf aufmerksam, dass die Zeit für die Stimmabgabe bei der Schlussabstimmung in drei Minuten abgelaufen ist.
Jetzt hat die nächste Frage der Kollege Matthias Birkwald, Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Bundesminister! Lieber Hubertus Heil, ich habe eine Frage zur Alterssicherung. Warum hält die Bundesregierung weiterhin am Konzept des Drei-Säulen- oder Drei-Schichten-Modells aus gesetzlicher Rentenversicherung, betrieblicher Altersversorgung und privater Altersvorsorge in der Alterssicherung fest, obwohl der druckfrische Alterssicherungsbericht 2020 aufzeigt, dass lediglich 18 Prozent der Beschäftigten betrieblich und privat vorsorgen, und das auch noch bei sinkender Tendenz? Warum hält die Bundesregierung am gescheiterten Drei-Säulen-Modell fest?
Herr Kollege Birkwald, ich weiß nicht, ob der Begriff „drei Säulen“ bei genauer Betrachtung wirklich stichhaltig ist; denn die Relation ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung der größte Batzen ist.
({0})
– Da können Sie verschiedene Begriffe nehmen. – Aber ich finde schon, dass man nichts dagegen haben kann, wenn Leute neben der gesetzlichen Rentenversicherung eine betriebliche oder auch eine private Altersversorgung haben, die noch obendrauf kommt, um es mal einfach zu formulieren. Insofern können Sie mit den Begrifflichkeiten herumwirbeln, wie Sie wollen.
Ziel der Bundesregierung ist es, dass wir die gesetzliche Rente verlässlich gestalten und vor allen Dingen auch die betriebliche Altersversorgung für mehr Menschen nutzbar machen können. Dagegen kann niemand etwas haben. Denn das zeigt der Alterssicherungsbericht ja auch, den Sie angesprochen haben: Es gibt viele Menschen, die Gott sei Dank nicht nur die gesetzliche Rente haben, sondern auch zusätzliche Möglichkeiten. Das ist für die betroffenen Menschen immer mehr und besser im Alter; denn sie haben dann mehr verfügbares Einkommen.
Nachfrage?
Ja, selbstverständlich. – Herr Minister, es geht ja darum, dass das Drei-Schichten-Modell begründet worden ist für den Ausgleich des sinkenden Rentenniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das kann offensichtlich von der großen Mehrheit der Betroffenen nicht geleistet werden. Deswegen frage ich nach: Wie begründet denn die Bundesregierung, dass in Zeiten von Minuszinsen die kapitalgedeckte private Altersvorsorge weiterhin staatlich subventioniert wird, während die Rendite in der gesetzlichen Rentenversicherung mit durchschnittlich 3 Prozent höher ist als auf jedem Kapitalmarkt?
Die Bundesregierung ist nach wie vor der Meinung, dass die gesetzliche Rente die tragende Säule – oder das tragende Element – der Alterssicherung ist. Sie sehen am Bemühen dieser Bundesregierung, das Rentenniveau zu stabilisieren, auch, dass wir das nach wie vor so sehen – jetzt erst mal bis 2025. Die Bundesregierung ist auch der Meinung, dass wir im Bereich der betrieblichen und privaten Altersvorsorge Weiterentwicklungs- und Reformbedarf haben; das ist bekannt.
Eine wichtige Stellschraube übrigens für die Transparenz stellt der Deutsche Bundestag möglicherweise diese Woche vor, nämlich mit der digitalen Rentenübersicht, die den Menschen nicht nur eine klare Transparenz für ihre Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung eröffnet, sondern auch aus anderen Möglichkeiten der Altersversorgung. An dieser Stelle müssen Menschen auch frei entscheiden können; das ist vollkommen richtig.
Aber noch mal. Sie kennen meine persönliche Meinung, und das ist auch die Auffassung der Bundesregierung. Die Hauptsicherung ist die gesetzliche Rentenversicherung, und die wollen wir verlässlich gestalten, zum Beispiel mit der Absicherung des Rentenniveaus jetzt erst mal bis 2025.
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Danke sehr. Das war ein gutes Schlusswort für die Regierungsbefragung. – Herr Minister, ich bedanke mich heute ganz besonders; denn Sie haben erstens Verschiebungen, Unterbrechung hingenommen und zweitens noch länger zur Verfügung gestanden, damit wir die Zeit bis zum Ende der Schlussabstimmung hier sinnvoll gestalten. Herzlichen Dank!
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Die Regierungsbefragung ist geschlossen.
Herr Präsident, darf ich das sagen? Ich will mich auch bemühen, noch präziser zu sein. Ich danke Ihnen für Ihre badische Toleranz.
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Mit dem Versprechen des Bemühens ist das alles in Ordnung.
Damit komme ich zurück zu Tagesordnungspunkt 1 a. Die Zeit für die namentliche Schlussabstimmung ist vorüber. Ich frage, ob noch ein Mitglied des Hauses seine Stimme abgeben möchte? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt gehen und bis wir das Ergebnis der Auszählung haben, erteile ich jetzt, wie vorher angekündigt, dem Kollegen Brandner das Wort, falls er immer noch eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben möchte.
Ja, möchte ich gern, Herr Präsident. Es ist ein wichtiges Anliegen. – Meine Damen und Herren! Auch nach der heftig geführten Debatte hier werden Sie mir nachsehen, dass ich mich nicht in der Lage gesehen habe, diesem Gesetz, das beschönigend „Bevölkerungsschutzgesetz“ genannt wird, zuzustimmen. Es ist eine schlechte Stunde für Deutschland.
Meine Damen und Herren, die Wahlen vom 24. September 2017 haben den Koalitionsparteien eine Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit, zu regieren, unterstützt meist von den Grünen, von der FDP und von den Linken – die machen alle da mit. Noch niemals, meine Damen und Herren, seit es einen Deutschen Bundestag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in einem solchen Maße devot abgegeben und von den Regierenden gerne und widerstandslos ausgeschaltet worden, so wie es seit März ohne Rechtsgrundlage geschah und durch die Änderungen im Infektionsschutzgesetz auch noch intensiver geschehen wird. Eine solche beabsichtigte Allmacht der Regierung muss sich umso schwerer auswirken, als auch die Medien – Funk, Fernsehen und Presse – jeder Bewegungsfreiheit entbehren, überwiegend aus Bequemlichkeit, Karrieregedanken und in vorauseilendem Gehorsam.
Meine Damen und Herren, die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden oft in krassen Farben geschildert. Wie immer fehlt es in solchen Fällen nicht an Übertreibungen. Was mich betrifft, erkläre ich hiermit heute: Mit diesem Gesetz ermächtigen Sie wahrscheinlich – so die Mehrheit da sein sollte – die Exekutive in unverantwortlicher Art und Weise. Deshalb habe ich mit Nein gestimmt.
({0})
Sie haben heute, wenn die Mehrheit da sein sollte, den Bundestag, die einzige, allein legitimierte Vertretung des deutschen Volkes, weitgehend ausgeschaltet,
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um ihre Pläne, Einschränkungen und Drangsalierungen umzusetzen. Das Volk, meine Damen und Herren, erwartet aber positive Leistungen. Das Volk erwartet Zuversicht. Es erwartet Freiheit und Demokratie.
Ich und wir als AfD, meine Damen und Herren, haben uns in schwersten Zeiten eingebracht – mit guten Analysen und noch besseren Ideen und Programmen –, um Deutschland für seine Bürger besser zu machen. Dafür werden wir beschimpft, ausgegrenzt,
({2})
bespuckt, mit Steinen beworfen. Draußen werden Wasserwerfer und Tränengas und Schlagstöcke eingesetzt. Gestern wurde wieder mein Wahlkreisbüro in Erfurt angegriffen. Aber, meine Damen und Herren, unsere Ideen, Anträge und Pläne zur Rettung der Demokratie, der Freiheit und des Sozialstaates werden – davon bin ich überzeugt – vor der Geschichte Bestand haben.
({3})
Ich und wir von der AfD wissen, dass man Freiheit, Grundrechte und Demokratie durch kurzfristige und kurzsichtige machtpolitische Tricksereien nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitischen Tatsachen in den heutigen Tagen und erkennen sie an. Aber auch das Rechtsbewusstsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewusstsein des Volkes
({4})
täglich zu appellieren.
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Ich bekenne mich in dieser historischen Stunde – und dies ist eine historische Stunde – zu den Grundsätzen der Freiheit, des Rechtsstaates, der freiheitlichen Demokratie. Das sollten wir alle tun.
Meine Damen und Herren – Herr Präsident, damit komme ich zum Ende –, wir als freie Bürger sind zurzeit aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag weitgehend wehrlos,
({6})
aber nicht ehrlos.
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Gewiss, Sie von den Altparteien wollen uns unsere Ehre nehmen, und die Debatte hat ja gerade gezeigt – insbesondere die Wortmeldungen des Herrn Fechner und der Frau Rottmann –, wie Sie unsere Ehre beschneiden. Wir haben an unserer Ehre keinen Zweifel. Und dass dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf seine Urheber zurückfallen wird, meine Damen und Herren – dieser Überzeugung bin ich und werde ich bleiben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute schon oft gehört, weil es auch so ist: Die Coronakrise hat die Menschen, die Wirtschaft und die Unternehmen in diesem Land hart getroffen.
Um die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie bestmöglich abzufedern, haben wir umfassende Maßnahmen ergriffen. Einerseits unterstützen wir die Unternehmen mit dem größten Hilfspaket in der Geschichte unseres Landes: mit milliardenschweren Zuschüssen für kleine Unternehmen und einem kraftvollen Wirtschaftsstabilisierungsfonds für größere Unternehmen. Andererseits sorgen wir dafür, dass die Unternehmen die bestmöglichen Chancen bekommen, sich selbst zu sanieren.
In einem ersten Schritt haben wir die Pflicht, einen Insolvenzantrag zu stellen, bis zum Ende dieses Jahres teilweise ausgesetzt. So geben wir vielen Unternehmen die Chance, die Insolvenz noch abzuwenden, und so sichern wir Arbeitsplätze und erhalten gerade in so einer schwierigen Zeit bewährte Strukturen.
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Heute gehen wir einen zweiten Schritt. Ja, ich finde, wir gehen nicht nur einen Schritt, sondern das ist fast schon ein Meilenstein. Wir legen nämlich ein Gesetz vor, in das viele krisengebeutelte Unternehmen große Erwartungen setzen, ein Gesetz, das seine stabilisierende Wirkung aber auch noch entfalten wird, lange nachdem die Coronakrise Geschichte ist – wenn es denn so weit ist –, ein Gesetz, das von vielen Fachleuten darum zu Recht, wie ich finde, als großer Wurf bezeichnet wird, als großer Wurf für die Sanierung von Unternehmen.
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In Schieflage geratene Unternehmen können sich künftig ganz ohne ein Insolvenzverfahren sanieren. Einzige Voraussetzung ist: Die Unternehmen müssen einen Sanierungsplan vorlegen, der eine Mehrheit – ganz wichtig: eine Mehrheit – ihrer Gläubigerinnen und Gläubiger überzeugt. Das ist eine echte Innovation, und diese Innovation bietet für die Unternehmen einen echten Gewinn; denn einzelne Beteiligte sind fortan nicht mehr in der Lage, einen soliden Sanierungsplan aus teilweise eigensinnigen Gründen zu blockieren und das strauchelnde Unternehmen dadurch faktisch in die Insolvenz zu zwingen. So ist es nämlich bisher.
Wenn wir das jetzt ändern, dann erspart das nicht nur dem sich ohnehin schon in einer schwierigen Situation befindlichen Unternehmen das teure Insolvenzverfahren, sondern es ermöglicht auch eine Sanierung in der Stille. So kann der Geschäftsbetrieb nämlich reibungslos weitergehen.
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Ebenso wichtig ist: Das Unternehmen kann weitgehend selbstbestimmt entscheiden, mit welchen Maßnahmen es sich am besten saniert. Unter anderem besteht die Möglichkeit, belastende Verträge zu beenden, wenn die andere Vertragsseite nicht bereit ist, den Vertrag anzupassen, und infolgedessen eine Insolvenz droht. Diese Innovation wird auch und gerade Unternehmen zugutekommen, die aufgrund der Pandemie in eine Schieflage geraten sind, aber ein überzeugendes Geschäftsmodell haben, und wir wollen ja diese bewährten Strukturen erhalten, meine Damen und Herren.
Es geht aber nicht nur um Unternehmen in dieser Krise, in dieser Pandemie, sondern dieses Gesetz wird weit darüber hinaus wirken, und es ist wichtig, dass wir uns auf den Weg machen, so etwas auch in Deutschland zu haben. In vielen anderen Ländern gibt es diese Möglichkeiten bereits. Dieses Gesetz ist wichtig, damit wir die Möglichkeit eröffnen, nicht gleich den Weg ins Insolvenzverfahren gehen zu müssen, wenn man in eine Schieflage gerät, sondern andere sinnvolle Alternativen wählen zu können.
Ich freue mich auf die Beratungen. Sie werden sehr spannend und anregend sein, aber das ist ja auch ein ganz spannendes und wichtiges Thema.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Der nächste Redner ist Fabian Jacobi; ich sehe ihn aber nicht. Möchte jemand anders reden? – Das kann ja mal passieren.
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– Dann tut es mir leid. – Dann ist der nächste Redner dran: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, lassen Sie mich das Thema erst einmal einordnen: Wir setzen hier in einem zweiten Akt einen Teil der europäischen Restrukturierungsrichtlinie um – einen ersten Akt hatten wir hier schon vor einigen Wochen, was vermutlich sehr bald abgeschlossen wird: Das Verfahren zur Restschuldbefreiung soll von sechs auf drei Jahre verkürzt werden.
Hier geht es jetzt um die vorinsolvenzliche – also unter Vermeidung eines Insolvenzverfahrens durchzuführende – Sanierung. Ein dritter Punkt steht noch aus, nämlich die Frage der Stellung des Insolvenzverwalters; es geht um das Berufsrecht des Insolvenzverwalters. Auch darüber werden wir noch intensiv nachzudenken haben.
Gerade weil ich im Unterausschuss Europarecht den Vorsitz führe, ist es mir wichtig, zu sagen, dass wir als Parlament – im Übrigen überfraktionell – auch die europäische Richtliniensetzung in der letzten Legislaturperiode schon sehr früh begleitet haben. Wir haben der Bundesregierung unsere Vorstellungen mit auf den Weg gegeben, und das, was dann als europäische Richtlinie zurückgekommen ist, trägt schon in vielen Punkten unsere Handschrift. Ich glaube, es ist wichtig, das gerade mit Blick auf die europäische Diskussion zu erwähnen.
Sie haben gesagt, das Paket steht – das war unerwartet – jetzt auch im Zusammenhang mit der Coronadiskussion. Viele Unternehmen sind durch die Coronapandemie in Schieflage geraten, und wir müssen über die Frage nachdenken, wie wir Unternehmen mit einem eigentlich über die Krise hinausführenden Geschäftsmodell retten können, wenn sie unverschuldet durch die jetzige Lage in die Krise geraten sind.
Einen ersten Schritt haben wir getan. Wir haben die Insolvenzantragspflicht erst komplett, jetzt noch teilweise ausgesetzt. Und wir müssen jetzt über die Frage nachdenken – darüber haben wir bei der anderen Gesetzesvorschrift an dieser Stelle schon gestritten –, wie wir wieder „back to normal“ kommen, wie wir in die wirtschaftspolitische und wirtschaftsrechtliche Normallage zurückkommen, dass es auch die Situation gibt, leider, dass Unternehmen aus dem Markt ausscheiden und ausscheiden müssen. Deshalb müssen wir uns hier die Frage „Vollständiges Ausscheiden oder Sanierung?“ stellen.
Wir haben auch als Fraktion darauf gedrängt, dass dieser Punkt der Richtlinie möglichst schnell in Form eines Regierungsentwurfs gekleidet wird. Das ist geschehen. Deshalb herzlichen Dank an die Bundesregierung, dass sie diesen großen Entwurf vorgelegt hat!
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Dieser große Entwurf ist aber ein Entwurf, der vielleicht zu sehr vom Leitbild der ganz großen Unternehmen geprägt wird. Wir hatten das Thema schon in der letzten Sitzungswoche in der Fragestunde. In den Rückmeldungen derer, die dieses neue Verfahren vielleicht nutzen wollen, heißt es: Es ist in erster Linie ein Modell für große Aktiengesellschaften, zu komplex, und kleine und mittelständische Unternehmen können davon möglicherweise nicht profitieren. – Das betrifft die Reisebüros, die Messebauer, die kleine Pizzeria vor Ort.
Es ist eben auch – das hängt mit der Größe der vielleicht im Fokus stehenden Unternehmen zusammen – sehr stark beratergetrieben. Auch in diesem Punkt müssen wir noch einmal intensiv nachdenken, wie das für die kleinen und mittelständischen Unternehmen passt.
Wir haben hier also Diskussionspunkte, die wir dann in der Anhörung entsprechend mit einbringen werden.
Lassen Sie mich noch etwas zu einigen Details sagen, die jetzt schon in der Diskussion sind. In dem neuen Gesetz – Sie haben den kompletten Titel eben dankenswerterweise vorgelesen, Frau Präsidentin – bzw. im StaRUG – eine schöne Abkürzung, dafür ein Lob an die Bundesregierung; das ist ja nicht immer so –, einem Teil des Gesetzes, das die vorinsolvenzliche Sanierung regelt, sind direkt zu Beginn die Geschäftsleiterpflichten festgelegt.
Dort steht, wie ein Geschäftsleiter mit einem Unternehmen, dem die Zahlungsunfähigkeit droht, verfahren muss. Er muss nämlich schon bei drohender Zahlungsunfähigkeit die Gläubigerinteressen berücksichtigen. Das Problem für diesen Geschäftsleiter ist: Er weiß nicht, ob der Zeitpunkt gekommen ist, und das wiederum bedeutet: Möglicherweise stehen Sie als Geschäftsführer ständig unter dem Druck einer späteren Haftung, außer Sie entlasten sich wieder durch teure Beratung. Das führt zu einem, wie man so schön sagt, Circulus vitiosus, und das ist nicht das, was sich ein Geschäftsleiter, der ein Unternehmen führt, vorstellt.
Wir brauchen hier also möglicherweise andere Ansätze, vor allem wenn man weiter bedenkt, dass die daraus resultierende potenzielle Haftung vielleicht gar nicht in Gänze den Gläubigern zugutekommt, weil die Kosten des Insolvenzverfahrens zu hoch sind.
Ein weiterer Punkt. Das vorinsolvenzliche Verfahren soll bei drohender Zahlungsunfähigkeit eingreifen. Viele, die auf uns zugekommen sind, haben gesagt: Vielleicht ist das schon zu spät. Sollten wir nicht etwas früher an die Sache herangehen, nämlich schon zum Zeitpunkt der sogenannten Krise?
Sie, Frau Ministerin, haben auch darauf hingewiesen, dass Verträge, die für die Sanierung ungeeignet sind und die die Sanierung blockieren können, möglicherweise beendet werden sollen. Diese Lösungsklauseln stoßen aber nicht nur auf Zustimmung, was ich verstehen kann. Sie haben auch – und das wird jetzt schon berichtet – eine Vorfeldwirkung dahin gehend, dass bestimmte Verträge gar nicht mehr abgeschlossen werden. Über die Frage, wie wir hier ein Gleichgewicht hinbekommen, sollten wir meines Erachtens ebenfalls nachdenken.
Im Zusammenhang mit dem Restrukturierungsbeauftragten, der das alles organisieren soll, stellt sich die Frage nach Konflikten: Darf das auch der Insolvenzverwalter sein? Es stellt sich die Frage nach der Vergütung: Ist das, was jetzt im Gesetz vorgesehen ist, das richtige Anreizsystem? Es ist nämlich ein anderes, auf einem Stundenhonorar beruhendes Anreizsystem. Auch darüber ist nachzudenken.
Wir müssen auch darüber nachdenken – Sie haben es angedeutet; das alles ist sehr komplex –, ob alles so hinzubekommen ist, dass das Gesetz bis zum 1. Januar 2021 in Kraft treten kann. Ich habe da nach dem augenblicklichen Stand gewisse Zweifel.
Einen Punkt möchte ich noch hervorheben, gerade weil es um die Kosten des Insolvenzverfahrens geht und weil wir hier im Hause das ARUG II erarbeitet haben: Wir müssen auch über die Frage nachdenken, ob die Kosten der Insolvenzverfahren ähnlich, wie es im Aktienrecht für die Vergütung von Vorstandsmitgliedern geregelt ist, offengelegt werden. Transparenz ist Kontrolle, und das ist wichtig.
Ich freue mich auf die Beratungen und danke herzlich für den bisherigen Input und für den Regierungsentwurf.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Hirte. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Judith Skudelny.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe die Bundesregierung gefragt: Wie sieht es eigentlich aktuell mit Steuerrückständen aus? Ein Teil der Antwort hat mich besonders besorgt. Aktuell ist es so, dass Unternehmen in Deutschland in nicht unerheblichem Umfang die laufenden Umsatzsteuerforderungen – Umsatzsteuer ist Fremdgeld – nicht zahlen können. Man braucht kein Frühwarnsystem, um zu sehen, wie schlecht es unserer Wirtschaft in Wirklichkeit geht.
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Deswegen kommt der große Entwurf des Insolvenz- und Sanierungsrechts, den wir hier vorliegen haben, nicht zu spät und gerade zur rechten Zeit; denn wir werden ihn künftig brauchen. Allerdings hat der große Entwurf auch einen großen Diskussionsbedarf. Drei Punkte möchte ich hier herausgreifen, die wir im Folgenden dringend beraten müssen.
Erstens. Es wurde schon gesagt: Wir haben Unternehmen, die wegen der Coronakrise in der Insolvenz sind. Diese Unternehmen hatten einen funktionierenden Wirtschaftsbetrieb, und sie arbeiten daran, dass dieser Betrieb nach der Coronakrise, wenn auch vielleicht in geänderter Form, wieder funktioniert. In dem Moment, in dem die Lockdown-Maßnahmen nicht mehr gelten, können diese Unternehmen wieder arbeiten.
Das Problem ist nur, dass sie nicht drohend zahlungsunfähig sind. Mietrückstände und Steueraussetzungen in der Vollstreckung sind nämlich schon vorhanden. Das heißt, wir brauchen kein Instrument, das sehr früh ansetzt, sondern wir brauchen ein Instrument, das den Unternehmen, die eigentlich einen funktionierenden Geschäftsbetrieb haben, den Zugang zu einer Sanierungsmaßnahme gewährt. Das aber leistet der vorliegende Gesetzentwurf nicht.
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Zweitens. Wir hatten des Weiteren starke Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Normalerweise schließt man Verträge ab, nachdem man hart verhandelt hat, und dann verlassen sich beide Parteien darauf, dass diese Verträge auch Bestand haben. Jetzt aber soll ein Instrument geschaffen werden, das nachträglich von einer Seite in diese Verträge eingreifen kann und sie plötzlich kündbar macht. Der Verlass auf die Gültigkeit von Verträgen wird damit künftig nicht mehr gegeben sein.
Das werden wir gerade bei Start-up-Unternehmen sehen, die zum Beispiel kein Leasing mehr bekommen. Das werden wir auch bei Zulieferern sehen, wo eine noch größere Diversifizierung mit noch kleineren Aufträgen und noch härter verhandelten Margen erfolgen wird. Es hilft nicht, diese Verträge einseitig kündbar zu machen; wir müssen uns überlegen, wie wir diese Unternehmen finanziell auf eine schlaue Art und Weise ohne Eingriffe in das Eigentum und in die Vertragsfreiheit absichern können. Darüber müssen wir ganz dringend reden.
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Drittens. Eine Sache ärgert mich massiv: Wir bekommen hier ein Fiskusprivileg durch die Hintertür. Wer trägt denn im Moment die Lasten der Krise? Das sind auf der einen Seite die Steuerzahler der Zukunft, und das sind auf der anderen Seite die Unternehmen bzw. die Unternehmerinnen und Unternehmer. Und wer soll nach diesem Regierungsentwurf künftig die Lasten tragen? Auch wieder die Unternehmerinnen und Unternehmer! Es bringt ja nichts, nur der einen Seite, also dem Krisenunternehmen, zu helfen, wenn wir mit der Hilfe andere Unternehmen mit in die Krise hineinziehen, weil ein einseitiger Schuldenschnitt gemacht wird und der Fiskus der Einzige ist, der 100 Prozent erhalten soll.
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Jahrelang haben Sanierer und Insolvenzberater dafür gekämpft, dass der Fiskus ein Gläubiger unter vielen ist und dass faire, gleiche, auf Augenmaß geschnittene Maßnahmen erfolgen.
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Hier aber kommt wieder das Fiskusprivileg durch die Hintertür. Das ärgert mich. Darüber müssen wir ganz dringend reden; denn die Last der Krise kann nicht nur bei der Wirtschaft abgeladen werden.
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Dieses Gesetz hat noch großen Diskussionsbedarf und soll trotzdem zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Ich bin kein Hellseher, aber ich glaube nicht, dass das gelingen wird. Mir wäre es lieber, das Gesetz zur Restschuldbefreiung würde jetzt endlich kommen und wir würden die Zeit bis dahin nutzen, die Beratungen sorgfältig und anständig zu führen und nicht wieder übers Knie zu brechen.
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Kommen Sie zum Schluss.
Die FDP wird sich an der Diskussion konstruktiv beteiligen.
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Danke schön, Frau Skudelny. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Niema Movassat.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt drei Minuten Zeit, um über einen 219 Seiten umfassenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zu reden. Das ist natürlich ein bisschen absurd. Es geht um sehr viele, sehr weitreichende Veränderungen des Sanierungs- und Insolvenzrechts.
Ja, es ist enorm wichtig, dass Regelungen für Unternehmen geschaffen werden, vor allem auch für Unternehmen, die von der Coronapandemie betroffen sind. Hierbei sind natürlich Restrukturierungsmaßnahmen, also die Sanierung von Unternehmen, die vor der Pleite stehen, immer besser als die Insolvenz, weil das Arbeitsplätze rettet und damit die Existenz von Menschen.
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Deshalb unterstützen wir als Linke das Regelungsmotiv der Bundesregierung, einen Rechtsrahmen für die Sanierung von Unternehmen zu schaffen. Sie schaffen aber allein im Sanierungsgesetz 108 neue Regelungen, darunter vier völlig neue gerichtliche Verfahren. Seit dem Referentenentwurf vom Oktober dieses Jahres bis zum vorliegenden Regierungsentwurf im November haben Sie zudem weitere neue umfassende Regelungen wie die Geschäftsleiterhaftung eingebaut.
Ein so umfassendes Gesetz bräuchte einen längeren Vorlauf und mehr Diskussionen. So, wie es jetzt läuft, wird das Parlament aber zum Durchlauferhitzer, indem es schnell weitreichende Gesetze beraten und durchwinken soll. Das ist heute nicht das erste Mal. Gut ist das nicht für die Demokratie.
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Darunter leidet vor allem auch die Sorgfalt. Die Gesetze der Koalition sind oft handwerklich schlampig gemacht, und auch Ihr heutiger Gesetzentwurf ist handwerklich schlecht. Das sagen auch die Verbände; der Bundesarbeitskreis Insolvenzgerichte hat Ihren Entwurf verrissen. Die Insolvenzrichter sind diejenigen, die Ihr Gesetz später anwenden müssen. Sie bemängeln die Unübersichtlichkeit und die mangelnde Praxistauglichkeit Ihres Gesetzes.
So sind die Gerichte in Ihrem Gesetzentwurf bei nahezu jedem Ausnahmetatbestand durch unbestimmte Regelungen sich selbst überlassen. Das wird – und das ist jetzt schon klar – zu einem Flickenteppich von Gerichtsentscheidungen führen. Ihr Gesetzentwurf legt es darauf an, dass es viele Verfahren gibt und damit das Gesetz letztlich mühselig durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes konkretisiert werden muss.
Ein neues Gesetz sollte doch Rechtssicherheit schaffen. Ihr Gesetz schafft eklatante Rechtsunsicherheit. Hätten Sie mal auf die Experten gehört!
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Die Insolvenzrichter sagen auch, dass Ihr Entwurf in vielen Punkten zu kompliziert und überfrachtet ist. Er scheue zudem eindeutige gesetzliche Regelungsentscheidungen und eröffne zu viele Hintertüren. Dieser Kritik schließt sich Die Linke an.
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Ihr Gesetz ist nämlich eine systematische Verweigerung, die Dinge wirklich zu regeln, was aber der originäre Job der Gesetzgebung ist. Wenn dieser Entwurf im Verfahren nicht grundlegend überarbeitet wird, werden wir ihn daher ablehnen müssen. Deshalb: Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der tatsächlich etwas regelt, statt alles den Gerichten zu überlassen!
Danke schön.
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Vielen Dank, Niema Movassat. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Manuela Rottmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin hellhörig geworden; denn Herr Professor Hirte hat hier vorhin referiert, was alles zur Umsetzung der Richtlinie gehört. Dann kam zu dem Teil „Verkürzung der Frist bis zur Restschuldbefreiung“ die Aussage, dass das vermutlich sehr bald abgeschlossen werden wird. Wenn Sie nicht wissen, wann „vermutlich sehr bald“ sein wird, dann weiß ich gar nicht, wer es wissen soll.
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– Nein, die Restschuldbefreiung ist schon durch die Sachverständigenanhörung gegangen. Das liegt bei Ihnen in den Fraktionen.
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Wir hatten die Anhörung zum Regierungsentwurf. Die Änderung sollte am 1. Oktober in Kraft treten. Jetzt ist Sankt Martin vorbei, und Sie verhandeln immer noch. Das Thema ist nicht besonders kompliziert, ganz anders als der Gesetzentwurf, um den es heute geht.
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Die Restschuldbefreiung zu lösen, ist wirklich überschaubar, und es ist wirklich dringend, dass das Ganze jetzt kommt.
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Wer wegen der Einschränkungen durch die Pandemie in Kurzarbeit musste, wem als Soloselbstständigem die Umsätze weggebrochen sind, der braucht eine Entscheidungsgrundlage. Ich weiß von den Schuldnerberatungen, dass die Schuldnerberater mittlerweile ihren Schuldnern raten: Schiebt die Privatinsolvenz noch hinaus. – Im August hatten wir einen Rückgang um 65 Prozent. Das hat alles nur einen einzigen Grund: Sie kommen bei einem wirklich kleinen Thema nicht zu Potte.
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Bei der Restschuldbefreiung geht es um den Neustart für kleinere Leute; bei dem Thema hier geht es um einen Neustart für große Unternehmen. Was ich nicht für korrekt halte, ist, es jetzt als Antwort auf Corona zu verkaufen. Das ist eine viel ältere Überlegung. Den Entwurf werden wir so, wie wir ihn haben, prüfen müssen. Da gibt es viel zu diskutieren: Was ist mit den Eingriffen ins Vertragsrecht? Aber wenn es eine Antwort ist, dann ist es eine Antwort für große Unternehmen. Es ist keine Antwort für die vielen Kleinen, für die Soloselbstständigen und die kleinen Betriebe, die jetzt ins Schlingern kommen.
Weil wir eine Antwort auf die jetzige Situation geben wollen und uns eigentlich nicht in einen Gesetzentwurf versteigen wollen, den man, ehrlich gesagt, auch noch in einem halben Jahr durchbringen kann, schlagen wir vor, dass wir in diesem Verfahren mitdiskutieren: Können wir denn ein schlankes Restrukturierungsrecht, ein schlankes Angebot „Restrukturierung light“ für die Kleinen anbieten, genau für die, die jetzt ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen können, die es alleine nicht schaffen, aus der Verschuldung rauszukommen, und die jemanden an ihrer Seite brauchen, der ihnen dabei hilft?
Deswegen freue ich mich sehr auf die Beratungen; denn ich glaube, darauf wartet die Praxis, das Gewerbe, das Kleingewerbe wirklich. Ich würde mich freuen, wenn es dafür eine Offenheit gäbe. Ich habe heute gehört, dass der Verband der Insolvenzverwalter in eine ähnliche Richtung denkt, also ein kleines, praktikables Verfahren wünscht. Das wäre dringend zu beschließen; denn auch damit können wir nicht mehr so lange warten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Manuela Rottmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Als ich 2013 in den Deutschen Bundestag einzog und mitteilte, dass ich unter anderem Berichterstatter für Insolvenzrecht sein sollte, hat man mich auch in Fachkreisen belächelt und gesagt: Das ist so ein absonderliches Thema, das kommt so gut wie nicht zum Tragen; da hast du nie was zu tun. – Jetzt haben wir im Jahr 2020, glaube ich, so oft über Insolvenzen, über Insolvenzverfahren und über die Modernisierung des Insolvenzrechts gesprochen, dass es vielen Menschen wohl ein Hohn ist, zu sagen: Da hat man nichts zu tun.
Ich selbst versuche, mich an die Zeit vor dem 1. Januar 1999 zu erinnern, als alle Praktiker gesagt haben: Das neue Insolvenzrecht wird niemals so richtig funktionieren können, die Gerichte sind nicht ausgestattet, die Insolvenzverwalter können das noch nicht, die Banken können sich nicht darauf einstellen; unser altes Konkurs- und Vergleichsrecht war viel, viel besser. – Und es war doch zum 1. Januar 1999, würde ich sagen, ein großer Sprung, ein Quantensprung. Ich glaube auch, dass das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts, also zur Einführung eines Restrukturierungsrahmens, den einerseits Europa verlangt, den aber auf der anderen Seite die Evaluation unseres Rechts als solches in den Mittelpunkt gestellt hat, ein ebenso großer Wurf werden wird, mit dem wir das Insolvenzrecht elementar ändern und vor allen Dingen erneuern werden.
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Liebe Kollegin Rottmann, ich darf Ihnen versichern: Der Kollege Hirte, das Bundesministerium der Justiz und ich werden zu dem Ergebnis kommen, recht bald die entsprechende Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf den Weg zu bringen. Gut Ding braucht manchmal etwas Weile, aber so viel Weile wollen wir uns da nicht geben, sodass wir zu dem Ergebnis kommen.
Der Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt und den uns die Ministerin Christine Lambrecht vorgestellt hat, enthält im Weiteren nicht nur in der Folge der Covid-19-Pandemie einen Beitrag zur Bewältigung dieser Pandemie, sondern er schließt auch die Lücke zwischen dem Bereich der freien, ganz allein auf dem Konsens beruhenden Sanierung der Unternehmen einerseits und einer Sanierung im Insolvenzverfahren andererseits.
Mit der Einführung des Restrukturierungsverfahrens wird zugleich die europäische Restrukturierungs- und Insolvenzrichtlinie umgesetzt. Einige der Fragen, die aufgeworfen werden – ich würde nicht von Mängeln reden –, wurden schon angesprochen.
Dieser große Wurf, wie ich ihn bezeichnen würde, wird wie überall, wo es viel Licht gibt, auch etwas Schatten haben. Denn es werden sich Fragen stellen, etwa wie mittlere und kleine Unternehmen die Antragsvoraussetzungen erfüllen werden. Darüber werden wir in den Beratungen und mit den Sachverständigen in den Anhörungen zu sprechen haben.
Wir werden darüber zu sprechen haben: Gelingt es uns in diesem Verfahren, mit der erforderlichen Einschaltung von Fachkräften, also dem Restrukturierungsbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, unter einem Stundensatz von 350 oder 200 Euro, die da so im Raume stehen, den Arbeitsumfang auch so abzuarbeiten, dass es finanziell umsetzbar ist? Wird es uns gelingen, kleinen und mittelständischen Unternehmen das an die Hand zu geben, was sie benötigen, um am Markt zu bleiben und ihre gute Geschäftsidee umzusetzen? Und wir müssen uns die Frage stellen: Können die Justizbehörden die noch anstehenden Aufgaben, die in dem Entwurf des Gesetzes enthalten sind, auch umsetzen?
Außer diesen Fragen bleibt natürlich ferner die Frage des Schicksals –
Nein, wir haben jetzt aber keine Zeit mehr für „ferner“.
– ich habe es gesehen – der Forderungen der Arbeitnehmer und der Betriebsrentner zu sehen. Auch die werden wir behandeln.
Ich freue mich auf die Beratungen und auf die öffentliche Anhörung zu diesem Thema und glaube, dass uns auch hier ein guter Wurf gelingen wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Karl-Heinz Brunner. – Wir haben jetzt Herrn Jacobi noch mit aufgenommen. Das Wort hat Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts, dessen Entwurf die Bundesregierung hier zur ersten Beratung vorlegt, soll einerseits der große Wurf sein, der uns ein ganz neues Universum der vorinsolvenzlichen Sanierung von Unternehmen eröffnet. Andererseits soll mit diesem Gesetz mal wieder alles ganz schnell gehen. In der nächsten Woche werden wir immerhin noch eine Sachverständigenanhörung durchführen können. Für deren Auswertung wird dann allerdings kaum Zeit sein; denn das Gesetz soll unbedingt noch in diesem Jahr verabschiedet werden und zum 1. Januar in Kraft treten. Nun denn.
Was bringt der Entwurf? Im Wesentlichen ein gänzlich neu zu schaffendes Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen, kurz: StaRUG, daneben aber auch Änderungen zahlreicher anderer Gesetze, nicht zuletzt der Insolvenzordnung. In der Kürze des hier vorgegebenen Rahmens muss ich mich auf drei kurze Anmerkungen beschränken: eine grundsätzliche, eine zum StaRUG und eine zur Insolvenzordnung.
Zum Grundsätzlichen. Leider muss ich auch dieses Mal wieder auf mein Karthago zu sprechen kommen, welches in Brüssel liegt. Auch dieser Gesetzentwurf enthält wie so viele den Vermerk „TINA“: „There is no alternative“, oder zu Deutsch: „Zur Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie gibt es keine Alternative“.
Auch das materielle Insolvenzrecht, welches bislang unserer eigenen Gesetzgebung unterlag, hat die EU inzwischen an sich gezogen – bislang nur in Form einer Richtlinie, welche uns großzügigerweise einige Gestaltungsspielräume noch belässt. Aber das Zunehmen der Regelungsdichte der EU und damit das weitere Schrumpfen unserer selbstbestimmten Gesetzgebung ist vorhersehbar.
Wenn also kürzlich der Bundesinnenminister kundtat, die von einem Abgeordneten der AfD hier im Bundestag geäußerte Kritik am Herrn Bundespräsidenten sei „staatszersetzend“, dann handelt es sich dabei wohl um einen Fall von Projektion.
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Denn den Staat zersetzen, das tun nicht wir von der AfD, sehr wohl aber die Mehrheitsfraktionen in diesem Haus, indem sie noch jedem Ausgreifen der EU in die Gesetzgebungszuständigkeiten des Deutschen Bundestages freudig applaudieren und damit der Verwandlung der deutschen Republik in eine Art Potemkin’schen Parlamentarismus Vorschub leisten.
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So viel zum Grundsätzlichen.
Was soll nun das StaRUG bewirken? Es soll einen Rahmen liefern für den Versuch, die Insolvenz eines Unternehmens erst gar nicht eintreten zu lassen, indem es bereits in deren Vorfeld eine Restrukturierung der Verbindlichkeiten des Unternehmens ermöglicht. Die Zielrichtung ist also sicherlich eine sinnvolle. Dabei ist Restrukturierung in aller Regel eine Umschreibung dafür, dass die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Wo dem alle Betroffenen nach Abwägung ihrer Interessen zustimmen, ist das kein Problem. Das ist aber nicht immer der Fall, und deshalb soll auch die nur mehrheitliche Annahme eines entsprechenden Plans durch die Gläubiger möglich sein.
Es wird also in die Rechte eines einzelnen Gläubigers, im Zweifel auch gegen dessen Willen, eingegriffen. Das mag in bestimmten Fällen zu rechtfertigen sein. Es erfordert aber zumindest, dass der einzelne Betroffene seine Rechte in diesem Verfahren auch sinnvoll wahrnehmen kann.
Schaut man sich beispielsweise die Annahmefrist in § 21 des StaRUG-Entwurfes an, die im Mindestmaß nur 14 Tage betragen soll, kann man daran durchaus Zweifel haben. In diesem wie in weiteren Punkten wird die Anhörung hoffentlich noch weitere Erkenntnisse bringen.
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Zur Insolvenzordnung. Der vorliegende Gesetzentwurf soll zwar nicht, wie nach Äußerungen aus der CDU/CSU-Fraktion zu besorgen war, den Insolvenzgrund der Überschuldung ganz abschaffen, aber doch ihn ein weiteres Mal aufweichen. Das lehnen wir ab. Die Vermeidung einer Unternehmensinsolvenz ist – wo möglich – sicher wünschenswert. Nicht sinnvoll ist es dagegen, diese nur möglichst lange hinauszuschieben. Durch eine weitere Schwächung des Insolvenzgrundes der Überschuldung wird sich die Zahl der Zombieunternehmen – die am Ende, wenn die Insolvenz dann schließlich doch eintritt, nur umso größere Schäden anrichten – nur noch erhöhen. Hier sollten wir also nicht die bisherige Fehlentwicklung fortsetzen, sondern stattdessen gegensteuern.
Vielen Dank und bis nächste Woche.
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Danke schön. – Letzter Redner in der Debatte: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen und Monaten an dieser Stelle sehr häufig über das Insolvenzrecht diskutiert. Natürlich stand immer alles unter der Überschrift der Coronapandemie. Wir haben uns gerade im Insolvenzrecht immer intensiv Gedanken gemacht, wie wir Instrumente des Insolvenzrechts nutzen können, um Unternehmerinnen und Unternehmer vor den Auswirkungen der Pandemie zu schützen.
Ich will an der Stelle auch sagen: Herr Jacobi, wenn der Redner der AfD zur vereinbarten Debattenzeit nicht da ist, dann lässt das tief blicken hinsichtlich des Selbstverständnisses der AfD bei diesem wichtigen Thema.
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Wenn dann Sie, Frau Präsidentin, ein so großartiges Demokratieverständnis an den Tag legen – das, glaube ich, für dieses Haus mustergültig ist – und den Kollegen Jacobi doch noch reden lassen, dann ist das, glaube ich, an einem solchen Tag gut und ein Musterbeispiel für den Umgang von Demokratinnen und Demokraten. Am Ende bleibt eigentlich nur die Frage, ob die AfD das umgekehrt genauso machen würde.
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In den Debatten, die wir hier über das Insolvenzrecht geführt haben, sind immer wieder verschiedene Hinweise gekommen. Da waren natürlich die Hinweise, dass es verschiedene weitere Handlungsfelder im Insolvenzrecht gibt. Das haben auch wir von den Regierungsfraktionen an mancher Stelle so gesehen. Es ist natürlich auch immer der Hinweis gekommen, dass die Aussetzung der Insolvenzgründe nicht dazu führen darf, dass wir letztendlich einfach nur eine Pleitewelle vor uns herschieben und es irgendwann dann zum großen Aufprall kommt. Es ist sicher richtig, dass der Entwurf, den wir heute hier beraten, schon längere Zeit in der Pipeline ist. Aber gerade auf diese Problemstellungen liefert der Entwurf mustergültige Antworten.
Zum einen ist die Zielsetzung, dass das Gesetz am 1. Januar 2021 in Kraft treten soll. Das ist nicht unbestritten. Es gibt auch welche, die das kritisch sehen. Aber auch damit soll natürlich das Signal gegeben werden, dass wir Unternehmen, die von Covid-19 betroffen sind – die zwar nicht zahlungsunfähig, aber überschuldet sind –, die Möglichkeit geben wollen, in den Geltungsbereich dieses neuen Gesetzes zu fallen, um unter Umständen schon das neue Instrument, zu dem ich nachher noch etwas sage, nutzen zu können.
Unser Ziel ist: Wir wollen keine Pleitewelle. Die Idee ist, dass wir den Unternehmerinnen und Unternehmern im Land über die Monate hinweg zur Seite stehen. Ich glaube, das ist das, was uns hier fraktionsübergreifend motiviert.
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Kernstück dieses Entwurfs sind vor allem die Änderungen im StaRUG – Professor Hirte hat es vorhin skizziert –, im Unternehmensstabilisierungs- und ‑restrukturierungsgesetz. Dort kommen wir zu einem ganz wesentlichen Instrument, nämlich zu präventiven Restrukturierungsmaßnahmen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, Ihnen zu erklären, warum das so wichtig und dieser Ansatz auch so richtig ist. Es gibt jetzt die Möglichkeit, im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens Sanierungsmaßnahmen auch gegen den Willen einzelner Beteiligter durchzuführen. Bisher ist es so, dass vor dem Insolvenzverfahren eigentlich nur die außergerichtliche Sanierung möglich ist, und die erfordert aber Einstimmigkeit. Im Insolvenzverfahren gibt es dann die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung; aber dann ist man eben schon im Insolvenzverfahren.
Deswegen setzen wir mit diesem neuen Instrument etwas auf die Schiene, was die Praxis sehnlichst erwartet hat und was natürlich auch Gegenstand der EU-Richtlinie ist, die wir an dieser Stelle umsetzen. Das Ganze eröffnet mehr Flexibilität, die eben so weit gehen soll, dass die Sanierungsmaßnahme in Einzelfällen eben auch vom Geschäftsführer vorgenommen werden kann und man eben nicht extra einen Insolvenzverwalter bestellen muss. Wir glauben, dass das ein Schritt in die richtige Richtung ist.
Es wird so sein, dass uns jetzt im parlamentarischen Verfahren sicher noch Einzelfragen beschäftigen werden. Die Grünen haben in ihrem Antrag eine solche Fragestellung aufgeworfen, nämlich ob die Verfahrensvorschriften nicht so kompliziert sind, dass kleine Unternehmen und zum Beispiel auch Start-ups unter Umständen gar nicht in den Genuss dieser Neuerungen kommen. Das müssen wir uns angucken.
Wir aus dem Freistaat Bayern oder zumindest die Bayerische Staatsregierung hat noch etwas Bauchschmerzen, weil sie im Artikel 2 einen Eingriff in die Länderkompetenz sieht; darüber werden wir reden müssen. Darauf freue ich mich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Danke schön, Alexander Hoffmann. – Ich bin auch Bayer, nicht? Bayern ist vielfältig. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Mauerfall hat die Bundesrepublik Deutschland die Ostdeutschen in die gesetzliche Rentenversicherung integriert. Die Rentenüberleitung war eine große Aufgabe; es gab Licht und Schatten.
Um ein Problem geht es dabei in unserer Großen Anfrage. Menschen, die schon Jahre oder Jahrzehnte vor dem Mauerfall unter großen Entbehrungen und nach vielen Demütigungen und oft auch unter Einsatz ihres Lebens aus der DDR in den Westen geflohen oder ausgereist waren, wurden rückwirkend und heimlich in die Rentenüberleitung einbezogen. Diesen DDR-Flüchtlingen hatten alle westdeutschen Regierungen vor 1989 versprochen, dass sie rentenrechtlich so behandelt werden würden, als hätten sie ihr komplettes Arbeitsleben im Westen verbracht.
Dieses Versprechen stand so im „Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR“, herausgegeben vom Bundesminister des Innern im Jahre 1980 und danach. Gut und richtig; denn ihre Ansprüche gegenüber der DDR-Sozialversicherung waren ihnen ja auch storniert, aberkannt und gestrichen worden. Das wurde ihnen nicht nur versprochen, sondern es wurde auch im Fremdrentengesetz juristisch eindeutig so verankert. Sie erhielten ein FRG-Rentenkonto; ihre DDR-Vergangenheit spielte sozialrechtlich keine Rolle mehr. Alles gut.
Aber ab den 90er-Jahren erhielten die DDR-Altübersiedlerinnen und ‑Altübersiedler dann plötzlich ohne jede diesbezügliche Information Rentenbescheide mit einem anderen Kürzel zugeschickt. Wo früher im Versicherungsverlauf „FRG“ für „Fremdrentengesetz“ stand, war plötzlich „SVA“ für „beitragspflichtiger Verdienst zur Sozialpflichtversicherung im Beitrittsgebiet“ eingetragen worden. Damit waren die Entgeltpunkte zusammengeschmolzen. Ihre bisherigen Rentenansprüche wurden gelöscht, und diese wurden plötzlich von der Rentenversicherung als DDR-Zeiten bewertet – das alles ohne vorherige nachvollziehbare Debatte im Bundestag, ohne eine vernünftige Begründung in irgendeinem der vielen Nachwendegesetze und ohne eine direkte Information der Betroffenen. So wurden Flüchtlinge über Nacht wieder zu DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern gemacht, und das ist völlig inakzeptabel.
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Die Bundesregierung behauptet, das alles stünde im Renten-Überleitungsgesetz. Das stimmt nicht; denn das war eindeutig an die damaligen Versicherten im Beitrittsgebiet adressiert. Liebe Bundesregierung, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, bitte zeigen Sie mir die Stelle im Gesetz, wo das stehen soll.
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Die Betroffenen empfinden das bis heute als Diskriminierung und als Rechtsbruch. Ich kann das verstehen.
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Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen allen einen Blick auf die Webseite der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge e. V.; die Adresse lautet www.flucht-und-ausreise.info. Der Vereinsvorsitzende, Herr Dr. Jürgen Holdefleiß, hat Sie in den vergangenen Tagen angeschrieben und Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linken kritisch kommentiert. Bitte antworten Sie in Ihren Erwiderungen nicht mir, sondern antworten Sie bitte den Betroffenen.
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Die Altübersiedlerinnen und Altübersiedler haben jahrzehntelang auf das Rentenrecht vertraut, und sie haben fleißig gearbeitet. Sie haben sich im Westen ein neues Leben aufgebaut, und dann wurden sie durch die Wiedervereinigung, die sie mehr als viele andere Menschen in diesem Land herbeigesehnt hatten, schwer benachteiligt. Das ist doch absurd!
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Verehrte Bundesregierung – ich sehe jetzt weder die Staatssekretärin noch den Minister –,
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Herr Weiß, die Geflüchteten wollen im Jahr 31 nach dem Mauerfall kein Bedauern. Sie wollen auch keine Entschuldigung. Nein, sie fordern den echten Willen, dieses Unrecht endlich aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir Linken unterstützen das.
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Meine Damen und Herren, zum Schluss. Wir waren schon mal weiter. Wir hatten im Petitionsausschuss bereits 2013 einen vollständigen überparteilichen Konsens. Es gab das Gutachten von Professor Heinz-Dietrich Steinmeyer. Er sagte: Es ist gezeigt worden, dass eine Lösung möglich ist, wenn bestimmte Rahmenbedingungen beachtet werden. – Und genau das erwarten wir Linken vom Ministerium für Arbeit und Soziales und von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich habe auch eine Erwartung an Sie.
Ich bin auch sofort bereit, Ihrer Erwartung nachzugeben, und sage: Herzlichen Dank.
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Danke schön.
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– Tja, das nennt man Autorität. – Vielen Dank, Matthias W. Birkwald.
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Frank Heinrich.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es hörte sich jetzt, Herr Kollege Birkwald, an wie ein Antrag von Ihnen. Dabei geht es heute – das wollte ich einfach an den Anfang stellen – um die Beratung der Antwort der Bundesregierung zu diesem Thema. Sie haben es dargestellt; ich möchte das noch mit meinen Worten machen.
Worum geht es heute? Vor 1992 regelte das FRG – Sie haben es angesprochen –, das Fremdrentengesetz, wie die in der DDR zurückgelegten Versicherungszeiten in der BRD rentenrechtlich zu berechnen seien. Den Versicherungszeiten wurden fiktive Verdienste zugeordnet, wie sie bei vergleichbarer Qualifikation und Tätigkeit, die die Betroffenen in der BRD gehabt hätten, tatsächlich erzielt worden wären. Man nannte das fachlich „Tabellenentgelte“.
Mit dem Renten-Überleitungsgesetz sind diese Regelungen im Fremdrentengesetz zum 1. Januar 1992 folgerichtig, wie wir finden, gestrichen worden; denn wir hätten sonst eine andere Ungerechtigkeit erzeugt, wissend, dass auch die jetzige als schmerzhaft empfunden wird. Ebenfalls mit Wirkung zu diesem Datum wurden mit diesem Gesetz neue Regelungen in das SGB VI eingeführt. Diese Regelungen gelten seitdem zur Bewertung im Beitrittsgebiet, also in den neuen Bundesländern. Seitdem wurden grundsätzlich nicht mehr die Tabellenentgelte wie bis zu dem genannten Datum zugrunde gelegt, sondern die tatsächlich in der DDR versicherten Verdienste, natürlich umgewertet mit einem Hochwertungsfaktor,
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weil sie an das Verdienstniveau bzw. vergleichbare Verdienste in der BRD anzupassen waren.
„Ist das gerecht?“, kann man fragen und fragen Sie. Ist das rechtens? Dazu haben Sie immer wieder auch hier in diesem Parlament gehört: Die Rechtmäßigkeit dieser gesetzlichen Regelungen und ihrer Anwendung auf die in der DDR zurückgelegten Versicherungszeiten – „zurückgelegt“ im Sinne von „angespart“ – von sogenannten DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedlern haben sämtliche Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht bestätigt.
Wo sind wir jetzt in dem Prozess? Wir sind jetzt bei der Auswertung; Sie haben die Antwort vom Bundesministerium bekommen. Wir haben Erkenntnisse erlangt; das geht ja auf Ihre Anfrage zurück. In dem von Ihnen gerade genannten Petitionsverfahren wurde das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom Ausschuss um eine Prüfung gebeten. Der Ausschuss alleine repräsentiert trotz bestehender Einigkeit, wie Sie sie auch bei anderen Themen kennen, nicht automatisch das ganze Parlament. Da stellten sich Fragen wie: Sollten die Berechtigten möglicherweise wählen können, ob sie ihre Rente weiterhin auf Basis der Tabellenentgelte berechnet haben wollen oder auf Basis der tatsächlich versicherten DDR-Verdienste umgerechnet bekommen?
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Da wäre eine Kluft entstanden.
Nach eingehender Prüfung und unter Berücksichtigung von Rechtsgutachten – ich habe gerade schon Bezug genommen auf Rechtmäßigkeit – zur Verfassungsgemäßheit der vorgeschlagenen Neuregelung ist das Ministerium – da nicken wir; das verstehen wir; das vollziehen wir nach – zu dem Schluss gekommen, dass die vorgeschlagene Neuregelung verfassungswidrig wäre und Gerechtigkeitslücken – ich habe das am Anfang gesagt – tatsächlich nur an einer anderen Stelle entstünden, für andere Personengruppen. In seiner Stellungnahme gegenüber dem Petitionsausschuss des Bundestages hat dann die Antwort des Ministeriums gelautet, dass eine solche Regelung nicht befürwortet werden kann – verständlich, da rechtsstaatlich begründet. Die Ansicht der Bundesregierung bezüglich dieser Neuregelung und ihre Antwort haben sich seitdem auch nicht geändert.
Deshalb möchte ich meine Redezeit am Schluss nutzen, die letzten Sätze der Antwort auf die Große Anfrage bzw. der „großen Beantwortung“, für die ich der Bundesregierung dankbar bin, mit Erlaubnis der Präsidentin zu zitieren:
Eine Diskriminierung von DDR-Flüchtlingen sowie Ausreiseantragstellerinnen und Ausreiseantragstellern liegt nicht vor. Ihre DDR-Versicherungszeiten werden grundsätzlich in gleicher Weise berücksichtigt wie vergleichbare DDR-Versicherungszeiten anderer Personen. Die politisch zu beantwortende Frage, ob jemand mit seinem Verhalten einen entscheidenden Anteil zur Herstellung der deutschen Einheit geliefert hat oder nicht, kann in Bezug auf die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine Rolle spielen. Für die Berechnung einer Rente kommt es grundsätzlich nur auf die Versicherungszeiten an, insbesondere auf die Höhe der versicherten Verdienste und die Dauer der Beitragszahlung.
Dieser Einordnung und Bewertung der Bundesregierung haben wir nichts hinzuzufügen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Frank Heinrich. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Bürger! Es geht hier heute um Übersiedler und Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR, die vor dem Mauerfall rentenrechtlich nach dem Fremdrentengesetz eingegliedert wurden. Ihre DDR-Rentenzeiten wurden nach fiktiven FRG-Tabellenentgelten bewertet, was faktisch zu einer Höherwertung führte. Dies wurde nach der Wende mit dem Renten-Überleitungsgesetz im Wesentlichen wieder rückgängig gemacht, und die Altübersiedler wurden faktisch wie alle anderen DDR-Bürger behandelt.
Die Fraktion der Linken stellt in ihrer Großen Anfrage nun viele Fragen zu dieser Thematik. Die Antworten der Bundesregierung waren vorhersehbar. Letztendlich wird auf diverse Gerichtsurteile verwiesen, die die Rechtsauffassung der Bundesregierung bestätigen. Dem steht aber gegenüber, dass der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Juli letzten Jahres konstatiert hat – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin –:
Letztlich das in die Bestandskraft der früher erteilten Feststellungsbescheide gesetzte Vertrauen höher zu werten als die mit der Rentenüberleitung bezweckte einheitliche Rentenbemessung der in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten, ist vor allem eine politische Wertung.
Um genau diese politische Wertung geht es doch. Einer Personengruppe wurden Zusagen gemacht; diesen Personen wurde damals per Bescheid eine Berechnung ihrer Altersrentenansprüche nach dem Fremdrentengesetz zugesichert. Diese Zusagen wurden mal eben mit einem neuen Gesetz aufgehoben. Eine verlässliche und seriöse Bundesregierung würde so etwas nicht machen; denn damit wird jegliches Vertrauen in die Regierenden verspielt – und natürlich auch in die Rentenversicherung.
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Für mich persönlich ist es unverständlich, warum die letzten Bundesregierungen dieser Ungerechtigkeit kein Ende bereitet haben. Alle bis dahin regierenden Parteien haben sich der Verantwortung entzogen, den Menschen, denen per Rentenbescheid Leistungen zugesichert wurden, diese auch zukommen zu lassen.
2016 haben sich Linke und Grüne schon einmal für die DDR-Flüchtlinge eingesetzt. Das ist irgendwie paradox; denn die Grünen waren selbst in Regierungsverantwortung und hätten den DDR-Flüchtlingen bereits 2004 helfen können – haben sie aber nicht. Aus der Opposition heraus alles fordern, aber in Regierungsverantwortung dement alles vergessen: Genau diese Art der Politik führte zu so viel Politikverdrossenheit.
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Noch paradoxer ist es, dass die Linken sich hier wiederholt als Retter der DDR-Flüchtlinge aufspielen,
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wobei ihre Vorgänger ja für das Leid der Menschen überhaupt erst verantwortlich sind.
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– Jetzt sind wir ja da. – Ihr damaliger Unrechtsstaat ließ den Menschen keine andere Wahl, als aus dem Land zu fliehen,
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und damit begann für viele der lange Kampf um Anerkennung ihrer Lebensleistung. Dieser Kampf dauert für manche bereits Jahre. Denken wir nur an die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, zu der auch die Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge gehört. Seit mehreren Legislaturperioden kämpfen sie für Gerechtigkeit für die DDR-Flüchtlinge.
Selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung hat es auch die jetzige Bundesregierung nicht geschafft, wenigstens eine Härtefallfondslösung für diese Bürger zu schaffen. Obwohl das noch voller Tatendrang in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde, sind die Regierenden ihrer eigenen Verpflichtung nicht nachgekommen. Die Bürger bekommen langsam den Eindruck, dass die Bundesregierungen seit Jahren auf Zeit spielen und die Hände in den Schoß legen. Das darf so nicht weitergehen, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank. Kommen Sie doch wenigstens ihrer eigenen beschlossenen Verpflichtung nach! Das ist doch wohl das Mindeste.
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Wie eine Lösung aussehen kann, haben wir als AfD-Fraktion im Oktober letzten Jahres mit einem Antrag hier im Plenum gezeigt. Damals forderten wir, für die bei der Rentenüberleitung Geschädigten und die ehemaligen DDR-Flüchtlinge eine Fondslösung zu schaffen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss, und im Sinne einer guten Lösung sollten wir bei diesem Thema nicht zu viel Zeit verlieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass diejenigen, die ihr Leben auf der Flucht riskiert haben, nicht nur für sich ein besseres Leben ermöglichten, sondern auch den Sturz des Unrechtsstaates DDR beeinflussten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Schielke-Ziesing.
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– Würden Sie bitte oben Platz nehmen? Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen oder den Raum zu verlassen. Hier redet das Parlament.
Nächste Rednerin: Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um was, um wen geht es eigentlich heute? Es geht um Menschen, die bis 1990 aus der DDR geflohen sind oder einen Ausreiseantrag gestellt haben und übergesiedelt sind. Für die BRD stellte sich die Frage: Wie gehen wir mit diesen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern rentenrechtlich um? Sie wurden nach Fremdrentenrecht behandelt. Das heißt, es gab und gibt Tabellen, in denen die Berufe stehen, übrigens nach Männern und Frauen getrennt. Dann wurde unterstellt: Du hast deine Erwerbsbiografie in Westdeutschland gemacht und Beiträge gezahlt. – Das war eine pragmatische und auch ziemlich großzügige Regelung für die Betroffenen. Dann kam zum Glück die Wiedervereinigung – damit hatte niemand gerechnet, auch nicht der Gesetzgeber –, und es stellte sich die Frage: Wie weiter?
Der Beschluss im RÜG und im Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz war, dass man die Betroffenen zukünftig nach SGB VI, nach allgemeinem Rentenrecht, behandeln sollte. Um den Vertrauensschutz herzustellen, sollten diejenigen, die schon sehr lange leben und lange in der DDR versichert waren, nämlich diejenigen, die vor 1937 geboren wurden, weiter nach Fremdrentenrecht behandelt werden. Das heißt, es gibt Menschen, für die diese Entscheidung große finanzielle Auswirkungen hat. Es geht insbesondere um diejenigen, die jünger als 83 sind, und um diejenigen, die lange in der DDR gearbeitet haben. Das heißt, das sind Menschen, die Ende 60 und großteilig in den 70ern sind.
Ich finde, dass die Lektüre der Großen Anfrage der Linken wirklich sehr instruktiv ist, weil Die Linke die Haltung der betroffenen Gruppen glasklar darstellt. Sie stellt dar, dass sie sich diskriminiert fühlen, weil sie in eine Lage zurückversetzt werden, aus der sie ja eigentlich geflohen sind, zum Teil unter großem Risiko, und dass sie sich auch bestraft fühlen, weil sie sozusagen einen Beitrag zur Wiedervereinigung geleistet haben, und dann kam die Wiedervereinigung, und sie haben weniger.
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Außerdem sei das alles gar nicht so beschlossen worden; diese Gesetzesänderung sei nicht so gemeint gewesen.
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Die Bundesregierung – wir reden ja auch über die Antwort der Bundesregierung – macht sehr deutlich, dass die Behauptung, das sei nie so beschlossen worden oder das sei nicht rechtlich,
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offenkundig nicht zutrifft und auch ein Rechtsbruch nicht zu erkennen ist.
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Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung, mit Erlaubnis der Präsidentin:
Hätte der Gesetzgeber des 12. Deutschen Bundestages gewollt, dass in der DDR zurückgelegte rentenrechtliche Zeiten von DDR-Übersiedlerinnen und DDR-Übersiedlern, die ab dem 1. Januar 1937 geboren wurden, nach dem FRG zu bewerten sind, hätte er eine entsprechende Regelung getroffen. Dies hat er nicht getan. Er hat die bisherigen Regelungen
– das kann man wirklich nachlesen –
des FRG für DDR-Zeiten ohne Ausnahme gestrichen und lediglich für vor 1937 Geborene mit der Regelung des § 259a SGB VI bestimmt, dass statt der in der DDR versicherten Verdienste die Tabellenwerte des FRG Anwendung finden sollen.
Aus meiner Sicht haben wir es also mit einer legitimen Gesetzesänderung vom Anfang der 1990er-Jahre zu tun. Das ist eine Gesetzesänderung, die die Betroffenen schreiend ungerecht finden. Ich fände es gut, wenn man das mal als Grundlage der gesamten Debatte anerkennen würde.
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Eine legitime Gesetzesänderung? Betroffene finden das richtig doof. Man könnte jetzt also einfach sagen: Wir geben den Betroffenen recht; wir machen das alles rückgängig. – Oder man könnte sagen: So ist die Gesetzeslage; Pech gehabt. – Meine Partei, die SPD, macht es sich selten leicht.
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Bei dem Thema haben wir es uns auch nicht leicht gemacht. Vor allem unser ehemaliger, mittlerweile verstorbener Fraktionskollege Ottmar Schreiner und auch unser – was mich wirklich sehr, sehr traurig macht – vor wenigen Tagen ebenfalls verstorbener und ehemaliger langjähriger rentenpolitischer Sprecher Toni Schaaf haben wirklich intensiv um eine Lösung gerungen.
Der Sachverhalt ist wirklich komplex. Warum? Zum einen ist das Fremdrentenrecht seitdem geändert worden; es wurde verschlechtert.
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Das heißt, wenn wir das jetzt ändern würden, dann wären die Betroffenen auch nicht zufrieden. Eine Auslegung nach den alten Vergleichstabellen würde wiederum andere Personengruppen, nämlich die Spätaussiedler, ziemlich auf die Palme bringen. Das wäre dann eine Debatte um Deutsche erster und zweiter Klasse. Die brauche ich nicht.
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Außerdem gibt es Menschen, die mit den Regelungen im SGB VI besser fahren als mit denen im Fremdrentenrecht. Ich hatte die Männer- und Frauentabellen erwähnt: Frauen haben in der DDR besser verdient. In der Landwirtschaft wurde im Osten viel besser verdient. – Das heißt, es gibt Gruppen, für die ein Zurück – egal welche Fremdrenten – eine Schlechterstellung wäre.
Deswegen haben wir lange eine Günstigerprüfung diskutiert. Ich habe darauf aber auch krasse emotionale Reaktionen bekommen – von Leuten, die bewusst nicht geflohen sind, die gesagt haben: Ich habe richtig Dresche gekriegt in diesem System. Ich habe Nachteile gehabt. Ich habe Berufsverbot bekommen. Wir haben skandiert: „Wir bleiben hier.“ Und diejenigen, die gegangen sind, sollen eine Günstigerprüfung bekommen? – Das waren emotionale Reaktionen, die ich dazu bekommen habe.
Eine einfache Lösung, ein einfaches Zurück oder eine Günstigerprüfung sehe ich nicht.
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Ich sehe überhaupt keine realistische Lösung auf dem Tisch, sondern ich sehe ein gültiges Rentenrecht.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Birkwald?
Eigentlich nicht.
Eigentlich? Also nicht.
Ich kann aber auch die Gefühle der Betroffenen nachvollziehen; ich hoffe, das ist auch klar geworden. Ich würde mir auch ein Gespräch wünschen. Aber ehrlich: Ich finde keinen Gesprächsfaden zu der betroffenen Gruppe. Ich finde nur ein „Das stimmt alles nicht! Das ist nicht beschlossen worden! Das ist meine Maximalforderung!“.
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So werden wir definitiv nicht zu einer Lösung kommen.
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Deswegen der Appell: Nur ein Abrücken von den Maximalforderungen und nur ein Akzeptieren der Gesetzeslage können hier einen Gesprächsfaden überhaupt ermöglichen. Da sind die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nicht diejenigen, –
Frau Kollegin.
– die hier den ersten Schritt machen müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe. – Jetzt ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion Pascal Kober.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen wir uns zwei Rentner vor, die in der DDR der gleichen Arbeit nachgegangen sind, die beide SED-kritisch eingestellt waren und denen deshalb vom Regime vielleicht sogar auch beruflich Steine in den Weg gelegt worden sind. Die eine Person schafft es noch zu DDR-Zeiten in die Freiheit in den Westen, kann vielleicht sogar noch mal eine neue Existenz aufbauen, die andere nicht; sie bleibt bis 1990 in der DDR eingesperrt. Wie sollen die beiden rentenrechtlich behandelt werden?
Demjenigen, der in den Westen geflohen war, hatte man zunächst in Aussicht gestellt, nach dem sogenannten Fremdrentengesetz behandelt zu werden. Ihm wurde damals gesagt: Weil die Daten aus dem DDR-Rentensystem nicht zugänglich sind, werden wir sozusagen fiktiv Rentenpunkte gutschreiben. – Aber dabei blieb es am Ende nicht. Aus dem Verständnis, Gleiches nicht vollkommen ungleich behandeln zu wollen, ist es nach der Wende zu der jetzt bestehenden rentenrechtlichen Regelung gekommen: Beide wurden und werden gleich behandelt.
Das wird von den Betroffenen als Vertrauensbruch empfunden. Es ist klar, dass dies bei den Betroffenen zu Unverständnis führen muss – wohlgemerkt bei Menschen, die eine Flucht- und Verfolgungsgeschichte hinter sich haben.
Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung nach der Einigkeit, die man noch in der vorletzten Wahlperiode über Parteigrenzen hinweg in der Bewertung gefunden hatte, weiterhin nichts umsetzt und nicht einmal einen Lösungsversuch unternommen hat. Wenn wir gemeinsam zu dem Einvernehmen kommen, dass wir keine universell gerechte Lösung finden können – Frau Kolbe hat das in ihrer Rede gerade anschaulich an Beispielen gezeigt –, weil eine jede solche Lösung – wie die Günstigerprüfung, von der Frau Kolbe gesprochen hat – wieder zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde, kann der Schluss trotzdem freilich nicht sein, dass wir gar keine Lösung suchen.
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Vielmehr sollten wir versuchen, denjenigen, die durch bestehende Ungerechtigkeiten besonders hart getroffen sind, eine Härtefallregelung zukommen zu lassen, die dem Einzelfall – so gut es eben geht und so gut es möglich ist – gerecht wird.
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Da ist unsere Meinung, und dafür werben wir, gerade auch bei den Koalitionsfraktionen. Geben Sie sich einen Ruck. Wir waren in der vorletzten Legislaturperiode nach meiner Erinnerung schon einmal weiter. Jetzt wäre noch Zeit. Lassen Sie es uns angehen, gemeinsam hier eine Lösung zu finden!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächster Redner: für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die letzten Redebeiträge haben tatsächlich deutlich gemacht, dass man sehr differenziert auf dieses Problem gucken muss, und zwar auch bei vollstem Verständnis für die emotionale Erregung, die die Betroffenen haben, für die DDR-Altübersiedlerinnen und -Altübersiedler, wie wir es hier auf der Tribüne ja auch – unstatthafterweise allerdings, muss man sagen – erleben konnten.
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Mit Ihnen, den Linken, haben wir in den letzten Jahren ja auch immer wieder zusammengearbeitet, um das Problem anzugehen: im Petitionsausschuss und vor wenigen Jahren auch im Rahmen eines gemeinsamen Antrags. Allerdings darf man gerade angesichts dessen, was sich heute draußen vor den Türen des Bundestages abgespielt hat, nicht leichtfertig und inflationär mit dem Begriff des Rechtsbruchs umgehen und möglicherweise ungewollt den Eindruck vermitteln, es sei ein Akt von Willkür da gewesen.
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Das finde ich gerade in dieser Zeit, wo Rechtsstaatlichkeit auch infrage gestellt wird, schwierig.
In Ihrer Großen Anfrage – darum haben wir die auch nicht mitgezeichnet; das hätten wir sonst vielleicht getan – suggerieren Sie in gewisser Weise, dass die Deutsche Rentenversicherung ohne gültige Rechtsgrundlage handelt.
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Das ist aber nachweislich falsch. Das Bundessozialgericht hat entschieden, das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine entsprechende Beschwerde ebenfalls verworfen. Das heißt nicht – das will ich ganz klar sagen –, dass wir es nicht mit einem politischen und moralischen Problem zu tun haben. Aber auf der Ebene, finde ich, sollten wir das debattieren und tatsächlich auch behandeln.
Die Enttäuschung der Betroffenen ist durchaus nachvollziehbar.
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Sie haben auf die Bestandskraft ihrer Feststellungsbescheide vertraut, laut denen die Erwerbsbiografien mit dem Fremdrentenrecht bewertet werden sollten. Aber wir haben ja auch in der Rede von Daniela Kolbe gehört, dass es eine sehr differenzierte Problem- und Gemengelage gab. Ich gebe ganz offen zu, dass mir das in allen Facetten – wie bei den DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern, die gesagt hatten: wir bleiben hier – vor einigen Jahren, als wir 2016 diesen Antrag gemacht hatten, nicht ganz klar war.
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Ich bin dafür, dass wir trotzdem an dieser Sache weiterarbeiten, dass wir vor allen Dingen erst mal rausfinden sollten – und zwar schnell; da könnte die Bundesregierung handeln –: Was ist das Ausmaß des Problems? Wie viele Betroffene gibt es? Wo sind wirklich identifizierbare soziale Härtefälle, wo man etwas machen muss? – Wir haben ja auch bei anderen vom Renten-Überleitungsgesetz Betroffenen – ich erinnere an die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Braunkohleveredelung in der früheren DDR, die dringend Unterstützung brauchen – das Instrument des Härtefallfonds. Ich hoffe, dass wir dort möglichst bald und möglichst schnell zu Ergebnissen kommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Markus Kurth.
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– Ja, ja, ja.
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– Nicht nur unzivilisiert.
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Letzte Rednerin in der Debatte: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir als Sozialpolitiker haben sehr oft die Aufgabe, die Entscheidungen der Mütter und Väter der Wiedervereinigung zu debattieren und neu zu bewerten. Ich habe großen Respekt vor dieser Leistung, die damals erbracht wurde, nämlich zwei so unterschiedliche Sozialsysteme, zwei so unterschiedliche Staaten zusammenzuführen und auf eine gemeinsame Grundlage zu bringen. Ich habe bis heute auch immer wieder großen Respekt, wenn ich sehe, wie viele Gedanken man sich tatsächlich gemacht hat, wie viel Abwägung letzten Endes stattgefunden hat. Das heißt nicht, dass man es immer jedem recht macht, aber dass man nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat.
Und ich sage an dieser Stelle auch ganz deutlich: Ich kann gerade in sozialpolitischen Diskussionen, in aufgeheizten Debatten, immer beide Seiten verstehen. Man kann in dieser Frage durchaus auch den Altübersiedlern Verständnis entgegenbringen, die unter schwierigsten Bedingungen die DDR verlassen haben, geflohen sind, ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, die mit der DDR, ihrer einstigen Heimat, abgeschlossen haben und auch ein Vertrauen in das Fremdrentengesetz entwickelten und darauf vertrauten, nach diesem Gesetz verrentet zu werden. Ich kann aber auch die Kolleginnen und Kollegen der Wendezeit verstehen, die Entscheider der damaligen Zeit, die eine völlige Neubewertung der damaligen Lage vornehmen mussten und die vor allen Dingen zwei so unterschiedliche Systeme zusammenführen mussten.
Man muss an dieser Stelle aber eines sagen: Das Fremdrentengesetz hatte natürlich seine Berechtigung, auch für die Geflohenen zu damaliger Zeit, aber es hat natürlich mit dem Mauerfall, mit der Wiedervereinigung, mit der Herstellung eines einheitlichen Rentenrechts ein Stück weit seine Berechtigung verloren.
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Die Bundesrepublik hatte natürlich mit dem Mauerfall und mit der Wiedervereinigung einen Zugriff auf die gezahlten Beiträge, auf das ehemalige System der DDR, und das Fremdrentengesetz beruht ja genau auf dem Gedanken, dass man diesen Zugriff nicht hat. Insofern war es nach dem Mauerfall und nach der Wiedervereinigung eine komplett andere Situation, die auch eine neue Bewertung der Lage erforderlich machte.
Ich möchte, weil ja bis heute gefordert wird, nach Fremdrentengesetz verrentet zu werden, an dieser Stelle auch eines sagen: Wenn man dies tun würde und diese Menschen, die in der ehemaligen DDR gearbeitet haben und dort Arbeitsleistungen erbracht haben, rentenrechtlich anders bewerten würde als alle anderen, die in der DDR zur selben Zeit gearbeitet haben, dann würden wir hier in der Tat sozialpolitische Ungerechtigkeiten schaffen. Unser höchstes Ziel in der Sozialpolitik ist, immer für Ausgleich zu sorgen und immer gerechte Lösungen, auch wenn sie am Ende nicht jedem gefallen mögen, zu schaffen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Herrn Birkwald?
Im Moment nicht. Herzlichen Dank.
Insofern geht es in der heutigen Debatte auch darum, einmal mehr festzuhalten, dass die deutsche Einheit eben auch eine Einheit im Recht bedeutet und die Entscheidungen der damaligen Zeit auch heute noch gut und richtig sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Maske auf, Frau Kollegin! – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Matthias W. Birkwald.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Ja, ich hatte das Wort. Aber ich habe den Kolleginnen ordentlich zugehört, und deswegen wollte ich beide, Frau Kolbe und Frau Schimke, etwas fragen, nämlich ob sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass beispielsweise ein Diplomingenieur für Informationstechnik und Elektrotechnik, der im Jahr 1942 geboren wurde, nach geltendem, aber nicht angewandtem Fremdrentengesetz 29,78 Entgeltpunkte hätte, jedoch nach dem Renten-Überleitungsgesetz, das aktuell auf die DDR-Altübersiedler angewandt wird, nur 13,98 Entgeltpunkte kriegt. Wenn er nicht aus der DDR geflohen wäre, sondern in der DDR geblieben wäre, dann hätte er 28,6 Entgeltpunkte. Anders ausgedrückt: Diesem Mann werden gut 15,8 Entgeltpunkte genommen, und das sind 525 Euro Rente. „Finden Sie das vertretbar und gerecht?“ ist meine Frage an Sie.
Hier wurde mehrfach gesagt: Wir sind bereit, Gespräche zu führen. – Dann fordere ich Sie höflich, aber nachdrücklich auf – die Bundesregierung, die Union, die SPD und alle, die Gutes mittun wollen –: Setzen Sie sich mit den Betroffenen an einen Tisch,
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finden Sie eine gemeinsame Lösung, und kommen Sie den Betroffenen bitte nicht mit Härtefallregelungen oder Ähnlichem! Denn viele von ihnen hatten sich schnell und gut integriert, fleißig gearbeitet, eine neue Existenz aufgebaut und eine ordentliche Rente erarbeitet.
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Aber die Entwertung ihrer ostdeutschen Erwerbsbiografie, die demütigt sie bis heute.
Deswegen: Reden Sie miteinander, und lassen Sie uns alle gemeinsam nach einer Lösung suchen! Wenn Sie das machen, sage ich: Herzlichen Dank!
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Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Frau Schimke.
Herr Kollege Birkwald, ich nehme natürlich zur Kenntnis, dass wir mit der Neubewertung der rechtlichen Lage auch eine Veränderung der persönlichen Rentensituation bewirkt haben. Das ist absolut richtig. Und das, was Sie gerade eben aufgezeigt haben, nämlich dass der studierte Ingenieur nach Renten-Überleitungsgesetz rentenrechtlich anders gestellt ist, ist richtig. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber: Worin, bitte schön, bestünde die Gerechtigkeit, wenn wir diese Personengruppe, die in der DDR zu dortigen Löhnen und Gehältern gearbeitet hat, auch heute noch rentenrechtlich anders bewerten würden als jene Menschen, die zur selben Zeit in diesem Land gearbeitet haben?
Noch mal: Es geht uns Sozialpolitikern darum, eine möglichst große Einheit in sozialpolitischen Fragen herzustellen, Gerechtigkeit herzustellen. Und das heißt nicht, Gesetze für Menschen so zu machen, dass sich alle damit wohlfühlen, sondern es geht vor allen Dingen darum, einen Ausgleich zu schaffen und letztendlich auch in der rechtlichen Argumentation sauber zu bleiben. Insofern finde ich die Entscheidungen, die nach der Wiedervereinigung mit dem Renten-Überleitungsgesetz getroffen wurden, auch aus heutiger Sicht richtig, auch wenn sie den einen oder anderen schlechtergestellt haben.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag muss sich gegen jede Form des Wahns, der auf Rasse, der auf Abgrenzung gerichtet ist, wenden, weil es gleichzeitig auch eine Ideologie ist, die gegen die Menschenwürde und gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist. In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir hier im Deutschen Bundestag vieles unternommen; wir haben Gesetze verabschiedet, Haushaltsmittel bereitgestellt, um gegen den Rechtsextremismus hier in Deutschland zu kämpfen.
Aber Rechtsextremismus gibt es nicht nur hier in Deutschland, auf der Basis einer kruden Ideologie der Nationalsozialisten, sondern es gibt auch importierten Rechtsextremismus. Genau darauf richtet sich der Fokus des Antrags, den wir heute hier gemeinsam stellen. Es geht gegen die Ülkücü-Bewegung, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegründet wurde und auf der Ideologie beruht, vom Balkan bis nach China ein Großreich der Turkvölker zu errichten, ethnisch homogen und unter der Führung der Türken. In diesem rassistischen, nationalistischen Weltbild spielt der Antisemitismus eine zentrale Rolle. Völker wie die Kurden oder die Armenier werden herabgewürdigt und zu Gegnern des Türkentums erklärt.
Wenn man jetzt die Frage stellt: „Was hat das mit Deutschland zu tun, was hat das mit Europa zu tun?“, dann muss man mal einen Blick in den Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz werfen. Dann sieht man, dass die Ülkücü-Bewegung – bei uns in Deutschland besser bekannt als: Graue Wölfe – mit etwa 11 000 Mitgliedern wahrscheinlich die größte rechtsextremistische Bewegung in Deutschland überhaupt ist. Wir müssen uns dagegen wenden und wollen das auch tun, weil sie in Deutschland und in Europa militant und gewalttätig auftritt.
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Deswegen stellen wir hier einen Antrag, der an die Bundesregierung gerichtet ist, mit der Bitte, zu prüfen, inwieweit Organisationen, die der Ülkücü-Bewegung nahestehen, als Vereine verboten werden können. Wir tun es damit letztlich auch unseren französischen Partnern gleich, die am 4. November mit präsidialem Dekret die Grauen Wölfe in Frankreich verboten haben.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Kollegen der FDP- und auch der Grünenfraktion bedanken, dass wir diesen Antrag hier gemeinsam stellen konnten und damit ein klares politisches Signal hier vom Bundestag ausgeht.
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Mit diesem Signal ist die Botschaft verbunden: Erstens. Wir dulden es ist nicht, dass die Gegner des türkischen Staatspräsidenten Erdogan hier in Deutschland eingeschüchtert oder gar mundtot gemacht werden. Zweitens. Wir dulden es nicht, dass die regionalen Konflikte, in denen die Türkei verhaftet ist, hier bei uns in Deutschland ausgetragen werden.
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Drittens. Wir dulden es auch nicht, dass Rechtsextremismus in unser Land importiert wird.
Es muss für jeden Menschen, der in Deutschland lebt, klar sein: Hier gilt das Grundgesetz. Wer nach Deutschland kommt, betritt den Boden des Grundgesetzes. Und wer die Würde des einzelnen Menschen herabwürdigt, der stellt unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung insgesamt infrage. Das dulden wir nicht.
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Die Botschaft, die von diesem Hause ausgehen muss, ist auch klar: Rechtsextremismus ist nicht integrierbar. – Damit ist im Grunde genommen das Zentrale gesagt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Thorsten Frei. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Beatrix von Storch.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gang der Debatte um das Verbot der Grauen Wölfe folgt der Debatte um das Verbot der Hisbollah. Beide Organisationen werden von islamistischen Regimen gesteuert, von Erdogan und den Mullahs. Beide Organisationen betreiben die Islamisierung und die Unterwanderung Deutschlands mit Gewalt oder politischer Einflussnahme. Und: In beiden Fällen haben Union und SPD seit Jahrzehnten weggeschaut und sich und damit unser Land vor den islamistischen Diktatoren erniedrigt.
Und jetzt werden Sie nur und ausschließlich tätig, weil die AfD
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das Verbot für morgen auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Da war Ihr Antrag noch nicht mal geschrieben, und er war noch nicht mal für die Tagesordnung avisiert. Deswegen debattieren wir das heute.
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Immerhin: Die AfD wirkt. Wie gut, dass wir jetzt da sind!
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Dabei liegt der Fall schon seit Jahrzehnten so klar. Die Grauen Wölfe sind türkische Nazis; es sind türkische Faschisten.
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Sie sind mit 20 000 Unterstützern die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland.
Jetzt vergleichen wir mal den Hass der etablierten Parteien auf die demokratische AfD mit Ihrer Anbiederung an die türkischen Islamfaschisten. Fazit: Wenn du in Deutschland konservativ bist, dann schimpfen sie dich einen Faschisten. Wenn du ein türkischer Faschist bist, dann geben sie dir den deutschen Pass, dann wählen sie dich in den Integrationsrat, dann führen sie mit dir einen kulturellen Dialog. – Das war der Stand bis heute, über Jahrzehnte unter allen Ihren Regierungen.
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Der Slogan der Grauen Wölfe lautet: Werde Deutscher, bleibe Türke. – Das ist die Strategie der türkischen Islamfaschisten. Die wollen den deutschen Pass bekommen und den türkischen behalten; die wollen das deutsche Wahlrecht und nicht die deutschen Werte – nicht um sich in Deutschland zu integrieren, sondern um Deutschland zu erobern. Ein Grauer Wolf wird durch den deutschen Pass nicht zum Deutschen, der unsere Werte teilt, und ein Islamfaschist wird durch das Wahlrecht nicht zum Demokraten.
Die Machtübernahme in ganzen Stadtteilen begann früh. Seit 1976 spricht „Der Spiegel“ von: Türkenterror, Türkenschlachten, Türkenkriegen auf deutschem Boden. 1984 verübten sie den Anschlag auf Seyran Ates und erschossen ihre Klientin. Damals gab es 2 000 Graue Wölfe. Jetzt ist die Zahl verzehnfacht.
Die Politiker von CDU, CSU und SPD verhalten sich – wieder ein Zitat vom „Spiegel“, von 1998 – „wie Schafe“. 40 Jahre lang taten Sie, die Schafe, nichts; im Gegenteil. Zwei Beispiele: 2002 feierte der bayerische Innenminister mit den Grauen Wölfen zusammen den Ramadan. Und die Bundeskanzlerin weigert sich bekanntlich bis heute, im Zusammenhang mit dem 1,5-Millionen-fachen Völkermord an den armenischen Christen das Wort „Völkermord“ in den Mund zu nehmen – ein Kotau vor dem Dienstherrn der Wölfe.
Ihr Antrag, der von Union und SPD, jetzt auch noch mitgetragen von FDP und Grünen, kommt 40 Jahre zu spät. Und: Sie verschweigen den Elefanten im Raum: das Erpressungspotenzial von Erdogan und die islamische Unterwanderung.
Für uns ist klar: Wir dulden keine fünfte Kolonne von Erdogan auf deutschem Boden. Die Grauen Wölfe gehören verboten, und ihre Anhänger gehören nicht nach Deutschland. Wenn die AfD regiert, werden wir solche Probleme im ersten Jahr lösen und nicht 40 Jahre lang verschleppen.
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Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Uli Grötsch.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Storch, Ihr letzter Satz war eine üble Drohung; so hat es sich zumindest angehört. Trotzdem wollen wir beim Thema bleiben.
Wir stimmen hier heute über einen gemeinsamen Antrag zum Einfluss türkischstämmiger Rechtsextremisten in Deutschland ab, besser bekannt – wir haben es eben schon gehört – als die Grauen Wölfe. Ich freue mich auch darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der FDP, dass Sie unseren Antrag mit unterstützen. Ich sage an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von den Linken: Wäre es nach uns gegangen, würden Sie auch mit auf diesem Antrag stehen.
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Denn uns Demokraten eint alle der Kampf gegen Rechtsextremismus,
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egal aus welcher Ecke unserer Welt er kommt.
Deshalb wollen wir, dass der Bundesinnenminister prüft, ob die Ülkücü-Bewegung derart gegen das Prinzip der Völkerverständigung verstößt, derart unser friedliches Zusammenleben stört, derart antidemokratisch ist, dass ihr Einhalt geboten werden sollte. Darum geht es in diesem Antrag, um nicht mehr und nicht weniger.
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Allen Rechtsextremisten, egal woher sie kommen, ist eine völkische, nationalistische und rassistische Ideologie gemeinsam. Darin unterscheiden sich die türkischstämmigen Rechtsextremisten nicht von den deutschstämmigen Rechtsextremisten. Sie haben mit deutschen Rechtsextremisten außerdem gemeinsam, dass sie gern den Scheinwerfer von sich wegdrehen und Sündenböcke finden und bekämpfen. Das dürfte rechts außen, auch hier, bekannt sein.
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Eine weitere Gemeinsamkeit ist die rege Agitation in sozialen Netzwerken. Auch türkische Rechtsextremisten sind im Netz aktiv und üben eine gewisse Anziehungskraft speziell auf junge türkischstämmige Menschen aus. Sie haben ein klares Freund-Feind-Schema und bieten vermeintlich einfache Antworten in einer zunehmend komplizierten Welt. Auch das kommt vielen von uns bekannt vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das machen deutsche Rechtsextremisten nämlich genauso: Sie mobilisieren, organisieren und verbreiten Fake News bzw. verfassungsfeindliche Inhalte. – Ich bin sehr erleichtert, dass auch Twitter inzwischen seiner Verantwortung gerecht wird und Fake News als solche markiert. Wir werden mit unserem Gesetz zur Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz – das sei an dieser Stelle gesagt – strafrechtlich gegen diese Hetzer vorgehen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Kollege Dehm?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ich stimme Ihrer Aufzählung von dem, was Faschisten auszeichnet, ausdrücklich zu. Ich will Sie nur fragen: Können Sie mir auch zustimmen, dass zu der Aufzählung „rassistisch, nationalistisch, völkisch“ auch „extrem antikommunistisch“ und „Feind der Gewerkschaften“ dazugehören? Wir waren kurz nach dem 1. Mai in der Türkei. Es waren die Grauen Wölfe und ihre Helfershelfer, die die Gewerkschaftsbüros am Tag der Arbeit völlig zerstört haben. Wir haben überall Blutflecken gesehen. Ich glaube, dass die tödliche Feindschaft des Faschismus gegenüber der organisierten Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung zu der Aufzählung dazugehört. Können Sie mir da zustimmen?
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Vielen Dank, Herr Dehm. – Herr Grötsch.
Ich würde Ihnen, Herr Kollege Dehm, dahin gehend zustimmen, dass alles, was sich gegen die organisierte Arbeiterbewegung, egal wo auf der Welt, richtet, zutiefst verabscheuungswürdig ist. Dem stimme ich zu. Heute geht es aber nicht um extremen Antikommunismus, sondern um eine mögliche stärkere Beobachtung oder ein Verbot der Grauen Wölfe. Ich würde gern beim Thema bleiben und noch vertieft darauf eingehen.
Es ist nämlich trotz allem, was ich hier eben an verbindenden Elementen zwischen deutschen Rechten und türkischen Rechten aufgezählt habe, falsch, die Grauen Wölfe und deutsche Rechtsextremisten wie das NSU-Trio auf eine Stufe zu stellen; denn von den deutschen Rechtsextremisten geht eine konkrete Gefahr für Leib und Leben von Jüdinnen und Juden, von Migrantinnen und Migranten, von Politikerinnen und Politikern, de facto für alle Menschen in Deutschland aus. Deutsche Rechtsextremisten sind laut Verfassungsschutzbericht massivst gewalttätig und – ich habe das hier schon oft gesagt, und ich werde nicht müde werden, es immer wieder zu sagen – bis auf die Zähne bewaffnet. Auf das Todeskonto von deutschen Rechtsterroristen gehen mehr als 200 Morde seit der Wiedervereinigung. Nein, die Grauen Wölfe auf eine Stufe mit deutschen Rechtsextremisten zu stellen, bedeutet die Verharmlosung des rechten Terrors in Deutschland. Und das lassen wir nicht mit uns machen, und das ist nicht unsere Sicht der Dinge.
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Übrigens – auch das haben wir heute hier gesehen –: Auch wenn sich deutsche Rechtsextremisten unter besorgte Bürger auf den Querdenker-Demos mischen, auch wenn sie das Bevölkerungsschutzgesetz mit Hitlers Ermächtigungsgesetz vergleichen und damit relativieren, auch wenn sie scheinbar unverfängliche Reichsflaggen anstelle von Hakenkreuzfahnen hissen, auch wenn sie in Parlamenten sitzen, als wären sie einer demokratischen Partei angehörig: Sie bleiben Wölfe im Schafspelz, und die SPD bekämpft diese Wölfe wie doch wir alle, die wir an Freiheit und Demokratie glauben, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz egal, ob es braune oder graue Wölfe sind.
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Von den türkischen Rechtsextremisten wissen wir, dass sie in Deutschland nicht gewalttätig auffallen, im Gegenteil: Sie verhalten sich bewusst verfassungskonform
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und suchen den Kontakt zu Politikerinnen und Politikern. Aber ihre Ideologie bleibt trotzdem menschenverachtend. Sie verstößt trotzdem gegen das Demokratieprinzip und das Prinzip der Völkerverständigung. Deshalb werden sie auch schon zu Recht vom Bundesamt für Verfassungsschutz genau überprüft.
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Gerade wir Deutschen mit unserem Geschichtsverständnis und unserer Staatsräson dürfen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus keinen Raum bieten, noch nicht einmal einen Millimeter.
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Dieser Verantwortung ist sich die SPD-Bundestagsfraktion mehr und länger als alle anderen Parteien in Deutschland bewusst. Wir wollen daher die Grauen Wölfe auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand stellen.
Aber was im Antrag noch wichtiger ist: Wir wollen eine Informationsreihe, eine Aufklärungskampagne starten, um die Ülkücü-Ideologie offenzulegen. Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die türkischstämmigen Jugendlichen als Teil unseres Wertekanons in Deutschland und Europa sehen, als europäische Bürgerinnen und Bürger, und nicht einem ethnisch homogenen großtürkischen Reich nachträumen. Ja wo sind wir denn, liebe Kolleginnen und Kollegen?
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Deshalb appelliere ich an alle jungen türkeistämmigen Menschen, die dieser Debatte hier vielleicht folgen: Graue Wölfe sind nicht cool. Es ist nichts Patriotisches an ihnen. Sie sind nationalistische Spalter, die einen Keil zwischen uns treiben wollen. Ihr, die ihr diese Debatte vielleicht verfolgt, die zweite, dritte oder schon vierte Generation der damaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, ihr seid Teil dieser Gesellschaft, und wir sind stolz auf eure Leistungen und auf den Beitrag eurer Eltern und Großeltern zum deutschen Wohlstand.
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Und zum Ende noch: Mindestens jedes vierte Start-up in Deutschland wird von Migrantinnen und Migranten gegründet, Tendenz deutlich steigend. Wir sind stolz, dass diese Nachkommen einen deutschen Coronaimpfstoff auf den Markt bringen und die Mund-Nase-Bedeckungen bald obsolet werden lassen. Euer Platz ist genau hier, in der Mitte der Gesellschaft, und nicht bei der Ülkücü-Bewegung.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Grötsch. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Benjamin Strasser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade unsere eigene Geschichte lehrt uns: Wer die Überlegenheit einzelner Völker propagiert und die Vorherrschaft einzelner Nationen anstrebt, führt die Menschen auf schnurgeradem Weg ins Verderben. Ich habe nach manchem Redebeitrag hier meine Zweifel, dass wirklich alle Fraktionen dieses Hauses diese Lehre ernsthaft gezogen haben. Umso wichtiger ist der gemeinsam von Union, SPD, Grünen und uns Freien Demokraten vorgelegte Antrag; denn er sendet ein wichtiges Signal gegen die Organisation der Grauen Wölfe und deren türkischen Rassismus, Antisemitismus und Antiliberalismus. Diese Ideologie hat in Deutschland keinen Platz und muss die klaren Schranken eines wehrhaften Rechtsstaates aufgezeigt bekommen.
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Der Antrag ist aber auch ein starkes Zeichen der politischen Solidarität mit der französischen Regierung unter Präsident Emmanuel Macron, der vor zwei Wochen die Grauen Wölfe in Frankreich verboten hatte. Gemeinsam werden wir in Europa den Einfluss dieser Bewegung zurückdrängen und bekämpfen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber wir müssen auch die unterschiedlichen Lagen in Frankreich und in Deutschland in den Blick nehmen. Während in Frankreich die Grauen Wölfe besonders durch ihre gewalttätigen Angriffe mit Eisenstangen und Messern gegen Franzosen armenischer Herkunft auffallen, wählen die Grauen Wölfe in Deutschland offenkundig einen anderen Weg, der aber nicht minder gefährlich ist. Über legalistische Vereinigungen und Verbände wird ganz gezielt versucht, die Gesellschaft und die deutsche Politik im Sinne der menschenverachtenden Ideologie der Grauen Wölfe zu beeinflussen. Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Vergangenheit diese Verbände unterschätzt, und wir waren auch zu naiv im Umgang mit ihnen.
Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist nicht verhandelbar. Verbände, die mit der Ideologie der Grauen Wölfe sympathisieren oder sie sogar aktiv verbreiten, können kein Gesprächspartner für uns sein, weder bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund noch beim interreligiösen Dialog; und auch dieses Zeichen sollten wir stärker setzen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat jetzt ihre Hausaufgaben zu machen.
Unser Verfassungsschutz muss organisatorisch in die Lage versetzt werden, die rund 11 000 Anhänger der Grauen Wölfe in Deutschland genauestens in den Blick zu nehmen.
Die Bundesregierung muss die Präventionsarbeit stärken. Es braucht eine Antwort auf den Rassenwahn und die Überlegenheitspropaganda im Internet sowie ein Konzept, wie wir gerade die vielen jungen türkischstämmigen Menschen in Deutschland nicht in diese Ideologie hineingleiten lassen.
Und unser Bundesinnenminister muss nun prüfen, ob und wie sich ein Verbot der Grauen Wölfe gerichtsfest durchsetzen lässt.
Das ist keine einfache Aufgabe. Aber Sie haben uns als FDP-Fraktion hier an Ihrer Seite.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag in Deutschland, ein Tag, auf den viele Menschen in Deutschland lange gewartet haben. Endlich haben die Union, die SPD, die FDP und die Grünen sich durchgerungen,
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gegen das Netzwerk des türkischen Präsidenten Erdogan vorzugehen und einen Prüfauftrag für ein Verbot der Grauen Wölfe auszusprechen. Die Linke im Deutschen Bundestag, vormals PDS, fordert es schon seit Jahrzehnten,
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diese rechtsextreme Organisation zu verbieten.
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Der Hetze von Islamisten und türkischen Nationalisten gegen Andersdenkende, gegen Gewerkschafter, gegen Kommunisten, gegen Aleviten, gegen Armenier, gegen Kurden und gegen Juden muss endlich die Organisationsstruktur entzogen werden.
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Heute ist auch ein guter Tag, weil damit die 42-jährige Geschichte einer Schande in Deutschland beendet wird. Es war der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, der dem Faschistenführer Alparslan Türkes bei einem Treffen 1978 zusagte, den Aufbau der Organisation Graue Wölfe in Deutschland freundlich zu begleiten, meine Damen und Herren.
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Ja, man brauchte die Grauen Wölfe im Kampf gegen linke türkische Arbeitsmigranten, die vorne mit dabei waren, wenn es darum ging, Streiks in diesem Land zu organisieren. Und so konnten die Grauen Wölfe, die in der Türkei vom türkischen Geheimdienst in die NATO-Putsch-Organisation Gladio eingebaut wurden, 42 Jahre in Deutschland schalten und walten, wie sie wollten.
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Gerade wenn wir uns an die Anfänge der Grauen Wölfe in Deutschland und ihre Geschichte in Deutschland erinnern, wäre es an der Zeit gewesen, werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, Die Linke bei den Verhandlungen über einen gemeinsamen Antrag im Bundestag nicht auszuschließen.
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Eine Ausgrenzung von Demokraten im Kampf gegen rechts hat sich in Deutschland noch nie bezahlt gemacht. Daran sollte sich auch die Union erinnern.
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Es wäre besser, Sie würden Ihre Energie darauf verwenden, den zahlreichen Unterwanderungsversuchen der Grauen Wölfe in der Union stärker vorzubeugen.
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Ich sage nur: Duisburg, Kommunalwahlen Nordrhein-Westfalen.
Meine Hoffnung ist, dass mit dem heutigen Tag die Kooperation mit den Vereinigungen der Grauen Wölfe beendet wird, aber auch mit den Organisationen, die diesen nahestehen wie der reaktionäre Zentralrat der Muslime in Deutschland, wo die faschistische ATIB Unterschlupf gefunden hat. Ich finde nämlich, dass es nicht sein kann, dass man die ATIB richtigerweise verbietet, aber den Dachverband, dem die rechte islamistische Truppe angehört, als Partner hofiert.
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Meine Hoffnung ist auch, dass ein Handschlag der Bundeskanzlerin mit dem Führer der Grauen Wölfe in Europa, wie es auf dem NATO-Gipfel 2018 der Fall war, in Zukunft unterbleibt.
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Ich komme zum Schluss.
Bitte.
Der Aufstand der Zuständigen gegenüber den Grauen Wölfen ist überfällig und richtig. Gegenüber den faschistischen und islamistischen Organisationen des türkischen Präsidenten Erdogan darf es nur null Toleranz geben.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Grüne der Kollege Cem Özdemir.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Aus Anlass der heutigen Debatte habe ich einige Reaktionen aus der türkeistämmigen Community bei uns in der Bundesrepublik Deutschland bekommen, von Menschen, die uns ausdrücklich ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen wollen, dass dieses längst überfällige Verbot der Ülkücüler, also der hiesigen Ableger der Grauen Wölfe, heute endlich auf den Weg gebracht wird, namentlich der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V. und der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend eine klare Botschaft nach innen wie auch nach außen sendet.
Nach innen: Wir dulden keine Angriffe, wir dulden keine Einschüchterungsversuche gegenüber Gegnerinnen und Gegnern des türkischen Ultranationalismus hierzulande. Wer Alevitinnen, Aleviten, Kurdinnen und Kurden, liberal denkende Türkinnen und Türken mundtot machen möchte, wird die harte Hand des Rechtsstaats spüren und kann sich nicht auf Meinungsfreiheit berufen.
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Und nach außen: Es ist schlimm genug, wenn Erdogan in der Türkei seinen Fanatismus und die Intoleranz gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten zum Machterhalt fördert. Aber klar ist auch: Hier hat das keinen Platz und wird künftig nicht mehr geduldet.
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Machen wir uns nichts vor: Der Gründer der MHP, Alparslan Türkes, war Hitler-Sympathisant. Nur aufgrund der Unterstützung der MHP ist Erdogan in der Türkei noch Präsident, und er versucht, die türkeistämmigen Menschen bei uns in der Bundesrepublik Deutschland für seinen Machterhalt zu instrumentalisieren.
Wir bekennen uns zu Vielfalt, zu Religionsfreiheit in unserem Land. Ja, wir sind sogar stolz darauf. Aber ich sage auch: Den Grauen Wölfen geht es weder darum, die Sprache, noch die Religion, noch die Kultur zu pflegen, sondern sie wollen einem faschistoiden Panturkismus das Wort reden und die Köpfe und die Gehirne bereits der Kleinsten mit ihrem Hass auf Christen, auf Juden, auf Andersdenkende vergiften. Es muss ein Ende haben, dass türkischstämmige Jugendliche – unsere Jugendlichen, das sage ich ganz bewusst – auf den Seminaren dieser Organisationen einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen werden.
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Natürlich ist mir auch klar, dass es mit einem Verbot der Grauen Wölfe nicht getan ist. Deshalb muss es das Signal des heutigen Tages sein, dass die Grauen Wölfe dort, wo sie versuchen, einzudringen – ob bei der Bundeswehr, bei der Polizei, aber auch bei unseren Parteien –, keinen Platz haben.
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Zum Schluss, meine Damen und Herren – das muss ich natürlich jetzt noch sagen –: Die Grauen Wölfe und die AfD sind Brüder im Geiste.
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Aber da es bei den Grauen Wölfen um etwas Türkisches geht, das sie verbieten können, steht die AfD natürlich, wie wir es nicht anders erwartet haben, Gewehr bei Fuß. Glauben Sie bloß nicht, dass wir das nicht durchschauen.
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Nur weil die AfD jetzt plötzlich eine antidemokratische Gruppierung verbieten will, wird die AfD keinen Funken demokratischer. Da kann es kein Missverständnis geben.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben heute eine Premiere erlebt, ein Novum: Die AfD hat sich zum ersten Mal gegen Nazis in Deutschland ausgesprochen.
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Das ist doch sehr bemerkenswert. Ich hoffe, dass das in Ihren Reihen auch einmal Schule macht für die Zukunft, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Eines ist klar: Unsere freiheitliche Gesellschaft wird Tag für Tag aufs Neue auf die Probe gestellt und herausgefordert. Wir haben Extremisten von links und rechts, aber ebenso auch Islamisten und ausländische Extremisten. Alle diese Gruppierungen stellen unsere Gesellschafts- und Werteordnung infrage. Aber unsere Demokratie ist wachsam, und sie ist auch wehrhaft. Und Frau Storch, das will ich Ihnen sagen: Das beweisen auch die insgesamt 57 Vereinsverbote, die seit 1990 ausgesprochen wurden im Bereich ausländischer Extremismus, im Bereich Islamismus, aber auch im Bereich Rechts- und Linksextremismus. Unser Rechtsstaat ist wachsam und wehrhaft. Das beweisen wir auch heute hier im Parlament mit diesem gemeinsamen Antrag, meine Damen und Herren.
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Ich will sagen: Für mich ist das persönlich auch ein freudiger Tag; denn ich habe mich seit Jahren für die Prüfung eines solchen Verbotsverfahrens gegen die Vereine der Ülkücü-Bewegung ausgesprochen. Deshalb möchte ich auch meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass die Regierungsfraktionen diese parlamentarische Initiative ergriffen haben und dass wir das gemeinsam mit den Fraktionen von FDP und Grünen machen, in deren Reihen es ebenso engagierte Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich schon länger für ein konsequentes Vorgehen gegen die Ülkücü-Bewegung ausgesprochen haben. An dieser Stelle herzlichen Dank dafür!
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Eines ist doch völlig klar: Die Grauen Wölfe sind alles andere als Idealisten. Das sind rassistische, antisemitische, türkische Ultranationalisten, die eine Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellen. Mit einigen Verbänden, Vereinen und Sympathisanten umfasst diese Bewegung bis zu 18 000 Personen. Das ist die Zahl der Bundeszentrale für politische Bildung. Das ist damit die größte rechtsextremistische Bewegung, und sie ist auch etwa fünfmal so groß wie die NPD in Deutschland. Allein das unterstreicht, glaube ich, auch das Bedrohungspotenzial dieser Gruppierung.
Mit diesem Antrag machen wir heute eins ganz deutlich: Faschistische und rassistische Ideologien, die Angehörige anderer Ethnien und Religionen herabwürdigen, die sie bedrohen, dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Das gilt völlig unabhängig davon, ob sie deutschen oder ausländischen Ursprungs sind. Türkische Rechtsextremisten sind nicht besser als deutsche Rechtsextremisten. Deswegen müssen wir sie auch gleichbehandeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Denn ihr biologistischer Rassismus, Antisemitismus, Antiliberalismus und auch ihr Streben nach einer Führerautorität richten sich eben gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Dieses Gift des Nationalismus darf sich nicht ungehindert ausbreiten, ganz egal, wer es spritzt.
Deshalb ist heute ein guter Tag, weil wir mit diesem Antrag umfangreich und entschlossen gegen die Grauen Wölfe und ihre Aktivitäten in Deutschland vorgehen. Ich sage, es ist auch ein guter Tag für Kurden, für Armenier, für Aleviten und andere Gruppierungen, die diesen Anfeindungen und Bedrohungen seit vielen Jahren in Deutschland ausgesetzt sind. Auch das muss ein Ende haben in unserem Land.
Eins muss man auch sagen: Die Grauen Wölfe sind nicht nur nationalistisch. Es gibt insbesondere mit ATIB auch einen islamisch orientierten Flügel der Ülkücü-Bewegung. Die Strategie der türkischen Mutterpartei MHP ist seit langer Zeit eine türkisch-islamische Synthese mit der Untrennbarkeit von türkisch-nationalen und islamischen Bestandteilen. Damit sind die Grauen Wölfe auch Teil des politischen Islam in Deutschland, der eine große Bedrohung für unsere freiheitliche Gesellschaft und für den Zusammenhalt in Deutschland ist.
Deswegen will ich den Antrag als Anlass zur Mahnung nehmen. Wir dürfen nicht zulassen, dass ausländische Regierungen unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit unheilvollen Einfluss auf Hunderttausende Muslime in Deutschland nehmen – durch die Verbreitung von Nationalismus, Kriegsverherrlichung und Hetze gegen Andersgläubige. Ich glaube, andere Parteien des politischen Spektrums haben hier durchaus noch etwas Nachholbedarf, wie Kevin Kühnert zu Recht gesagt hat.
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Aber vielleicht ist mit diesem Antrag heute ein Anfang gemacht.
Unsere Hand bleibt ausgestreckt, auch im Kampf gegen den Islamismus, gegen den politischen Islam.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. – Ich würde mich freuen, wenn wir auch diesen Kampf wie heute gemeinsam aufnehmen.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ülkücü-Bewegung und ihre Anhänger vertreten eine Ideologie, deren Eckpfeiler auf Rassismus, Faschismus, Antisemitismus und Antiliberalismus fußt; dies wurde in der bisherigen Debatte mehr als deutlich. Ich freue mich deshalb, dass ein so breites Bündnis der hier im Hause vertretenen demokratischen Parteien hinter diesem Antrag steht, und will noch einmal klarstellen, was uns leitet.
Wir werden jeder Form des Antisemitismus entschlossen die Stirn bieten. Wir lassen nicht zu, dass Personen wegen ihrer Herkunft, ihrer Volkszugehörigkeit und ähnlicher Merkmale diskriminiert werden. Wir werden entschieden gegen jeden Versuch der Einschüchterung von Andersdenkenden vorgehen. Nationalistische und rassistische Ideologien haben bei uns keinen Platz. Und ich füge hinzu: Großmannsstreben, wie es im Wunsch der Bewegung nach der Errichtung von Großreichen zum Ausdruck kommt, halte ich überdies für dumm. Großtürkisch oder groß sonst was – großer Schwachsinn.
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In diesem Zusammenhang sage ich auch: Wir werden nicht zuschauen, dass Konflikte aus der Türkei weiterhin in Deutschland ausgetragen werden. Natürlich ist uns bewusst, dass die Grauen Wölfe mit ihrer Agitation insbesondere im türkischstämmigen Teil unserer Bevölkerung ein massives Hindernis für eine funktionierende Integration darstellen und damit eklatant den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft gefährden. Wenn derartige nationalistische, rassistische Idioten dem türkischen Präsidenten zujubeln, dann sollte für Herrn Erdogan das Gebot der Stunde Abgrenzung und Mitwirkung bei unseren Bemühungen, insbesondere um ein Verbot, sein.
Sollte es zutreffen, dass sich enge Mitarbeiter des türkischen Präsidenten als Anhänger dieser Ultranationalisten entpuppen – so hörte ich, dass im März der türkische Außenminister bei seinem Auftritt vor dem türkischen Generalkonsulat in Hamburg das Handzeichen der Grauen Wölfe zeigte –, dann kann ich in Richtung von Herrn Erdogan nur sagen: Gebot der Stunde ist eine dringende Kurskorrektur, wenn er nicht eine weitere Entfremdung von Europa und internationale Isolation riskieren will.
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Wir unterstützen deshalb den Bundesinnenminister und unsere Sicherheitsbehörden nachdrücklich in dem Vorgehen, den Dachverbänden sowie den weiteren zurechenbaren Organisationen der Ülkücü-Bewegung mit aller Entschiedenheit und den vorhandenen Mitteln unseres Rechtsstaates zu begegnen.
Ich will abschließend sagen: In diesem Zusammenhang ist jetzt vor allem Gründlichkeit wichtig; denn zu den genannten Geboten kommen zwei weitere wichtige hinzu. Erstens. Das Verbot muss auch vor den Gerichten halten; das heißt, es muss sauber und gründlich vorbereitet sein. Das ist das, was jetzt passiert. Zweitens. Das Verbot muss auch in die Verästelungen der Bewegung und in deren Sub- und Tarnstrukturen hineingreifen. Auch dafür ist Gründlichkeit notwendig. Sie ist jetzt das Gebot der Stunde. Dann werden wir darauf die richtigen Entscheidungen aufbauen.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Abbiegeassistenten retten Leben. Deswegen forderte der Bundestag am 28. Juni 2018 die Bundesregierung auf – ich zitiere –: „nationale Regelungen für eine schnelle Einführung von Lkw-Abbiegeassistenzsystemen zu prüfen und umzusetzen“. Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Wir müssen feststellen: Der Verkehrsminister hat diesen parlamentarischen Auftrag ignoriert. Und das geht so gar nicht!
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Denn dieser Auftrag hatte ja einen tiefen Sinn.
Auf Fragen nach Prüfungen und deren Ergebnissen antwortet der Verkehrsminister nicht oder weicht aus – zuletzt im August. Meine Fraktion hat dann selbst mit einem Gutachten aufgezeigt, wie eine nationale Regelung für Lkw-Abbiegeassistenten im Straßenverkehrsrecht aussehen kann. Dennoch ist nichts Wirksames passiert, und das ist völlig unverständlich. Dass der Verkehrsminister ein paar Aufkleber und etwas Fördergeld an einzelne Lkw-Betreiber verteilt, das reicht nicht aus.
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Wir haben gezählt: Seit dem Bundestagsbeschluss, also von Juli 2018 bis heute, wurden allein 77 Menschen, die mit dem Rad unterwegs waren, von einem abbiegenden Lkw oder Bus totgefahren. Hinzu kommen weitere Menschen, die zu Fuß unterwegs waren, und zahlreiche Schwerverletzte. Etwa 2 300 Radfahrende wurden seit Juli 2018 allein bei Abbiegeunfällen verletzt. Das wollen und das dürfen wir als Abgeordnete nicht akzeptieren.
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Deswegen ist das heute hier erneut Thema im Parlament.
Das Brutale ist: Es braucht nur eine Änderung in der Straßenverkehrs-Ordnung, und Abbiegeassistenten wären in den Städten vorgegeben; das ist möglich, das ist sinnvoll. Der Verkehrsminister hat sich dem bis heute verweigert. Daher legen nun wir einen Gesetzentwurf zum Straßenverkehrsgesetz vor. Damit werden Städte und Gemeinden zu Verkehrssicherheitszonen, nur noch sichere Lkws dürfen einfahren. Ausnahmen und Übergangsfristen werden geregelt, genauso wie Sanktionen. Dieses Gesetz kann Leben retten.
Ja, ein Abbiegeassistent wird nicht alle Unfälle verhindern können; aber jeder Unfall weniger zählt. Ja, die Priorität in Sachen Verkehrssicherheit lag bisher bei den Menschen in den Fahrzeugen. Das Umfeld, also die Menschen zu Fuß, auf dem Rad, in den Kinderwagen, das wurde bisher ausgeblendet. Das muss sich ab jetzt ändern, auch wenn das alles viel zu langsam geht. Das ist unsere Aufgabe.
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Das wäre aber auch eine Aufgabe des Verkehrsministers. Verordnungen und Verwaltungsvorschriften müssen so geändert werden, dass zu Fuß gehen oder Rad fahren eben keine Mutproben sind. Die Blockade in Sachen Verkehrssicherheitszonen und bei der Verkehrssicherheit für alle, die muss endlich aufhören. Ich meine: Dass Abbiegeassistenten noch immer nicht Vorschrift sind, das ist ein Skandal.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen – ich meine insbesondere Sie von der Koalition –, das Leben und die Gesundheit zu schützen, das ist eine der vornehmsten Aufgaben des Staates. Die Exekutive – das müssen wir hier und heute feststellen – hat in diesem Bereich bislang nicht wirksam gehandelt. Niemand versteht, warum erprobte Technik nicht breit eingesetzt wird. So oder so: Deswegen ist es nun an uns als Parlament, insbesondere an den Koalitionsfraktionen, also an Ihnen von SPD und CDU/CSU, aber auch an allen anderen Fraktionen, dieser Schutzpflicht hinsichtlich Leben und Gesundheit nachzukommen.
Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf beraten, lassen Sie uns gerne eine Anhörung dazu machen, aber lassen Sie uns vor allem dieses Gesetz beschließen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Karl Holmeier das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Steigerung der Verkehrssicherheit und die Verringerung von schweren und tödlichen Unfällen durch abbiegende Lkw. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, teilen wir sicherlich alle.
Der entscheidende Punkt ist die Art der Umsetzung dieses Ziels. Da geht der Entwurf der Grünen viel zu weit. Im Grunde wollen die Grünen Lkw ohne Abbiegeassistenten innerorts verbieten. Eine solche Regelung ist absolut unverhältnismäßig. Sie würde mit einem Schlag zahlreichen Verkehrsteilnehmern den Zugang zu den Städten, zu den Orten verwehren. Es ist überhaupt fraglich, ob eine solche Regelung vor Gericht bestehen könnte. Daher lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Die Bundesregierung, das Bundesverkehrsministerium und Herr Minister Scheuer haben hier einen anderen Weg eingeschlagen und bereits viele Maßnahmen umgesetzt. Und auch im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages haben wir einiges zur Vermeidung von Abbiegeunfällen auf den Weg gebracht. Sie kennen die Punkte, aber ich zähle sie gerne noch mal auf: Auf EU-Ebene ist es der Initiative Deutschlands zu verdanken, dass Abbiegeassistenten ab Juli 2022 für neue Fahrzeugtypen und ab Juli 2024 für neue Fahrzeuge verpflichtend sein werden.
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Ich gebe Ihnen recht: Das reicht nicht, und das dauert noch einige Jahre. Auch wir als Union wollten auf europäischer Ebene mehr erreichen, vor allem unser Minister. Leider sind wir, was die Verpflichtung zur Ausrüstung mit Abbiegeassistenten betrifft, rechtlich auf eine europäische Regelung angewiesen.
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Trotzdem war und ist klar, dass wir handeln müssen. Daher hat Minister Andreas Scheuer bereits im Juli 2018 die Aktion Abbiegeassistent ins Leben gerufen, die inzwischen eine umfassende Förderung von Abbiegeassistenzsystemen umfasst. Außerdem wurden mit der jüngsten Novelle zur Straßenverkehrs-Ordnung Regeln zur Verbesserung der Sicherheit von Radfahrern eingeführt. Teil der Aktion Abbiegeassistent sind Sicherheitspartnerschaften, bei denen sich Unternehmen, Kommunen und Organisationen dazu verpflichten, ihren Fuhrpark mit Abbiegeassistenten nachzurüsten und nur solche Neufahrzeuge anzuschaffen, die über das System verfügen. Zwischenzeitlich gibt es 224 Sicherheitspartnerschaften, Tendenz steigend. Zahlreiche Verbände unterstützen die Aktion und zeigen deutlich, dass die Transportbranche hinter dem Ziel „mehr Verkehrssicherheit“ steht.
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Darüber hinaus wird die Anschaffung von Abbiegeassistenten über das Verkehrsministerium gefördert. Dafür standen im Jahr 2020 Mittel aus zwei Programmen zur Verfügung, zum einen aus dem Förderprogramm Abbiegeassistenzsysteme und zum anderen für Unternehmen des mautpflichtigen Güterkraftverkehrs aus dem De-minimis-Programm. Die Mittel beider Programme wurden voll ausgeschöpft. Das heißt, die Nachfrage bei den Unternehmen ist groß.
Die Bereitschaft der Speditionen zur Nachrüstung ihrer Flotten ist enorm. Diesen Einsatz der Branche dürfen wir nicht durch unverhältnismäßige Einfahrverbote beschränken und bestrafen, sondern wir sollten wirksam daran arbeiten, dies weiter zu unterstützen. Deshalb wollen wir mit dem Bundeshaushalt 2021 die Mittel für beide Förderprogramme aufstocken. Der Etat für das Förderprogramm Abbiegeassistenzsysteme soll beispielsweise um 3 Millionen auf 12,25 Millionen Euro erhöht werden. Das entspricht etwa 30 Prozent; das wäre ein großer Erfolg. Mit den bisherigen Mitteln konnten 2020 rund 6 000 Systeme gefördert werden. Diese Zahl können und wollen wir in den kommenden Jahren sogar noch steigern.
Eine weitere Maßnahme zur Verbesserung der Verkehrssicherheit im Bereich der Abbiegeunfälle war die Anpassung der Straßenverkehrs-Ordnung. Nach dem seit dem 28. April 2020 gültigen Recht dürfen Lkw innerorts nur noch mit Schrittgeschwindigkeit nach rechts abbiegen.
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Damit wird der Verkehrsfluss an den kritischen Stellen verlangsamt, und die Gefahr schneller Abbiegemanöver wird entschärft.
Bei all diesen Maßnahmen können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht absehen oder sagen, ob sie ausreichen oder ob nachgebessert werden muss. Im vorliegenden Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen wird aber schon jetzt dafür plädiert, Städte und Orte für viele Lkw vorsorglich komplett zu sperren. Die Förderung gilt seit nicht einmal zwei Jahren; die Neuregelung beim Abbiegen in der Straßenverkehrs-Ordnung seit April dieses Jahres, also seit etwa einem halben Jahr; und bereits jetzt wird von den Grünen die sogenannte Verbotskeule rausgeholt.
Im Übrigen gibt es auch Alternativen zum Verbot. Gefährliche Kreuzungen können baulich angepasst werden, die Ampelschaltung kann optimiert werden, um Fußgängern und Radfahrern ein Überqueren der Kreuzung sicher zu ermöglichen. Bei gefährlichen Kreuzungen kann sogar notfalls das Rechtsabbiegen für Lkw verboten werden.
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Wir sollten erst all diese Möglichkeiten nutzen und nicht vorschnell Innenstädte für Lkw sperren. Unser Weg ist nicht das Verbot, sondern unser Weg ist die Unterstützung und die Förderung von Lkw. Der Lkw, die Fahrer und die Speditionen sind nicht Feinde, sondern Partner im Kampf gegen Abbiegeunfälle. Daher danke ich den Unternehmerinnen und Unternehmern, den Kommunen und Organisationen, die ihre Flotten mit Abbiegeassistenzsystemen umrüsten und ihren Beitrag für sichere Straßen in unserem Land leisten.
Vielen Dank auch an das Ministerium, an Herrn Minister Scheuer für seinen unermüdlichen Einsatz in dieser Sache.
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Wie schon gesagt, lehnen wir den Gesetzentwurf der Grünen ab.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Wolfgang Wiehle für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es sind schreckliche Bilder, wenn ein Radfahrer bei einem Unfall mit einem abbiegenden Lkw zu Schaden kommt. Es besteht kein Zweifel, dass alle sinnvollen Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit solche Unglücke seltener passieren. Die Idee der Grünen, mit der Schaffung sogenannter – wohlklingender – Verkehrssicherheitszonen den Straßenverkehr angeblich spürbar sicherer zu machen, ist allerdings klar überzogen.
Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf ja selbst, dass man sich bereits verpflichtend auf den Einbau von Abbiegeassistenten ab dem Jahr 2024 geeinigt hat. Leider bietet auch dieses technische System keine hundertprozentige Sicherheit. 60 Prozent weniger schwere Unfälle beim Abbiegen darf man erhoffen. Dabei muss gesagt sein, dass mit gut 50 Fällen lediglich rund 10 Prozent aller tödlichen Radunfälle auf diese Unfallursache zurückzuführen sind.
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Wenn Sie nun die komplette Umrüstung von 3 Millionen Bestands-Lkw erzwingen wollen, müssen Sie auch sagen, was das kosten wird. Diese Angabe unter „Erfüllungsaufwand“ – Standardstichwort – vermeiden Sie in Ihrem Gesetzentwurf offensichtlich sehr bewusst. Bei einem Preis von 1 500 Euro pro Stück geht es nämlich um 4,5 Milliarden Euro.
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Sie sprechen nur wolkig von „Förderprogrammen des Bundes“. Die sind aber vollkommen unzureichend ausgestattet, wie sich in den vergangenen Jahren erwiesen hat.
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Die AfD hat schon 2018 die Ausweitung dieser Programme gefordert. Sie wollen jetzt aber die Mehrkosten offensichtlich auf die Spediteure und damit letztlich auf den kleinen Mann an der Supermarktkasse abwälzen.
Leider liegt auch bei diesem Gesetzentwurf der Grünen die Vermutung nahe, dass sich hinter dem Schlagwort „Verkehrssicherheitszone“ noch ganz andere Absichten verbergen als der Schutz von Radfahrern beim Abbiegen.
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Ausgeweitete Tempo-30-Zonen oder gar Schrittgeschwindigkeitszonen, die den ohnehin zähen Stadtverkehr zum Erliegen bringen würden, sind absolut erwartbar und liegen bei der Grünenfraktion wahrscheinlich schon in der Schublade.
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Wenn man in Ihrem Gesetzentwurf die Vorschläge zur Beschlagnahme der Lastwagen ansieht, die nicht Ihren Vorschriften entsprechen, schwant einem jedenfalls Übles. Die Frage, wie mit im Ausland zugelassenen Lkw umgegangen werden soll, lassen Sie auch völlig offen.
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Wenn Ihnen tatsächlich etwas an der Vermeidung von Verletzten im Verkehr unserer Städte gelegen wäre, hätten Sie nicht verantwortungslos der Schwemme von E-Scootern zugestimmt. Diese Fahrzeuge weisen auch wegen ihres unverhältnismäßig langen Bremsweges eine weit überdurchschnittliche Unfallgefahr auf.
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Als sofortige Übergangslösung zur Unfallvermeidung beim Abbiegen schlägt die AfD-Fraktion heute ein Rechtsüberholverbot an Straßen ohne separaten Radweg vor. Wenn ein Nutzfahrzeug einen Abbiegevorgang nach rechts anzeigt, also blinkt, hat ein Radfahrer dann anzuhalten und abzuwarten, nicht rechts vorbeizufahren. Früher war diese Vorsicht offensichtlich üblich. Bereits mit dieser einfachen Änderung ließe sich eine erhebliche Anzahl an Verkehrsopfern vermeiden. Auch diesen Schritt sollten wir gehen.
Wir von der AfD werden um eine ausgewogene und angemessene Lösung kämpfen. Wir freuen uns auf die Beratung im Verkehrsausschuss.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Udo Schiefner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, dass wir dieses wichtige Thema heute auf der Tagesordnung stehen haben. Weniger geht es mir da um den Gesetzentwurf, der meiner Meinung nach nicht funktioniert. Aber ich halte es für absolut wichtig, dass wir immer wieder über Verkehrstote sprechen und auch den Finger in diese Wunde legen; denn jeder Verkehrstote, jede Verkehrstote ist eine Katastrophe, ist ein Toter, eine Tote zu viel und lässt sich auch nicht mit Geldbeträgen irgendwie aufwiegen.
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Deshalb müssen wir vor allen Dingen auch über abbiegende Lkw sprechen. Das ist richtig; das ist unsere Pflicht: Wir müssen das Leben der Radfahrer und der Fußgänger im Straßenverkehr schützen.
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Seit Jahren fordern wir als SPD-Bundestagsfraktion hierzu mehr Engagement. Eine Pflicht zum Einbau von Abbiegeassistenten gilt allerdings noch nicht, das stimmt. Aber wir haben Gott sei Dank jetzt eine europäische Regelung, die im Raum steht. Und die muss schnell umgesetzt werden – 2024. Wir hätten uns das früher gewünscht; aber das war ja in Europa nicht möglich.
Deswegen war es auch richtig, dass der Einbau von Abbiegeassistenten zunächst einmal für deutsche Speditionen hier in Deutschland entsprechend gefördert wird; dies senkt zumindest das Risiko. Ich denke, die Verkehrsunfallzahlen haben eine positive Wende genommen durch diese Förderung; das muss man bei dieser Diskussion, finde ich, durchaus einmal anerkennen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen – obwohl mehr immer geht.
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Mit der StVO-Novelle, andererseits, dürfen Lkw und Busse, die innerorts rechts abbiegen, nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren. Wir handeln also; es ist nicht so, dass wir untätig sind.
Und es gibt weitere Ansatzpunkte. „Alle Lkws raus aus den Städten“ funktioniert meiner Meinung nach nicht. Was aber funktioniert, ist, die Unfallschwerpunkte in den Fokus zu nehmen. Wir wünschen uns seit Langem ein Programm „Vision Zero“ in unseren Städten; das ist der richtige Ansatz, wo wir einhaken müssen, auch mit Verkehrsplanung, mit Stadtplanung. Ich lade natürlich alle dazu ein, dies auch in den Kommunalparlamenten voranzutreiben, auch die Grünenfraktionen; denn sie haben sicherlich auch großen Einfluss in diesem Bereich.
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Abschließend mein Wunsch an das Verkehrsministerium: Wir erwarten ein konkretes und ambitioniertes Verkehrssicherheitskonzept, ein Programm, das die Eckpunkte der Verkehrssicherheitspolitik für die kommenden zehn Jahre festlegt, Herr Staatssekretär, und dies bitte noch in dieser Legislaturperiode. Dann sind wir einen guten Schritt vorangekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Wenn Sie zurückgehen, Herr Kollege, müssen Sie die Maske auch wieder aufsetzen.
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Sie müssen jetzt nicht noch mal zurückkehren.
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Der Kollege Dr. Christian Jung von der FDP-Fraktion ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahre 2018 sind leider 38 Fahrradfahrerinnen und ‑fahrer durch abbiegende Lkws ums Leben gekommen und viele weitere verletzt worden. Solche tragischen Unfälle sind ein schreckliches Ereignis für alle Beteiligten – auch für die Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer, die mit diesem bedrückenden Erlebnis leben müssen.
Jedes Hilfsmittel, das die Anzahl solcher Unfälle verringern kann, muss daher gefördert werden. So ermöglichen Abbiegeassistenten für Lkw, dass die Lkw-Fahrer auch dorthin sehen können, wo sie sonst nicht hinschauen können. Der berühmte tote Winkel wird einsehbar und die Sicherheit auf der Straße erhöht. Aus diesem Grunde setzen wir uns als Freie Demokraten bundesweit und in den einzelnen Bundesländern nachdrücklich für Abbiegeassistenzsysteme bei Lkws ein.
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Für uns spielt die Sicherheit im Verkehr mit Lkws eine besonders wichtige Rolle, weil die Logistik und die Versorgung in Deutschland ohne Lkws gar nicht möglich wäre.
Eine frühere umfassendere Einführung der Abbiegeassistenten für Deutschland ist daher grundsätzlich positiv zu bewerten. Aber bei dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bleiben noch einige Fragen offen. So würden laut Gesetzentwurf Transitstrecken in der Regel außerorts verlaufen und wären daher nicht von der geplanten Pflicht für Abbiegeassistenten in geschlossenen Ortschaften betroffen. Dies ist total unrealistisch, weil viele Ausweichrouten bei Staus auch durch Ortschaften gehen. Bei mir im Landkreis verhindern auch die Grünen Ortsumgehungen. Wenn die Ortsumgehungen nicht gebaut werden, wo auch Umleitungsstrecken von Autobahnen sind, dann müssen die Lkws durch Orte durchfahren und da wird es auch Lkws geben, die diese Abbiegeassistenzsysteme leider nicht haben. Wie aber soll garantiert werden, dass eigentlich nicht betroffene Lkws nicht durch diese Verkehrssicherheitszonen fahren werden, wenn es Staus oder auch Sperrungen gibt?
Hinzu kommt, dass alle Lkw in die Pflicht eines Abbiegeassistenten eingeschlossen werden sollen. Das bedeutet einen sehr hohen finanziellen Aufwand, auch für kleine und mittelständische Unternehmen, die kleine Lkws nutzen. Dabei sind es mit großer Mehrheit Lkw ab einem Gewicht von 7,5 Tonnen, die schwerwiegende Unfälle beim Abbiegevorgang verursachen. Wir hatten dazu bereits 2018 einen Änderungsantrag zu dem Gesetzentwurf eingereicht.
Neben Abbiegeassistenten muss die Sicherheit im Straßenverkehr durch einen ganzheitlichen Ansatz verbessert werden, etwa durch die Anbringung vom Ampelspiegeln als einfache und effektive Brückenlösung oder eine Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung, damit Radfahrer sich an Ampeln nicht mehr neben Lkws drängen.
Und was mir auch besonders wichtig ist – zum Abschluss –: Auch Fahrradfahrer sollten ihren Beitrag leisten. Wir sehen es immer wieder bei der Verkehrserziehung: Es ist sehr wichtig, dass auch jeder Radfahrer einen Helm trägt.
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Ich weiß von vielen Grünen, auch von Herrn Gelbhaar, dass sie nicht für den Helm sind. Da zeigen Sie auch, wie ernst Sie dieses Thema insgesamt nehmen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Wagner für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Ein neunjähriges Mädchen macht sich mit dem Rad auf den Weg zur Schule. An einer Kreuzung zeigt die Ampel Grün; das Mädchen fährt geradeaus. Doch in diesem Moment biegt ein Lkw rechts ab, erfasst das Kind und überrollt es. – Dieser schreckliche Unfall hat sich 2018 in München ereignet. Der Fahrer des Lkw hat das Kind nicht gesehen. Das Kind ist tot. Für die Angehörigen bedeutet das unermessliches Leid. Der Lkw-Fahrer muss für den Rest seines Lebens mit der Schuld leben.
Während die Zahl an Toten im Straßenverkehr insgesamt sinkt, ist die Zahl der Todesopfer im Radverkehr in den vergangenen zwei Jahren um 16,5 Prozent gestiegen. Das ist alarmierend. Hier muss gehandelt werden.
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Jedes Unfallopfer ist eines zu viel. Wir als Gesetzgeber sind auch dem Schutz menschlichen Lebens verpflichtet. Damit solche Unfälle, wie eingangs geschildert, nicht mehr passieren, müssen wir den Radverkehr sicherer machen. Hier muss die Bundesregierung liefern.
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In dem Gesetzentwurf schlägt Bündnis 90/Die Grünen Verkehrssicherheitszonen vor. Danach ist jede geschlossene Ortschaft eine Verkehrssicherheitszone, die, abgesehen von Ausnahmen, nur noch von Lkws mit Abbiegeassistenzsystemen befahren werden darf. Abbiegeassistenzsysteme sind sinnvoll, weil sie den Fahrer eines Lkw beim Abbiegen warnen, wenn sich neben dem Fahrzeug Menschen befinden. So können Zusammenstöße und Unfälle mit oft tödlichen Folgen verhindert werden.
Die Idee des Gesetzentwurfes ist es, durch Verkehrssicherheitszonen Handlungsdruck zu erzeugen. So sollen zukünftig nur noch Lkws mit Abbiegeassistenzsystemen in Verkehr gebracht und alte Lkws entsprechend nachgerüstet werden. Das ist sinnvoll und notwendig; denn eine EU-weite Pflicht für Neufahrzeuge wird es erst ab 2024 geben.
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Hinsichtlich der Umsetzbarkeit stellen sich allerdings Fragen: Wie soll kontrolliert werden, dass nur Lkws mit Abbiegeassistenten in den Zonen unterwegs sind? Was ist mit Lkws aus dem europäischen Ausland, die keinen Abbiegeassistenten haben und deren Lieferadresse in so einer Zone liegt?
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Ein Abbiegeassistenzsystem muss für einen Lkw aus meiner Sicht genauso zur Grundausstattung gehören wie der Blinker oder die Klimaanlage. Damit ist es jedoch nicht getan. Wir schlagen deshalb ein Sicherheitspaket vor, das wir im Rahmen der Haushaltsberatungen als Anträge eingebracht haben. Es beinhaltet neben einer deutlichen Aufstockung der Fördermittel für die Nachrüstung von Lkws mit Abbiegeassistenten eine Förderung des Ausbaus von Pop-up-Radwegen und deren Verstetigung sowie eine Entschärfung von Kreuzungen, die für Radfahrende besonders gefährlich sind.
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In den Städten brauchen wir generell mehr Platz fürs Rad. Die Radwege müssen so gestaltet sein, dass sie auch von Kindern sicher genutzt werden können.
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Abschließend, Herr Bundesminister Scheuer – er ist leider nicht da –: Rüsten Sie bis Ende 2021 alle Lkws des Bundes mit Abbiegeassistenten nach! Das wäre mal ein Anfang; es ist an der Zeit.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute Abend und natürlich auch generell im Deutschen Bundestag über Verkehrspolitik diskutieren und Gesetze beschließen, dann betrifft das im Prinzip jeden Deutschen; denn jeder ist im Alltag mal Radfahrer, mal Fußgänger; mal nutzt man den öffentlichen Nahverkehr oder auch das Auto. Deswegen sind die Entscheidungen hier für den Alltag von jedem Deutschen von enormer Bedeutung.
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Deshalb treiben wir als CDU/CSU-Fraktion zusammen mit Staatssekretär Enak Ferlemann und dem Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer diverse verkehrspolitische Themen ja auch voran. Wir sagen: Der Verkehr muss durch Investitionen in Elektromobilität, Wasserstoffantrieb und E-Fuels klimafreundlicher werden.
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Wir wollen außerdem Infrastrukturprojekte in Deutschland beschleunigen. Dafür haben wir alleine in dieser Legislaturperiode vier Planungsgesetze auf den Weg gebracht,
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mit denen wir unter anderem die Behörden digitalisiert und für mehr Personal in den Planungsbehörden gesorgt haben.
Wir wollen daneben vor allem auch die Antwort auf eine Frage weiter vorantreiben, die sich viele von uns im Land jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit und natürlich auch auf vielen anderen Wegen stellen, nämlich: Wie kommt man sicherer von A nach B? Wie kommt man unfallfrei durch den Straßenverkehr?
Bevor wir gleich zu den Abbiegeassistenzsystemen kommen, will ich noch mal grundsätzlich sagen, dass wir seit Beginn der 1970er-Jahre in Deutschland eine enorme Erfolgsgeschichte zu verzeichnen haben. Damals hatten wir – und das betraf damals nur Westdeutschland – über 20 000 Tote im Straßenverkehr. Heute sind es noch 3 000 Verkehrstote. Jeder Verkehrstote ist ein Toter, ein Opfer, zu viel, und deswegen treiben wir als CDU/CSU-Fraktion auch die Vision Zero voran, damit wir so schnell wie möglich überhaupt keine Toten im Straßenverkehr mehr haben.
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Was braucht es dazu? Dazu brauchen wir unterschiedliche gesetzliche Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren beschlossen wurden – von der Gurtpflicht über das Senken der Promillegrenze bis hin zu modernen Formaten wie Podcasts und Social Media. Gerade im Bereich der Verkehrserziehung gibt es mittlerweile wunderbare Angebote. Ich will eines mal ganz kurz erwähnen: Der Fußballbundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich, der aus meinem Wahlkreis Hamburg-Nord stammt, macht das ganz wunderbar. Er begeistert über Social Media und über moderne Podcasts viele Kinder und Jugendliche dafür, dass sie sich an die Regeln im Straßenverkehr halten.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gelbhaar?
Gerne. Er scheint noch nicht so schnell Feierabend machen zu wollen.
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Ich hatte mich schon gewundert, dass er bis jetzt keine gestellt hat.
Ich habe gewartet, bis Sie zum Thema kommen; das hat ein bisschen gedauert.
Ich habe ja noch gut zwei Minuten und dachte, ich nähere mich heute mal von der Metaebene.
Das ist ja fast wie bei einem Zwiegespräch. – Ich habe gedacht, ich gebe Ihnen ein bisschen mehr Redezeit, damit Sie dann auch zum Thema reden können.
Sie haben jetzt gerade die Gurtpflicht erwähnt und irgendwas von den 70er-Jahren und der Promillegrenze erzählt. Das ist alles sehr, sehr lange her. Es geht ja um das Jetzt und darum, was wir jetzt tun können.
Wir haben im Jahr 2010 3 648 Verkehrstote gehabt. Das war ein niedriger Stand, wie Sie gerade referierten; das kann man so oder so betrachten. Damals ist gesagt worden, wir wollen im Jahr 2020 – also jetzt, in diesem Jahr – 40 Prozent weniger Verkehrstote haben. Man hat also nicht mal von der Vision Zero, sondern von 40 Prozent weniger gesprochen.
Ich habe das mal ausgerechnet. Das wären dann 2 188 Verkehrstote gewesen. Es ist schon ein bisschen komisch, wenn man über solche Zahlen redet, aber so ist es ja. Im Jahr 2019 hatten wir aber 3 046 Verkehrstote. Da ist eine Differenz von 858, und ich mutmaße, dass es dieses Jahr auch nicht besser aussehen wird.
Sie erzählen hier jetzt was von Podcasts und Social Media. Das kann ich, mit Verlaub, nicht ernst nehmen. Wir haben hier einen sehr konkreten Vorschlag gemacht, wie man konkret Verkehrstote vermeiden kann, nämlich mit Lkw-Abbiegeassistenten.
Deswegen noch mal die Frage: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu, oder welche anderen konkreten Vorschläge haben Sie, um nicht nur die Fahrzeuginsassen – das erreichen Sie mit der Gurtpflicht usw. –, sondern eben auch das Umfeld zu schützen? Darum geht es, und darauf will ich Ihre Antwort haben.
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Herr Kollege Gelbhaar, erstens bedanke ich mich, dass Sie so intensiv auf meine Redezeit achten. Das hört sich ja schon fast wie eine Bewerbungsrede für das Amt eines Vizepräsidenten in der nächsten Legislaturperiode an. Ich hoffe nicht, dass die Kollegin Roth das hier miterlebt.
Zweitens dachte ich, dass wir uns dem Thema mal von der Metaebene aus nähern könnten. Es kann ja nicht schaden, wenn man hier im Detail arbeitet und ein Thema manchmal vielleicht auch etwas größer betrachtet. Das schadet weder in der Verkehrspolitik noch bei anderen Themen.
Drittens war ich ja gerade dabei, jetzt auch zu den Abbiegeassistenzsystemen zu kommen, und ich gehe gerne auch auf Ihre Frage ein, Herr Kollege.
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– Es ist in der Politik nicht schlecht, wenn man etwas Geduld hat.
Wir als CDU/CSU-Fraktion und das Bundesverkehrsministerium tun sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene alles dafür, um Abbiegeassistenzsysteme schneller zur Pflicht zu machen. Wenn es nur nach dem Bundesverkehrsministerium und unserer Fraktion ginge, dann hätten wir die lieber gestern als heute eingeführt. Allerdings ist es so, dass wir Deutschen nicht ganz alleine sind und auch gucken müssen, dass wir die Entscheidung darüber auf europäischer Ebene abstimmen und in den europäischen Gremien eine Mehrheit dafür bekommen. Dafür werden wir alles tun.
Auch andere Kollegen haben in ihren Reden dargestellt, dass davon natürlich auch rechtliche Fragen berührt sind. Es kann nicht sein, dass wir uns eine gerichtliche Klatsche abholen, weil wir in Deutschland allein die Entscheidung treffen, dass ein polnischer Lkw nicht mehr nach Deutschland einfahren kann.
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Das wollen wir als CDU/CSU vermeiden. Deswegen werden wir Ihren Vorschlag, bestimmte Zonen einzuführen, leider nicht weiterverfolgen können. Dagegen bestehen enorme europarechtliche Bedenken, und das würde vor allem auch Fahrzeuge aus vielen anderen europäischen Staaten diskriminieren.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir wieder bei der grundsätzlichen verkehrspolitischen Frage: Wie können wir den Verkehr sicherer machen? Darauf haben wir völlig unterschiedliche Antworten; das wird in der Debatte deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie setzen auf Verbote, auf Vorschriften, so wie auch bei vielen anderen Fragen.
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Wir hingegen wollen auf neue Technologien setzen. Wir wollen neue Systeme einführen.
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Deswegen treiben wir die Entwicklung der Abbiegeassistenzsysteme voran.
Am Ende werden wir für mehr Verkehrssicherheit sorgen, indem wir ganz unterschiedliche Maßnahmen vorantreiben; das geht von der Erhöhung der Bußgelder für Radfahrer, die sich nicht an Regeln halten, für Autofahrer, die sich nicht an Regeln halten, sowie für Lkw-Fahrer, die sich nicht an Regeln halten, über einen Ausbau der Infrastruktur bis hin zu den Abbiegeassistenzsystemen für Lkw. Diese unterschiedlichen Maßnahmen werden wir zusammen mit dem Bundesverkehrsministerium auf allen Ebenen forcieren und dafür die letzten Monate dieser Legislaturperiode nutzen. Ich würde mich freuen, lieber Kollege Gelbhaar, wenn Sie dann etwas konstruktiver dabei wären als in dieser Debatte.
Herzlichen Dank.
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Jetzt kommen wir schon zur voraussichtlich letzten Rednerin des heutigen Tages. Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass wir ein derart wichtiges Verkehrssicherheitsthema hier so emotional debattieren. Bei der ersten Lektüre des Gesetzentwurfs der Kollegen der Grünen habe ich gedacht: Wie sympathisch, sie erinnern zu Recht an unseren gemeinsamen Antrag aus dem Jahr 2018, mit dem wir uns für die Abbiegeassistenten eingesetzt haben.
Mittlerweile hat die EU beschlossen, dass Neufahrzeuge ab 2022 bzw. 2024 entsprechend ausgerüstet werden müssen. In Ihrem Gesetzentwurf adressieren Sie jedoch vor allem den offenen Punkt der Nachrüstung für all das, was bislang schon auf der Straße rollt. Das ist wichtig. Für jeden Verkehrspolitiker ist es immer schwer, abzuwarten, bis sich ein EU-Recht in den Statistiken niederschlägt; was hier bedeuten würde, bis 2024 oder länger warten zu müssen, bis es tatsächlich wirkt.
Und was macht die Bundesregierung? Sie setzt bislang notgedrungen auf Selbstverpflichtung. Sie fördert die Nachrüstung, und die Nachfrage ist da. Es ist unser Erfolg, dass die Förderung steht, und es ist auch unser Erfolg, dass die Förderung bis 2024 steht.
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Ich bin eigentlich keine Freundin von Selbstverpflichtungen; das geht mehr auf das Konto der Fleischindustrie. Aber auch bei den Abbiegeassistenten würde ich mir natürlich wünschen, dass wir da schneller vorankommen. Jetzt kommen Sie und wollen das, was auf europäischer Ebene nicht durchsetzbar war, einfach so durch die Hintertür regeln. Ihre Verkehrssicherheitszone kommt dabei einem De-facto-Verbot von Lkws ohne Assistenten gleich.
Das Thema bleibt aber ein europäisches. Wir haben es in Wien erlebt: Dort hat man im Frühjahr dieses Jahres das Gleiche probiert, aber es klemmt noch, und man hängt seither an der Notifizierung. Juristinnen und Juristen sagen, dass die Konformität mit europäischem Recht höchst zweifelhaft sei. Die Klagen sind also vorprogrammiert.
Aber spielen wir es mal durch: Was wäre denn, wenn? Hersteller und Werkstätten sagen, dass sie eine lange Frist brauchen; denn die Nachrüstung ist gar nicht so trivial, wie sie manchmal klingt. Nicht jedes System passt zu jedem Fahrzeug. Und richtig problematisch wird es, weil Sie zur Hintertür noch eine weitere Hintertür einbauen. Sie sagen: Jeder Kommune soll es gestattet sein, Ausnahmen zu erlassen.
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Wenn jetzt aber die Werkstätten mit den Aufträgen nicht nachkommen, dann haben wir ziemlich schnell ziemlich viele Ausnahmen: für jedes Gewerbegebiet, vielleicht sogar für jeden Supermarkt. Die Lkw-Fahrer wissen nicht mehr, wo sie herfahren dürfen, und die Polizisten fragen sich, wie sie das Ganze kontrollieren sollen. So schön Ihr Antrag erst mal klingt – er scheitert leider an der Realität.
Nichtdestotrotz müssen wir natürlich dafür sorgen, dass die Abbiegeunfälle weniger werden, und deshalb wünsche ich mir vom Verkehrsminister, dass er die ambitionierte Herausforderung annimmt. Ob das jetzt mit den Abbiegeassistenten erfolgt oder nicht, ist mir ziemlich gleich. Wir können es auch über die Stärkung von Präventionsarbeit und Forschung oder über die Infrastruktur oder über die Planungs- und Kontrollbehörden machen. Wichtig ist nur, dass wir es machen.
Ich warte immer noch sehnsüchtig auf das Verkehrssicherheitsprogramm 2020, und ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, dass das alles vielleicht sogar darin steht.
Vielen Dank und schönen Abend.
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