Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rund neun Monate sind vergangen, seitdem unsere Gesellschaft von Covid-19 in ihrem Kern getroffen wurde. Niemand von uns hat eine vergleichbare Situation je erlebt. Wir haben in den letzten neun Monaten gemeinsam daran gearbeitet, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen – unter großer Anstrengung, mit vielen Härten und Verzicht. Wir alle erinnern uns an die schrecklichen Bilder aus Bergamo in Italien oder aus Ostfrankreich. Unser gemeinsames Ziel war und ist es, eine derartige Situation in Deutschland nicht zuzulassen.
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Wir tun alles, um unsere Bürgerinnen und Bürger zu schützen, gerade auch die Älteren und Vorerkrankten.
Und ja, wir haben eine bittere Medizin schlucken müssen – und müssen sie wieder schlucken: starke Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Fast 200 000 Menschen in Deutschland sind, Stand heute, an dem Virus erkrankt; mehrere Hunderttausend in Isolation oder in Quarantäne. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer fürchten um ihre Existenz, viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Job. Kinder und Jugendliche mussten monatelang auf Schule und Kita verzichten. Eltern mussten mit der Doppelbelastung aus Homeoffice und Kinderbetreuung umgehen. Risikogruppen haben sich aus Angst vor dem Virus aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Ärztinnen und Pfleger, Gesundheitsämter und örtliche Verwaltungen stehen unter großem Druck. Pflegebedürftige haben ihre Angehörigen nicht mehr gesehen. – Das war und das ist eine bittere Medizin.
Manches würden wir mit dem Wissen von heute anders machen. Aber: Die Medizin hat gewirkt. Wir haben es in der ersten Phase der Pandemie geschafft, die Kurve abzuflachen und die Dynamik zu brechen. Wir haben einen vergleichsweise ruhigen Sommer erlebt. Und wir tun auch jetzt wieder alles, um die Kurve abzuflachen und unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen.
Dafür braucht es eine nationale Kraftanstrengung. Die Lage ist ernst. Die Zahl der Menschen, die wegen Corona auf Intensivstationen behandelt werden müssen, hat sich in den letzten zehn Tagen verdoppelt.
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Stand heute kann das Gesundheitssystem noch damit umgehen. Aber eine Verdopplung alle zehn Tage, das schafft das beste Gesundheitssystem auf Dauer nicht. Diese Dynamik ist zu stark, und wir müssen sie gemeinsam brechen.
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Und ja, es gibt einige, die sagen, es reiche nicht, jeden Tag nur auf die Infektionszahlen zu schauen. Das stimmt. Das haben wir übrigens auch nie gemacht.
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Jeden Tag werden im Lagebericht des Robert-Koch-Instituts eine ganze Reihe von Parametern, Zahlen und Entwicklungen veröffentlicht, die man natürlich immer alle im Zusammenhang sehen muss. Aber ich habe dieses Argument, man sollte doch mehr auf die Intensivstationen schauen, das würde reichen, nie verstanden. Wenn die Intensivstationen einmal mit Covid-19-Patienten voll sind, wenn sie überfüllt sind, dann ist es zu spät, vor allem für diejenigen, die dort liegen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Über 20 000 Neuinfektionen haben wir heute. Das ist ein neuer Höchstwert auch hier in Deutschland. Wir sehen: Die Dynamik schwächt sich ab, die Steigerungsrate sinkt, aber es steigt noch. Wir brauchen hier auch ein Stück Geduld, weil die Zahlen von heute das Infektionsgeschehen von letzter Woche widerspiegeln. Gleichwohl sehen wir aber eben auch: Mit stark steigenden Infektionszahlen steigt zeitlich versetzt auch der Behandlungsbedarf, übrigens auch im ambulanten Bereich. Fast 200 000 Patienten müssen ambulant behandelt werden.
Das Tückische ist: Exponentielles Wachstum ist heimtückisch. Es bedeutet: Wenn eine Intensivstation nach zehn Tagen halb voll ist, ist sie nach weiteren zehn Tagen ganz voll. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die aktuelle Entwicklung jetzt schnell und entschlossen brechen. Deshalb ist es wichtig, dass wir weiter schnell reagieren können. Deshalb dieser Gesetzentwurf.
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Das Gesetz soll ermöglichen: Schutzimpfungen gegen Corona und Testungen auch für Nichtversicherte, wenn eine Rechtsverordnung unseres Ministeriums das vorsieht. Es soll ermöglichen: die bessere Nachverfolgung des Infektionsgeschehens durch digitale Einreiseanmeldung nach Aufenthalten in Risikogebieten im Ausland. Es soll ermöglichen: auf der Grundlage einer Definition des Begriffs „Risikogebiet“ den Ausschluss von Entschädigung wegen Verdienstausfalls, wenn es eine vermeidbare Reise in ein Risikogebiet war. Es soll ermöglichen: mehr Laborkapazitäten für Coronatests, eine Modifizierung des Arztvorbehalts, um patientennahe Schnelltests noch schneller einsetzen zu können und bei Bedarf auch Kapazitäten der Veterinärmedizin zu nutzen.
Und ich möchte dem Parlament in der nächsten Sitzungswoche vorschlagen, das Gesetz um Regelungen zu ergänzen, um die Krankenhäuser wirtschaftlich abzusichern, noch mehr, als wir es bisher gemeinsam in dieser Situation schon getan haben. Kein Krankenhaus soll wirtschaftlich einen Nachteil dadurch haben, dass es in dieser Pandemie mithilft, in diesem besonderen Monat und in dieser besonderen Phase.
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Mit diesem Gesetz, das wir jetzt beraten, bleiben die Mitsprache- und Entscheidungsrechte von Bundestag und Bundesrat gewahrt. Der Bundestag hat immer die Möglichkeit, die Rechtsverordnungen zu ändern oder den Verordnungen die Basis zu entziehen. Wenn das Parlament die epidemische Lage für beendet erklärt, enden auch alle Rechtsverordnungen automatisch.
Unsere gemeinsame Diskussion der letzten Tage hat hier bereits zu einem Ergebnis geführt, nämlich dem neuen § 28a im Infektionsschutzgesetz. Zur rechtlichen Klarstellung und Fundierung sollen die möglichen besonderen Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus beschrieben werden. Und es sollen Schwellenwerte bei den Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen festgelegt werden: als Messlatte zur Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und um zu regeln, ab wann bundesweit einheitliche Maßnahmen angeordnet werden sollen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Debatten hier im Parlament, auch die kritischen Anmerkungen. Genau diese Debatten zeichnen unsere Demokratie aus.
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– Finde ich auch, also dass das Parlament da ist, nicht dass Sie da sind.
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– Nein, ich meinte jetzt in dieser Debatte, weil ich zu oft erlebe, dass jedenfalls einige in Ihrer Fraktion – nicht die Kollegen im Gesundheitsausschuss; mit denen habe ich einen guten fachlichen Austausch – versuchen – dazu gehört im Zweifel auch die Zwischenruferin –, aus der Pandemie und der schwierigen Lage ein politisches Geschäft zu machen. Und das, finde ich, geht an dieser Stelle einfach nicht.
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Klar ist, diese Pandemie ist eine echte Mammutaufgabe. Der Höhepunkt dieser Pandemie, dieser Aufgabe ist wohl noch nicht erreicht. Niemand kann mit Gewissheit sagen, was die nächsten Monate bringen werden. Das verunsichert viele. Viele haben in den letzten neun Monaten Situationen erlebt, bei denen wir einander verzeihen mussten, ob im Beruflichen oder im Privaten. Wichtig ist es, kritisch zu sein, auch kontrovers und manchmal emotional; aber ich finde es genauso wichtig, dabei nicht zu verhärten oder unerbittlich zu werden. Corona ist für uns als Gesellschaft zu einem echten Charaktertest geworden. Ob wir ihn bestehen, liegt an uns allen.
Die Pandemie setzt unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen unter Druck. Die Pandemie hat an vielen Stellen aber auch unsere guten Eigenschaften hervorgehoben. Sie zeigt, was in uns steckt. Es gibt trotz aller Härten einen großen Zusammenhalt. Es gibt eine große Solidarität, gerade auch der Jüngeren gegenüber den Älteren. Es gibt viel Flexibilität, Kreativität und Besonnenheit. Und: Es gibt eine gute, konstruktive Zusammenarbeit hier im Parlament, zwischen Bund und Ländern, in den Gemeinden, Städten und Landkreisen.
Auf all das können wir stolz sein. Aus alldem können wir Zuversicht schöpfen. Wir wissen heute besser als im Frühjahr, wie es geht und was wirkt. Wir lernen jeden Tag etwas über dieses Virus und über den Umgang mit diesem Virus dazu. Wir sind dem Virus nicht machtlos ausgeliefert. Wir wissen: Wenn 80 Millionen mitmachen, die AHA-Formel anwenden, die App nutzen, regelmäßig lüften, dann können wir diesem Virus viel entgegensetzen.
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Wir geben aufeinander Acht; wir achten einander. Wir werden auch die kommenden Herausforderungen gemeinsam bestehen.
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Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Ja.
Herr Kollege.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie planen in diesem Gesetzesvorschlag unter anderem, dass Privatwohnungen kontrolliert werden können.
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– Ich will es gerne wiederholen: privater Wohnraum. Das steht da drin.
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Wie muss ich mir das vorstellen? Eine Familie mit Kindern, die Eltern sind abends eingeladen, die Kinder im Teenageralter laden ihre Freunde ein, vielleicht ein paar zu viel nach Ihren Vorstellungen, und der Nachbar – das haben wir ja heute überall; das Denunziantentum ist ja inzwischen weit verbreitet – ruft die Polizei und sagt: Da findet eine Party statt, bei der mehr als fünf Leute beieinandersitzen, familiär miteinander nicht verbunden. – Wie muss ich mir das vorstellen? Sollen dann die Ordnungshüter bei dieser Wohnung klingeln, sich Zutritt verschaffen und unter den Betten kontrollieren, ob sich da Jugendliche verstecken, in der Wohnung aufhalten oder nicht?
Herr Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, dass es dieses Phänomen auch heute schon gibt: Wenn es in der Nachbarwohnung zu laut ist und es zu Ruhestörungen kommt, kann sich jemand an die Ordnungsbehörden wenden. – Dafür gibt es schon heute klare Prozeduren, und daran ändert sich im Übrigen auch nichts.
Ich bin übrigens von einem fest überzeugt – deswegen sollten Sie die Debatte auch gar nicht in diese Richtung drehen –: Das, was notwendig ist in dieser Pandemie, damit wir gemeinsam gut durch diese schwierige Zeit kommen, werden wir am Ende nicht durch Zwang und Denunzieren erreichen, sondern dadurch, dass wir aufeinander aufpassen und aufeinander aufpassen wollen. Darum geht es doch vor allem in dieser Gesellschaft.
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Übrigens finde ich es im positiven Sinne sehr bemerkenswert, dass entgegen dem, was wir manchmal an Bildern sehen oder was manchmal verbreitet wird, eine ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sagt: Die Maßnahmen sind richtig. – Sie unterstützen sie, und sie leben sie in ihrem Alltag. Genau das ist es, was wir jetzt bei allen Schwierigkeiten – ich sage es noch einmal: es sind für viele echt harte und schwierige Zeiten – brauchen:
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dass die allermeisten sagen: Wir wollen aufeinander aufpassen. – Das bringt uns sicher durch diese Pandemie. Wenn Sie dabei mal mithelfen würden, dass es genau dieses Bewusstsein gibt, dann wäre es noch besser.
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Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg, AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Wesen einer Demokratie besteht auch darin, dass die Bürger bei Entscheidungen mitgenommen werden. Da haben wir so unsere Zweifel. Bekanntermaßen befasst sich zunehmend die Justiz mit Coronaschutzmaßnahmen, weil diese nicht auf gesetzliche Grundlage gestellt, sondern per Verordnung durchgesetzt wurden. Um dem zu begegnen, will die Koalition einen § 28a in das Infektionsschutzgesetz einfügen. Diese geplanten Ergänzungen durch § 28a widersprechen dem Gedanken von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, und sie verfestigen die Unzufriedenheit von Bürgern. Dieser Paragraf ermöglicht beispiellose Einschränkungen der persönlichen Freiheit, insbesondere kann die Verletzlichkeit des höchstpersönlichen Rückzugsortes, der Geborgenheit in der eigenen Wohnung – dies wurde eben angesprochen –, seelische Schäden, aber auch Widerstand hervorrufen.
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Weiterhin sind psychische Belastungen oder Erkrankungen infolge von Vereinsamung, Druck wegen Zwangsmaßnahmen wie auch Sorge um die beruflich-wirtschaftliche Existenz zu erwarten. Das Wirtschaftsleben wie auch der Gesundheitsschutz können nicht im Widerspruch – so scheint es uns manchmal – zueinander gesehen werden. Sie sind in einer funktionierenden staatlichen Gesellschaft beide unerlässlich und bedingen einander.
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Die diesjährigen Coronamaßnahmen haben schon große gesundheitliche Auswirkungen hervorgebracht. Dies gilt auch für den fehlenden Ausgleich wegen Einschränkungen beim Sport und im kulturellen Bereich.
Anstatt jetzt Einschränkungen von Grundrechten zu forcieren, wäre es vonnöten gewesen, dass die Regierung sich schon früher mit dem Problem Pflegebereich befasst hätte. Dieses Versäumnis wirkt sich jetzt deutlich aus.
Wohltuend und überraschend ist dagegen das gemeinsame Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft vom 28. Oktober 2020, in dem klar und verständlich die Situation fachlich dargestellt wird. Dahinter stehen mehr als 50 Unterzeichner, Fachverbände und Fachleute. Dieses Papier wurde auf Grundlage objektiver Einschätzung der Lage formuliert.
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Der Rückzug einiger Unterzeichner, meine Damen und Herren, kann auf gesellschaftspolitischen Druck zurückgeführt werden, der mittlerweile Formen angenommen hat, die eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig sind.
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In der Erklärung werden Maßnahmen, die Sie den Bürgern als Allheilmittel verordnen, als nicht zielführend betrachtet, so zum Beispiel die Kontaktverfolgung. Hierbei auch die Forderung, auf Einsicht statt auf Verbote zu setzen. Dies erzielt Akzeptanz, meine Damen und Herren.
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Das Prinzip des ärztlichen Handelns sei es, schwere Verläufe zu mindern, aber neue Schäden nicht entstehen zu lassen, so dieses Papier.
Unser Antrag „Eigenverantwortung statt Verbote und Zwänge – Gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kollaps verhindern, Kollateralschäden vermeiden“ erhebt die Forderung, den Blick auf den Schutz der Personen zu richten, die wirklich gefährdet sind. Ich wurde hier ja schon mal als Menschenfeind verunglimpft, weil ich dies gefordert habe. Jetzt ist es komischerweise üblich, es zu fordern, meine Damen und Herren.
Das heißt im Umkehrschluss: Wir können nicht ein ganzes Land in den Ruin treiben, sondern wir müssen uns auf die Leute konzentrieren, die wirklich gefährdet sind. Stattdessen werden Einrichtungen mit ausgeklügelten Hygienekonzepten per Verordnung ohne logische Begründung zum Schließen verurteilt wie auch gastronomische Einrichtungen, die nicht einmal im Freien arbeiten dürfen.
Absurd ist auch, das Tragen von Masken unter freiem Himmel vorzuschreiben. Meine Damen und Herren, das ist völlig aberwitzig; das kann man nicht anders sagen.
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Wir fordern in unserem Antrag Maßnahmen wie Schnelltests für Besucher in Alteneinrichtungen, Unterstützung gefährdeter Personen, Einführung eines bundesweiten Ampelsystems, kein Zurückstellen von lebenswichtigen Operationen, um Bettenkapazitäten vorhalten zu können.
Die von Covid-19 ausgehende Gesundheitsgefahr ist offenkundig nicht größer als die von anderen Virenerkrankungen. Die weitere deutschland- und weltweite Ausbreitung des Virus ist nicht zu verhindern. Die Wirkung des Lockdowns mit den dadurch verursachten Schäden bezüglich Rechtsstaatlichkeit, Gesundheitsversorgung und Wirtschaftsleben steht dazu in keinem zu rechtfertigenden Verhältnis, meine Damen und Herren.
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Angst ist ein schlechter Ratgeber, so zum Beispiel Professor Streeck zu den schockierenden Bildern, die die Medien uns anfänglich zeigten. Das Virus ist gefährlich für wenige, so wie andere Viruserkrankungen auch. Auch widerspricht Streeck zum Beispiel der Annahme deutlich, es gebe einen fortlaufenden exponentiellen Anstieg bei den Infektionszahlen; dies sei eine wissenschaftlich nicht haltbare Behauptung, die allerdings oft wiederholt wird.
Wir, meine Damen und Herren, durchlaufen keine schwere Krise durch das neue Virus, –
Herr Kollege.
– sondern durch die unverhältnismäßigen politischen Maßnahmen dagegen.
Recht vielen Dank.
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Herr Kollege Spangenberg, bitte denken Sie daran, auch auf dem Weg vom Pult zurück zum Platz die Mund-Nase-Bedeckung zu benutzen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Bas, SPD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, die aktuelle Zahl der Infektionen – mehr als 21 000 – ist ein absolut entscheidender Wert
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und zeigt, dass Handlungsbedarf gegeben war.
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Dass er dringend gegeben war und wir jetzt handeln mussten, sagt diese Zahl, glaube ich, auch. Wir können froh sein, dass viele Erkrankungen einen milden Verlauf nehmen. Aber dass es eben auch schwere Verläufe gibt, das kann selbst eine AfD-Fraktion nicht ignorieren. Wenn sie darauf pocht, dass das Gesundheitswesen eben nicht kollabieren darf, dann muss man jetzt auch Maßnahmen ergreifen, damit die Zahlen wieder nachzuverfolgen sind.
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Anders geht es nicht, und das kann man nicht ignorieren.
Man kann sich über die Maßnahmen streiten – das tun alle – und sich durchaus mit einzelnen Maßnahmen auseinandersetzen. Auf der einen Seite gibt es die, die sagen: „Es ist noch viel zu wenig, was wir jetzt machen“, weil sie Angst davor haben, dass die Zahlen weiter steigen. Auf der anderen Seite gibt es viele, die sagen: Das ist alles unnütz; das brauchen wir nicht. Es reicht, wenn wir ein paar Präventionskonzepte haben. – Dabei beziehen Sie sich auf ein Gutachten, liebe Kollegen der AfD, und instrumentalisieren dieses. Einige Verbände distanzieren sich mittlerweile schon vom Gutachten dieser Ärzte. Dass darin keine Lösung steht, sieht man, wenn man einmal mit klugen Augen auf dieses Konzept schaut.
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– Bei Ihnen ist das nicht der Fall.
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Es wird keine Lösung zur aktuellen Situation angeboten, und selbst der Kollege der KBV, Gassen, muss zugeben, dass er im Moment kein Konzept hat, die Zahlen zu senken.
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Sein Konzept – das gilt auch für die Konzepte von Streeck und anderen – wirkt erst, wenn wir die Zahlen wieder im Griff haben. Erst dann können wir mit präventiven Maßnahmen weiter vorgehen. Ich sehe es übrigens auch so, dass das zwingend erforderlich ist.
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Sie zitieren einerseits ein Gutachten von angesehenen Medizinern und verklagen andererseits den Bundestag, weil Sie die Maske nicht tragen wollen.
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Übrigens steht in diesen Konzepten auch, dass Masken zu tragen sind; die AHA-Regeln werden da propagiert. Sie aber stellen sich hierhin und sagen, Sie wollen Schutzkonzepte für den Pflegedienst, und tragen zum Schutz von uns allen hier selber nicht mal eine Maske.
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Das ist Instrumentalisieren, und wenn ich Wissenschaftler wäre, würde ich mich schämen, dass Sie diese Konzepte als Kronzeugen für Ihre kruden Thesen benutzen. Dann gibt es auch noch Leute bei Ihnen, die die Pandemie komplett leugnen. Da sind Sie ein bisschen gespalten und auch schizophren. Ich frage mich: Was wollen Sie denn jetzt? Wollen Sie Schutzkonzepte, oder gibt es die Pandemie gar nicht? Sie müssen sich mal einigen, was Sie wollen.
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Die Lage ist ernst; das steht auf jeden Fall fest. Deshalb bin ich froh, dass sich so viele, insbesondere auch in den Ländern, dafür entschieden haben, bundesweit einheitlich zu handeln. Das ist ein wichtiger Schritt, und wir haben auch als Parlamentarierinnen und Parlamentarier lange angemahnt, diesen zu gehen.
Ich finde es wichtig, dass wir Kitas und Schulen geöffnet lassen. Ich sage aber auch – das habe ich hier an diesem Pult schon in einem anderen Zusammenhang gesagt –, dass das natürlich nicht geht: Schulen wie zum Beispiel in Solingen entwickeln weitere Konzepte, und die werden dann von der Landesregierung und leider einer FDP-Kultusministerin verboten.
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Wenn es um Schutzkonzepte geht, wenn man Teilunterricht möglich machen will, wenn man digital arbeiten will und das am Ende aufgrund einer komischen Begründung nicht umgesetzt werden kann, das finde ich schon skandalös.
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Wir sollten uns alle stärker dafür einsetzen, präventive Konzepte durchzusetzen.
Dass man um einzelne Maßnahmen streiten kann, sehe ich auch so. Die Bereiche Gastronomie, Kultur und Veranstaltungen sind schon seit Beginn dieser Pandemie in Schwierigkeiten.
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Entscheidend ist aber, dass wir die Zahl der Kontakte insgesamt reduzieren. Selbst wenn wir uns darauf einigen, weitere Bereiche offen zu lassen, muss uns bewusst sein, dass wir damit weitere Kontakte ermöglichen und dadurch weitere Infektionen möglich sind; das können wir nicht ausschließen. Deshalb ist dies eine politische Abwägung. Ich bin Olaf Scholz und dem Rest der Bundesregierung dankbar, dass wir mit 10 Milliarden Euro genau diese Branchen zielgerichtet und schnell unterstützen. Das ist wichtig, und das brauchen die auch. Das muss jetzt schnell umgesetzt werden.
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Ein paar Worte noch zur Beteiligung der Parlamente und zur Rechtssicherheit; mein Kollege Dirk Wiese wird gleich noch genauer darauf eingehen. Nachdem wir in den Debatten der letzten Tage darauf gedrängt haben und nachdem die Gerichte ihre ersten Urteile dazu verfasst haben, bin ich sehr froh, dass unser Koalitionspartner auch zu dem Schluss gekommen ist, dass die Abwägung zwischen dem Eingriff in Freiheitsrechte und dem Gesundheitsschutz besser erklärt werden muss. Es ist für uns alle gut, wenn wir auch mit den Bürgerinnen und Bürgern draußen in die Diskussion gehen.
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– Dass wir hier im Bundestag schon sehr oft über das Thema gesprochen haben, stimmt.
Auf der einen Seite ist es wichtig, dass die Länder die Sicherheit von uns hier bekommen und wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass sie trotz Infektionsgeschehen, das unterschiedlich sein kann, noch einen Spielraum haben; das sage ich als Gesundheitspolitikerin. Aber auf der anderen Seite müssen wir es so rechtssicher gestalten, dass uns die Maßnahmen, die wir – hoffentlich in überwiegender Zahl – für dringend notwendig halten, nicht am Ende um die Ohren fliegen.
Ich bin dankbar, dass jetzt Bewegung in die Sache gekommen ist und wir einen § 28a in das Gesetz einfügen. Das entbindet uns aber nicht von der Pflicht, noch weiterzudenken, und zwar in Richtung einer Novelle des Infektionsschutzgesetzes insgesamt. Es muss auch darum gehen – den Rest wird sicherlich mein Kollege noch ausführen –, wie wir bestimmte Dinge mit einer Parlamentsbeteiligung regeln, ob in einem Ausschuss oder in einem Pandemierat. Ich denke, da muss Gesprächsbereitschaft da sein.
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Das sollten wir im Rahmen der weiteren Debatte und im Verlauf des Verfahrens angehen; heute ist ja die erste Lesung. Wir haben durchaus noch Möglichkeiten, uns auszutauschen.
Es ist für uns alle gut, glaube ich, dass die Parlamentsbeteiligung – wir hier im Bundestag haben viel über die Pandemie diskutiert; aber viele Länderparlamente haben das nicht getan – insgesamt ein bisschen gestärkt wird. Das schadet uns allen nicht. Insofern lautet mein Appell: Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das neben den Maßnahmen, die wir bisher ergriffen haben, noch ein Stück besser machen!
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dieser Woche gelten wieder empfindliche Einschränkungen der Freiheit. Die Wirksamkeit und die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen sehen wir mit Skepsis, beispielsweise die Schließung gastronomischer Betriebe, die über Hygienekonzepte verfügen, die Schließung von Sport- und Freizeiteinrichtungen pauschal, die Schließung von kulturellen Einrichtungen. Aber wir hoffen, dass diese Maßnahmen wenigstens das Ziel insgesamt erreichen: die Eindämmung der Infektionszahlen.
Offen ist aber unverändert, wie es langfristig weitergehen soll. Offen ist, ob uns nicht ein Jo-Jo-Effekt droht, eine Abfolge drastischer Einschränkungen, die wirksam sind, aber nach denen wir, unmittelbar nach ihrer Aufhebung, wieder zum ursprünglichen Zustand zurückkehren.
Eines ist dagegen inzwischen klar: Die Rechtsgrundlagen für die getroffenen Maßnahmen sind wackelig und bedürfen dringend der gesetzlichen Ordnung. Deshalb diskutieren wir heute den vorliegenden Gesetzentwurf und insbesondere einen neuen § 28a im Infektionsschutzgesetz.
Vorweg: Wir als Fraktion halten einige der festgehaltenen Maßnahmen für richtig. Mehr Testmöglichkeiten zum Beispiel sind elementar für den Weg aus dem Lockdown; denn sie bieten die Möglichkeit, Infektionsketten zu durchbrechen und Sicherheit zu geben. Es ist fraglos auch empfehlenswert, die Meldung der Neuinfektionen zu digitalisieren.
Aber Sie zwingen uns durch die unnötige Verlängerung und teilweise sogar Ausweitung der Verordnungsermächtigungen, das alles in eine Klammer zu ziehen. Es gibt keinen Grund, warum wir über ein halbes Jahr nach der Feststellung der epidemischen Lage immer noch im Notfallmodus an der momentanen Verordnungspraxis festhalten und diese hier zum Teil sogar entfristen sollen.
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Seit Wochen gibt es Kritik an der fehlenden Parlamentsbeteiligung und Zweifel an den Rechtsgrundlagen, insbesondere für die Verordnungen der Landesregierungen. Stimmen aus allen Fraktionen, der Herr Bundestagspräsident, Wissenschaftler, Gerichte: Alle äußern Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen. Diese Bedenken wurden vergangene Woche noch mit dezibelstarken Argumenten vom Tisch gefegt. Meine Vorgänger würden sich für uns schämen.
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Kaum eine Woche später kommen Ihnen dann offenbar doch Bedenken, und Sie legen einen Gesetzentwurf vor. Es ist aber eine Überraschung, dass er nicht etwa zum Ziel hat, das Parlament an der Diskussion um geeignete Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu beteiligen. Nein! Sie legen ein rechtspolitisches Feigenblatt vor, um bereits getroffene Entscheidungen nachträglich zu legitimieren. Das geht hart an die Grenze der Missachtung des Parlaments.
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Wir begrüßen deshalb die Initiative der SPD-Fraktion zur Stärkung des Parlaments. Leider findet sich davon so gut wie nichts in diesem Gesetzentwurf wieder. Wenn Sie dem Gesetz zustimmen, dann wird Ihr Vorstoß, der gerade wenige Tage alt ist, zur Makulatur.
Übrigens: In diesem Zusammenhang irritieren mich manche Äußerungen aus der Fraktion der CDU/CSU, wir wollten Maßnahmen aufheben. Ähnlich hat sich eine Stimme aus der SPD-Fraktion dieser Tage geäußert. Das ist schlicht wahrheitswidrig. Es geht nicht darum, Maßnahmen des Gesundheitsschutzes pauschal aufzuheben. Im Gegenteil: Wir haben bereits mehrfach Vorschläge eingebracht, wie wir die Infektionsschutzmaßnahmen auf eine gesetzliche Grundlage stellen können. Aber die epidemische Lage von nationaler Tragweite gibt Kompetenzen an die Regierung, die sie nicht mehr braucht, und diese sollte sich das Parlament zurückholen. Und genau darum geht es.
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Dazu brauchen wir unter anderem eine Befristung der epidemischen Lage, damit der Bundestag die Lage regelmäßig neu bewerten kann. Es braucht parlamentarische Erlassvorbehalte, eine Unterrichtungspflicht der Bundesregierung. Der vorliegende Gesetzentwurf liefert dazu leider nichts.
Und er verfehlt zudem deutlich sein Ziel, Rechtssicherheit für die getroffenen Maßnahmen zu schaffen. Es gibt eine breite Aufzählung von Freiheitseinschränkungen; aber es wird nicht klar, welche Maßnahme welche Wirkung hat. Der § 28a unterscheidet zudem zwischen „einfachen“, „stark einschränkenden“ und „schwerwiegenden Schutzmaßnahmen“. Aber an keiner Stelle wird definiert, welche Maßnahme zu welcher Kategorie gehört. Das ist schon handwerklich schlecht gemacht.
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Es ist für niemanden, weder die Verwaltung noch die Bürgerinnen und Bürger, erkennbar, in welcher Lage genau was passieren soll. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird nicht beachtet. Anders gesagt: Das schafft keine Rechtssicherheit.
Bundesminister Spahn sagt, es gebe auch andere Indikatoren, um die Situation einzuschätzen. Sie erwähnen als Voraussetzungen für Maßnahmen, Herr Minister, aber allein die Inzidenzzahlen, anders, als Sie es hier eben dargestellt haben. Weitere Indikatoren – wer ist gefährdet? wie ist die Auslastung des Gesundheitssystems? welches Ausbruchsgeschehen gibt es? – kommen gar nicht vor.
Erinnern wir uns: Die Zahl von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner ist nicht aus epidemiologischer Sicht entstanden; es ist eine rein politische Setzung, die sich orientiert an der Personalausstattung der Gesundheitsämter. Anders gesagt: Statten wir die Gesundheitsämter besser aus, müsste auch eine andere Zahl von Inzidenz zur Grundlage genommen werden.
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– Wir sind immer für einen starken Staat da, wo wir ihn brauchen; aber überflüssigen Bürokratismus gibt es mit uns nicht.
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– Ja, lachen Sie nur; die SPD kann ja lachen. Es geht um Freiheitseinschränkungen für die Menschen und Verfassungsfragen.
Der Schwellenwert von 50 ist im Übrigen recht schnell erreicht; das haben wir gesehen. Damit könnten auch schwerwiegendste Maßnahmen ausgelöst werden.
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Die Frage der Verhältnismäßigkeit wollen Sie hier quasi als Gesetzgeber vorwegnehmen. Das ist ein Freifahrtschein für Grundrechtseingriffe und Freiheitseinschränkungen, den Sie hier ausstellen wollen.
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Auch damit schaffen Sie keine Rechtssicherheit. Dieser Gesetzentwurf ist deshalb in diesen Punkten eine Enttäuschung.
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Susanne Ferschl, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Wir brauchen mehr demokratische Kontrolle, gerade in einer Pandemie, die wir zweifelsfrei haben. Die Situation im März hat kurzfristige, einschneidende Maßnahmen nötig gemacht. Es ist eben keine Grippewelle, wie die AfD ständig behauptet.
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Jetzt, acht Monate später, wird wieder massiv in Grund- und Freiheitsrechte eingegriffen, und zwar ohne Beteiligung der Parlamente, ohne erkennbare Strategie und ohne eine Überprüfung der Wirksamkeit und der Auswirkungen der Maßnahmen, und das geht so nicht weiter.
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Seit Monaten erleben wir mehrere Akte eines absurden Theaters, aufgeführt von Kanzlerin und Ministerpräsidenten mit den Parlamenten als Zuschauern. Zuerst gab es einen Wettlauf: „Wer schränkt am schnellsten ein?“, danach: „Wer lockert am schnellsten?“, das alles vor der Kulisse: „Wer wird neuer Kanzlerkandidat der Union?“ Und Onkel Söder erzählt uns jetzt, wenn wir alle schön brav sind, dann dürfen wir vielleicht Weihnachten feiern. So schwindet die Akzeptanz der Bevölkerung, die wir dringend brauchen, meine Damen und Herren.
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Liebe Bundesregierung, gut, dass Sie unserem Antrag folgen und die Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz konkretisieren. Aber für mehr Akzeptanz sind weitere Schritte nötig.
Erstens. Maßnahmen, die in Grund- und Freiheitsrechte eingreifen, müssen demokratisch legitimiert sein, und die Debatten dazu, die gehören in die Parlamente.
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Zweitens. Es braucht transparente, nachvollziehbare Strategien, bei welcher epidemischen Entwicklung wie vorgegangen wird. Und zu einer starken Strategie gehört im Übrigen auch – ich muss ja wirklich schmunzeln, dass die FDP nach so langer Zeit endlich den starken Staat entdeckt hat –
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eine andere politische Weichenstellung, nämlich Maßnahmen gegen den Pflegenotstand und den Lehrermangel, Belüftungsanlagen für Schulen, ein Konzept für den öffentlichen Nahverkehr usw.
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Es ist doch absurd: Die Menschen haben zwar die Pflicht zum Abstandhalten; aber sie haben kein Recht darauf – zum Beispiel in überfüllten Bussen und Bahnen, in zu kleinen Klassenzimmern, in denen zum Teil nicht mal die Fenster aufgehen. Und es ist skandalös, dass Intensivbetten wegen Personalmangels nicht betreut werden können. Gehen Sie doch diese Probleme endlich an.
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Drittens brauchen wir den politischen Streit über die Verhältnismäßigkeit. Die Union ist hier raus mit ihrer Blockade beim Arbeitsschutzkontrollgesetz. Aber ansonsten gehören die Maßnahmen abgewogen. Was ist in welcher Situation schlimmer: Existenzangst, Einsamkeit oder Infektionsgefahr?
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Und darüber muss hier im Parlament unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten gerungen werden, und zwar nicht nur ausschließlich mit Virologen.
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Die Krise ist nicht die Stunde der Exekutive. Sie ist die Stunde der Parlamente; denn sie sind die Herzkammer der Demokratie.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe, dass Sie, die Kollegen von der AfD, hier sichtbar das Grundgesetz aufgebaut haben. Ich würde Ihnen empfehlen: Gucken Sie mal öfter da rein; das bringt mehr.
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Als Gesundheitsdezernentin von Frankfurt am Main habe ich in meinem Leben mehr Erfahrung in der Eindämmung von Infektionskrankheiten gesammelt, als ich mir gewünscht habe: von Lassafieber bis zur H5N1-Vogelgrippe. Die Pandemie jetzt ist etwas völlig anderes. Aber ich weiß noch aus der Zeit: Es kommt auf eines an – auf schnelle Reaktion.
Am Mittwoch vergangener Woche haben die Ministerpräsidenten schnell auf steigende Zahlen reagiert und sich auf neue Beschränkungen verständigt. Und ich weiß, dass den überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gesundheitsämtern bundesweit in dem Moment ein Stein vom Herzen gefallen ist.
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Auch wir ziehen die Erforderlichkeit der drastischen Reduktion weiterer Kontakte in diesem Moment überhaupt nicht in Zweifel.
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Schnell waren die Ministerpräsidenten, aber zu langsam war die Koalition. Seit Langem prognostizieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese zweite Welle. Wir wissen, sie wird weitere Einschränkungen bedeuten. Seit Langem weisen Verfassungsrechtler, weisen auch wir darauf hin, dass die Verordnungsermächtigungen im Infektionsschutzgesetz nicht ausreichen, um die dann erforderlichen Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen.
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Jetzt zieht auch die Ausrede nicht mehr, dass noch keine Zeit war oder dass wir nicht genug über Covid-19 wissen.
Wenn es um die Bekämpfung der Pandemie geht, dann ist bei der Koalition hier immer viel von Gemeinsamkeit die Rede. Wir halten sie auch für den richtigen Weg. Deswegen haben wir Ihnen in den letzten Monaten immer wieder die Hand gereicht. Aber es wurden von Ihnen zig Chancen verpasst, eine solide gesetzliche Grundlage zu schaffen, auf der wir jetzt die zweite Welle brechen können.
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Unsere Anträge zu Anhörungen im Rechtsausschuss zu den Bevölkerungsschutzgesetzen: abgelehnt. Die Einwände von Verfassungsrechtlern bei den Anhörungen im Gesundheitsausschuss: überhört. Die zahlreichen kritischen Veröffentlichungen: nicht gelesen.
Noch letzten Freitag haben Bundesjustizministerin Lambrecht und Bundesinnenminister Horst Seehofer brieflich die Verantwortung für die Gerichtsfestigkeit an die Länder abgeschoben. In ihrem Schreiben an die Damen und Herren Ministerpräsidenten heißt es – ich zitiere –: „Eine abschließende verfassungsrechtliche Bewertung der einzelnen Maßnahmen wird daher von der konkreten Ausgestaltung in den jeweiligen Verordnungen der Länder abhängen.“ Ein erster Warnschuss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der deutlich gesagt hat: „Im Bund ist die Lösung zu finden“, war nun wirklich nicht mehr zu überhören.
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Über Nacht wurde dann in den Ministerien – ich frage mich eigentlich, in welchem; ich glaube, es war nicht Ihres, Herr Spahn, ich weiß es aber nicht genau – eine der berüchtigten Formulierungshilfen zusammengestoppelt. Diesem Vorschlag merkt man leider an, dass er offenbar auf gar keine Vorarbeiten zurückgreifen konnte. – Schaun wir mal, dann sehn wir’s schon.
Es wird auch keine Ermächtigungsgrundlage daraus, wenn man sie ins Bundesgesetzblatt schreibt. Damit kommen Sie nie und nimmer durch die nächsten Monate. Es reicht nicht, dass denkbare Maßnahmen im Gesetz erwähnt werden. Ihr Zweck, ihre Voraussetzungen und ihre Grenzen müssen definiert werden.
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Es reicht nicht, einfach zu regeln, dass beim Überschreiten bestimmter Inzidenzschwellen „einfache“, „stark einschränkende“ und „schwerwiegende“ Schutzmaßnahmen in Betracht kommen. Das wird alles nicht reichen.
FDP und Linke hoffen ja in ihren heutigen Anträgen noch auf die Bundesregierung. Wir waren schon länger skeptisch. Wir schlagen vor, dass das Parlament ab heute die Sache in die Hand nimmt. Wir reichen Ihnen mit unserem Antrag heute wieder die Hand für eine gemeinsame, eine bessere Lösung. Wir brauchen eine für Gerichte nachvollziehbare gesetzliche Verknüpfung zwischen Infektionsgeschehen und Rechtsfolgen.
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Wir brauchen den direkten, dauerhaften Zugang des Parlaments zu wissenschaftlicher Expertise und zu Informationen der Bundesregierung, um die Entwicklung parlamentarisch angemessen begleiten zu können, etwa in einem interdisziplinär besetzten Pandemierat.
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Wir brauchen auch die Debatte hier im Parlament darüber, welche Indikatoren für die Bewertung des Infektionsgeschehens die richtigen sind.
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Wir können Regelungen schaffen, die hinreichend bestimmt, gerichtsfest und flexibel für schnelles Nachsteuern sind, wenn es erforderlich ist; davon bin ich überzeugt.
Frau Kollegin, der Kollege Hampel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte aber keine Zwischenfrage von Herrn Hampel hören. – In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wurde die Frage gestellt: Tut sich der Bundestag wirklich einen Gefallen, wenn er sich damit beschäftigt? – Ich finde, wir wären allesamt falsch hier im Bundestag, wenn wir uns danach richten würden, womit wir uns einen Gefallen tun,
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und wenn wir der Auseinandersetzung um schwerwiegende Fragen ausweichen würden. Wir sind dafür gewählt, unsere Rolle als Gesetzgeber auszufüllen, und dafür, den Zweck, die wesentlichen Voraussetzungen und die Bedingungen für erhebliche Eingriffe in die Grundfreiheiten zu wägen und festzulegen. Natürlich wird es streitige Debatten hier geben. Die gibt es doch auch jetzt schon. Die gibt es in den Talkshows, die gibt es im Internet, die gibt es in der Presse. Aber hier werden die demokratisch gewählten Abgeordneten am Ende entscheiden, und das wird uns allen nützen.
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Das ist doch eigentlich eine ganz gute Sache. Es geht hier um eine Gesetzgebung zur besseren Beteiligung des Parlaments. Ich bin sicher, dass wir alle zeigen können, dass es wirklich besser ist, das Parlament zu beteiligen, und zwar genau bei diesem Gesetz.
Danke.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Noch im Sommer waren für viele – da nehme ich mich gar nicht aus – die Statistiken, die da täglich zu Corona veröffentlicht wurden, sehr abstrakt. Inzwischen sind wir in einer Situation, wo jeder von uns Betroffene mit langanhaltendem Geschmacksverlust kennt, mit der Problematik, in einer intensivmedizinischen Behandlung zu stecken, oder welche, die wie beispielsweise der Vater einer Mitarbeiterin von mir ohne Vorerkrankungen an dieser schlimmen Krankheit verstorben sind.
Nun kann man an der Stelle tatsächlich diskutieren: Ist das so schlimm? Passiert das nicht eben? Ist das nicht einfach Lebensrealität? Aber, meine Damen und Herren, der Maßstab unserer Gesundheitspolitik in Deutschland ist schon immer gewesen, dass wir keine Triage im Sinne von Rationierung wollen, dass wir nicht wollen, dass man als Arzt entscheiden muss, wer weiterleben darf und wer sterben muss. Und das ist eigentlich das Ziel, das hinter unseren Maßnahmen steckt. Denn wenn Sie sich anschauen, mit welcher Dynamik die Zahl der intensivmedizinisch beatmeten Menschen tatsächlich anwächst, dann wissen Sie, wie groß der Handlungsdruck an der Stelle ist. Die Menschen, meine Damen und Herren, die da betroffen sind, wundern sich über unsere juristische Diskussion an der Stelle.
Herr Kollege Nüßlein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert?
Gern.
Herr Kollege.
Sie haben gerade gesagt, dass es darum geht, dass man eine Überlastung der Krankenhäuser verhindern möchte. Jetzt haben Sie aber hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der ohne Definition von irgendwelchen Voraussetzungen, irgendwelchen Belastungen der Krankenhäuser oder sonst was völlig willkürlich letztlich die Regierung ermächtigen soll, massive Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen.
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Wir haben bis heute im Land flächendeckend keinerlei Obduktionen von Coronapatienten. Warum beschaffen Sie denn nicht erst mal die ganzen Informationen und schreiben konkrete Voraussetzungen hinein?
Wir haben momentan nur einen kleinen Prozentsatz der Intensivstationen mit Coronapatienten belegt. Wir wissen nicht mal, wie viele von denen, die unter Corona laufen, tatsächlich wegen Corona dort liegen oder ob die Leute auf den Intensivstationen liegen, weil sie wegen einer anderen Krankheit dort liegen und nur coronapositiv getestet sind; denn alle, die in irgendeiner Weise coronapositiv getestet werden, werden dort erfasst. Genauso läuft jeder, der coronapositiv erfasst wurde und stirbt, als Coronatoter, auch wenn er an einer anderen Krankheit stirbt.
Warum sorgen Sie nicht dafür, dass wir endlich mal Informationen und Aufklärung bekommen, was eigentlich die Grundlage unserer Arbeit als Parlament ist?
Herr Kollege.
Warum sagen Sie nicht: „Wir haben hier eine Information, und auf dieser Basis können wir Entscheidungen treffen“?
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Also, das verstehe ich jetzt nun beim allerbesten Willen nicht: Als ob es darauf ankäme, ob man nur wegen oder auch wegen Corona auf der Intensivstation liegt!
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Entscheidend ist doch, dass am Schluss tatsächlich diese Plätze genau für diese Menschen gebraucht werden. Sie können doch nachvollziehen, wie diese Zahl steigt: Wir hatten im April dieses Jahres 2 850 Coronapatienten intensivmedizinisch behandelt. Wir hatten am 1. Oktober 362 Coronapatienten, die intensivmedizinisch behandelt wurden; jetzt, am 5. November, waren es 2 653 Coronapatienten. Das ist die Zahl, nach der Sie suchen. Die können Sie nachlesen, die finden Sie raus.
({1})
Das hat der Minister richtig gesagt: Wenn das mit der Dynamik so weitergeht, dann sind das in zwei Wochen doppelt und dreifach so viele. Dann sind wir irgendwann an dem Punkt, wo Sie entscheiden müssen, wen Sie weiterbehandeln und wen Sie nicht weiterbehandeln, und das müssten Sie dann vertreten. Dafür sind Sie offenkundig, weil Sie sagen: Lassen Sie es laufen, schauen wir mal, was passiert; das wird schon irgendwie gut gehen. – Nur geht das offenkundig nicht gut.
({2})
Die Zahlen sind doch da, meine Damen und Herren. Es ist doch nicht so, dass das eine Erfindung von der Mehrheit des Parlaments und übrigens auch von der Mehrheit der Menschen, die das Ganze mittragen, ist. Das ist doch nicht wahr. Sie sehen doch, wie ansteckend das Virus ist. Ich habe vorhin versucht, Ihnen klarzumachen, dass es auch eine persönliche Betroffenheit gibt. Sie müssen es doch auch erleben. Stirbt in Ihrem Umfeld niemand? Ist da niemand schwer krank? Liegt niemand aus Ihrem Umfeld auf der Intensivstation?
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– Vielleicht kennen Sie zu wenige Leute und sind zu weit weg von den Bürgern; das kann sein.
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Die Krux ist aber, dass Sie es nicht sehen wollen. Ihre Idee ist offenkundig: Sie wollen diejenigen, die sich für unverwundbar halten und sagen: „Wir sind nur ökonomisch beschwert“, einsammeln, weil es für eine kleine Partei wie Ihre nur darum geht, ein paar Prozentpunkte hinzuzugewinnen; darum geht es Ihnen. Wir müssen jedoch Politik in der Breite für die Menschen machen.
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Die Volksparteien müssen genau das vertreten und dafür sorgen, dass es den Menschen in der Breite gut geht, und dürfen nicht nur versuchen, Abtrünnige einzusammeln; das ist der Punkt. Sie brauchen auch nicht so zu tun, als ob Sie für bestimmte Leute da wären. Wir kümmern uns genauso gut um diejenigen, die sich hier beschweren.
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Wir haben uns hier darauf verständigt, nicht zu tief in die Wirtschaft einzugreifen.
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Wir haben uns des Weiteren darauf verständigt, die Schulen und die Kinderbetreuung offenzuhalten. Also müssen wir am Schluss in den Freizeitbereich eingreifen. Auch dort gibt es natürlich relevante Wirtschaftsunternehmen. Diese werden gestützt und finanziert; das werden Sie sehen. Aber dazu kommt von Ihnen kein Wort.
Im Übrigen werden die Entscheidungen nicht nur hier getroffen. Vielmehr entscheiden die Menschen auch selber. Schauen Sie es sich an: Schon bevor wir Maßnahmen ergriffen haben, waren die Gaststätten leer. Die Debatte, die Sie über die Parlamentsbeteiligung führen, ist eine Scheindebatte, in der Sie eigentlich nur zugeben, dass die Opposition in der jetzigen Situation nicht so gefragt ist, wie Sie es gern hätten; das ist doch der Punkt.
Um noch zu Herrn Lindner zu kommen. Wir bessern mit § 28a des Infektionsschutzgesetzes nicht etwa nach. Wir rechtfertigen nichts im Nachhinein, überhaupt nicht. Das tun wir an dieser Stelle nicht. Vielmehr sehen wir ganz klar, dass mit dem Fortschreiten der Pandemie, der langen Dauer und der Verschärfung der Situation die Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt wachsen. Das ist übrigens der Leitsatz des Gerichtsurteils, das Sie zitiert haben. Und deshalb bessern wir nicht nach, sondern sorgen dafür, dass wir auch in Zukunft, selbst wenn die Pandemie leider länger dauern sollte, als wir uns alle das wünschen, eine Grundlage haben.
Herr Kollege Nüßlein, der Kollege Hampel würde auch noch gerne eine Zwischenfrage stellen.
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Noch eine von der AfD? – Ich weiß ja, dass Sie für Facebook Vorlagen brauchen.
Lassen Sie es zu?
Mache ich, ja.
Herr Kollege Hampel.
Danke schön, Herr Präsident. Danke schön, Herr Kollege, dass ich Ihnen die Frage stellen darf. – Sie haben es ja selber angesprochen, und es ist ja Tenor hier im Hause: Es ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte der Bürger in diesem Land. Sie ruinieren ganze Wirtschaftszweige: Tourismus, Gastronomie, Hotellerie etc. Jetzt komme ich zu einem Punkt, der etwas beinhaltet, was von Anfang an in unserem Land und anderswo im Grunde genommen nie infrage gestellt wurde. Schon nach den chinesischen Erkenntnissen war erkennbar, dass 85 Prozent der Infizierten von dieser Krankheit entweder leicht betroffen waren oder gar keine Symptome hatten. Das wurde nie bestritten; das wurde auch nie angezweifelt. Wir wissen, dass 15 Prozent schwer erkranken und teilweise auch an Leib und Leben gefährdet sind. Wir wissen auch, wer das ist: die alten Menschen und die Vorerkrankten.
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Jetzt erklären Sie mir: Muss es nicht Aufgabe einer Bundesregierung sein, als Allererstes genau auf diese Gruppe zu fokussieren und die Pflege- und Altenheime – und zwar professionell – sicher zu machen mit geschütztem Personal etc. und die Vorerkrankten über die Krankenkassen entsprechend zu informieren? Ist nicht das die Methode, an die wirklich gefährdeten Personen in diesem Lande heranzugehen, bevor ich zum zweiten Mal das ganze Land in der Wirtschaft auf null schalte und ungeheuren Schaden anrichte?
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Herr Kollege Hampel, Ihre Frage ist klar geworden. Der Kollege Dr. Nüßlein wird sie jetzt beantworten.
Danke schön, Herr Präsident.
Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie bemerkenswerterweise die Zahlen kennen.
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Das ist ja schon mal spannend und gut zu wissen. Bei der nächsten Gelegenheit werden Sie es sicherlich wieder bestreiten. Das ist das Erste.
Das Zweite ist: Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an, und machen Sie es nicht ganz so abstrakt. Wie viele Menschen in Deutschland sind über 60 Jahre alt? 30 Prozent. Dann nehmen Sie noch die dazu, die irgendwelche Vorerkrankungen haben. Allein an Diabetes leiden 9 Millionen bis 10 Millionen Menschen hier im Land. Es gibt sicherlich eine gewisse Schnittmenge. Aber nehmen Sie da mal noch etliche dazu. Dann sind Sie am Schluss relativ schnell bei über 40 Prozent der Menschen, die massiv gefährdet sind.
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Dann multiplizieren Sie die 40 Prozent mit Ihren 15 Prozent; dann kommen Sie weiter. Es ist doch schön, wenn man rechnen kann.
Sie haben die Zahlen, rechnen aber nicht weiter. Sie denken nicht in die Zukunft. Und dann werden auch Sie am Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass wir nicht einfach so tun können, als ob es nur eine ganz kleine Gruppe in den Pflegeheimen gäbe, die wir nur ausreichend isolieren müssten, und das Problem wäre gelöst. Das ist doch eine Scheinlösung.
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Wir kümmern uns natürlich auch um diese Menschen. Wir sorgen dafür, dass entsprechende Hygienekonzepte da sind. Wir sehen trotzdem gleichzeitig, wie groß der Wunsch ist, noch besucht und auch betreut zu werden.
Jetzt ist die Frage beantwortet, und die Redezeit läuft weiter.
Das alles ist schon ziemlich scheinheilig, was Sie da aufführen. Sie tun so, als ob man da kleine punktuelle Eingriffe machen könnte, und das Problem wäre gelöst. Man kann das so tun, und vielleicht verfängt das bei dem einen oder anderen. Aber am Schluss sind wir hier als die Fraktionen, die die Regierung tragen, verantwortlich für das, was passiert. Dafür schaffen wir die Grundlage, auch gesetzlich.
Natürlich diskutieren wir über die Maßnahmen. Natürlich schaffen wir an dieser Stelle eine Ermächtigungsgrundlage. Aber am Schluss geht es darum, dass die Exekutive jetzt gefragt ist, übrigens nicht nur auf Bundesebene, sondern ganz besonders auf Landesebene, bis hinunter zu den Landräten, die übrigens – das möchte ich auch mal sagen – gemeinsam mit den Gesundheitsämtern einen hervorragenden Job machen.
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Wir sorgen dafür, dass sie das qualifiziert und gut tun können, ohne Panik zu machen, aber schon mit der Zielsetzung, dass wir hier im Bundestag wenigstens die Problematik ernst nehmen und sachlich, fachlich vernünftig miteinander diskutieren.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das DIW sagt: Der zweite Merkel-Lockdown, nur der für November, kostet die Wirtschaft 19 Milliarden Euro und 600 000 Arbeitsplätze. – Die Regierung argumentiert dabei mit dem Holzhammer: Wer nicht für den Lockdown ist, dem seien Menschenleben egal. Ein Totschlagargument! Dazu ist zu sagen: Die Schließung der Gastronomie rettet keine Menschenleben. Wir können Menschenleben retten, auch ohne die Wirtschaft zu ruinieren, und wer die Wirtschaft ruiniert, der gefährdet am Ende Menschenleben.
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Selbst der Virologe Alexander Kekulé kritisiert, dass Sie mit der Gießkanne statt mit der Pinzette arbeiten und dass Sie sich im Sommer auf den Herbst und auf den Winter nicht vorbereitet haben. Wie immer kommt das überraschend.
Wir haben Alternativen zu dem Lockdown formuliert. Mein Kollege Spangenberg hat es bereits erläutert: mehr Schnelltests für Seniorenheime und Krankenhäuser, FFP2-Masken für das Pflegepersonal und Unterstützung für Risikogruppen zu Hause. Wir wollen Menschenleben schützen, aber dabei darf die Wirtschaft nicht sterben. Wir brauchen die Wirtschaft auch, um Geld für Gesundheit und medizinischen Fortschritt zu haben.
Es gibt Erkrankungen, die sehr viel schwerwiegender als Corona sind und die sehr viel mehr Menschen betreffen. An Krebs erkranken jedes Jahr 500 000 Menschen in diesem Land, und es sterben nicht 1 Prozent oder 2 Prozent der über 80-Jährigen an ihm, sondern 50 Prozent sterben daran.
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2018 238 000 Krebstote! Zur Erinnerung: Mit oder an Corona starben bislang 11 000 Menschen, ein Zwanzigstel. Eine Krebsbehandlung kostet bis zu 200 000 Euro. Wenn in Zukunft das Geld dafür fehlt, dann werden Menschen sterben, noch mehr Menschen. Das scheint der Regierung aber egal zu sein. Und: Obwohl Krebs die zweithäufigste Todesursache in Deutschland ist – noch mal: über 200 000 sterben daran jedes Jahr –, haben wir für die Forschung nur 300 Millionen Euro übrig.
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Der Merkel-Lockdown im November kostet 10 Milliarden Euro. Das ist mehr als das 30-Fache. Das ist erkennbar Irrsinn.
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Statt für Schnelltests zu sorgen, wollen Sie mit dem Gesetz eine Datenkrake schaffen: weniger Bürgerrechte, aber mehr Überwachung und immer mehr Kontrolle. Das Nein der AfD-Fraktion dazu könnte nicht klarer sein. Die Bundesregierung interessiert sich für Menschenleben nur, wenn es den Umfragewerten nützt. Die AfD will Menschenleben schützen,
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unabhängig von Umfragewerten.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dirk Wiese, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rein rechtlich – das muss man hier einfach einmal feststellen – sind die bisherigen Maßnahmen, die die Bundesregierung seit März getroffen hat – das ist auch obergerichtlich bestätigt worden –, rechtmäßig, zulässig, erforderlich und angemessen. Diese Maßnahmen waren richtig. Es war richtig, sie zu erlassen, weil wir zum damaligen Zeitpunkt an vielen Stellen nicht die Erkenntnis und das Wissen gehabt haben, was am heutigen Tag vorliegt. Eines ist deutlich geworden: Dieser Prozess, den wir in dieser schwierigen und für unser Land, für Europa herausfordernden Situation erleben, ist ein lernender Prozess.
Daher gilt: Die bisherigen Maßnahmen waren rechtmäßig. Die Einschränkungen, die es gegeben hat, waren auch zulässig. Es gilt, eines zu betonen, weil hier manchmal etwas anderes suggeriert wird: Grundrechte gelten nicht schrankenlos. Grundrechte dürfen eingeschränkt werden. Das sieht unsere Verfassung so vor.
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Ich sage ganz deutlich: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das ist zulässig. Das ist bei allem, was bisher auf den Weg gebracht und gemacht worden ist, berücksichtigt worden.
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Ich bin manchmal etwas erstaunt, weil ich noch im März die Aussagen von Alice Weidel vernommen habe, die vor den großen Gefahren dieser Pandemie gewarnt hat, die damals mehr Beschränkungen wollte. Das ist mittlerweile allerdings Makulatur, weil die AfD in einer Fraktionssitzung mehrheitlich beschlossen hat – ohne Fachwissen –, dass es Corona nicht gibt. Seitdem hat sich das an diesem Punkt auch gewandelt.
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Ich finde es schon perfide – das will ich heute auch einmal sagen –, was in Zusammenhang mit dem Thema teilweise hier suggeriert wird, aber auch – das muss ich ehrlicherweise sagen –, wie es teilweise online diskutiert wird. Wenn ich Meldungen lese, dass bei mir im Hochsauerlandkreis ein älterer Mitbürger oder eine ältere Mitbürgerin an Corona verstorben ist, dann stehen darunter Kommentare wie: Naja, die war doch 88 Jahre, die war doch 86 Jahre. Was soll das denn? Das kann doch passieren. – Im Grundgesetz steht in Artikel 1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Da steht nicht: die Würde der jungen Menschen, der Menschen mittleren Alters. Jeder Mensch in unserem Land hat das Recht auf adäquaten Gesundheitsschutz und auf adäquate Gesundheitsversorgung. Da dürfen wir keine Abstriche machen.
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Herr Kollege Wiese, der Kollege Sichert, AfD, würde gern eine Zwischenfrage stellen.
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Sehr geehrter Herr Präsident, mit Ihrem Einverständnis: Albert Einstein hat einmal gesagt: Das Universum und die menschliche Dummheit sind unendlich. – Da ich glaube, dass die Frage nicht dazu beitragen wird, dass wir dieses Zitat heute Morgen widerlegt kriegen, würde ich die Frage ablehnen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden mit diesem Gesetzentwurf § 28 Infektionsschutzgesetz konkretisieren. Durch den § 28a werden wir engere Maßstäbe anlegen – ja –, aber wir werden auch im laufenden Verfahren sehr genau hingucken. Wir nehmen ja auch die Gerichtsentscheidungen ernst, die in letzter Zeit ergangen sind; gerade auch erst die vom letzten Wochenende. Alles, was dort steht zur Verdeutlichung der Zielrichtungen, also dessen, wo es hingehen soll, und ob es der richtige Rahmen ist, werden wir sehr genau prüfen. Dabei wird dieses Parlament mit großem Selbstbewusstsein vorangehen. Das machen wir insbesondere durch die Anhörung, die jetzt bevorsteht. Wir werden das übrigens auch vor dem Hintergrund des § 5 des Infektionsschutzgesetzes und der befristeten Regelungen, die im März des kommenden Jahres auslaufen, machen; aber das geht über das, was heute zur Debatte steht, hinaus.
Ich muss aber auch noch einmal deutlich sagen, dass ich doch ein bisschen erstaunt bin. Ich habe von der FDP in den letzten Wochen vernommen, dass Sie Kritik üben, obwohl Sie – ich habe das noch einmal nachgeschaut – seit März nur einen Antrag im Hinblick auf Corona gestellt haben, dass Sie die Beteiligung des Parlaments einfordern und hier eine Debatte darüber führen wollen.
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Ich finde es eine Ungeheuerlichkeit und Frechheit, dass Ihr Fraktionsvorsitzender nicht den Anstand hat, bis zum Ende dieser Debatte hierzubleiben, sondern dass er gegangen ist. Das ist ein Affront gegen die parlamentarische Debatte.
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Das zeigt: Er ist gewogen worden und für zu leicht befunden worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn ich dann noch einmal schaue, welche Argumente – auch rechtliche Argumente – Christian Lindner gerade vorgebracht hat, dann stelle ich fest – ich habe mich im Hinblick auf die heutige erste Lesung des Gesetzentwurfes ehrlicherweise in den letzten 36 Stunden intensiv damit auseinandergesetzt, welche Stellungnahmen von den Bundesländern eingegangen sind –, dass in den Stellungnahmen der Länder, in denen Sie regieren, nichts von dem zu lesen ist, was Christian Lindner hier angeführt hat.
Und ich muss einmal ganz ehrlich sagen – lieber Ralph Brinkhaus, 30 Sekunden bitte tapfer sein –: Angesichts des Chaos in der Schulpolitik, das Ihre Schulministerin Gebauer seit März in Nordrhein-Westfalen mit einem organisatorischen Totalversagen anrichtet, wo Schüler im Stich gelassen werden, Lehrer im Stich gelassen werden,
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bin ich froh, dass die Jamaika-Verhandlungen gescheitert sind, dass Sie keine Regierungsverantwortung hier in Berlin haben.
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Das, was Sie im Schulministerium in Nordrhein-Westfalen machen, ist verantwortungslos und keine Regierungsführung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, das sind massive Einschränkungen für Gastronomen, für Hoteliers, die wir beschlossen haben; das stellen wir gar nicht infrage.
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Aber vor diesem Hintergrund ist es wirklich richtig und wichtig, dass das Bundesfinanzministerium, das mittlerweile – das muss ich sagen – auch die Arbeit des Bundeswirtschaftsministeriums übernommen hat, diese Hilfen jetzt in dieser Höhe auf den Weg gebracht hat. Das hilft, das kommt an, und das ist genau die richtige Antwort in dieser Situation. Ich kann nur sagen: Wir brauchen einen starken Staat, der funktioniert. Wenn wir alle Personalkürzungen gemacht hätten, die die FDP über Jahre gefordert hat – „Privat vor Staat“ –, dann wäre dieses Gesundheitssystem schon zusammengebrochen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach sechs Monaten wird ein weiteres Bevölkerungsschutzgesetz hier im Bundestag behandelt. Plötzlich und unerwartet sind wir mittendrin in einer zweiten Pandemiewelle. Jetzt wird reagiert. Jetzt wird gehandelt. – Ein wenig spät in meinen Augen.
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Trotzdem – das muss ich sagen, aber ich habe leider nur wenige Sekunden Zeit – sind medizinisch wichtige und richtige Punkte angesprochen worden – besser spät als nie –, unter anderem auch die Nutzung von tier- und zahnärztlichen Laboren zur Testung; eine Forderung übrigens, die die FDP-Fraktion bereits vor zwei Monaten gestellt hat.
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Doch von dem Gesetzentwurf hätte ich viel mehr Antworten erwartet. Zahlen sind wichtig, Zahlen müssen her. Differenziertes Vorgehen ist natürlich essenziell, und dazu brauchen wir valide Zahlen. Doch wer eine Pandemie bekämpfen will, muss Perspektiven geben. Wer eine Pandemie bekämpfen will, braucht auch Regelwerke für bessere Planbarkeit, inklusive belastbarer Hygienemaßnahmen. Wer eine Pandemie bekämpfen will, muss massivste Grundrechtseinschränkungen gut rechtfertigen. Und das fehlt in diesem Gesetzentwurf.
Verlassen Sie Ihre Strategie des panischen Reagierens. Fangen Sie an zu agieren, und zwar zeitig und vorausschauend.
Herzlichen Dank.
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Achim Kessler, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, grundlegende Entscheidungen nicht der Exekutive zu überlassen, sondern sie wieder zurück in den Bundestag zu holen. Deshalb müssen die intransparenten Hinterzimmerkungeleien der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen endlich ein Ende haben.
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Sobald ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird, Herr Minister, werden wir vor der schwierigen Frage stehen, wer zuerst geimpft werden soll: die Risikogruppen, das Pflegepersonal oder diejenigen, die das Virus am meisten verbreiten? Doch an der Erarbeitung der Impfstrategie beteiligt die Bundesregierung den Bundestag nicht. Es gibt darüber keine öffentliche Debatte. Die verschiedenen wissenschaftlichen Ratschläge werden nicht öffentlich gemacht. So kann das wirklich nicht weitergehen.
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Es muss Ihnen doch inzwischen aufgefallen sein, dass viele der beschlossenen Maßnahmen bei immer mehr Menschen auf Unverständnis treffen. Es muss Ihnen doch auffallen, dass Entscheidungen, die hinter verschlossenen Türen getroffen werden, nicht nachvollziehbar sind, und was ich nicht nachvollziehen kann, das setze ich dann auch nicht um. Meine Damen und Herren, das ist unsinnig, unnötig und verantwortungslos.
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Seit Monaten erfahren wir bei Pressekonferenzen der Kanzlerin von einem wirren Maßnahmengemisch, das oft eher der Profilierung einzelner Ministerpräsidenten dient als dem Schutz der Bevölkerung.
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Beherbergungsverbote und Sperrstunden sind inzwischen als willkürliche Schnellschüsse entlarvt. Und die pauschale Schließung sämtlicher Restaurants und Freizeiteinrichtungen lässt sich nicht als sinnvoll vermitteln, wenn die Gründe für diese Maßnahmen nicht erklärt und öffentlich diskutiert werden.
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Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, die Maßnahmen bewerten zu lassen, und zwar unabhängig, und dem Bundestag regelmäßig zu berichten. Wir fordern, dass die Bundesregierung dem Bundestag endlich eine Strategie zur Pandemiebekämpfung zur Entscheidung vorlegt,
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und zwar eine Strategie, die unterschiedliche Szenarien der Pandemieentwicklung berücksichtigt und die klare epidemiologische Zielwerte vorgibt.
Wir wollen nicht nur besser wissen, mit welchen Zielen die Bundeskanzlerin in die Gespräche mit den Ländern geht, sondern wir wollen auch mitentscheiden. Das, meine Damen und Herren, ist unsere Aufgabe, und nicht die, passiv vor den Fernsehern der Kanzlerin zuzuschauen, wie sie weitreichende Maßnahmen und Grundrechtseinschränkungen verkündet.
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Verordnungen, die Grundrechte einschränken, müssen dem Bundestag nachträglich zur Entscheidung vorgelegt werden.
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Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, dass wir wieder dem Auftrag der Wählerinnen und Wähler und im Übrigen auch des Grundgesetzes nachkommen, die Bundesregierung zu kontrollieren, aber vor allem auch, die wesentlichen Entscheidungen selber zu treffen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Marco Bülow.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erstens. Die Parlamente sind in einer Demokratie die Entscheidungsmitte. Nur, genau diese Entscheidungsmitte verlieren Sie immer mehr. Wir erleben insgesamt, auch schon vor Corona, dass die meisten Gesetzentwürfe, vor allen Dingen diejenigen, die dann beschlossen werden, von der Regierung geschrieben werden, häufig ausgehandelt mit Lobbyisten, immer weniger mit dem Parlament und noch weniger mit der Bevölkerung.
Jetzt fangen wir in Krisenzeiten an, diese Entscheidungsmitte noch weiter an den Rand zu drücken und Entscheidungen – wichtige Entscheidungen, einschneidende Entscheidungen – vor allen Dingen auf Ministerpräsidenten und die Kanzlerin zu verlagern. Genau diesen Weg dürfen wir nicht gehen! Die Entscheidungsmitte muss gewahrt bleiben, gerade in Krisenzeiten, zumal wir ja Entscheidungen treffen können; wir sitzen ja heute hier zusammen.
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Der zweite Punkt. Wenn wir die Spaltung eben nicht haben wollen, wenn wir nicht denen einen Dienst erweisen wollen, die gar nicht daran glauben, dass es ein Virus gibt, und wenn wir dieses Virus richtig ernst nehmen, dann sollten wir die Bevölkerung stärker miteinbeziehen. Denn dieses Virus und seine Auswirkungen werden wir auch im nächsten Jahr noch erleben. Es wird noch einiges auf uns zukommen. Alleine die Nachrichten aus Dänemark zum Beispiel über das mutierte Virus machen mich sehr sorgenvoll. Wir brauchen eine Versammlung der Bürgerinnen und Bürger, die einberufen wird und bei der die Bürgerinnen und Bürger zusammenkommen und mit darüber beraten, wie mit den Auswirkungen dieser Pandemie umgegangen werden soll. Genau dafür sollten wir uns einsetzen.
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Wir brauchen drittens – deswegen brauchen wir die Parlamente und eben auch die Menschen vor Ort und insgesamt die Bürgerinnen und Bürger – endlich eine Diskussion darüber, wer denn die Lasten zu tragen hat, weil die Lasten im Augenblick sehr ungleich verteilt sind. Es ist ja schön – darüber werden wir später noch reden –, dass die Gastronomen jetzt eine Unterstützung bekommen. Aber, Herr Nüßlein, was ich nicht verstanden habe – vielleicht sind Sie genauso weit entfernt von den Menschen vor Ort –: Die gastronomischen Einrichtungen waren nicht leer, bevor der Lockdown kam. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist; bei uns war das nicht so.
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Die Gastronomen werden entlastet; das ist gut. Aber viele andere – Kreative, Wirtschaft, Selbstständige usw. – kämpfen um ihre Existenz. Für die ist dieser zweite Lockdown existenzgefährdend.
Viele andere Menschen in diesem Land sind auch am Limit. Die Lasten sind sehr ungleich verteilt, vor allen Dingen, weil andere in diesem Land daraus Profit schlagen. Deswegen müssen wir doch mal sehen, wer diese Lasten zu tragen hat. Es kann nicht sein, dass wir am Ende, wie jetzt bei den Haushaltsberatungen, Haushaltsposten kürzen und die Menschen irgendwann den Gürtel noch enger schnallen müssen. Das funktioniert eben nicht.
Auf der anderen Seite haben wir in diesem Land die dritthöchste Zahl an Milliardären überhaupt auf dieser Welt. Es gibt genug Statistiken, die zeigen, dass diese Milliardäre in diesem Jahr auch noch weitere Profite gemacht haben, weitere Milliarden gescheffelt haben. Wann beteiligen wir endlich die Gesamtbevölkerung an den Lasten und nicht nur einen Teil? Dahin müssten wir kommen, und dazu brauchen wir Parlamente und die Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Anträge der Oppositionsfraktionen in dieser Debatte mit Titeln wie „Rechtsstaat und Demokratie in der Corona-Pandemie“, „Demokratische Kontrolle auch in der Pandemie“ anschaut, wenn man sich manche Reden zu diesem Tagesordnungspunkt anhört, dann könnte man glauben, dass wir unmittelbar vor dem Kollaps des demokratischen Systems in Deutschland stünden.
({0})
Es ist nicht nur irreführend, es ist auch wirklich unredlich, so zu argumentieren. Wir haben es mehrfach bewiesen, indem wir allein in dieser Woche mehrere Debatten haben, in denen wir uns mit den unterschiedlichen Folgen der Coronapandemie und der angemessenen demokratischen Antwort darauf beschäftigen.
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Also: Seit 71 Jahren stehen in unserer Verfassung Rechte, auch Rechte der Minderheiten, und diese Rechte können Sie wahrnehmen.
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Ich fordere Sie auf, das zu tun. Sie tun es ja auch; das zeigen die vielen Debatten, die wir nicht nur im Plenum, sondern auch in den unterschiedlichen Ausschüssen, in den öffentlichen Expertenanhörungen, in den Regierungsbefragungen und auch an vielen anderen Stellen haben.
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Die Debatte findet hier im Parlament statt. Hier gehört sie hin; da haben Sie vollkommen recht. Deswegen ist es irreführend, und es ist auch falsch, wenn Sie so tun, als wäre dies nicht so.
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Ich will an dieser Stelle sagen, dass der Bundesgesundheitsminister gerade eine, wie ich finde, sehr bemerkenswerte Rede gehalten hat, weil er auch deutlich gemacht hat, dass es nicht so ist, dass wir glauben würden, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen – anders als vielleicht in der einen oder anderen Fraktion.
Wir können all das, womit wir hier jetzt konfrontiert sind, nicht bis zum Ende denken. Es ist tatsächlich so, dass wir ein Stück weit auf einer Terra incognita unterwegs sind. Wenn man in einem unbekannten Land ist, dann ist es mit Sicherheit auch nicht klug, sich in ein vorgefertigtes Betonbett zu legen und sich jede Flexibilität zu nehmen, um dann nicht mehr auf eine solche dynamische Krisenlage angemessen reagieren zu können.
Deswegen ist es für uns ein Spagat, den wir versuchen müssen, den wir auch hinbekommen müssen: Wie schaffen wir es, dass wir zum einen alle wesentlichen Punkte, insbesondere alle wesentlichen Grundrechtseingriffe, selbstverständlich hier in diesem Parlament diskutieren und dafür den Rahmen schaffen, und zum anderen der Regierung und auch denen vor Ort, den unmittelbar zuständigen Gesundheitsbehörden, die Flexibilität belassen, um auf diese Krise und die damit verbundenen Herausforderungen angemessen reagieren zu können? Diesen Spagat müssen wir hinbekommen.
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Das tun wir, indem wir die Schutzmaßnahmen nach Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite – § 5 Infektionsschutzgesetz – in den neu geschaffenen § 28a Infektionsschutzgesetz ziehen. Der Deutsche Bundestag bestimmt also weiterhin die Voraussetzungen dafür, ob diese Möglichkeiten bestehen, ob diese Rechte ausgeübt werden können oder eben nicht. Und der Deutsche Bundestag hat natürlich auch jederzeit die Gelegenheit, diese Regelung wieder zurückzunehmen.
Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe mir den Gesetzentwurf angeschaut. In § 28a Absatz 1 steht ganz am Ende der bemerkenswerte Satz:
Die Anordnung der Schutzmaßnahmen muss ihrerseits verhältnismäßig sein.
Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es lässt schon tief blicken, dass Sie meinen, dass man das extra ins Gesetz hineinschreiben muss; aber nun gut, es ist ja schön so.
Wir haben jetzt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die aus meiner Sicht völlig unverhältnismäßig sind: Restaurants werden geschlossen trotz Hygienekonzepten, Kultureinrichtungen werden geschlossen trotz Hygienekonzepten. Deshalb meine Frage: Werden Sie – wenn Sie dieses Gesetz verabschieden, wahrscheinlich gegen unsere Stimmen – nach Inkrafttreten des Gesetzes diese ganzen unverhältnismäßigen Maßnahmen auch wieder aufheben?
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Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung überhaupt nicht. Wir haben an ganz vielen Stellen gesehen, dass all die Maßnahmen, die die Landesregierungen ergriffen haben, auch verhältnismäßig waren.
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Dort, wo sie von Gerichten aufgehoben wurden, ist es ganz offenkundig so gewesen, dass eine Begründung nicht hinreichend war oder es andere Mängel gab. Das muss man selbstverständlich verbessern und ändern; das ist überhaupt keine Frage. Aber es ist mitnichten so, dass die Maßnahmen, die zwischen den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin besprochen und von den Landesregierungen in den Rechtsverordnungen umgesetzt worden sind, in Gänze nicht den rechtlichen Vorgaben entsprechen würden.
Ich will Ihnen sagen, worum es uns beim § 28a geht: Uns geht es darum, dass wir die Generalklausel durch klare Regelbeispiele erweitern, dass wir einen Rahmen dafür setzen, wo entsprechende – auch schwerwiegende -Grundrechtseingriffe möglich sind. Es geht darum, dass wir uns als Parlament damit beschäftigen und dass wir schauen, wie wir einen Rahmen setzen können, der es der Regierung auch im Einzelfall erlaubt, angemessene Regelungen zu finden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Wir wissen alle nicht, welche Maßnahmen in Zukunft noch notwendig sein werden. Deshalb müssen wir uns diese Flexibilität erhalten.
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Wir werden uns in der nächsten Woche intensiv mit diesem Gesetzentwurf auseinandersetzen, auch im Rahmen einer öffentlichen Expertenanhörung. Natürlich werden wir dort über viele Dinge miteinander sprechen müssen. Aber von einem rechtspolitischen Feigenblatt zu sprechen ‑wie Herr Lindner; ich hätte ihn gerne angesprochen –, ist grottenfalsch. Wer so tut, als ob unbestimmte Rechtsbegriffe in unseren Gesetzen nichts verloren hätten, der kennt sich mit Gesetzgebung wirklich nicht aus.
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Natürlich brauchen wir unbestimmte Rechtsbegriffe, um flexibel auf Herausforderungen reagieren zu können. Dass der Gesetzgeber Generalklauseln mit Regelbeispielen oder auch Standardmaßnahmen ausformuliert und auch ausbuchstabiert, ist doch ganz normal. Sie tun so, als wäre es das erste solche Gesetz, das wir hier im Deutschen Bundestag verabschieden würden. Das ist mitnichten so.
Herr Kollege Frei, der Kollege Dr. Neumann möchte gern noch eine Zwischenfrage stellen.
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Bitte schön, das kann er gerne tun.
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Darf er, ja?
Ja, selbstverständlich.
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Sicherlich nicht. – Ullmann ist mein Name; Sie haben „Neumann“ gesagt.
Oh, ich bitte um Nachsicht. Trotzdem hat der Kollege Frei zugestimmt, dass Sie eine Zwischenfrage stellen dürfen. Ich bitte um Entschuldigung, ich habe so viel Mitleid mit Ihnen gehabt, weil Sie eine Redezeit von nur einer Minute hatten.
Herzlichen Dank. – Herr Frei, Sie sind Jurist, ich bin Mediziner. Vielleicht können Sie mir zwei Punkte erklären. Sie haben gesagt, Sie hätten es nicht zu Ende gedacht, wir seien hier in einer Terra incognita. Was ich nicht ganz verstehe, ist das Wort „verhältnismäßig“. Für mich ist die Logik etwas ganz Wichtiges. Auch der Kollege Schinnenburg hat es gerade gesagt: Es werden Restaurants geschlossen, obwohl sie ein Hygienekonzept haben, obwohl dort keine Superspreader-Events stattfinden. Das ist ein Punkt, bei dem ich nicht verstehen kann, dass das verhältnismäßig sein soll. Viele KMUs sind von § 28a des Gesetzentwurfs betroffen, sie werden geschlossen. Aber in dem Gesetzentwurf steht nichts von Entschädigung. Das irritiert mich auch ein bisschen, dass wir einfach Betriebe schließen können. Welche Folgen sehen Sie für diese KMUs durch diesen Paragrafen?
Herr Dr. Ullmann, zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass wir überall dort, wo wir durch staatliche Maßnahmen wirtschaftliche Einschränkungen bewirkt haben, ein entsprechendes Hilfsprogramm aufgelegt haben und auflegen, das passgenaue Lösungen bietet. Das werden wir immer dann tun, wenn es notwendig ist, wenn durch staatliche Entscheidungen in freie Entscheidungen des Einzelnen eingegriffen wird.
Jetzt können wir darüber sprechen, wie wir im Hinblick auf die einzelnen Formulierungen und unbestimmten Rechtsbegriffe vielleicht noch etwas mehr Klarheit schaffen können. Dafür sind wir offen; deswegen machen wir eine Expertenanhörung. Ich habe Ihnen vorhin gesagt: Wir haben nicht das Gefühl, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben; vielmehr wollen wir versuchen, gute Lösungen – auch für die Zukunft – zu finden. Das kann im Übrigen durchaus bedeuten – das will ich an dieser Stelle gleich sagen –, dass wir noch nicht am Ende der Gesetzgebung angekommen sind. Vielleicht müssen wir weiter nachschärfen, weil wir nicht wissen – und Sie im Übrigen auch nicht und alle anderen hier auch nicht –, wie sich diese Pandemie weiterentwickeln wird.
Es gibt keine Zeitzeugen, die eine solche Pandemie – vor hundert Jahren die Spanische Grippe oder in den 50er-Jahren die asiatische Grippe – schon einmal erlebt haben. Wir brauchen diese Flexibilität. Bei den Gerichtsentscheidungen wird Verhältnismäßigkeit nicht nur danach definiert, wie tief der Grundrechtseingriff ist, sondern natürlich auch danach, wie lange er dauert. Auch vor diesem Hintergrund kann es durchaus sein, dass wir uns die einzelnen Maßnahmen hier im Parlament weitere Male werden anschauen und gegebenenfalls nachsteuern und nachschärfen müssen. Das kann niemand von uns ausschließen.
Danke für die Antwort, Herr Kollege Frei. – Jetzt läuft Ihre Redezeit, die im Übrigen zu Ende ist.
Jeder, der das suggeriert, Herr Kollege Ullmann, streut den Menschen Sand in die Augen. Das wollen wir nicht; denn wir setzen auf Transparenz, Offenheit, auf Vertrauen in die Maßnahmen des Staates, weil wir in dem festen Glauben sind, dass das die Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir gemeinsam diese pandemische Krise bewältigen können. Deshalb gehen wir diesen Weg und scheuen keine Debatte hier im Parlament.
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Wir diskutieren alles hier in diesem Parlament: die gesundheitlichen Folgen, die sozialen Folgen, die wirtschaftlichen Folgen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die deutsche Automobilindustrie steht für 4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes, sie steht – wenn man alle Wertschöpfungsbereiche zusammennimmt – für über 1 Million Arbeitsplätze. An ihr hängen Existenzen, Menschen mit gut bezahlten Jobs. Wir sind in Sorge um diese Jobs. Wir erfahren ja auch bei den Beratungen im Wirtschaftsausschuss, dass die IG Metall befürchtet – auch durch den erzwungenen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor –, dass 450 000 Arbeitsplätze, die am Verbrennungsmotor hängen, gefährdet sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn allein durch die Elektromobilität – laut Aussagen des Fraunhofer-Instituts – netto mindestens 100 000 Arbeitsplätze wegfallen, dann kann die Politik dies nicht einfach akzeptieren, dann müssen wir an dieser Stelle diskutieren, wie wir die Automobilindustrie und vor allen Dingen die Beschäftigten am Standort Deutschland sichern können.
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Mit „Industrie“ meinen wir nicht nur die Autokonzerne, sondern vor allen Dingen die mittelständischen Zuliefererbetriebe, die Tier-1-, Tier-2- und Tier-3-Zulieferer, und natürlich auch den Maschinenbau, der zu 40 Prozent am Automobil hängt.
Drei Krisen prägen zurzeit die Automobilindustrie. Klar, da ist Corona und die Schließung von Autohäusern und Werkstätten. Da ist die Unsicherheit, Stichwort „Kurzarbeit“, die viele Menschen dazu bringt, eben kein neues Auto kaufen zu wollen.
Aber es gibt weitere Krisen: die Handelskriege zwischen den USA und China und zwischen den USA und Europa. Wer die deutsche Automobilindustrie analysiert, stellt fest: Wir haben die Arbeitsplätze erhalten, weil wir Premiumfahrzeuge in Deutschland herstellen und exportieren. Wer Arbeitsplätze in der Automobilindustrie erhalten will, der muss sich für Freihandel einsetzen,
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für multilaterale Freihandelsabkommen, aber auch für bilaterale Freihandelsabkommen. Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Altmaier, meine Damen und Herren, müssen wir jetzt die Freihandelsabkommen CETA und Mercosur ratifizieren.
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Wir brauchen eine Freihandelsoffensive, meine Damen und Herren.
Aber wir müssen vor allen Dingen die fehlgeleitete CO2-Regulierung verändern. Meine Damen und Herren, ich sage es so hart: Die CDU-geführte Bundesregierung zerstört die deutsche Automobilindustrie
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durch Kaufprämien und die einseitige Fokussierung auf batteriebetriebene Elektromobilität. Das ist ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm zulasten der deutschen Wirtschaft, des Wohlstandes und der Steuerzahler.
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Und die CDU geführte EU-Kommission mit Frau von der Leyen an der Spitze besorgt den Rest.
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Durch die Ausgestaltung der Flottengrenzwerte sorgt sie dafür, dass die Batterieautos keine Konkurrenz bekommen. Klimaneutral hergestellte Kraftstoffe – synthetische Kraftstoffe – werden immer noch nicht angerechnet bei den Flottengrenzwerten; das ist ein Skandal.
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Es ist klimapolitisch falsch, meine Damen und Herren; es muss korrigiert werden. Es ist ein Skandal, dass in Deutschland die von der Firma Bosch entwickelten Kraftstoffe wie Care-Diesel nicht zugelassen werden.
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Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland, anders als es die Grünen hier in diesem Haus immer wieder darstellen, nicht die Macht, durch internationale Abkommen Klimaschutz zu erzwingen. Wenn wir Klimaschutz wollen, dann müssen klimaschützende Technologien skaliert werden. Wir haben die Technologieführerschaft auch beim Verbrennungsmotor. Erhalten wir diese, und machen den Verbrennungsmotor klimaneutral durch synthetische Kraftstoffe, durch E-Fuels! Schaffen wir einen regulatorischen Rahmen dafür, dass diese auch zugelassen werden!
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Da liegt die Macht Deutschlands:
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Als Technologienation können wir der Welt bei 1 Milliarde Verbrennungsmotoren global die Technik in die Hand geben, die diese Verbrennungsmotoren klimaneutral macht. Dann verbinden wir Klimaschutz mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen und Wohlstand. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, meine Damen und Herren.
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Nur zum Verständnis: Wenn die Redezeit abgelaufen ist, lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Heider, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der Tat: Der FDP-Antrag trifft einen richtigen Punkt.
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Aber, lieber Kollege Theurer, so ist das immer: Wenn man versucht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, dann gehen halt immer ein paar Schläge daneben. Und darüber müssen wir uns jetzt einfach mal unterhalten, sonst kommen wir nicht zum Ziel.
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In der Tat, die Zahl der Kurzarbeiter in der Automobilbranche und auch in der Zulieferbranche in Deutschland ist erheblich; diese Branchen sind besonders betroffen. Sie führen in Ihrem Antrag das Beispiel Süddeutschland an. Ich will mal mit meiner Heimat Südwestfalen weiterhelfen: Sie ist ein Indikator für die Entwicklung der Zulieferindustrie. Im März dieses Jahres waren 50 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Branche in Kurzarbeit; das ist ungefähr der gleiche Stand gewesen, den wir zur Finanzkrise 2009 hatten. Wir sind damals schon trauriger westdeutscher Meister in Sachen Kurzarbeit gewesen, und in diesem Jahr, meine Damen und Herren, sieht es nicht viel besser aus.
Eine Entspannung in dem Gewerbe wird sich auch in kurzer Zeit nicht einstellen können. Es ist nicht so wie im Dienstleistungssektor, der noch gewisse Vorteile in dieser Krise hat. Es bleibt dabei, dass Lieferketten immer noch zum Teil unterbrochen sind. Die Nachfrage nach den Produkten der Automobilindustrie ist noch nicht so gewachsen, dass man von einer Entspannung sprechen könnte, auch wenn die Zulassungszahlen nach dem September langsam wieder anziehen. Das zeigt: Wir müssen der Branche eine besondere Aufmerksamkeit widmen, und damit geht Ihr Antrag sicherlich in die richtige Richtung.
Aber lassen Sie uns auf den einen oder anderen Aspekt etwas genauer schauen! Sie haben den Transformationsprozess angesprochen. Die Branche leidet nicht nur unter der Coronakrise, sie leidet natürlich auch darunter, dass in den letzten zehn Jahren gewisse Versäumnisse eingetreten sind, dass es einen Dieselskandal gegeben hat, der die Branche tief in Mitleidenschaft gezogen hat.
Wir haben das im Ausschuss ja in dieser Woche mit der Präsidentin des VDA, mit Hildegard Müller, sehr intensiv besprechen können. Es gibt viele technologische Neuerungen, die auf den Weg in die Produktion gebracht worden sind; aber sie erreichen die Märkte noch nicht in dem Umfang, wie wir uns das wünschen. Das gilt etwa für das Thema Hybrid; das hat sie ja eindrucksvoll dargelegt.
Ich möchte auch nicht die Behauptung gelten lassen, dass die Bundesregierung und der Wirtschaftsminister – ich zitiere – unfähig wären, die Bedeutung und die Chancen individueller Mobilität zu erkennen. – Ich will mal ein Beispiel geben, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Werfen Sie mal einen Blick auf das „Aufbruchspaket“ der Koalition! Sehen Sie sich die Ergebnisse des Transformationsdialogs Automobilindustrie an, den die Bundesregierung initiiert hat! Sehen Sie sich die Analysen der Nationalen Plattformen für die Zukunft der Mobilität an! Das Konjunkturpaket sorgt bereits dafür, dass Milliarden Euro an Fördergeldern in die Erforschung und Erprobung zentraler Zukunftstechnologien wie KI, Quantentechnologie und – ganz wichtig – Wasserstoff fließen.
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Durch die steuerliche Forschungsförderung, befristet bis Ende 2025 zurzeit, wird Forschung weiter ausgebaut. Die Kfz-Steuer wird stärker am CO2-Verbrauch ausgerichtet, sodass emissionsärmere Fahrzeuge, gleich welcher Antriebsart, eine Chance haben. Die Feststellung muss an der Stelle einmal getroffen werden.
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Und last, but not least: Dass bis 2024 jetzt noch einmal 2 Milliarden Euro in ein umfassendes Programm zur Förderung von Zukunftsinvestitionen in die Zulieferindustrie fließen, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg des Transformationsdialogs Automobilindustrie,
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der nicht von heute auf morgen gestaltet werden kann, sondern den wir über einen längeren Zeitraum führen müssen – auch wenn Ihnen das gar nicht gefällt.
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Meine Damen und Herren, das Förderprogramm, das dort ausgelobt wird, trifft den Nagel auf den Kopf. Es geht darum, die Produktion mit modernen Anlagen und modernen Prozessen zu modernisieren und neue Produkte zu entwickeln, auch mit experimenteller Entwicklung, beispielsweise mit der Verknüpfung und Nutzung der Gaia-X-Daten oder mit den Daten des Ökosystems. Außerdem gilt es, beispielsweise regional übergreifende Innovationscluster zu verbessern oder neu aufzustellen, damit die Synergieeffekte, die wir im Verkehrssektor brauchen, auch gehoben werden können. Das ist entscheidend.
Lassen Sie mich das zum Schluss noch mal sagen:
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Ich bin zuversichtlich, dass wir die Zulieferindustrie wieder auf Kurs bekommen, dass wir es mit den Maßnahmen schaffen, die Zulieferindustrie wieder in ein besseres Fahrwasser zu bringen, und dass wir es schaffen, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Meine Damen und Herren, das kann eine Regierung tun: Sie kann Hindernisse beseitigen, sie kann Leuchttürme aufstellen. Aber sie kann eines nicht tun, nämlich die Segel setzen – das müssen die Unternehmen der Branche selber tun.
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Und da zähle ich darauf, dass die Automobilhersteller in Deutschland sich den Automobilzulieferern nicht nur in der Entwicklung zuwenden, sondern dass sie ihnen auch die Margen lassen, um die entsprechenden Entwicklungen zu tätigen. Das ist entscheidend.
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Dabei geht es um Arbeitsplätze, und diese Arbeitsplätze wollen wir nicht nur in der Entwicklung in Deutschland schützen, sondern auch in der Produktion. Deshalb ist jede vernünftige marktwirtschaftliche Unterstützung dafür anzustrengen, dass wir Produktion auch in Deutschland behalten.
Tesla findet offenbar in Deutschland einen interessanten Markt vor und investiert in eine Produktion hier. Das können wir auch. Wir müssen es uns nur trauen, und wir müssen die richtigen, innovationsfördernden Maßnahmen auslegen. Dazu gehört auch, dass wir einmal grundlegend über unser Steuersystem nachdenken; das ist eine andere Debatte, bei der ich gerne noch einmal auf Sie zukomme.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD.
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Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Liebe Kollegen! Wir reden hier heute über den massiven Jobkahlschlag in der Automobilindustrie, und der hat längst begonnen: Angekündigt ist jetzt schon die Streichung von über 100 000 Arbeitsplätzen. Besonders bei den Zulieferern droht im nächsten Jahr eine verheerende Pleitewelle.
Grund dafür ist nicht in erster Linie Corona und, lieber Matthias Heider, Grund dafür sind auch nicht gewisse Versäumnisse dieser Regierung, sondern Grund dafür ist der E-Auto-Wahn der EU und dieser Merkel-Regierung.
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Mit Ihrer fetischartigen Fokussierung auf die Stromer zerstören Sie das Rückgrat unserer Industrie und damit den Wohlstand von Hunderttausenden Familien. Laut Prognosen können fast 500 000 Arbeitsplätze verloren gehen, wenn Sie diesen Irrweg weitergehen.
Dabei gibt es keine überzeugenden Argumente für E-Autos. Es mag ja ein nettes Spielzeug sein für gutsituierte Großstädter in den Metropolen. Für die Millionen Pendler, die tagtäglich über das Land fahren, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen, ist das aber nichts weiter als ein teurer Klamauk.
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Da können Sie noch so hohe Prämien draufpacken, Geld von uns Steuerzahlern – es nützt nichts; Nachfrage nach einem sinnlosen Produkt kann man nicht künstlich erzwingen.
1 Million E-Autos hat die staatliche Plankommission bis 2020 vorgegeben. Es sind jetzt gerade 250 000 echte E-Autos. Das heißt, Sie müssen sich jetzt wirklich sputen, Sie haben noch 55 Tage Zeit, das Ziel zu erreichen.
Aber – das zeigen die Umfragen – bei Dreiviertel der Deutschen beißen Sie da auf Granit. Das hat auch gute Gründe: Die Fahrzeuge sind schon in der Anschaffung viel zu teuer. Den halben Autopreis macht allein die Batterie aus, und die ist nach fünf, sechs Jahren fertig. Das Laden ist mindestens genauso teuer wie das Auftanken eines Benziners, wenn nicht sogar teurer. Die Ladesäulen fehlen; aber selbst wenn sie da wären: Das Laden dauert viel zu lange. Da können Sie in der Zeit drei Kaffee trinken. Sie fördern damit vielleicht die Kaffeeindustrie; aber das hilft leider nicht, wenn man es eilig hat. Bei den meisten Säulen stehen Sie über 30 Minuten – bei den Säulen, die wir jetzt haben –, 30 bis 40 Minuten.
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Auch die Reichweite ist nach wie vor ein Witz. Was also, bitte schön, soll das? Wenn man sich nur am Leben von Zahnarztgattinnen in den Metropolen orientiert, okay. Aber wenn man sich am hart arbeitenden Handwerker orientiert, der jeden Tag flexibel mit seinem Auto unterwegs sein muss, dann weiß man genau: E-Autos sind keine Alternative zum Verbrenner. Hören Sie endlich auf mit Ihrer Geisterfahrt!
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Aber jetzt kommen Ihre Hammerargumente: Klimakrise, bald sind wir alle tot, wenn wir nicht massiv CO2-Emissionen einsparen. – Wie sieht denn die Ökobilanz eines Stromers über den gesamten Lebenszyklus aus? Hans-Werner Sinn, Ökonom, hat berechnet, dass ein moderner Diesel weniger CO2 rausbläst als ein Stromer. Neue Studien des VDI sagen Ähnliches. Wörtlich: Die Produktion der Batterie „verhagelt die CO2-Bilanz … Autos mit modernen Verbrennungsmotoren tragen diese Last nicht, ihre Ökobilanz ist daher deutlich besser“.
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Mit anderen Worten: Ihre mit unserem Steuergeld subventionierten E-Autos heizen den CO2-Ausstoß sogar noch an. Merken Sie es? Sie führen Ihre eigene Politik ad absurdum. – Wenn das Greta hört!
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Herr Altmaier, Ihre Bundesregierung geht einen brandgefährlichen Weg, der uns massiv schaden wird.
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Das zeigen zwei Zahlen: Ein Verbrennungsmotor hat 1 200 Teile, ein Elektromotor hat etwa 200. Glauben Sie ernsthaft, dass wir in der Massenproduktion auch nur im Entferntesten konkurrieren können mit Asien? Es wird nicht gehen. Wir werden unsere gut bezahlten Arbeitsplätze verlieren, wenn es so weitergeht. Das sagt auch Ernst & Young, die sehen schon jetzt keine Alternative zu Werksschließungen und Arbeitsplatzabbau. Das große Erwachen werde wohl im nächsten Jahr kommen, heißt es, dann werde es eine brutale Auslese geben.
Das müssen wir verhindern, aber nicht mit noch mehr Subventionen und Prämien, Herr Minister, sondern mit Technologieoffenheit, echter Technologieoffenheit. Was ist mit synthetischen Kraftstoffen
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und mit guten Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen? Also hören Sie endlich auf mit der Strangulation der Automobilindustrie, kommen Sie endlich zurück aus Ihrem Taka-Tuka-Land der E-Mobilität!
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Westphal, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der FDP zur Automobilindustrie ist Grundlage dieser Debatte. Er beschreibt sehr gut Probleme und Herausforderungen, aber auch das, was an Transformation der Zulieferindustrie und vor allen Dingen der Automobilindustrie notwendig ist. Auch das, was Zugang zu Handel und Freihandel angeht, ist richtig beschrieben. Aber das reicht natürlich nicht aus, Problembeschreibung alleine hilft der Automobilindustrie nicht.
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Deshalb steht die SPD klar hinter dieser Industrie, hinter der Zulieferindustrie und ihren Beschäftigten. Es ist eine Schlüsselindustrie, die, um die Wertschöpfungsketten hier zu erhalten und weiterzuentwickeln, einen starken Staat braucht. Wir brauchen jetzt Konzepte, die genau dieser Branche im Strukturwandel helfen. Deshalb haben wir mit Rahmenbedingungen, die Innovation und Investition fördern, genau den richtigen Ansatz, um diese Industrie im Wandel zu unterstützen.
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Ein Wandel allein vom Markt gesteuert droht diese Schlüsselindustrie nachhaltig zu schädigen. Es wäre für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein Risiko, wenn wir das einfach laufen ließen. Deshalb wollen wir dieses ganz klar flankieren und handeln, mit einem Zukunftspakt Automobil zum Beispiel, der sich der schwierigen Übergänge bewusst ist, sich aber klar zu alternativen Antrieben bekennt und angesichts des Nachfrageschubs vor allem für Elektroautos dementsprechend unterstützt.
Der Verbrenner wird in den kommenden Jahren noch eine wichtige Rolle spielen. Aber für die Zukunft wird es elektrische Antriebe und andere Technologien brauchen, um Klimaneutralität zu erreichen. Deshalb werden wir in der Antriebstechnologie genau auf diesen Pfad setzen.
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Um die Wertschöpfungsketten gerade beim neuen Antrieb Elektromobilität zu erhalten, geht es vor allen Dingen im Zukunftsbereich der Batteriezellenproduktion, aber auch, was Brennstoffzellen und autonomes Fahren angeht, darum, diese Zukunftsoptionen zu fördern. Deutschland und Europa müssen Strategien entwickeln, die hierauf künftig besser reagieren.
In Europa nehmen wir den Klimaschutz ernst, wir verlangen von unseren Unternehmen, von unseren heimischen Unternehmen sehr, sehr viele Anstrengungen, auch Investitionsbereitschaft. Deshalb geht es auch darum, fairen Wettbewerb in dieser Industrie zu organisieren und bei unfairen Wettbewerbsbedingungen, zum Beispiel, wenn Produkte mit einem großen CO2-Footprint die Grenzen Europas passieren, auch klar zu sagen: Dieses hat einen Preis, und der muss an der Grenze dementsprechend erhoben werden,
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weil wir hier auf dem Weg einer CO2-freien – –
Herr Kollege Westphal, der Kollege Dirk Spaniel, AfD, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, danke schön. – Wir brauchen also einen Mechanismus, der deutsche Produkte vor dieser Billigkonkurrenz aus dem Ausland schützt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was die FDP vorschlägt – man sieht es in dem Antrag –, ist so ein bisschen aus der neoliberalen Mottenkiste – es sind Steuersenkungen und andere Dinge –; das wird der Industrie im Moment nicht helfen. Wir brauchen flankierende Ideen zur Wasserstofftechnologie oder Batteriezellenforschung.
Wir brauchen für die Mobilität der Zukunft auch flächendeckend Ladesäulen. Derzeit debattieren wir über ein entsprechendes Gesetz. Wir hatten am Mittwoch im Wirtschaftsausschuss die Präsidentin des VDA zu Gast. Sie hat darauf hingewiesen, dass der Ausbau von 200 Ladesäulen pro Woche nicht reicht; wir brauchen 2 000 Ladesäulen, um ausreichend Ladepunkte in unserem Land zu garantieren.
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Deshalb wäre es gut, wenn wir uns in den Gesprächen der Koalitionspartner auf ambitionierte Ziele für den Fortschritt einigen könnten.
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Die Ansätze in Punkt 35 c des Konjunkturpakets sind gut. Der Wirtschaftsminister ist hier und verfolgt die Debatte. Ich würde mir wünschen, dass wir bei den regionalen Clustern schnell klären: Wer kann beantragen, welche Akteure müssen zusammenarbeiten, und wie kriegen wir Handlungskompetenz vor Ort gebündelt – Stichwort: Beteiligungsfonds –, um den Strukturwandel vor Ort für die Zulieferindustrie zu organisieren?
Wir haben mit dem Transformationskurzarbeitergeld den Belangen jener Beschäftigten Rechnung getragen, die Weiterbildungsbedarf haben. Hier kann man das Instrument sehr gut nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist seit 150 Jahren die Zukunftspartei, die Transformation und Strukturwandel kann. Dafür schenken uns die Menschen in diesem Land Vertrauen.
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Deswegen werden wir den Antrag der FDP – das ist nicht überraschend – ablehnen.
Vielen Dank.
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Alexander Ulrich, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute Morgen über die Automobilindustrie reden. 800 000 Arbeitsplätze direkt und 2 Millionen Arbeitsplätze indirekt – das macht deutlich: Sie ist ein wesentlicher Faktor für gute Arbeitsplätze, Tarifbindung und Wohlstand in diesem Land. Die Situation der Automobilindustrie muss uns Sorgen machen. Deshalb ist die Debatte heute mehr als notwendig.
Nicht notwendig ist, dass man sich mit dem Inhalt des FDP-Antrags befasst.
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Denn es sind mal wieder Forderungen enthalten, die der Industrie nicht helfen. Es ist ein Ich-wünsch-mir-was der üblichen Forderungen: Begrenzung der Lohnnebenkosten, Steuersenkung für Unternehmen usw. Das hilft keinem einzigen Arbeitsplatz und wird auch die Zukunft der Automobilindustrie in Deutschland nicht sichern.
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Die FDP muss sich Gedanken darüber machen, was sie eigentlich will. Denn sie hat einerseits Angst um die Jobs in der Automobilindustrie – das geht aus dem Antrag hervor –, lehnt andererseits aber Konjunkturpakete ab und kritisiert, dass die Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld verlängert worden ist. Wenn es nach der FDP ginge, wären Zehntausende Arbeitsplätze in der Automobilindustrie schon futsch. Man muss an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck bringen: Die FDP ist der schlechteste Ratgeber, wenn es um die Jobs in der Automobilindustrie geht.
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Dass sich die FDP nun auch zu den klimapolitischen Geisterfahrern in diesem Haus gesellt, hat der heutige Tag gezeigt. Ich frage mich, Herr Theurer: Hören Sie eigentlich im Wirtschaftsausschuss nicht zu, kriegen Sie die Informationen nicht mit? Nicht nur die IG Metall, sondern auch der VDA haben klipp und klar gesagt: Wir bekennen uns zum Pariser Klimaschutzabkommen. – Wir dürfen Beschäftigung und Klimaschutz nicht gegeneinander ausspielen. Alle politischen Ratgeber und alle politischen Entscheider wären gut beraten, die Chancen eines sozialökologischen Umbaus in der Automobilindustrie zu erkennen. So könnten auch Jobs entstehen, von denen wir heute vielleicht noch gar nicht wissen, dass es sie gibt.
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Herr Kollege Ulrich, der Kollege Theurer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Darf er gern.
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Herr Kollege Ulrich, die Präsidentin des VDA hat in der Sitzung am Mittwoch darauf hingewiesen, dass bei 75 Prozent der Fahrzeuge Verbrennungsmotoren bleiben, trotz der Elektrifizierungsstrategie, die die Bundesregierung verfolgt. Darüber hinaus sind 1 Milliarde Fahrzeuge derzeit Verbrenner. Vor diesem Hintergrund hat die Präsidentin des Verbands der Deutschen Automobilindustrie darauf hingewiesen: Um diese Fahrzeuge klimaneutral zu machen, sind synthetische Kraftstoffe aus Wasserstoff notwendig. Deshalb frage ich Sie: Hören Sie im Wirtschaftsausschuss nicht zu?
Herr Theurer, Ihre Nachfrage ist spaßig; denn Sie machen den gleichen Fehler wie schon seit Jahren. Die Debatte über Alternativen zur Elektromobilität wird von Ihnen und anderen leider genutzt, um die Notwendigkeit des Ausbaus der Elektromobilität auszubremsen.
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Die VDA-Präsidentin hat auch gesagt: Wir brauchen Alternativen wie Wasserstoff, zum Beispiel für Lkws und auch im Schiffsverkehr. Aber es nutzt nichts, wieder die Bremse bei batterieangetriebenen Fahrzeugen anzuziehen.
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Es ist dringend notwendig, dass der Ausbau beschleunigt wird. Und ich sage in Richtung Bundesregierung: Das geht nicht, wenn die Infrastruktur nicht endlich schneller aufgebaut wird. Wir brauchen eine Infrastruktur mit Ladesäulen, und natürlich müssen wir auch den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen; denn die Energie, die wir für Elektromobilität brauchen, muss erneuerbar sein.
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Herr Theurer, vielleicht kommen Sie mal wieder im Ausschuss vorbei. Da kriegt man vielleicht mehr mit, als wenn man nur an der einen oder anderen Stelle etwas hört; vielleicht sind Ihre Stichwortgeber auch nicht so gut beim Zuhören.
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Ich sage noch mal: Wir haben ein großes Problem in der Zulieferindustrie, Herr Altmaier. Die Hersteller verfügen teilweise noch über sehr viel Geld – das sehen wir an den Bonizahlungen, das sehen wir auch an den Dividendenauszahlungen; große Hersteller haben schon angekündigt, dass man trotz Corona und Kurzarbeit in diesem Jahr die gleichen Gewinnerwartungen hat wie im letzten Jahr –, große Probleme hingegen hat die Zulieferindustrie, weil dort die Margen niedriger sind, weil sie nicht die finanzielle Eigensubstanz hat, um zum einen Corona zu überwinden und um zum anderen in die Zukunft zu investieren.
Die IG Metall hat mit dem Transformationsfonds einen richtig guten Vorschlag gemacht, Herr Altmaier, um die finanziellen Möglichkeiten der Zulieferindustrie zu stärken. Nur läuft die Zeit manchem Zulieferer langsam davon. Ich erwarte von Ihnen und auch von der gesamten Bundesregierung, dass man sich den Vorschlag der IG Metall zu eigen macht
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und dass wir nicht noch ein Jahr darüber diskutieren, wie so was umgesetzt werden kann. Wir brauchen jetzt Entscheidungen. Beim nächsten Automobilgipfel muss dieser Transformationsfonds auf die Schiene gebracht werden – im wahrsten Sinne des Wortes –, damit die Unternehmen der Zulieferindustrie eine Perspektive haben; denn viele von ihnen sind tatsächlich insolvenzgefährdet. Es würde Tausende Jobs in diesem Land kosten, wenn die Bundesregierung weiterhin nur zuguckt.
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Ich komme zu einer zweiten Forderung, die die IG Metall aufgestellt hat und derzeit Gegenstand der öffentlichen Debatte ist; darüber ist heute noch nicht geredet worden. Möglicherweise werden wir nicht alle Arbeitsplätze erhalten können; denn wenn es nicht mehr so viele Autos mit Verbrennungsmotor gibt, dann braucht man auch keine Auspuffhersteller mehr, dann braucht man auch nicht mehr den Ölfilterhersteller oder andere Hersteller in diesem Bereich. Aber es nutzt auch nichts, für den Heizer auf der E-Lok zu kämpfen. Vielmehr wird es neue Arbeitsplätze geben.
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Deshalb brauchen wir eine Qualifizierungsoffensive für die Beschäftigten, bei der auch die Bundesagentur für Arbeit mithelfen muss.
Wir müssen auch drüber nachdenken, ob Arbeitszeit vielleicht umverteilt werden kann.
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Wenn schon vor Jahrzehnten VW gezeigt hat, dass man bei weniger Auftragsvolumen Arbeitsplätze mit der Viertagewoche retten kann, dann kann das auch eine Maßnahme sein, um in Zukunft die Facharbeiter in diesem Industriezweig zu halten.
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Deshalb ist die Forderung der IG Metall mehr als berechtigt, und wir sollten darüber nachdenken, Jobs über Arbeitszeitverkürzungen zu sichern.
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Wir unterstützen die IG Metall, wenn sie das tarifpolitisch auf die Schiene bringt. Aber es könnte auch politisch flankiert werden durch die eine oder andere Maßnahme; denn auch Kurzarbeit ist nichts anderes als eine Arbeitszeitverkürzung. Ohne Kurzarbeit hätten wir in ganz Deutschland, über den Industriezweig hinaus, schon viele Arbeitslose mehr.
Herr Kollege Ulrich, der Kollege Spaniel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Da er nachher noch redet, muss er mir jetzt keine Frage stellen. Er kann ja nachher auf mich eingehen, dann hat er vielleicht auch eine vernünftige Argumentationsgrundlage.
Sie wollen also keine Frage zulassen.
Nein.
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Natürlich müssen wir dafür sorgen – damit komme ich langsam zum Schluss –, dass die Arbeitsplätze der Zukunft auch in Deutschland entstehen. Die Batteriezelle hat ein Vorredner schon angesprochen. Herr Altmaier, Sie waren im Januar in meinem Wahlkreis in Kaiserslautern und haben feierlich mit PSA und Opel die hoffentlich anstehende Ansiedlung eines Batteriezellenwerks in Kaiserslautern gefeiert. Ich sage Ihnen aber – das zeigt, dass wir einen aktiven Staat brauchen –: Diese Transformation in der Automobilindustrie wird der Markt nicht alleine regeln. Wir brauchen einen aktiven Staat, der mithilft. Die Batteriezelle in Kaiserslautern ist ein Beispiel dafür: Hier werden einige Hundert Millionen Euro investiert. Herr Altmaier, wenn der Staat sich beteiligt, dann ist das Mindeste, was man erwarten kann, dass diese Unternehmen mitbestimmt sind und dass eine Tarifbindung hergestellt wird.
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Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Wir haben gut bezahlte Jobs in der Automobilindustrie, und die sollen auch in Zukunft gut bezahlt sein; darüber müssen wir uns politisch auseinandersetzen. Deshalb: Machen Sie was! Infrastruktur, Investitionen, Qualifizierung, Tarifbindung und Mitbestimmung – das ist die Zukunft. Dann haben wir auch keine Angst vor der Frage, ob die Automobilindustrie in Deutschland auch noch in ein paar Jahren sehr gut aufgestellt ist.
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Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! – Nein, jetzt sehr geehrte Frau Präsidentin! – Die Beschäftigten in der Automobilindustrie verdienen unsere aktive Unterstützung. Wir müssen ihnen helfen bei der Weiterqualifizierung. Wir haben uns als Grüne für ein Modell der Qualifizierungskurzarbeit eingesetzt. Wir sind offen für Ideen der IG Metall zu Transformationsfonds. Was aber nichts bringt, ist diese Form der Realitätsverweigerung, die die FDP bei den Weltmarkttrends wie der Elektromobilität, die es ja zweifelsohne gibt, an den Tag legt.
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Ich dachte, Herr Theurer, Sie seien eine Partei der Marktwirtschaft. Schauen wir uns mal die globalen Trends an: Hier, vor den Toren Berlins, erwarten wir im nächsten Jahr eine Investition von Tesla in Höhe von 10 Milliarden Euro. 10 000 Arbeitsplätze werden dort geschaffen. Der VW-Konzern, der größte Automobilkonzern der Welt, setzt mit einer klaren Strategie auf das Thema Elektromobilität. Tesla ist übrigens an der Börse mehr wert als alle deutschen Automobilhersteller zusammen. Keiner der Automobilhersteller war in den letzten zehn Jahre daran gehindert, genauso entschlossen und mutig in Zukunftstechnologien zu investieren, wie das in Palo Alto passiert ist.
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Herr Spaniel, Sie halten gleich Ihre eigene Rede. Ich glaube, das war ein gutes und richtiges Argument; das wissen Sie auch. – Sehen Sie? Ertappt!
Herr Janecek.
Was kann man denn jetzt ganz konkret vor Ort tun? Da schaue ich nach Baden-Württemberg. Baden-Württemberg hat vor vielen Jahren einen Dialog mit der Automobilindustrie aus der Taufe gehoben. Da geht es um die Probleme der Zulieferindustrie, Herr Altmaier. Da geht es um die Speichertechnologien. Da geht es auch um Grünen Wasserstoff. Dieser kann in bestimmten Bereichen des Fahrzeugsegments helfen, momentan zwar nicht im Pkw-Segment, aber beispielsweise im Schwerlastverkehr.
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Baden-Württemberg ist übrigens auch das Land, in dem die beste Ladeinfrastruktur Deutschlands vorhanden ist. Wenn Sie dort sind – Cem Özdemir wird später noch für uns sprechen –, finden Sie im Umkreis von 10 Kilometern überall im Land eine Ladesäule. Das ist Vorbild. So macht man Industriepolitik!
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Nun zum Thema Freihandelsabkommen, Herr Theurer. Wir können ja gerne streiten, welche Freihandelsabkommen zu welchen Kriterien umgesetzt werden müssen. Auch wir Grüne bekennen uns grundsätzlich zum Freihandel. Aber es wird der Automobilindustrie nicht helfen, wenn wir die Regenwälder in Brasilien abbrennen. Wir müssen Kriterien schaffen, die auch verantwortbar sind.
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Ich frage mich: Technologieoffenheit, was heißt denn das bei Ihnen? Heißt das, dass sich eine Technologie, die sich aktuell auf dem Weltmarkt durchsetzt – –
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Herr Janecek.
Darf ich den Satz noch kurz beenden?
Ja, und dann muss ich Sie etwas fragen.
Das ist momentan die Batteriezellenfertigung, und das ist auch die Elektromobilität. Wenn diese Technologien auf dem Vormarsch sind, sollen wir uns dann als Staat zurücklehnen und sagen: „Wir schaffen keine Bedingungen, um das vor Ort zu unterstützen“? Ist das Ihre Aussage?
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Technologieoffenheit heißt bei Ihnen nichts anderes, als dass Sie in der Zukunft auf eine Wasserstoff-E-Fuel-Technologie setzen, die momentan überhaupt noch nicht entwickelt ist.
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Wer auf der Welt investiert denn momentan in diesem Bereich? Zeigen Sie mir ein Beispiel!
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Jetzt ist es zu spät.
Jetzt ist es zu spät für Ihre Zwischenfrage, sagt die Frau Präsidentin. – Dann komme ich zum Schluss.
Ich glaube, wir müssen jetzt einfach die Augen aufmachen. Ich fand übrigens auch die Rede von Herrn Heider richtig, der gesagt hat: Wir müssen uns die aktuellen Trends auf der Welt anschauen und können nicht weiter eine solche Realitätsverweigerung betreiben, wie Sie von der FDP das tun. Ihr Feldzug gegen die Elektromobilität ist von gestern. Wir werden in vielen Segmenten technologieoffen bleiben. Momentan ist der Trend ziemlich klar. Lassen Sie uns daher handeln für die Beschäftigten in der Automobilindustrie, aber nicht mit der Denkweise von gestern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dieter Janecek. – Einen schönen guten Morgen von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Bernhard Loos.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP spricht in ihrem Antrag von einem „Job-Kahlschlag“ und suggeriert, dass die Bundesregierung der aktive Verursacher der Probleme der Branche sei. Woanders sagt man dazu: Das sind Fake News. – Lieber Kollege Theurer, schlimmer noch: Sie reden bewusst die deutsche Schlüsselindustrie schlecht, die mit mehr als 900 000 Beschäftigten 10 Prozent zur Bruttowertschöpfung unseres Landes beiträgt.
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Sie schädigen damit das Image der ganzen deutschen Industrie weltweit. Ich habe an anderer Stelle schon mal gesagt, dass es Zeiten gegeben hat, in denen ich von der FDP etwas anderes erwartet hätte.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von einseitiger Förderung der Elektromobilität und von politischen Wunschvorstellungen, die den globalen Märkten nicht entsprechen. Ich sage Ihnen: Wir stehen für Technologieoffenheit, aber auch für Unterstützung, und zwar da, wo die deutsche Industrie einen offenkundigen Nachholbedarf hat; Stichwort: E-Mobilität. Der VW-Chef, Herr Diess, setzt voll auf E‑Mobilität. BMW will bald jeden dritten Mini in China verkaufen, natürlich als E-Mobil. Tesla baut ein Megawerk für E-Autos in Berlin. Sind das also nur Wunschvorstellungen der Bundesregierung? – Nein, das ist die Realität des Marktes, und das sollte gerade die FDP zumindest zur Kenntnis nehmen.
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Die Zahl der Förderanträge für E-Automobile steigt gerade an. Im Oktober hatten wir 33 000 Anträge, seit Juli waren es rund 100 000 Anträge.
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Das ist eine echte Förderung der Automobilindustrie und eben kein Kahlschlag.
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Dieser FDP-Antrag ist eine hastige Zusammenstellung aller möglichen Überlegungen, vom Abschluss von Freihandelsabkommen über die Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge und einen fairen internationalen Steuerwettbewerb bis hin zum Fachkräftemangel. Als Unionsmann kann ich vieles davon unterschreiben. Aber mal ganz ehrlich: Sind das wirklich die Punkte, die jetzt konkret und schnell den Beschäftigten der Automobilindustrie helfen und ihre Arbeitsplätze sichern? Ihre Forderung nach Abschaffung der CO2-Flottengrenzwerte der EU ist eine reine Schaufensterforderung, die in der EU nie durchsetzbar ist, und das wissen Sie.
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Lassen Sie uns lieber über die wichtigen Punkte für die Automobilindustrie reden: Ladeinfrastruktur, autonomes Fahren, Digitalisierung, Förderung von Autobau und Eigenkapital für Zulieferer. Genau das macht die Bundesregierung schon; dafür braucht es keinen verspäteten Antrag der FDP.
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Ja, ich kenne die Zahlen der Nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“ mit rund 410 000 gefährdeten Arbeitsplätzen in den kommenden zehn Jahren. Aber schon vor der Coronakrise sprach der Verband der Automobilindustrie von rund 70 000 gefährdeten Arbeitsplätzen in der Fertigung von Verbrennerantriebssträngen.
Wir von der Union wollen die Automobilwirtschaft dabei unterstützen, fit zu sein für die Zukunftsherausforderungen einer sich weltweit wandelnden Mobilität. Wir brauchen einen Neustart für die Zukunftsidee des Automobils.
Im Konjunkturprogramm ist unter Ziffer 35 c bereits ein Förderprogramm für Zukunftsinvestitionen der Fahrzeughersteller und der Zulieferindustrie mit einem Gesamtvolumen von 2 Milliarden Euro aufgelegt. Wir haben den Transformationsdialog Automobilindustrie bereits ins Laufen gebracht, um Zukunftstechnologien auf marktwirtschaftlicher Basis in den regionalen Räumen zu verankern, um dort neue Perspektiven und neue Arbeitsplätze zu schaffen. IG-Metall-Chef Jörg Hoffmann hat es doch im Wirtschaftsausschuss auf den Punkt gebracht: Arbeitsplatzverluste müssen in der jeweiligen Region kompensiert werden.
Vor allem die Zulieferindustrie müssen wir aktiv unterstützen. Für die rund 1 000 Zulieferer in Deutschland ist ein Strukturfonds aus meiner Sicht der richtige Weg. Ich danke Gewerkschaft, Industrie und dem Bundeswirtschaftsminister Altmaier, dass über einen solchen Transformationsfonds in Milliardenvolumen nachgedacht wird. Es ist besser, wir gestalten den Wandel jetzt mit, und zwar positiv, als einer Entwicklung hinterherzulaufen.
Der Export ist für die deutsche Automobilwirtschaft eminent wichtig. Globale Heraus- und Anforderungen des Weltmarktes sind entscheidend. Ein Blick nach China, wo ich als Unternehmer öfter selber bin, aber auch nach Kalifornien zeigt es doch: Wir reden von einem globalen Trend.
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Allein in China gab es 2019 rund 500 Hersteller von E-Fahrzeugen,
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und Tesla aus den USA ist ja mittlerweile auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Daher müssen wir, die Politik, die Industrie beim Technologiewandel unterstützen. Das ist doch der Grund, warum der Bund die Batteriezellenforschung massiv voranbringen will.
Ich gebe der VDA-Präsidentin Hildegard Müller recht, dass wir auch beim Bau der öffentlichen Ladeinfrastruktur vieles besser machen müssen. Ohne ausreichende Ladestationen auch im ländlichen Raum gibt es keine breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit;
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3 300 Schnellladepunkte im öffentlichen Raum und 28 000 in den Kommunen sind zu wenig. Dazu gehört natürlich auch ein einheitliches Ladeabrechnungssystem.
Wir müssen natürlich technologieneutral sein. Dazu zählen für mich synthetische Kraftstoffe, verbesserte Verbrennungsmotoren, Brennstoffzellen und Wasserstoff. Japan und China setzen voll auf Wasserstoff, und auch deutsche Automobilbauer sind am Entwickeln. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, VDMA, geht allein im Bereich Wasserstoff von bis zu 470 000 neuen Arbeitsplätzen in Deutschland bis 2050 aus.
Natürlich hat Markus Söder völlig recht, wenn er im „Handelsblatt“ am 12. Oktober sagt:
Ab 2035 sollte es keine Neuzulassungen von fossilen Verbrennern mehr geben, dafür aber Elektro-, Wasserstoff- oder Biospritantriebe.
Das sei technologisch und ökonomisch gut machbar.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Solche Anreizmodelle mit verlässlicher Perspektive für die Produktion von E-Autos helfen der Automobilwirtschaft und der Umwelt. Veränderungen sind Chancen, keine Bedrohungen. Optimismus statt Pessimismus, das unterscheidet uns von Ihnen.
Herr Kollege!
Wir bringen Deutschland voran.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Bernhard Loos. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte nicht gedacht, in dieser Debatte so viel Ahnungslosigkeit und Konzeptlosigkeit von der Regierung zu hören.
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Es ist unfassbar, von welchen Leuten dieses Land regiert wird. – Herr Theurer, ein dickes Lob an Sie; Sie haben wenigstens den Punkt erkannt: Der Erhalt des Verbrennungsmotors ist für die Arbeitsplätze in diesem Land essenziell. – Sehr schön.
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Aber, Herr Theurer, ich frage mich, was schlimmer ist, die Ahnungslosigkeit bei der Regierung oder Ihre Verlogenheit. Sie haben unseren Antrag zum Erhalt des Verbrennungsmotors ja abgelehnt, nicht Sie persönlich, aber Ihre ganze Fraktion.
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Also, halten wir mal fest: Wir lernen hier von der Regierungsseite, dass Ihnen allen der Transformationsprozess in Richtung Elektromobilität gar nicht schnell genug gehen kann. Was bedeutet denn dieser Transformationsprozess? Er bedeutet – davon gehen Sie alle ja aus –, dass wir hier in Deutschland zu einem großen Teil die Batteriesysteme für die Elektrofahrzeuge herstellen und die Wertschöpfung im Land halten. Wissen Sie eigentlich, wie viel Strom man für die Herstellung einer durchschnittlichen Batterie braucht? Ich will es Ihnen sagen: 10 000 Kilowattstunden. Und diese 10 000 Kilowattstunden verursachen hier in Deutschland bei unsubventionierten Strompreisen über 3 000 Euro an Kosten.
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– Herr Krischer, Sie haben ja keine Ahnung. – In China können Sie die gleiche Batterie für 300 Euro Stromkosten herstellen. Jetzt muss ich als Unternehmer mal kurz überlegen: Baue ich die Batterie für 300 Euro in China oder für 3 000 Euro in Deutschland? Alle, die jetzt mitgedacht haben und überlegen mussten, können froh sein, dass sie Politiker sind und nicht in der Wirtschaft ihr Geld verdienen müssen.
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Meine Damen und Herren, es wird in Deutschland ohne steuerliche Subventionen keine Batteriezellenfertigung geben. Aus! Alle Arbeitsplätze in der Antriebsstrangfertigung werden genauso verschwinden wie die in der Solarzellenindustrie. Was Sie hier verbreiten, sind Geschichten von irgendwelchen Wunderwaffen, sind Märchen. Das gibt es alles gar nicht.
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Völliger Humbug!
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Aber kommen wir mal zu einer anderen interessanten Aussage. Eine andere interessante Aussage ist ja, dass Sie alle davon ausgehen, dass wir in Deutschland nach wie vor Verbrennungsmotoren erhalten.
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– Ja, Moment. – Die Politik, die wir momentan betreiben, hat zur Folge, dass es in Europa ab 2030 keine Zulassung für Verbrennungsmotoren mehr gibt. Das heißt, die deutschen Hersteller müssten ihre Autos komplett exportieren. Ja, wer ist denn als Autohersteller so bekloppt und exportiert seine Autos aus dem teuren Deutschland nach Amerika oder Russland, wenn er sie vor Ort ohne Importzölle und bei niedrigeren Arbeitskosten bauen kann? Kein Mensch.
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Was Sie hier machen, ist die komplette Abschaffung der deutschen Automobilindustrie. Und das ist mehr als fahrlässig.
Es gibt nur einen richtigen Weg, und das ist der Erhalt des Verbrennungsmotors. Das ist die Politik der AfD, und die geht komplett ohne Verlogenheit. Fördern wir synthetische Kraftstoffe! Das muss unser Weg sein. Ich bitte darum, dass wenigstens die einigermaßen wirtschaftsorientierten Parteien in diesem Plenum einfach mal über ihren Schatten springen und vernünftige Politik machen und mit diesem Märchenerzählen aufhören, das es hier gibt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Spaniel. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Gabriele Katzmarek.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute nicht die erste Debatte, die wir über die Zukunft der Automobilindustrie führen, und es wird auch nicht die letzte Debatte sein. Darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig.
In meinem Wahlkreis ist das Thema „Zukunft der Automobilindustrie“ tagtäglich präsent. Wir haben drei Produktionswerke eines namhaften Automobilherstellers, große Zulieferer wie Bosch und Schaeffler, kleinere Zulieferer mit Tausenden von Beschäftigten. Hinzu kommen viele vorgelagerte Bereiche wie der Maschinenbau und letztendlich Arbeitsplätze in der Region vom Bäcker bis zum Zeitungsverkäufer. Dass sich dort Sorgen breitmachen, wie die Zukunft aussieht, wie es um Arbeitsplätze, um Einkommen oder gar um die Ausbildungsplätze der Kinder steht, das kann sich, glaube ich, jeder vorstellen.
Die Frage nach der Zukunft der Automobilindustrie ist aber nicht erst heute aufgekommen, mit Covid-19. Nein, wir diskutieren bereits seit vielen Jahren darüber, wie ein Wandel in der Automobilindustrie zu gestalten ist.
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Und genau deshalb haben wir als Sozialdemokraten, als es die rechte Seite des Hauses mit ihrem Geplärre noch nicht gab, bereits angefangen, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in einen Dialog über die Zukunft zu treten. Denn eines ist klar, meine sehr geehrten Damen und Herren: Der Transformationsprozess, also der fundamentale Wandel in der Automobilindustrie,
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gelingt nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
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Corona – das ist richtig – hat die Krise in Deutschland, in der deutschen Automobilindustrie verschärft. Genau deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir handeln und dass wir bereits gehandelt haben, meine Damen und Herren von der FDP. Mein Kollege Bernd Westphal hat bereits einiges dazu gesagt, aber auch mein Kollege Falko Mohrs wird noch darauf eingehen.
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– Darauf können Sie auch sehr gespannt sein.
Alle machen sich darüber Gedanken – das unterstelle ich allen demokratischen Parteien in diesem Haus –, wie die Lösung aussehen kann, was die richtigen Ansätze sind, wenn es um das Thema „Zukunft der Automobilindustrie“ geht. Das unterstelle ich jedem. Nur haben wir – und das unterscheidet uns von Ihnen, Herr Theurer, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP – andere Ansätze.
Ihr Ansatz ist, dass Sie sofort über Regulierung reden wollen und sagen, Staatseingriffe müssten verhindert werden. In Ihrem Zehn-Punkte-Programm geht es an erster Stelle um Freihandelsabkommen. Darüber hinaus geht es darin um Steuersenkungen,
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um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für alle,
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aber auch um die Sozialversicherungssysteme – die sparen Sie in Ihrem Antrag nicht aus –, die Sie ein Stück weit infrage stellen. Das ist nicht unser Ansatz. Das können wir hier ganz deutlich sagen.
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Ihr Ansatz ist Ihr klassischer Ansatz, nämlich Unternehmen finanziell zu entlasten, zu sagen, der freie Markt werde es schon richten. Dass dies nicht der Fall ist, das erleben wir heute. Genau deshalb ist es wichtig für uns, mit den Sozialpartnern, mit Arbeitnehmern und Gewerkschaften, aber auch mit Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden, in einen Dialog zu treten, um den richtigen Weg zu finden. Ich glaube, so sind wir richtig und gut aufgestellt. Dazu finde ich bei Ihnen allerdings wenig.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
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Ich will hier heute noch eines sagen, was ich wichtig finde: Wir haben in den letzten Wochen und Monaten erlebt, dass Unternehmen die Krise ausnutzen, um sich umzuorganisieren, Arbeitnehmer zu entlassen, Werke zu schließen; exemplarisches Beispiel: Conti. Da will ich Ihnen sagen: Das ist der falsche Weg.
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Das Beispiel zeigt, dass nicht mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern um einen Weg gerungen wird, Arbeitsplätze zu erhalten. Ich kann Ihnen sagen: Wir als Sozialdemokraten werden dafür streiten; denn es geht um die Zukunft unseres Landes und der Menschen in unserem Lande.
Frau Kollegin, das war jetzt aber ein langer letzter Satz.
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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
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Dass er wichtig ist, darf nicht mein Kriterium sein. Sonst wären manche Reden kürzer und manche länger.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Oliver Luksic.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind Weltmeister im Bereich Autobau. Schlüsselindustrie in Deutschland ist der Fahrzeugbau. Da sind wir Weltklasse. Wir stehen aber vor einer dreifachen Herausforderung: Kurzfristig ist das Corona; daneben sind das auch Digitalisierung und Dekarbonisierung. Das Kernproblem ist aber, dass wir ganz planwirtschaftlich auf eine einzige Technologie setzen und damit den sauberen Verbrenner abwickeln. Das sorgt für Kostendruck und auch für Jobkahlschlag.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem ist ja nicht der Markt. Sie müssen die Mechanismen verstehen. Die Flottengrenzwerte, die Sie ja noch weiter verschärfen wollen, sorgen dafür, dass Tausende Euro Strafzahlungen für saubere Verbrenner geleistet werden müssen. Gleichzeitig wollen Sie 10 000 Euro und mehr an Subventionen für E-Autos. Mit Marktwirtschaft hat das relativ wenig zu tun.
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Das in Kombination mit den neuen Euro-7-Normen, die die Bundesregierung in Brüssel auch noch unterstützt, ergibt faktisch ein Verbot, ein Unmöglichmachen für den Verbrennungsmotor. Das ist es, was wir kritisieren.
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Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Klaus Ernst?
Ja. Bitte schön.
Danke, dass Sie meine Frage zulassen. – Sie plädieren ja, wenn ich Sie richtig verstehe, dafür, das ganze Problem, das wir zurzeit haben, marktwirtschaftlich zu lösen. Haben Sie sich eigentlich einmal Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn wir in diesem Bereich nicht fördern würden, wenn wir zum Beispiel nicht massiv in die Batteriefertigung einsteigen würden, was wir momentan machen, wenn wir nicht massiv die Wasserstofftechnologie fördern würden, was die Bundesregierung richtigerweise macht? Dann würden wir gar nichts hinkriegen. Haben Sie sich vor allem einmal Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn wir jetzt mit marktwirtschaftlichen Mitteln und nicht mit einer Fülle von Geld versuchen würden, diese Coronakrise in den Griff zu kriegen? Dann gäbe es gar keine marktwirtschaftliche Entwicklung mehr, weil so viele Betriebe pleite wären, dass wir in der Wirtschaft eine Konzentration hätten, die möglicherweise dazu führen würde, dass wir etwas ganz anderes regulieren müssten, nämlich eine Monopolisierung.
Sie glauben, dass wir die Probleme, die wir in diesem Lande haben, nur mit marktwirtschaftlichen Mitteln lösen könnten. Damit sprechen Sie sich aber eigentlich dafür aus, dass wir die Unternehmen pleitegehen lassen, dass wir die Leute nach Hause schicken, statt Kurzarbeit zu ermöglichen.
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Damit plädieren Sie eigentlich dafür, dass wir dieses Land vollständig ruinieren. Ich habe die FDP immer anders verstanden.
Herr Kollege!
Das, was Sie gegenwärtig machen, ist das Gegenteil von dem, was eine FDP eigentlich machen sollte.
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Gut. – Herr Luksic.
Herr Kollege Ernst, Sie haben die FDP offensichtlich falsch verstanden. Wir argumentieren nicht, dass der Staat keine Rolle spielen soll – das soll er zum Beispiel bei der Ladeinfrastruktur –, aber wir kritisieren das Maß an Regulierung, zum Beispiel bei den Flottengrenzwerten. Einerseits gibt es hohe Strafzahlungen und andererseits hohe Subventionen.
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich aus der Batterieproduktion alle deutschen Hersteller aus Kostengründen verabschiedet haben. Es wird sehr schwierig werden, solche Batterien ohne Subventionen dauerhaft in Deutschland herzustellen. Das ist das gleiche Phänomen, das wir zum Beispiel bei der Photovoltaik hatten.
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Auch da lag es an der Energiepolitik. Bosch und alle anderen haben sich zurückgezogen. Nur aufgrund von Subventionen wird die Produktion nicht dauerhaft hierherkommen. Das ist das Kernproblem. Wir haben eine Verlagerung der Wertschöpfung hin zur Batterie, und das kritisieren wir.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist also das Kernproblem, das wir haben. Wenn Sie zum Beispiel mit den Betriebsräten diskutieren, zum Beispiel bei Ford – die sind in meinem Wahlkreis; Peter Altmaier wird das kennen, ich war kurz nach ihm dort –, dann hören Sie, dass dort großes Unverständnis herrscht. Zum Beispiel im Kompaktsegment wie Ford Focus oder Ford Fiesta verdient Ford nur wenige Hundert Euro pro Fahrzeug. Wenn es elektrifiziert wird und das Fahrzeug dadurch Tausende Euro teurer wird, kann es in Deutschland nicht mehr hergestellt werden.
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Deswegen, lieber Kollege Ernst: Reden Sie mal mit den Betriebsräten. Die haben sehr viel Verständnis für unsere Politik, weil die Regulierung einfach falsch ist. Ford-Chef Gunnar Herrmann hat es klar gesagt: Aufgrund der Regulierung werden in Deutschland weniger Fahrzeuge produziert. – Das ist der Kern des Problems. Das müssen wir ändern.
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Das betrifft nicht nur das Auto, das betrifft auch die schweren Nutzfahrzeuge. Da macht die Elektrifizierung noch weniger Sinn. Wir brauchen einen Mix an Technologien, aber Sie setzen einseitig auf eine einzelne Technologie. Je größer das Fahrzeug und je größer die Reichweite ist, desto weniger macht Ihr einseitiger Fokus auf die batteriebetriebene Mobilität Sinn. Lkws, Busse, all das soll elektrifiziert werden, ohne dass Sie erklären, wo die Ladestationen für diese Fahrzeuge sind. Diese gibt es noch gar nicht. Übrigens müssten Sie sich auch um die Verteilernetze kümmern. Dafür müsste man ganz Deutschland umgraben. Das haben Sie einfach nicht auf dem Schirm. Und das ist das Kernproblem.
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Wo der Staat dagegen eine Rolle spielen muss, ist, wenn es zum Beispiel um den Rechtsrahmen für das autonome Fahren geht. Da haben wir in der Tat einen Rückstand, der aufgeholt werden muss. Natürlich muss der Staat auch bei der Infrastruktur eine Rolle spielen. Aber was Sie machen, ist, Wunden aufzureißen und dann einzelnen Firmen Subventionen zu geben. Reden Sie einmal mit den vielen kleinen Zulieferern, die Hightechprodukte herstellen, mit der metallverarbeitenden Industrie. Die hängen alle am Verbrenner. Da hilft es relativ wenig, wenn Sie ein kleines Pflaster auf eine große Wunde kleben.
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Ich habe solche Unternehmen besucht, auch im Wahlkreis von Peter Altmaier.
Die Politik von Peter Altmaier und die von Frau von der Leyen in Brüssel schadet massiv der deutschen Automobilindustrie. Wir brauchen eine faire Chance für saubere Verbrenner, sonst werden wir weiter dauerhaft Arbeitsplätze und Wertschöpfung verlieren. Das wollen wir verhindern.
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Vielen Dank, Oliver Luksic. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Antrag der FDP liest, muss man sich ernsthaft Sorgen machen angesichts des zerrütteten Verhältnisses zwischen der Wirtschaft und der FDP. Ich frage mich: Warum trauen Sie unserer deutschen Automobilwirtschaft eigentlich so wenig zu? Offenbar halten Sie nichts von Topmanagern wie Herbert Diess, der beim Pkw voll auf E-Mobilität setzt.
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Offenbar halten Sie auch nichts von Daimler – das nehme ich schon etwas persönlicher –, die im Pkw-Bereich aus der Wasserstofftechnologie ausgestiegen sind, weil diese für den Pkw zu teuer ist. Das ist schlichte Ökonomie. Das sollte man einmal zur Kenntnis nehmen.
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Dann frage ich mich: Für welche Autos wollen Sie eigentlich die teuren Wasserstofftankstellen weiter aufbauen? Für deutsche Modelle jedenfalls nicht. Sie wollen viel Steuergeld auf diese Technologie setzen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom FDP-Kollegen?
Von wem?
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Nein, nicht von Ihnen. Setzen!
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Von Dr. Jung. Entschuldigung. Dr. Jung hatte sich zuerst gemeldet.
Dr. Jung, aber nur, wenn er Schwäbisch schwätzt. Bitte.
Kann er Schwäbisch? Nein, Badisch. – Herr Dr. Jung, bitte.
Lieber Herr Kollege Özdemir, im badischen Landesteil können wir auch Hochdeutsch, und das sprechen wir hier in Berlin. – Was mir wichtig ist: Ich habe den Eindruck, dass Sie den Antrag von uns – wie auch Ihr Kollege von den Grünen, der vorhin gesprochen hat – überhaupt nicht gelesen haben. Wir, der Kollege Theurer und ich, kommen aus der Region Karlsruhe. Wir haben dort das KIT, wo auch Sie schon mal waren. Dort haben Sie die Wasserstoffforscher kennengelernt. Unser Antrag zielt nicht nur auf die Pkw, sondern auch auf die Nutzfahrzeuge. Wir haben zum Beispiel in Wörth, wo wir jetzt dank der Landesregierung die zweite Rheinbrücke bekommen werden, das größte Lkw-Werk der Welt von Daimler.
Deswegen frage ich mich bei dem, was Sie jetzt in den letzten 30, 40 Sekunden gesagt haben, ob Sie wirklich diesen Antrag gelesen haben; denn dieser zielt wirklich in die Zukunft. Wir versuchen alles, um die Arbeitsplätze in Baden-Württemberg zum Beispiel, um die Standorte bei uns zu erhalten; Frau Katzmarek hat es auch gesagt. In der Region Rastatt brennt es im Moment in den Familien. Deswegen möchte ich eigentlich nicht so oberflächliche Reden wie die von Ihnen hören. Vielmehr müssen wir diese Themen lösungsorientiert angehen. Deswegen möchte ich Sie noch mal fragen: Haben Sie diesen Antrag wirklich gelesen, oder lesen Sie gerade nur Textbausteine vor?
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Herr Özdemir.
Vielen Dank für Ihre Frage. – Ich habe Ihren Antrag gelesen, weil ich Anträge von demokratischen Fraktionen immer lese; das gehört sich so.
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Lieber Herr Kollege, ich rede jetzt gerade über den Pkw. Da müssen Sie schon richtig zitieren. Denn Daimler hat eine Industrieentscheidung getroffen. Sie haben sich beim Wasserstoff aus dem Pkw-Bereich zurückgezogen und gehen in den Lkw-Bereich; denn dort macht es auch Sinn.
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Die Klimakrise ist so fortgeschritten, Herr Kollege – ich glaube, das kann ich hier im Namen von allen sagen –, dass wir auf nichts verzichten können. Wir werden jede Technologie brauchen, aber wir brauchen nicht jede Technologie überall. Wir müssen sie dort einsetzen, wo sie unter ökonomischen, ökologischen Kostengesichtspunkten Sinn macht.
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Das ist schlichte Ökonomie. Das kann man doch wissen, wenn man bei der FDP ist und sich gelegentlich mit Marktwirtschaft beschäftigt.
Ich nenne Ihnen ein anderes Unternehmen – es geht nicht nur um die OEMs, sondern es geht auch um die Zulieferer –: Dettingen an der Erms, 6 Kilometer entfernt von Bad Urach, ElringKlinger, Chef Stefan Wolf, der auch Chef von Südwestmetall ist. Er hat schwierige Transformationen zu meistern.
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Den beneide ich nicht um seine Aufgabe. Aber er geht mutig voran und sagt: Ich gehe in den Wasserstoff zusammen mit Airbus. Denn im Flugzeug macht es natürlich Sinn; da werden wir mit batteriebetriebener Elektromobilität nicht vom Fleck kommen.
Nochmals: Wir brauchen alles, aber wir brauchen nicht alles überall. Darum geht es. Das kann man doch verstehen; so kompliziert ist es nicht.
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Gut, danke schön. – Jetzt geht es weiter mit der Rede.
Ich war ja gerade dabei, zu fragen, für welche Autos Sie das wollen. – Da gibt es eine weitere Zwischenfrage, aber ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende bringen.
Ja. Das habe ich mir gedacht.
Also, deutsche Automobile sind es jedenfalls nicht. Sie wollen viel Steuergeld für eine Technologie einsetzen, wo deutsche Hersteller im Pkw-Bereich schlicht nichts anzubieten haben. Das wäre schlechte Standortpolitik, meine Damen und Herren.
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Ich rate Ihnen, sich von der Industrie da mal auf den Stand bringen zu lassen. Vielleicht nehmen Sie bei der Gelegenheit gleich den Verkehrsminister mit.
Für alle, die den Antrag nicht gelesen haben, für die Zuhörerinnen und Zuhörer draußen übersetze ich ihn: Was Sie hier wollen, ist schlicht, einen Schutzzaun um eine fossile Technologie zu ziehen, die aufgrund eines völkerrechtlich verbindlichen Abkommens, nämlich des Pariser Klimaschutzabkommens, ein Auslaufdatum hat. Paris heißt nichts anderes als Schluss mit dem Erdöl im Verkehr. Das ist die Grundlage, auf der wir hier künftig Politik machen werden.
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Jetzt sage ich es doch, weil ich in Gedanken gerade auch ein bisschen in Georgia bin: Ich hoffe, dass wir im Weißen Haus bald einen Partner bekommen, mit dem zusammen wir die Dekarbonisierung voranbringen können. Dann kann es doch nicht sein, dass die FDP die letzte demokratische Fraktion im Bundestag ist, die immer noch dem fossilen Verbrenner hinterherweint, während der Rest die Zukunft anpackt. Machen sie doch mit im Ideenwettbewerb um die Zukunft, und hören Sie auf zu schmollen.
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Weniger German Angst, mehr German Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
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Ich habe mal gezählt, wie oft in Ihrem Antrag das Wort „Klimaschutz“ vorkommt. Wissen Sie, wie oft? Kein einziges Mal. Das ist nur konsequent; denn Sie wollten den Klimaschutz ja auch den Profis überlassen. Aber die Marktwirtschaft auch gleich mit?
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Nehmen Sie doch mal Folgendes zur Kenntnis: In Ihrem Antrag steht selber drin: 75 Prozent Exportquote. Schauen wir uns an: Wo sind denn die Exportmärkte? Die wichtigsten Exportmärkte, darunter Frankreich, Großbritannien, Spanien, haben angekündigt, in den nächsten 20 Jahren aus dem fossilen Verbrenner auszusteigen. Kalifornien – es wäre für sich genommen die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt – macht es genauso. China hat ebenfalls entsprechende Pläne.
Das heißt, wenn wir in 15 Jahren noch Autos exportieren wollen, dann müssen sie schlicht emissionsfrei sein. Also, wer deutsche Autos möchte, der muss sich zum Fortschritt bekennen und nicht zur Vergangenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
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Herr Kollege.
Meine Redezeit ist leider abgelaufen; deshalb kann ich viele gute Sachen nicht mehr sagen. Aber ich lade Sie ein, meine Damen und Herren: Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Markt – das ist doch verrückt, dass ich das der FDP erklären muss. Darum geht es: Anpacken und nicht zaudern.
Danke.
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Vielen Dank, Cem Özdemir. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Rede haben wir vergleichsweise viel Ideologie, viel Lautstärke, leider zu wenig Sachlichkeit gehört. Eines ist, glaube ich, unbestritten: Die Automobilindustrie weltweit und insbesondere auch die deutsche steht vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Mit großer Sicherheit werden die Produkte, wird die gesamte Industrie im Jahr 2030 ein gänzlich anderes Gesicht haben, als sie es heute hat.
Die Herausforderungen der Digitalisierung, das Thema „assistiertes unterstütztes autonomes Fahren“ und auch das Thema Rechtsrahmenschaffung sind zum Teil angesprochen worden. Diese Diskussion hat sich bisher sehr intensiv mit der Frage der Antriebstechnologie beschäftigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir neben dem Verbrenner eine Vielzahl von alternativen Antrieben sehen werden. Dazu wird batteriegestützte Elektromobilität gehören. Dazu wird Wasserstofftechnik gehören, und zwar sowohl in Verbrennungskolbenmaschinen wie allerdings auch in Anwendung mit Brennstoffzellen.
Ich bin mir sehr sicher, dass insbesondere die Wasserstofftechnologie eine große Rolle spielen wird. Ich will mich mal an meinen Vorredner wenden. Mit dem Ansatz, den Sie hier eben für die Mobilitätsbranche versucht haben zu implementieren, nämlich in der Entwicklungsphase auf Kosten zu achten, wären wir beim großen Projekt der Energiewende kläglich gescheitert. Deswegen sind wir als Union der Auffassung, ideologiefrei an die Dinge heranzugehen. So wie wir es bei der Einleitung der Energiewende gemacht haben, werden wir es eben auch für die künftige Mobilitätswende gangbar machen. Deswegen zählen bei den Technologien, die jetzt am Anfang der Entwicklung stehen, ökonomische Aspekte noch nicht. Wir unterstützen Forschung und fördern diese.
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Meine Damen und Herren, was brauchen wir, um Arbeitsplätze in der Automobilbranche zu sichern? Wir brauchen Technologieoffenheit, und wir brauchen eine wahrhafte Betrachtung.
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Diese wahrhafte Betrachtung ist dann eben tatsächlich eine „Cradle to Grave“-Betrachtung.
Wir als Politik müssen diesen Wandel mit klugen, verlässlichen Rahmenbedingungen begleiten. Die Bundesregierung hat hier einige sehr begrüßenswerte Initiativen auf den Weg gebracht, zum Beispiel die „Energiewende im Verkehr“ des BMWi. Die Nationale Wasserstoffstrategie ist angesprochen worden. Ein anderes Beispiel bietet die Forschungsförderung für ein zukunftsfähiges nachhaltiges Mobilitätssystem durch Automatisierung und Vernetzung des BMVI.
Auch 5-G-Forschungscluster, zum Beispiel in meiner Braunschweiger Heimat, spielen dabei eine große Rolle. Hier werden im 5-G-Reallabor, bei dem sich die TU Braunschweig und das Niedersächsische Forschungszentrum Fahrzeugtechnik beteiligen, eben genau solche Dinge entwickelt, die dafür sorgen, dass wir Kommunikationssysteme dazu bringen können, den Verkehr weiterhin nachhaltig zu gestalten.
Zwei wichtige Punkte will ich ansprechen; das ist Ausfluss der von mir und von der Unionsfraktion propagierten Technologieoffenheit.
Wir haben es mit ambitionierten europäischen Klimazielen für das Jahr 2030 zu tun. Wir haben bisher die Erfahrung gemacht, dass gleichsam hohe wie auch tatsächlich erreichbare Ziele dazu führen, dass wir unsere Industrie in Europa und in Deutschland konkurrenzfähig halten. Wir haben eine dramatische Reduktion des CO2-Ausstoßes bei den Fahrzeugen gesehen. Wir haben eine dramatische Reduktion sonstiger Emissionen bei den Fahrzeugen gesehen. Ich erinnere auch an die Entwicklung der Immissionssituation, beispielsweise bei den Stickoxiden, in den vergangen zehn Jahren.
Ich glaube, dass wir beim Thema „regenerative Kraftstoffe“ noch deutlich nachlegen können. Die Kraftstoffseite bietet erhebliche Potenziale für eine weitere nachhaltige Ausgestaltung des Verkehrs. Meine Damen und Herren, ich will hier nur die Frage der Beimischungsquote bei den E20-Kraftstoffen ansprechen. Praktisch alle Fahrzeuge des Modelljahres 2015 ff. können heute mit diesen Kraftstoffen betrieben werden. Da können wir noch mehr herstellen.
Wir können auch beim Thema der synthetischen Kraftstoffe wesentlich schneller und besser werden. Ich habe, ehrlich gesagt, die Erwartung, dass das Bundesumweltministerium Kraftstoffe mit synthetischer oder biologischer Herkunft nach DIN EN 15940 in motorischen Anwendungen bei Landfahrzeugen künftig zulässt. Diese synthetischen Kraftstoffe sind den bisher bekannten fossilen Kraftstoffen deutlich überlegen und führen eben aufgrund dieser Überlegenheit zu einer deutlichen Absenkung der Emissionen.
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Meine Damen und Herren, das Thema „CO2-Reduktion und Flottengrenzwerte“ wurde angesprochen. Ich will ein weiteres Thema hier durchaus noch platzieren, das mir zugegebenermaßen Sorgen bereitet. Ich habe die klare Erwartung, dass die Bundesregierung sich auf europäischer Ebene entsprechend positioniert, und zwar so positioniert, dass die deutsche Automobilindustrie eine gute Chance hat, mit diversen technischen Angeboten weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Es gibt im Moment Vorüberlegungen zu den Eckwerten der künftigen Euro-7-Abgasnorm. Die deutsche und die europäische Automobilindustrie verkaufen die Fahrzeuge nicht nur auf dem Heimatmarkt. Wir alle sind sicherlich der Überzeugung, dass der Verbrennungsmotor, unter Verwendung, wie gesagt, CO2-armer oder ‑freier synthetischer Kraftstoffe, noch eine große Zukunft hat.
Wir müssen das allerdings auch bei der Regulierung beachten. Es ist nämlich im Moment relativ klar, dass, wenn sich die Überlegungen, die im Moment für die Euro-7-Regulierung und -Emissionsnorm angestellt werden, tatsächlich verfestigen, dies ein ideologisch begründetes Aus für den Verbrennungsmotor bedeutet. Ich hebe dabei nicht nur alleine auf die Emissionen ab, die aus dem Verbrennungsvorgang an sich herrühren, sondern ich will unseren Blick darauf richten, dass in diese Euro-7-Norm künftig auch solche Dinge wie beispielsweise der Reifenabrieb einbezogen werden sollen.
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An sich ist das ein begrüßenswerter Ansatz. Es wird allerdings gänzlich grotesk und ist das Gegenteil von technologieoffen, wenn wir Reifenabrieb und Partikelemissionen nur bei verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeugen berücksichtigen wollen,
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aber bei den Fahrzeugen, die technikbedingt aufgrund eines höheren Gewichtes einen deutlich höheren Reifenabrieb und deswegen deutlich höhere Partikelausstöße haben, nämlich batteriegestützte Elektrofahrzeuge, diese Emissionsart außerhalb jeder Betrachtung bleiben soll. Das ist nicht sachgerecht.
Wir wollen die Umwelt schützen. Wir wollen nachhaltigen Verkehr. Insofern bitte ich die Bundesregierung – die anderen Punkte, die ich angeführt habe, berücksichtigend –, sich dafür kraftvoll in Brüssel einzusetzen. Wir wollen Technologieoffenheit für die Zukunft der Arbeitsplätze in Deutschland.
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Vielen Dank, Carsten Müller. – Der letzte Redner in dieser lebendigen Debatte: für die SPD-Fraktion Falko Mohrs.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland – das hat unseren Wohlstand in all den Jahren ausgemacht – ist Industrieland, ist Automobilindustrieland, und das – das sage ich ganz deutlich an dieser Stelle – wollen und das werden wir bleiben, meine Damen und Herren.
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Natürlich gehört dazu, dass wir auch anerkennen, dass Industrie sich verändern muss. Die Klimaziele 2030 und 2050 sind angesprochen worden. Aber – das gehört auch zu uns als verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker in diesem Haus – allein die Ziele zu benennen, ist natürlich nicht ausreichend, sondern es geht immer darum, auch einen Plan zu haben, wie wir eigentlich die Menschen, wie wir die Arbeitsplätze, wie wir die Industrie genau auf diesem Weg der notwendigen Transformation mitnehmen, meine Damen und Herren.
Wenn wir auf das Jahr 2030 schauen, dann sehen wir, dass wir die Klimaziele nur dann erreichen, wenn wir – je nachdem, wie die Verschärfung noch ausgeht; ich hoffe, dass wir nicht, wovon manche träumen, auf 60 oder 70 Prozent kommen, ich glaube, 55 Prozent ist schon ambitioniert genug – mehr als die Hälfte der neuen Fahrzeuge mit alternativen Antrieben ausrüsten müssen. Jetzt kann man sagen: Das ignoriere ich alles; jetzt zementiere ich alte Technologien. – Ich glaube, das wird uns einem Plan der Transformation kein bisschen näherbringen, meine Damen und Herren.
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Wenn wir Transformation wollen, dann geht das nur mit den Unternehmen, und zwar mit der gesamten Breite, sowohl den OEMs als auch den Zulieferern, und dann geht das nur mit all den Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
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Meine Damen und Herren, Transformation funktioniert nur regional. Wir erleben in der Automobilindustrie, dass wir sehr unterschiedliche Strukturen haben. Wir haben teilweise eine intensive Zuliefererstruktur, wir haben teilweise OEMs. Deswegen hilft es nicht, eine Methode auf alle Bereiche anzuwenden, sondern wir müssen es regional organisieren, regional denken und das dann auch mit regionalen Transformationsfonds begleiten. Wir haben doch aus dem Strukturwandel der Kohleindustrie, wo es übrigens nicht darum ging, etwas zu verändern und fortzusetzen, gelernt, dass der Strukturwandel nur dann funktionieren kann, wenn wir genau diese regionalen Veränderungen mit regionaler Organisation und Geldern begleiten.
Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt sehen, dass in Zukunft mehr als ein Drittel der Wertschöpfung beim Automobilbau und in der Mobilität von der Batterie abhängt, dann heißt das ganz klar, dass wir neue Wertschöpfung und Arbeitsplätze nach Deutschland holen müssen. Jetzt wird immer gesagt: Na ja, es baut ja keiner in Deutschland Batteriefabriken auf. – Das ist doch völliger Quatsch. Der chinesische Hersteller CATL baut in Thüringen.
Herr Mohrs, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder ‑frage von Herrn Dr. Spaniel?
Nein, ehrlicherweise nicht. Ich glaube, der hat vom Automobilbau bisher nur den Bereich der Forschung, und das nur im Anzug, gesehen. Ich habe ein paar Jahre in der Produktion eines Automobilbauers verbracht, Herr Spaniel. Ihre Hinweise brauchen wir an dieser Stelle nicht.
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Also, Batteriezellen werden in Deutschland gebaut. Wir erleben das mit Herstellern aus dem Ausland. Wir erleben das bei Volkswagen, die in Salzgitter eine Produktion aufbauen. Wir erleben das auch an anderer Stelle. Das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren. Dafür brauchen wir natürlich einen aktiven Staat, eine aktive Industriepolitik. Denn allein zu sagen, in der Elektromobilität fallen Arbeitsplätze weg, ohne auch zu sagen, wo neue Arbeitsplätze entstehen, das wäre wirklich sträflich, und das können wir uns im Hinblick auf die Abhängigkeit von asiatischen Herstellern wirklich nicht bieten lassen.
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Wenn wir die Elektromobilität zum Erfolg führen wollen, dann brauchen wir eine flächendeckende Ladeinfrastruktur. Das ist so ein Lowbrainer; das kann man leicht sagen. Dazu gehört aber auch, dass wir beispielsweise beim Gebäude-Elektromobilitätsinfrastruktur-Gesetz jetzt nicht plötzlich herausstreichen, dass Leerrohre verlegt werden müssen, lieber Koalitionspartner.
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Es gehört dazu, dass wir sowohl im privaten als auch im halböffentlichen und im öffentlichen Bereich Ladeinfrastruktur fördern, meine Damen und Herren. Denn es kann überhaupt nicht sein, dass, wenn jemand das erste Mal ein Elektroauto kauft, dies vielleicht das letzte Mal gewesen ist, weil er so schlechte Erfahrungen mit der Ladetechnik macht, dass er am Ende sagt: Diesen Weg kann ich nicht mitgehen. – Das wäre tatsächlich sträflich mit Blick auf all die Milliarden, die die deutsche Industrie in die Zukunftstechnologie investiert.
Wir wollen Zukunft gestalten. Wir wollen dabei Arbeitsplätze erhalten. Deswegen brauchen wir zukünftig mehr Wertschöpfung in Deutschland und nicht weniger. Das geht aber nur mit einer verantwortungsvollen Politik, meine Damen und Herren. Wir wollen Automobilindustrieland bleiben, und wir werden es.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Falko Mohrs. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Religionsfreiheit hat Bedeutung. Über 80 Prozent der Menschen in der Welt bezeichnen sich selber als religiös. Drei von vier Menschen in der Welt leben in einem Land, das ihre Religionsfreiheit einschränkt.
Christen sind als größte Religionsgemeinschaft von der Verletzung der Religionsfreiheit besonders betroffen. Ebenso leiden Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen unter Diskriminierung und Verfolgung: die Muslime, die Bahai, die Ahmadiyya, Jesiden, Juden, Atheisten.
Die Entwicklung ist leider negativ. Immer mehr Staaten schränken die Religionsfreiheit ein, und Einschränkungen durch die Gesellschaft nehmen immer mehr zu. Das kann durch die eigene Familie sein, den Clan, den Mob auf der Straße oder durch Terrorgruppen.
Letzte Woche hat das Bundeskabinett den zweiten Bericht beschlossen. Er stellt drei thematische Schwerpunkte vor und legt die Situation in 30 Ländern dar. Das war auch ein Wunsch aus dem Parlament. Ich nenne Volker Kauder, Michael Brand und viele andere, die den Wunsch geäußert haben, auch Länderansätze zu verfolgen. Dieser systematische Länderansatz ist der Unterschied zum ersten Bericht. Damit ist er auch eine wichtige Informationsquelle für alle, die international unterwegs sind: für uns Politiker, für die Berichterstatter in den Ländern, für die Wirtschaft, die sich in den Ländern engagiert, für die Gesellschaft und die zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Es geht um vier Schritte: Wir müssen hinschauen, wir müssen laut aufschreien, wenn die Religionsfreiheit verletzt wird, wir müssen Bündnisse schließen, und wir müssen handeln.
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Schauen wir nach China. Dramatisch ist die Lage der muslimischen Uiguren und der buddhistischen Tibeter, sehr schwierig die Lage der Christen und der Anhänger von Falun Gong. Es braucht eine unabhängige Untersuchung und Berichterstattung zur Lage der Uiguren in China durch die Vereinten Nationen.
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Oder schauen wir nach Myanmar. Dramatisch ist die Lage der Rohingya. Im August 2017 wurden circa 720 000 Menschen über die Grenze getrieben. Sie leben dort unter schwierigsten Verhältnissen. Die Weltgemeinschaft muss sich dafür einsetzen, dass diese Menschen sicher in ihre Heimat zurückkehren können.
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Immer noch leben Zehntausende Christen und Jesiden im Nordirak in Flüchtlingslagern. Das Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften ist nach wie vor groß. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der IS die religiöse Landkarte des Irak dauerhaft zeichnet.
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Schauen wir in den Sudan. Es gibt auch positive Entwicklungen: Die Übergangsregierung im Sudan hat die Todesstrafe für Apostasie abgeschafft. Sie hat Weihnachten zum Feiertag erklärt.
Der Bericht behandelt auch drei länderübergreifende Themen. Das Thema „Blasphemie und Antikonversionsgesetze“: In elf Staaten der Welt droht Konvertiten die Todesstrafe. Das Recht auf Konversion ist quasi der Kern der Religionsfreiheit, nämlich die Chance, meine Religion aufzugeben oder zu wechseln. In 70 Staaten gibt es menschenrechtsverletzende Blasphemiegesetze. In 99 Staaten gelten Gesetze, die religiöse Gruppen bestrafen, wenn sie versuchen, andere Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen.
Ein zweites wichtiges Querschnittsthema ist die digitale Kommunikation. Onlinehassrede hat einen verheerenden Einfluss auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Digitale Kommunikation bietet aber auch Chancen, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu stärken. Wir müssen beides sehen.
Der dritte Thementeil behandelt die Bildungsangebote, die Fragen: „Wie hängen Bildungschancen von der Religionszugehörigkeit ab?“, und: „Wie ist die Darstellung von Minderheitsreligionen in den Unterrichtsmaterialien der Länder?“
Der Bericht zeigt auch die positiven Potenziale der Religionen. Das Entwicklungsministerium – und Minister Müller – hat das erkannt mit der Strategie „Religion und Entwicklung“, das Auswärtige Amt mit dem Arbeitsbereich „Religion und Außenpolitik“.
Abschließend noch eine kurze Bemerkung zu Extremismus und Terrorismus. Wir brauchen neben dem interreligiösen Dialog, also dem Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften, auch den intrareligiösen Dialog, das Gespräch der Gemäßigten, der Weltoffenen mit den Radikalen, mit den Gewaltbereiten. Nur so erreichen wir Fortschritte.
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Wir kommen in der Regel nur an die Gemäßigten heran; denn der interreligiöse Dialog beinhaltet gewöhnlich Gespräche zwischen Gemäßigten.
Ich empfehle Ihnen den Bericht zur Lektüre.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Markus Grübel. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Braun.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Besonders begrüße ich auf der Besuchertribüne den israelisch-amerikanischen Schriftsteller Tuvia Tenenbom mit seiner fantastischen Gattin Tisi. Ich freue mich besonders, dass Sie hier an unserer Debatte im Deutschen Bundestag zum Thema Religionsfreiheit teilnehmen, und ich hoffe, dass Sie bald die Chance haben, ihr Jewish Theater in New York wiederzueröffnen.
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Der islamistische Anschlag von Wien macht uns schlagartig klar, wie wichtig die Debatte ist, die wir in diesem Moment führen. Wir trauern mit Österreich und verneigen uns vor den Opfern.
Herr Grübel, wir schätzen Ihre Arbeit als Religionsbeauftragter der Bundesregierung sehr; sie ist bitter notwendig. Wir befürchten nur, dass Ihre eigene Regierung diese Arbeit nicht genügend wertschätzt. Unter dieser Bundeskanzlerin werden Sie wohl kaum alles erreichen können. Angela Merkel hat kein Ohr für verfolgte Christen.
Klar benennen Sie den antisemitischen Mordanschlag von Halle; dafür danken wir Ihnen. Judenfeindlichkeit darf in Deutschland keinen Platz haben. Nie wieder Judenhass – egal von wem!
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Es ist auch gut, dass die Einschränkungen der Glaubensfreiheit für Christen im Zeichen von Corona Thema dieses Berichtes sind. Ich füge hinzu: Die komplette und flächendeckende Absage von Ostergottesdiensten in Deutschland war ein verheerendes Signal. Die AfD hat als einzige Fraktion das höchste Fest der Christenheit verteidigt.
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Wir vermissen eine klare Darstellung der gewaltsamen Verfolgung von Christen unter dem Islam, der Mordanschläge, der Gewaltmission. Es wird in diesem Religionsbericht einfach nicht klar genug geschrieben: Weltweit ist die Christenverfolgung das größte Problem.
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Die EU-Kommission verharmlost Terroranschläge. Sie versucht, berechtigte Islamkritik nach islamistischen Terroranschlägen zu unterbinden. Der Islam ist keine Rasse, und deshalb kann Islamkritik niemals Rassismus sein.
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Keine Religion stellt eine derartige weltweite Gefahr dar wie die extremistischen Teile des Islam. Ja, es gibt auch radikale Hindus; das wissen wir. Hindus sind teilweise radikal – in Indien. Aber sie exportieren keinen Terror in alle Welt; das ist der Unterschied.
Der radikale Islam zeigt sich schon wieder als tödliche Gefahr. Christen werden beim Gebet brutal abgeschlachtet – in Nizza. Homosexuelle werden in Deutschland schwer verletzt und umgebracht – in Dresden. Zu diesem Mord bis heute nicht einmal die kleinste Trauerbekundung der Bundeskanzlerin.
Die Taten der Mörder im Namen des Islam beweisen es einmal wieder: Der radikale Islam gehört nicht zu Europa, der Islam gehört nicht zu Deutschland.
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Frankreichs Präsident Macron ruft zum Kampf gegen den Islamismus auf; die Bundesregierung tut das Gegenteil. Innenminister Seehofer verhöhnt die Opfer des Terrorismus. Begründete Islamkritik soll jetzt mit einem sogenannten Expertenkreis zur Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit unmöglich gemacht werden.
Islamische Staaten verbieten die Abkehr vom Islam, häufig unter Androhung der Todesstrafe. Ebenso wird jede Islamkritik hart bestraft; auch hier droht der Tod. Mildere Strafen enthält dagegen der § 166 des deutschen Strafgesetzbuches. Dennoch ist dieser Paragraf kein Ruhmesblatt für unseren Rechtsstaat. Dieser Paragraf ist pervers: Er schützt aggressive Religionsgruppen, und Gewalttätigkeit wird belohnt. Dieser § 166 bietet keinen Schutz für friedliche Religionen. Er nützt nur den Islamextremisten. Deshalb muss er gestrichen werden.
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Ich danke Ihnen. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Bärbel Kofler.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nutze die Gelegenheit nicht, auf die Rede des Vorredners einzugehen, sondern zum Kern des Berichtes zurückzukommen, nämlich zur Situation der Religions- und Weltanschauungsfreiheit weltweit.
({0})
Der zweite Bericht der Bundesregierung – der Kollege Grübel hat ihn vorgestellt – zeigt, wie sehr dieses Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit unter Druck ist, weltweit, in vielen Regionen der Erde, in verschiedensten Facetten und unter verschiedensten Gesichtspunkten. Er zeigt aber auch auf, dass damit ein Teil der Menschenrechte allgemein unter Druck ist. Denn was wir zu beklagen haben, ist, dass das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit in vielen Teilen dieser Erde mit Füßen getreten wird und dass das leider, leider in einen negativen Trend eingebettet ist, was die Frage angeht, wie Menschenrechte allgemein geschützt und gestärkt werden können. Hier stellen wir dieselben negativen Trends fest.
Das belegt eigentlich auch ein Bericht ganz gut, den es bereits seit ein, zwei Jahren gibt. Der „Civicus Monitor“ spricht von nur 3 Prozent der Weltbevölkerung, die in Ländern mit offenen Zivilgesellschaften leben. Für mich gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, in einer offenen Gesellschaft zu leben und miteinander diskutieren zu können, zuhören zu können, was in anderen Religionen oder in anderen Weltanschauungen wichtig ist, und der Fähigkeit, Unterschiede aushalten zu können. Diese innere Verfasstheit und diese Grundfrage der Menschenrechte sind eben auch im Bereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit angegriffen. Im Bericht wird das gut mit dem Satz zum Ausdruck gebracht: „Religions- und Weltanschauungsfreiheit stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den anderen Menschenrechten.“
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Ich bin sehr dankbar, dass in dem Bericht angesprochen wird, wie Staaten Religions- und Weltanschauungsfreiheit einschränken und – Herr Grübel, Sie haben es sehr deutlich gemacht – wie aber auch von vielen Einzelnen Weltanschauungsfreiheit und Religionsfreiheit eingeschränkt werden. Das Beispiel im Kapitel zur Digitalisierung empfehle ich sehr zur Lektüre. Darin geht es um Hass und Hetze, die Einschränkungen der Religionsfreiheit zur Folge haben, weil Menschen sich gar nicht mehr trauen, ihre Religion zu leben. Das finde ich einen sehr, sehr spannenden und wertvollen Beitrag in diesem Bericht.
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Die Religionsfreiheit in den unterschiedlichen Ländern wurde angesprochen. Es gibt Länder wie China, in denen alle Religionen gleichermaßen angegriffen werden. Es gibt Theokratien wie Saudi-Arabien, die es nicht zulassen, dass jemand keiner Religionsgemeinschaft angehört oder eine andere Religionsgemeinschaft wählt, und Verstöße mit dem Tode bedrohen. Es gibt aber auch Regionen der Erde, in denen Religionen nur der Deckmantel für darunterliegende Konflikte sind, seien es sozioökonomische Konflikte, wenn es um Verteilungsfragen, zum Beispiel zwischen bäuerlichen Gesellschaften und Hirtengesellschaften, geht, oder seien es auch einfach politische Konflikte, in denen eine Konfliktpartei ihr eigenes Süppchen, auch manchmal ein sehr nationalistisches Süppchen, kocht und die Religion als Deckmantel benutzt und missbraucht.
Einen Satz oder zwei Sätze noch.
Einen Satz.
Erstens ist es wichtig, dass im Bericht auch angesprochen wird, dass man keiner Religionsgemeinschaft angehören muss und dass auch das ein Recht ist, das unterstrichen werden muss.
Zweitens ist es ganz besonders wichtig – da möchte ich an die Ausführungen des Kollegen Grübel anschließen –, dass Terror im Namen einer Religionsgemeinschaft oder gegen Religionsgemeinschaften aufs Schärfste abzulehnen ist. Die Beispiele, die wir momentan leider schrecklicherweise sehen, von den Anschlägen in Frankreich, von den Anschlägen in Wien –
Frau Kofler.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –
Wirklich, sonst muss ich abziehen.
– bis hin zu den Terroranschlägen auf die Synagoge in Halle und die Moschee in Christchurch zeichnen ein beredtes Bild, dass die Situation in diesem Bereich leider sehr dramatisch ist.
Danke.
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Vielen Dank, Bärbel Kofler. – Ja, die letzten Sätze wurden immer länger; das stimmt. Das waren immer große Abschnitte.
Die nächste Rednerin steht schon da: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen.
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Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die drittgrößte Glaubensgemeinschaft auf dieser Welt sind Atheisten und Agnostiker: Menschen, die sich bewusst entscheiden, nicht an einen Gott zu glauben, oder offen zugeben, dass sie nicht sicher sind, ob ein Gott existiert. Die gibt es nicht nur in unseren westlichen Gesellschaften. Experten schätzen, dass unter jungen Menschen im Nahen und Mittleren Osten jeder Fünfte nicht religiös ist.
Wer allerdings im Iran zu einer registrierten religiösen Minderheit gehört, wird diskriminiert und verfolgt. Wer sich gar zum Nichtglauben bekennt, muss die Todesstrafe fürchten. Wir haben es hier schon gehört, und auch im Bericht wird es genannt.
Zum vollständigen Bild der weltweiten Religionsfreiheit gehört nicht nur die Freiheit, zu glauben – wie, an wen oder an was man möchte –, sondern auch die Freiheit, nicht zu glauben.
({0})
Hier könnte im nächsten Bericht vielleicht ein Schwerpunkt gesetzt werden, Herr Grübel.
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Meine Damen und Herren, nicht nur wir Liberalen, sondern viele hier im Bundestag berufen sich auf die Aufklärung, die den Atheismus ja sozusagen salonfähig gemacht hat. Denn die Aufklärung hat uns auch die Idee eines säkularen Staates gebracht. Darin liegt eine mögliche Antwort auf den weltweiten Rückgang der Religionsfreiheit: die konsequente Trennung von Glaube und Staat.
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Dabei geht es nicht nur um religiöse Institutionen. Wir sehen gerade in China, was passiert, wenn Nichtreligiosität staatlich verordnet wird. Die Kommunistische Partei unter Xi Jinping hat das Ziel, der eigenen Bevölkerung jeglichen Individualismus abzuerziehen. Dafür wird Menschen in Umerziehungslagern quasi ihr Glaube ausgetrieben. Über 1 Million muslimischer Uiguren in Xinjiang und Hunderttausende Tibeter müssen diese Entwürdigung jeden Tag ertragen.
Meine Damen und Herren, der Staat – das muss die Quintessenz sein – hat sich aus Glaubensangelegenheiten herauszuhalten.
({3})
Trotzdem existieren in 70 Ländern weltweit Blasphemiegesetze; Herr Grübel, Sie sprachen es an. Natürlich unterscheiden sich diese Gesetze inhaltlich, aber vor allem auch in der Anwendung. Zu diesem Thema gehört auch, dass ein Blasphemieparagraf – so wird er genannt – in Deutschland immer noch besteht, der § 166 StGB. Er kommt aber nicht zur Anwendung. Schon alleine deswegen unterscheidet er sich diametral von entsprechenden Gesetzen beispielsweise in Pakistan. Aber Deutschland hat Vorbildfunktion. Wenn ich mit dem ägyptischen Botschafter spreche, hält er mir das entgegen und nutzt es zur Argumentation, warum Ägypten nach wie vor die Todesstrafe oder Blasphemiegesetze beibehalten kann.
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Ich glaube, genau da liegt ein Punkt, wo wir eine wichtige Position einnehmen könnten, wenn wir den Paragrafen abschaffen,
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wie es beispielsweise auch unsere Nachbarn in den Niederlanden oder in Dänemark gemacht haben.
Doch nicht nur der Staat, meine Damen und Herren, schränkt Religionsfreiheit ein; auch die Gesellschaft kann de facto diesen Raum einschränken. Das passiert, wenn Rechte und Rassisten auch hier im Bundestag gegen Muslime hetzen, Islamismus mit dem Islam gleichsetzen und dadurch den Nährboden für Hass und Gewaltbereitschaft schaffen. Es passiert, wenn Juden sich nicht mehr trauen, in die Synagoge zu gehen, die Kippa zu tragen, weil in unseren Straßen Antisemiten lauern. Das passiert Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen, weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden, obwohl sie dort nur dem Glauben abgeschworen haben oder christlichen Glaubens sind oder konvertiert haben, und dann hier in Deutschland verfolgt werden.
All dem können wir natürlich nicht mit der Abschaffung von Paragrafen begegnen. Aber es erfordert eine gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung, zum Beispiel den interreligiösen Dialog – das „House of One“ ist ja nur ein sehr, sehr gutes Beispiel hier aus Berlin –
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, damit wir hier und weltweit unseren Glauben frei leben können: den Glauben an einen Gott, an mehrere Götter, an gar keinen oder an einen anderen als noch heute.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Gyde Jensen. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz.
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Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weltweit werden Menschen zunehmend wegen ihres Glaubens oder Nichtglaubens unterdrückt. Religiöse Minderheiten werden zu Sündenböcken gemacht, um Bevölkerungen zu spalten und Macht zu sichern. Das nehmen wir nicht hin.
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Die Linke verteidigt die Freiheit zum Glauben, die Freiheit vom Glauben und die Freiheit, den Glauben öffentlich und sichtbar zu leben. Diese drei Dimensionen sind unteilbar; sie gehören zusammen. Das Menschenrecht gilt für alle, ob christlich, muslimisch, jüdisch, buddhistisch oder atheistisch.
({1})
Die Linke fordert wirksame Schlussfolgerungen gegen die Einschränkung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Im Bericht zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit beschreiben Sie sehr eindrücklich, wie in Ägypten religiöse Minderheiten und Gruppen in ihren Rechten beschnitten und diskriminiert werden. Aber gleichzeitig ist Ägypten der größte Empfänger von deutschen Kriegswaffen. Das, meine Damen und Herren, passt nicht zusammen. Stoppen Sie die Waffenexporte!
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Die Linke begrüßt, dass sich der Bericht auch der Religionsfreiheit in Deutschland widmet. Das hatten wir in der letzten Debatte auch angemahnt. Wir stellen fest: Gerade in den Zeiten der Pandemie werden antisemitische und islamfeindliche Verschwörungsmythen verbreitet. Nicht erst seit den rechten Terroranschlägen von Halle und Hanau ist klar: Es gibt ein großes Problem mit der Hetze gegen Juden und Muslime in Deutschland. Der Bericht benennt den Anstieg von gemeldeten antisemitischen Straftaten um 13 Prozent und von islamfeindlichen Straftaten um 4,4 Prozent im Jahr 2019. Wir wissen, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist. Religiöse Minderheiten müssen geschützt werden, weltweit und auch hier in Deutschland.
({3})
Aus aktuellem Anlass möchte ich auf eine wichtige Passage des Berichtes hinweisen. Sie schreiben: „Islamistisch motivierte Terroranschläge (sind) häufig ein Auslöser für anti-muslimischen Rassismus und Hassverbrechen gegenüber Musliminnen und Muslimen in Europa.“ Wir wissen: Die übergroße Mehrheit der Muslime verurteilt Attentate, die Terroristen vorgeblich im Namen ihrer Religion verübt haben. Die schrecklichen Anschläge von Wien, Nizza, Paris und Kabul dürfen nicht dazu genutzt werden, einen Generalverdacht gegen alle Muslime zu schüren.
({4})
Und sie dürfen kein Vorwand sein, um im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung nachzulassen. Ein nächster Bericht muss da in den praktischen Konsequenzen noch ein bisschen konkreter werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Christine Buchholz. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Kai Gehring.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit gehört in vielen Ländern und Regionen leider zum bitteren Alltag. Der Bericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist dafür ein trauriges Attest, und das nehmen wir nicht hin. Als weltweit größte religiöse Gruppe werden Christen leider auch besonders häufig verfolgt. Dagegen müssen wir protestieren und vorgehen.
({0})
Ich glaube, dass unser Wort noch mehr Gewicht hat, wenn wir nicht vorrangig oder sogar nur für bedrohte Christinnen und Christen streiten, sondern für das Prinzip „Religionsfreiheit für alle“.
({1})
In der chinesischen Provinz Xinjiang ist die Situation der muslimischen Uiguren hochdramatisch. Spätestens seit den „China Cables“ ist das Ausmaß der systematischen Menschenrechtsverletzungen an Uiguren bekannt. Die Regierung muss daher dringend ihre Leisetreterei gegenüber China beenden.
({2})
Deutschland muss sich aktiv gegen jede Diffamierung und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaften, religiösen Minderheiten, Konfessionswechslern und Konfessionslosen einsetzen, sowohl international als auch national. Artikel 4 unseres Grundgesetzes schützt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Diese Freiheit darf im Alltag nicht brüchig werden. Wir müssen sie verteidigen.
({3})
Der Angriff auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr und die Attacke auf einen jüdischen Studenten in Hamburg letzten Monat sind Symptome eines ekelerregenden wachsenden Antisemitismus. Auch muslimfeindliche Attacken häufen sich und dürfen nicht als Einzeltaten abgetan werden. Eine systematischere Analyse der Situation in Deutschland ist in künftigen Berichten daher dringend geboten.
({4})
Eine der größten Gefahren für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist die fundamentalistische Instrumentalisierung von Religion. Die islamistischen Anschläge der letzten Wochen haben dies einmal mehr gezeigt: Paris, Nizza, Dresden, Kabul, Wien. Ob Synagoge, Universität oder Ausgehviertel, die Anschläge zielten ab auf Orte der Freiheit und der Pluralität. Wir gedenken der Opfer und stehen fest an der Seite ihrer Angehörigen.
({5})
Das betrifft auch den unfassbar brutalen islamistisch-schwulenfeindlichen Anschlag auf ein Paar in Dresden. Die Reaktionen darauf waren mir zu lange zu leise.
Was Opfern und Angehörigen nicht hilft, sind falsche Solidarisierungen derer, die friedliche Muslime und Islamisten gleichsetzen. Das ist falsch und zutiefst unanständig.
({6})
Wir dürfen nicht zulassen, dass Fanatiker und Extremisten unsere Gesellschaft spalten. Die Antwort auf den Terror braucht solidarische Allianzen und mehr Empathie, einen wehrhaften und schützenden Staat und eine lebendige Zivilgesellschaft, oder – wie Papst Franziskus zum Anschlag in Wien sagte –: „Nur Liebe löscht den Hass aus.“
({7})
Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Volker Kauder.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Seit vielen Jahren bin ich mit dem Thema „Religionsfreiheit und Einsatz für verfolgte Christen“ unterwegs. Viele Länder habe ich besucht, und deshalb kann ich in weiten Teilen aus eigenem Erleben bestätigen, was Markus Grübel in seinem Bericht wirklich deutlich formuliert. Erstens ist das Recht auf Religionsfreiheit weltweit massiv unter Druck. Es ist in den letzten Jahren schlimmer und nicht besser geworden. Zweitens – das betont er ausdrücklich, und das ist eine traurige Wahrheit – sind die Christen nicht nur aufgrund ihrer hohen Zahl, sondern auch, weil sie weltweit als Religionsgemeinschaft vertreten sind, die am meisten verfolgte Religionsgruppe in der Welt. Und zunehmend erleben wir auch, dass Muslime Muslime unterdrücken und Probleme miteinander haben.
Dieser Bericht ist auch deswegen so gut, weil er unseren Wunsch, einzelne Länder besonders darzustellen, erfüllt hat und weil er ein Augenmerk auf ein Thema wirft, das wir alle bisher so gar nicht auf dem Schirm hatten, nämlich das Thema „Bildung und Religionsfreiheit“. Für mich ist besonders interessant, festzustellen, dass es bis zum heutigen Tage keine wirklich durchgängig gute Überprüfung dessen gibt, was in Lehr- und Lernmaterialien zum Thema Religion gesagt wird. Wir haben zwar eine kleine Untersuchung in Deutschland durchgeführt, wo wir geschaut haben, was in unseren Schulbüchern zum Islam und zu anderen Religionen steht.
Ich hätte nun die herzliche Bitte, Markus Grübel, dass wir eine Untersuchung darüber machen, was in Lehrmaterialien, die auch in Deutschland in Koranschulen ausgegeben werden, über Religionen – nicht nur über das Christentum, sondern auch über andere Religionen – aufgeführt wird. Darum würde ich bitten, dass jetzt sehr schnell etwas dafür unternommen wird.
({0})
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen, bevor ich noch einen Wunsch äußere. Im Bericht wird auch die Religionsfreiheit in unserem eigenen Land angesprochen. Dazu muss ich sagen: Wenn sich in einer dramatischen Pandemiesituation auch Kirchen dazu durchringen können, ihre Gottesdienste einzuschränken und entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, hat das mit Einschränkung der Religionsfreiheit nun wirklich nichts zu tun. Wenn ich sehe, was weltweit – in China und in anderen Ländern – an Unterdrückung geschieht, dann müssen wir darauf achten, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht kleine Einschränkungen mit Einschränkungen der Religionsfreiheit in anderen Ländern zusammenbringen.
({1})
Einen besonderen Blick will ich – verbunden mit einem Appell an die Bundesregierung – auf das Thema Konversion werfen, das im Bericht großartig angesprochen worden ist. Wir haben viele Menschen, die aus dem Iran oder aus Afghanistan stammen, die bei uns in Deutschland zum christlichen Glauben kommen, und da wird uns gesagt, dass es kein Problem sei, wenn die Konvertiten in ihr Land zurückgeschickt werden. Und jetzt stellt der Bericht im Länderteil ausdrücklich klar, dass Konversion im Iran zu einem wirklichen Problem bis hin zur Todesstrafe wird. Deswegen kann ich nur sagen: Deutschland, das Land der Religionsfreiheit, darf keine konvertierten Christen in ein Land zurückschicken, in dem ihnen die Todesstrafe droht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({2})
Deshalb bitte ich darum, dass die Bundesregierung vor allem dem BAMF für seinen Länderbericht den Bericht von Markus Grübel zur Verfügung stellt. Nun mein Appell: Die Bundesregierung wird sich doch wohl an den Bericht halten, den sie im Kabinett verabschiedet hat. Das müsste zu Änderungen beim Thema „konvertierte Christen und Rückschicken in den Iran“ führen.
({3})
Herr Kollege.
Ich weiß. Bitte noch einen letzten Punkt. – Ich habe noch eine Bitte, lieber Markus Grübel: Beim nächsten Bericht würde ich mir wünschen, dass im Thementeil die Rolle der Frauen in der Religion eine größere Rolle spielt. Denn eines wissen wir: Entwicklung zum Positiven ist immer nur über die Frauen möglich.
({0})
Oh, danke schön, Herr Kauder.
({0})
– Auch das darf kein Kriterium sein.
Vielen Dank, Volker Kauder. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Lars Castellucci.
({1})
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauder, ich möchte Ihnen für den Hinweis auf die Konvertiten und darauf, dass man niemanden in den Tod zurückschicken darf, ausdrücklich danken und Ihnen hiermit auch die Unterstützung der SPD-Fraktion bei diesem Anliegen aussprechen.
({0})
Wir haben einen Bericht vorliegen, der bedrückend ist, der uns aufzeigt, dass die Religionsfreiheit weltweit immer stärker unter Druck gerät. Und wir wissen, dass auch die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist. Das ist kein Zufall; denn es gibt keine Demokratie ohne Religionsfreiheit.
({1})
Religionsfreiheit bedeutet, dass im Bereich der Religion alle die gleichen Rechte haben. Das ist genau das, was Demokratie sagt: Alle haben die gleichen Rechte. Das bedeutet, dass nicht einer seine Religion ausüben darf und der andere nicht. Das bedeutet auch, dass nicht der eine Arbeit bekommt, weil er eine bestimmte Religion hat, und einem anderen die Arbeit verwehrt wird, weil er nicht diese Religion oder eine andere Religion hat. Deshalb müssen sich Demokratinnen und Demokraten immer für diesen Bereich der Gleichstellung und Gleichberechtigung auch im Bereich der Religion aussprechen und sich mit allem Nachdruck dafür einsetzen.
({2})
Heute ist von verschiedenen Ländern die Rede gewesen. Einige sind von den Rednerinnen und Rednern ausgewählt worden, weil es im Bericht einen Länderteil gibt, lieber Herr Grübel. Es ist unsere Auffassung, dass es perspektivisch so etwas wie ein Monitoring geben muss, dass wir nicht sagen können: Wir schauen jetzt diese 30 Länder an, und alle anderen lassen wir unter den Tisch fallen. – Eigentlich braucht es so etwas wie ein Monitoring.
Aber was ich eigentlich sagen will: Auch in Deutschland ist die Religionsfreiheit ja nicht vom Himmel gefallen. Sie ist mit Napoleon gekommen. Es waren die Freiheitskämpfer im 19. Jahrhundert, die sie durchgesetzt haben. Und es war nach 1933, als wir die Religionsfreiheit in den Abgrund gestoßen haben. Vor diesem Hintergrund ist es mir wichtig, dass wir in der Welt freundlich und demütig für Religionsfreiheit werben und uns dafür einsetzen, aber niemals überheblich.
Ein Kollege aus dem Europäischen Parlament hat sich in diesen Tagen zu Wort gemeldet. Da ging es auch – ich komme noch mal auf Volker Kauder zurück – um die Frage, was im Moment mit den Kirchen in Deutschland und den Gottesdiensten ist, und es wurde gesagt, es sei ja eine willkürliche Entscheidung, dass jetzt weiter Gottesdienste gefeiert werden könnten. Das sei doch höchstens für die Gläubigen wichtig. – Dem möchte ich an dieser Stelle widersprechen; denn die Grundrechte sind nicht nur für die wichtig, die sie in Anspruch nehmen wollen, sondern die Grundrechte stehen in unserer Verfassung. Deswegen sind diese Grundrechte für uns alle wichtig, und wir müssen uns auch für alle Grundrechte einsetzen, unabhängig davon, ob wir persönlich von ihnen in einem bestimmten Moment Nutzen ziehen oder nicht.
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Zu diesem „für alle“ möchte ich noch einen letzten Punkt ansprechen. Ich erinnere noch mal an die Rede von Frau Mohamed Ali gestern, die auch einen kleinen Scheinwerfer auf diese Situation gelegt hat. Es ist in Deutschland im 19. Jahrhundert und auch bei der Weimarer Reichsverfassung darüber gesprochen worden, ob diese Religionsfreiheit nicht eigentlich eine ist, die man nur den Christinnen und Christen zuspricht. Nach dem, was ich gesagt habe und was, glaube ich, jetzt praktisch jeder in diesem Raum teilt, ist klar: Nur Christinnen und Christen Religionsfreiheit zuzusprechen, ist keine Religionsfreiheit,
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sondern Religionsfreiheit muss dann auch für alle gelten. Und gleichzeitig spürt man bei manchen Debatten in diesem Land, dass es ein bisschen die Haltung gibt: Die Religionsfreiheit ist erst mal die Religionsfreiheit der Mehrheitsreligion, und die anderen haben die Religionsfreiheit auch, aber nur, wenn sie sich anständig verhalten. – Dazu möchte ich sagen: Sich anständig zu verhalten, ist ein guter Ratschlag, der sich an alle Menschen in diesem Land richtet. Die Religionsfreiheit ist genauso ein Recht, das allen Menschen in diesem Land zusteht.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist eines der wichtigsten Dinge, die wir machen können, um weltweit für Religionsfreiheit zu werben, uns selber für sie hier in diesem Land einzusetzen und Vorbilder zu sein. Das bedeutet vor allem, immer wieder neu aufeinander zuzugehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Lars Castellucci. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist die zentrale Säule des menschlichen Miteinanders, die in diesen Tagen unsere Aufmerksamkeit und unsere Stärkung mehr denn je braucht. Wir schauen mit großer Sorge auf die grausamen Ereignisse von Nizza – Partnerstadt meiner Heimatstadt Nürnberg –, Wien und anderen Orten und verurteilen scharf den Extremismus, der mit Religionsfreiheit absolut nicht vereinbar ist und der mit Religion auch absolut nichts zu tun hat. Dieser Extremismus stiftet Hass und führt zu sinnloser Gewalt. Deshalb stehen wir bei den Familien der Opfer, sie haben unser tiefstes Mitgefühl. Gleichzeitig sagen wir deutlich: Wir müssen Extremismus mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen.
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Aus dem zentralen Grundrecht und zentralen Menschenrecht der Religionsfreiheit heraus leiten wir alle anderen Menschenrechte ab. Steht es um die Religionsfreiheit schlecht, so wirkt sich das unmittelbar auf den Zustand der anderen Freiheiten aus. Wenn es keine Religionsfreiheit gibt, dann gibt es keine Meinungs- und Pressefreiheit, keine Demokratie, keine Freiheit von Kunst und Kultur und dadurch letztendlich auch keine Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben. Und übrigens: Keinem Glauben anzugehören, ist auch ein Grundbestandteil der Religionsfreiheit.
Die Bundesregierung hat am 28. Oktober den zweiten Bericht zur Lage der weltweiten Religionsfreiheit vorgestellt. Die Feststellungen in diesem Bericht sollten uns ein Alarmsignal sein; denn sie zeigen eine zunehmende Gefährdung der Religionsfreiheit weltweit auf. Über 70 Staaten haben heute noch Blasphemiegesetze. Denken wir an den Iran – Volker Kauder hat es angesprochen –: Wenn man den Glauben wechselt oder unter das Blasphemiegesetz fällt, dann wird man mit dem Tode bedroht.
Der Bericht zeigt aber im zweiten Teil auch auf, wie es zu einem Anwachsen der Hassreden in den sozialen Medien kommt. Christen als größte Glaubensgemeinschaft weltweit werden diskriminiert, verfolgt, gefoltert und getötet. Hier empfehle ich auch einen Blick in den Weltverfolgungsindex von Open Doors 2020, der ein düsteres Bild zeichnet.
Aber auch Angehörige anderer Religionen leiden darunter; darüber haben wir heute auch schon gesprochen. Zu erwähnen sind die Unterdrückung der muslimischen uigurischen Minderheit im chinesischen Xinjiang, die Falun Gong, die Tibeter, die Vertreibung der Rohingya durch Buddhisten in Myanmar, der Terror an Christen und Muslimen in Nigeria durch Boko Haram und nicht zuletzt die Gefährdung der Juden weltweit, aber leider auch in Deutschland.
Deswegen müssen wir uns hier weiterhin einsetzen. Wir dürfen nicht aufgeben. Im Gegenteil: Wir müssen uns für dieses zentrale Menschenrecht, für die Glaubens- und Religionsfreiheit, noch stärker einsetzen. Deswegen danke ich Markus Grübel für sein großes Engagement an dieser Stelle, aber auch Volker Kauder, der sich seit Jahrzehnten für Religionsfreiheit und insbesondere gegen die Christenverfolgung ausspricht und hier engagiert ist. Herzlichen Dank für dieses große Engagement!
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Ich kann abschließend nur noch mal sagen: Ich bin der tiefsten Überzeugung: Religionsfreiheit ist das Kernelement und das zentrale Menschenrecht. Ist die Religionsfreiheit in Gefahr, sind die Menschenrechte in Gefahr. Das dürfen wir nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich diese sehr wichtige Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wer sich ein langes Leben wünscht, der kommt am Älterwerden nicht vorbei. Im Bundesseniorenministerium arbeiten wir dafür, dass Menschen gut älter werden können. Wir wollen, dass sie so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden selbstbestimmt leben können. Wir beschäftigen uns mit Themen wie dem altersgerechten Wohnen, dem Umgang mit Demenz, wozu wir auch gerade die Nationale Demenzstrategie beschlossen haben.
Wir wollen, dass Menschen an der Gesellschaft teilhaben können, egal wie alt sie sind. Dazu fördern wir über 500 Mehrgenerationenhäuser. Wir unterstützen Projekte gegen Einsamkeit und kümmern uns auch um die Digitalisierung. Wir wollen, dass ältere Menschen im Bedarfsfall gut versorgt sind. Auch das unterstützen wir, zum Beispiel mit der Konzertierten Aktion Pflege, aber zum Beispiel auch mit der Ausbildungsoffensive Pflege für mehr Nachwuchskräfte.
Wir nehmen ältere Menschen in den Blick, ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse. Gerade in diesen Zeiten während der Coronapandemie sind ältere Menschen von Einschränkungen ganz besonders betroffen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir sie in den Blick nehmen und uns darum kümmern, dass es ihnen gut geht.
In diesem Sinne betrachten wir auch den achten Altersbericht der Bundesregierung. Wir werfen dabei ein ganz besonderes Schlaglicht auf das Thema Digitalisierung. Wir haben Sachverständige gebeten, ein ausführliches Lagebild dazu darzustellen. Es ist ganz deutlich: Man ist nie zu alt fürs Internet.
Dafür braucht es zwei Dinge: Es braucht Zugang, aber es braucht auch Kompetenzen. Der Zugang zu den digitalen Diensten, der Ausbau der Breitbandversorgung, die Ausweitung von kostenlosen Internetzugängen in Kommunen und Pflegeeinrichtungen, das ist eine Aufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Wirtschaft gefragt sind.
Die Digitalisierung: Sie betrifft alle Lebensbereiche. Deshalb unterstützen wir auch in den verschiedensten Lebensbereichen. Wir haben ein Projekt mit dem Malteser Hilfsdienst, das noch in diesem Jahr Einrichtungen und Treffpunkte mit Technik ausstatten wird, in denen Seniorinnen und Senioren zusammenkommen und in denen auch ältere Menschen Unterstützung bei der Bedienung erhalten sollen. Unser Programm „Leben wie gewohnt“ wird beispielgebende und modellhafte Bau- und Investitionsprojekte zum digitalen und technikgestützten Wohnen fördern. Es gibt diverse Standorte, an denen das schon ausprobiert wird; das Thema Smarthome ist für ältere Menschen ganz besonders wichtig.
Wir brauchen eine Entwicklung digitaler Angebote, die auch an die Bedarfe von älteren Menschen anknüpft und die Frage „Wie können diese Angebote intuitiv bedient werden?“ im Blick hat, damit nötige Kenntnisse und Kompetenzen auch leicht erworben werden können. Auch innerhalb der älteren Generation gibt es eine digitale Spaltung zwischen Internetaffinen und den Zurückhaltenden.
Darum machen wir Angebote, zum Beispiel mit unserem Projekt „Digitaler Engel“, indem wir mit einem mobilen Beratungsteam in ganz Deutschland unterwegs sind: in Senioreneinrichtungen, aber auch in den Mehrgenerationenhäusern. Oder wir arbeiten mit der BAGSO, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, um eben auch die Plattform wissensdurstig.de zu unterstützen und dabei mitzuhelfen, dass digital und analog gut zusammengehen.
Mir ist wichtig, zu sagen: Digital alleine reicht nicht. Digitalisierung ist natürlich kein Ersatz für menschliche Nähe und Gemeinschaft. Deshalb ist es wichtig, dass das analoge Leben auch in Zeiten der Pandemie älteren Menschen eine Teilhabe ermöglicht. Wir wollen keine Zweiklassengesellschaft, in der wir sagen: Die einen dürfen raus, die anderen müssen drinbleiben, und die Älteren können eben nicht teilhaben. – Wir wollen, dass Alt und Jung gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben – auch in der Pandemie – teilnehmen können.
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So sollte auch die Seniorenpolitik gestaltet sein, und der achte Altersbericht bestätigt uns auf diesem Weg.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Franziska Giffey. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Frank Pasemann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin Giffey! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Achte Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sich auf circa 130 Seiten im Jahr der Coronapandemie mit der Digitalisierung – verwunderlich! Die Fraktion der FDP fordert nun als brave Serviceopposition Videotelefonie für Alten- und Pflegeheime und möchte hierfür 70 Millionen Euro ausgeben. Gleichzeitig legen Sie aber dar, dass derzeit in vielen Heimen die notwendige Infrastruktur nicht verfügbar ist, geschweige denn für die potenziellen Nutzer gratis zugänglich wäre.
Liebe Kollegen der FDP, Ihr Antrag ist gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Gut gemacht wäre die Forderung nach einer Politikwende: zurück zu einer funktionierenden Gesellschaft, in der Alte nicht abgeschoben werden, ja allzu oft abgeschoben werden müssen –
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abgeschoben werden, weil sie nicht in die Selbstverwirklichungskonzepte der nachrückenden Generation passen, abgeschoben aber auch, weil viele Familien heutzutage allein von einem Einkommen nur mehr schlecht als recht leben können. Die Vision der Digitalisierung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse nach menschlicher Nähe und familiären Bindungen ist im höchsten Maße verstörend, weil dystopisch.
Was die Digitalisierung im Büro schon nicht leistet, nämlich persönliche Kontakte zu ersetzen, wird sie im Bereich der sozialen Kontakte und Beziehungen der Familien erst recht nie können. Dieser Bericht und der verbundene Antrag belegen aufs Neue die Unfähigkeit der Bundesregierung und leider auch der FDP, eine Politik der sinnvollen Stärkung der traditionellen Familie auf den Weg zu bringen,
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der traditionellen Familie, die eben nicht nur aus Vater, Mutter, Kind besteht, sondern nur generationsübergreifend funktioniert. Sie allein ist der Nukleus einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Sie ist die organische Lebensform, die sich über die Generationen hinweg erstreckt und in der sich die Partner des traditionellen Generationenvertrages gegenseitig und ganz selbstverständlich unterstützen.
Im Einzelplan 06 des Bundeshaushalts 2021 findet man unter dem Titel „Durchführung von Integrationskursen nach der Integrationskursverordnung“ für 2021 eine Summe von über 692 Millionen Euro.
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692 Millionen Euro wofür? Integration, meine Damen und Herren, ist eine Bringschuld.
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Im Einzelplan 17 finden wir verschleiert 152 Millionen für das Programm „Demokratie leben!“. 152 Millionen Euro wofür? Für ein linkes Gesellschaftsprojekt, welches niemand außer den Linken zur finanziellen Ausstattung ihrer Netzwerke braucht.
Diese über 800 Millionen Euro stehen einer lächerlichen Haushaltsposition von 12,5 Millionen Euro für ältere Menschen gegenüber. Wäre dieses Steuergeld nicht deutlich besser in unsere deutschen Landsleute, insbesondere Kinder und Senioren, investiert? Starke Familien sind nicht nur die beste Vorbeugung gegen Vereinzelung und Vereinsamung, sie bilden auch ein resilientes Bollwerk gegen Kriminalität und Terrorismus. Die Terrorattacken in Nizza, Paris, Dresden und Wien zeigen doch eins ganz deutlich: Ihre Multikultipolitik ist gescheitert! Die Art der von der derzeitigen Bundesregierung gewünschten Integration ist reine Fiktion.
Fördern wir endlich wieder die Familie als Kern von Volk und Nation! Bekämpfen wir den islamistischen Terror aufs Schärfste!
Vielen Dank!
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Nächster Redner: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Thematik der Digitalisierung greift der achte Altersbericht Entwicklungen auf, die aktuell die Gesellschaft in vielfältiger Weise und in ganz unterschiedlichen Bereichen verändern. Die zunehmenden Technisierungs- und Digitalisierungsprozesse betreffen dabei auch die Lebenswelt älterer Menschen. Wenn es darum geht, im Alter selbstbestimmt zu leben und an der Gesellschaft teilzuhaben, dann spielt seit einigen Jahren der Einsatz technischer Produkte und Anwendungen eine immer stärkere Rolle. Technische Geräte und digitale Anwendungen haben das Potenzial, alltägliche Aufgaben so zu erleichtern, dass sie auch bei körperlichen oder geistigen Einschränkungen noch selbstständig verrichtet werden können.
Digitalisierung ist außerdem ein Treiber für Forschung und technologische Entwicklungen. Die entsprechenden Produkte und Dienstleistungen sind Wirtschaftsfaktoren mit erheblichem Potenzial. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Dynamiken und Interessen ist es für die Seniorenpolitik wichtig, zu wissen, inwiefern Technisierung und Digitalisierung ältere Menschen tatsächlich darin unterstützen, selbstbestimmt zu leben und an der Gesellschaft teilzuhaben. Daher gilt mein Dank sowohl unserer Bundesfamilienministerin Franziska Giffey als auch der Bundesregierung, die sich mit dem achten Altersbericht des wichtigen und hochaktuellen Themas „Ältere Menschen und Digitalisierung“ angenommen hat.
Unerlässlich für eine gute Pflege von Seniorinnen und Senioren ist aber eine professionelle Altenpflege durch qualifiziertes Pflegepersonal. Daher möchte ich auch die Serie „Ehrenpflegas“, ein Projekt im Rahmen der Kampagne des Bundesfamilienministeriums für die neue Pflegeausbildung, nicht unangesprochen lassen. Um Jugendliche für eine Ausbildung in der Pflege zu begeistern, hat das Bundesfamilienministerium diese Serie mit Kosten in Höhe von 700 000 Euro in Auftrag gegeben. Die Serie soll auf unterhaltsame Weise über den Pflegeberuf informieren und auf die Chancenvielfalt der neuen Pflegeausbildung aufmerksam machen.
Dies ist dem Bundesfamilienministerium aber leider mehr als missglückt.
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Die Darstellung des Berufsbilds der Pflege in dieser Serie ist hochgradig unsachlich und geht an den Realitäten von Ausbildung und Berufspraxis vollständig vorbei.
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Die Serie „Ehrenpflegas“ verletzt das berufliche Selbstverständnis unserer Pflegekräfte und ihr Berufsethos. Mehr noch: Sie missachtet die Professionalität unserer Pflegekräfte.
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Insbesondere zwei Aspekte empfinde ich als äußerst kritikwürdig:
Der erste Kritikpunkt ist, dass vor allem in der ersten Folge suggeriert wird, dass die Pflegeausbildung für alle Menschen geeignet ist, die sonst keine Perspektive hätten. Aber: Professionelle Pflege können nicht alle leisten!
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Wir brauchen junge Menschen, die lernen wollen, die Verantwortung übernehmen wollen und die die Fähigkeit dazu haben, Menschen professionell und respektvoll zu versorgen.
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Der zweite Kritikpunkt ist, dass mit der Serie Klischees bedient werden, gegen die unsere Pflegekräfte und der gesamte Pflegebereich seit Jahren ankämpfen müssen.
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Eine Entschuldigung der Ministerin bei unseren Pflegekräften für diese diffamierende Serie halte ich daher für längst überfällig.
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Die Pflegekräfte in unserem Land leisten täglich Großes – nicht nur während der Coronapandemie –, und dafür haben sie unseren größten Respekt verdient.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Grigorios Aggelidis.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal den Altenbericht zum Anlass nehmen, hier ein ganz deutliches Dankeschön an alle älteren Menschen in unserem Land zu sagen für all das, was sie für uns getan haben, damit wir in einem der wohlhabendsten und freiesten Länder der Welt leben können.
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Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Pflicht und die Verantwortung, alles zu unternehmen, damit auch für die älteren Menschen in unserem Land das Credo „Selbstbestimmt in allen Lebenslagen“ Realität ist. Dazu gehört für uns Freie Demokraten selbstverständlich die Teilhabe am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Eine gute niederschwellige Infrastruktur, was Mobilität, Gesundheit, soziales Leben, persönliche Kontakte und seniorengerechtes Wohnen betrifft, ist hier besonders wichtig.
Darüber hinaus stellt der Altenbericht fest: Eine zentrale Rolle spielt heute schon – sie wird zukünftig eine noch größere Rolle spielen – die Digitalisierung: die Frage des Zugangs in die digitale Welt und die Möglichkeiten der digitalen Teilhabe. Dies ist schon in normalen Zeiten eine besondere Herausforderung, die die Bundesregierung bisher verkannt, man kann auch sagen: verschlafen hat. In Pandemiezeiten sind diese Fragen geradezu existenziell, also fast lebensnotwendig. Die Sachverständigenkommission empfiehlt, dafür Sorge zu tragen, dass in allen Wohnformen älterer Menschen Internetzugänge bereitstehen und genutzt werden können: Privatwohnungen, betreutes Wohnen, Bewohnerzimmer in den stationären Versorgungseinrichtungen.
Genau das fordert am Ende des Tages schon unser Antrag aus dem Juni: ein Förderprogramm in Höhe von 70 Millionen Euro für den Ausbau des Internetzugangs sowie die Beschaffung einer technischen Basisausrüstung in Pflege- und Senioreneinrichtungen,
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und zwar zur Ermöglichung der Videotelefonie als erstem Schritt für die Bewohnerinnen und Bewohner, und das gegenfinanziert. Kurzfristig müssen hierbei der generelle Internetanschluss sowie die Beschaffung der Basisausrüstung priorisiert werden. Mittelfristig sind unserer Überzeugung nach die Pflege- und Senioreneinrichtungen dahin gehend zu ertüchtigen, dass den Bewohnern auch die Videotelefonie und der Internetzugang und die Teilhabe in ihren Privaträumen ermöglicht wird.
Eins möchte ich noch einmal betonen, weil das von einigen immer wieder bewusst missverstanden oder schon fast Fake-News-mäßig verbreitet wird: Für uns sind das alles zusätzliche Möglichkeiten, die genutzt werden können – neben dem persönlichen Kontakt, der persönlichen Teilhabe, natürlich unter Beachtung der entsprechenden Hygienekonzepte.
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Darüber hinaus unterstützen wir natürlich auch die weiteren Forderungen aus dem Altenbericht, wie beispielsweise ältere Menschen bei der Umsetzungsstrategie „Digitalisierung gestalten“ einen deutlich höheren Stellenwert beizumessen.
Kommen Sie zum Schluss.
Ja, letzter Gedanke. – Wir sollten die Technologien als Chance für ältere Menschen, auch im Pflegebereich, nutzen. Sie bieten die Chance, Generationen stärker zusammenzuführen. Wir sollten – last, but not least – ein Monitoring zum Thema „Digitalisierung für ältere Menschen“ einführen.
Selbstbestimmt in allen Lebenslagen sein zu können, Teilhabe auch für ältere Menschen in unserem Land zu sichern – dafür ist unser Antrag ein Schritt, aber ein wichtiger Schritt. Unterstützen Sie bitte dieses Anliegen! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Aggelidis. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Katrin Werner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute den achten Altersbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Ältere Menschen und Digitalisierung“. Am Anfang möchte ich kurz zitieren:
Die Bundesregierung teilt darüber hinaus die Auffassung der Kommission, eine gute technische Infrastruktur sicherzustellen. Sie ist eine der zentralen Voraussetzungen für Teilhabe und Selbständigkeit. Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche unserer Gesellschaft und Wirtschaft.
Weiter heißt es:
Der Gefahr, hier von wichtigen Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen zu werden, muss stärker begegnet werden.
Sehr geehrte Bundesregierung, das ist ein Zitat aus der Stellungnahme zum siebten Altenbericht von 2016. Heute reden wir über den achten, und dieser stellt fest: Wir haben es mit einer massiven digitalen Spaltung unter älteren Menschen zu tun. Viele Menschen können sich Geräte nicht leisten, es fehlt an Wissen, und es fehlt an Kompetenzen. Und viele ältere Menschen, insbesondere im ländlichen Raum, haben nicht mal einen Internetanschluss, oder der, den sie haben, ist zu langsam.
Im Januar wurde Ihnen der Bericht übergeben. Seitdem ist digitale Teilhabe älterer Menschen durch Corona umso wichtiger geworden. Missstände haben sich verschärft. Viele Menschen sind zu Hause oder im Pflegeheim von digitaler Kommunikation abgetrennt. Hier müssen wir schnellstmöglich voranschreiten.
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Der Bericht wird sehr deutlich, und auch wir Linke sagen:
Erstens. Wir brauchen flächendeckendes Internet im ganzen Land und in allen Pflege- und Altenheimen.
Zweitens. Ältere Menschen, die in Armut leben, müssen Geld für einen Internetanschluss und für digitale Geräte erhalten.
Drittens. Wir brauchen wohnortnahe Unterstützungsangebote, die Kompetenzen im Umgang mit digitalen Geräten vermitteln. Ältere Menschen haben ein Recht auf digitale Teilhabe, und die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass das schnellstmöglich verwirklicht wird.
Es wurde bereits angesprochen: Neue Technologien können dazu beitragen, dass Menschen eben länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen können. Hausnotrufsysteme, Sensoren, die bei Stürzen das Pflegepersonal oder die Nachbarn informieren, oder auch Haushaltsroboter können dabei helfen.
Auch der Kontakt zu anderen Menschen kann erleichtert und Einsamkeit kann reduziert werden: durch Videoanrufe, durch die Nutzung von sozialen Medien und Apps für Nachbarschaftshilfe. Gerade in Coronazeiten ist das alles superwichtig. Ebenso können Gesundheitsprävention und Pflege verbessert werden.
Bei allen Chancen, die die Digitalisierung bietet, ist für uns Linke aber klar: Nichts, aber auch gar nichts ersetzt den persönlichen Kontakt. Direkte Kontakte und Begegnungen müssen durch die Digitalisierung ermöglicht bzw. ergänzt und eben nicht ersetzt werden.
Pflegeheime sind in den letzten Jahren kaputtgespart worden. Es fehlt massiv an Pflegekräften und an digitaler Infrastruktur. Das verhindert Teilhabe und Kommunikation von Bewohnerinnen und Bewohnern. In der Pandemie zeigt sich das besonders deutlich. Wir müssen hier dringend schneller und mehr investieren.
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Vielen Dank, Katrin Werner. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Kordula Schulz-Asche.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst Danke sagen für den achten Altersbericht „Ältere Menschen und Digitalisierung“; denn durch Corona ist dieses Thema so aktuell wie noch nie. Danke sage ich auch an das Deutsche Zentrum für Altersfragen, das seit dem ersten Altenbericht 1993 wissenschaftsbasiert die Teilhabe älterer Menschen in unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Ich möchte auch der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ dieses Haus danken, die das große und wichtige Thema Gesundheit aufgegriffen hat. Ich glaube, dass das allen weiterhilft, um gute Politik zu machen.
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Leider kommen viele dieser Empfehlungen viel zu selten und bei viel zu wenigen Menschen an. Die Themen „Digitalisierung“ und „Netzausbau“, der Voraussetzung ist, dürfen nicht das gleiche Schicksal erleiden. Was ist also zu tun?
Erstens. Es braucht Akzeptanz für und Kenntnisse über ältere Menschen und ihr Umfeld. Dabei geht es auch um die Familien, die Pflegekräfte, die Hausärzte usw. Dafür braucht man Geld und Personal.
Zweitens. Es braucht Institutionen und Organisationen, die Verantwortung für Dienstleistungen und Infrastrukturen übernehmen, für Ausstattungen und Kompetenzen. Dafür braucht es Geld und Personal.
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Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen, verbindliche Regeln zum Datenschutz, zu Verantwortlichkeiten und zur Finanzierung. Es braucht also Geld und Personal.
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Schon bin ich beim Antrag der FDP zur Digitalisierung von Pflegeeinrichtungen. Sie fordern 70 Millionen Euro für Internet und Basisausrüstung. Aber, meine Damen und Herren, es braucht in Pflegeeinrichtungen eben auch Personal – das haben Sie vergessen –, und Personal kostet Geld.
Lassen Sie mich meine Rede mit zwei positiven Beispielen beenden: Ich möchte darauf hinweisen, dass der Verein „Wege aus der Einsamkeit“ mit dem regen Twitteraccount „Altersfreuden“ ein ganz vielfältiges Angebot für ältere Menschen bietet, das sehr interessant ist. Ich kann nur empfehlen, dem zu folgen.
Mein zweites Beispiel: Ich war vor zwei Wochen in Wiesbaden in einem Quartiersprojekt für ältere Menschen, das im Radius von 500 Metern Teilhabe und Hilfen für ältere Menschen organisiert, mit einer fertigen Internetplattform und mit vielfältigen Hilfsangeboten – aber ohne Finanzierung.
Es gibt in Deutschland viele, viele gute Projekte, meine Damen und Herren; aber wir brauchen endlich eine flächendecke Kraftanstrengung. Wir brauchen Personal und Geld, um dabei zu helfen, die Einsamkeit älterer Menschen zu vermeiden und gute soziale Teilhabe bis ins hohe Alter tatsächlich sicherzustellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ursula Schulte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich näher auf den achten Altersbericht „Ältere Menschen und Digitalisierung“ eingehe, sind mir folgende persönliche Anmerkungen sehr wichtig: Älter sein, alt sein ist so viel mehr als Pflegebedürftigkeit und Krankheit.
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Gerade angesichts des Coronavirus hat sich dieser eingeschränkte Blick auf ältere Menschen noch einmal verstärkt. Alle über 60 wurden nicht mehr als Menschen gesehen, die noch mitten im Leben stehen, sondern nur noch als Risikogruppe angesehen, die es zu schützen galt. Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch, wird aber den älteren Menschen nicht gerecht. Schutzbedürftig sein bedeutete im Frühjahr dieses Jahres für Pflegebedürftige, Sterbende oder Menschen im Krankenhaus vor allem Einsamkeit und Isolation. Dies hat sehr viel Leid verursacht und darf sich so nicht wiederholen.
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Mir ist sehr bewusst, dass das Handeln in Pandemiezeiten immer auch ein Balanceakt ist. Dennoch sage ich: Wir müssen das Recht auf soziale Teilhabe pflegebedürftiger Menschen wahren; denn sie sind und bleiben Inhaber ihrer Grundrechte.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in keiner Debatte zur Digitalisierung darf der Hinweis auf die Infrastruktur fehlen. Genauso wichtig ist natürlich die Frage, wie es gelingen kann, die Digitalisierung für alle, also auch für ältere Menschen, nutzbar zu machen. Ich glaube ja – da geht es auch mir persönlich manchmal so –, dass ältere Menschen nur so tun, als würden sie der Technik ablehnend gegenüberstehen. In Wirklichkeit verstehen sie die technischen Neuerungen nicht, finden die Anwendungen zu schwierig und scheitern schon an der Bedienungsanleitung. Es kommt also auch auf die Nutzerfreundlichkeit an. Angebote wie die der kommunalen Mehrgenerationenhäuser können da helfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der achte Altersbericht sagt, es gibt nicht den älteren Menschen, und er meint sogar, dass die Verschiedenheit im Alter noch wächst. Neben dem Bildungsstand bestimmen natürlich die finanziellen Ressourcen die jeweiligen Lebenssituationen und damit auch die Teilhabemöglichkeiten. Viele ältere Menschen haben einfach keinen Zugang zum Internet oder können sich die Technik nicht leisten. Es ist für mich nicht verwunderlich, dass wieder einmal die älteren Frauen besonders benachteiligt sind. Daher sollten wir den Vorschlag im Altersbericht, digitale Teilhabe über sozialrechtliche Hilfen oder mittels der Hilfsmittelkataloge zu fördern, auf jeden Fall prüfen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein zu Hause zu haben, ist für ältere Menschen – noch einmal – von enormer Bedeutung. Deswegen wollen ja auch viele möglichst lange zu Hause, im gewohnten häuslichen Umfeld bleiben. Bei der Erfüllung dieses Wunsches kann die Digitalisierung helfen, angefangen von der Möglichkeit, sich nach Hause Lebensmittel liefern zu lassen oder von der Telemedizin Gebrauch zu machen.
Das letzte Zuhause ist dann oft eine stationäre Einrichtung. Meine Generation wird den Zugang zum Internet und zu digitalen Diensten schon als selbstverständlich erachten. Mich hat es ein bisschen erschüttert, dass nicht nur die BAGSO, sondern noch andere gesagt haben, dass es nur in einem Drittel der Seniorenheime einen Internetzugang für die Bewohnerinnen und Bewohner gibt, und das oft nur in Gemeinschaftsräumen. Wie man der Meinung sein kann, dass ältere Menschen keine Privatsphäre mehr brauchen, erschließt sich mir leider nicht.
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Hier besteht wirklich dringender Handlungsbedarf, und unsere Ministerin hat ja schon Wege der Unterstützung aufgezeigt.
Leider sagt die Präsidentin, dass meine Redezeit zu Ende ist. Deswegen kann ich nicht mehr auf den FDP-Antrag eingehen, den wir ablehnen werden, weil der Bund hier nicht originär zuständig ist.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin.
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– Alles gut; der Fehler ist mir neulich auch passiert.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst zum Antrag der FDP sprechen. Er ist wirklich gut – da muss ich ein Lob aussprechen –,
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aber die Adresse stimmt nicht. Das haben wir ja schon im Ausschuss besprochen: Nach der Föderalismusreform im Jahr 2006 fällt alles, was Pflegeheime und Heimrecht betrifft, in die Kompetenz der Länder, also haben wir damit nichts zu tun. Wir könnten aber als Bund natürlich noch ein bisschen Gas geben, was den Netzzugang anbetrifft; und da stimmt die Adresse ein kleines bisschen.
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Also, beim Netzausbau, da sind wir dran. Insgesamt ist die Idee also gut.
Jetzt komme ich zum Altenbericht; der achte ist es. Die Sachverständigenkommission hat sich sehr viel Arbeit gemacht. Erst hatte ich ein bisschen Horror, aber ich muss sagen: Es liest sich gut; Kollegen, es liest sich gut, man kann sehr klug werden daraus. – Ich danke ganz herzlich allen Sachverständigen, an dieser Stelle besonders Herrn Professor Andreas Kruse, der in bewährter Weise – man spürt ihn sprechen in manchen Phasen – das Ganze gesteuert hat.
Chancen im Alltagsleben erleichtern, Unabhängigkeit stärken, Teilhabe – da fragen jetzt die Senioren: Wo kann uns das helfen? Und: Hilft mir das wirklich? Die Frau Ministerin hat das Stichwort „Smarthome“ schon erwähnt. Ich nenne weitere Stichworte: Mobilität – wo finde ich den Fahrplan oder den Rufbus? –, Verwaltung, auch Einkaufen kann man machen, Gesundheit, Telemedizin, Pflege, aber auch Bildung – man wird klüger, wenn man das Richtige antippt und nicht die Fake News –, Information insgesamt, auch soziale Kontakte. Also die Seniorinnen und Senioren sollen und wollen stärker an der technischen Entwicklung teilhaben. Sie müssen die Veränderungen aber auch akzeptieren und proaktiv sein; sie müssen offen sein. Und wir müssen helfen, die Neugier zu wecken.
Viele Ältere wissen ja gar nicht, was alles möglich ist. Sie müssen also bereit sein und dürfen nicht nur sagen: Nur wenn es sich lohnt, mache ich da mit.
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Es besteht eine Kluft zwischen denen, die wirklich wollen, und denen, die nicht wollen und nicht können.
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Das betrifft – es gibt da viele interessante Statistiken – natürlich vor allem die Älteren jenseits der 70. Aber wir haben ja jetzt moderne Altersbilder: Auch jenseits der 70 kann man sehr sportlich und sehr offen sein.
Die Anbieter müssen aber auch besser gestalten; sie müssen unbürokratisch, einfach abrufbar ein Programm bauen; es muss erklärt werden, und die Hürden müssen abgebaut werden. Dazu brauchen wir Assistenzen, die den ersten Schritt begleiten. Insgesamt dürfen wir nicht zulassen, dass grundsätzlich Interessierte der digitalen Welt fernbleiben, weil ihnen die Unterstützung fehlt. Die Mehrgenerationenhäuser machen da schon sehr viel.
Aber zum Schluss – wie die anderen auch sagten –: Nichts kann den persönlichen menschlichen Kontakt ersetzen. Darum: Unsere Konzepte mit Schnelltests und unsere Hygienekonzepte müssen wir noch verbessern, damit es weiterhin zu Kontakten kommen kann. Und langfristig müssen wir die Empfehlungen in allen Politikfeldern nutzen, nicht nur in der Familienpolitik.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Alle müssen mithelfen, Digitalisierung für das Alter erlebbar zu machen.
Vielen Dank. Bleiben Sie gesund!
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ministerin hat bei der Betrachtung der Lebensphasen schön formuliert, dass man am Älterwerden nicht vorbeikommt. Richtig. Man kann aber auch sagen: Das Beste kommt zum Schluss. Das ist wie so ein Krabbencocktail, wo Sie sich auch die dickste Krabbe bis zum Schluss aufbewahren. Das Leben könnte man durchaus mit diesem Krabbencocktail vergleichen.
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Deswegen müssen wir uns um ein gutes Leben im Alter kümmern.
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Ich bin froh, dass wir diese Debatte führen. Eine Erkenntnis sollte sein, dass wir häufiger über die Lebensmodelle, Lebensphasen von Seniorinnen und Senioren in Deutschland reden müssen, auch hier im Deutschen Bundestag, und das breiter aufstellen; denn bei dieser Lebensphase geht es um mehr als nur um die Frage der Digitalisierung oder die Frage danach, wie es in den Pflegeeinrichtungen aussieht. Vielmehr brauchen wir einen Gesamtansatz, wie man die Seniorenpolitik weiterentwickeln kann. Da haben wir viel getan. Ich teile das, was die Ministerin gesagt hat: Dieses Thema ist der Großen Koalition wichtig. Das sieht man an vielen einzelnen Projekten und Maßnahmen. Daran werden wir auch weiter arbeiten.
Es ist deswegen klug, zu fragen: Wie bringen wir, in der Nachbetrachtung des Berichts, heute und in den nächsten Wochen drei Dinge zusammen? Nämlich die Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren, die aktuelle, schwierige Situation in der Coronapandemie und die Fragestellung: Wie kann Digitalisierung helfen?
Gerade beim Thema Lebenssituation geht es für viele Seniorinnen und Senioren um Teilhabe. Es stellt sich die Frage: Wie leben diese Menschen? Ich will nur daran erinnern, dass wir in der Großen Koalition auch gesagt haben: Das Thema Einsamkeit kann mehrere Lebensphasen betreffen: die ganz jungen Menschen, die nur noch irgendwie eine Wischbewegung auf Mobilgeräten kennen, leiden unter Einsamkeit; ebenso die mittlere Generation, die drei Wochen das Projekt in der Stadt A, dann drei Wochen das Projekt in der Stadt B durchleben muss; insbesondere betrifft Einsamkeit aber die Seniorinnen und Senioren.
Deswegen möchte ich noch ganz kurz zurückkommen auf die Ausschusssitzung, die wir hatten. Die Kollegin Schulte berichtete sehr eindringlich über die Lebenssituation von vielen Menschen jetzt in der Coronapandemie, was sie erleben und erleiden, nämlich weniger Kontakte, soziale Isolation. Da gab es den Zwischenruf eines Kollegen der AfD, der sagte: Da haben Sie doch selbst Schuld, nehmen Sie doch das schwedische Modell! – Ich will nur eines sagen: Wenn – und da bin ich bei Kant – die Würde den Menschen zu einem besonderen Lebewesen macht, dann ist es auch unser aller Aufgabe, das Leben zu schützen, weil es die höchste Gabe ist an Würde, die wir bewahren können. Wenn das das Ziel ist, dann ist es auch in dieser Coronapandemie wichtig, gerade die Seniorinnen und Senioren zu schützen.
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Wenn ich dann so eine laxe Bemerkung wie „Nehmen Sie doch das schwedische Modell!“ höre, dann kann ich nur sagen: Was wäre denn die Konsequenz gewesen? Wir mussten es ertragen, dass 10 000 Menschen in Deutschland verstorben sind während dieser Coronapandemie. Weitestgehend betroffen waren Seniorinnen und Senioren. In Schweden waren es „nur“ 6 000 – aber in Schweden leben auch nur 10 Millionen Menschen.
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Herr Kollege, darf ich Sie kurz unterbrechen. – Frau Kollegin, auch für Sie gilt Maskenpflicht beim Betreten des Plenarsaals des Deutschen Bundestages.
Wenn ich das umrechne, würden wir nicht über 10 000 Tote beklagen, sondern über 46 000 Tote. Und da haben wir einen sozialethischen Grundansatz in dieser Zeit, der heißt, zunächst einmal Leben zu schützen und Leben zu retten.
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Deswegen ist es wichtig, dass wir auch sagen, wie wir Senioren schützen können. Das ist nichts Abstraktes, sondern da geht es um tatsächliche Zahlen. Nehmen Sie eine Stadt wie Hof in Bayern oder auch Stade in Niedersachsen; dort leben 46 000 Menschen. Das schwedische Modell hätte bei uns zur Folge gehabt, dass eine dieser Städte ausgelöscht worden wäre im Verlaufe des Jahres; und das ist für uns nicht zu ertragen.
Ich komme zur Zusammenführung der Themen Einsamkeit, Corona und Digitalisierung. Ich habe bereits gesagt: 1,2 Millionen Menschen über 65 leiden unter Einsamkeit. Digitalisierung kann – kann! – ein Schlüssel sein, wie man das Thema Einsamkeit auch angeht; aber es wird nicht der einzige Schlüssel sein.
Zweiter Punkt – damit komme ich zum Thema der Belastung aktuell, in der Coronazeit –: Die vulnerable Bevölkerungsgruppe der Senioren ist besonders betroffen. Das ist die Großmutter, die gerne ihren Enkel sehen möchte, aber auch die Umkehrung: Auch der Enkel möchte seine Großmutter wieder in den Arm nehmen. Deswegen, glaube ich, wird es jetzt wichtig sein, dass gerade die Länder, weil sie die Verantwortung haben, dafür sorgen, dass verstärkt Digitalisierung eingesetzt wird, aber auch weiterhin die Möglichkeiten, persönliche Kontakte zu pflegen, gestärkt werden.
Herr Kollege!
Ich kann zusammenfassend sagen, Herr Präsident: Der Bericht zeigt uns, welche Chancen die Digitalisierung bietet, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– als Maßnahme, als Instrument, aber nicht nur allein. Es geht darum, den Zugang zu dieser Technologie zu stärken und so für mehr Teilhabe zu sorgen.
Herr Kollege Weinberg, bitte kommen Sie zum Schluss.
Aber – und das sei auch gesagt – wir nehmen die Empfehlung des Berichtes gerne auf. Digitalisierung und ältere Menschen werden wir zum Schwerpunkt der Digitalisierungstrategie – –
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Herr Kollege Weinberg, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen, weil Sie 40 Sekunden über der Zeit sind. Nach dreimaliger Aufforderung ist es an der Zeit, dass Sie wirklich aufhören. – Sie können gehen.
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Damit sind wir am Schluss der Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bereits vor der Coronapandemie litten unsere Innenstädte unter Kundenschwund. Doch seit dem Frühjahr fegt Corona sie wie ein eisiger Wind gänzlich leer. Auch die neuen, jetzt im November gültigen Maßnahmen werden den Trend leider weiter verschärfen. Auch wenn die Geschäfte weiter geöffnet sind, werden sie unter der Unsicherheit der Menschen im öffentlichen Raum weiter leiden.
Es besteht jetzt die ernsthafte Gefahr, dass Innenstädte weiter veröden und zukünftig gänzlich von den großen, immer gleichen Ketten beherrscht werden, weil nur diese die momentane Situation finanziell durchstehen können. In den kleinen Städten könnte es sogar passieren, dass sich selbst diese Ketten weiter zurückziehen. Dann haben wir kein Angebot mehr in den Innenstädten, dann herrscht dort gähnende Leere, und das wäre städtebaulich eine Katastrophe.
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Wenn wir das nicht wollen, wenn wir nicht wollen, dass gähnende Leere in unseren Klein- und Mittelstädten herrscht, brauchen wir dringend kluge, hilfreiche Konzepte. Wir Bündnisgrüne haben dazu verschiedenste Vorschläge gemacht, leider sind wir bei Ihnen, werte Bundesregierung, damit bisher auf taube Ohren gestoßen. So haben Sie, werte Bundesregierung, mit der Senkung der Mehrwertsteuer die Autohäuser und den Versandhandel unterstützt. Kauf-vor-Ort-Gutscheine, wie wir sie vorgeschlagen haben, wären hier deutlich zielgerichteter gewesen, gerade um die Vielfalt zu unterstützen.
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Der Aufwand, der durch die begrenzte Mehrwertsteuersenkung entstanden ist, hat bei vielen kleinen Unternehmen den Nutzen deutlich übertroffen. Gewerbetreibenden brechen die Einnahmen weg, und die Vermieter bieten in den seltensten Fällen von sich aus Mietminderung an. Genau deswegen brauchen wir eine Klarstellung im gesetzlichen Rahmen, wodurch geregelt wird, dass das wie Schadensfälle behandelt wird. Eine dadurch mögliche Vertragsanpassung würde den Gewerbemieterinnen und ‑mietern schnell und unbürokratisch helfen und sie entlasten. Doch Sie tun nichts, sondern lassen Gewerbemieter/-innen jahrelang auf die Gerichtsentscheidungen warten.
Dabei wäre es doch so einfach, liebe Bundesregierung, wenn man nur wollen würde. Es ist so wichtig, dass wir als Gesetzgeber jetzt an dieser Stelle aktiv werden.
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Denn nach dem Immobilienboom der vergangenen Jahre ist es nur fair, wenn wir das durch Corona entstandene Risiko für Einzelhandel und Gastronomie nicht allein auf die Gewerbetreibenden abwälzen, sondern zwischen den Vertragsparteien aufteilen. Derzeit aber tragen diejenigen, die ein Café, einen kleinen Laden oder eben auch ein Kosmetikstudio betreiben, ganz allein die Last. Mit den Coronahilfen sichern Sie vor allem den Immobilienkonzernen die Einnahmen. Das kann doch nicht Sinn und Zweck dieser Hilfen sein. Handeln Sie hier endlich!
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Zum Schluss – das ist genauso wichtig –: Planen Sie die Coronahilfen für die nächsten Monate. Es braucht endlich langfristige Konzepte. Behalten Sie dabei im Hinterkopf: Der Dezember ist für viele der umsatzstärkste Monat, er ist für viele entscheidend für ihr Bestehen. – Wir brauchen die vielen kreativen, innovativen Impulsgeberinnen für die Innenstädte. Sie schaffen neue, moderne, kreative Angebote und erhöhen die Anziehungskraft in Innenstädten. Helfen Sie ihnen: jetzt, schnell und zielgerichtet!
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Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Nächster Redner ist der Kollege Carsten Müller, Braunschweig. Einmal Löwe, immer Löwe!
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Sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben jedenfalls bei der Wahl Ihres Geburtsortes alles richtig gemacht und sich Braunschweig ausgesucht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sicherlich schränkt uns die pandemische Lage im Moment alle ein, die Gewerbetreibenden in Sonderheit. Die Große Koalition und die Bundesregierung haben darauf mit umfangreichen Hilfsprogrammen reagiert, die bei Bedarf angepasst werden. Solche Bedarfe erleben wird gerade, und deswegen wird angepasst.
Die verschiedenen Anträge, die hier zur Beratung stehen, befassen sich vor allem mit dem Thema Gewerbemietrecht. Eine kleine Ausnahme bildet allerdings der Antrag der FDP. Da ist noch allerhand anderes reingerührt. Ich weiß gar nicht, ob Sie sich das selber durchgelesen haben. In Ihrem Forderungskatalog finden wir weite Passagen, die wir auch schon beim vorvorletzten Tagesordnungspunkt, als es um die Automobilwirtschaft ging, auf dem Tisch hatten. Das ist ein mehr oder weniger angeblich liberaler Kolonialwarenladen, den Sie hier ins Gespräch bringen.
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Aber wir wollen zurück zum Thema kommen.
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Die Grünen und die Linksfraktion schlagen Eingriffe in Gewerbemietverträge vor. Meine Damen und Herren, es gibt, wie gesagt, einerseits umfangreiche Hilfen der Bundesregierung, es gibt aber andererseits bereits heute rechtliche Regelungen, die eine ganze Palette von Anpassungsmöglichkeiten bieten, zum Beispiel § 536 BGB zum Thema Mietminderung
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oder auch im Grundsatz die Störung der Geschäftsgrundlage, die in § 313 BGB geregelt ist. Damit sind ganz individuelle Lösungen zwischen den Vertragsparteien möglich, zielgenau und, wie gesagt, abgestellt auf die jeweilige konkrete Situation. Und was über all dem schwebt, ist das hohe Gut der Vertragsfreiheit. Deswegen tun wir uns sehr schwer, uns Ihren Vorschlägen zu öffnen.
Meine Damen und Herren, wichtig ist: Die hier vorgeschlagenen Regelungen unterscheiden sich wesentlich von dem zeitlich befristeten und klar definierten Mietmoratorium im Zuge der Coronagesetzgebung im Frühjahr. Wir haben explizit geregelt, dass eine Kündigung aufgrund von coronabedingten Zahlungsverzögerungen nicht in Betracht kommt und damit den Mieterschutz angehoben.
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In Urteilen einiger Landgerichte ist tatsächlich die Frage aufgeworfen worden, ob mit dieser seinerzeitigen Regelung die Anwendung des § 313 BGB ausgeschlossen sein soll. Dazu kann von dieser Stelle ganz klar Nein gesagt werden. Das war zu keinem Zeitpunkt intendiert, und das ist auch überhaupt nicht intendiert; das findet sich im Übrigen in allen zur Beratung herbeigezogenen Unterlagen und Ausführungen wieder.
Sie befürworten die Ergänzung des Wortes „Pandemie“ in § 313 BGB, aber übersehen, dass das zu gar keiner rechtlichen Klarstellung führt, weil Sie bestenfalls die rechtliche Erörterung von der Frage des Ob auf die Frage des Wie verlagern. Deswegen sind Ihre Vorschläge leider untauglich. Wir wollen weiterhin die Einzelfallentscheidung vor Gericht haben.
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Meine Damen und Herren, bei den Diskussionen ist verschiedentlich der Hinweis auf den Artikel 1104 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches der Republik Österreich angeführt worden. Das ist eine Regelung, die seit knapp 105 Jahren dort gilt. Verschiedentlich wird gesagt, man möge etwas Ähnliches auch hier einführen. Das ist aus unserer Sicht im Moment jedoch ungeeignet, weil unsere Kodifikation anders aufgebaut ist und anders funktioniert und die bestehenden Gewerbemietverträge vor dem Hintergrund unserer jetzigen Kodifikation geschlossen sind. Das kann man vielleicht später einmal erörtern, aber erst dann, wenn Zeit dazu ist und wenn es geboten ist.
Ich will noch einmal auf das Thema „Kriterium der Einzelfallbetrachtung“ abstellen. In Ihren Ausführungen und auch eben in Ihrem Redebeitrag, Frau Kollegin Müller, haben Sie das Bild gezeichnet, dass den großen Immobilienkonzernen, die auf der einen Seite stehen, die kleinen Mieter, die auf der anderen Seite stehen, schutzlos ausgeliefert sind. Das mag in einigen Bereichen der Republik so sein. Wenn ich allerdings meinen Blick nach Schöningen in den Landkreis Helmstedt oder in die schöne Bergstadt Altenau in den Oberharz werfe, stelle ich fest: Da ist das Kräfteverhältnis zwischen Vermietern und Mietern genau umgekehrt. Da gibt es keine Übernachfrage von Mietern; da ist der Mieter in der stärkeren Situation. Darauf geben Ihre Vorschläge überhaupt keine Antwort.
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Mithin: Die geltende Rechtslage ist geeignet, die anstehenden großen Probleme zu lösen. Noch geeigneter sind die Hilfen der Bundesregierung, die die Große Koalition fortlaufend weiterentwickelt. Deswegen wird Ihren Anträgen die Zustimmung der Unionsfraktion verweigert werden müssen.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Müller. – Nächster Redner ist der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen und an den Fernsehschirmen!
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Die Politik der Bundesregierung zeichnet sich in Coronazeiten zunehmend dadurch aus, dass sie in der politischen Richtung immer konfuser und in der Umsetzung der Maßnahmen dafür umso härter und totalitärer wird, bis hin zur Drangsalierung. Das macht es nicht leichter, die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 hat diese Regierung ein dreimonatiges Kündigungsmoratorium umgesetzt, nach dem die Mieter von Wohn- und Gewerberäumen drei Monate lang mit den Mietzahlungen aussetzen durften. Die Zahlungsketten wurden willkürlich unterbrochen, und diese Regierung fand das toll.
Wir haben einen Antrag gestellt, mit dem der gewerbliche Vermieter im Blick behalten werden sollte, weil bereits damals absehbar war, dass hier die größten Verluste eintreten würden. Unser Antrag sieht deshalb vor, dass die Vermieter eine Art Waffengleichheit erhalten und ihre Zahlungen von Darlehen ebenso aussetzen können wie die Mieter ihre Mietzahlungen. Diesen Punkt müssen im Übrigen jetzt auch die Grünen und die Linken als Problem erkannt haben; ähnliche Forderungen für private und kommunale Vermieter finden sich auch in ihren Anträgen wieder.
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Daneben fordern wir ein KfW-Programm, das betroffenen Vermietern Überbrückungshilfen im Wege von Darlehen gewähren soll.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir sind dafür, dass auch dem Gewerbemieter, egal ob Gastronomie oder Einzelhandel, geholfen wird, und zwar vorbehaltlos. Entsprechende Hilfsprogramme werden von uns unterstützt. Aber: Diese Hilfe darf nicht auf Kosten anderer gehen. Es nützt niemandem, wenn die Vermieter an diesen Zahlungsausfällen pleitegehen.
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Als wir unseren Antrag zur Unterstützung von gewerblichen Vermietern im Mai dieses Jahres zur Diskussion stellten, wurden uns von anderen Parteien in diesem Hohen Hause Wahnvorstellungen attestiert. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, wo selbst die „WirtschaftsWoche“ auf Seite 1 vom „Notfall Gewerbeimmobilien“ spricht.
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Grünen und Linken fällt in dieser Situation nichts Besseres ein, als den Gewerbemieter auf die eine oder andere Art ganz oder teilweise von den Mietzahlungen zu befreien. Mit anderen Worten: Mieter und Vermieter sollen in Verteilungskämpfen gegeneinander ausgespielt werden – schöne neue Welt!
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Das Problem ist nur: So funktioniert das nicht. Der Notfall Gewerbeimmobilien würde sich weiter verschärfen. Wenn man Zahlungsausfälle kompensieren will, muss man das an Punkten machen, an denen sie auftreten. Wenn man Zahlungswege willkürlich unterbricht, führt das dazu, dass ein großer Teil des Systems instabil wird und sich die Folgen spätestens durch Insolvenzen völlig unkontrolliert in den Bankensektor und auf die Finanzmärkte ausbreiten.
Und es ist ein Irrglaube, dass die Folgen nur die Reichen treffen würden. Betroffen wären auch Privatanleger sowie Renten- und Pensionsfonds, kurz: die Altersvorsorge von Millionen Menschen. Wer jemals ernsthaft geglaubt hat, dass die Grünen irgendeine Art von Wirtschaftskompetenz besitzen, der wird hier und jetzt eines Besseren belehrt. Wir können der deutschen Wirtschaft nur ganz klar sagen: Wenn ihr euch mit diesen Grünen ins Bett legt, werdet ihr in einem sozialistischen Alptraum wieder aufwachen.
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Gewerbemieter und ‑vermieter sind jetzt so gut wie möglich zu unterstützen, am besten auch dadurch, dass Sie den Lockdown in dieser Form sofort beenden. Das ist von vitalem Interesse für den Erhalt unserer Innenstädte. Das allein wird aber nicht reichen. Die strukturellen Probleme unserer Innenstädte reichen sehr viel tiefer. Wie man diese Probleme lösen kann, das werden wir Ihnen zeitnah in unseren Anträgen in den kommenden Wochen mitteilen.
Dieses Thema ist aus unserer Sicht zu wichtig, als dass man es als Anhang zu irrigen Linken- und Grünenanträgen behandeln könnte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hemmelgarn. – Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich finde es sehr gut, dass es neben den Maßnahmen der Bundesregierung und somit der Koalition auch eine Reihe von Anträgen der Opposition gibt – heute fünf ganz unterschiedliche an der Zahl, die sich mit der Situation von Handel und Innenstädten befassen, auch mit den Gewerbemieten. Es war meines Erachtens jedenfalls richtig, dass die Bundesregierung mit dem Kündigungsmoratorium bei Mietausfall auch auf die Gewerbemieten reagiert hat. Dieses Moratorium war leider befristet und ist zum 1. Juli dieses Jahres ausgelaufen. Ich persönlich bedauere das; ich komme gleich noch mal darauf zurück.
Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung allerdings mit sehr vielen Maßnahmen den Gewerbetreibenden geholfen, und zwar in einem Umfang wie kaum in einem anderen Land. Ich will hier nur stichwortartig die Soforthilfe nennen und die Überbrückungshilfen I und II – die Fortschreibung ist in Arbeit –, die sogenannte Novemberhilfe usw. usf. Die am 28. Oktober 2020 beschlossenen Maßnahmen betreffen Gewerbetreibende, Gastronomiebetriebe, Einrichtungen der Freizeitgestaltung, Dienstleistungsbetriebe ganz unterschiedlicher Art, wobei Soloselbstständige bis zu einem Verlust von 5 000 Euro direkt antragsberechtigt sind.
Ich habe heute das Protokoll von #AlarmstufeRot, dem Zusammenschluss ganz vieler Kulturschaffender und Institutionen, bekommen, die ausdrücklich anerkennen, dass die Politik sie eben nicht alleine lässt. Sie haben ganz konkrete Forderungen und Verbesserungsvorschläge. Und ich sage ganz offen: Ich erwarte auch, dass die Bereitschaft des Bundesfinanzministers, in erheblichem Maße Hilfen zur Verfügung zu stellen, vom zuständigen BMWi so administriert wird, dass die Mittel zielgerichtet ankommen und auch tatsächlich abgerufen werden können und nicht im administrativen Dickicht des BMWi versinken.
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Wir müssen jetzt die Frage beantworten, was denn eigentlich zu tun ist, wenn die Pandemie längerfristig anhält; das ist eben schon einmal angesprochen worden. Es ist sinnvoll, glaube ich, wenn wir dann auch über ein erneutes Kündigungsmoratorium bei Covid-19-bedingtem Zahlungsverzug sprechen – das ist schon richtig – und auch über die Vorschläge, das Mietrecht so zu konkretisieren, dass Betriebsschließungen und Nutzungsbeschränkungen aufgrund von Corona eine schwerwiegende Veränderung in der Vertragsgrundlage bilden. Ich glaube, lieber Kollege Müller, neue Situationen verlangen neue Antworten und nicht nur den Hinweis auf alte Lösungen, die dann nicht greifen.
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Ich weiß aus meiner Zeit als Stadtentwickler und Wirtschaftsförderer sehr lange schon, dass die wirklichen Probleme der Innenstädte Kernprobleme sind, die durch die Coronakrise allenfalls beschleunigt wurden, aber schon vorher vorhanden waren. Dabei bilden die Gewerbemieten ein Kernproblem. Es geht um Banalisierung und um Filialisierung der Innenstädte; es geht um Verdrängung des ortsspezifischen Einzelhandels, um Leerstandsproblematik und vieles andere mehr.
Ich spreche hier nicht in erster Linie von einzelnen Grundstückseigentümern, die sich nicht an Maßnahmen halten, sondern vielmehr von immer dominanter werdenden Immobilienfonds, die zur Lösung des Problems beitragen müssten, anstatt selber den Kernbestandteil des Problems auszumachen.
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Statt Erwartungen von 30 Prozent oder mehr Rendite zu pflegen, sollten sie jetzt handeln. Man muss die „WirtschaftsWoche“ schon richtig lesen, Herr Hemmelgarn, wenn man wissen will, worum es eigentlich geht.
In dem anregenden Antrag, den die Grünen gestellt haben, wird die Forderung nach einem Krisengipfel gestellt. Mir wäre viel wohler dabei, wenn wir die Forderung nach einem Zukunftsgipfel stellen würden,
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der eine Antwort auf die Frage geben könnte: Wie sieht eigentlich die Stadt der Zukunft aus? Ist das noch die durchmischte europäische Stadt, die wir in der erweiterten Leipzig-Charta beschreiben, oder ist es nur noch – ich zitiere jetzt mal – „eine Ansammlung von IP-Adressen“, wie es beispielsweise im Marketing von Google heißt? Das kann ja wohl so nicht sein, und darauf werden wir Antworten finden müssen.
Ja, wir brauchen aktuelle Hilfsangebote. Aber vor allem brauchen wir Konzepte, wie unsere Städte auf der einen Seite zu höherer Resilienz kommen können, also gegen Pandemie stabil werden, gegen Klimawandel, gegen digitale Verletzlichkeit, und wie sie auf der anderen Seite zur Bewältigung der Transformation in eine digitalisierte Zukunft in die Lage versetzt werden. Die Stadt als eine zutiefst soziale Veranstaltung zu organisieren und die Innenstadt nicht als Renditeprojekt zu verstehen, das ist eigentlich die Aufgabe, die wir haben.
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Ich will auf andere Anträge aus Zeitgründen nicht eingehen. Ich will aber noch einen Unterschied deutlich machen. Ich glaube, wir brauchen nicht eine Maßnahme nach der anderen in einem Katalog, wie die Grünen ihn auflisten, sondern wir brauchen etwas, das kommunale Selbstverwaltung, verstanden als die Freiheit, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaften regeln zu können, unterstützt.
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Und dazu braucht man nicht Projekt um Projekt, sondern dazu braucht man einen kommunalen Solidarpakt, wie wir ihn bereits haben, mit der Übernahme von Gewerbesteuerausfällen, mit der Entlastung von Sozialausgaben und anderem mehr. Das ist, glaube ich, eine entscheidende Geschichte.
Wir machen schon jetzt sehr viel, die Städtebauförderung, „Smart City“ beispielsweise und viele andere Maßnahmen. Ich glaube, der Beirat Innenstadt und auch der runde Tisch, den es in der Sache gibt, das sind alles Maßnahmen, die sehr konstruktiv das aufgreifen, was hier gefordert worden ist und was wir tatsächlich nutzen müssen, um eine gute Zukunft für die Städte auch in der Coronakrise und auch für die Gewerbetreibenden hinzubekommen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup. – Ich sehe, auch Sie sind von sich so ergriffen, dass Sie die Maske vergessen haben. – Also, „Tragen“ meint nicht das Mit-sich-Herumtragen, sondern das Aufsetzen oder Umbinden.
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Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allem Ernst: Das wird alles gesehen, das wird alles notiert. Es macht auch keinen Spaß, von hier oben regelmäßig zu sehen, dass Leute, wenn sie telefonieren gehen, wenn sie wieder reinkommen, die Maske nicht aufsetzen. Wenn wir das ernst meinen, dann sollten wir uns auch vorbildlich an die eigenen Regeln halten. Das ist ja keine Empfehlung, sondern eine Anordnung.
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Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Katharina Willkomm, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle können uns nach dieser Woche auf drei Dinge sicher einigen: wie elementar wichtig ein funktionierender Rechtsstaat, funktionierende Institutionen und eine soziale Marktwirtschaft sind.
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Für Coronamaßnahmen bedeutet das: Die wesentlichen Entscheidungen müssen im Parlament diskutiert werden, bevor sie ins Werk gesetzt werden,
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und den Maßnahmen, die hinterher dabei herauskommen, muss man schon auf hundert Meter ansehen, dass sie verhältnismäßig sind. Nur wenn das gelingt, kommen die Menschen mit.
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Die Tafelrunde aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten zwingt Kunst und Kultur, Sport und Hotels, Gastronomie und Freizeitwirtschaft ein Sonderopfer auf. Das ist brutal hart und der Hintergrund für den jetzigen Tagesordnungspunkt.
Die undifferenzierten Coronamaßnahmen bedeuten: Gewerbemieter haben null Umsatz, sollen aber weiter volle Gewerbemiete zahlen. Die Frage ist nun, wer jetzt was tun muss, um das Problem zu lösen. Die Grünen haben recht, wenn sie sagen, dass die Coronamaßnahmen die Geschäftsgrundlage massiv stören. Aber sie haben unrecht, wenn sie dafür § 313 BGB umschreiben wollen; denn dieser Paragraf bietet als Generalklausel bereits jetzt alle Möglichkeiten für die Gerichte, eine faire Risikoverteilung unter Coronabedingungen zu entscheiden.
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Und Sie sprechen es in Ihrem Antrag dann auch selbst an, dass die ersten Gerichtsurteile nahelegen, dass auch die Justiz in Ihrem Sinne auf eine Störung der Geschäftsgrundlage entscheidet. Es ist deshalb falsch, wie die Grünen zu sagen: Das machen wir trotzdem; es schadet ja nicht. – Denn es gilt Montesquieu: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.“
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Um unsere Ablehnung des Linkenantrags zu begründen, reicht schon der Hinweis auf eine Forderung: Sie wollen einen Rechtsanspruch auf Absenkung der Nettokaltmiete um 30 Prozent für Gewerbemieter mit pandemiebedingtem erheblichem Umsatzverlust. – Das ist undifferenziert, begrifflich ungenau und der Höhe nach willkürlich.
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Nein, wir müssen das Problem vom Kopf auf die Füße stellen. Die Unternehmer und ihre Mitarbeiter wollen arbeiten. Das müssen wir, soweit es geht, ermöglichen.
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Maßnahmen müssen punktgenau und differenziert angeordnet werden. Die Bundesregierung muss wegkommen von dem Auf-Sicht-Fahren. Alle Unternehmen, ob geschlossen oder nicht, brauchen Klarheit, nach welchen Kriterien Bundesregierung und Länder Maßnahmen ergreifen. Das gilt für Hilfen genauso wie für Einschränkungen.
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Die Schließungsanordnungen müssen berücksichtigen, wie viel Gefahr tatsächlich von den spezifischen Betrieben ausgeht und welche Schutzkonzepte jeweils umgesetzt sind. Die Bundesregierung muss den Einbau von geeigneten Luftreinigungstechniken mit einer Sonderabschreibung fördern.
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Und wir brauchen die Einführung einer negativen Gewinnsteuer. Konzepte dafür haben wir Freien Demokraten Ihnen vorgelegt.
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So helfen wir den Betrieben durch die Pandemie – mit rechtsstaatlichen Maßnahmen und wirtschaftlicher Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Lay, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie trifft den Mittelstand hart. Viele, insbesondere kleine Geschäfte stehen mit dem Rücken zur Wand, mit einem Bein in der Insolvenz. Nach Aussagen des Handelsverbandes drohen 50 000 Geschäftsschließungen. Das bedeutet das Aussterben von Innenstädten, das Aus für inhabergeführte Läden, für Restaurants, Bars und Klubs. Leerstand ist die Folge, Verödung der Innenstädte. Wo früher „Helgas Eckkneipe“ war, zieht Starbucks ein, es bleiben nur die immer gleichen Ketten übrig, und unsere Fußgängerzonen verwandeln sich in eintönige Konsummeilen ohne Herz und ohne Lokalkolorit.
Das wollen wir als Linke nicht; das Aussterben gerade der kleinen Geschäfte müssen wir verhindern. Wir wollen lebendige Innenstädte – auch nach der Pandemie!
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Zu Beginn der Pandemie hat die Bundesregierung ja auch ein Kündigungsmoratorium beschlossen. Mietschulden aus den Monaten April bis Juni konnten aufgeschoben werden und durften nicht zur Kündigung führen. Das hat so manchen Laden vor der Insolvenz gerettet. Aber leider ist dieses Kündigungsmoratorium nicht verlängert worden. Das geht so nicht. Wer den Lockdown II beschließt, muss auch das Kündigungsmoratorium II beschließen.
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Denn eines muss doch wirklich klar sein: Wer pandemiebedingt seine Miete nicht bezahlen kann, dem darf nicht gekündigt werden.
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Drei Viertel der Unternehmen, die im Gaststättenverband DEHOGA organisiert sind, gaben bei einer Umfrage aus dem Oktober an – also, das war noch vor dem zweiten Lockdown –, dass sie einen Umsatzverlust von 50 Prozent erwarten. Und jeder Siebte rechnet damit, sein Geschäft aufgeben zu müssen.
Noch schlimmer sieht es bei Diskotheken und auch bei Klubs aus. Die sind nämlich schon seit März geschlossen, aber müssen ja die Miete weiter bezahlen. Neun von zehn Klubs rechnen damit, nie wieder öffnen zu können, wenn sich jetzt nichts tut. Damit würde ein wichtiger und im Übrigen auch international renommierter Teil unserer Kultur von der Landkarte verschwinden. Und das darf nicht sein.
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Meine Damen und Herren, es gibt gute Gründe für den Lockdown. Aber: Wer einer ganzen Branche den Stecker zieht, der muss dafür sorgen, dass sie überlebt!
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Ein ganz großer Posten ist eben die Miete. Wir fordern, dass bei Betrieben, die geschlossen werden, die Miete abgesenkt werden kann, und zwar rechtssicher, meine Damen und Herren.
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Anders, als Sie es hier behaupten und auch die Bundesregierung schreibt, ist das deutsche Recht eben nicht eindeutig. Die Betroffenen müssen tatsächlich klagen. Aber das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein, dass wir jetzt von jedem kleinen Restaurantbetreiber erwarten, dass er den Klageweg beschreitet.
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Und es gibt ja auch bereits negative Urteile. So verwehrte beispielsweise das Landgericht Heidelberg einem geschlossenen Restaurant die Mietsenkung. Wir brauchen Rechtssicherheit, damit die kleinen Unternehmen wissen, woran sie sind.
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In Österreich gibt es eine solche klare Rechtsgrundlage, und zwar seit fast 100 Jahren. Im Falle einer Seuche muss keine Miete gezahlt werden. Das wurde dort auch erst jüngst vor Gericht bestätigt. Ein sehr vermieterfreundliches Parlament wie dieses würde das sicherlich überfordern. Wir schlagen deswegen als Linke eine Halbe-halbe-Regelung vor. Wenn der Laden dichtgemacht wird, dann müssen nur 50 Prozent der Miete gezahlt werden. Das beträfe vor allem Gastronomie, Theater, Kinos und Klubs.
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Das ist übrigens exakt die Forderung des Handelsverbandes Deutschland und des Immobilienverbandes ZIA, beide keine Institutionen, die im Verdacht stehen, besonders links zu sein. Ich hoffe deswegen, dass auch Sie diesem Vorschlag zustimmen können.
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Eines kann, glaube ich, nicht sein: dass die Mieterinnen und Mieter, egal ob im Gewerbebereich oder im Wohnungsbereich, die Kosten für diese Pandemie alleine tragen und die Immobilienbranche, übrigens als einzige Branche, völlig unbeschadet durch diese Krise segelt. Das geht nicht. Das ist nicht gerecht.
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Wir können ja davon ausgehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der bisherigen Coronahilfen einfach an die Vermieterseite durchgereicht wurde. Wir fordern hier eine gerechte Beteiligung von Vermieterinnen und Vermietern.
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Es gibt dann noch diejenigen, die zwar während der Pandemie öffnen dürfen, aber große Einkommensverluste hinnehmen müssen, etwa weil die Anzahl von Kunden beschränkt ist. Viele Geschäfte sind davon betroffen. Für diese Gewerbe fordert Die Linke eine reguläre Möglichkeit der Mietsenkung um 30 Prozent.
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Keine Angst, liebe Kleinvermieterinnen und Kleinvermieter: Wir schauen als Linke sehr genau hin, wer wie viel hat und wer sich was leisten kann. Deswegen fordern wir für den Fall, dass eine Mietsenkung die Vermietenden selbst in die Bredouille bringen würde, einen Härtefallfonds, der schnelle und unbürokratische Hilfe leistet.
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Bereits vor der Coronapandemie hatten wir als Linke ein Gewerbemietrecht gefordert, hatten wir eine Deckelung der Gewerbemieten gefordert. Jetzt, während der Coronapandemie, ist es unausweichlich, die explodierenden Mieten auch für Gewerbeflächen zu begrenzen.
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich handeln, damit Tante Emmas Laden, Enzos Pizzeria, Ahmeds Späti und Gretchens Klub auch nach der Pandemie noch da sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lay. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Kollege, einen ganz kleinen Moment. – Ich möchte die Vertreter der Bundesregierung darauf hinweisen, dass die Pflicht zum Tragen von Nasen- und Mundschutz auch für sie gilt. – Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie hat in der Tat sehr viele Gastronomen, Kleingewerbetreibende und Vertreter der Veranstaltungswirtschaft in eine sehr schwierige wirtschaftliche Situation gebracht. Für nicht wenige ist das in der Tat existenzbedrohend. Deswegen – das will ich zunächst einmal festhalten – war es richtig, dass wir im März in einer unklaren Pandemielage vor dem Hintergrund der anlaufenden wirtschaftlichen Hilfen beschlossen haben, ein Mietmoratorium einzuführen. „Mietmoratorium“ heißt übrigens nicht, dass die Zahlungspflicht aufgehoben ist. Vielmehr haben wir nur gesagt, dass demjenigen, der nicht bezahlen kann, nicht gekündigt werden darf. Ich denke, das war in dieser Situation richtig, um den Menschen Sicherheit zu geben.
Jetzt stehen wir aber vor einer anderen und etwas komplexeren Situation, und das Recht muss sich immer auch auf die Situation beziehen, die vorgefunden wird. Wir haben bei den Gewerbemieten völlig unterschiedliche Situationen: Wir haben Gewerbemietobjekte, gerade im Einzelhandel, die überhaupt nicht betroffen sind von den pandemiebedingten Einschränkungen. Wir haben Gastronomieobjekte, die in der Tat nicht öffnen können, oder solche Objekte, die einen eingeschränkten Geschäftsbetrieb haben, beispielsweise Hotels, die keine Touristen, aber sehr wohl noch Geschäftsreisende aufnehmen dürfen.
Vor diesem Hintergrund brauchen wir eine differenzierte Antwort. Kein Gesetz der Welt, auch nicht im bürgerlichen Recht, kann jeden Einzelfall lösen. Vielmehr haben wird uns im bürgerlichen Recht darauf verständigt – übrigens seit 100 Jahren –, dass das Recht die grundlegenden Voraussetzungen bestimmt, aber der Einzelfall verhandelt wird oder gegebenenfalls vor Gericht entschieden wird. Aber das Gesetz kann und wird nicht alles lösen können, meine Damen und Herren.
Vor diesem Hintergrund bitte ich darum, dass wir uns den § 313 Bürgerliches Gesetzbuch sehr genau ansehen.
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In diesem Paragraf geht es um den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Es war übrigens lange Zeit nur eine Formel der Rechtsprechung, die 2002 aber ins bürgerliche Recht aufgenommen worden ist. Haben sich wesentliche Umstände geändert, kann das dazu führen, dass die Parteien jeweils eine Änderung der Vertragsbeziehungen erzwingen können, auf dem Verhandlungsweg oder vor Gericht, und zwar so, wie es dem jeweiligen Vertrag entspricht. Deswegen können auch Vorschläge, bei denen gesagt wird: „Wir machen halbe-halbe oder 30 Prozent“, manchen Umständen nicht gerecht werden. Wir wollen aber, dass eine Regelung so ausgefüllt wird, dass sie jedem Einzelfall gerecht wird. Das geht am Ende des Tages rechtlich gesehen nur durch eine Generalklausel.
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Es ist in der Tat nicht vertretbar, dass die Risikoverteilung, gerade auch bei den coronabedingten Schließungen, einseitig zulasten der Mieter vorgenommen wird. Auch die Vermieter müssen ihren Beitrag dazu leisten, wenn sich gesamtgesellschaftlich ein Risiko verwirklicht hat.
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Aber das muss eben in der Generalklausel bleiben, meine Damen und Herren.
Wichtig ist aber auch: Wir können diese Risikoverteilung nur dann fordern, wenn der Staat, der die Schließung anordnet, entsprechend für Kompensation sorgt. Deswegen ist unser wichtigster Punkt heute auch, dass wir unseren Blick auf die Hilfen richten, die jetzt ausgereicht werden. Da gibt es für uns zwei Dinge, die nicht verhandelbar sind und die wir durchsetzen werden.
Zum einen: Diese Hilfen müssen schnell und unkompliziert beantragt werden können, ohne viel Bürokratie, mit einfachen Internetplattformen, die dafür Sorge tragen, dass die davon Betroffenen schnell ihre Daten eingeben können.
Der zweite Punkt ist: Die Hilfen müssen auch schnell und unkompliziert ausbezahlt werden. Es kann nicht sein, dass die Auszahlung der Hilfen, die jetzt für November kommen, einen ähnlichen langen Zeitraum erfordert wie im März und im April, wo die Auszahlung der Hilfen viele Wochen gedauert hat. Hilfen müssen also schnell ausgezahlt werden, und sie müssen bald kommen. Dafür werden wir Sorge tragen.
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Letztlich müssen wir die Situation so lösen, dass wir auf der einen Seite die Risikoverteilung zwischen Vermietern und Mietern über § 313 BGB gesamtgesellschaftlich vornehmen, aber als Staat den Unternehmern dort, wo sie es nicht zu verantworten haben, auch zur Seite stehen durch ein großes, umfassendes Hilfspaket, das wir in den nächsten Tagen auf den Weg bringen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Maier, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die völlig unverhältnismäßigen Coronaschutzmaßnahmen haben dazu geführt, dass die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal dieses Jahres um fast 10 Prozent eingebrochen ist. Abertausenden Gastwirten, Hotelbetreibern, Einzelhändlern, Betreibern von Diskotheken, Kinos, Fitnessstudios oder Kneipen steht finanziell das Wasser bis zum Hals. Die sogenannten Coronasoforthilfen für Selbstständige sind längst verpufft. Und ja: Die geschuldeten Miet- und Pachtzahlungen werden trotz des auferlegten faktischen Berufsverbots Monat um Monat fällig, und viele wissen nicht, wie sie da durchkommen sollen.
Die Linken machen es sich jetzt ganz leicht und sagen: Gewerbemieter sollen zulasten der Vermieter pauschal einen gesetzlichen Anspruch auf Senkung der Nettokaltmiete um 30 Prozent haben. Ihre Kündigung soll während der gesamten Pandemie ausgeschlossen sein.
Die Grünen sagen: Vermieter und Mieter, einigt euch. – Sie wollen die Störung der Vertragsverhältnisse über § 313 BGB lösen, also über die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage. Behördlich angeordnete Betriebsschließungen und Nutzungsbeschränkungen sollen einen Anspruch auf Vertragsanpassung bewirken.
Ich könnte jetzt im Einzelnen auf Geschichte und Anwendungsbereich des § 313 BGB eingehen; das will ich jetzt hier nicht weiter verfolgen. Festzuhalten ist aber, dass ein ganz großer Teil von Vermietern in Deutschland Privatpersonen sind, die die Mieteinnahmen dringend zum Abzahlen ihrer Kredite und für ihre Altersvorsorge brauchen.
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Tatsache ist auch, das Grüne und Linke in ihren Anträgen die Situation von Gewerbetreibenden ausblenden, die eine Gewerbeimmobilie selbst erworben haben und monatlich die Kreditraten dafür abzahlen müssen. Ließe man diese Menschen allein, würde schon das zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung von Gewerbetreibenden führen.
Linke und Grüne sind sich aber in einem einig, nämlich darin, dass ein anderswo geschaffenes Problem nun zwischen Mietern und Vermietern gelöst werden soll. Diese Verschiebung auf das falsche Gleis ist letztendlich ein Ablenkungsmanöver; denn verantwortlich dafür, dass kleine und mittlere Unternehmer in diesem Land mit immer weiter einschneidenden Hygieneauflagen und behördlichen Kontrollen drangsaliert werden und zur Belohnung für die Beachtung aller Vorschriften jetzt mit einem Wellenbrecher-Berufsverbot belegt werden, sind einzig und allein die Bundesregierung und die Landesregierungen. Genauer gesagt: Frau Merkel und ihre parteiübergreifenden Erfüllungsgehilfen sind schuld daran.
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Das hat mit den Mietern und Vermietern überhaupt nichts zu tun. Darum ist es nur richtig – wie das ja auch angedacht ist –, dass derjenige das Problem löst, der es verursacht hat; und das ist der Staat.
Daher lautet die erste Forderung: Rücknahme und Beschränkung der Coronaschutzmaßnahmen auf Risikogruppen, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommen kann.
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Die zweite Forderung lautet: staatliche Hilfen für Mieter und Vermieter zur Schadensbegrenzung.
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Was wir aber nicht brauchen, sind staatliche Eingriffe in bestehende Mietverhältnisse, wie Linke und Grüne dies vorschlagen. Das ist der völlig falsche Weg.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Maier.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was das Verhältnis zum Staat betrifft, kann ich nur sagen: Ich bin doch sehr stolz, Mitglied der SPD-Fraktion zu sein, die ein sehr gutes Verhältnis zum Staat hat und vor allen Dingen den Staat auch als verantwortlichen Akteur für soziale Daseinsvorsorge sieht. Und das finde ich nun wirklich super.
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Die SPD-Fraktion macht sich stark für das soziale Mietrecht, für bezahlbaren Wohnraum und selbstverständlich auch für bezahlbare Gewerbeflächen. Vor allen Dingen ist es positiv, dass wir uns für mehr Regulierung auf dem Gewerbemarkt einsetzen.
An dieser Stelle etwas Ungewöhnliches: Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Mehrheit der Kollegen und Kolleginnen der Union, dass sie ihr Mitglied Jan-Marco Luczak mit Blick auf den Schutz von Mietern und Mieterinnen eingefangen haben.
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Dass Ihnen das gelungen ist und dass wir nun doch zu einer von uns vorher schon vereinbarten Regelung hinsichtlich des Umwandlungsverbotes von Miet- in Eigentumswohnungen kommen, dafür danke ich Ihnen herzlich.
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Damit ist im Interesse von Mieterinnen und Mietern für die Zukunft ein ganz wesentlicher Schritt getan. Und als Berlinerin sage ich Ihnen: Diese Regelung trägt auch wesentlich zum Schutz vor Verödung von Innenstädten oder einzelnen Kiezen in unseren Bezirken bei.
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Was mich im Zusammenhang mit dem Thema Gewerbemieten weiterhin umtreibt, ist die Verhöhnung derjenigen in den vielfach als „systemrelevant“ bezeichneten Berufen. Sie wurden beklatscht und werden jetzt ohne Regulierung einfach im Regen stehen gelassen. Das betrifft die Berufe im Gesundheitswesen, das betrifft die Beschäftigten bei der BSR, die vielen Dienstleister, die Start-ups. Das kann nicht sein. Da erwarte ich – von uns allen, insbesondere aber auch von uns als Koalition –, dass wir hier eine Regelung finden, die zum Beispiel den Start-ups ein Wohnen und Arbeiten in den Innenstädten, hier in Berlin und anderswo, ermöglicht.
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Kollege Ullrich, Kollege Müller, ich denke schon, dass die soziale Funktion des Mietrechts auch auf das Gewerbemietrecht zu übertragen ist. Ich denke vor allen Dingen, wir können es nicht einfach der Justiz überlassen, dass Tausende von Einzelgerichtsurteilen darüber gefällt werden, wie denn jetzt dieser § 313 BGB im Kontext mit Vertragsfreiheit auszulegen ist.
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Wir brauchen hier als Koalition zumindest eine pauschale Festlegung der Interpretation und damit der Regulierung, damit wir hier Rechtssicherheit schaffen.
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Heute in der Zeitung steht schon, wie einzelne Rechtsanwälte den Mietern und den Mieterinnen das eine oder das andere raten. Das kann nicht sein. Justiz und Rechtswesen, das ist kein Basar. Das ist unsere Verantwortung, und das gilt auch hier für das Gewerbemietrecht.
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Ansonsten freue ich mich, dass in den sehr breiten und bunten Anträgen zu diesem Tagesordnungspunkt auch vorgeschlagen wird, dass wir gesellschaftliche Bündnisse bilden. Machen Sie mit vor Ort! Seien wir stark im Interesse der Mieter und der Mieterinnen und vor allen Dingen der Gewerbetreibenden und – das freut mich – lebendiger Innenstädte! – Bleiben Sie gesund.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. – Nächster Redner wird sein der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich der Auffassung an, dass für viele Einzelhändler die Mieten als Fixkosten sehr belastend sind, besonders wenn die Umsätze in Coronazeiten deutlich ausbleiben. Was wir aber auch brauchen, sind Strukturreformen, die dem stationären Handel heute und besonders auch nach der Coronakrise helfen.
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Wir Freien Demokraten stimmen den Grünen zu: Auch wir setzen uns für eine Gemeindefinanzreform ein, die die Steuereinnahmen der Kommunen nicht so anfällig für Krisen macht und die Betriebe vor Ort entlastet. Wir wollen die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil der Gemeinden an der Umsatzsteuer ersetzen – zusammen mit einem kommunalen Zuschlag mit eigenem Hebesatzrecht auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer.
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Wir wissen: Die Gewerbesteuer betrifft den Handel besonders. Andere Selbstständige sind dagegen häufig nicht betroffen – ganz zu schweigen vom Onlinehandel.
Meine Damen und Herren, die GWB-Novelle, die Novelle zum Wettbewerbsrecht, die auch wir gefordert haben, steht kurz vor der Verabschiedung.
Bei der Anpassung des Baurechts brauchen wir dringend neue Initiativen, um Handel, Wohnen, Arbeiten und Verkehr zukunftsgerecht zu verbinden und Planung und Umsetzung zu beschleunigen.
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Wir Freien Demokraten wollen aber nicht nur raus aus der Krise. Wir wollen Reformen für eine Agenda 2030, die den Betrieben aus dem Einzelhandel und der Gastronomie neue Chancen in den Innenstädten eröffnet.
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Sie brauchen nachhaltige Entlastung bei Steuern und Abgaben, bei Energiekosten und bei Bürokratismus. Und sie brauchen Flexibilität im Wettbewerb mit dem Onlinehandel – Stichwort: Sonntagsöffnung –; denn hier gibt es keinen fairen Wettbewerb. Gerade am Sonntag machen die Onlinehändler ihre höchsten Umsätze, ihre stärksten Gewinne.
Die Coronazeit mit ihren Abstands- und Hygieneregeln ruft also nach Flexibilität in dieser Frage, besonders für die Zeit nach dem Teil-Lockdown, der dem Handel sehr zusetzt.
Der Einzelhandel hat im Frühjahr dieses Jahres Ware eingekauft, auf der er heute noch sitzt, und die Lager sind voll. Ich begrüße es daher sehr, dass der Wirtschaftsminister Altmaier sich wie wir dazu bekennt, mehr Sonntagsöffnungen zu erlauben.
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So hat er auf dem Innenstadtgipfel des BMWi selbst angeregt, dies zu unterstützen. Hier wollen wir Minister Altmaier beim Wort nehmen. Endlich Sonntagsöffnungen statt Sonntagsreden! Das geht aber nur, wenn wir hierfür die Rechtsgrundlage schaffen, und zwar gerichtsfest.
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Gestern erst hat Verdi wieder Klage gegen die Öffnung der Geschäfte an den Adventssonntagen in NRW eingereicht. Wem nützt das?
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Der Wissenschaftliche Dienst hat uns in einer Ausarbeitung aufgezeigt, wie eine Grundgesetzänderung aussehen könnte. Liebe Union, liebe Grüne, nutzen wir also den Zeitpunkt! Sorgen wir für ein faires Miteinander von Einzelhandel und Onlinehandel, und zwar bald!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Todtenhausen. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Innenstädte sind schon länger in einer Krise; das hat lange vor der Coronapandemie begonnen. Besonders in kleinen Städten greifen schon länger Leerstand und schleichende Verödung um sich. Das führt zu einem Verlust an Attraktivität, Identität und Heimat. Shoppingcenter mit Filialisten auf der grünen Wiese ziehen Kaufkraft aus Innenstädten ab, und die Digitalisierung des stationären Handels steckt noch in den Kinderschuhen. Und ganz wichtig: Wohnen in den Innenstädten ist für Normalverdiener kaum erschwinglich und in vielen Städten längst verschwunden.
Meine Damen und Herren, Innenstädte sind dann besonders attraktiv, wenn es vielfältige Nutzungen und Angebote gibt, kommerzielle und nichtkommerzielle, schulische und nachschulische Angebote, Wohnen, Kultur, Kunst, kleinteiliges Handwerk, inhabergeführten Einzelhandel. Das sind die Innenstädte, die die Leute gerne besuchen, und zwar sowohl Touristen als auch Einwohner.
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Dieser Zielsetzung, meine Damen und Herren, muss jede Förderpolitik und jede Hilfsmaßnahme dienen. Die Bundesregierung hat sich diesem Problem aus unserer Sicht bisher zu wenig angenommen. Ein runder Tisch bringt uns da nicht weiter. Wir brauchen einen echten Krisengipfel oder, Kollege Daldrup, gerne auch einen Zukunftsgipfel.
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Wir fordern einen Städtebau-Notfallfonds, der Umnutzungen und Innenstadtkonzepte unterstützt. Dafür haben wir eine halbe Milliarde Euro im Haushalt beantragt.
Wir wollen die Stadt der kurzen Wege, der guten Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur fördern, stützen und schützen. Paris macht es gerade vor mit dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Es gibt auch die Innenstadtoffensive der hessischen Landesregierung „Ab in die Mitte!“, wo mit Wettbewerben unter Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Akteure anschließend Konzepte umgesetzt und bezuschusst werden.
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Wir brauchen eine Baurechtsanpassung, um Gewerbe- und Kulturerhaltungsgebiete einzuführen. All das findet sich in Ihrem Entwurf des BauGB leider nicht.
Wir brauchen – last, but not least – mehr Grünflächen und Bäume, mehr Aufenthaltsqualität in der Stadt, und wir brauchen eine Verkehrswende in unseren Innenstädten. Unsere Innenstädte bieten dann hohe Lebensqualität, wenn nicht alles vollsteht mit Blech, wenn es Grünflächen gibt, wenn es Bäume gibt,
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wenn es Orte des Verweilens und der Kontemplation gibt. Das sind attraktive Innenstädte. Dort gehen Menschen gerne hin.
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Überall, wo Städte diese Wege eingeschlagen haben, hat der Einzelhandel davon profitiert. Entgegen anderslautenden ängstlichen Prognosen vorher hat er davon immer profitiert. Wer auch profitiert hat, das sind die Bürgerinnen und Bürger. Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam einen Weg gehen, um die Verödung unserer Innenstädte aufzuhalten, und auch Corona zum Anlass nehmen,
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über bisherige Konzepte nachzudenken und Neues zu beginnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Nächster Redner ist der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der heutigen Debatte betrifft die Kommunen, genauer: die Probleme der Innenstädte in den Kommunen mit Blick auf einen Teil ihrer Funktion, was Gewerbe und Gewerbemieten angeht. Dieses Problem in den Innenstädten ist – das ist eben richtig gesagt worden – natürlich älter als die Probleme, die uns die Coronapandemie geschaffen hat. Aber Corona hat diese Probleme verschärft und zum Teil auch deutlich sichtbar gemacht.
Wenn wir über die Frage der Hilfen sprechen, dann, denke ich, können wir konstatieren, dass die Bundesregierung mit ihren umsatzbezogenen Hilfsmaßnahmen genau den richtigen Weg gewählt hat. Er ist relativ unkompliziert, er ist leicht und eindeutig nachvollziehbar, und das ist das Entscheidende für eine schnelle Umsetzung.
Wofür diese Mittel dann aufgewendet werden, ob für Miete oder für andere Kosten wie den Lebensunterhalt, hängt natürlich davon ab, wer sie beantragt und wer sie bekommt, weil die Situationen der einzelnen Betroffenen völlig unterschiedlich sind. Gerade darin liegt der Charme dieser Hilfskonstruktion: dass die Hilfen eben passgenau für diese verschiedenen Situationen zur Verfügung stehen.
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Deswegen brauchen wir keine Sonderregelung hinsichtlich der Gewerbemieten. Den § 313 BGB will ich jetzt nicht noch mal auseinanderklamüsern; der ist hier schon zweimal angesprochen worden.
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– Ja, ist gut. Herr Kollege. – Ich bin sicher – und das zeigen übrigens die Erfahrungen der Vergangenheit –: Entscheidend ist die Frage, wie Mieter und Vermieter miteinander umgehen. Während wir am Anfang der Coronazeit im Frühjahr noch vermutet haben, dass es eine sehr konfliktreiche Auseinandersetzung geben wird, und deswegen dieses Moratorium geschaffen haben, müssen wir nun feststellen, dass die Zahl der Fälle, die streitig waren und Unterstützung gebraucht haben, ob im Gewerbe- oder im privaten Bereich, insgesamt viel, viel geringer gewesen ist, als wir vermutet haben. Das ist auf den gesunden Menschenverstand der Beteiligten zurückzuführen. Wir gehen doch nicht davon aus, dass wir nur Konflikte haben. Natürlich kann es Interessengegensätze geben. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Beteiligten auch bereit sind, Abstriche zu machen und aufeinander zuzugehen.
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Herr Kollege Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Kollege Möring, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade so en passant gesagt, Sie möchten nicht auf die konkrete Rechtslage eingehen. Ich finde diese aber ganz entscheidend, weil wir ja die Situation haben, dass einige Gewerbemieter auf Grundlage der bestehenden Gesetzeslage schon versucht haben, die Miete zu mindern oder auf Wegfall der Geschäftsgrundlage zu klagen. Das Ergebnis ist: Alle mir bekannten Urteile in dieser Sache sind zulasten der klagenden Mieterinnen und Mieter ausgegangen. Vielleicht sind Ihnen ja andere Fälle bekannt. Wenn ja, würde es mich sehr interessieren, wenn Sie die hier vortragen könnten.
Wenn dem aber so ist, dass die entsprechende Rechtsgrundlage nicht ausreichend ist, dann sagen wir hier doch faktisch, dass wir die Mieterinnen und Mieter mit ihren Problemen alleinlassen. Das heißt, sie müssen immer wieder klagen und werden immer wieder verlieren, so wie bisher die Rechtsprechung ist. Ich finde, dass wir in dieser Pandemiesituation, in der wir uns befinden und in der tatsächlich staatliche Maßnahmen für Gewerbetreibende mit Problemen geschaffen wurden, unserer Verantwortung nicht gerecht werden. Deswegen brauchen wir eine Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch, dass die Miete entsprechend gemindert werden kann oder gegebenenfalls eindeutig festgelegt wird, um wie viel die Miete gesenkt werden kann. Da würde mich Ihre Einschätzung der Rechtslage und der bisherigen Rechtsprechung tatsächlich sehr, sehr interessieren.
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Als Nichtjurist werde ich mich hüten, hier Gerichtsschelte zu betreiben. Ich denke mal, das ist ein Thema, das Sie im Rechtsausschuss diskutieren sollten, meinetwegen auch in Form von Anhörungen. Nur, wenn Sie sagen, es gäbe schon soundso viele Fälle, dann kann es sich ja höchstens um erstinstanzliche Urteile handeln und noch nicht um grundsätzliche Auseinandersetzungen. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Ich habe ja gesagt, dass der § 313 BGB vielleicht die Lösung für einen Teil des Problems, aber nicht für das zentrale Problem ist. Denn die Erfahrung zeigt, dass in den allermeisten Fällen andere Möglichkeiten greifen und funktionieren. Auch die Verbände haben sich in diese Richtung geäußert, auch wenn sie natürlich gerne noch andere Möglichkeiten hätten.
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Ich würde gerne in meinen Ausführungen fortfahren. Der Kollege Daldrup hat vorhin darauf hingewiesen, dass wir uns noch mal darüber unterhalten müssen, ob das Instrument der Stundung oder Ähnliches noch mal aufgewärmt werden soll oder ob wir mit der Frage der Umsatzerstattungsanteile das Problem schon gelöst haben. Ich denke, das kann man in Ruhe machen, wenn wir sehen, wie sich das Ganze entwickelt. Wir sind ja eigentlich nicht schlecht darin, schnell nachzusteuern, wenn es notwendig ist.
Auch auf die anderen Punkte, die Sie genannt haben, möchte ich noch mal zurückkommen. Denn die Innenstadtprobleme, die wir haben, haben ganz entscheidend mit dem Strukturwandel im Einzelhandel zu tun. Ich bin auch der Auffassung, dass die Lösung der Probleme im Einzelhandel der Kern der Lösung der Innenstadtproblematik ist.
Ich stelle mir vor, jemand wohnt in einem peripheren Stadtviertel. Warum fährt er in die Innenstadt? Er fährt nicht in die Innenstadt, weil dort die Grünen – jetzt nehme ich mal ein etwas überspitztes Beispiel – ein Repaircafé eingerichtet haben und er seine Kaffeemaschine dorthin bringen kann, um sie reparieren zu lassen; dann setzt er sich in einen Park und wartet so lange, bis sie fertig ist, falls er nicht nach Hause fahren will.
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Ich will also sagen: Die Funktion, die die Innenstadt erfüllen muss, muss der Zentralität entsprechen, die sie hat. Darin liegt doch das Problem: dass wir durch die Zentralität der Innenstadt eine Reihe von Funktionen dort gebündelt haben. Der Einzelhandel muss sich mit Konzepten auseinandersetzen, wir er dem Onlinehandel Paroli bieten kann; darauf können wir als Gesetzgeber nicht sehr viel Einfluss nehmen. Dafür braucht man Kreativität; die ist bei einigen vorhanden, und es entwickelt sich ja auch etwas.
Wenn dann bemängelt wird, es wäre im Bereich der Digitalisierung zu wenig getan worden, sage ich: 822 Millionen Euro setzen wir in die Smart-City-Projekte ein, die wir in drei Chargen im Wettbewerb verteilen – 822 Millionen Euro! Aber wenn die Grünen in ihrem Antrag fordern: „500 Millionen hierfür, 500 Millionen dafür; 290 Millionen hierfür, 290 Millionen dafür; hier noch mal was draufgesattelt, da noch mal was draufgesattelt“, dann sage ich: Es fehlt mir eine vernünftige Überlegung zur Priorisierung und ein Blick für die Zusammenhänge, was geschehen muss.
Deswegen will ich gar nicht sagen: „Wir brauchen einen Zukunftsgipfel“ oder: „Wir brauchen einen Krisengipfel“. Der runde Tisch, der seit dem Sommer im Innenministerium eingerichtet ist, ist im Prinzip genau das richtige Format. Wir brauchen die Akteure an einem Platz, damit sie im gemeinsamen Gespräch, in der gemeinsamen Diskussion mit unterschiedlichem Verständnis und unterschiedlichen Interessen ihre Potenziale entfalten und Probleme streitig lösen können, um auf diese Weise Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Das ist der richtige Ansatz, also: Kreativität, gemeinsames Gespräch, Ausgleich der Interessen.
Letztes Wort. Der Vermieter eines Kaufhauses – Galeria Kaufhof in Köln – kommt dem Mieter entgegen, um die Schließung zu vermeiden. Bei all den Kaufhausdiskussionen, die wir hatten, ist die Lösung gewesen, dass die Vermieter Zugeständnisse gemacht haben – nicht nur die Vermieter, das Personal auch. Ich denke, das ist ein Hinweis darauf, dass den Beteiligten schon klar ist, dass sie in Alternativen denken müssen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wenn ein Mieter nicht kann, welche Chance hat der Vermieter auf einen anderen Mieter? Und da gibt es schon Interessen, die man gegenseitig ausgleichen kann.
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Vielen Dank, Herr Kollege Möring. – Nächster Redner ist der Kollege Klaus Mindrup, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist ja schon angesprochen worden: Im Sommer dieses Jahres hätte die SPD-Fraktion und die gesamte SPD, auch die Mitglieder des Bundeskabinetts, das Mietenmoratorium gerne verlängert. Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich aus dem „Tagesspiegel“ vom 30. Juni dieses Jahres zitieren:
„Eine Verlängerung der coronabedingten Sonderregelungen wäre ein völlig verfehltes Signal“, sagte Jan-Marco Luczak, der rechts- und verbraucherpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Tagesspiegel. „Wir setzen gerade alles daran, zur Normalität zurückzukehren und das Wirtschaftsleben ans Laufen zu bringen.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte es mir gerne gewünscht, dass wir wieder Normalität haben. Ich hätte es mir gerne gewünscht, dass das Virus überwunden ist. Aber es war schon damals klar, dass das nicht der Fall sein wird. Die Prämisse der Entscheidung der Bundesregierung damals war falsch; also ist die Entscheidung auch falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Pandemie ist nicht überwunden, und ich bin wirklich verwundert über das, was die AfD hier in den Reden gesagt hat: dass wir überzogene Maßnahmen hätten. Wir haben in Deutschland immer noch einen Lockdown light. Schauen Sie sich die Infektionszahlen in unseren Nachbarstaaten an. Schauen Sie sich vor allem die Infektionszahlen in den Ländern an, die auf Mund-Nase-Schutz verzichtet haben; da explodieren die Zahlen bis hin zum Zusammenbruch des Gesundheitswesens. Ich möchte in Deutschland keine Triage erleben; ich möchte sie nie erleben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das Tragen von Mund-Nase-Schutz ist also eine einfache Maßnahme, die Menschenleben retten kann. Schauen Sie sich Japan an, um zu verstehen, wie weit man in dieser Frage mit Disziplin kommen kann. Es liegt an uns allen, und jeder, der sich nicht so verhält, gefährdet das Leben anderer Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Der Kollege Daldrup hat aber auch – an dieser Stelle komme ich wieder zurück zum Hauptthema – angesprochen, dass die Fördermittel nicht richtig abfließen; das ist eine Schlüsselfrage in dieser Pandemie. Die Pandemie wird sich nicht unserer Bürokratie anpassen. Wir müssen in vielen Punkten – das Bundeswirtschaftsministerium war ja adressiert worden – schneller und besser werden, damit die Hilfen bei den Betroffenen auch ankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Zahlen, die ich von der DEHOGA zu Mahnungen und Kündigungen im Bereich Gastronomie und Hotellerie habe, sind wirklich dramatisch. Es ist gut – das ist ja auch schon positiv angesprochen worden –, dass wir in der Novemberhilfe einen anderen Weg gehen. Da möchte ich mich ausdrücklich bei Olaf Scholz bedanken. Es ist richtig, dass wir dort umsatzbezogen handeln. Aber bei den anderen Hilfen ist das eben noch nicht passiert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum, dass wir weiter lebenswerte Innenstädte und Dörfer haben.
Jetzt kommen wir zu der Frage des § 313 BGB. Ich bin kein Jurist; aber ich habe Lebenspraxis. Ich bin Aufsichtsrat in einer Wohnungsbaugenossenschaft. Wir konnten entscheiden, dass unsere Mieterinnen und Mieter entsprechend ihrer Situation Mieten nicht zahlen mussten, dass Mieten gestundet, dass sie abgesenkt worden sind. Es gibt auch viele mittelständische Unternehmer, die das machen.
Wo wir ein Problem haben, ist bei den Fonds – das ist hier auch angesprochen worden –, weil die Fondsmanager keine Rechtsgrundlage haben und befürchten, dass sie selber in die Haftung gehen; sie sind in einer Treuhandfunktion. Deswegen ist es richtig, dass man den § 313 noch mal diskutiert und den Fondsmanagern sagt: Ihr müsst euch anders verhalten.
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Es ist sogar im Interesse ihrer eigenen Geldanleger, dass zukünftig die vielen Betriebe, die sich bei ihnen einmieten, eben nicht insolvent gehen.
Das betrifft auch die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es wird jetzt so getan, als gebe es für diese Gruppe und auch für die Vermieterinnen und Vermieter keine Hilfen. Es gibt die Tilgungsaussetzung; die können sie bei den Banken beantragen. Ich habe viele Unternehmen bei mir im Wahlkreis, die das machen. Das ist auch sinnvoll; denn wir sparen damit öffentliches Geld. Wir haben nicht unendlich viel öffentliches Geld. Aber Tilgungsaussetzung ist etwas Vernünftiges; das kann man in Anspruch nehmen. Man muss es natürlich so hinkriegen, dass das Rating bei den Banken wieder angepasst wird. Aber es ist möglich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dieses einseitige Abladen beim Mittelstand, bei den Unternehmerinnen und Unternehmern, bei den Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihrem gesamten Vermögen haften, das ist einfach falsch,
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und das bringt unsere Innenstädte und unsere Dörfer in ganz schwierige Situationen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hagen Reinhold, FDP-Fraktion?
Ja, bitte.
Herr Präsident, danke, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. – Kollege Mindrup, ich verlängere jetzt mal ein bisschen Ihre Redezeit.
Danke.
Ich gebe Ihnen noch mal die Möglichkeit – Sie haben gerade Herrn Scholz und die Neuausrichtung der Förderungen gelobt –, mir vielleicht ein Problem zu erläutern, das ich bis jetzt als ungeklärt ansehe.
Wir reden jetzt viel über die Gewerbemieten, und das ist auch richtig und wichtig. Wir reden auch viel über die, die, sagen wir mal, schnell verderbliche Waren einkaufen und vielleicht auch einen schnellen Umsatz haben. Mich treibt aber eigentlich schon seit Anfang März um, dass es viele Einzelhändler und Gewerbetreibende gibt, die ihre Waren Anfang des Jahres ordern, die Saisonwaren für einen Zeitraum bis zum Ende des Jahres ordern, auf Millionen Euro Warenbestand sitzen bleiben und jetzt wieder betroffen sind.
Bei mir im Wahlkreis – ich komme aus einer touristisch geprägten Region – sind die Hotels geschlossen. Es sind natürlich auch gar keine Gäste da, die in irgendeinem Einzelhandelsgeschäft etwas kaufen können. Denen nützt der Umsatzausgleich herzlich wenig, und die stehen zurzeit ratlos da. Da sind auch nicht die Mieten das alles Entscheidende, sondern die vollen Lager mit Waren, die sie nicht loswerden. Dies ist eine völlig ungeklärte Frage, die bis jetzt mehrfach angesprochen wurde.
Sie haben gerade gelobt, dass sich da bei Olaf Scholz was ändert. Welche Antwort gebe ich denn den Unternehmen, die mich hilfesuchend anrufen und sagen: „Da muss was passieren!“? Was sage ich denen eigentlich?
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Werter Kollege, Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Pandemie den Einzelhandel ganz stark trifft. Ich glaube, es ist wirklich notwendig, dass wir im Sinne des Zukunftsgipfels, der vom Kollegen Daldrup angesprochen worden ist, uns auch mit dem Handel zusammensetzen. Ich tue das in meinem Wahlkreis. Ich stehe in engem Austausch mit dem Geschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, um dort zu helfen. Wir kommen auch nicht daran vorbei, dort Zuschüsse zu zahlen; denn der Handel ist aus meiner Sicht vor allen Dingen dort, wo er sozusagen innenstadtprägend ist, auch systemrelevant. Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben ein richtiges Thema adressiert. Wir sollten das vertiefen. Dafür haben wir ja auch die Ausschussdebatte.
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Jetzt habe ich noch elf Sekunden. In diesen elf Sekunden möchte ich einfach damit enden, dass ich uns allen in dieser Pandemiezeit Gesundheit wünsche und gute Entscheidungen im Interesse der Menschen in diesem Lande.
Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war eine interessante Debatte, weil uns alle hier nämlich etwas eint: dass wir unser Land in dieser Pandemie nicht alleinlassen wollen; weil uns nämlich alle eint, dass wir wollen, dass unsere Innenstädte belebt bleiben, den Herausforderungen gewachsen sind. Und uns eint auch alle, dass wir dort, wo es notwendig sein sollte, nachschärfen wollen.
Es wurde jetzt schon viel über die Überbrückungshilfen I und II gesprochen. Die Idee der Überbrückungshilfe war natürlich auch, dass wir dort das Thema der Mieten und der Gewerbemieten mitverankern. Deswegen ist es natürlich mitgedacht, dass bei der Beantragung der Überbrückungshilfen auch die Gewerbemiete, die eben im Vorjahr noch leichter zu stemmen war als jetzt in der Pandemiezeit, Berücksichtigung findet. Deswegen ist sie auch in den Überbrückungshilfen inkludiert.
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Wir haben jetzt in der Novemberhilfe organisiert, dass das Ganze ein Stück weit unbürokratischer geht. Es gibt viele Stimmen in der Unionsfraktion, die eben wollen, dass zukünftig auch der Lebensunterhalt der Unternehmer Berücksichtigung findet. Ich würde wirklich auch die Kollegen der SPD bitten, dass wir da ein Stück weiterkommen, weil es nicht sein kann, dass Unternehmer – egal welche – und auch Künstler und Gastronomen zum Jobcenter gehen müssen, um beispielsweise die Grundsicherung zu beantragen. Vielmehr muss auch ihr Bedarf in den entsprechenden Überbrückungshilfen Berücksichtigung finden.
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Es ist schon der § 313 Bürgerliches Gesetzbuch angesprochen worden. Auch da haben wir Diskussionen. Natürlich, wir wollen das Beste für unser Land. Deswegen werden wir uns die Fälle jedenfalls noch mal angucken. Natürlich sind wir dabei gesprächsbereit. Das glaube ich fest, zumindest in Bezug auf meine Fraktion.
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Wenn wir weitergehen, kommen wir zu einem Thema, das natürlich auch in diesem Antragspaket inkludiert ist: zu den Innenstädten. Es wurde schon angesprochen: Das Thema der Innenstädte war auch vorher schon ein großes Problem. Die Innenstädte sind massiv unter Druck. Ein Einzelhändler hat keine Chance gegen Amazon. Deswegen bin ich auch der festen Überzeugung, dass es eben nicht sein kann, dass es weiterhin Versandhändler aus dem Ausland gibt, die bei uns keine Steuern oder zu wenig Steuern zahlen.
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Deswegen müssen wir da entsprechend rangehen. Ich möchte aber auch ganz klar sagen: Es geht mir nicht um Steuererhöhungen, sondern es geht mir einfach darum, dass es nicht sein kann, dass Versandhändler zu großen Teilen von dem Umsatz, den sie hier erwirtschaften, nichts weitergeben.
Um den Einzelhandel insgesamt in den Innenstädten zu stärken, nützen aber meiner Meinung nach keine Maßnahmen wie 500-Euro-Konsumgutscheine – das ist nicht nachhaltig. Vielmehr, wenn ich in den Innenstädten etwas tun möchte, dann muss ich ins Quartier gehen, dann muss ich durchmischen, dann muss ich tatsächlich wortwörtlich auch Leben in die Innenstadt bringen.
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Das heißt, ich muss das Quartier umgestalten. Die Leipzig-Charta – über die diskutieren wir ja auch hier zeitnah – gibt darauf schon Antworten, wie die Innenstadt der Zukunft aussehen kann. Auch im Innenministerium gibt es bereits – man kann es natürlich immer anders nennen, man kann es „Zukunftsrat“ nennen oder sonst wie –, angeführt von unserem Bundesinnenminister Horst Seehofer, einen Beirat, der sich genau mit diesem Thema beschäftigt und passgenaue Antworten geben muss.
Aber entscheidend ist natürlich Strukturpolitik, nicht irgendwelche Konsumgutscheine. Es ist Strukturpolitik in ihrer reinsten Form. Ich schaue in meine Heimat im ländlichen Raum. Man kann auch Innenstädte nicht miteinander vergleichen, weil sie sehr unterschiedlich sind. Im ländlichen Raum ist zum Beispiel eine Antwort, dass wir dort in eine Innenstadt, auch wenn dort natürlich noch Luft nach oben ist, was Belebung angeht, Hochschulen verlagern, dass wir dort faktisch Leben schaffen, indem wir Außenstellen von Fachhochschulen einrichten. Diese Einrichtungen sind dann nicht irgendwo am Stadtrand angesiedelt, sondern die sind mitten in der Innenstadt. Ein Campus im Landkreis Kronach in Oberfranken liegt mitten in der Innenstadt. So organisieren wir, dass wir auch dort zukünftig wieder Leben haben. Das ist Strukturpolitik in der reinsten Form.
Bei der Städtebauförderung haben Sie viele Themen angesprochen. Etwas, dem ich mich am ehesten noch nähern kann, ist das Thema „Grün in der Stadt“. Sie nennen das so. „Grün in der Stadt“ bedeutet für einen Stadtbaurat in Berlin, dass er grüne Punkte auf den Boden malt, um den Autoverkehr rauszuhalten. Aber für mich ist vielleicht ein anderer Begriff etwas griffiger, nämlich „Natur in der Stadt“. Das wünsche ich mir. Ich glaube, da müssen wir auch noch mal bei den Programmen nachschärfen. Ich weiß, dass mich Marie-Luise Dött und viele andere darin unterstützen, mehr Natur in die Stadt zu bekommen.
In diesem Sinne gibt es weiterhin mit Sicherheit ganz, ganz spannende Diskussionen, wo wir und wie wir unsere Innenstädte zukunftsfest machen können. Auf diese Beratungen freue ich mich.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Zeulner. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das mit dem Umgruppieren und dem Reagieren auf den Aufruf als Redner ganz am Anfang einer Debatte funktioniert am Ende dieser Sitzungswoche wohl etwas langsamer, insbesondere deshalb, weil wir wahrscheinlich alle miteinander, die wir heute da sind, viele Nächte schon damit zugebracht haben – nicht wir in Deutschland allein, sondern Menschen auf der ganzen Welt –, das Ergebnis der Wahl des amerikanischen Präsidenten zu erfahren, damit wir wissen, wie es sicherheitspolitisch und außenpolitisch in den nächsten Jahren vorangeht.
Ich wollte beginnen mit den Worten: Die Uhr läuft. Die Uhr läuft zum einen für die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Uhr läuft zum anderen – sie ist fast abgelaufen – für den Vertrag über den Offenen Himmel, einen Vertrag, in dem sich 34 Nationen aus Europa und Nordamerika verbunden und verpflichtet haben, gemeinsam Verifikation zu betreiben, gemeinsam über das Vertragsgebiet zu fliegen und gemeinsam militärische Aktivitäten zu beobachten. Man könnte sagen: Das ist ein einfaches Vertragswerk; das macht man ganz einfach. – Aber es war damals und ist auch heute etwas ganz Besonderes, einen Vertrag zu haben, in dessen Rahmen sich Partner, die nicht immer Freunde und zum Teil auch keine Bündnispartner sind, gemeinsam für Sicherheit, Abrüstung und Verifikation einsetzen. Es ist nicht selbstverständlich, werte Kolleginnen und Kollegen, dass Soldatinnen und Soldaten aus unterschiedlichen Armeen, mit unterschiedlichen historischen Hintergründen und mit unterschiedlichen militärischen Interessen gemeinsam in einem Flugzeug sitzen, gemeinsam das Vertragsgebiet überfliegen und gemeinsam Ergebnisse austauschen und verifizieren.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Besonderheiten dieses Vertrages sind genau das Zusammenwirken der Soldatinnen und Soldaten in den Flugzeugen, der gemeinsame Austausch und die Vertrauensbildung, die dort stattfindet. Ich will in Abwandlung der Worte eines Bundestagspräsidenten, soweit mir das gestattet ist, sagen: Menschen, die das gleiche Geld haben, schießen nicht aufeinander. Menschen, die miteinander in einem Flugzeug die gleiche Arbeit verrichten und sich kennen, werden auch nicht aufeinander schießen. – Das ist der große Erfolg des Vertrags über den Offenen Himmel: die Unberechenbarkeit, die Kriegsgefahr und die Gegnerschaft zu überwinden und in Berechenbarkeit münden zu lassen. Eine großartige Idee, die uns allen in Europa über viele Jahre Frieden und Sicherheit beschert und vor allen Dingen die Tür für Rüstungskontrollverträge geöffnet hat!
Vor diesem Hintergrund haben wir in Deutschland und in Europa mit besonderer Sorge, ja mit Erschrecken zur Kenntnis genommen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Trump den Verstoß der Russischen Föderation gegen den Vertrag über den Offenen Himmel – ich sage das ganz bewusst – dazu genutzt haben, aus diesem Vertrag auszusteigen. Die Russen haben zwar den Vertrag verletzt, sind aber noch Vertragspartner. Solange ich einen Vertragspartner habe, kann ich auf ihn einwirken, kann ich ihn auf seine vertraglichen Pflichten hinweisen, kann ich ihn zur Einhaltung seiner vertraglichen Pflichten anhalten und den Gesprächsfaden weiterspinnen, was bei einer Kündigung nicht der Fall ist.
Der 22. November des Jahres 2020, an dem die Kündigung und der Austritt der Vereinigen Staaten von Amerika aus dem Vertrag über den Offenen Himmel zum Tragen kommen, ist ein wichtiges Datum. Ich bin der Auffassung, dass es kaum noch ein Zurück gibt, wenn das zum Tragen kommt; denn Verifikation ohne die Vereinigten Staaten von Amerika als den größten transatlantischen Partner wird schwer möglich sein. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung hat auf einmalige Art und Weise ein gemeinsames Schreiben aller Fraktionen an den Kongress und an den Auswärtigen Ausschuss in den Vereinigten Staaten geschickt mit der dringenden Bitte, die Entscheidung parlamentarisch zu überdenken.
Wir hier im Deutschen Bundestag haben ebenfalls parlamentarische Entscheidungen zu treffen.
Erstens. Wir sollten versuchen, die Vereinigten Staaten von Amerika vom Verbleib zu überzeugen und geeignete Angebote machen, die auch Amerika etwas bringen. Es geht nicht darum, dass man gegebenenfalls über Satelliten bessere Bilder haben kann. Aber es gibt nichts Besseres als den Austausch der Soldatinnen und Soldaten im gleichen Flugzeug und an den gleichen Geräten.
Zweitens. Wir müssen die Russische Föderation davon überzeugen, dass Open Skies in jedem Fall Sicherheit und Stabilität in Europa bringt, und zwar allein durch das Zusammenwirken.
Drittens. Wenn wir die Vereinigten Staaten von Amerika nicht halten können, müssen wir dafür werben, dass dann wenigstens weitere Staaten mitarbeiten. Ich denke dabei auch an China. Gemäß unserem gemeinsamen Koalitionsantrag ist es notwendig, China das Angebot zu machen, in dieses Vertragswerk einzusteigen. Wir Deutsche sind Exportweltmeister. Das könnten die Chinesen durch diesen wunderbaren Vertag – zusammen mit uns – ebenfalls sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die friedenssichernde Idee von Open Skies sollte bestehen bleiben, sollte über Europa hinausgehen und sollte vor allen Dingen eine Selbstverständlichkeit in NATO-Kanälen, in Sicherheitskanälen und in allen Gesprächen sein. Da auf das Schreiben des Unterausschusses Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung hin der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in den USA, der Abgeordnete Eliot Engel, betont hat, dass in den USA nach wie vor viel Unterstützung für diesen Vertrag bei den Parlamentarierinnen und Parlamentariern vorhanden ist und überhaupt gemeinsame Anstrengungen für Frieden und Sicherheit im Mittelpunkt stehen, denke ich, dass diese Unterstützung nach Kräften gefördert werden muss. Es wird aber nicht so gut funktionieren, wenn wir den Amerikanern – quasi wie aus allen Trompeten – den Marsch blasen und sagen, was sie falsch machen. Vielmehr sollten wir sie inständig dazu bewegen, wieder zum Vertragswerk zurückzukehren.
All dies berücksichtigt der Antrag der Koalitionsfraktionen und geht damit über die Anträge der Opposition weit hinaus. – Ich sehe, dass meine Redezeit zu Ende geht, Herr Präsident.
Ich komme zum Ende. Ich hoffe, dass der Wahlkrimi in den Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis führt, dass wir am Ende Open Skies erhalten und damit den Frieden in und für Europa sichern können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Dr. Brunner. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies wird offensichtlich eine Debatte, in der alle Fraktionen nationale Interessen über Parteipolitik stellen werden; denn wir sind uns doch alle einig, dass der Vertrag über den Offenen Himmel bewahrt werden muss, und hatten genau dies ja auch im Mai in einem gemeinsamen Brief an das amerikanische Repräsentantenhaus bekräftigt. Die von den Amerikanern vorgebrachten Einwände rechtfertigen auch nicht annähernd die Aufkündigung des Vertrages. Die Probleme können behoben werden. Lassen Sie mich das an dem in Ihren Anträgen genannten Beispiel von Königsberg illustrieren.
Grund für die russische Einschränkung der Flugstrecken von Beobachtungsflügen über Königsberg auf 500 Kilometer war eine zwar vertragskonforme, aber doch exzessive Beobachtung des Gebiets durch Polen im Jahr 2014. Beobachtungsflüge über Königsberg bleiben aber auch weiterhin möglich. Da es auch über Dänemark und Deutschland Streckenbegrenzungen gibt, könnten wir den Russen entgegenkommen und die auch für Königsberg vertraglich festschreiben.
Bevor wir uns aber in den Details des Vertragswerkes verlieren, sollten wir uns die Frage stellen, warum wir diesen Vertrag überhaupt brauchen. Die Antworten sind: Es ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Rüstungskontrollarchitektur, die in den letzten Jahren ohnehin schwer beschädigt worden ist, und der Vertrag hilft uns dabei, Vertrauen zwischen den Völkern Europas zu bilden.
Schauen wir uns dabei mal die Praxis der letzten Jahre an. Fast alle Beobachtungsflüge fanden über Europa statt, nur wenige über den USA. Warum müssen wir Europäer uns denn gegenseitig so aufmerksam beobachten und genau nachverfolgen, ob es Truppenbewegungen in Deutschland gibt und wo die Russen ihre Raketen stationieren? Doch letztlich nur deshalb, weil die künstliche Trennung des europäischen Kontinents immer noch fortbesteht. Schützengräben und Stacheldraht in der Ostukraine sind heute Zeichen dieser Trennung, die wir längst überwunden glaubten. Ich darf noch einmal in Erinnerung rufen: Michail Gorbatschow sprach beim Ende des Kalten Krieges vom „gemeinsamen Haus Europa“. François Mitterrand sah mit dem Ende des Kalten Krieges für Europa die Möglichkeit, zu seiner eigenen Geschichte und seiner eigenen Geografie zurückzukehren, so wie man zu sich nach Hause zurückkehrt.
Wir haben uns 1990 in der Charta von Paris gemeinsam das Ziel gesetzt, ein Europa zu schaffen, dass geeint, frei und sicher ist. Nach drei verlorenen Dekaden müssen wir feststellen, dass wir heute leider weit davon entfernt sind, weiter als noch beim Fall der Mauer.
Erinnern Sie sich noch an die positive Grundstimmung dieser Zeit? Lassen Sie uns doch bitte überlegen, wie wir unseren gemeinsamen europäischen Raum so gestalten können, dass Verträge wie der über den Offenen Himmel bald unnötig werden. Können wir zum Beispiel in der OSZE nicht darauf hinwirken, einen Vertrag über die Sicherheit in Europa mit Russland auszuarbeiten?
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Sollten wir nicht Elemente der 2003 auf dem EU-Russland-Gipfel in Sankt Petersburg entwickelten Idee der vier gemeinsamen Räume mit Russland aufgreifen, die neben Wirtschaft, Forschung, Kultur und Bildung auch eine Kooperation im Bereich der äußeren Sicherheit vorsah? Können wir nicht eine jährliche Debatte zur sicherheitspolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, um Konzepte für den europäischen Raum zu entwickeln?
Meine Damen und Herren, es besteht ein starker und weiter wachsender Bedarf an einer globalen Sicherheitsarchitektur für das 21. Jahrhundert. Wir sollten deshalb gemeinsam mit anderen Staaten darauf hinwirken, einen Prozess anzustoßen, um die gesamte Architektur der globalen Sicherheit zu erneuern und Sicherheit für alle Staaten zu gewährleisten, nicht nur für die NATO-Staaten und die Nuklearmächte. Ich habe die Hoffnung, dass wir mit der heutigen konstruktiven Debatte einen kleinen, aber wichtigen Schritt in die richtige Richtung gehen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hartwig. – Als nächsten Redner rufe ich auf den Kollegen Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag des Bundestages in Bezug auf Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen, aber kein Tag für Rapallo- und Königsberg-Romantik, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht um nüchterne Fragen der Rüstungskontrolle und der Verifikation. Die Große Koalition und wir als Union haben bereits im Jahr 2013 maßgeblich dazu beigetragen, dass wir guten Gewissens sagen können: Der Offene Himmel hat eine Zukunft. Im Jahr 2013 haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, ein neues Open-Skies-Flugzeug zu beschaffen, das tatsächlich im nächsten Jahr in Betrieb genommen wird. Das ist deshalb eine Besonderheit, weil unser allererstes Flugzeug dieser Art 1997 bei einer fürchterlichen Flugkatastrophe vor Südafrika abgestürzt ist, mit fatalen Folgen für viele Familien.
Wenn wir heute bei der Verteidigung des Offenen Himmels und dieses Rüstungskontrollwerks glaubwürdig sein wollen, bedeutet das auch, dass wir uns hier mit modernsten technischen Mitteln einbringen müssen. Das leistet dieses Flugzeug, und das hat diese Große Koalition mit Unterstützung des ganzen Hauses geleistet. Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum ist der Vertrag über den Offenen Himmel so wichtig? Der Kollege Brunner hat es angesprochen: Er ermöglicht auch kleineren Staaten die Teilhabe an der Rüstungskontrolle und den vertrauensbildenden Maßnahmen, weil sie sich allein eben keine satellitengestützte Aufklärung leisten können. Und wenn russische Offiziere, amerikanische Piloten und baltische Offiziere gemeinsam Seite an Seite über Sibirien oder über Portugal fliegen, ist das etwas ganz anderes, als wenn man im Satellitenzentrum steht und versucht, Satellitenbilder auszuwerten; denn diese Daten werden gemeinsam erhoben, gemeinsam kontrolliert, gemeinsam ausgewertet. Das ist das Gute.
Noch ein anderer Gedanke – Kollege Brunner hat ihn schon angesprochen –: Der Ausstieg der Amerikaner ist durch nichts gerechtfertigt. Viele amerikanische Kollegen im Kongress und im Senat sind sich bewusst, dass dieser Vertrag, wenn sie aussteigen, den Amerikanern schadet. Gerade die kleineren Staaten haben sich auf amerikanische Fähigkeiten gestützt. Es waren die Amerikaner, die dreimal mehr Überflüge über Russland geleistet haben als Russen über Europa oder den USA. Auch das gehört zur Wirklichkeit dazu. Von den 1 800 Flügen, die es bisher gab, sind 12 Prozent mit deutscher Beteiligung erfolgt. Wir wollen das auch weiterhin leisten und bringen uns jetzt aktiv mit eigenen Fähigkeiten ein.
Wenn wir aber den Vertrag erhalten wollen, müssen wir drei, vier Dinge einordnen:
Erstens. Dieser Punkt ist an Russland gerichtet: Wir brauchen Überflugrechte über Kaliningrad, und zwar uneingeschränkt. Hier muss Russland einlenken.
Zweitens. Wir brauchen den Zugang zur Grenze zwischen Russland und Georgien. Teile Georgiens sind von russischen Truppen besetzt, aber Russland erlaubt keine Überflüge. Auch hier muss sich Russland bewegen.
Drittens. Wir sollten den Amerikanern die Tür offen halten für eine Rückkehr in den Vertrag. Es muss den USA aber auch klar sein: Aus dem Vertrag draußen heißt: keinen Zugang mehr zu den Daten. Ich bin sehr froh, dass sich unsere drei Anträge – von der Koalition, von den Grünen und von den Linken –, die heute hier beraten werden, nur in Nuancen unterscheiden. Unser Koalitionsantrag ist der weitergehende Antrag, aber wir sind in einer wirklich guten Einmütigkeit.
Viertens. Wenn wir zukunftsfähig vertrauensbildende Maßnahmen leisten und Rüstungskontrolle ermöglichen wollen, dann sollten wir den Vertrag auch öffnen, unabhängig davon, ob die USA wieder eintritt oder nicht. Ich bin zuversichtlich, dass eine Regierung Biden ihn wieder aufleben lassen wird. Aber wir sollten ihn auch für Staaten des ostpazifischen Raums und nicht nur für China öffnen. So können wir dann auch die Rüstungskontrolle und vertrauensbildenden Maßnahmen weltweit besser leisten, als es heute der Fall ist. Aber das Signal, das heute von dieser Debatte ausgeht, ist ein ermutigendes.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marcus Faber, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor drei Tagen haben die USA gewählt. Der noch amtierende Präsident Trump hat in den letzten vier Jahren Spuren hinterlassen – nicht nur im eigenen Land. Er hat internationale Rüstungskontrollverträge aufgekündigt: den INF-Vertrag mit Russland, JCPoA, das Nuklearabkommen mit dem Iran, und eben auch Open Skies – alles Verträge, die auch für die Sicherheit Europas zentral sind.
Im Mai hat Trump den Austritt aus Open Skies erklärt. Aus Sicht meiner Fraktion, aus Sicht der Freien Demokraten, ist das ein falsches Signal.
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Trump reißt damit eine zentrale Säule der internationalen Rüstungskontrolle ein. Der Open-Skies-Vertrag erlaubt es den Parteien, fremden Luftraum zu überfliegen, um militärische Aktivitäten zu überwachen. Wenn Russland spontan eine bereits geplante Flugroute ändert, ist dies schlicht vertragswidrig. Kritik an dem Vertragspartner ist deshalb berechtigt, um nur diesen einen Punkt zu nennen. Aber ist das ausreichend, um den Vertrag zu verlassen? Ich meine, nein. Es verdeutlicht nur die Probleme, die wir gerade in der Rüstungskontrolle haben. In einer Zeit von aufkeimenden Konflikten wäre gerade jetzt eine funktionierende Rüstungskontrolle wichtig.
Deshalb möchte ich klarstellen: Wir Freie Demokraten verurteilen den Ausstieg der USA aus den genannten Verträgen. Die Konsequenz muss aber sein, alles daranzusetzen, dass der Open-Skies-Vertrag Bestand hat. Dafür setzen wir uns ein.
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Ja, auch wir halten es nicht für hinnehmbar, dass Russland das Abkommen nicht einhält. Auch die US-Forderung nach einem neuen Abkommen, das China beinhaltet, ist absolut richtig und nachvollziehbar. Jedoch muss ein solches Abkommen eben auch verhandelt werden. Völkerrechtlich bindende Verträge lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen verhandeln.
Der Antrag der Grünen spiegelt das eigentlich wider; eigentlich. Er lässt aber zugleich große Lücken, zum Beispiel werden die Vertragsverletzungen vonseiten Russlands hier nicht angesprochen. Sie sind aber der Grund für das Problem und dafür, dass wir heute hier stehen.
Ich komme damit zum Antrag der Linken. Sie nehmen Russland in Schutz, wo es nur geht; wie der Kollege Höhn diese Woche in den Medien. Sie sprechen hier von reinen Behauptungen, wenn es um die Vertragsverletzungen geht. Es sind aber eben keine Behauptungen. Das kann man nachlesen, zum Beispiel im Jahresbericht des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. Ich stelle Ihnen im Anschluss auch gerne den Bericht zur Verfügung, dann können Sie Ihren Antrag noch einmal überarbeiten.
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Der Antrag der Koalition macht die genannten Punkte deutlich. Deswegen werden wir als Freie Demokraten diesem auch zustimmen. Wir brauchen für den Vertrag Offener Himmel dringend ein Upgrade. Und wir als Freie Demokraten arbeiten an diesem Upgrade gerne mit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Faber. – Nächster Redner ist der Kollege Matthias Höhn, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vertrag über den Offenen Himmel: Das hat ja beinahe etwas Poetisches. So schön dieser Name klingt, so wichtig ist auch dieser Vertrag; das ist von Kolleginnen und Kollegen schon betont worden. Er ermöglicht Rüstungskontrolle von Vancouver bis Wladiwostok, gemeinsame Rüstungskontrollflüge der über 30 Nationen, die in diesem Vertrag vereinigt sind. Insofern schafft dieser Vertrag Transparenz. Ohne Transparenz schaffen wir kein Vertrauen, und ohne Vertrauen schaffen wir keine Sicherheit. Deswegen ist dieser Vertrag so zentral für die Sicherheitspolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Nun ist schon darauf hingewiesen worden: Donald Trump hat den Vertrag gekündigt. Das ist nicht der einzige Vertrag, den er in seiner Amtszeit gekündigt hat. Es ist umso bitterer, dass wir das an einem Tag bereden, an dem mittlerweile stündlich die Hoffnung wächst, dass er die Präsidentschaftswahlen verloren hat.
Aber deswegen lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, es war gut und richtig – darüber habe ich mich als Vorsitzender gefreut –, dass wir im Unterausschuss diese Einmütigkeit hergestellt und uns an den Kongress gewandt haben. Aber das war bereits im Mai. Meine Fraktion hat bereits im Juni einen Antrag vorgelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 22. November endet die Ausstiegsfrist. Jetzt reden wir über den Antrag der Koalition. Die Aufforderung an Donald Trump, in diesen Vertrag zurückzukehren, kommt fast zu spät. Das ist mein Vorwurf an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Bei aller Einigkeit: Der Vorschlag kommt zu spät, und wir hätten dieses gemeinsame Zeichen längst im Sommer setzen können.
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Lassen Sie mich sagen: Lieber Kollege Faber, ich brauche keine Belehrung über das Zentrum für Verifikationsaufgaben und über General Braunstein. Wir haben ihn besucht, er war bei mir im Unterausschuss; ich kenne diesen Bericht.
Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir uns – jetzt bin ich beim Antrag der Koalition – darüber einig sind, dass wir hier gemeinsam ein Signal setzen wollen, müssen wir aufpassen, dass wir die Dinge nicht wechselseitig überfrachten. Wir können gerne über China reden – in vielerlei Hinsicht. Aber wer glaubt denn, dass nun ausgerechnet in dem Moment, in dem die Vereinigten Staaten aus dem Vertrag austreten, die Volksrepublik China zu bewegen ist, einzutreten? Deswegen ist doch dieser Konnex an dieser Stelle falsch. Unser erstes Ziel muss sein, unseren Verbündeten, die Vereinigten Staaten, im Vertrag zu halten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das muss heute der Schwerpunkt sein.
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Danach können wir auch über alles andere reden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch mal betonen: Es ist gut, dass wir heute an dieser Stelle ein gemeinsames Signal setzen, dass wir in dieser Frage einen so großen Konsens haben, auch wenn ich mir das früher gewünscht hätte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Höhn. – Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über etwas, was in den internationalen Beziehungen Mangelware geworden ist, eine schwindende Ressource, nämlich Vertrauen. Da man nicht einfach so vertraut, gilt in diesen internationalen Beziehungen – ich zitiere jetzt mal Lenin –: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser.
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Das, was wir die letzte Zeit immer erlebt haben, ist, dass Verträge, also Kontrollinstrumente, die Vertrauen und damit Sicherheit zwischen den Staaten schaffen, reihenweise gekündigt und missachtet wurden.
Herr Kollege Hartwig, erstens, der Ort in Russland, über den Sie sprachen – wenn Sie denn ernst genommen werden wollen –, heißt übrigens Kaliningrad.
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Zweitens. Wenn Sie sich darauf berufen, dass es hier ja dieses schöne Vertragswerk von Paris gibt: Wer hat denn diese Charta von Paris auf der Krim mit Füßen getreten, wer tritt sie in der Ostukraine jeden Tag mit Füßen? Das war einer der Vertragsstaaten, nämlich Russland.
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Umso bedauerlicher ist es, dass wir in diesen ganzen Kontrollelementen, vom Rückzug aus dem Atomabkommen mit dem Iran, von der einseitigen Aufkündigung des Vertrages über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen bis hin zur Gefährdung des Vertrages über die Begrenzung strategischer Atomwaffen, erleben müssen, wie all dies von der Trump-Administration Stück für Stück abgeräumt wurde. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, in dieser Situation dieses Element der Vertrauensbildung, das sich in Open Skies widerspiegelt, zu erhalten.
Ich finde es schon überraschend, dass Sie zwei Anträge, einen von der Linken, einen von den Grünen, lange haben liegen lassen, sie am Mittwoch im Auswärtigen Ausschuss abgelehnt und jetzt einen eigenen auf den Tisch gelegt haben. Das Interessante ist, worin sich Ihr Antrag zum Beispiel von unserem unterscheidet. Sie haben die Konsequenz nicht beschrieben, dass dann, wenn man dieses Abkommen mit den bisherigen Vertragsstaaten zusammenhält, auch sichergestellt sein muss, dass die Informationen künftig tatsächlich nur noch unter den Vertragsstaaten geteilt werden; das unterscheidet Ihren Antrag von unserem.
Es gibt da noch einen zweiten Punkt; ich finde, da hätte es größerer Klarheit bedurft. Sie haben überhaupt nicht berücksichtigt, mit welcher Begründung die USA auf Druck des Senats dieses Abkommen gekündigt haben, nämlich mit dem Vorwurf der Spionage. Die Wahrheit ist: Alle Daten aus den Überwachungsflügen werden allen Vertragsstaaten zur Verfügung gestellt, und angesichts der gemischten Besatzungen kann niemand heimlich andere Gebiete überfliegen. Das heißt, dieser Vorwurf ist absurd. Wenn Sie die USA überzeugen wollen, dann müssen Sie die Absurdität dieses Vorwurfes an dieser Stelle benennen.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. – Wir alle hoffen, dass wir dieses Abkommen erhalten können – hoffentlich mit einem US-Präsidenten. Aber das hängt unter anderem von Georgia und Philadelphia ab.
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Vielen Dank, Herr Kollege Trittin. – Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
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– Wissen Sie, meine pädagogischen Fähigkeiten sind an ihre Grenzen gestoßen.
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Ich mache wirklich darauf aufmerksam: Ich werde dafür Sorge tragen, dass das Präsidium schärfere Ordnungsmaßnahmen für diejenigen ergreift, insbesondere aus den regierungstragenden Fraktionen, die die Maskenpflicht dauernd missachten.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit dem Open-Skies-Vertrag in der Tat einen Markstein der Abrüstungskontrolle, den ein Vertragspartner mit einer nicht zutreffenden Begründung verlassen will. Ich erspare mir die Bewertungen, halte aber fest, dass es natürlich – das ist mehrfach dargelegt worden – gerade der Sinn solcher Maßnahmen, wie sie im Open-Skies-Vertrag, dem Offenen-Himmel-Vertrag, vereinbart sind, ist, Vertrauen zu schaffen, indem beide Seiten – wenn man so will: alle Beteiligten – gemeinsam überprüfen, was am Boden liegt und sich dort abspielt. Das unterscheidet ja gerade den Vertrag über den Offenen Himmel von Gary Powers.
Die Wege, die man damit geht, sind nicht die Lösung für den ewigen Frieden. Sie sind aber Teil eines Denkens, eines globalen multilateralen Vertrauens, allein auf dessen Grundlage nur vernünftige bilaterale, wohlausgewogene Abrüstungsschritte gefunden werden können, die dringend notwendig sind.
Wenn ich „bilateral“ sage, dann beschreibt das aber auch die Problematik des Vertrages über den Offenen Himmel: Der Vertrag rührt aus einer anderen Zeit. Diese beginnt eigentlich 1973 in Helsinki und geht bis 1975, die Zeit einer Ost-West-Konfrontation. Heute ist es eine andere Konfrontationssituation – dabei denke ich nicht nur an China, aber insbesondere an China –, für deren Lösung eine globale, multilaterale Herangehensweise dringend notwendig ist.
Deswegen muss man zwei Dinge tun. Man darf nicht nur auf das Prinzip Hoffnung vertrauen; denn wir müssen die Welt, so wie sie ist, und die Entscheidung, die in diesen Tagen in den USA fällt, akzeptieren. Wie sagte mein Kollege Kauder früher immer: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. – Wir müssen uns für alle Wirklichkeiten rüsten, das heißt, wir müssen zum einen den Vertrag am Leben erhalten und zum anderen danach trachten, denjenigen, die ausgetreten oder noch nicht beigetreten sind, mit einer verbesserten Form zukünftig Angebote zur Verifikation des Vertrages zu machen.
Zum anderen müssen wir – gerade im transatlantischen Raum; das betrifft uns sehr – verstehen, dass es hier nicht darum geht, jemandem etwas Hämisches hinterherzurufen, dass es nicht darum geht, sich voneinander abzukoppeln, der eine von dem anderen, der Bessere von dem vermeintlich Schlechteren, sondern dass es um Zusammenarbeit geht.
Für uns Deutsche besteht die Verpflichtung, auf dem Weg, der fatalerweise – Kollege Kiesewetter hat das angesprochen – mit der Tupolew Tu-154 M begann, weiterzugehen. Ich erinnere mich sehr gut an sie; ich bin einmal mitgeflogen. 1997 kam es zur Katastrophe, als eine Maschine der Flugbereitschaft des Bundesministeriums der Verteidigung vor der Küste Namibias mit dem amerikanischen Transportflugzeug „Starlifter“ zusammengestoßen ist. Ich glaube, es waren an die 50 Todesopfer.
Es hat lange gedauert, bis das deutsche Beobachtungsflugzeug fertig war. In diesem Jahr ist es hoffentlich so weit. Der Weg muss nun sein, die Beziehungen mit den amerikanischen Partnern – mit wem auch immer genau – wiederaufzunehmen und die Verifikation weiterzuentwickeln und fortzusetzen, am besten unter Einbeziehung anderer Krisenländer in der Welt. Das wäre ein guter Tag für Europa und für die Abrüstungspolitik.
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Das Wort hat der Kollege Nikolas Löbel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt ein Beispiel aus dem August 2017, das mich in diesem Zusammenhang unheimlich beeindruckt: Ein russisches Militärflugzeug fliegt über den normalerweise hermetisch abgeriegelten Luftraum von Washington, D. C. Es ist ein russisches Flugzeug, es löst keinen Alarm aus, es steigen keine Abfangjäger auf. Das ist keine Szene aus einem amerikanischen Actionfilm, obwohl es ein bisschen danach klingt. Das ist die Realität von Open Skies: ein russisches Militärflugzeug mit russischen Soldaten, die einfach nur den Open-Skies-Vertrag mit Leben erfüllen. Das ist, finde ich, ein schönes Beispiel dafür, was Open Skies bedeutet, nämlich eine vertrauensbildende Maßnahme für kooperative Rüstungskontrolle.
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Open Skies ist schlicht und ergreifend ein guter Vertrag. Die Idee, dass man durch Zusammenarbeit, durch kooperatives Wirken Vertrauen schafft und damit gegenseitige Rüstungskontrolle ermöglicht und für Abrüstung sorgt, kam schon 1955 auf. Open Skies ist und bleibt ein guter Vertrag; aber er ist durch die einseitige Aufkündigung durch die US-Administration unter Donald Trump brüchig geworden. Deswegen bleibt zu hoffen, dass es unter einer neuen US-Administration, unter einem neuen Präsidenten Joe Biden – das Endergebnis der US-Präsidentschaftswahl wird vielleicht im Laufe der nächsten Stunden bekannt gegeben – zu einem Neubeginn von kooperativer Rüstungskontrolle kommt. Denn wir brauchen einen konstruktiven Dialog, wir brauchen nicht mehr dieses Übereinander-Reden, Übereinander-Schimpfen. Wir brauchen nicht weniger kooperative Rüstungskontrolle, wir brauchen wieder mehr davon. Diese Hoffnung verbinden wir mit einer neuen Administration in Washington.
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Klar ist aber auch: Wir sollten nicht nur auf die USA warten, vielmehr liegt die Verantwortung bei uns selbst. Wir sind selbst gefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen; denn die Kritik wird vielleicht in der Art und Weise, wie sie vorgetragen wird, eine andere werden, aber in der Sache wird sie sich sicherlich nicht verändern. Wir, auch Deutschland, müssen mehr internationale Verantwortung übernehmen. Die Debatte, dass wir unserer internationalen wirtschaftlichen Stärke auch eine politische internationale Stärke hinzufügen, müssen wir hier im Deutschen Bundestag und mit der Gesellschaft führen.
Deswegen brauchen wir diesen Open-Skies-Vertrag, und wir wollen die Amerikaner darin halten. Wir ermahnen aber auch die Russen, dem Vertrag gerecht zu werden. Ja, wir brauchen Überflüge über Kaliningrad – der Kollege Kiesewetter hat es gesagt –, und ja, wir brauchen eine Lösung für die Grenzregion in Georgien. Wir wollen die Amerikaner halten, und wir wollen sie zurückgewinnen. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen; aber das bedeutet auch, dass wir den Vertrag öffnen müssen, auch im Hinblick auf den pazifischen Raum. Denn wir dürfen die Situation in Japan, Neuseeland, Australien nicht ignorieren, dass China nicht nur mit Wirtschaftspolitik, sondern auch mit starker militärischer Präsenz Realitäten schafft. Deswegen braucht Open Skies einen Neubeginn. Wir brauchen diesen Vertrag, und dafür müssen wir uns einsetzen. Dafür setzen wir heute im Bundestag ein Zeichen.
Dafür herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter Punkt 7 unseres Grundsatzprogrammes heißt es: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. – Dazu stehen wir als AfD.
({0})
In Deutschland leben mittlerweile mehrere Millionen Muslime; die genaue Anzahl ist unbekannt. Die allermeisten von ihnen sind friedlich und haben nichts Böses im Sinn. Diese Leute sind aber nicht friedlich, weil sie Muslime sind, sondern obwohl sie Muslime sind.
({1})
Darüber, was den Islam eigentlich ausmacht, kann man lange diskutieren. Theoretisieren hilft da aber nicht weiter, weil es dazu sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich sage: Man muss einfach nur die Augen aufmachen, dann erkennt man, was Islam bedeutet:
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„An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ Wenn man so vorgeht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Da, wo der Islam zu Hause ist, gibt es keine Freiheit,
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keine Demokratie, keinen Rechtsstaat, der unseren Vorstellungen auch nur annähernd gleichkommt.
({4})
Stattdessen findet man dort Intoleranz, Frauenfeindlichkeit,
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Hass auf Homosexuelle, Christenverfolgung, Steinigung, Enthauptung und beispiellose Grausamkeit gegenüber Tieren.
({6})
Es ist eine Illusion, zu glauben, es gäbe auch nur eine einzige Spielart des Islam, die mit unseren Wertvorstellungen, mit unserem Grundgesetz kompatibel wäre.
({7})
Islam und Grundgesetz schließen sich aus.
({8})
Versuche im islamischen Kulturkreis, diesen einzuhegen, müssen als gescheitert angesehen werden.
({9})
Das haben wir im Iran Ende der 70er-Jahre gesehen und erleben es gerade in der Türkei. Gerade die Türkei ist in dieser Hinsicht ein abstoßendes Beispiel. Das erkennt man, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Erdogan auf Präsident Macrons Äußerungen zu dem Anschlag auf den Lehrer, der bei Paris enthauptet wurde, reagiert hat. Macron möge sich auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen, so Erdogan. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit und zeigt, wofür sich dieser Herr hält.
Niemals darf die Türkei Mitglied der EU werden.
({10})
Die auf Eis gelegten Beitrittsverhandlungen müssen endgültig und für alle Zeiten beendet werden. Vor allem darf kein Geld mehr als Heranführungshilfe – und das sind Milliarden – in die Türkei fließen.
Die jüngsten Anschläge in Nizza, Dresden und Wien haben gezeigt, dass der liberale Umgang mit dem Islam in den europäischen Ländern verfehlt war und weiterhin ist. Wenn wir für uns und unsere Nachkommen das erhalten wollen, was hier mühsam erkämpft wurde – Rechtsstaat und Demokratie –, dann müssen wir sofort damit anfangen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Diese können nur darin bestehen, die Islamisierung unserer Heimat auf allen Ebenen zurückzudrängen und endlich den Mut und die Kraft aufzubringen, dieses Land vor der weiteren Islamisierung zu schützen und zu verteidigen.
({11})
Schluss mit der weichen Welle gegenüber radikalen Islamisten! Es ist unser Land! Es ist unsere Kultur! Und das soll auch so bleiben!
({12})
Was die gewaltsamen Übergriffe und Anschläge betrifft: Da sind die Sicherheitsbehörden gefragt. Hier muss man feststellen, dass da einiges im Argen liegt. Wie kann man denn polizeibekannte Gefährder draußen frei und ohne ausreichende Beobachtung herumlaufen lassen?
({13})
Gefährder gehören in Sicherungshaft und nicht auf die Straße. Wenn man das so machen würde, wäre der Anschlag in Dresden verhindert worden.
({14})
Für die Umsetzung solcher Maßnahmen hat die AfD Vorschläge gemacht.
Weiterhin muss auch der ideologischen Ausbreitung des Islam entgegengewirkt werden. Dem radikalen Islam muss der Boden entzogen werden. Das ist das Anliegen unserer Anträge.
Konkret heißt das, dass man die Einflussnahme von Imanen,
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die ungestört Hass predigen, unterbinden muss. Solche Personen müssen sofort ausgewiesen werden, wenn dies rechtlich möglich ist.
({16})
Zudem sollten Predigten nur noch in deutscher Sprache erlaubt sein.
({17})
Moscheevereine, die als radikalislamisch eingeschätzt werden, müssen sofort verboten werden. Die Finanzierung solcher Vereine durch ausländische Staaten muss verboten werden.
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Wir brauchen eine Nulltoleranzpolitik gegenüber radikalislamischen Vereinen. Es kann nicht sein, dass die Muslimbrüder, die Milli-Görüs-Bewegung sowie Salafisten in Deutschland schalten und walten können, wie sie wollen, und von liberalen Toleranzschwachmaten dabei noch in Schutz genommen werden.
({19})
Die Umsetzung unserer Forderungen kommt nicht nur den sogenannten Ungläubigen zugute, sondern auch den hier friedlich lebenden Muslimen. Sie sind nämlich die ersten Opfer radikalisierender Beeinflussung.
({20})
Darum: Stimmen Sie unseren Anträgen zu!
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Vielen Dank.
({22})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Marian Wendt das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Schriftführer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fünf radikalislamischen Anschläge in den letzten vier Wochen haben uns alle erschüttert. Wir haben hier darüber in den letzten Tagen debattiert und der Toten, der Angehörigen und der vielen Opfer gedacht. Wir haben über viele Maßnahmen debattiert, und wir sind uns einig, dass wir weiter entschlossen handeln werden.
Der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus fordert uns alle – nicht zum ersten Mal. Gemeinsam haben wir, um nicht nur den Islamismus, sondern auch andere extremistische Gewalttaten zu bekämpfen, schon seit Jahren und Jahrzehnten hier im Bundestag viele Maßnahmen, gemeinsam mit den Ländern und der Bundesregierung, beschlossen.
Wir haben den Pakt für den Rechtsstaat gemeinsam mit den Ländern geschlossen. Wir haben die Zahl der Polizisten alleine bei der Bundespolizei um insgesamt 7 500 erhöht. Wir haben mehr Personal für Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und BND zur Verfügung gestellt und für mehr rechtliche Möglichkeiten gesorgt. Ja, wir haben uns gerade auch beim Thema Quellen-TKÜ geeinigt, um unseren Verfassungsschutzämtern und den Behörden die technischen Möglichkeiten in die Hand zu geben, mit denen sie Terroristen auch im 21. Jahrhundert effektiv verfolgen können. Das alles waren richtige und wichtige Maßnahmen, und wir gehen weiter diesen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In diesem Kampf braucht es vor allen Dingen Ruhe, Sachlichkeit und Konsequenz, so wie ich das eben beschrieben habe. Ihre Anträge hingegen, Herr Maier, sind an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten.
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Sie spielen sich als vorderste Kämpfer gegen den islamistischen Terrorismus auf. Aber für die Opfer müssen diese Anträge ein Schlag ins Gesicht sein. Sie befassen sich nicht einmal inhaltlich mit der Materie. Deswegen: Schämen Sie sich!
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Ich will ein Beispiel nennen: Sie fordern unter Buchstabe 2 c, dass die Länder und Bundesbehörden Informationen sammeln und Nachrichten miteinander austauschen. Ich frage mich: Haben Sie schon mal etwas vom GTAZ, vom Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum, gehört? Wissen Sie überhaupt, dass es verschiedene Verfassungsschutzbehörden gibt, die Nachrichten miteinander teilen? Mir scheint, dass Sie sich in Ihrem Köpfchen einfach ausdenken, wie es sein könnte, und die Realität, wie sie seit Jahrzehnten in dieser Bundesrepublik ist, gar nicht betrachten.
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Deswegen ist es gut, dass Sie für dieses Land keinen Deut Verantwortung tragen.
Ein weiteres Beispiel. Sie sagen: Die Bundeszentrale für politische Bildung muss den Kampf gegen Extremismus aufnehmen. – Das hat sie bereits. Es gibt zahlreiche Programme – auch Aussteigerprogramme, wie von Ihnen gefordert – für Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamistischen Terrorismus. Ihre Leute sind sogar teilweise Teilnehmer dieser Programme, von daher sollten Ihnen diese Aussteigerprogramme doch besonders gut bekannt sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen: Ziehen Sie Ihre Anträge am besten einfach zurück! Verschonen Sie uns mit Ihren Hass- und Hetzreden und mit der Unsachlichkeit in Ihren Reden zur Sicherheitsarchitektur, damit wir als unionsgeführte Bundesregierung hier diesen Kampf gegen Terrorismus aufnehmen können.
Ich will noch ein ganz aktuelles Beispiel nennen: Heute wurden bereits vier Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit dem Anschlag in Wien durchgeführt. Dabei wurden zahlreiche Belege festgestellt, um hier Verbindungen aufzuzeigen.
Es geht darum, unsere Sicherheitsbehörden zu stärken, ihnen nicht in irgendwelchen Anträgen Vorwürfe zu machen, sondern sie ganz konsequent, wie wir das als unionsgeführte Regierung machen, zu unterstützten und ihnen zu helfen. Das werden wir weiter tun: im Bereich Quellen-TKÜ, mit dem bevorstehenden Bundeshaushalt und auch darüber hinaus. Für Unterstützung dabei danken wir Ihnen. Wir stehen ganz fest an der Seite unserer Sicherheitsbehörden, die uns im Kampf gegen islamistischen Terrorismus stärken.
Vielen Dank.
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Zur Erläuterung: Ich mache das genauso wie meine Kollegen vorher: Wenn das Ende der Redezeit erreicht wird, rufe auch ich keine Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen mehr auf.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Benjamin Strasser das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die islamistischen Anschläge der letzten Wochen sind ein Angriff auf unsere freie und offene Gesellschaft.
Vorschläge, wie wir die Arbeit der Sicherheitsbehörden verbessern können, um das Risiko solcher Anschläge zu minimieren, haben wir gestern diskutiert. Deswegen empfehle ich uns an dieser Stelle, den Blick auch einmal zu weiten. Wer es ernst meint mit dem Kampf gegen Islamismus, muss sich auch fragen, wie wir jenseits der vielen Präventionsprogramme Menschen besser vor islamistischer Radikalisierung schützen. Das ist ein Auftrag an uns alle, an die gesamte Gesellschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da geht zunächst einmal ein Auftrag an die große Mehrheit der friedfertigen Muslime hier in Deutschland. Wir brauchen innerislamische Debatten, zum Beispiel über die Gleichberechtigung von Mann und Frau und über die Bekämpfung von muslimischem Antisemitismus oder Homophobie. Diese Probleme anzusprechen, ist kein Akt der Islamfeindlichkeit, sondern die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben unter der Werteordnung des Grundgesetzes.
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Der Auftrag geht aber auch an die politische Linke, die bisher zu oft die Augen vor der Unvereinbarkeit des politischen Islam mit dem Grundgesetz verschließt. So hieß es etwa in der „taz“, Macron bausche den islamistischen Mord in Paris zu einer Grundsatzfrage auf, was dem türkischen Präsidenten Erdogan gerade recht komme. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht der französische, sondern der türkische Präsident treibt einen Keil zwischen Muslime und Nichtmuslime.
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Wir sollten deshalb bei der Verteidigung von Meinungs- und Pressefreiheit fest an der Seite Macrons stehen.
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Der Auftrag geht aber auch an die Konservativen in unserem Land, die immer noch keinen Frieden mit dem Gedanken geschlossen haben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
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Ohne die Teilhabe muslimischer Staatsbürger in zentralen Lebensbereichen lässt sich keine vernünftige Prävention organisieren; denn ein großer Teil dieser Menschen ist nicht zu Gast hier, sondern wird in Deutschland bleiben. Ihre Integration ist Teil einer funktionierenden Islamismusprävention.
Der Auftrag geht aber auch an uns selbst, an uns Liberale, die wir vom Individuum her denken. Nicht nur in Frankreich, sondern auch hierzulande schotten sich bestimmte Stadtteile kulturell und sozial voneinander ab. Deshalb dürfen wir das Instrument der Stadtplanung bei der Verhinderung von Radikalisierung und Gewalt nicht unterschätzen. Eine angemessene Durchmischung der Milieus sowie eine Anbindung an die Zentren gehören dazu.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Demokraten sollten uns alle selbst hinterfragen und neue Ansätze ausprobieren; dann können wir langfristig die Gefahr des Islamismus eindämmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Die Vorfreude bei der AfD-Fraktion ist unüberhörbar – ich habe mir das aber auch mühsam verdient.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage an dieser Stelle, Ihre Diktion aufgreifend: Ich bin stolz, ein liberaler Toleranzschwachmat zu sein,
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lieber liberaler Toleranzschwachmat als rechtsradikaler illiberaler völkischer Intelligenzschwachmat.
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Ich glaube, das ist ein deutlicher Vorteil, den ich da auf unserer Seite habe.
Ich möchte einmal zitieren, was Sie gesagt haben. Wenn ich mich nicht ganz falsch erinnere, Herr Maier – und damit haben Sie im Grunde die Idee und den Geist Ihres Antrags bestmöglich zusammengefasst –, sagten Sie, dass die Mehrheit der Muslime friedlich sei, nicht weil sie Muslime seien, sondern obwohl sie Muslime seien. Das ist nicht nur zutiefst beleidigend für alle Menschen muslimischen Glaubens in diesem Land und auch für diejenigen, die als muslimisch gelesen und identifiziert werden, es ist auch noch blanker Rassismus und nichts anderes.
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Dazu, dass Sie sich in Ihrem Antrag abarbeiten am Islamismus, am politischen Islam, am legalistischen politischen Islam, sage ich hier: Sie sind nichts anderes als der legalistische Arm des Rechtsextremismus in diesem Land,
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und Sie haben es mit dem Antrag und Ihrer Rede wiederum bestmöglich bewiesen.
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Sie unterscheiden sich dabei erstaunlicherweise – ich muss das in dem Fall sagen; sonst lobe ich ihn nicht sehr – von Sebastian Kurz, dessen Überlegungen in vielen Fragen der Migrationspolitik ich nicht teile; auch viele seiner Ideen von Integration sind nicht die meinen. Er hat aber etwas begriffen, was Sie nicht begriffen haben: dass es eben nicht darum geht, in dem Fall Österreicherinnen und Österreicher gegen Migranten auszuspielen, dass es nicht die Frage ist „Christen gegen Muslime“, sondern dass es eine Frage der Gemeinschaft ist und dass es eine Frage ist von Frieden gegen Krieg; nichts anderes ist es.
Sie aber wählen die andere Variante, Sie wählen die Variante, sich selbst vom Geiste her auf die Seite der Dschihadisten zu schlagen; denn Sie machen mit solchen Anträgen, mit Ihrer Argumentation genau deren Werk.
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Sie betreiben das Prinzip der Spaltung, der Verhetzung, der Trennung und des Gegeneinanderausspielens und eines Gegeneinanderaufhetzens – nicht sehr klug, glaube ich, und das Gegenteil von Radikalisierungsbekämpfung. Sie betreiben Radikalisierung, Sie schaffen Gründe für Extremismus. Aber Sie kennen sich ja auch darin bestens aus.
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Deshalb finde ich es auch erstaunlich, wenn Sie in Ihrem Text von Aussteigerprogrammen reden – ich war erstaunt, dass Sie diese Option überhaupt ermöglichen –; denn Sie haben ja selber vorhin in der Rede deutlich gemacht und in Ihrem Antrag, dass es gar keinen Ausstieg gibt: Wenn ein Mensch einmal muslimisch ist, ist er aus Ihrer Sicht verloren, kann er nicht Deutscher sein, es sei denn, er erklärt – wahrscheinlich wäre das Ihr Wunsch – seine Mitgliedschaft in der AfD und schwört dem Islam ab. Aber ich kann allen Menschen muslimischen Glaubens nur raten: Bitte tun Sie das nicht! Es wäre schade um unser Land.
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So viele Menschen, Musliminnen und Muslime, die Sie tagtäglich begleiten, haben dieses Land aufgebaut – Sie hingegen haben nichts zur Freiheit und Demokratie in diesem Land beigetragen, im Gegenteil.
Wenn Sie dann auch noch von Prävention sprechen – auch da war ich erstaunt; ich hatte einen Moment der Hoffnung; es kann sich ja auch immer Erkenntnis einstellen –, passt das aber doch nicht so, weil Sie im Nebensatz gleich wieder erläutern, dass man ja letztlich weniger machen sollte gegen Rechtsextremismus. Und wieder ist es die Logik des Verrechnens von Prävention Rechtsextremismus, Prävention Islamismus, Prävention Linksextremismus.
Dann muss ich mir auch die Kommentare Ihrer Sympathisanten ansehen, unter anderem von Herrn Maaßen, der sich unheimlich aufgeregt hat, dass ich massive Präventionsmaßnahmen fordere. Er meint, das Ganze sei mit Abschiebungen zu lösen. Wenn wir uns aber über Extremisten deutscher Nationalität – egal welcher Ideologie, Sie einschließlich – unterhalten, ist das Instrument der Abschiebung nicht möglich. So weit haben wir es nicht geschafft – wenn man es sich in Ihrem Fall auch manchmal wünschen würde. Aber wir sind ein Rechtsstaat, und deshalb ist das selbstverständlich nicht möglich.
Mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen, dass es vielleicht gut wäre, sich in die Perspektive derjenigen zu versetzen, über die hier geurteilt wird, wenn wir über solche Anträge solche Debatten führen. Es ist ein Grundverständnis dieses Landes, dass man, wenn man anerkannt wird, wenn man Freiheit und Würde genießt, sich nicht erklären muss. Musliminnen und Muslime aber, die nichts dafür können, was in Paris geschehen ist, nichts dafür können, was in Wien geschah, nichts dafür können, was in Dresden geschah, müssen sich permanent, seit vielen Jahrzehnten in diesem Land erklären. Ich finde, das ist peinlich und eine Schande, und wir können das nicht weiter fordern und unterstützen.
Zum Zweiten möchte ich auch darauf hinweisen, dass es die Idee unserer Verfassung doch sein muss, dass Menschen anders sein dürfen, ohne zu anderen gemacht zu werden.
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Genau das erleben wir aber immer in diesen Debatten: Wir machen Musliminnen und Muslime zu anderen, anstatt Vielfalt und Unterschiedlichkeit anzuerkennen.
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Wenn Sie – und ich mache Ihnen dieses Angebot – sich einmal kundig machen wollen, wenn Sie einmal bessere Texte schreiben wollen, wenn Sie einmal bessere Reden halten wollen, wenn Sie von dem Status des illiberalen Intelligenzschwachmaten abweichen wollen, dann machen Sie Folgendes: Treffen Sie einmal Musliminnen und Muslime! Reden Sie nicht über sie, reden Sie mit ihnen – und Sie werden eine Erfahrung von Intelligenz, von Weisheit, von Nachdenklichkeit und von Klugheit machen, die Ihnen ganz neue Horizonte eröffnet. Genau das wünsche ich Ihnen.
Alles Gute.
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Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Gökay Akbulut das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die islamistischen Anschläge der vergangenen Tage in Europa und weltweit sind abscheulich. Unsere Gedanken sind bei den Opfern, den Verletzten und ihren Angehörigen.
Gewaltbereite Islamisten und Rechtsextreme wie die AfD in Deutschland haben vieles gemeinsam, beispielsweise gemeinsame Feindbilder, ein autoritäres Weltbild und ein ähnlich konservatives Frauenbild. Rechtsextremisten und Islamisten sind bemüht, sich gegenseitig hochzuschaukeln. Im Bundestag kann man eindeutig sehen, dass die Schaukel regelmäßig von der AfD angestoßen wird. Am anderen Ende dieser Schaukel steht unter anderem Erdogan, der mit seinen Aggressionen und Äußerungen Islamisten weltweit ermutigt und mobilisiert. Dieses gefährliche Pulverfass muss dringend entschärft werden.
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Die Bundesregierung und die demokratischen Fraktionen haben in dieser Debatte vieles gesagt; auch meine Kollegin Amira Mohamed Ali. Der Umgang mit Islamisten wurde in dieser Woche insbesondere in der Aktuellen Stunde thematisiert. Aber wie kommt es, dass die Bundesregierung so wenig Ahnung hat, beispielsweise über eine nachweislich besonders gewaltbereite islamistische Tätergruppe, die sich seit über 20 Jahren in Deutschland aufhält? Wir haben eine Kleine Anfrage zu den in Deutschland lebenden islamistischen Tätern des Sivas-Massakers in der Türkei gestellt. Diese Täter wurden in der Türkei verurteilt, weil sie 1993 bei einem islamistischen Anschlag 33 Menschen wegen ihres alevitischen Glaubens getötet haben. Etwa zwei Dutzend dieser Täter sind damals vor ihrer Verurteilung geflüchtet, teilweise sogar direkt aus dem Gefängnis. Neun dieser Islamisten sollen sich aktuell in Deutschland aufhalten. Wie kann es sein, dass es keine Ermittlungsverfahren in Deutschland gegen diese islamistischen Mörder gibt? Es gibt sogar Hinweise, wonach einige dieser Täter in Moscheen der Milli Görüs aktiv seien. Wieso konfrontiert die Bundesregierung diesen Verband nicht damit?
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, rechtspopulistische Parteien und auch viele konservative Politiker vermischen in dieser Debatte häufig Islam und Islamismus. Sie vermischen absichtlich friedliche Muslime mit gewaltbereiten Islamisten. Dies schadet dem friedlichen Zusammenleben in unserer Gesellschaft.
Kollegin Akbulut, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Nein. – Nach islamistischen Angriffen werden leider auch friedliche Muslime stigmatisiert. Außerdem wird häufig nicht bedacht, dass auch Muslime Opfer von islamistischen Anschlägen sind. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass in den letzten Jahren im Kampf gegen islamistische Organisationen die Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien, auch Mitglieder meiner Familie, große Opfer gebracht haben.
Als Linksfraktion stehen wir für eine friedliche Gesellschaft ohne Rassismus, Hass und Hetze. Wir stehen für die universellen Menschenrechte, für eine echte Gleichberechtigung von Frau, Mann und Divers sowie für Religions-, Meinungs-, Kunst- und Kulturfreiheit.
Vielen Dank.
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Ich erteile dem Abgeordneten Keuter das Wort zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wir können es nicht so stehen lassen, dass in den ganzen Reden, die gerade erfolgt sind, zuletzt von der Kollegin Akbulut, davor vom Kollegen Wendt, das Ausmaß der islamistischen Bedrohung und des islamistischen Terrorismus in Deutschland heruntergespielt werden.
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Wir arbeiten in diesem Hause noch an der Aufklärung des Attentats auf dem Breitscheidplatz. Wir hatten gestern wieder eine lange Sitzung mit sehr interessanten Gästen, unter anderem dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes und dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Der Präsident des Bundeskriminalamtes sagte, dass die islamistische, radikal-islamische Gefährdung in Deutschland noch lange nicht vorbei ist und unverändert weiter besteht. Den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes habe ich selber befragt: Wie schätzen Sie die terroristisch-islamistische Bedrohung in Deutschland auf einer Skala von 1 bis 10 – 10 „höchst“, 1 „gar nicht“ – ein? – Er sagte: 2016 bei 8 – als das Attentat auf dem Breitscheidplatz stattgefunden hat –, 2020 bei 7; lediglich ein Punkt weniger. Wir sehen gerade an den terroristischen Attentaten in Nizza, in Wien und in Dresden, dass es hier sehr wohl eine Gefährdung gibt.
Frau Akbulut, Sie haben eben Erdogan angesprochen und gesagt, dass wir viele Probleme auf ihn projizieren würden.
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Das ist nicht so, aber wir erkennen natürlich, dass sich die Türkei derzeit unter Erdogan verändert. Wir können aktuell beobachten, dass Erdogan Aserbaidschan ermuntert hat, mit NATO-Waffen, mit militärischer türkischer Unterstützung und mit Unterstützung islamistischer Terroristen aus Syrien, Söldnern und Foreign Fighters Bergkarabach anzugreifen.
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Wir sehen eine islamistische Gefährdung, und darauf weisen wir hin. Ich möchte Sie bitten, diese Gefahr nicht zu unterschätzen.
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Möchten Sie erwidern? – Wenn das nicht der Fall ist, dann hat jetzt die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Erst die Attentate in Frankreich und Dresden und nun der schreckliche Anschlag von Wien – wir als Europäerinnen und Europäer dürfen uns durch solche Taten auf gar keinen Fall spalten lassen, sondern müssen eng zusammenstehen, um dem islamistischen Terrorismus und dieser wirklich virulenten Gefahr in unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.
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Nur gemeinsam werden wir unsere Werte gegen die Feinde der Freiheit, der Demokratie und der Vielfalt verteidigen. Und da kann ich es nicht ernst nehmen, wenn sich ausgerechnet die Feinde der Freiheit, der Demokratie und der Vielfalt auf der rechten Seite dieses Hauses aufschwingen, genau die Werte, die sie eigentlich zutiefst verabscheuen, auch noch verteidigen zu wollen.
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Ihr Antrag ist voller Hass, und die Alibimaßnahmen, die da drinstehen, sind auch noch unkonkret. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, was die AfD hier vorlegt, ist falsch und deshalb abzulehnen.
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Stattdessen brauchen wir substanzielle Maßnahmen, die unsere Sicherheit und das gesellschaftliche Zusammenleben effektiv verbessern.
Nun wütet der islamistische Terror schon einige Jahre in Europa. Die Muster von Taten und Tätern ähneln sich, aber Konsequenzen bleiben weitgehend aus. Wir müssen bei der Gefahrenerkennung und der Überwachung von Gefährdern und Netzwerken endlich besser werden. Immer wieder begehen Menschen Anschläge, die schon längst im Blick der Sicherheitsbehörden waren, deren wahre Gefährlichkeit aber nicht erkannt wurde. Instrumente wie RADAR-iTE sind gut und wichtig. Wir müssen aber grundsätzlich zu einer besseren Koordination der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden kommen, Prioritäten vereinbaren und klare Verantwortlichkeiten im GTAZ festlegen. Unsere Vorschläge dazu liegen seit Langem auf dem Tisch, meine Damen und Herren.
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Der Fall in Wien legt den Finger in eine weitere Wunde der Sicherheitspolitik, und das ist das Thema „Prävention und Deradikalisierung“. Obwohl wir seit Jahren darüber diskutieren und auch hier immer wieder Konzepte vorgelegt haben, gibt es kein bundesweites Präventionsnetzwerk, in dem alle regionalen Stränge zusammenlaufen. Das muss sich dringend ändern.
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Wir müssen auch endlich an das Umfeld der Täter ran. Ich gebe dem österreichischen Bundeskanzler – ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sagen würde – unumwunden recht, wenn er sagt: Es geht hier nicht um die Religionsausübung. Aber wir müssen verhindern, dass Menschen Religion missbrauchen, um ihre verfassungsfeindlichen Strategien zu verfolgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Islamismus entschlossen entgegenzutreten, ist das Gebot der Stunde. Sie von der AfD und Ihre Anträge brauchen wir dafür ganz sicher nicht.
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Wenn ich Ihnen zum Schluss noch einen Rat geben darf: Wenn Sie wirklich etwas zur Sicherheit im Land und zum gesellschaftlichen Frieden beitragen wollen, dann fangen Sie gerne bei sich selber an:
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Löschen Sie ihre Twitter- und Facebook-Accounts! Hören Sie auf, Hass und Hetze zu verbreiten, und beenden Sie Ihre Versuche, die Gesellschaft zu spalten!
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Damit könnten Sie wirklich einen Beitrag leisten, anstatt dem Kalkül islamistischer Terroristen auch noch zu entsprechen.
Ganz herzlichen Dank.
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Es sei mir noch mal der Hinweis gestattet: Am Ende einer Rede lasse ich keine Fragen oder Bemerkungen mehr zu.
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Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Dem radikalen Islam den Boden entziehen – Maßnahmenpaket gegen Islamisten und islamistische Verbände“, so fordert es der vorliegende Antrag. Die Rede des AfD-Redners hatte allerdings wenig mit dem Antrag zu tun.
Anträge mit dieser Zielrichtung hat die AfD schon häufig gestellt. Ein ähnlicher Antrag, bei dem es um die angebliche Intoleranz des Islam ging, war Gegenstand der Debatte vom 11. Oktober 2018. Mein Kollege Sensburg hat darin eine ganze Reihe solcher Anträge der AfD, verteilt über die Länderparlamente, aufgezählt.
Nach islamistischem Terror wie nach den Ereignissen von Dresden, Nizza und Wien entfaltet die AfD immer Aktionismus, stets verknüpft mit markigen Sprüchen wie „Null Toleranz“ und Kampfansagen, in der Regel aber ohne konkret zu werden.
Heute nun ergeht eine Aufforderung an die Bundesregierung, geeignete Maßnahmen – ich nenne das mal so – zu ergreifen. Zielrichtung sollen „die radikal-islamischen Moscheevereine“ sein. Was darunter allerdings genau zu verstehen ist, bleibt nach der Antragsbegründung unklar. Diese spricht von Salafisten, also der konservativen, sich auf die Altvorderen beziehenden Richtung des Islam, genauso wie von den Islamisten, die einen radikal-politischen Islam propagieren, und den Dschihadisten, die dies ergänzend mit Gewalt tun wollen. Welche der sich in der vorgenannten Art betätigenden Vereine wollen die Antragsteller mit diesen Maßnahmen überziehen? Das bleibt völlig unklar. Zudem versuchen Sie, den Eindruck zu erwecken, als ob bisher nichts geschehen wäre. Ich halte Ihnen entgegen, dass das Bundesministerium des Innern in den letzten Jahren 14 Vereine aus dem Bereich des Islamismus verboten hat. Das betraf unter anderem den IS, den Verein „Die wahre Religion“ alias „Stiftung LIES“, Ansaar International als Unterstützer der Hamas und nicht zuletzt die Hisbollah.
Sie fordern weiter die Untersagung von Finanzierungen von radikal-islamischen Moscheevereinen durch ausländische Staaten und Organisationen. Als Beispiel heben Sie entsprechende Verbote in Österreich hervor. Leider konnte das den schrecklichen Anschlag in Wien nicht verhindern. Ich behaupte, ein solches Verbot wird Zahlungen bestenfalls erschweren, aber nicht unterbinden. Ich behaupte weiter: Ohne eine Bewusstseinsänderung in den Köpfen der zum Empfang radikaler Botschaften bereiten Menschen lässt sich die Gefahr nicht verhindern.
Im September 2019 war ich dabei, als dem Berliner Rabbiner, Historiker und Publizisten Dr. Andreas Nachama die Moses-Mendelssohn-Medaille für religiös motivierte und auf Völkerverständigung abzielende Toleranz verliehen wurde. In seiner Ansprache führte der Preisträger eindrucksvoll aus, dass der Fanatismus in den Köpfen der größte Feind der Toleranz sei. Und die AfD-Rede von Ihnen, Herr Maier, war ein eindrucksvolles Beispiel hierfür.
Die vom Fanatismus ausgehende Ansteckungsgefahr können wir nicht durch Repression allein bekämpfen. Wir müssen den intoleranten Fanatikern den geistigen Nährboden entziehen. Das erreichen wir nicht, wenn, wie im Antrag gefordert, islamischen Geistlichen auferlegt wird, ihre Predigten in deutscher Sprache zu halten, was schon deshalb abzulehnen ist, weil das gegen die Religionsausübungsfreiheit verstößt. Der Rabbiner darf auf Hebräisch, der russisch-orthodoxe Priester in Kirchenslawisch und der Imam auf Arabisch predigen.
Radikale und von Intoleranz gekennzeichnete Glaubensorientierung – das lehrt die Geschichte des Christentums – kann man nur dadurch zurückdrängen, dass man in Zeiten der Aufklärung für einen Glauben an die Vernunft Bahn bricht – das hat nicht bei allen geklappt –, zum Beispiel durch eine staatliche Imam-Ausbildung wie an der Universität Tübingen oder durch Programme wie „Demokratie leben!“. Dieses Programm führen die Antragsteller ausdrücklich an, was insofern verwundert, als Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Dr. Hartwig dieses Programm für ineffizient und verfehlt hält. Meine Damen und Herren, das lässt tief blicken.
Abgrund für Deutschland! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Überlegen Sie mal, wie Sie diese drei Wörter auch abkürzen können.
Danke schön.
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Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anschläge und Terrortaten von Paris, Nizza, Wien und Dresden haben uns erschüttert, und ich denke, dass in dieser Debatte noch einmal ein Gedenken an die Opfer wichtig ist.
Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist reell. Ziel der Terroristen ist es, die liberale, aufgeklärte und offene Gesellschaft anzugreifen. Es gilt, diese offene Gesellschaft zu verteidigen. Zur offenen, freien Gesellschaft gehört auch die Freiheit des Glaubens und der Religion, aber eben so, wie es sich gebührt in einer Verfassungsordnung, nämlich im Rahmen der bestehenden Grundrechte, auch der Grundrechte anderer. Klar ist: Unser aller Gegner ist nicht der Islam, sondern das sind gewalttätige Extremisten, die diese Ordnung beseitigen wollen.
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Das Erschreckende ist: Das liest sich im Antrag der AfD anders. Sie stellen fest, dass in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Millionen Muslime leben. So weit, so gut. Sie schreiben aber auch – ich zitiere aus Ihrem Antrag –:
Nicht wenige Muslime vertreten eine Form von Islamismus und nutzen das ihnen garantierte Recht auf Religionsfreiheit, um anderen Menschen ihr radikalislamisches Weltbild zu vermitteln.
Das ist nichts anderes als ein Generalverdacht gegen weite Teile unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, und das können wir auf keinen Fall so stehen lassen.
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Das ist weder ehrlich noch in Deutschland irgendwie akzeptabel.
Entscheidend ist etwas anderes. Entscheidend ist, dass wir nach wie vor wachsam sind, dass wir den Sicherheitsbehörden vertrauen und dass wir hinter den Sicherheitsbehörden stehen. Entscheidend ist, dass das geltende Recht angewandt wird und dass wir dort, wo es notwendig ist, auch nachschärfen, dass wir den Datenaustausch verbessern und dass wir auch deutlich machen, dass die Sicherheitsbehörden hier eine klare Handschrift haben. Wichtig sind aber auch Prävention und Bildung. Kein Mensch wird als Islamist oder als Rassist geboren; Menschen werden erst dazu. Wir müssen uns fragen, wo sich Menschen radikalisieren. Wir müssen dem begegnen durch Bildung und durch Aufklärung.
Wichtig ist vor allen Dingen, dass wir nicht in die Falle tappen, die uns die Feinde der Freiheit stellen, nämlich dass wir in der Sprache und im Umgang selber radikal werden. Wir müssen vielmehr versöhnen und das Land zusammenführen. Wir müssen für unsere Werte eintreten und all denen eine Absage erteilen, die diese Werte nicht leben wollen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag mit Fug und Recht ab.
Herzlichen Dank.
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Denken Sie bitte an die Mund-Nase-Bedeckung. – Ich schließe die Aussprache.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sicherlich keine Schuld, dass es Corona gibt – ohne Zweifel nicht –, aber natürlich Verantwortung dafür, welcher Art der Shutdown ist und wie wir mit der Wirtschaft, die davon betroffen ist, umgehen.
Wir wissen – das ist auch in Ordnung –, dass durch die neuen Maßnahmen 75 Prozent als Ausgleich für den Umsatzrückgang im November vorgesehen sind. Aber bis jetzt gibt es noch keine Regelung, wie die betroffenen Unternehmen tatsächlich gestützt werden. Sie können offensichtlich noch keine Anträge stellen, und wir erwarten – um das gleich deutlich zu sagen –, dass das dringend, so schnell als möglich, erledigt wird. Sie haben ja auch nur vier Tage gebraucht, um den Shutdown zu beschließen. Sie hätten die Zeit vielleicht schon nutzen können, auch zu regeln, wie die Unternehmen an ihr Geld kommen, die ihre Existenz verlieren, wenn es jetzt nicht schnell Geld gibt. Hier also bitte deutlich nachlegen!
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Wir erwarten, dass die Soloselbstständigen und Kleinunternehmen das Geld ohne bürokratische Hürden bekommen.
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Im Übrigen: Anfang März ging es ja auch unproblematisch. Aber bei der Auszahlung der Überbrückungshilfen haben Sie sich die Argumentation der Steuerberater zu eigen gemacht und gesagt, es gebe zu viel Betrug, statt den Betroffenen schnell zu helfen. Unsere Anfrage an die Bundesregierung hat zutage gebracht, dass in den Bundesländern bei 2,2 Millionen gestellten Anträgen lediglich 4 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Nur 4 000! Wenn man wegen der 4 000 Fälle den Rest mehr oder weniger gängelt und sie nicht zu ihrem Geld kommen lässt, dann ist das unerträglich. Das muss so schnell wie möglich geändert werden. Genau das wollen wir mit unserem Antrag, meine Damen und Herren.
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Es war von Anfang an falsch, den Unternehmerlohn für Soloselbstständige und Kleinunternehmer für nicht zuschussfähig zu erklären.
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Da gibt es jetzt offensichtlich Bewegung bei der Bundesregierung. Ich weiß nicht, an was es noch hakt. Sie sind sich wohl nicht einig, wie viele das jetzt kriegen und wie viele das nicht kriegen sollen, und dann wird auf das Hartz-IV-System verwiesen. Meine Damen und Herren, das ist eben nicht dasselbe. Bei Hartz IV haben die Soloselbstständigen das Problem, dass sie in eine Bedarfsgemeinschaft hineingerechnet werden, sofern sie eine haben, und dann kriegen sie möglicherweise überhaupt nichts. Deshalb ist es unakzeptabel, das über das Hartz-IV-System abzuwickeln. Wir wollen einen fiktiven Unternehmerlohn von 1 200 Euro pro Monat. Das ist für die Betroffenen sicherlich noch viel zu gering, aber gemessen an Kurzarbeitergeld oder Ähnlichem akzeptabel. Also bitte, legen Sie da nach und kommen Sie schnell zu einem Ergebnis!
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Komplett übersehen hat die Bundesregierung die Belastung kleiner Unternehmer durch hohe Fixkosten wie Gewerbemieten und Leasingraten. Wir wollen, dass derartige Kosten um 30 Prozent abgesenkt werden können, wenn ein Unternehmen pandemiebedingt mit Umsatzverlusten in Höhe von mindestens 30 Prozent konfrontiert ist. Das würde sofort helfen, das würde Liquidität in diesen Unternehmen lassen und ihnen das Überleben leichter machen.
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Zum Schluss noch zu Ihren Maßnahmen. Sie machen Kneipen, Restaurants und Konzerte dicht. Das wäre selbstverständlich, gäbe es da Nachweise für große Infektionsgeschehen. Aber genau die gibt es dort nicht. Auch zu Zeiten, als die Kontakte noch nachvollziehbar waren, waren genau da nicht die Infektionsherde. Das bestätigen im Übrigen auch die Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Wir hatten dagegen große Probleme bei privaten Feten, übrigens auch bei Gottesdiensten, auf Hochzeiten, in Sammelunterkünften oder am Arbeitsplatz wie bei der Fleischindustrie. Nach wie vor sind Sie ein Gesetz schuldig, das endlich die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie regelt und künftig ausschließt, dass dort große Infektionsherde entstehen. Das machen Sie nämlich nicht, wenn Sie die Kneipen schließen, meine Damen und Herren.
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Deshalb mein dringender Appell: Kommen Sie da zu Potte!
Die Schließungen im Freizeitbereich und von Restaurants führen übrigens dazu, dass die Leute privat weiter feiern, und dann haben Sie überhaupt keinen Einfluss mehr, was da passiert. Das ist kontraproduktiv. Denken Sie darüber mal nach!
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Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Lieber Klaus Ernst, das war eine dünne Suppe, die da gerade serviert worden ist, muss ich mal feststellen,
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als ob du im Wirtschaftsausschuss nicht dabei gewesen wärst. Wir beraten doch permanent: Wie können wir die Maßnahmen verbessern? Wie können wir sie treffsicher machen?
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Wir steuern permanent nach, weil wir für einen solchen Fall natürlich keine Blaupause haben.
Ich will aber, ehe sich hier die Falschen zum Retter unserer Wirtschaft und unserer Unternehmer aufschwingen, noch einen weiteren Vorgang aus dieser Woche in Erinnerung rufen. Am 4. November ist im „Handelsblatt“ gemeldet worden, dass die Linken eine Vermögensabgabe von bis zu 30 Prozent vorschlagen.
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Das soll insgesamt 300 Milliarden Euro ergeben. Damit wird Mittelstand, damit werden inhabergeführte Unternehmen aus dem Lande herausgetrieben.
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Damit wird die Axt an das angelegt, was unseren Wohlstand in Deutschland ausmacht und worum wir uns alle sorgen, es wieder flottzubekommen.
Es ist ja nicht so, als ob nichts gemacht worden wäre. Die Soforthilfe ist angesprochen worden. Da sind in einer sehr kurzen Zeit, in einem sehr schnellen Verfahren 13,8 Millionen Euro allein vom Bund herausgegeben worden. Hinzu kommt, was die Länder dazugetan haben. Die Überbrückungshilfe I wurde schon wieder abgelöst durch die Überbrückungshilfe II; da ist noch vieles in der Pipeline und wird noch bearbeitet. Aber auch hier sind 1,3 Milliarden Euro abgeflossen. Das hätte etwas mehr sein können, aber wir arbeiten ja daran, wie jedermann sehen kann, vor allen Dingen die Leute, die im Wirtschaftsausschuss sind und diese Themen in den ständigen Runden mit Wirtschaftsminister und Staatssekretären intensiv besprechen.
Wir hatten doch alle gehofft, wir hätten das im Frühjahr weitgehend überstanden: Wir halten uns alle einigermaßen an die Maßnahmen und haben es dann vielleicht hinter uns.
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Aber wir mussten sehen: Wir haben es nicht hinter uns.
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Heute haben wir Rekordzahlen: über 20 000. Ich bitte doch mal um konkrete Vorschläge, ob wir jetzt vielleicht gar die Schulen oder die Kindergärten schließen sollen. Wir sind uns doch, glaube ich, bei rationaler Betrachtung einig, dass wir versuchen müssen, die Zahl der Interaktionen etwas runterzufahren. Deshalb ziehen wir ja Masken auf, deshalb halten wir Abstand, deshalb halten wir Hygieneregeln ein. Wenn man das eine nicht will, muss man sagen, was man stattdessen will. Dazu habe ich leider nichts gehört.
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Was den November anbelangt, haben wir jetzt ganz gezielt gesagt: Denjenigen, denen wir das Geschäft sozusagen verbieten, denen wir den Laden dichtmachen, muss jetzt in einer ordentlichen Größenordnung von 75 Prozent vom letztjährigen Umsatz Hilfe gegeben werden, wobei ich dem Haus dringend empfehle, darüber nachzudenken, ob man nicht anwendet, was für die Soloselbstständigen ja schon vereinbart ist, nämlich zu sagen, dass es nicht unbedingt auf den Umsatz im November des Vorjahres ankommt, sondern man auch ein Zwölftel des letztjährigen Jahresumsatzes nehmen kann. Denn es gibt natürlich viele Bereiche, die, unabhängig von der Rechtsform, ob Soloselbstständiger oder kleines familiengeführtes Unternehmen, gerade im November jedes Jahr eine Saure-Gurken-Zeit haben, weil sie da die Weihnachtsmärkte aufbauen, ob das Eventtechniker, Eventcaterer oder Schausteller sind. Sie alle brauchen eigentlich den Dezember, und wir wissen heute noch nicht, ob sie im Dezember arbeiten können. Aber ihnen Hilfe auf Basis eines nicht vorhandenen Umsatzes im letzten Jahr anzubieten, scheint mir nicht weit genug gesprungen.
Es gibt im Gegensatz zu dem, was Klaus Ernst hier vorgetragen hat, die klare Zusage, sowohl von Wirtschaftsminister Altmaier als auch von Finanzminister Scholz, dass im November Geld fließt, und wenn es nur eine Abschlagszahlung ist, weil noch nicht alles durch ist. Aber wir hoffen und setzen darauf, dass das ganze Genehmigungsverfahren, die Art und Weise der Antragswege, klargestellt wird. Und dann wird das genauso wie bei der Soforthilfe im März/April schnell auf den Weg kommen. Wir wollen doch alle, dass es hier weitergeht, und tun dafür alles, was wir können. Dessen können Sie alle versichert sein. Nur: Diese Pandemie über Nacht wegschaffen, das können wir leider nicht.
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Kollegen von den Linken, ich kann mir vorstellen: Sozialist zu sein in diesen Zeiten, ist wirklich schwierig, wenn einem die CDU und die SPD diese ganze Arbeit abnehmen.
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Dieser Showantrag offenbart ja Ihre ganze Verzweiflung. Dabei müssten Sie angesichts des dritten Ermächtigungsgesetzes von heute Morgen
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doch eigentlich jubeln: Wieder ein Stück Demokratie abgeschafft!
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Fünf Tage Lockdown haben an Ihrer Infektionsfront, liebe Bundesregierung, nicht auch nur den Hauch eines Effekts gehabt. Die täglichen Wasserstandsmeldungen zu den sogenannten Infizierten sollen Angst und Schrecken verbreiten, um den Menschen erfolgreich eine pandemische Lage vorzugaukeln.
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Schauen wir uns doch mal die Zahlen des Grauens, heruntergerechnet auf eine Stadt mit 100 000 Einwohnern, zum Beispiel meine Landeshauptstadt Schwerin, an: Da sind, statistisch gesehen, seit März – seit März! – 750 Menschen auf Corona positiv getestet worden. Bei der gegenwärtig äußerst kritischen Lage kommen momentan täglich 19 Menschen hinzu. Ach ja, krank werden die alle gar nicht. Nur 28 von diesen 100 000 Menschen brauchten seit März eine intensivmedizinische Behandlung.
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Gerade einmal 13 sind gestorben, von 100 000,
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fast alle übrigens mit zum Teil gravierenden Vorerkrankungen, und 9 von diesen 13 waren über 80.
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Bleiben also 4 Gestorbene, für die Sie die ganze Stadt herunterfahren, Tausende von Arbeitsplätzen riskieren, Existenzen zerstören, Kultur und Brauchtum vernichten. Übrigens, insgesamt sind seit März in dieser 100 000-Menschen-Stadt, in diesem beschaulichen Städtchen, Tausend Menschen gestorben, im Übrigen genauso viele wie im letzten Jahr.
Ihr Lockdown ist unverhältnismäßig, weil er schlicht nicht erforderlich ist.
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Der Lockdown und die nur dadurch bedingten Coronahilfen sind, meine Damen und Herren, purer Aktionismus. Der Lockdown trifft die Falschen, diejenigen, die sich seit Monaten auf einen Winter mit vermeintlich hoher Infektionsgefahr vorbereitet haben. Laut Herrn Altmaier war das Kind, das Sie beim ersten, nach eigenen Angaben unnötigen Lockdown in den Brunnen geschmissen haben, dank eines sündhaft teuren Seils schon wieder halb emporgeklettert. Nun lassen Sie das Kind wieder reinfallen, zusammen mit dem wertvollen Seil.
Ja, die Bundesregierung ist gegenüber den Eltern dieses Kindes, den gebeutelten Unternehmen, schadenersatzpflichtig, und zwar schnell und unbürokratisch. Die Verstetigung einer Staatswirtschaft durch dauerhafte Transferleistung, finanziert durch enteignende Maßnahmen wie den hier von den Linken geforderten Anspruch auf Mietminderung, machen wir als Rechtsstaatspartei aber nicht mit.
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Wir bräuchten eigentlich gar keine Coronahilfen, meine Damen und Herren; denn die beste Coronahilfe ist die sofortige Abschaffung aller Coronazwangsmaßnahmen.
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Setzen Sie auf den individuellen Schutz besonderer Risikogruppen in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen, und setzen Sie im Übrigen auf selbstverantwortliche Bürger! Die Warnungen vor der Überlastung unseres Gesundheitssystems sind eine Kampagne. Nach wie vor sind knapp 30 Prozent der Intensivbetten nicht belegt.
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Was hätten wir mit nur einem Bruchteil Ihrer herausgepfefferten Multimilliarden-Coronahilfen für unser Gesundheitswesen alles tun können?
Vielen Dank.
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Ich erlaube mir den Hinweis: Man kann sehr unterschiedlicher Meinung sein – und das haben wir heute Morgen auch miteinander debattiert – zum Inhalt und zur Nützlichkeit des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Ich bitte aber, es zu unterlassen, die Gesetzesvorhaben, welche wir hier im Moment bearbeiten, mit einem Wort zu belegen, welches nur historische Parallelen hervorruft.
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Wir wollen uns daran erinnern, dass mit dem Ermächtigungsgesetz, welches im Jahre 1933 in diesem Hause beschlossen wurde, die Abschaffung der Demokratie und der parlamentarischen Demokratie beschlossen wurde.
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Ich gehe davon aus, dass alle Mitglieder dieses Hauses hier darüber streiten, wie wir genau die Demokratie in unserem Land erhalten und stärken
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und gleichzeitig die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, die es allen Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, entsprechend dem Grundgesetz hier in unserem Land zu leben.
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Poschmann für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich danke Ihnen sehr für diese Worte.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Für viele war es unbegreiflich, warum sie im November wieder schließen mussten; denn sie hatten gute Hygienekonzepte und haben alles getan, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Es macht auch mich traurig, zu sehen, wie in meiner Heimatstadt Dortmund der größte Weihnachtsbaum der Welt wieder abgebaut wird und die dazugehörige Weihnachtsstadt erst gar nicht wieder aufgebaut wird. Ähnlich wie diesen Schaustellern ging es Besitzern von Hotels, Restaurants, Kneipen, Klubs und Veranstaltern. Steigende Infektionszahlen machten uns allen einen Strich durch die Rechnung. Begegnungen mussten wieder unterbunden werden. Um diesmal Bildung und einen Großteil der Wirtschaft nicht runterzufahren, blieben Einschränkungen im Freizeitbereich. Schade ist, dass wir an dieser Stelle das immer wieder erklären müssen und manche das anscheinend immer noch nicht begriffen haben.
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Dafür gibt es jetzt einen Ausgleich von 75 Prozent des Umsatzes im November des Vorjahres. Details wurden ausgearbeitet, sodass er im November auch beantragt werden kann. Das ist ein guter und, wie ich finde, relativ unbürokratischer Schritt, der von vielen in der Branche auch begrüßt wird.
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Dabei sind Anregungen aufgenommen worden: Auch mittelbar betroffene Unternehmen erhalten einen Ausgleich; To-go-Geschäfte dürfen die fehlenden 25 Prozent ausgleichen; auch größere Unternehmen wie Veranstalter werden berücksichtigt; und bei kleineren Unternehmen, die bis zu 5 000 Euro beantragen, braucht der Steuerberater nicht noch gegenzuzeichnen.
Alleinlassen dürfen wir aber nicht die Unternehmen – das sei an dieser Stelle gesagt –, die nicht von der Novemberhilfe profitieren. Damit meine ich zum Beispiel die Reisebranche. Auch diesen Unternehmen müssen wir stärker unter die Arme greifen. Deshalb ist es richtig, dass die Überbrückungshilfe III kommt und noch einmal verbessert wird.
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Was wir aber noch viel mehr brauchen, meine Damen und Herren, ist eine Perspektive – das kommt auch in einem Antrag vor – für alle Betroffenen. Das heißt: Wie können wir die Betriebe wieder ans Schaffen bekommen und gleichzeitig die Bevölkerung schützen? Dafür müssen wir meiner Meinung nach viel mehr auf Hygienekonzepte, Tests und digitale Registrierungen setzen als auf Schließung. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam mit Wirtschafts- und Gesundheitspolitikern daran arbeiten, einen verlässlichen Rahmen für 2021 zu finden. Dabei vertraue ich auf die Innovationskraft der Unternehmen und die Mitarbeit der Bevölkerung.
Herzlichen Dank an die Unternehmen! Halten Sie die Öhrchen steif! Ein schönes Wochenende!
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Marcel Klinge für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Covid-19 ist eine Gefahr für Leib und Leben und zugleich eine enorme wirtschaftliche Bedrohung für Millionen von Unternehmen, Selbstständigen und Gewerbetreibenden. Vor allem unsere Tourismusbetriebe, die Schausteller, die Kultur- und Kreativwirtschaft, die Veranstaltungsbranche haben unglaublich harte Monate hinter und wahrscheinlich unglaublich harte Monate vor sich.
Als Sprecher für Tourismus sehe ich den seit Montag geltenden flächendeckenden Shutdown für diese Branchen sehr, sehr kritisch – nicht weil wir Freidemokraten etwa die gesundheitlichen Risiken nicht sehen, sondern weil das Vorgehen der Großen Koalition in diesem Fall pauschal, unverhältnismäßig und aktionistisch ist.
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Die Betriebe, Frau Poschmann, haben doch in der Pandemie ihre Hausaufgaben gemacht.
Bei den bisherigen Wirtschaftshilfen hingegen hakt es an allen Ecken und Kanten: Nur ein Bruchteil der Mittel kommt bislang bei den Betroffenen an. Das Verfahren ist zu kompliziert, langatmig und eben auch widersprüchlich. Nehmen wir die KfW-Schnellkredite: Die hat der Wirtschaftsminister Peter Altmaier in den vergangenen Monaten wie geschnitten Brot angepriesen. Diejenigen, die solch einen Kredit ohne klare Perspektive aufgenommen haben, gehen aber bei den Überbrückungshilfen bislang leer aus.
Die Liste, liebe Koalition, der notwendigen Nachbesserungen ist also lang, auch bei den November-Hilfen. Erst heute haben mich viele E-Mails von Messebauern und Reisebüros erreicht, die eben nicht wissen, wie es weitergeht, und auf Antworten von Ihnen warten.
Meine Damen und Herren, die Betriebe haben ihre Hausaufgaben gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, dass diese Koalition ihren Job endlich mal macht.
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In unserem Antrag zur Rettung der Veranstaltungswirtschaft, den wir an diese Debatte ankoppeln, finden Sie viele Ideen, wie Hilfen deutlich besser gelingen und umgesetzt werden können. Zwei Punkte, meine Damen und Herren, sind uns Freien Demokraten besonders wichtig und liegen uns am Herzen:
Erstens: die überfällige Einführung eines fairen Unternehmerlohns. Wie kann es sein, dass Soloselbstständige, gestandene Unternehmerinnen und Unternehmer, erst ihre Altersvorsorge aufbrauchen und dann Grundsicherung beantragen müssen? Bittsteller in einer Amtsstube zu sein, das steckt ganz sicher nicht in der DNA dieser Schaffer.
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Deshalb brauchen wir für sie neben allem anderen – neben den Hilfen, die es schon gibt – einen Unternehmerlohn zur Finanzierung der Lebenshaltungskosten und der Miete. Das ist nicht nur Akuthilfe, sondern dringend gebotene Wertschätzung gegenüber der Lebensleistung von Millionen Menschen.
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Zweitens. Um möglichst viele Betriebe durch diese schwere Krise zu bekommen, müssen wir ihre Zahlungsfähigkeit erhalten. Das geht – einfach und wirkungsvoll – über eine negative Gewinnsteuer. Wenn Unternehmen Verluste aus diesem Krisenjahr 2020 mit Gewinnen aus 2019 und 2018 verrechnen können, dann spült das dringend benötigtes Geld in ihre Kassen zurück.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, in diesem Monat gilt mehr denn je: Wer hauruckartig ganze Branchen schließt, der muss genauso blitzschnell und verlässlich helfen. Es gibt noch sehr viel zu tun. Handeln Sie endlich!
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Das Wort hat die Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es momentan echt schwer auszuhalten, wenn man mit Künstlerinnen spricht, die seit Monaten keinen Auftritt mehr hatten, wenn man mit Soloselbstständigen spricht, die seit Monaten keine Aufträge mehr haben, mit Veranstaltern oder Gastronomen, die sich mit ihren Hygienekonzepten solch eine Mühe gegeben haben und jetzt trotzdem schließen müssen. Diese Verzweiflung, diese Existenzängste, die in den Gesprächen zum Ausdruck gebracht werden, sind echt schwer auszuhalten.
Lassen Sie mich klar sagen: Ich glaube, es gibt eine große Mehrheit in diesem Haus, die sagt, dass in dieser Krise, in dieser Pandemie die bestmögliche Bemühung um den Schutz unser aller Gesundheit das ist, was im Vordergrund stehen muss. Da sind wir uns einig mit vielen Künstlerinnen und Künstlern, vielen Gastronomen, vielen Soloselbstständigen, die megasolidarisch mit uns durch diese Krise gehen, die große persönliche Konsequenzen akzeptieren und trotzdem sagen: Es ist richtig, dass der Schutz der Gesundheit im Vordergrund steht.
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Aber wir sind auch Wirtschaftspolitiker, und als Wirtschaftspolitiker müssen wir dafür sorgen, dass diejenigen, die in dieser Krise so wahnsinnig solidarisch sind, dann auch bestmöglich von uns unterstützt werden. Da, muss ich sagen, hat dieses Parlament, hat diese Regierung nicht ihr Bestmögliches gemacht, und das ist ein Problem, vor dem wir alle jetzt stehen.
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Es gibt eine einfache Regel, und die heißt: Nach dem Sommer kommt der Herbst. – Das konnten wir alle wissen. Wir konnten alle wissen, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass die Infektionszahlen im Herbst wieder steigen werden. Darauf haben uns viele Experten hingewiesen. Wie kann es dann sein, dass Sie keinen Plan für den Herbst hatten, dass Sie immer gesagt haben, ein Lockdown werde nicht kommen, aber am Ende doch einen machen, dass Sie, wenn Sie ihn machen, erst dann anfangen, zu überlegen, wie die Unterstützung für die Unternehmen, die wieder geschlossen werden müssen, aussehen könnte? Wenn Sie jetzt, in der Zeit, in der die Unternehmen schon geschlossen haben, sagen: „Irgendwann im November wird das Geld schon fließen“, dann ist das zu spät.
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Sie hätten sich darauf vorbereiten müssen, dass so etwas noch einmal passieren kann. Die Hilfen hätten stehen müssen; sie hätten in dem Moment, in dem eine Schließung notwendig wird, fließen müssen, funktionieren müssen.
Es gibt eine zweite klare Regel: Nach dem November kommt der Dezember. – Und im Dezember wissen die Unternehmen wieder nicht, was auf sie zukommt, weil die Hilfen, die Sie jetzt als Notfallhilfen für die Krise konzipiert haben, im November auch schon wieder auslaufen. Es ist unklar, wie die Überbrückungshilfen dann im Dezember überarbeitet werden sollen. Der Wirtschaftsminister sagt sogar: Im Januar wird dann irgendetwas überarbeitet.
Was den Unternehmerlohn für Soloselbstständige angeht, zu dem die Union zu Recht sagt, dass er notwendig ist, machen Sie jetzt irgendetwas, was so eine Art Unternehmerlohn für den November sein soll. Er läuft im Dezember aus, und dann stehen die Soloselbstständigen wieder vor der Situation, dass sie diesen Unternehmerlohn nicht haben, sie stehen dann wieder vor der Situation, in die Grundsicherung zu müssen. Meine Güte, bewegen Sie sich endlich einmal!
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Wir haben im Herbst vorgeschlagen, dass das kommen muss. Wie lange sollen die Unternehmen denn jetzt noch auf diese Hilfe von Ihnen warten?
Wir brauchen Verlässlichkeit, wir brauchen einfache Überbrückungshilfen – das Geld fließt nicht ab, weil es zu kompliziert ist –, wir brauchen eine echte Existenzsicherung für die Unternehmerinnen, und wir brauchen einen klaren, bundeseinheitlichen Stufenplan: Bei welcher Inzidenz passiert was? Es kann sein, dass wir noch einmal zu regionalen Lockdowns kommen; das kann niemand ausschließen. Dann müssen Sie Hilfen auf den Weg bringen, die auch funktionieren. Machen Sie endlich einen Plan, einen langfristigen Plan, nicht nur für die nächsten zwei Monate, nicht nur für die Zeit, die Sie gerade überblicken können!
Frau Kollegin.
Die Pandemie wird noch länger dauern, und wir brauchen Zuverlässigkeit und Planbarkeit. Dann werden die Unternehmen durch diese Krise kommen. Mit diesem Hin und Her von Ihnen funktioniert das nicht.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Carsten Müller das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Vorrednerin ist offensichtlich einem großen Irrtum unterlegen: Eine Pandemie ist nicht planbar. – Und deswegen ist das, was im Moment passiert, ziemlich genau richtig, nämlich abgestuft und angemessen zu reagieren.
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Das hat die Bundesregierung gemacht: Sie hat schnell und unkompliziert Hilfen zur Verfügung gestellt. 75 Prozent des Vorjahresumsatzes im November werden denjenigen erstattet, die vom jetzigen Lockdown betroffen sind. Das ist eine ganz einfach ausrechenbare, schnell zu leistende Hilfe, und sie ist angemessen. Sie kommt auch unmittelbar bei den betroffenen Unternehmen an, im Übrigen nicht nur bei den unmittelbar betroffenen – das war uns sehr wichtig, das haben wir hier mehrfach zum Gegenstand der Debatten gemacht –, sondern auch bei den mittelbar betroffenen, die ihren Umsatz zu 80 Prozent in den vom Lockdown betroffenen Branchen machen.
Wichtig ist, dass den Soloselbstständigen geholfen wird. Das haben wir heute hier und ebenso in den letzten Tagen mehrfach erörtert. Ich finde es richtig, dass insbesondere bei den Soloselbstständigen die Inanspruchnahme der Hilfe entweder durch Abstellen auf den Vorjahres-November oder auf einen vorjahresmonatlichen Mittelwert geschehen kann. Damit ist Kreativen, insbesondere Künstlerinnen und Künstlern, geholfen. Meine Damen und Herren, auch an solche Unternehmen, die im November 2019 noch nicht existierten, ist gedacht worden. Darauf wird entsprechend Bezug genommen.
Ein Thema ist angesprochen worden: KfW-Schnellkredite. Dort ist erheblich nachgebessert worden. Diese Schnellkredite stehen mittlerweile auch für Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten zur Verfügung. Höchstkreditsumme sind 300 000 Euro, und der Bund – das ist für eine schnelle und unkomplizierte Abwicklung über die Geschäftsbanken besonders wichtig – übernimmt das vollständige Haftungsrisiko.
Dass die Maßnahmen auf den Punkt treffen, stellt nicht nur die Unionsfraktion fest; das stellt im Übrigen auch der DEHOGA fest. Er wurde heute hier in einigen Beiträgen zitiert, und er bezeichnet diese schnelle Hilfe zutreffend als gerecht und konsequent, er begrüßt und unterstützt sie.
Trotzdem darf eines nicht vergessen werden – ich habe dazu schon vor einer Woche etwas ausgeführt –: Die Veranstaltungswirtschaft, die Schaustellerinnen und Schausteller, sind besonders von dem Lockdown betroffen. Diese Branche befindet sich nicht im zweiten Lockdown, sondern tatsächlich noch im ersten. Sie hatte in den Frühjahrs- und Sommermonaten keine Möglichkeit, sich von der Schließung, vom Lockdown Ende des ersten Quartals, Anfang des zweiten Quartals dieses Jahres zu erholen.
Gerade bei den Schaustellerinnen und Schaustellern ist die Lage außergewöhnlich unberechenbar. Sie können ihre Tätigkeit im November nicht aufnehmen. Die Weihnachtsmärkte – für viele eine Haupteinnahmequelle im gesamten Jahr – starten normalerweise im November. Es ist eben so: Keiner weiß, wie sich die Pandemie bis dahin entwickelt haben wird. Und: Ein Weihnachtsmarktgeschäft lässt sich nicht in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember anfahren und eröffnen. Deswegen wünsche ich mir, dass wir dieser hart getroffenen Gruppe weitere Hilfen zukommen lassen und ihnen entsprechende Hilfen auch für den Dezember zusagen.
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Meine Damen und Herren, die Überbrückungshilfe, die wir jetzt ausloben, bedarf insbesondere für die angesprochene Veranstaltungswirtschaft Nachbesserung in nach meinem Dafürhalten fünf wesentlichen Punkten. Ich will diese kurz aufzählen.
Erstens sind die Deckelung der monatlichen Fixkosten und die Fördergelder und zweitens die Kriterien, auf die sie angewendet werden müssen, zu nennen. Ich glaube schon, dass wir den Unternehmen, die in den Referenzmonaten ab März dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Umsatzeinbruch von 75, 80 Prozent haben, ganz besonders helfen müssen. Das geht meines Erachtens, wenn wir den beihilferechtlichen Rahmen sorgfältig sondieren.
Drittens. Im Übrigen müssen wir unabhängig von einer Mitarbeiteranzahlbegrenzung auf maximal 249 helfen. Ich hatte Ihnen in der vergangenen Woche dargestellt, dass wir gerade in der Veranstaltungsbranche viele international arbeitende Champions in unserem Land haben, die unglaublich beschäftigungsintensiv sind. Da sterben viele, wenn wir die Grenze von 249 nicht anheben. Wir sollten bei der Umsatzgröße bzw. einer Bilanzsumme von 150 Millionen Euro im Jahr ansetzen.
Viertens. Bei den zugrundegelegten Fixkosten müssen unbedingt sogenannte Vorhaltekosten mit berücksichtigt werden. Nur so bekommen es die kerngesund aufgestellten Unternehmen hin, über diese Krise hinwegzukommen.
Fünftens. Das Brückengeld für Unternehmerinnen und Unternehmer ist angesprochen worden. Es ist besonders vonnöten, weil die Veranstaltungsbranche besonders heterogen aufgestellt ist. Wir finden hier alles von Einzelunternehmerinnen und Einzelunternehmern bis hin zu einem Unternehmen mit über 1 000 Beschäftigten. Wir brauchen eine schnelle Umsetzung – ich will das ausdrücklich sagen –, und zwar noch in diesem Monat; ich habe die Nöte beschrieben.
Ich habe Zuversicht, dass die Bundesregierung diese Anregungen aufnimmt, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Yüksel das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Coronavirus zwingt uns dazu, Einschränkungen zu erlassen, die unserer freiheitlichen Gesinnung widerstreben. Wir reduzieren für eine befristete Zeit Kontakte, weil wir Verantwortung übernehmen müssen und wollen: Verantwortung dafür, dass wir die Kontrolle über die Ausbreitung des Virus wiedergewinnen, Verantwortung dafür, dass unser Gesundheitssystem nicht kollabiert, Verantwortung dafür also, dass alle Schwererkrankten die nötige intensivmedizinische Behandlung erhalten. Täten wir dies nicht, so wären die gesellschaftlichen Schäden und die wirtschaftlichen Kosten am Ende viel höher.
Einigen Wirtschaftsbereichen verlangt diese Verantwortung besonders viel ab, liebe Kolleginnen und Kollegen. So müssen sich gerade die Hotels und Gaststätten, die Reisebüros und Reiseveranstalter, die Künstlerinnen und Künstler, die Schaustellerinnen und Schausteller weiterhin auf einen starken Staat verlassen können.
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Es ist nur gerecht, dass wir den Menschen in diesen Branchen schnell und unbürokratisch helfen. Mit umfangreichen Wirtschaftshilfen haben wir genau dies seit Krisenbeginn getan.
Zu Beginn der Pandemie wirkten die Soforthilfen schnell und unmittelbar. Direkt im Anschluss unterstützten die Überbrückungshilfen. Diese Überbrückungshilfen haben wir zuletzt verbessert und bis zum Jahresende verlängert. Wir zahlen jetzt zusätzlich 10 Milliarden Euro an außerordentlichen Wirtschaftshilfen, um die Folgen der aktuellen Schließungen abzumildern; meine Kollegin Sabine Poschmann ist eben kurz darauf eingegangen.
Wir helfen auch in Zukunft. Aktuell arbeitet die Bundesregierung daran, die Überbrückungshilfen bis Juni 2021 zu verlängern und anzupassen. Damit wird die gleichlautende Forderung des Linkenantrages schon erfüllt.
Bereits umgesetzt sind auch andere Vorschläge des Antrages. So haben wir die Zuschussdeckelung für kleine und mittelständische Unternehmen abgeschafft und die Personalkostenpauschale auf 20 Prozent erhöht. Die SPD hat die staatlichen Hilfen entscheidend mitgeprägt und auf die erwähnten Verbesserungen gedrängt. Dazu war ich genau wie meine Kolleginnen und Kollegen aus der Tourismus-AG mit zahlreichen Betroffenen im Gespräch. Zusammen haben wir dafür gesorgt, dass gerade die Lage der Tourismusbranche angemessen berücksichtigt wird. Wichtig war und ist uns, dass all diese Hilfen einfach und schnell bei den Betroffenen ankommen.
Sehr geehrte Damen und Herren, zum Schutz unserer Familien und Mitmenschen müssen und sollten wir Verantwortung übernehmen. Mit den vielfältigen Wirtschaftshilfen verteilen wir die Last dieser Verantwortung auf viele Schultern. Gemeinsam können wir es stemmen. Lassen Sie uns also daran arbeiten.
Herzlichen Dank. Schönes Wochenende! Bleiben Sie gesund!
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Ich schließe die Aussprache.