Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/5/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wow, Donnerstag, 9 Uhr: Parlaments-Primetime. ({0}) Wir diskutieren heute den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“. Ich muss sagen: Der Zeitpunkt ist genau richtig und angemessen; denn KI-Systeme prägen bereits heute einige Lebensbereiche und einige Wirtschaftsbereiche sehr stark. Es ist davon auszugehen, dass sie Einfluss auf alle Lebensbereiche nehmen werden. Diese Erkenntnis ist bei mir und unseren Mitgliedern der Enquete-Kommission während der zwei Jahre Arbeit gewachsen. Es war richtig, diese Enquete-Kommission einzusetzen. Es war mir persönlich eine große Ehre, sie zu leiten. Ich hatte es mit 18 selbstbewussten, wissbegierigen und meinungsstarken Mitgliedern des Bundestages zu tun und mit 19 extrem sachverständigen externen Sachverständigen. Wir haben uns verschiedene Lebensbereiche in Bezug auf künstliche Intelligenz angesehen und sind zum Teil zu sehr konkreten und sehr spezifischen Handlungsempfehlungen gekommen. Ja, man kann und man muss einige allgemeine Feststellungen zum Thema „künstliche Intelligenz“ treffen, aber wirklich spannend wird es, wenn man sich die ganz konkreten Auswirkungen und Handlungsoptionen anschaut. Auch das haben wir gelernt. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Fachausschüssen: Schauen Sie sich die Unterrichtung genau an. Der Bericht hat auch nur 800 Seiten. Ganz im Ernst, liebe Gesundheitspolitikerinnen und ‑politiker: Schauen Sie sich den Bericht an. Wir haben dort extrem konsensual für den Bereich Gesundheit die Chancen von KI-Systemen beschrieben. Wir machen ganz konkrete Vorschläge, wie man zu mehr Gesundheitsdaten kommen kann und wie man mit Pandemien mithilfe von KI-Systemen besser umgehen kann. Das könnte doch von Interesse sein. ({1}) Liebe Wirtschaftspolitiker und Wirtschaftspolitikerinnen, für euch ist dieser Bericht Pflichtlektüre. Wenn wir wirklich wollen, dass es eine KI „made in Germany“ gibt, müsst ihr noch viel stärker loslegen. Und Gleiches gilt für die Forschungs- und Bildungspolitikerinnen und ‑politiker. Wir haben sehr konkret beschrieben, dass und wie wir uns noch mehr Forschungs- und Bildungsanstrengungen in diesem Bereich erhoffen. Ich schätze, die Digitalpolitiker und Digitalpolitikerinnen haben den Bericht schon gelesen. Oder etwa noch nicht? Ich will meinen Blick auch mal in Richtung Arbeitsmarktpolitikerinnen und Arbeitsmarktpolitiker richten. Das ist nämlich der Punkt, bei dem sich die meisten Menschen in Bezug auf KI-Systeme wirklich Sorgen machen: Was für Auswirkungen hat KI auf meinen ganz persönlichen, ganz konkreten Arbeitsplatz? Und hier macht der Bericht sehr konkrete Vorschläge, insbesondere auch zur Forschung im Arbeitsmarkt und dazu, wie wir durch eine Verbesserung der Mitbestimmung aktiv werden können. Auch den Verkehrspolitikerinnen und ‑politikern – Stichwort: autonomes Fahren –, den Kulturpolitikerinnen und ‑politikern – Stichwort: soziale Medien –, den Europapolitikerinnen und ‑politikern – Stichwort: Kartellrecht und Regulierung – und natürlich den Haushaltspolitikerinnen und ‑politikern und dem ganzen Rest des Hauses möchte ich eine ganz, ganz starke Leseempfehlung für diesen wunderbaren Bericht geben. Wir wollen, dass sich eine KI durchsetzt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Und wenn das passieren soll, dann brauchen wir KI-Systeme, die etwas Sinnvolles, Sinnstiftendes tun, vielleicht reale Probleme lösen, die das gut machen und denen man vertrauen kann. Wenn wir solche KI-Systeme haben, dann kann das auch ein Unique Selling Point und eine wirkliche Wirtschaftsoption sein. ({2}) Mit welchem positiven Commitment die Leute darangegangen sind, kann man auch daran erkennen, finde ich, dass sieben Enquete-Mitglieder während dieser Zeit beschlossen haben, Kinder in die Welt zu setzen. Allein fünf weibliche MdBs haben sich entschieden: Wir probieren das mal mit der Vereinbarkeit von Mandat und Familie. Auch wenn ich nicht glaube, dass KI-Systeme da absehbar helfen werden, aber es zeigt den positiven Blick. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle Ronja Kemmer herzlich grüßen, Obfrau der Union, die gerade in den Mutterschutz gegangen ist, und bedanke mich für die Zusammenarbeit. ({4}) Ebenso bedanke ich mich bei meinem Stellvertreter, Stefan Sauer, bei meinem Obmann, René Röspel, und ganz, ganz besonders bei den externen Sachverständigen, die uns bereichert haben. ({5}) Mein letzter Dank gilt mit Blick auf die Besuchertribüne unserem wundervollen Sekretariat. Ohne die wäre das nicht so gut geworden. ({6}) Ich sage ganz klar: Dieser Bericht ist gut geworden. Deswegen: Die Arbeit fängt heute erst an. Wir übergeben den Bericht heute an den Bundestag mit einem guten Gefühl, aber auch mit der klaren Erwartung: Lesen Sie den Bericht! Und lassen Sie ihn uns gemeinsam umsetzen, und zwar zügig! Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD. ({0})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen! Unsere Notebooks kommen von amerikanischen Firmen, das Internet durchsuchen wir mit Google, Onlineshopping erledigen wir über Amazon, unsere politischen Diskussionen führen wir zunehmend auf Social-Media-Plattformen amerikanischer Anbieter, und übertragen werden all diese Daten in chinesischen Netzwerken. Das war die Ausgangslage vor zwei Jahren, und das ist auch heute, am Ende der Arbeit unserer Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, die Ausgangslage. Liebe Kollegen, Europa hat ein Problem, ein Souveränitätsproblem. Im digitalen Zeitalter vollständig von außereuropäischen Tech-Giganten abhängig zu sein, ist eine Katastrophe. ({0}) In der Enquete-Kommission haben wir uns zwei Jahre sehr intensiv mit den Chancen, aber auch den Risiken künstlicher Intelligenz beschäftigt. Von all den Chancen, die wir in der Kommission gesehen haben, wird aber nicht viel übrig bleiben, liebe Kollegen, wenn es uns Europäern nicht gelingt, den Status einer digitalen Kolonie abzustreifen. ({1}) Die AfD hat in der Kommission vier inhaltliche Schwerpunkte eingebracht: Erstens: digitale Souveränität und Sicherheit als Grundvoraussetzung des Einsatzes vertrauenswürdiger digitaler Technologien. Wir meinen, dass eine wertebasierte, menschenzentrierte europäische KI, wie sie von uns im Bericht wörtlich gefordert wird, nur mit eigener konkurrenzfähiger Hardware und eigener Software funktionieren kann. Eigene Netzwerkinfrastrukturen sind für einen eigenen europäischen Weg ebenfalls erforderlich. Zweitens: die bedingungslose Garantie der Bürgerrechte und der Meinungsfreiheit als Grundpfeiler unserer Demokratie. Die Meinungsfreiheit und der Austausch konträrer Standpunkte im Internet werden bedroht: bedroht durch KI-Verfahren, die unerwünschte Äußerungen unterdrücken; bedroht, wenn unliebsame Autoren von der Mitwirkung an der gesellschaftlichen Debatte ausgeschlossen werden – ausgeschlossen durch Algorithmen, ausgeschlossen durch lernende Systeme. Wie stark und mächtig die großen Konzerne sind, haben wir alle gestern gesehen, als Twitter den amtierenden US-Präsidenten zeitweise blockierte, und zwar am Wahltag. ({2}) Solch eine gefährliche Waffe, solch ein giftiges Instrument gegen die Meinungsfreiheit wollen wir nicht in den Händen ausländischer Konzerne, ({3}) und wir wollen sie auch nicht in den Händen dieser Regierung wissen, meine Damen und Herren. Drittens. Deutsche Wissenschaftler, unsere Techniker, unsere Ingenieure sind der einzige Rohstoff, den unser Land fördern kann. Bildung ist deshalb für eine zukunftsfähige KI unabdingbar. ({4}) Viertens. Der deutsche Mittelstand erwirtschaftet den Wohlstand für unser Volk. Es ist der deutsche Mittelstand! Er muss effektiv vor den großen internationalen Tech-Konzernen geschützt werden. Er muss fit gemacht werden für den Einsatz und für die Nutzung von KI. Wir haben letztendlich dem Abschlussbericht der Kommission zugestimmt; wir haben mehrere Zusatzvoten angefügt. Der Bericht ist aber nur der kleinste gemeinsame Nenner aller Fraktionen. Er ist eine Basis, ein erster Schritt auf einem langen Weg. Jetzt gilt es, das auch wirklich umzusetzen und voranzubringen. Lassen Sie mich am Ende dem Sekretariat danken, das wirklich eine zuverlässige, hervorragende Arbeit geleistet hat. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine aktuelle Studie zeigt: Die Menschen in Deutschland sehen Anwendungen der künstlichen Intelligenz heute sehr viel positiver als zu dem Zeitpunkt, als wir die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ vor zwei Jahren ins Leben gerufen haben. Damals hat etwa die Hälfte der Befragten gesagt, sie seien optimistisch, und etwa die andere Hälfte war sehr skeptisch. Heute ist es so, dass zwei von drei Befragten sagen: Wir wollen die Chancen von künstlicher Intelligenz nutzen: für uns, für bessere Mobilität, für bessere Gesundheit, in der Verwaltung, in den Behörden, in vielen anderen Bereichen. Das ist eine gute Entwicklung. Es wäre jetzt wahrscheinlich vermessen, zu sagen: Nur die Enquete-Kommission ist daran „schuld“, dass das Bild von künstlicher Intelligenz heute positiver ist als vor zwei Jahren. Aber ich glaube schon, dass die Auseinandersetzung im Parlament, im Herzen der Demokratie, mit der Technologie künstlicher Intelligenz und ihren Auswirkungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Ökologie einen ganz maßgeblichen Punkt in der Debatte darstellt, ob die Menschen in Deutschland die Technologie als Chance oder als Bedrohung empfinden. ({0}) Deshalb will ich mich bei all denjenigen ganz herzlich bedanken, die in den letzten zwei Jahren diese Arbeit geleistet haben: 38 Mitglieder hatte die Enquete-Kommission, zur Hälfte Abgeordnete, zur Hälfte Sachverständige. Dieses spezielle Format der Enquete-Kommission ist eben ganz besonders geeignet, politische Diskussionen zu führen und sie breit anzulegen: mit politischen Aspekten, mit ethischen Aspekten, mit wirtschaftlichen Aspekten. Wir haben damals, als wir die Kommission zusammengesetzt haben, sehr gut darauf geachtet, dass die Sachverständigen dieses breite Themenspektrum auch abdecken. Ganz besonders will ich den Sachverständigen danken; denn das waren viele, viele Stunden harter Arbeit: für die Demokratie, für die demokratische Debatte. Das haben sie alle nebenher gemacht, neben ihrer eigenen Tätigkeit als Professoren, als Forscher, als Start-up-Gründerinnen, als Theologen, als Professorinnen, in Universitäten und Stiftungen. Sie alle haben dazu beigetragen, dass dieses Bild der künstlichen Intelligenz heute positiver, realitätsnäher und konstruktiver ist als vor zwei Jahren. Ein herzliches Dankeschön an diese Sachverständigen für die Power, die sie eingebracht haben! ({1}) Ein herzliches Dankeschön natürlich auch an die Kolleginnen und Kollegen; denn auch sie haben das neben ihrer tagtäglichen parlamentarischen Arbeit gemacht. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, sich wirklich zurückzunehmen, Sachen grundsätzlich zu betrachten, sich Zeit zu nehmen, Themen wirklich zu durchdringen – und das über zwei Jahre hinweg in sehr intensiven Debatten. Ein herzliches Dankeschön an alle MdB, die das in den letzten zwei Jahren geleistet haben! ({2}) Besonders will ich mich natürlich bei unserer Obfrau Ronja Kemmer bedanken, die wirklich Großartiges geleistet hat und mittlerweile von unserem Fraktionsvorsitzenden zur KI-Beauftragten der Unionsfraktion ernannt worden ist: ein deutliches Zeichen, dass für unsere Fraktion die Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz nicht am heutigen Tag beendet ist, sondern dass wir das zum Schwerpunkt unserer Fraktionsarbeit, unserer Zukunftsarbeit und unserer Innovationsarbeit für die nächsten Jahre machen werden. ({3}) Ein herzlicher Dank geht natürlich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Ausschusssekretariat ist erwähnt worden; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Fraktionen haben ebenfalls Enormes geleistet: 800 Seiten Text stehen da, ein Fundus von guten Vorschlägen, von differenzierter Auseinandersetzung mit diesem Thema. Daran haben eben auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen riesigen Anteil – für uns Julia Dunker –: Ein herzliches Dankeschön! ({4}) Uns als Unionsfraktion ist wichtig – das spiegelt sich im Abschlussbericht und auch in den Sondervoten wider, wo durchaus auch Unterschiede in der Analyse deutlich geworden sind –, dass wir einen chancenorientierten Ansatz wollen. Die Europäische Union macht den Vorschlag eines Ökosystems der Exzellenz und eines Ökosystems des Vertrauens. Wir sagen: Wir wollen auch ein Ökosystem der Agilität. Wir wollen Experimentierräume schaffen. Wir wollen, dass wir eine innovationsoffene Datenpolitik machen: weg von Datensparsamkeit hin zu Datensorgfalt, mit Datenpools, mit Datentreuhändern, die es überhaupt ermöglichen, den Fundus zu legen, um KI aufzubauen, um KI-Systeme zu nutzen. Wir wollen einen innovationsoffenen Umgang mit Daten, der die Persönlichkeitsrechte der Menschen schützt, aber gleichzeitig unserem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnis nach Nutzung von künstlicher Intelligenz gerecht wird. Das ist ein innovationsoffener Ansatz. Dafür haben wir auch in unserem Sondervotum plädiert. ({5}) Und wir plädieren für eine Regulierung, die nicht ganz klein nach Risikoklassen differenziert, sondern die den konkreten Anwendungskontext in den Mittelpunkt stellt. Nicht jede KI ist gleich. Es kommt sehr darauf an, wo sie eingesetzt wird. Und deshalb müssen wir KI auch so regulieren, dass wir die Chancen nutzen können, dass wir je nach Anwendungskontext die Risiken minimieren. Das ist unser Vorschlag, auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission, und danach wollen wir die deutsche, aber eben auch die europäische Politik gestalten. ({6}) Lassen Sie uns die Chance von künstlicher Intelligenz in den unterschiedlichsten Bereichen nutzen: beim Thema Nachhaltigkeit, beim Thema Ökologie, bei gesellschaftlichen Themen, wirtschaftlichen Themen. Wir haben die Chance, KI „made in Europe“ zum Alleinstellungsmerkmal Europas werden zu lassen, zur echten Chance wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art. Die 800 Seiten der Enquete-Kommission sind eine gute Grundlage. Herzlichen Dank für die tolle Arbeit der letzten zwei Jahre. Wir werden sie als Fundus für künftige Politikgestaltung betrachten. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mario Brandenburg, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte künstliche Intelligenzen da draußen! Auch die FDP-Fraktion ist froh, dass der Abschlussbericht nun endlich das Licht des Parlaments bzw. der Welt erblickt hat. Wir haben gemeinsam zwei Jahre in vielen Sitzungen verbracht. Das hat auch nicht immer nur Spaß gemacht. Nur, mit Verweis auf eine Wahl, die aktuell woanders stattfindet: Der Kompromiss und der Konsens, das ist in einer Demokratie eben auch ein Wert an sich. ({0}) Der Ball liegt jetzt bei Ihnen. Liebe Große Koalition, liebe Regierung, lesen Sie sich die über 230 Vorschläge durch, beginnen Sie, diese umzusetzen! Ende nächsten Jahres übernehmen dann wir in einem Digitalministerium, und dann läuft das Ding. ({1}) Lassen Sie uns zu den Inhalten kommen. Natürlich trägt die FDP-Fraktion diesen Bericht mit. Da stehen viele gute Punkte drin. Wir haben uns gerade im Wirtschaftsteil für mehr Beinfreiheit und für eine bessere Finanzierung unserer Start-ups eingesetzt, für Forschungsfreiheit durch sogenannte regulatorische Freiräume. Da steht viel Richtiges. Aber auch im gesellschaftspolitischen Teil – PG „Gesundheit“, ein wirklich toller Bericht – und im Teil „Mobilität“ steht viel Gutes drin. Insofern gibt es an dieser Stelle von uns breite Zustimmung. Wir können aber eben auch nicht verhehlen, dass wir uns an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr gewünscht hätten: ein Mehr an Zukunftsoptimismus, ein bisschen mehr Technologieneutralität. Es gab immer wieder den Versuch, bestimmte gesellschaftliche Probleme oder politische Wünsche auf eine Technologie outzusourcen. Das mag politisch verständlich sein, ist aber technisch, fachlich falsch; denn bei allem Zauber, der der KI in Hollywood und in manchen Medienberichten innewohnt: Wir sprechen immer noch über ein Werkzeug, und das kann nicht die Probleme, die wir als Menschheit über Tausende von Jahren aufgebaut haben, auf einmal für uns lösen. Da braucht es mehr Rationalität, und das war uns auch immer wichtig. ({2}) Wir haben das Mittel der Sondervoten mit Bedacht eingesetzt; denn wir glauben: Es macht einfach keinen Sinn, zwei Jahre lang gemeinsam einen Kompromiss zu suchen und dann eine Abhandlung zu schreiben, wie wir alles viel besser gemacht hätten. – Wir haben es deswegen nur an den Stellen genutzt, wo es uns auf der Metaebene einfach nicht gefallen oder wirklich unseren Ansichten widersprochen hat. Ich möchte als Beispiel die Diskussion um die sogenannte Ex-ante-Regulierung, also Regulierung im vorauseilenden Gehorsam, ansprechen. Zum einen ist die KI in Deutschland in der Breite noch nicht in dem Ausmaß angekommen, dass die Bürgerinnen und Bürger sich selbst ein Urteil bilden können – und nur durch Nutzung entsteht letzten Endes Mündigkeit –; zum anderen sind wir in vielen Bereichen eben auch nicht führend. Das ist ein bisschen so, als wenn Sie im Wettrennen Letzter sind, aber für die anderen ein Tempolimit fordern. Das kann nicht das Ziel von Deutschland sein, und das ist nicht die Haltung der Freien Demokraten. ({3}) Zum Schluss. Wenn man im Leben vorwärtskommen will, soll man sich ja auch immer selbst hinterfragen. Was hätte ich persönlich anders gemacht, wenn ich noch mal die Chance hätte, von Beginn an mitzumachen? Ich glaube, wir haben beim Einsetzungsbeschluss eine Chance im Prinzip fallen gelassen. Dieser Bericht ist designt auf die Innenwirkung, als Handreichung für das Parlament. Wir haben zwei Jahre lang über Hightech diskutiert, haben letzten Endes 800 Seiten Lowtech, nämlich Papier, produziert. Wäre ich eine KI, könnte ich es nicht mal lesen. ({4}) Insofern hätten wir uns im Sinne der Wissenschaftskommunikation mehr anstrengen müssen. Mehr Beteiligung wäre gut gewesen. ({5}) Liebe Regierung, lesen Sie es, nehmen Sie es auf! Wenn ich noch mal eine solche Kommission einsetzen dürfte, würde ich darauf achten, die externe Wirkung zu erhöhen, und darauf, dass die Darbietungsform eine aktuellere ist. Die letzten zehn Sekunden meiner Redezeit möchte ich dafür nutzen, den Menschen, die im Hintergrund gewirkt haben, in unserem Namen zu danken. Das Sekretariat wurde genannt: Super Arbeit! Danke auch an alle Sachverständigen! Ich würde mir ganz oft wünschen – ich habe es an anderer Stelle schon gesagt –, bei bestimmten Diskussionen auch 50 Prozent der Beteiligten gegen entsprechende Experten austauschen zu dürfen. Das macht vieles leichter. Uns viel Spaß mit der KI, und der KI viel Spaß mit uns! Danke schön. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Petra Sitte, Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Künstliche Intelligenz oder – besser – maschinelles Lernen ist in der Tat eine epochale Technologie; insofern ist es allemal gerechtfertigt, dass der Bundestag eine Enquete-Kommission eingesetzt hat. Für die Zuhörer will ich vielleicht noch Folgendes vorher sagen: Von künstlicher Intelligenz wird gesprochen, wenn Computer Probleme lösen, die bisher nur menschliche Intelligenz bewältigen konnte. Dafür werden diese mit Algorithmen, also Handlungsvorschriften, programmiert, und je mehr sie dann trainieren, je mehr Erfahrungen bzw. Daten sie sammeln und auswerten, desto genauer werden die Ergebnisse – denkt man. Aber: Menschen irren aus vielen Gründen, Menschen verfolgen Interessen, insbesondere auch, wenn sie KI programmieren und einsetzen. Liefern nun Programmierer fehlerhafte Algorithmen oder liegen einseitige Basisdaten zugrunde, dann irren künstliche Intelligenzen zwar immer noch nicht, aber das, was rauskommt, erscheint uns als höchst fragwürdig, und demzufolge gibt es dann ein Akzeptanzproblem. Wenn wir unser künftiges Entscheiden und Handeln nachhaltig von KI beeinflussen lassen, dann ist es notwendig, dass wir unsere Souveränität erhalten, insbesondere indem wir uns auch den Zugriff auf Algorithmen erhalten. ({0}) Das heißt, wir wollen, dass KI-Systeme auch gesellschaftlich und politisch kontrolliert werden können. Kurzum: Da künstliche Intelligenz, wie schon angedeutet, positive und negative Erwartungen auslöst, muss eine interessierte Öffentlichkeit, wie eben gesagt, möglichst früh an solchen Diskussionen beteiligt werden und an den Schlussfolgerungen zu KI-Systemen teilhaben. Die Mehrheiten der Kommission haben das aber tapfer verschleppt, mindestens über anderthalb Jahre. Öffentlichkeit wurde erst zugelassen, als Ergebnisse vorlagen, und das, meine Damen und Herren, darf einer Enquete-Kommission des Bundestages nie wieder passieren. ({1}) Was war uns Linken besonders wichtig? Erstens: eine Balance zwischen Gemeinwohlorientierung und ökonomischen Interessen. Unbestritten war, dass KI gesellschaftsverändernden Charakter hat; auch deshalb muss Öffentlichkeit möglichst früh beteiligt werden. Leider war diese Gemeinwohlorientierung – als Gewinn oder eben auch Gefährdung des Wohls der Allgemeinheit oder einzelner Menschen – in der Kommission bei Gott kein Selbstläufer. Immer wieder mussten wir darauf drängen. Die Mehrheiten folgten schließlich dann doch einer Standortlogik; immerhin ist KI ein Milliardenmarkt. Daher, meine Damen und Herren, werden sich die Konflikte, die wir schon vor der Digitalisierung und vor KI hatten, nicht einfach durch KI lösen, sondern sie werden sich erneut vertiefen, und das betrachten wir als vertane Chance. ({2}) Zweitens. Zwar mag es die eine oder andere KI-Anwendung „made in Germany“ geben, keinesfalls aber werden KI-Einzellösungen gegen die Machtkonzentration in der Datenökonomie konkurrieren können. Zugespitzt will ich hier mal fragen: Wollen wir eine KI nach chinesischen Vorstellungen, eine hochentwickelte Technologie, die in ungekanntem Ausmaß über Menschen Daten sammelt, jede Facette des öffentlichen und Arbeitslebens unter politischer Totalüberwachung? Oder wollen wir vielleicht eine KI nach US-Vorbild, eine hochentwickelte Technologie, die in ungekanntem Ausmaß Daten über Menschen sammelt, jede Facette privaten und öffentlichen Lebens in der ökonomischen Totalverwertung und Überwachung von Beschäftigten? Wir Linke haben da eine andere Vorstellung. Es muss ein europäischer Weg der Kooperation, aber auch der Regulierung dieses intransparenten, oligopolen Plattformmarktes eingeschlagen werden, und zwar hier und heute mit mutigen, konsequenten und schnellen Entscheidungen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. ({3}) Drittens. KI soll einen Beitrag zur sozioökonomischen und sozioökologischen Umwälzung leisten und den Klimawandel quasi als zivilisatorische Herausforderung berücksichtigen. Auch hier ist die Kommission unter den Erfordernissen und ihren Möglichkeiten geblieben. Soziale Spaltung, national oder global, soziale Kontexte dürfen bei KI-Anwendungen nie ausgeblendet werden, sonst bewirkt die Logik bisherigen Wirtschaftens, also die ungebremste Wachstumsideologie, dass sich Ungerechtigkeiten an Macht und an Wohlstand weiter vertiefen. Insofern kann es natürlich niemanden überraschen, dass in den Projektgruppen „Arbeit“ und „Wirtschaft“ das Konfliktpotenzial besonders groß war. Viertens. Verbindliche ethische Standards für KI-Systeme sind dringend notwendig. Die Nutzungsszenarien können individuelle Rechte schützen; aber sie können sie eben auch beschneiden. Ungleichheiten können sich vertiefen. Für hochsensible Bereiche, wie beispielsweise das Gesundheitswesen, die Finanzwelt, staatliche und soziale Institutionen, sind bereits Risikoklassemodelle entwickelt worden. Wir müssen hier anfangen, uns politisch zu entscheiden. Wir sagen: Je höher die Risiken sind, desto konsequenter muss auch im Sinne der Menschen reguliert werden. – Das hätte die Kommission intensiver bearbeiten müssen. ({4}) Besonders deutlich zeigt das die Empfehlung zum Einsatz von KI bei Waffensystemen. Man hat hier einen viel zu schwammigen Begriff aufgenommen, der zwar in der internationalen Aushandlung üblich ist, nämlich den Begriff „Ächtung“, aber wir als Linke sagen: Hier und heute ist es notwendig, von der Bundesregierung ein sofortiges Verbot solcher Waffensysteme klar zu fordern und das zum Ausgangspunkt von Verhandlungen zu machen. Wir wollen keine autonomen Terminator-Systeme. ({5}) Meine Damen und Herren, jetzt werden die Weichen gestellt. Die Linke wird sich daher beim Einsatz von KI-Systemen für Transparenz, Diskriminierungs- und Barrierefreiheit, hohe soziale und ethische Standards, für gestärkte soziale Sicherungssysteme und schließlich natürlich für die konsequente Einhaltung von Grund- und Menschenrechten einsetzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns mitten in den großen Krisen des 21. Jahrhunderts; die Wälder brennen längst nicht mehr nur in Kalifornien oder Australien, sie brennen auch hier bei uns. Ein Hitzesommer jagt den nächsten. Zudem stecken wir in einer Pandemie, obwohl wir doch gedacht hätten: Ein Hochtechnologieland wie uns kann das doch gar nicht mehr erwischen. – Anders ist es gekommen. Corona hat auch uns fest im Griff. Diese Krisen des 21. Jahrhunderts müssen wir auch mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts bekämpfen. Dazu gehört die Nutzung von künstlicher Intelligenz. Wir müssen diese zum Wohl von Mensch und Umwelt einsetzen, und dafür stehen wir als Grüne. ({0}) Es gilt: KI für Klimaschutz und KI gegen Corona. Wir Grüne haben uns daher dafür eingesetzt, dass es dazu eigene Kapitel in dem vorliegenden Bericht gibt. So ist es auch gekommen, und das ist gut so; denn künstliche Intelligenz kann Windkraft produktiver machen, und vernetzte Mobilität kann Emissionen senken. ({1}) KI ist aber auch selbst energiehungrig. Das heißt, wir müssen auch dafür sorgen, dass Rechenzentren effizient laufen und mit grünem Strom versorgt werden. ({2}) Im Gesundheitsbereich kann KI beispielsweise erkennen, ob jemand an Covid-19 erkrankt ist. Wie geht das? KI kann am Geräusch des Hustens den Unterschied erkennen, ob es Coronahusten ist oder nicht. Hierin stecken enorme Chancen für neue Teststrategien. Auch in der Modellierung der Pandemie, die uns bei der Entwicklung der richtigen Strategien zu ihrer Überwindung hilft, liegen enorme Chancen, die wir jetzt nutzen müssen. In der Onlinebeteiligung, die leider tatsächlich viel zu spät kam, wurde auch deutlich: Gerade im Medizinbereich sehen die Menschen positive Effekte von KI. Dafür brauchen wir dann aber entsprechende Datenpools, die im Gesundheitskapitel auch sehr genau beschrieben werden. Unsere europäischen Standards für Datenschutz und Grundrechte bieten hier eine Chance, vertrauenswürdige und transparente KI-Lösungen gegen Corona und im Medizinbereich allgemein zu schaffen. ({3}) Bei all den Chancen müssen wir natürlich auch sicherstellen, dass KI nicht selbst zu Krisen beiträgt. Die aktuelle Lage in den USA zeigt uns, wie fragil Demokratie sein kann. Soziale Medien spielen dabei eine enorme Rolle. KI kann dafür sorgen, welche Information oder auch welche Desinformation wer wie zu sehen bekommt. Hier braucht es klare Regeln, und die haben wir auch in einem Sondervotum als Grüne eingefordert. ({4}) Damit wir aber über all diese Dinge entscheiden können – Chancen nutzen, Risiken minimieren –, brauchen wir die Expertise in Europa. Wir brauchen die klugen Köpfe, die KI bei uns entwickeln und uns ermöglichen, mitzuentscheiden, statt nur auf der Zuschauerbank zu sitzen. Deswegen war uns besonders wichtig, dass dieser Bericht auch einen europäischen Geist atmet. Hier sind wir weiter als die national ausgerichtete KI-Strategie der Bundesregierung, und ich hoffe, dass sich die Bundesregierung an diesem europäischen Geist einer „künstlichen Intelligenz made in Europe“, der uns als Grünen besonders wichtig ist, orientieren wird. ({5}) Damit komme ich hier zum Schluss, insgesamt ist es aber natürlich der Anfang: Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Auch ich möchte natürlich allen Beteiligten für die gute Zusammenarbeit danken und freue mich, diese Schritte jetzt hoffentlich auch gehen zu können. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPD. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tatsächlich: Künstliche Intelligenz birgt große Potenziale und hat die Chance, das Leben von Menschen und Gesellschaften besser zu machen – wenn wir es richtig begleiten und anfassen, denke ich. Wir haben gerade schon gehört: Die Chancen im Bereich von Gesundheit und Medizin sind groß, Medizinerinnen und Mediziner durch künstliche Intelligenz bei besseren Diagnosen und besseren Therapien zu unterstützen, Therapien durchzusetzen und das Leben besser zu machen. Wir haben mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz die Möglichkeiten, effizienter und schonender mit Ressourcen und Energie umzugehen. Aber es kann eben auch genau andersherum laufen, wenn wir die Entwicklung von künstlicher Intelligenz – das ist unsere Auffassung als SPD – nicht begleiten und wenn wir nicht an den richtigen Stellen auch Regulationsmechanismen einbauen. Wenn ich auf der Straße oder in Veranstaltungen mit Menschen rede, die sich vielleicht mit dem Thema nicht intensiv befasst haben, äußern diese auf die Frage „Was haben Sie für einen Eindruck von künstlicher Intelligenz? Was wird passieren?“ eigentlich zuerst die Befürchtung und die Sorge: Wird eine Maschine mal einen Arbeitsplatz übernehmen? Die zweite Befürchtung ist in der Regel: Wird ein Algorithmus künftig über mich entscheiden? Tatsächlich wissen wir relativ wenig darüber, wie viele Arbeitsplätze, wie viele Tätigkeiten sich verändern, wie viele wegfallen und wie viele neu entstehen werden. Wir brauchen dazu definitiv mehr Forschung. Ich bin froh, dass sich das Bundesarbeitsministerium schon auf den Weg gemacht hat, um mit der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft genau in diesen Bereich hineinzuschauen. ({0}) Aber es geht ja auch nicht nur darum, zu identifizieren, ob 10 Gabelstaplerfahrer in einem Unternehmen künftig möglicherweise durch Roboter ersetzt und an anderer Stelle 20 neue Arbeitsplätze entstehen werden. Es geht nicht ums Saldieren, sondern am Ende ist uns als Sozialdemokratie wichtig, was mit den 10 Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, passiert. Die wichtigsten Punkte dabei sind Qualifizierung und Begleitung. Wir wollen diese Menschen nicht alleinlassen, sondern sie darin unterstützen, diesen technologischen, diesen digitalen Wandel auch gut überstehen zu können. Das setzt an vielen Punkten an. Wir sind sehr überzeugt davon, dass die Betriebe, gerade die Mittelständler, im Umgang mit künstlicher Intelligenz unterstützt werden müssen. Aber wir glauben auch, dass Vertrauen nur durch Teilhabe geschaffen werden kann. Das bedeutet, dass wir betriebliche Mitbestimmung ausbauen und stärken wollen. Mitbestimmung der Arbeitnehmer in diesem Bereich der künstlichen Intelligenz ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass künstliche Intelligenz in Deutschland arbeits- und sozialverträglich eingeführt werden kann. ({1}) Auf die Frage „Wird eine Maschine, ein Algorithmus über mich entscheiden?“ haben wir als SPD eine deutliche Antwort: Nein, für uns steht der Mensch im Mittelpunkt und nicht Markt oder Staat. – Wir sind deswegen der Auffassung, dass es an wichtigen Stellen – unter dem Stichwort „Vorsorgeprinzip“ übrigens – ein abgestuftes Risikomanagement, eine Einschätzung von Risiken geben muss und eben auch da, wo es sinnvoll ist, Regulationsmechanismen; das, glaube ich, ist der einzige Weg, dass künstliche Intelligenz eine positive Wirkung in Deutschland und Europa entfalten darf. Zum Schluss darf ich mich ganz herzlich bei unseren Sachverständigen Lena-Sophie Müller, Jan Kuhlen, Sami Haddadin und Lothar Schröder bedanken. Wir haben richtig viel gelernt, toll diskutiert. Ich hoffe, dass sie uns auf dem Weg der Umsetzung von KI zu einer menschengerechten, sozialverträglichen Technologie in Deutschland weiter unterstützen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Marc Jongen, AfD. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KI, künstliche Intelligenz, lässt Autos autonom fahren, spielt Schach und schlägt jeden Großmeister, übersetzt Texte, erkennt Sprache und Gesichter, entwickelt Therapien für Kranke und steuert ganze industrielle Fertigungsanlagen. KI ist der wesentliche Treiber der digitalen Revolution, die die gesamte menschliche Zivilisation erfasst hat und in hohem Tempo umgestaltet. Man könnte auch sagen: KI ist das Schicksal. Und wie schon Seneca wusste: Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen treibt es. Darum, meine Damen und Herren, ist es eminent wichtig, dass wir in Deutschland und Europa auf den Kamm der immer höher ansteigenden KI-Welle gelangen und uns wenigstens eine gewisse Steuerungskompetenz erhalten in diesem unausweichlichen Geschehen und nicht nur getrieben oder gar überrollt werden von den führenden KI-Mächten China und USA. Dass Millionen Arbeitsplätze durch KI wegfallen werden, ist nicht zu verhindern. Es geht darum, sicherzustellen, dass ebenso viele neue entstehen und dass sie vor allem bei uns entstehen. Wir brauchen Steuererleichterungen und Abbau bürokratischer Hürden für kreative KI-Start-ups, und wir müssen die KI-Forschungskompetenz in Deutschland massiv ausbauen. ({0}) Auch wenn Sie unsere Forderung nach einem zentralen KI-Campus abgelehnt haben: Wir von der AfD sind weiterhin überzeugt, dass ein solches deutsches MIT notwendig ist für echte Spitzenforschung, und werden uns weiterhin dafür einsetzen. In der Enquete-Kommission KI des Bundestages war es Konsens – den auch die AfD-Fraktion mitträgt –, dass wir uns am Leitbild einer menschenzentrierten KI orientieren wollen, gerade auch im Unterschied zu China, teils auch zu den USA: Im Abschlussbericht heißt es: Das bedeutet, dass KI-Anwendungen vorrangig auf das Wohl und die Würde der Menschen ausgerichtet sein und einen gesellschaftlichen Nutzen bringen sollten. Ja. Wer will das nicht? Aber wir müssen sehr genau hinsehen, wie wir diesen Nutzen definieren, meine Damen und Herren. Die Kommunistische Partei Chinas hat bereits 2014 ein Sozialkreditsystem eingeführt, das jetzt dank KI schrittweise auf alle Bürger, Behörden und Firmen ausgedehnt wird – ein umfassender Versuch digitaler Sozialkontrolle: Wer sich nicht benimmt, der bekommt Strafpunkte, dessen Aktionsradius wird immer mehr eingeschränkt, von der Reiseeinschränkung bis zur Beendigung der Karriere. KI und Big Data eröffnen Möglichkeiten zu einer Diktatur 2.0, von der die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts nur träumen konnten. Wer glaubt, wir seien in Deutschland gegen Derartiges gefeit, der höre beispielsweise dem Bremer CDU-Abgeordneten Thomas Röwekamp zu, der vor Kurzem in der Bremischen Bürgerschaft sagte, die Corona-Warn-App bleibe weit unter ihren Möglichkeiten, sie müsse bußgeldbewehrt zur Pflicht werden. ({1}) Die digitalen Möglichkeiten wecken auch hierzulande offenbar den totalitären Appetit bei den Regierenden. Schon jetzt werden Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, bald soll offenbar die Überwachung dank KI greifen – alles zum Wohl des Menschen und zum gesellschaftlichen Nutzen natürlich. ({2}) – Ein irrer Vergleich, meinen Sie? ({3}) Ich zitiere Ihnen den israelischen Historiker und Starintellektuellen Yuval Noah Harari, ({4}) der kürzlich, auf die Coronakrise angesprochen, sagte – ich zitiere –: Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mit Hilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann. ({5}) Das darf auf keinen Fall Wirklichkeit werden, meine Damen und Herren! ({6}) Die Enquete-Kommission „KI“ hat ihre Arbeit nach zweieinhalb Jahren mit einem 800-Seiten-Bericht abgeschlossen. Ich bin dankbar, dass ich ein klein wenig dazu beisteuern konnte, gemeinsam mit den Kollegen Joana Cotar und Peter Felser, und auch von den Experten einiges lernen konnte. Die eigentliche Herausforderung der Politik durch KI beginnt aber erst. Die AfD-Fraktion wird jede Erweiterung unserer Handlungsmöglichkeiten durch KI begrüßen, unsere Freiheit und Demokratie aber ebenso entschlossen gegen die neuen Gefahren verteidigen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stefan Sauer, CDU/CSU. ({0})

Stefan Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Jahre durfte ich mich sehr intensiv mit dem Thema „künstliche Intelligenz“ beschäftigen, und es ist mir einmal mehr vor Augen geführt worden, wie weit die Spanne ist zwischen der Innovation und der Chance auf der einen Seite, aber auch Misstrauen und Angst und Sorge auf der anderen Seite. Wenn ich Misstrauen anspreche: Das wurde eben in den Beiträgen schon zum Ausdruck gebracht, von Frau Dr. Sitte für die Linken und von Herrn Dr. Jongen für die AfD. Ich glaube, das ist die falsche Grundlage, wenn man mit der Zukunft umgehen möchte. Wir haben ein Technologiewerkzeug vor uns, das uns große Chancen bietet, wo wir viel erreichen können, wenn wir es gut integrieren, wenn wir die Welt als digital vernetzte Welt akzeptieren und darunter auch KI als ein Instrument betrachten, das uns hierbei unterstützt. Es waren auch für mich zwei intensive Jahre, zeitweise sehr intensiv – man hätte auf manche Momente verzichten können. ({0}) Die Abstimmung, die Debatte helfen aber, ja, das tut uns wirklich gut. Und es war lehrreich dank der Ergänzungen durch Sachverständige, die uns dauerhaft begleitet haben, im kleinen Zirkel, aber auch im großen. Ich darf deshalb Danke sagen allen, die mitgewirkt haben; denn es waren in der Summe 270 Personen, die dem Werk direkt oder indirekt eine Qualität geschenkt haben. Ich bin der Meinung, wir haben zum einen den breiten Konsens hergestellt, dass KI eine für uns wichtige, zukunftsfähige Technologie ist; es ist in allen Lebensbereichen so, dass KI uns bewegt. Zum Zweiten – das ist in allen Beiträgen schon zum Ausdruck gekommen –: Der Mensch muss hierbei im Mittelpunkt stehen, KI ist europäisch zu denken und zu entwickeln; wir brauchen dies auf einer gemeinsamen Wertebasis. Ich blicke deshalb auf eine vertrauenswürdige Marke der KI und sage: Wir sollten nicht die ganze Zeit in die USA und nach China schauen und nur darüber sprechen, was wir nicht wollen, sondern wir sollten die Zeit nutzen, um unsere eigene KI aufzubauen, im Rahmen der europäischen Gemeinschaft. Und da sind ja schon gute Akzente gesetzt worden in der Zusammenarbeit mit Frankreich. ({1}) Als Bürgermeister und Kommunalpolitiker habe ich immer gesagt: Wir brauchen Akzeptanz. Akzeptanz beim Bürger stellen wir her, indem wir eine breite Transparenz schaffen, darauf baut sich Vertrauen auf, und daraus kann Sicherheit entstehen. Akzeptanz beim Bürger stellen wir her, wenn wir den Bürgern zeigen, wo der Nutzen der Technik steckt, warum KI für die Zukunft wichtig ist und warum wir – im Rahmen des Erlebbaren – schon heute eine starke Konfrontation mit KI haben. Viele wissen es gar nicht. Die Bereiche Spracherkennung, Gesichtserkennung, Übersetzung, Navigation sind angesprochen worden. Doch der Bürger weiß davon zu wenig; hier brauchen wir ein bisschen mehr Bildung, ein bisschen mehr Information. Der Schlussbericht, Herr Präsident, wurde Ihnen übergeben. Ich darf sagen: Er ist mehr als ein Bericht für den Deutschen Bundestag, er ist auch ein Bericht für die breite Mehrheit; denn er ist gut formuliert, mit zahlreichen Handlungsempfehlungen, in jedem Unterabschnitt, zu jeder Projektgruppe immer auch eine Zusammenfassung. Das heißt, jeder hat die Gelegenheit, sich das anzuschauen. Ich kann nur dazu ermutigen, sich diese 500 Seiten – und es sind tatsächlich nur 500 Seiten, die wir selbst formuliert haben – anzuschauen, wo wir gerungen haben um eine gemeinsame Position. Es ist uns nicht gelungen, alle mitzunehmen. Die AfD haben wir verloren, die Linken haben wir verloren. Aber ich glaube, nicht wir haben sie verloren, sondern sie haben sich selbst verabschiedet. ({2}) Die Linken haben den Bericht als Ganzes nicht mitgetragen, sie haben sich enthalten, sie haben allein mit der AfD wesentlich dazu beigetragen, dass man auf über 90 Seiten mit Sondervoten die eigene Meinung zum Ausdruck bringt. ({3}) Das wird, glaube ich, ein Stück weit dem nicht gerecht, was wir an Strapazen in der Abstimmung mit Ihnen hatten. ({4}) Das mächtige Werkzeug KI verdient Verantwortung. Wir haben diese als CDU/CSU-Fraktion übernommen. Wir haben in einer realistischen, innovationsfreundlichen und chancenorientierten Debatte dazu beigetragen, dass wir einen wesentlichen Schritt nach vorne kommen. Zur Regulierung kann man sagen: Es braucht die konkrete KI in den Anwendungen. Es geht darum, zu betrachten, wo KI wie wirkt. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht überregulieren, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft nicht schwächen. Deshalb freut es mich, dass wir die bereits angesprochene KI-Beauftragte, Ronja Kemmer, in unserer Fraktion haben, die das Thema vorantreiben will. Für uns ist der Bericht kein Papier für die Schublade. Für uns ist er ein Impulsgeber für das Parlament. Ich sage deshalb Danke all jenen, die an der Erstellung mitgewirkt haben, vor allem dem Büro der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, Ihnen, Frau Bülter, und Ihrem Team, aber auch den Mitarbeitern in unseren Büros und in den Fraktionen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Viel Freude beim Lesen! Lassen Sie uns gemeinsam den Fortschritt gestalten! Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kluckert, FDP-Fraktion. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Jahre Enquete-Kommission bedeuten auch zwei Jahre Kompromisse, und es ist gut, dass wir Kompromisse können. Es ist gut, dass wir im Parlament, trotz der ganzen Unterschiede, zusammenarbeiten können. Das tut auch gut in diesen Zeiten. Genau deswegen ist es schade, dass es am Ende Die Linke war, die sich diesem Kompromiss verweigert hat; vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Ihrer Forderungen wir aufgenommen haben. Deswegen: Das nächste Mal, wenn Sie mit dem Finger auf die USA zeigen, wenn Sie mit dem Finger auf andere zeigen, dann denken Sie daran, dass Sie es waren, die nicht bereit waren, die demokratische Gepflogenheiten hier mitzutragen. Sie sind es, die sie nur nutzen. ({0}) Apropos schlechter Stil und „#hufeisen“: Die AfD trägt den Antrag zwar mit, hat die Arbeit aber quasi verweigert. Zumindest in der Gruppe, die ich geleitet habe, wurde keine Zeile geschrieben, keine Diskussion geführt. ({1}) Sobald es um konkrete Inhalte geht und eben nicht ums Poltern, dann sieht man Sie nicht mehr. ({2}) Die Kompromisse, die wir als Parteien der Mitte getragen und erarbeitet haben ({3}) – die Sie nicht mitgetragen haben; Sie haben auch nicht mit abgestimmt –, sind die Ankerlinie für mehr; denn wir brauchen mehr KI, wir brauchen mehr Entscheidungsfreude, und wir brauchen weniger Angst. Technologischer Fortschritt, das war immer ein Treiber unserer Gesellschaft. Der Aufstieg der Bauern, die Freiheit der Handwerker – all das wäre zum Beispiel ohne den Buchdruck überhaupt nicht möglich gewesen. ({4}) Das Gleiche gilt für die Selbstbestimmung der Frauen; ohne mehr Arbeitsplätze wäre die Abkehr von „Heim und Herd“ nicht denkbar gewesen. ({5}) Was wir nicht tun dürfen, was aber häufig passiert, ist, dass ethische Fragestellungen vorgeschoben werden, wo wir eigentlich nur ein bisschen entscheidungsfaul sind. Statt KI als Lösung zu sehen, verlieren wir uns oft im Klein-Klein, Ambition und Gestaltungswille fehlen. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Hemmnisse abbauen, zum Beispiel beim Transfer von der Forschung in die Anwendung, beim Einsatz von KI in Unternehmen und auch bei der Finanzierung unserer Start-ups. Für die praktische Umsetzung ist auch die Bundesregierung verantwortlich. Sie muss als Anwender und als Nachfrager auftreten. Deswegen ist unser Vorschlag, dass jedes Ministerium sich zehn KI-Anwendungen heraussucht, diese ausschreibt, implementiert und danach umsetzt. So geben auch wir KI eine Richtung. ({6}) Wir müssen entschlossen in diese Richtung gehen. Wir brauchen – das wurde hier oft angeteasert – „KI made in Europe“, „KI made in Germany“, und das kommt nicht von alleine, das müssen wir hier umsetzen. Nur mit mehr Innovation, mit mehr Wohlstand können wir auch zukünftigen Generationen die Verheißung des Aufstiegs, also das Mehr-Wollen wie bei der industriellen Revolution und wie beim Buchdruck, versprechen. Unser Ziel muss doch sein: Vorankommen in diesem Land. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gerade gehört: Wir reden auch über ethische Aspekte in der KI; das war zu Recht Schwerpunktthema in der Enquete-Kommission. Ethik ist wichtig. Wenn eine neue Technologie aufkommt, dann wirkt ja manchmal die normative Kraft des Faktischen. Es ist eine Wette – diese Wette kann gut ausgehen; sie kann aber auch schlecht ausgehen –, und ich finde, wir sollten uns dieser Wette nicht einfach ausliefern. Nur wenn wir selbst gestalten, sind wir in der Lage, Normen zu setzen: Normen, an denen sich andere orientieren, vielleicht sogar orientieren müssen; Normen, die mit unseren Werten vereinbar sind. Wenn wir beispielsweise an China denken und die Entwicklungen dort für bedenklich halten, dann reicht es nicht, nur darüber zu klagen, dann reicht es nicht, die beste Ethik in der KI zu haben, sondern wir müssen auch selbst Technologie in die Umsetzung bringen. Deswegen können wir bei diesem Bericht nicht stehen bleiben. Wenn wir Champion in der Ethik der KI werden wollen – und ich finde, wir sollten das –, dann müssen wir auch Champion in der Anwendung von KI werden, meine Damen und Herren. ({0}) Gerade weil wir selbst gestalten müssen, macht es mich manchmal stutzig, dass wir die grundlegenden Dinge irgendwie nicht hinbekommen. KI basiert auf Daten. Nur kann der beste Algorithmus kein gutes Ergebnis liefern, wenn die Daten nicht gut sind. Als Wirtschaftspolitiker merken wir gerade in dieser Pandemie, dass wir wirtschaftspolitische Entscheidungen teilweise im Blindflug treffen müssen. Daten über Insolvenzen zum Beispiel sind über sechs Monate alt. Die aktuellsten Steuerdaten reichen manchmal in das Jahr 2014 zurück, aber eigentlich bräuchten wir sie in Realtime, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel, um bei der jetzt drohenden Insolvenzwelle gegenzusteuern. Die Datenstrukturen in der öffentlichen Hand sind oft nicht einheitlich, nicht vollständig und nicht logisch miteinander verknüpft. Ich zitiere aus dem „Handelsblatt“ dieser Woche – die haben es auf den Punkt gebracht –: Wenn es um Erhebung, Aufbereitung und Weitergabe von Wirtschaftsdaten geht, ist Deutschland statistisches Entwicklungsland … Hier geht nicht nur viel Potenzial verloren, die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen, hier geht auch viel Potenzial verloren, Innovationen in unseren Behörden nach vorne zu bringen. Wenn es eine Botschaft aus dieser Enquete-Kommission gibt, dann doch die, dass wir eine gute Datenstrategie für Umsetzung und für Innovation brauchen, meine Damen und Herren. ({1}) Zu guter Letzt: Aufgrund der aktuellen Ereignisse – die Präsidentschaftswahlen in den USA sind nervenaufreibend – hoffen wir natürlich auf einen Neubeginn des transatlantischen Verhältnisses. Wir haben es heute ein paarmal gehört: Bei KI geht es um „made in Europe“, aber ich finde, wir sollten da nicht stehen bleiben. Ich höre manchmal aus der Debatte heraus, es gäbe jetzt eine Äquidistanz zwischen uns und China sowie zwischen uns und den USA. Ich teile diese Meinung explizit nicht. Trotz der schwierigen Lage in den USA teilen wir mit diesem Land gewisse Werte wie Demokratie, wie Menschenrechte. Deutsche Firmen waren beispielsweise schon an der Mondlandung der Amerikaner beteiligt. Ich finde, der nächste technologische Moonshot sollte auch in einer Zusammenarbeit stattfinden. Denken wir zum Beispiel an Spracherkennung, denken wir zum Beispiel an so etwas wie den Sieg gegen den Krebs, und zwar mithilfe von künstlicher Intelligenz. Deswegen sollten wir gezielt auf die Zusammenarbeit Europas mit den USA setzen, um KI nach unseren Werten zu gestalten. Ich finde, das können wir selbstbewusst machen; denn mit dem vorliegenden Bericht der KI-Enquete-Kommission haben wir eine richtig gute Grundlage geschaffen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre, SPD. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einsatz von algorithmischen Systemen birgt viele Chancen und Potenziale – ohne Frage. Aber er bringt auch gewisse Schwierigkeiten mit sich, zum Beispiel Probleme und Gefahren zu erkennen, aufzudecken oder gar nachzuweisen. Nehmen wir das Beispiel, dass die KI ein MRT-Bild analysiert. Im Zweifel können wir nicht nachverfolgen, warum das Ergebnis so ausfällt und nicht anders. Hinzu kommt, dass uns die Geschwindigkeit und Dynamik in der Entwicklung neuer Anwendungsfälle für KI vor Herausforderungen stellt. Das ist im digitalen Zeitalter alles nicht neu, aber bisher haben wir noch keine gute Antwort darauf gefunden. Insofern wundert es mich nicht, dass wir heute, nach zwei Jahren Arbeit, zwar einen Konsens vorliegen haben, aber nach wie vor unterschiedliche Haltungen ausgeprägt sind. Deshalb haben wir für uns ein Sondervotum eingebracht – dafür einen großen Dank an Jan Kuhlen und den wundervollen Verein D64 –, in dem wir festgehalten haben, dass die Regulierung zuerst das Risiko ihrer Anwendung für Gesellschaft und Individuen berücksichtigen muss und danach erst die Anforderungen zu definieren sind. Das heißt: Sobald KI im autonomen Fahrzeug steckt, hat das Konsequenzen für ziemlich viele Verkehrsteilnehmer, und wenn die Auswahl von Nachrichten durch KI beeinflusst wird, dann hat das sogar Konsequenzen für unsere politische Ordnung. In diesen Fällen müssen wir dafür sorgen, dass die Grundsätze unseres Miteinanders nicht ausgehebelt werden. ({0}) Das bedeutet konkret: Der Gesetzgeber macht die Vorgaben, nicht die Technik. Wir halten daher eine gestufte Regulierung, die je nach konkretem Risiko mehrere Abstufungen vorsieht, für den richtigen Ansatz; denn nur so können wir Risiken spezifisch regulieren. Schließlich macht es einen kleinen Unterschied, ob wir über Instagram-Filter oder über autonome Waffen sprechen; das sind unterschiedliche Risikointensitäten, und das gebietet eine unterschiedliche Einstufung und eine unterschiedliche Behandlung. Gleichzeitig darf es natürlich nicht zu regulatorischen Schnellschüssen kommen. Daher schlagen wir vor, das Risiko tastend zu ermitteln. Voraussetzung dafür ist, dass derjenige, der algorithmische Systeme einsetzt, dies transparent macht. Ziel ist ein Prozess, der eine fundierte, evidenzbasierte Grundlage für die herantastende Ausgestaltung von Anforderungen – zum Beispiel im Hinblick auf die menschliche Arbeit, Robustheit, Genauigkeit – ermöglicht. Dabei sind durch Normen und Standards grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu wahren. Schließlich sind Selbstbestimmung, Handlungsfreiheit, Meinungs- und Informationsfreiheit sowie Versammlungsfreiheit für uns oberste Maxime. ({1}) Diese Bedingungen, unter denen wir den Einsatz algorithmischer Systeme für Menschen rechtfertigen können, finden sich übrigens auch in der DSGVO. Ich möchte einmal betonen: Die DSGVO schützt nicht Daten, sondern sie schützt Menschen. Insofern habe ich einige Sondervoten mit ziemlicher Verwunderung gelesen, die mit der Zweckbindung oder der Datenminimierung zwei Grundsätze der DSGVO streichen wollen. Die DSGVO ist mittlerweile ein Werk, das globale Anerkennung erfährt, und deren Standards als europäische Errungenschaft gelten. ({2}) Europäische KI kann sicher viel – aber am Datenschutz sparen, das kann sie mit Sicherheit nicht. Heute haben wir schon den einen oder anderen Dank gehört. Ein Dank ist bislang jedoch ausgeblieben, und deshalb möchte ich mich einreihen und einen Dank an die Vorsitzende der Enquete-Kommission aussprechen, die uns mit ganz viel Engagement durch diese zwei Jahre geführt hat: Vielen Dank, Daniela Kolbe! ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 4. November, also gestern, um kurz vor 7 Uhr deutscher Zeit war es so weit: Das Gegenmittel wurde eingesetzt, das in der deutschen Übersetzung hölzern klingt, aber verständlich ist. Ich zitiere: Einige oder alle der Inhalte, die in diesem Tweet geteilt werden, sind umstritten und möglicherweise irreführend in Bezug auf die Beteiligung an einer Wahl oder einem anderen staatsbürgerlichen Prozess. Es war dieser Warnhinweis, den der Kurznachrichtendienst Twitter ausspielte, als der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika seinem politischen Widersacher vorwarf, ihm seinen Wahlsieg zu stehlen. Ob der Hinweis hilft, das wissen wir nicht genau; denn egal ob Fake News, Filterblasen oder Echokammern: Die Inhalte, die wir in den sozialen Medien zu sehen bekommen, sind von Algorithmen geprägt, die auf künstlicher Intelligenz beruhen. Die Mechanismen, wie zum Beispiel die Polarisierung der digitalen Öffentlichkeit, werden zwar viel diskutiert, sind jedoch nur sehr spärlich erforscht. Das liegt nicht etwa am Desinteresse der Wissenschaftler, sondern daran, dass sie ihren Forschungsgegenstand nicht angemessen untersuchen können. Was ihnen fehlt, sagt der Bericht der Enquete-Kommission sehr deutlich: der Zugang zu Daten der sozialen Netzwerke. Nur wenn wir die Meinungsbildung im Netz verstehen, kann Politik auch die richtigen Regeln für den Diskurs im Netz setzen. ({0}) Dass die Koalitionsfraktionen den Bericht der Enquete-Kommission ernst nehmen, zeigt sich auch daran, dass sie Handlungsempfehlungen bereits jetzt umsetzen. Bei der Reform des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes beispielsweise werden die Union und auch die SPD alles daransetzen, eine Forschungsklausel in das Gesetz zu bringen. Unser Ziel ist mehr Erkenntnis für Demokratie im Netz. ({1}) Auch die Forderung des Berichts der Enquete-Kommission nach einer Reform des Wettbewerbsrechts ist bereits in der Umsetzung. Mit der GWB-Novelle sind wir weltweit eines der ersten Länder, die sich der Macht der Tech-Giganten mit einem Gesetz entgegenstellen. ({2}) Denn diese besitzen den Rohstoff des Wohlstands von morgen, den Rohstoff, der KI zum Laufen bringt: Daten. Wir müssen für fairen Wettbewerb, für mehr Datenzugang im Wettbewerb sorgen; denn wir wollen, dass nicht nur wenige große, sondern viele kleine Unternehmen die Chance von KI für unsere Gesellschaft heben können. ({3}) Die GWB-Novelle ist eines der zentralen wirtschaftspolitischen Projekte dieser Koalitionsfraktionen, und wenn alles gut geht, dann liegt dieses Jahr zu Weihnachten ein Geschenk unter dem Baum, das nicht nur den fairen Wettbewerb stärkt, sondern auch die Wahlfreiheit der Verbraucher. So geht soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter. So sichern wir wirtschaftliche Freiheit im Netz. Wir werden nicht müde, diesen Weg für Freiheit, Recht und wirtschaftliche Fairness im digitalen Zeitalter weiterzugehen. Der Bericht der Enquete-Kommission zeichnet diesen Weg vor. Neben dem Zugang zu Daten muss der Einsatz von künstlicher Intelligenz transparent gemacht werden; denn nur so erlangen wir das Vertrauen der Bürger und können die Chancen künstlicher Intelligenz in einem menschenzentrierten Ansatz nutzen. Im öffentlichen Raum muss erkennbar bleiben, welche Informationen wahr sind und welche nicht. Insbesondere Journalisten und Behörden müssen deshalb in die Lage versetzt werden, die Echtheit von digitalen Inhalten zweifelsfrei zu erkennen. Wir müssen den Gefahren durch sogenannte Deepfakes entgegentreten. Und wenn Roboterjournalismus – wie heute teilweise schon, beispielsweise bei der Berichterstattung über Sportveranstaltungen, das Wetter oder Verkehrsmeldungen – immer präsenter wird und sich immer weiter ausweitet, dann müssen diese Texte als KI-generiert gekennzeichnet werden. Diese Transparenz ist wichtig für die öffentliche Debatte und wichtig für die Demokratie. ({4}) Um Demokratie geht es auch hier und heute. Während für künstliche Intelligenz Daten essenziell sind, ist die Demokratie ohne den Willen zum Kompromiss nicht denkbar. Berichte von Enquete-Kommissionen nehmen dabei eine ganz besondere Funktion ein; denn Regierungs- und Oppositionspolitiker finden hier gemeinsam das Fahrwasser, in das wir unsere Gesellschaft steuern wollen. Auch die Fraktion Die Linke war in diese Kompromissfindung intensiv mit eingebunden; wir haben auch mit Ihnen gute Diskussionen geführt. An vielen Stellen haben Sie die Möglichkeit von Sondervoten genutzt, was völlig in Ordnung ist. Dass Sie trotzdem nicht die Kraft finden, diesem Bericht zuzustimmen, ist unverständlich und schade; denn es wird der intensiven Arbeit aller Fraktionen nicht gerecht. ({5}) Wo führt das denn eigentlich hin, wenn Parteien und Fraktionen nicht mehr für den Kompromiss eintreten? ({6}) Und da wären wir dann wieder beim Beginn meiner Rede, bei den Warnhinweisen von Twitter und einer fragilen digitalen Öffentlichkeit. Als Union wollen wir dieser Fragilität entgegentreten, und deshalb brauchen wir Transparenz und entsprechenden Datenzugang für mehr Demokratie und Freiheit im Netz. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist betont worden: Technik, Innovation, Fortschritt sind keine Selbstzwecke, sondern es geht immer darum, dass wir als Menschen dabei im Mittelpunkt stehen und dass der Nutzen für uns als Gesellschaft der eigentliche Zweck von Fortschritt ist. Deswegen lautet die Frage gar nicht: Mensch oder KI? Vielmehr muss es um Mensch und KI gehen und darum, wie wir die Zukunft in unserem Sinne, im Sinne der Menschen gestalten. Das ist unser Ziel als Parlament, und das war die Aufgabe für uns als Enquete-Kommission. ({0}) Auch in der Projektgruppe Wirtschaft haben wir uns sehr intensiv mit genau dieser Frage befasst: Wie schaffen wir es eigentlich, nicht blind die Risiken, die mit künstlicher Intelligenz verbunden sind, zu ignorieren, aber auch nicht genauso blind vermeintlichen Potenzialen oder Chancen hinterherzurennen, also weder zu verteufeln noch zu glorifizieren? Wie schaffen wir es, den Weg in diesem Spannungsfeld zu finden? Ich glaube, das ist die Aufgabe, die wir im Umgang mit KI erfüllen müssen. Deswegen haben wir uns in der Projektgruppe Wirtschaft zum Ziel gesetzt, dass wir mit Szenarien arbeiten. Wir haben also beschrieben, was eigentlich der Zielzustand ist, zu dem wir in der Wirtschaft mit künstlicher Intelligenz kommen wollen, und auch, welchen Zustand wir uns nicht wünschen. Und nachdem wir das beschrieben haben, ging es auch darum, zu fragen: Was ist der Weg von heute hin zu diesem Ziel? – Ich glaube, das ist wirklich ein verantwortungsvoller Umgang mit einer ja doch sehr komplexen Technologie und Fragestellung für uns als gesamte Gesellschaft. ({1}) Auf dieser Grundlage sind wir zu Empfehlungen gekommen. Wir haben zum Beispiel gesagt, dass wir Experimentierräume brauchen, sogenannte Sandboxes, um in ihnen, ohne sofort die Schere im Kopf zu haben, was vielleicht alles nicht geht, den Einsatz von künstlicher Intelligenz ausprobieren zu können; natürlich immer mit einer klaren Zweckbindung. Es geht nicht um irgendwelche feuchten Träume, zu sagen: Alles, was irgendwie behindert, kann ich beiseitelassen. – Nein, es geht darum, an der Stelle den Einsatz von künstlicher Intelligenz – natürlich mit einer Zweckbindung – voranzubringen. Es geht darum, Ökosysteme für Start-ups auf der Basis von künstlicher Intelligenz zu schaffen, noch mehr, um an der Stelle – wir haben es mehrfach gehört – hier auch eine wirklich verantwortungsvolle und aktive Vorreiterrolle einzunehmen. Wir haben gesagt: Es geht bei künstlicher Intelligenz neben der Stärke in der Forschung immer auch darum, ob wir den Transfer in die Praxis, in Industrie, in den Mittelstand und in die kleinen Unternehmen hinbekommen. Und gerade wenn wir an den Mittelstand denken, stellen wir fest, dass es eben oft an Know-how, an Transfermöglichkeiten fehlt. Auch das ist ein wichtiger Ansatz, um tatsächlich in Deutschland eine Vorreiterrolle einzunehmen. Ich möchte den Dank, der an alle gerichtet wurde, die mitgearbeitet haben, nicht wiederholen, aber ihn unterstreichen. Ich glaube, er ist berechtigt. Herzlichen Dank an die Vorsitzende und alle anderen! Ich sage das hier nur stellvertretend. Meine Damen und Herren, ich wiederhole es, weil das die wichtige Aufgabe ist: Es geht nicht um Mensch oder KI, es geht um Mensch und KI und darum, wie wir das gestalten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU. ({0})

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! KI ist das Schlüsselthema, damit Deutschland und Europa – Deutschland ist das Land, Europa ist der Kontinent der Tüftler und der Denker – weltweit führende Innovationsstandorte bleiben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen uns aber in einem harten internationalen Wettbewerb behaupten, damit wir auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz die Zukunft gestalten können. Die Handschrift von KI muss in Europa, muss in Deutschland signiert werden. Schon jetzt – gerade jetzt –, in diesem Moment, in diesem Augenblick, hilft die KI in der Medizin, Menschenleben zu retten. Bilder können schneller ausgewertet werden, Diagnosen können besser gestellt werden. In der beruflichen Weiterbildung können aufgrund von KI-basierten Weiterbildungsplattformen schneller individualisierte Lerninhalte dargeboten werden. Deswegen haben wir als CDU/CSU-Fraktion ein Projekt gestartet; das ist MILLA, eine Lernplattform, die auch KI-basiert sein soll. Und genau hier muss jetzt die Zukunft starten. Überall dort, wo Chancen entstehen, meine Damen und Herren, sind auch Risiken. Und genau diese Risiken müssen wir hier in der Herzkammer der Demokratie, hier im Deutschen Bundestag, diskutieren. Deswegen kann ich da meinem Kollegen Hansjörg Durz nur zustimmen. Ich hätte mich auch gefreut, wenn die Linken sich nicht enthalten hätten, sondern entweder Ja oder Nein gesagt hätten. Das gehört auch, finde ich, zur Demokratie. ({0}) – Nein, das ist kein Trauma. Ich glaube, das Trauma liegt auf Ihrer Seite. – Aber lassen Sie uns im Text weitermachen. ({1}) Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist mehr als die 800 Seiten PDF-Datei, die man jetzt vielleicht auf dem iPad in der Bibliothek abspeichern kann. Nein, es ist der Startschuss einer offenen und einer konstruktiven Debatte. Für uns, für die CDU/CSU-Fraktion, ist es klar: Die ethischen Leitplanken werden hier im Parlament, werden hier gemeinsam mit der Gesellschaft errungen und auch erstritten. Für uns ist aber ebenso klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Für mich als Arbeitsmarktpolitiker ist KI eine Riesenchance. Und warum ist es eine Riesenchance? Weil wir gerade viele Arbeitsplätze gestalten können, neu erschaffen können. Und warum sage ich das jetzt auch gerade hier? Es gilt eben, nicht nur zu sagen: Ja, es werden auch Arbeitsplätze wegfallen. – Aber es werden ganz viele Arbeitsplätze eben in der Hightechindustrie, aber auch für Nichtakademiker und Nichtakademikerinnen entstehen. Genau auf diesem Weg müssen wir als Parlament die Menschen mitnehmen. Wir dürfen nicht das Gefühl entstehen lassen, dass jemand abgehängt wird, dass jemand stehen gelassen wird und dass jemand nicht mitmachen kann. Bei der künstlichen Intelligenz dürfen und sollen alle Menschen mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) KI muss dem Menschen dienen, KI muss ein Werkzeug sein, KI wird ein Hilfsmittel sein; das haben schon viele Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Lassen Sie uns gemeinsam in diesem Haus – auch mit Ihnen gemeinsam, liebe Fraktion der Linken – diesen Abschlussbericht, zu dem Sie sich enthalten haben – wobei „Abschlussbericht“ der falsche Name ist; mit diesem Bericht der Enquete-Kommission fängt die Zukunft an –, jetzt als Startpunkt nehmen, um KI voranzubringen und diese Debatte hier im Deutschen Bundestag und in der Gesellschaft jetzt zu Ende zu bringen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklung der künstlichen Intelligenz wird spannend. Ich persönlich freue mich darauf. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion freut sich darauf. Aber für uns ist klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Vielen Dank. ({4})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was kommt denn nach diesem zweiten Lockdown? Der dritte, vierte und zehnte? Wir hören schon, dass es dann nur an uns Bürgern gelegen hat, wenn es im Dezember eben doch einfach weiterläuft, weil wir nicht gut genug pariert haben – eine völlig perspektivlose Politik nach gut neun Monaten Bekanntschaft mit dem Problem. Der Patient Gesellschaft wird nur immer von Neuem ins künstliche Koma versetzt, statt behandelt zu werden, weil Sie gar nicht wissen, wo Sie therapeutisch hinwollen. ({0}) Der Lockdown ist zu unspezifisch. Gaststätten und Kulturevents waren gerade keine Treiber der Epidemie. ({1}) Wenn das Gewicht der typischen Infektionswege in den einzelnen Lebensbereichen immer noch nicht klar ist, dann ist das doch kein Freibrief, da alles dichtzumachen, sondern ein Aufklärungsversagen. ({2}) Wieder darf das Parlament – wie bei Euro-Krise und Grenzöffnung – nur noch abnicken, was vom Kanzleramt ausgegeben wird. ({3}) Statt dass Sie nach Gutsherrenart immer wieder im Hinterzimmer etwas auskungeln, fordern wir die Rückkehr zu strengster Rechtsbindung. Statt dass Sie aktionistisch einfach irgendwas ins Schaufenster stellen, sagen wir: Die Medizin darf nicht schlimmer sein als die Krankheit. ({4}) Der Zweck Gesundheitsschutz heiligt nicht die Mittel jedweder Grundrechtseinschränkung. Die Verhältnismäßigkeit bleibt immer objektiv abzuwägen. Pauschales Durchregieren mit Ad-hoc-Verordnungen ist verfassungswidrig, so selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Auch fehle es an strengster Befristung der Maßnahmen – AfD-Forderung der ersten Stunde – samt regelmäßiger Unterrichtung über die Wirksamkeit mit wissenschaftlicher Evaluation inklusive wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Verordnungen gemäß Infektionsschutzgesetz hätten dort viel stärker konkret bestimmt sein müssen. Das Gesetz weiß gar nichts von Lockdown und allgemeinen Betriebsverboten. Wir fordern eine rechtliche und parlamentarische Grundlegung und sinnvolle und verhältnismäßige Maßnahmen statt kontraproduktive wie etwa die jetzigen, aufgehängt an positiven Testungszahlen, ein Indikator von in Wahrheit beschränkter Aussagekraft. Nur weil ein Staat seine Hausaufgaben nicht gemacht hat – Kapazität der Gesundheitsämter –, kann er jetzt nicht einfach Probleme durch Grundrechtsbeschränkungen bei den Bürgern abladen, nach dem Motto: Alles, was Spaß macht, ist infektiös. Es fehlt doch jeder Hinweis auf entscheidende Risiken in den beschränkten Branchen oder auf eine nur so jetzt bewirkte wesentliche Eindämmung; es gibt nur völlig pauschale Argumente. Dabei sind viele Betriebe schon durch den ersten Lockdown angeschlagen, der nach Herrn Spahn so nicht mal nötig war. Was für ein Wahnsinn! ({5}) Es bräuchte jetzt doch Solidarität mit den schon Geschwächten. Bereits im ersten Lockdown wurden über eine halbe Million Arbeitsplätze vernichtet, wurde ein Heer von Kurzarbeitern in eine ungewisse Zukunft geschickt. Der neue Shutdown wird jetzt vielen weiteren Unternehmen den Todesstoß versetzen. Staatshilfen, das Sterbegeld, kommen nicht oder nicht rechtzeitig an. Rettungsmilliarden narkotisieren, aber heilen nicht. Für Gastwirte und die Kulturbranche mit ihren guten Hygienekonzepten heißt es: Ihr kriegt jetzt mal den Schwarzen Peter; ohne Nachweis der Schuld verurteilt. Freizeitanbieter und Selbstständige stehen vor dem Ruin, die Reserven wurden schon im ersten Lockdown aufgebraucht. Die Insolvenzwelle aus dem Frühjahr, die Sie künstlich verschieben wollen, kommt ja erst noch. Wird die Branche weiter in den Winterschlaf geschickt, wird sie daraus nicht mehr erwachen. Kein Mensch will doch wegen einer härteren Grippe alles verlieren und Weihnachten bis Silvester in Einzelhaft verbringen. Schluss mit dieser übergriffigen Politik! ({6}) So geht auch das Konsumklima in den Keller. Statt immer nur aus dem Buch der Apokalypse zu lesen, sollten Sie auch mal Perspektiven vermitteln. Dazu kommt dieser moralinsaure Kasernenton: „Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, werden untersagt.“ Das heißt, mit den Arbeitskollegen tagsüber zusammen malochen gehen, ist okay, aber hinterher ein Feierabendbier ist des Teufels. Dieser Shutdown geht wie ein Schnitter mit der Sense durch die deutsche Volkswirtschaft. Ertüchtigen Sie doch lieber die Gesundheitsämter, größere Infektionsherde zu lokalisieren: Superspreader-Events in der großstädtischen Erlebnisszene, oft migrantisch geprägt. ({7}) Halten Sie doch lieber das Virus aus den Pflegeheimen heraus; dort gibt es einen Großteil der Todesfälle. Es braucht dort gezielten Schutz, FFP2-Masken, Reihentests, Schnelltests für Besucher, und nicht Maskenzwang für Grundschulkinder, die kaum gefährdet und infektiös sind. Vernünftig wäre, gerade Restaurants offen zu lassen, wo sich die Menschen unter Hygienebedingungen treffen. Kein seriöser Mediziner empfiehlt doch eine Maskenpflicht im Freien auf diversen Straßen. Geht es darum, den öffentlichen Kotau vor dem Gesslerhut einzufordern, meine Damen und Herren? ({8}) Wie dünn muss denn eine Position sein, wenn nur noch Nibelungentreue trägt? Den Vogel ab schießt der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Dort wären die Schritte gar nicht nötig, sagt er. Man mache das nur aus nationaler Solidarität. – Man muss sich das mal vorstellen: Wirtschaftszerstörung, Grundrechtseinschränkungen flächendeckend, nur damit die Leute daran glauben. Schluss mit dieser Arroganz der Macht, mit solch groben Maßnahmen. Es braucht feinfühlige, zielgerichtete Instrumente. ({9}) Wer mit Boxhandschuhen Klavier spielen will, wird nur Misstöne erzeugen, gerade auf der Klaviatur der Macht. ({10}) Worum es dieser Regierung geht, ist auch die Kontrolle des Narrativs: Corona als Sündenbock für politische Fehlentscheidungen. Die Überschuldung in der Euro-Zone – alles nur Corona. Dabei ist die Coronakrise in Wahrheit eine Lockdown-Krise. Dabei sind die Rettungstöpfe in Wahrheit leer. Merkel gibt die große Schutzmantelmadonna zulasten künftiger Generationen. Das ist der Weg in die Schuldenunion unter dem Vorwand des permanenten Ausnahmezustands. So eine Coronapolitik fürchtet dann wohl den Realitätscheck einer Rückkehr zur Normalität. Wir sagen: Rückkehr zu Recht und Verhältnismäßigkeit jetzt! ({11}) Stattdessen bedient man sich in diesem strategielosen Vorwärtsstolpern der Methode Greta – „I want you to panic“ –, um den großen Umbau, die große Umverteilung durchzudrücken – Stichwort „Wiederaufbaufonds“; jetzt werde das leichter gehen mit der Finanzunion; heißt es, auch um als „rettende Exekutive“ daraus weiter Umfragenpotenzial zu saugen. ({12}) Eine Kanzlerin, die die Bürger wie unmündige Kinder behandelt und in fantastischer Verblendung meint, wir müssten uns erst die Feier des Weihnachtsfests bei ihr durch Wohlverhalten verdienen, die ist wohl wirklich zu lange an der Macht. Wenn Sie, Frau Kanzlerin, morgens auf dem Weg ins Kanzleramt wieder der Kontrollwahn überfällt, dann – ich bitte Sie – bleiben Sie, wenn immer es geht, zu Hause. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mann, Mann, Mann. ({0}) Der vorliegende Antrag verlangt ja in seinem Titel, die Beschlüsse des Coronagipfels vom 28. Oktober rückgängig zu machen. ({1}) Wer dann im Antragstext nach einer sachlichen Begründung sucht, der sucht vergeblich. Deshalb möchte ich zu Beginn betonen, warum diese bundeseinheitlichen Maßnahmen seit Montag richtig sind – trotz aller damit verbundenen Belastungen. Der Kern ist die Frage, ob wir warten wollen auf die Überforderung des Gesundheitssystems, auf das Abweisen von behandlungsbedürftigen Patienten aus den Intensivstationen, ({2}) ob wir warten wollen auf eine Situation, in der Menschen, die beatmet werden müssen, die Beatmung verweigert werden muss, weil die Pflegenden, die in der Lage sind, die Gerätschaften zu bedienen, nicht zur Verfügung stehen. ({3}) Deswegen sagen wir: Wir müssen präventiv handeln, um solchen Engpässen zuvorzukommen. ({4}) Es darf nicht erst die Situation eintreten, dass es zu spät ist. Die Bundeskanzlerin und der Gesundheitsminister haben das in den vergangenen Tagen – so wie auch viele von uns draußen in den Wahlkreisen – immer wieder erläutert. Das exponentielle Wachstum der Anzahl der Infektionsfälle ist besorgniserregend. Es droht, die Gesundheitsämter immer weiter zu überfordern. Gestern lagen dem RKI schon 41 Mitteilungen aus Gesundheitsämtern über Kapazitätsengpässe vor. Die Kontaktverfolgung aber ist zentral, um Ketten und auch unbemerkte Ketten zu durchbrechen. Jeder jetzt im Alltag aufgeschobene Kontakt ist ein Akt der Solidarität mit dem Nächsten. ({5}) Davon verstehen Sie von der AfD möglicherweise wenig. Offen gestanden ist mein Gefühl, dass es Ihnen nicht darum geht, die Schwachen zu schützen, sondern es geht Ihnen darum, eine Gesellschaft zu haben, in der jeder an sich selbst denkt, nach dem Motto: Dann ist auch an jeden gedacht. Die Schwachen haben den Nachteil. ({6}) Angesichts Ihrer Präferenz für die Starken frage ich mich, ob Sie zu den Darwinisten gehören; aber das ist vielleicht für die Darwinisten eine Zumutung. ({7}) Nach einer internationalen Metastudie zur Infektionssterblichkeit scheint das Alter für die Covid-19-Sterblichkeit der entscheidende Faktor zu sein, übrigens unabhängig vom nationalen Kontext. In meiner Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen lag die Sterblichkeit in dieser internationalen Metastudie bei 2,2 Prozent; das ist dreißigmal so hoch wie bei der Grippe. In der Gruppe der über 85-Jährigen starb fast jeder Dritte an Covid-19, der diese Infektion erlitt. Insofern ist der November nicht nur der Monat der gemeinsamen Kraftanstrengung – das ist er auch –, er ist auch der Monat der Prüfung für unseren Wertekompass als Gesellschaft und der Prüfung, wie wichtig uns verletzliche Bevölkerungsgruppen sind. Da zeigt Ihr Antrag klar, dass das für Sie völlig unwichtig ist. ({8}) In der vergangenen Woche gab es ja einige Aufregung um die Positionierung mancher ärztlicher Organisationen. Die jüngsten Erklärungen aus Wissenschaft und Ärzteschaft sind eindeutig: Die Maßnahmen der Ministerpräsidentenkonferenz sind richtig und jetzt notwendig. Wir müssen die hohen Infektionszahlen unbedingt und konsequent senken, erklärte am Montag Dr. Andreas Gassen, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Der Präsident der Bundesärztekammer, der Kollege Reinhardt: Wir müssen jetzt die Notbremse ziehen, damit die Dynamik der Neuinfektionen nachlässt. Und am 27. Oktober, am Tag vor den Entscheidungen in der Ministerpräsidentenkonferenz, hat es eine gemeinsame Erklärung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gegeben: Um einen ähnlichen Verlauf der Pandemie in Deutschland noch verhindern zu können, müssen jetzt klare Entscheidungen getroffen und schnell umgesetzt werden. ... Je früher und konsequenter alle Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden, eingeschränkt werden, desto kürzer können diese Beschränkungen sein. Wissenschaft und Ärzteschaft raten dazu, so vorzugehen, wie es jetzt geschieht. ({9}) Wir haben im Infektionsschutzgesetz – das bestreiten Sie ja – sehr wohl Standardmaßnahmen, die die Länder zum Schutz der Bevölkerung ergreifen dürfen. Wir als Deutscher Bundestag haben hier im März wie in den anderen 37 Gesetzen, die zu diesem Thema hier verabschiedet worden sind, präzisiert, welche Grundrechte in Ausnahmesituationen vorübergehend zurücktreten können. Wir werden hier im Bundestag einen Vorschlag unterbreiten, wie wir die Rechtssicherheit der Länder weiter verbessern können. Wir, Innenpolitiker, Rechtspolitiker, Gesundheitspolitiker, arbeiten mit den beteiligten Ministerien an einem Vorschlag, der dazu dient, die Zweifel, die beispielsweise vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof, aber auch von Gerichten in Rheinland-Pfalz vorgetragen worden sind, zu beseitigen. Aus meiner Sicht bremsen wir mit den drastischen Kontaktverzichten die zweite Welle. Wir helfen – Sie haben von Narrativen gesprochen –, dass unsere Kinder und Enkel weiter täglich in den Bereich der Märchen und Fabeln eintauchen können. Aber diese Pandemie als eine Fabel zu bezeichnen, das kann wohl nur Ihnen in den Sinn kommen. Am 16. November wird Zwischenbilanz gezogen. Dann wird entschieden, wie es weitergeht. Ich glaube, dass wir noch im November das Infektionsschutzgesetz erweitern und schärfen werden. Ich freue mich über die Diskussionen in den Ausschüssen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welt kämpft gegen SARS-CoV-2, gegen eine Viruserkrankung, die ernst zu nehmen ist, die gefährlich ist, die auch mit dem Tod einhergeht. In Deutschland gestern, am Mittwoch, nach den aktuellen Zahlen: 17 000 neue Infektionsfälle; 151 Menschen, die an bzw. mit diesem Virus verstorben sind; ein bisschen mehr als 1 300 Menschen, die auf Intensivstationen beatmet werden müssen. Das ist die Wahrheit. Das sind die realistischen Zahlen, die wir uns ansehen müssen. Es gibt aber auch gute Nachrichten. Diese müssen wir genauso kommunizieren und genauso wahrnehmen. Knapp 10 000 Menschen sind gestern von dieser Infektion neu genesen. Der sogenannte Reproduktionswert liegt seit zwei Tagen unter 1. Über 7 000 Intensivbetten sind noch frei. Das ist so dank der Bevölkerung, dank der solidarischen Gesellschaft und übrigens nicht durch den Lockdown. Hier bedarf es auch einmal eines Dankeschöns. Wir müssen Dankeschön sagen, dass wir als Gesellschaft hier zusammenhalten. ({0}) Die Pandemie ist nicht vorbei. Sie ist hinterhältig und sehr dynamisch. Sie toleriert keine Fehler, auch keine Fehler in der Prävention. Präventionsmöglichkeiten gibt es dabei viele, allerdings gibt es keine Magic Bullet, kein Allheilmittel. Wir müssen Superspreader-Verhalten verhindern, auch im privaten Bereich. Aber das geht nur durch gute Kommunikationsstrategien, Verantwortung und Vernunft. Maßnahmen müssen zielgerichtet, verhältnismäßig und logisch sein. Wir brauchen ein Regelwerk, das bundeseinheitlich ist und dynamisch angewendet werden kann. Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der Pandemiebekämpfung steht für die meisten unserer Fraktionen hier im Bundestag außer Frage. Jeder weiß, dass die Pandemie und ihre Bekämpfung Folgen für die Gesellschaft, für die Gesundheit und für die Wirtschaft haben. Zur Bekämpfung gehören auch begrenzte Grundrechtseinschränkungen, um die Folgen der Pandemie nicht außer Kontrolle laufen zu lassen. Doch diese Grundrechtseinschränkungen müssen klar, wissenschaftlich begründet, logisch und verhältnismäßig sein. ({1}) Eine Diskussion über die Notwendigkeit gehört auch in die Parlamente. Das sehen die meisten in diesem Parlament auch so. Zum Kampf gehört aber auch, dass es eine Summe von Maßnahmen geben muss; denn nur eine Summe von Maßnahmen reduziert das Risiko einer Infektion. Ganz speziell geht es um die vulnerablen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Denn Besuchsverbote in Krankenhäusern und Pflegeheimen wären eine Katastrophe. Das müssen wir verhindern. Die kalte Jahreszeit darf nicht zu einer Jahreszeit der sozialen Kälte werden. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. ({2}) Die FDP-Fraktion hat in den letzten Monaten mindestens 25 Anträge eingebracht, konkrete Anträge, die diese Pandemiesituation betreffen. Dabei geht es nicht nur um Gesundheitsschutz, wir zeigen soziale und wirtschaftliche Verantwortung. Die Strategie der AfD dagegen ist durchsichtig: Grundsätzlich wird die Pandemie infrage gestellt. Die Effektivität von Masken wird negiert. Die Validität der PCR-Tests wird nicht akzeptiert. Die Covid-19-Erkrankung wird negiert oder kleingeredet. Das ist zu billig, zu einfach. Man kann die Biologie nicht einfach wegdenken, liebe AfD. ({3}) An dieser Stelle möchte ich gerne den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zitieren: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ – Ich glaube, mehr muss man nicht sagen. Wir stimmen der Überweisung zu. Den Antrag zur Religionsfreiheit lehnen wir ab; denn ich bin überzeugt: Die Kirchen brauchen die AfD nicht als Fürsprecher der Religionsfreiheit. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann, SPD. ({0})

Sebastian Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004291, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo stehen wir heute am Donnerstag in der parlamentarischen Beratung? Stand heute haben wir 20 000 Neuinfizierte mit dem neuartigen Coronavirus nach Meldung des RKI. Wir befinden uns in der so vorausgesagten zweiten Welle, die – Stand heute – die erste Welle schon jetzt weit überragt. Wenn wir in unsere Nachbarstaaten schauen – ich nenne einmal Belgien, Frankreich, aber auch Tschechien, das von hohen Inzidenzzahlen und Infektionszahlen getroffen ist –, muss uns bewusst sein: Die Lage ist sehr ernst. Wir sind verpflichtet, zu handeln, sowohl als Regierung, aber insbesondere auch als Parlament. Auch wenn von der AfD-Fraktion der Eindruck erweckt worden ist, dass genau diese Einheiten – die Ministerpräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und auch der Deutsche Bundestag und die Landtage – ihrer Verantwortung nicht nachkommen, so sage ich: Dieser Eindruck ist falsch! Das müssen wir heute Morgen deutlich machen. ({0}) Sie von der AfD missbrauchen die Krise. Sie stiften nur Verwirrung. Sie gehen aber auch darüber hinweg, dass Sie von der AfD in Wirklichkeit keine klare Linie haben. Die einen sagen: Es gibt das Virus nicht. Die anderen sagen: Die Maßnahmen müssten viel härter sein. Die dritten wiederum behaupten, das würde alles nur der Wirtschaft zum Opfer fallen, wir bräuchten jetzt überhaupt keine Eingriffe mehr in Grundrechte. Damit, meine Damen und Herren, offenbart die AfD, worum es ihr eigentlich geht. Sie missbraucht jede internationale Herausforderung, sie missbraucht immer wieder jede innenpolitische Herausforderung, um ihrem billigen Populismus zu frönen und dabei niemals die Menschen in diesem Land in den Blick zu nehmen. ({1}) Und – mehr noch – sie schürt Angst und Panik. Aber das Gegenteil ist doch jetzt geboten. Wir müssen uns klarmachen: Die Lage ist ernst. Aber die gesundheitlichen Voraussetzungen, die Wissenschaft und Forschung in unserem modernen Industriestaat waren noch niemals so gut wie jetzt. Wir sind dabei, einen Schritt weiterzugehen. Wir werden es schaffen, diese Pandemie zu überwinden, genauso, wie wir jede andere Krise in diesem Land auch überwunden haben. Wissenschaft, Forschung und auch der internationale Austausch waren noch nie so gut wie jetzt. Das gibt uns die Zuversicht, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. ({2}) Eine zweite Debatte ist jetzt allerdings sehr entscheidend. Damals, Anfang März dieses Jahres, als wir sehr zügig handeln mussten, als wir noch nicht genau wussten, welche die besten Maßnahmen gegen eine unkontrollierte Ausbreitung sind, schlug die Stunde der Exekutive. Damals war es uns wichtig, die Ermächtigungen an die Landesregierungen und auch an unsere Bundesregierung zu geben. Auch das haben wir als Parlament beschlossen. Aber aus der Stunde der Exekutive darf kein Dauerzustand werden. Deswegen haben die Koalitionsfraktionen, allen voran die SPD, immer wieder deutlich gemacht, dass nach der Stunde der Exekutive, meine Damen und Herren, jetzt die Phase der Parlamente kommt. Darauf haben alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land einen Anspruch. Das bezieht alle konstruktiven Teile, auch die Opposition, mit ein. Wir sind gemeinsam gefragt, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von den Grünen, den Linken und der FDP, während man die AfD aufgrund dieses Auftrittes mal wieder vergessen kann. ({3}) Es wird nicht nur darum gehen, dass wir Leitplanken für diese Debatte setzen, dass wir einen Rahmen geben, in dem Grundrechtseingriffe stattfinden. Vielmehr sind wir als Parlament auch gefordert, Leuchttürme und Wegmarken zu definieren; denn wir sind der öffentlichste und transparenteste Raum, den wir in unserem demokratischen Rechtsstaat haben. Das gilt nicht für die Konferenz der Ministerpräsidentinnen, der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin, wo auch wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zuweilen gefordert sind, aus Pressemitteilungen und Konferenzen nachzuvollziehen, was denn da beschlossen worden ist. Aber wir dürfen da auch nichts reingeheimnissen. Auch der Bundesgesundheitsminister hat klar erklärt, dass er mit dem Wissen von heute anders handeln würde, und das, glaube ich, spricht für alle von uns, auch in diesem Plenum. Wir würden heute anders vorgehen, weil wir eben mehr über dieses Virus wissen. ({4}) Und weil wir das wissen, werden wir das auch als Parlament tun. Wir werden klare Rahmenbedingungen definieren, auch was den Ressourceneinsatz angeht, und zwar in enger Abstimmung mit den Gesundheitspolitikern, um klarzumachen: Was ist denn die pandemische Lage nationaler Tragweite, die auch Landtage erklären, die der Bundestag definiert? Was tun wir zur Überwindung der Lage? Welche Ressourcen setzen wir ein, und an welchen Teilen der Wirtschaft müssen wir welche Einschränkungen vornehmen? Wir werden noch mehr tun. Wir werden niemanden in dieser Krise alleinlassen. Wir sorgen mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen dafür, dass eben nicht die Wirtschaft vom Netz geht. Aber es gibt eine Ordnung der Dinge. Wir müssen noch mal deutlich sagen: Zuallererst müssen wir die Ausbreitung dieses Virus stoppen, solange wir keine Behandlungsmethoden und keine Impfung haben. ({5}) Der zweite Punkt ist ganz klar auch aus unserer Verfassung abzuleiten. Natürlich geht es um den Schutz von Risikogruppen, die einen Anspruch darauf haben, dass wir solidarisch miteinander umgehen, dass wir gemeinsam durch diese Krise gehen und sie nicht alleinlassen. Auch das ist ein erstrebenswertes und klar definiertes Ziel. Hier sollte also die destruktive Opposition nichts reingeheimnissen. Der dritte Punkt ist: Wir wollen in unserem Staat natürlich nicht vor der Frage stehen, ob das Gesundheitssystem so überfordert ist, dass man andere Erkrankungen nicht mehr behandeln, andere Behandlungen nicht mehr ausführen kann. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört zur Ergänzung der Debatte auch eines: Ja, wir reden von Lockdown, wir reden von Shutdown, wir reden von Lockdown light, was auch immer diese Abstufungen sein sollen. Aber zur Wahrheit gehört doch, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in unserem Land, diejenigen, die den Laden am Laufen halten, niemals in einen Lockdown gegangen ist. Das sind die Pflegenden in den Krankenhäusern, es sind die Ärzte, es sind die Beschäftigten in den Rettungsdiensten; es sind all diejenigen, die im nächsten Kontakt mit Kranken arbeiten und sich darum kümmern, dass es nicht zu Ansteckungen kommt. Es sind die Ordnungsbehörden, es sind die Polizeien und Sicherheitsbehörden, die auch dafür sorgen, dass trotz Corona Demonstrationen in diesem Land selbst gegen einzelne Maßnahmen stattfinden können. Das ist doch unser demokratischer Rechtsstaat. Aber all diejenigen, die in dieser Krise ihren Job machen, haben einen Anspruch darauf, dass sie auch geschützt werden, indem wir die Ausbreitung des Virus stoppen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben darüber hinaus einen Anspruch an uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Wir kommen zusammen, wir sitzen hier gerade im Plenum mit Abstandsregeln beieinander, wir tragen Masken. Aber wenn weite Teile des Landes ihre Arbeit machen, dann ist es unsere Aufgabe als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, unsere Arbeit auch im dritten, siebten und achten Monat dieser pandemischen Lage zu erfüllen, und zwar in dem Wissen, dass wir als Parlament Gesetze beschließen können und wir viele Gesetze auch geändert und Ermächtigungen gegeben haben. Ich möchte, dass die jetzige Phase die Stunde des Parlaments ist, dass es nicht mehr um die Stunde der Exekutive geht, sondern wir als Bundestag fraktionsübergreifend deutlich machen: Wir definieren klare Rahmenbedingungen, wir stellen entsprechende Haushaltsmittel zur Verfügung, und wir zeigen unserem Land einen Weg auf, wie wir durch diese Krise kommen. Das werden wir in zwei Schritten tun. Schade ist, dass die Debatte, die wir heute schon als Vorstufe gebraucht hätten, erst am Freitag beginnt. Denn die Koalitionsfraktionen haben einen entsprechenden Änderungsbedarf am Infektionsschutzgesetz angemeldet. Wir werden das, was schon jetzt als Formulierungshilfe vorliegt, erst einmal als Ausgangspunkt nehmen. Das ist aber nur die Grundlage; darauf werden wir aufsatteln. Es wird ganz genau definiert, mit welchem Grundrechtseingriff wir wie umgehen, wie wir Ressourcen zur Verfügung stellen und wie wir sowohl der Bundesregierung als auch den Regierungen auf Landesebene ganz klare Orientierung geben, aber auch den Bürgerinnen und Bürger im Land, damit sie sehen: Der Deutsche Bundestag handelt, meine Damen und Herren, ({7}) und wir kommen als Parlamentarierinnen und Parlamentarier in dieser schweren Stunde unserer Verantwortung nach. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn klarstellen: Anders als die AfD, die die Covid-19-Pandemie weitgehend leugnet und nahezu alle Gegenmaßnahmen zu diskreditieren versucht, will ich für meine Fraktion, Die Linke, eindeutig sagen: Das Coronavirus ist leider gefährliche Realität. Gegenmaßnahmen – zum Teil auch drastische – sind kaum vermeidbar, und auch wir fordern alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land auf, sich gerade in der jetzigen Infektionssituation an die Vorgaben zu Abstandsgeboten, zu Hygienestandards und zur größtmöglichen Reduzierung von persönlichen Kontakten zu halten. ({0}) Mit Ausnahme der AfD, die nur allzu gerne Chaos im Land befördern möchte, kann niemand ein Interesse an steigenden Infektionszahlen und einer Überforderung des Gesundheitssystems haben. Hier sollten alle demokratischen Parteien an einem Strang ziehen. ({1}) Aber die demokratischen Fraktionen, meine Damen und Herren, hier in diesem Haus haben auch die Pflicht, die verfassungsgemäße Gewaltenteilung zu achten und durchzusetzen. Doch diese Gewaltenteilung hat in den letzten Monaten nicht nur nicht funktioniert, sondern ist wiederholt verletzt worden. ({2}) Damit muss aus Sicht der Linken endlich Schluss sein. ({3}) Es ist nicht länger hinnehmbar, dass sich in Berlin die Ministerpräsidenten der Länder mit der Bundeskanzlerin treffen, um in kleiner Runde über Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu debattieren und über weitreichende Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden. ({4}) Gegen koordinierende Beratungen mit dem Ziel möglichst bundesweit einheitlicher Regelungen ist nichts einzuwenden. ({5}) Aber die Ministerpräsidentenkonferenz ist kein verfassungsmäßig oder irgendwo gesetzlich legitimiertes Gremium. ({6}) Das muss auch die Bundeskanzlerin endlich begreifen. ({7}) Über zwingend notwendige, nachweisbar wirksame und nicht zuletzt verhältnismäßige Einschränkungen von Grundrechten darf niemand anderes als der Deutsche Bundestag entscheiden. ({8}) Deshalb ist es zwingend erforderlich, dass das Infektionsschutzgesetz diesbezüglich geändert und präzisiert wird. ({9}) Der Bundesgesundheitsminister darf sich nicht länger quasi als Nebenkanzler gerieren und durch Verordnungen sogar über geltende Gesetze hinwegsetzen können. ({10}) Die Letztentscheidung muss immer beim Parlament liegen, und die Maßnahmen müssen klar befristet werden. ({11}) Das trifft sowohl auf die aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens erforderlichen Gegenmaßnahmen wie auch auf die finanzielle Kompensation für Einnahmeausfälle infolge staatlich verordneter Schließungen in Wirtschaft und Kultur zu. Natürlich ist es ganz wichtig, dass die dann getroffenen Entscheidungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern auch nachvollziehbar erklärt werden und man um Unterstützung wirbt. Genau daran hat es in den zurückliegenden Monaten vielfach gemangelt. Die Menschen haben oft den Eindruck, es gebe durch unterschiedliche Bestimmungen in den Bundesländern einen nicht mehr durchschaubaren Flickenteppich bei den coronabedingten Einschränkungen. Dabei kommt es immer häufiger zu völlig abstrusen Regelungen, die man als Politiker seinen Wählerinnen und Wählern beim besten Willen nicht mehr erklären kann. Wie kann es zum Beispiel sein, dass bei einer Trauerfeier für einen Verstorbenen mit einem weltlichen Trauerredner nur 10 Menschen teilnehmen dürfen, weil sie als private Veranstaltung eingestuft wird, während bei einer Trauerfeier im selben Raum, bei der ein Pfarrer spricht, bis zu 30 Trauergäste zugelassen sind, weil das als religiöse Veranstaltung gilt? Absurder geht es kaum noch! ({12}) Als Sportpolitiker könnte ich hier auch diverse Beispiele aus dem Sportbereich anführen, was die Redezeit nicht zulässt. Ich will aber klar sagen, dass wir als Linke den neuerlichen Lockdown im Bereich des Breitensports, insbesondere im Freien, für völlig unverhältnismäßig halten. ({13}) Hier wie auch in vielen kulturellen und gastronomischen Einrichtungen gibt es überzeugende, von den Gesundheitsbehörden geprüfte Hygienekonzepte, in deren Umsetzung auch viel Geld, zum Beispiel für Lüftungsgeräte, investiert wurde. Genutzt hat es den Betreibern nichts. Ihre Einrichtungen mussten nun schließen, und niemand weiß genau, wann sie wieder öffnen können. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Maßnahmen zu überprüfen, und notfalls muss der Bundestag hier korrigierend eingreifen. ({14}) Wir als Linke begrüßen, dass der Unterricht an den Schulen unter Berücksichtigung der Hygieneregeln weiterhin stattfinden kann. Aber was bringt das alles, wenn die Kinder vor und nach dem Unterricht in übervollen Bussen ohne jede Möglichkeit der Abstandswahrung zu ihren Wohnorten transportiert werden, wie es sicherlich nicht nur in meinem Wahlkreis, der Sächsischen Schweiz, geschieht? Und dass es in Zehntausenden Klassenzimmern in Deutschland wegen blockierter Fenster gar keine Möglichkeit zum Lüften der Räume gibt, sei hier nur am Rande erwähnt. Deshalb frage ich schon: Was haben Bund und Länder in den letzten Monaten eigentlich unternommen, um sich auf die ja nun wahrlich nicht überraschend kommende zweite Welle der Coronapandemie vorzubereiten? ({15}) Wichtig ist zudem, dass die politischen Entscheidungen nicht nur nachvollziehbar, sondern auch gerichtsfest sind. Nicht nur die umstrittenen Beherbergungsverbote, sondern auch Einschränkungen des Versammlungsrechts wurden durch diverse Gerichte aufgehoben. Diesen Urteilen muss künftig Rechnung getragen werden. Natürlich geht es letztlich auch um die Frage, wer denn die Kosten dieser Krise trägt. Wir als Linke fordern hier eine einmalige Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre als ersten wichtigen Schritt. ({16}) Meine Damen und Herren, noch einmal: Gerade in dieser schwierigen gesundheitlichen Lage muss der Bundestag bei Grundrechtseinschränkungen das Letztentscheidungsgremium sein und bleiben. Das fordern wir als Linke seit Langem. Dafür bedarf es endlich der Einsicht von Bundesregierung und Koalition, aber ganz sicher keines Antrags der AfD. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD ist kein seriöser Gesprächspartner, wenn es um die Frage der Coronapandemiebekämpfung geht, und schon gar nicht, wenn es um die Frage von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Parlamentarismus geht. ({0}) Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, dann heute diese apokalyptischen Beiträge des AfD-Redners. Meine Damen und Herren, eine Fraktion und Partei, die konsequent die Gefahren dieser Coronapandemie leugnet, ist doch in einer solchen Debatte einfach nicht ernst zu nehmen: „Wir haben keine Pandemie in Deutschland.“ – „Die pandemische Lage, wenn sie denn da gewesen sein sollte, die ist vorbei.“ – Es gibt „keine Coronatoten. Die werden mit Gewalt in die Statistik hineingelogen, um eine zweite Welle zu produzieren.“ – Das sind alles Zitate aus Ihrer Fraktion von Ende Oktober. ({1}) Gleichzeitig, meine Damen und Herren, ging es im März/April der Fraktionsvorsitzenden nicht scharf genug. ({2}) Das ist Tatsache. Man sieht doch, wie Sie hin und her pendeln und jetzt versuchen, sich mit Widerstand auf der Straße Gehör zu verschaffen. ({3}) Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, wie die Zitate, die ich vorgetragen habe, auf die Familien, die Angehörigen, die Freundinnen und Freunde der fast 11 000 an Covid-19 gestorbenen Menschen in Deutschland wirken, was sie für sie bedeuten. Jede einzelne dieser furchtbaren Äußerungen und Leugnungen ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen Menschen, die erkrankt sind und die um ihr Leben bangen und vom Tod bedroht sind. ({4}) Diejenigen, bei denen der Krankheitsverlauf relativ harmlos war, sind wahrscheinlich froh und dankbar, dass es so war, meine Damen und Herren. Deshalb sind Sie kein seriöser Gesprächspartner, wenn es um die Coronapandemie und ihre Bekämpfung geht; denn die braucht ein entschlossenes Handeln. Das zeigt uns die Entwicklung der Pandemie in Europa, ({5}) das zeigt uns die Entwicklung der Pandemie in den USA mit über 200 000 Toten. Sie sind doch überhaupt nicht in der Lage, in so einer Krise zu handeln, meine Damen und Herren. ({6}) Wir haben allein heute 19 900 Neuinfektionen. Über 11 000 Menschen sind in Deutschland gestorben. Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte arbeiten am Rande ihrer Kräfte. Das alles ist die Realität. Und dann stellen Sie sich hierhin mit ihrem Klub der Verweigerer und tun so, als gebe es keine Pandemie und als gebe es kein Problem. Dabei zwingt uns diese Pandemie, wirklich in dieser Krisensituation zu handeln, den Schutz der Gesundheit und die Einhegung des Infektionsgeschehens auch wirklich mit konkreten Maßnahmen vorzunehmen, meine Damen und Herren. ({7}) Der zweite Punkt: die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und der Parlamentarismus. Wer so spaltet, wer die Nähe von Rechtsextremen, von rechten Netzwerken sucht oder längst für sich gefunden hat, wer sich mit Verschwörungsideologien gemeinmacht, der hat doch jede Glaubwürdigkeit, für Parlamentarismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu kämpfen oder kämpfen zu wollen, verloren; der hat sie nie gehabt, meine Damen und Herren. ({8}) Wir wissen doch alle – das sehen wir hier jede Parlamentswoche aufs Neue –, wie Sie immer wieder den Versuch unternehmen, die demokratischen Institutionen oder wahlweise das Parlament oder manchmal auch beides auf einmal verächtlich zu machen. Sie als Fraktion sind doch keine ernstzunehmende Kraft, bei der man sagen kann: Sie schützt das Parlament; sie schützt den Rechtsstaat oder die Demokratie. – Sie greifen sie an, jeden Tag aufs Neue. Das Instrument der Verächtlichmachung der Demokratie ist eines der gefährlichsten. ({9}) Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir auch alle so achtsam sein, müssen wir aufpassen und müssen wir zwischen den demokratischen Fraktionen die Gemeinsamkeit suchen ({10}) und jetzt in dieser Coronakrise gemeinsam überlegen: Wie können wir bei allem, was zu entscheiden ist, die Stärke des Parlaments klarer betonen? ({11}) Ich bin froh, dass es dazu Ihrerseits ein Signal gibt. Es hat lange genug gedauert, und das war ein Fehler. Aber ich bin froh, dass es jetzt das Signal gibt, zu sagen: Ja, auch wir haben verstanden. Gemeinsam werden wir das Infektionsschutzgesetz grundlegend reformieren. – Gerade in der Krise bewährt sich der Rechtsstaat. Länderverordnungen müssen konkretisiert werden. Wir brauchen klare Kriterien und ein bundeseinheitliches Handeln bei aller Unterschiedlichkeit der Regionen; denn für die Menschen muss nachvollziehbar sein, was wir tun. Und wir brauchen die wissenschaftliche Begleitung durch einen Pandemierat, meine Damen und Herren. ({12}) Ich hoffe, wir kommen ab morgen in der Debatte in der Frage des notwendigen Parlamentsvorbehaltes ein Stück weiter – denn der verpflichtet uns zu klarerer Begründung – und auch in der Frage des Bestimmtheitsgebotes. Meine Damen und Herren, ich finde, wir sollten gemeinsam daran arbeiten. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land befindet sich in der wohl schwierigsten Zeit seit einigen Jahrzehnten. Unser Rechtsstaat ist unter dem Druck – das muss man zugestehen – der größten Freiheitsbeschränkung seit Bestehen des Grundgesetzes. Aber gerade solche Zeiten erfordern von uns gemeinsam, dass wir hier ernsthaft diskutieren, dass wir hier ehrlich diskutieren und dass wir das mit Respekt vor unserer Verfassung tun. Den lassen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, einfach vermissen. Das hat auch Ihr heutiger Beitrag wieder gezeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Man kann immer politisch unterschiedlicher Meinung sein, gerade auch bei den Coronamaßnahmen. Aber was nicht geht, ist, permanent, wenn einem die politischen Argumente ausgehen, immer nur mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit um sich zu werfen. Ich sage Ihnen: Das ist ein Muster, das wir von der AfD doch schon kennen. Schauen wir uns das an. Zur Euro-Politik der Regierung kann man unterschiedlicher Meinung sein. Sie haben sie für verfassungswidrig gehalten; das Bundesverfassungsgericht hat sie bestätigt. Die Migrationspolitik haben Sie als verfassungswidrig kritisiert. Man kann unterschiedlicher Meinung sein; aber vor dem Bundesverfassungsgericht sind Sie krachend baden gegangen. Ich sage Ihnen: Bei der Coronapolitik ist es wieder so. Ihnen fällt außer dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit nichts ein. Sie werden damit scheitern. So einfach lassen wir Ihnen das nicht durchgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich bin ja wirklich ein großer Freund der Verfassung und weiß auch: Die Verfassung setzt dem Staat Grenzen. Sie gibt aber in den seltensten Fällen nur eine Handlungsoption vor, sondern lebt in der Regel von Handlungsalternativen. Genau diese Handlungsalternativen haben wir im Moment. Natürlich kann die Regierung durch das Parlament stärker beschränkt werden. Aber am Ende haben wir als Parlament den Entscheidungsspielraum. Das ist es, was Sie nicht verstehen wollen; denn Entscheidungsspielräume verleugnen Sie. Man muss vielleicht manches Mal ein plastisches Beispiel nehmen: Die Verfassung ist so toll, dass sie es Ihnen auch erlaubt, Leute im Grenzbereich zum Rechtsextremismus nicht aus Ihrer Partei zu werfen, wie es andere machen, sondern sogar mit Führungspositionen zu versorgen. Man kann es anders machen. Am Ende entscheidet der Wähler, was richtig ist. Wir sind überzeugt, dass wir hier die richtigen Alternativen wählen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wenn Sie sagen, das Parlament sei nicht beteiligt worden, dann gibt es dafür nur zwei Erklärungsansätze. Entweder Sie haben nicht mitbekommen, wie wir hier Debatte um Debatte geführt, Konditionierung um Konditionierung im Haushalts- und im Fachrecht behandelt haben, oder Sie verdrehen es bewusst. Ein bewusstes Verdrehen ist natürlich die Einordnung der Ministerpräsidentenkonferenz, wie Sie sie hier vornehmen. ({3}) Wenn man sagt, wir würden den Beschlüssen im Kanzleramt hinterherlaufen, dann ist das schlicht falsch. In Wahrheit gehen wir den Beschlüssen im Kanzleramt voraus; denn das, was dort beschlossen wird, funktioniert nur auf der Grundlage unserer parlamentarischen Ermächtigung. Insoweit sage ich: Wir als Parlament sollten uns nicht permanent kleiner machen, als wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das muss hier der Maßstab sein. ({4}) Natürlich kann man die Forderung erheben und fragen: Muss die Regierung nicht klarer konditioniert werden? Ich sage Ihnen: Mittlerweile kann man zu der Meinung kommen, dass man bestimmtere Einschränkungen im Infektionsschutzgesetz vornehmen muss. Ich sage aber „mittlerweile“; denn es gilt der Grundsatz: Je länger Grundrechtseingriffe andauern und vor allem je konstanter eine Gefährdungslage ist, desto eher muss man konkretisieren. Dass wir jetzt das Infektionsschutzgesetz zu diesem Zeitpunkt ändern, ist kein Nachsteuern aufgrund Ihres Drucks oder irgendwelcher Behauptungen. Das ist logisch, das ist konsequent, das ist folgerichtig. So geht vernünftiges Regieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wie wir vorgehen, ist verfassungsadäquates Handeln. Aber ich will Ihnen noch sagen, was eben nicht verfassungsadäquat ist. Nicht verfassungsadäquat ist es, diese Bedrohung, die wir durch die Coronasituation haben, zu leugnen, sie zu ignorieren und staatlichen Schutzpflichten nicht nachzukommen. Da muss ich Ihnen sagen – das haben Sie wieder par excellence gezeigt –: Sie nennen sich „Alternative für Deutschland“, bieten hier aber gar keine Alternativen an. Sie sagen einfach, die Beschlüsse sollten rückgängig gemacht werden. Sie wollen Risikogruppen schützen, obwohl man sagen muss: Wenn wir uns das demografisch anschauen, ist die Risikogruppe mittlerweile so groß, dass die Hälfte der Bevölkerung zur Risikogruppe gehört. Sie haben keinen Plan, Sie haben keine Argumente, sondern tragen nur das Ammenmärchen der Verfassungswidrigkeit vor. Das reicht nicht aus. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Philipp Amthor. – Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass ausgerechnet die AfD heute einen Antrag auf mehr Parlamentsbeteiligung stellt, hat einen Hauch von Treppenwitz, finde ich. Denn es ist doch gerade die AfD, die ein ums andere Mal ihre Verachtung für dieses Parlament deutlich macht. ({0}) Es ist doch immer die AfD, die jedes Mittel ergreift, um dieses Parlament der Lächerlichkeit preiszugeben. Und es ist die AfD, die immer wieder versucht, die Würde dieses Hauses infrage zu stellen, meine Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Sie stören den Parlamentsbetrieb, Sie missbrauchen die Geschäftsordnung, Sie stellen die Sitzungsleitung infrage. Es geht doch der AfD gar nicht darum, mehr Parlamentsbeteiligung zu erwirken. Was die AfD will, ist nicht etwa mehr Parlamentsbeteiligung bei der Pandemiebekämpfung. Sie wollen gar keine Pandemiebekämpfung. Das ist der Unterschied. ({2}) Dabei geht es um ein ernstes Anliegen. Es geht darum, wie wir mit wirksamen und verhältnismäßigen Mitteln dieser Pandemie und ihrer Ausbreitung Herr werden und gleichzeitig berechtigte wirtschaftliche Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmer sowie soziale und kulturelle Bedürfnisse der Menschen ernst nehmen und nicht unter den Tisch fallen lassen, gerade wenn die Pandemiebekämpfung länger dauert. Darum geht es doch. Darum ringen wir hier sehr ernsthaft und auch sehr kontrovers. Das muss sein. Deswegen gehört in der Tat die Diskussion über die Pandemiebekämpfung in dieses Haus. Der Bundestag ist auch ein gutes Interessenausgleichsorgan, weil hier viel mehr als in den Ministerien, in der Regierung, im Bundeskanzleramt die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der Bevölkerung in ihrer Breite vertreten sind. Das können wir leisten. Wir bilden das so gut ab wie sonst kein Verfassungsorgan, meine Damen und Herren. ({3}) Gerade die Opposition hat die Aufgabe, die Schwachstellen in der Regierungspolitik herauszufiltern. Das ist nicht etwa, wie der Unionsfraktionsvorsitzende in der letzten Woche bei der Regierungserklärung der Kanzlerin sagte, eine Anmaßung. Das ist nicht unwürdig. Wir müssen uns nicht dafür schämen. Es ist unsere Aufgabe, das zu tun, die Schwachstellen aufzuspüren. ({4}) Das ist Teil des Qualitätsmanagements, das ein Parlament leisten muss. Nirgendwo sonst kreuzen sich so die Klingen von Meinungen und Gegenmeinungen, prallen Argument und Gegenargument so aufeinander. Das ist unsere Aufgabe. Wir denken in Wählerlogik, weil die Rückspiegelungen der Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger bei uns ankommen. ({5}) Deswegen sind wir legitimiert, Recht zu setzen. Das können wir ausnahmsweise auch mal an die Regierung durch Rechtsverordnung delegieren; aber dann müssen wir laut Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz auch Inhalt, Zweck und Ausmaß klar bestimmen. Nun mag es im Frühjahr dieses Jahres, im März und im Mai, die Situation gegeben haben, wo wir kaum eine andere Möglichkeit hatten, als generalklauselartig weitreichende Befugnisse, auch Ermessensbefugnisse an die Regierung zu delegieren. ({6}) Aber irgendwann können auch wir uns nicht mehr einen schlanken Fuß machen. ({7}) Irgendwann stehen wir in der Verantwortung, Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 auszufüllen und klar zu sagen, was denn nun die Ermächtigung der Regierung ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege!

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir stehen in der Verantwortung. Wir sind auch der bessere Gesetzgeber; wir sind schnell genug und gründlich. Deswegen müssen wir uns wieder mehr in die Verantwortung nehmen lassen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Thomae. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Mahmut Özdemir. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal überzieht die AfD dieses Haus mit einem Antrag, der untauglich ist und vor Widersprüchlichkeit strotzt. Nicht alles kann man in fünf Minuten Redezeit und in einer solchen Debatte richtigstellen. ({0}) Aber wenn Sie solche Dinge kritisieren wie die in Ihrem Antrag, dann empfehle ich einen Blick in ein kleines graues Büchlein – das Grundgesetz –, das sich auch in Ihren Schubladen befindet. Ich zitiere einmal einige wenige Passagen daraus: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, – das sind wir – der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Für die Kollegen von der Linken, die die Bundesstaatlichkeit kritisieren und die mittlerweile das Privileg haben, in dem einen oder anderen Bundesland Verantwortung zu haben, zitiere ich Artikel 30 des Grundgesetzes: Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Jeder, der irgendeine Ministerpräsidentenkonferenz oder ‑zusammenkunft kritisiert, kritisiert also gleichzeitig die Bundesstaatlichkeit. ({1}) Ein Blick in die Verfassung ist immer eine gute Idee, und Lesen ist immer bildend. ({2}) Vollmundig bezichtigt die AfD-Fraktion die Regierung, den Bundestag zu übergehen. Sie suggerieren in Ihrem Antrag, dass Sie wuchtiges parlamentarisches Vorgehen an den Tag legen. Dabei umfasst dieser Antrag maximal drei Seiten. Darin schreiben Sie von Parlamentsvorbehalt, Rechten des Parlaments und Kontrollbefugnissen. Dann schreiben Sie im Forderungsteil, dass die Bundesregierung Ihnen einen Gesetzentwurf schreiben soll, der den Parlamentsvorbehalt wiederherstellt. Widersprüchlicher geht es doch gar nicht. Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Entweder sind Sie faul, unfähig, oder Sie haben die Verfassung nicht verstanden. ({3}) Es geht um mehr in diesem Land. Die Menschen zweifeln. Sie hadern, sie hinterfragen Dinge – zu Recht. Es ist ihr Grundrecht, Dinge zu hinterfragen. Der Sportverein fragt, warum man den Trainingsbetrieb einstellen muss. Der Gastronom fragt, warum wir in seine Berufsfreiheit eingreifen. Das zeigt, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht nur hier im Plenarsaal gefordert sind. Die Passagen, die ich Ihnen gerade vorgetragen habe, zeigen, dass das Volk uns Macht überträgt und dass wir es vertreten sollen. Wir sind die Sensoren der Demokratie, die jeden Tag aufs Neue schauen müssen – Koalition und Opposition –, ob die Regierung korrekt Gebrauch macht von dem, was wir ihr per Gesetz einräumen. Nur so schafft man wieder Akzeptanz in diesem Land, und dafür hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier vorgelegt, auf das ich sehr stolz bin. ({4}) Fakt ist: Wir können hier im Deutschen Bundestag nicht umgangen werden. Es gibt eine ununterbrochene Legitimationskette in diesem Land. Wir, der Deutsche Bundestag, oder die Länderparlamente bestimmen Regierungen. Regierungen bestimmen Beamte. Beamtinnen und Beamte treffen Einzelfallentscheidungen. Das heißt, wir, die Parlamente, wirken bis zu jedem Einzelfall und jeder Einzelentscheidung hindurch und stellen uns jeden Tag aufs Neue auch der gerichtlichen Überprüfung. Mit diesem Antrag zeigen Sie, dass Sie den Staatsaufbau nicht verstanden haben. Sie brauchen Angst – die schüren Sie selber – und Verunsicherung im Land. Sie fordern, dass wir Dinge rückgängig machen sollen, als ob das etwas besser machte. Sie haben keine eigenen Vorstellungen. Sie versuchen krampfhaft, ein bestimmtes Bild zu zeichnen, weil es Ihre Daseinsberechtigung ist. Sie wollen den Leuten weismachen, dass es einen Kontrollverlust in diesem Land gibt. Das ist widersprüchlich, das ist planlos, und das ist ziellos, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({5}) Wir wollen Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen schaffen. Wo sind Sie eigentlich gewesen, als wir in diesem Parlament über das vornehmste Parlamentsrecht bestimmt und davon Gebrauch gemacht haben, nämlich einen Haushalt zu beraten, das Grundgesetz zu ändern, über die Schuldenbremse hinaus Investitionen für die Menschen in diesem Land vorzunehmen, als wir Kindergelderhöhungen, als wir Kurzarbeitergeld, als wir die unbürokratische Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, als wir Steuersenkungen für Gastronomen, als wir Mehrwertsteuersenkungen beschlossen haben? ({6}) Wo waren Sie, als wir hier im Deutschen Bundestag darüber debattiert und entsprechende Gesetze gemacht haben? ({7}) Eine Umgehung des Bundestages ist nicht möglich. Ich habe Ihnen das Grundgesetz vorgelesen. Dem einen oder anderen Kollegen sollte man vielleicht auch die Verhaltensregeln für Abgeordnete im Deutschen Bundestag vorlesen. Ich möchte mich noch auf die konkrete Lage beziehen. Wenn Sie über das Infektionsschutzgesetz reden, sollten Sie sich § 5 anschauen. Dort lautet der erste Satz: Der Deutsche Bundestag stellt eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. Sie halten die Menschen im Land zum Narren. Sie sind aber am Ende der Hofnarr, der der eigenen Gaukelei zum Opfer fällt. Wir bestimmen als Parlament mit Gesetzen die Richtung für die Bundesregierung. Wir sagen, wie weit sie gehen darf, indem wir sie mit Haushaltsmitteln ausstatten. Wir sind am Ende auch diejenigen, die die Notbremse ziehen, wenn uns das Regierungshandeln nicht mehr passt. Die entsprechende Debatte führen wir hier im Deutschen Bundestag. Wir werden Ihren Antrag ablehnen ({8}) und brauchen, wenn es nach mir geht, keine weitere Beratung im Ausschuss. In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Krauß. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Keine Frage, die getroffenen Maßnahmen sind starke Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger. Dafür braucht es einen guten Grund, und es braucht verständliche Begründungen für die Menschen. Der gute Grund findet sich in Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Ich finde, der Staat muss alles unternehmen, damit das Gesundheitswesen nicht überfordert wird, damit Ärzte nicht gezwungen sind – wie wir das in Italien erlebt haben –, zu entscheiden, welcher Patient die Chance auf einen Beatmungsplatz bekommt, welcher Patient die Chance auf Überleben bekommt und welcher nicht. Ich möchte nicht, dass wir vor solche Entscheidungen gestellt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die angesprochenen Beispiele stammen nicht aus irgendwelchen Entwicklungsländern. Vielmehr können wir die Überforderung des Gesundheitswesens in Italien, in Spanien, in Frankreich und in den USA studieren, also in hochentwickelten Ländern. Wenn wir ehrlich sind, können wir das auch in einigen Regionen in Deutschland studieren. Denken wir an den Landkreis Heinsberg, wo im Frühjahr Patienten wegverlegt und Ärzte zugeführt werden mussten, um die Situation in den Griff zu bekommen. Dort waren nur 15 Prozent der Bevölkerung infiziert. Es handelt sich also um eine reale Gefahr. Deswegen ist das Ziel richtig, die Zahl der Kontakte zu halbieren. Die Richtung stimmt, wie wir in den letzten Tagen sehen. Wenn wir uns die Berliner Innenstadt anschauen, dann stellen wir fest, dass es ruhiger geworden ist. Es gibt nicht mehr so viele Menschen, die auf den Plätzen herumstreunen und ihr Bier trinken. Das ist eine gute Entwicklung, wie ich finde. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt nur einen Vorschlag der AfD, wie man mit der Situation umgehen soll. Das ist der Vorschlag, die Risikogruppen zu isolieren. Der Rest darf also weiter feiern. Das ist die Botschaft, die die AfD hat. Zuerst irritiert mich das damit verbundene Freiheitsverständnis: Ich komme über alles. Was interessiert mich mein kranker Nachbar? – Das ist das Denken, das dahintersteckt. ({1}) Warum soll ich eine Party weniger machen, nur damit jemand anderes nicht krank wird und gesund bleibt? – Herr Gauland hat das in der vergangenen Woche relativ deutlich gesagt – ich bin ihm dankbar dafür, dass er das so deutlich gesagt hat –: Dann sterben halt welche. Was soll’s? – Das ist seine Grundeinstellung. Da gibt es keinerlei Mitgefühl und keinerlei Empathie. Das ist nicht mein Verständnis von einer Gesellschaft, in der ich leben möchte. ({2}) Bei dem Vorschlag der AfD kann man sich auch fragen, wie das praktisch gehen soll, Risikogruppen zu isolieren. Sollen in den Altenpflegeheimen die 80-Jährigen die 80-Jährigen pflegen? Denn die jungen Leute, die jetzt in den Pflegeheimen arbeiten, kann man dann nicht mehr hineinlassen, weil diese ja unter sich bleiben sollen. Oder wie machen wir das in den Familien? Darf die Oma ihre Enkel nicht mehr sehen, weil man Alt und Jung trennen muss? Wer gehört eigentlich zur Risikogruppe? Jeder dritte Deutsche ist über 60 Jahre alt und gehört damit zur Risikogruppe. Es gibt Diabetiker, Krebskranke, Menschen mit einem geschwächten Immunsystem und Raucher. Wenn man auf die RKI-Seite schaut, stellt man fest, dass auch die Männer eine Risikogruppe sind, die für schwere Verläufe prädestiniert ist. Es wird nicht funktionieren, all diese Gruppen auszuschließen. Die AfD hat ja vorgeschlagen, dass es für Risikogruppen und Nichtrisikogruppen getrennte Einkaufszeiten in den Supermärkten geben soll. Ein vollkommen absurder Vorschlag, der an der Realität vollkommen vorbeigeht! ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja, die getroffenen Maßnahmen sind einschneidend. Ja, die getroffenen Maßnahmen sind belastend. Aber sie sind eben auch richtig. Wir dürfen nicht zuschauen, wie die Intensivstationen volllaufen. Deswegen bedarf es eines beherzten Handelns. Die Bundeskanzlerin hat mit den Ministerpräsidenten beherzt gehandelt. Ich bin den Handelnden dafür sehr dankbar. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Krauß. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegen von der AfD, es ist wie häufig bei Ihren Anträgen: Die Anträge sind schlicht nicht redlich. Es ist nicht redlich, dass Sie immer nur die eine Seite der Medaille beleuchten, also die teilweise massiven Einschränkungen, welche die Menschen in unserem Land zurzeit tragen müssen, und dabei völlig außen vor lassen, warum diese Maßnahmen getroffen wurden. Es ist nicht redlich, dass Sie so tun, als würde unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel morgens aufstehen und sich überlegen, welche Beschränkungen sie unserem Land auferlegen kann. Es ist nicht redlich, dass Sie einfach völlig unerwähnt lassen, warum wir diese Einschränkungen beschlossen haben. Wir haben sie beschlossen, weil wir uns aktuell in einer handfesten Pandemie befinden und weil wir die berechtigte und belegbare Sorge haben, dass unser Gesundheitssystem überlastet wird. ({0}) Deshalb ist es geradezu ironisch, dass Sie uns das vorwerfen, was Sie ständig tun. Sie wägen nicht ab, Sie betrachten die Situation einseitig, und Sie lassen keine Verhältnismäßigkeit – ganz konkret in Ihren Anträgen – walten. ({1}) Selbstverständlich führen wir als Unionsfraktion in unseren Gremien die Debatte über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Und morgen werden wir als Regierungsparteien den Entwurf eines Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes einbringen. Darin enthalten ist der neu gefasste § 28a Infektionsschutzgesetz, in dem wir die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen besonders betonen. Das Schlimmste für mich aber ist, dass Sie anscheinend glauben, dass die Menschen in unserem Land keine Zahlen verstehen. Ja, es ist selbstverständlich zulässig, Maßnahmen zu kritisieren. Ich denke, alle in diesem Haus verstehen die Sorgen und manchmal auch die Wut der Menschen, die von den Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen betroffen sind. Aber auch diese Menschen sehen die Zahlen. Sie sehen, dass es am 18. Oktober 769 Covid-Fälle in intensivmedizinischer Behandlung gab; das waren 39 Fälle mehr im Vergleich zum Vortag. Sie sehen, dass es am 28. Oktober, also zehn Tage später, schon doppelt so viele Fälle, nämlich 1 569, mit einer Steigerung zum Vortag von 99 Fällen, gegeben hat. Und gestern waren wir bei 2 546 gemeldeten Fällen mit einer Steigerung zum Vortag von 158 Fällen. Daher scheint es sehr realistisch, was unter anderem mein geschätzter Kollege Henke in der letzten Debatte gesagt hat. Er hat prognostiziert, dass wir am 7. November 3 000 Fälle in intensivmedizinischer Behandlung haben werden, also eine weitere Verdoppelung in den letzten zehn Tagen. Das nennt man Mathematik, das ist Logik. Ich fände es einfach nur überheblich und weltfremd, wenn wir davon ausgehen würden, dass uns all das, was in anderen europäischen Ländern gerade passiert, nicht passieren könnte. ({2}) Von den regulär benötigten freien Kapazitäten in der Intensivmedizin für Notfälle will ich hier gar nicht sprechen. In meiner schönen fränkischen Heimat sagt man landläufig: There is no glory in prevention. – Also, wenn ein Schaden verhindert wird, erntet man dafür keinen Ruhm, weil der Schaden faktisch nicht eingetreten ist und damit nicht spürbar war. Aber gerade das macht gute Politik in Zeiten eines Pandemiegeschehens aus: vorausschauend handeln. Und dabei muss selbstverständlich die Verhältnismäßigkeit ein zentraler Punkt sein. Deshalb ist es auch nur angemessen, dass wir als Gesellschaft den entstandenen Schaden der von den Einschränkungen betroffenen Branchen ausgleichen. Die betroffenen Branchen übernehmen ja ihrerseits stellvertretend für unsere gesamte Gesellschaft aktuell den größten Teil der Last in dieser Pandemie. ({3}) Aber selbst unsere Gastronomen – ich spreche mit vielen Betroffenen in meinem Wahlkreis –, Reisebürobetreiber, Kunstschaffende usw. wissen, dass die Regierung und auch die Parlamente handeln müssen. Noch zwei weitere Punkte, die mich wirklich an Ihren Anträgen ärgern, weshalb wir diese ablehnen: Zum einen ignorieren Sie einfach unsere föderalen Strukturen und verkennen, dass manche Ihrer Forderungen in die Zuständigkeit der Länder fallen. Zum anderen ist es bei über 70 Debatten zu Anträgen und Hilfspaketen und Diskussionen in den Haushaltsausschüssen langsam lächerlich, dass Sie weiterhin behaupten, das Parlament werde nicht gehört und habe an den Entscheidungen nicht teil. ({4}) Zum Schluss ist es mir wichtig, schlicht zu betonen: Es ist, zum Glück, ein Thema auf Zeit, und auch die Maßnahmen sind zeitlich befristet. Aber wir sind nach Japan die zweitälteste Gesellschaft dieser Welt, und auch deshalb haben wir eine besondere Verantwortung. Bei allen Schwierigkeiten, die wir haben, macht es mich stolz und bin ich dankbar, wenn ich erlebe, wie ganz viele der jungen Generation Verantwortung gegenüber der älteren Generation übernehmen, indem sie achtsam sind. Das lässt mich zuversichtlich auf unsere Gesellschaft blicken. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Emmi Zeulner. Danke auch dafür, dass Sie einen Beweis geliefert haben, wie mehrsprachig die Franken und Fränkinnen sind. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben geliefert: Im März ein Treffen des Koalitionsausschusses, und heute beschließen wir sage und schreibe das vierte Gesetz zur Planungsbeschleunigung in dieser Legislaturperiode. Da nehmen wir hier bei der Planungsbeschleunigung wirklich Tempo auf. ({0}) Rekordinvestitionen lassen sich auch nur mit beschleunigter Planung umsetzen. Dass wir in unserer Verkehrsinfrastruktur schneller zum Bau kommen müssen, haben wir die letzten Jahre deutlich gemerkt. Es war keine Frage des Geldes, ({1}) sondern es war eine Frage der Planung und des Baurechts. Deswegen auch ein Dankeschön an das Bundesverkehrsministerium für die rasche Umsetzung dieses vierten Planungsbeschleunigungsgesetzes. ({2}) Warum ist das so wichtig? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wollen einen klimafreundlichen Verkehr. Wir alle reden davon, dass wir mehr mit der Bahn fahren wollen. Genau an dieser Stelle setzt dieses Planungsbeschleunigungsgesetz an. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, 70 Prozent des Schienennetzes zu elektrifizieren; um die 60 Prozent sind es. Eine Elektrifizierungsoffensive macht aber nur dann Sinn und hat nur dann wirklich Aussicht, umgesetzt zu werden, wenn wir Änderungen im Planungsrecht vornehmen; und genau das machen wir. ({3}) Einfach ausgedrückt: Man sagt, man elektrifiziert. Man zieht ein bisschen Draht, und alles ist gut. – Wenn man sich die Planungsvorläufe davor aber anschaut – Umweltverträglichkeit, Planfeststellung; Planfeststellung, Umweltverträglichkeit –, dann ist es richtig, dass wir jetzt genau das zusammenfassen und in einer Vorprüfung gemeinsam machen. Wir erleichtern die Verfahren bei der Digitalisierung der Bahnstrecken, bei der Erhöhung oder Verlängerung von Bahnsteigen und beim barrierefreien Ausbau. Wer von uns allen kennt nicht die Diskussionen vor Ort, wenn man sagt: „Wir wollen den Bahnsteig ein bisschen verlängern, den Bahnsteig ein bisschen erhöhen, eine Unterführung, einen Aufzug einbauen“? Und zehn Jahre Planung sind weg. – Das kann doch nicht sein. Deswegen ist dieses Planungsbeschleunigungsgesetz an dieser Stelle für die Menschen vor Ort so wichtig. ({4}) Gleiches gilt für die Errichtung von Schallschutzwänden zur Lärmsanierung. Die Menschen vor Ort haben kein Verständnis, dass wir Jahre brauchen, um eine Schallschutzwand zu planen und zu errichten, weil wir eine Prüfung an die andere reihen und dann im Verfahren das Ganze wieder beginnen und doppelt machen. Schienenverkehr hat nur Akzeptanz, wenn es uns gelingt, Lärmschutz an den Strecken zu bauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein weiterer Meilenstein im Raumordnungsrecht: Auch hier, glaube ich, ist es höchste Zeit, dass wir die Bekanntmachung und Auslegung von Verfahrensunterlagen im Internet vornehmen. Es ist wichtig, dass wir beim Neubau kleiner Verbindungsschienenstrecken Doppelprüfungen vermeiden. Auch das ist doch ein Ärgernis, das wir keinem vor Ort erklären können. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte gewesen. ({5}) – Da brauchen Sie nicht reinzurufen. Sie sind ja meistens Mitauslöser des Ärgernisses. ({6}) Sie unterstützen bei mir im Wahlkreis gerade eine Klage gegen einen barrierefreien Ausbau. ({7}) Wir können uns gern einmal darüber unterhalten, wie Ihr Reden hier und Ihr Verhalten vor Ort auseinanderfallen. ({8}) Wir vereinfachen das Verfahren bei den Verwaltungsgerichten, indem wir als erste Instanz das Oberverwaltungsgericht vorsehen. Auch das ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ja, es ist das vierte Beschleunigungsgesetz. Ich bin überzeugt: Wir werden auch noch ein fünftes brauchen. Warum? Ich sage das so deutlich, weil die Wiedereinführung der materiellen Präklusion nach unserer Auffassung noch fehlt. Das gehört dazu. Wenn jemand einmal zu spät ist – ja, Frau Präsidentin, ich werde nicht zu spät sein –, dann ist er zu spät. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das vierte Planungsbeschleunigungsgesetz ist wichtig, das fünfte kommt ohne Verspätung. Danke schön. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulrich Lange. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Der Gesetzentwurf der Koalition, den wir heute bereits zum zweiten Mal hier besprechen, kommt viel zu spät. Der Transitverkehr, der über deutsche Autobahnen rollt, hat sich in den letzten 20 Jahren auf vielen Strecken verdreifacht. Das Netz wurde jedoch völlig unzureichend, quasi gar nicht, ausgebaut. Im Gegensatz zum Entwurf der Regierung ist unser Antrag – unser Antrag! – von dem Wunsch nach einer leistungsfähigen Infrastruktur aller Verkehrsträger geleitet. Das heißt, anders als Sie denken wir auch an den Ausbau der Straßen und der Luftfahrtinfrastruktur. ({0}) Abgesehen vom fehlenden politischen Willen scheitert der Infrastrukturausbau in unserem Land an der knappen Planungskapazität. Um diese knappe Ressource der Planungskapazitäten bestmöglich einzusetzen, steht im Kern unseres Antrags eine Kosten-Nutzen-Analyse aller geplanten Projekte. Wenn es nach unserem Antrag geht, dann wird zuerst das gebaut, was den Menschen in diesem Land am meisten nützt: Das ist nun fast immer ein Ausbau der Straßeninfrastruktur. ({1}) – Ja, ja. – Für die meisten Bürger in unserem Land ist auch interessant, dass eine Beschleunigung der Planung und der Genehmigung von Infrastrukturprojekten eine Vorgabe der Europäischen Union ist; manchmal kommt auch etwas Sinnvolles aus Brüssel. In einer EU-Verordnung – KOM(2018) 277 endg. – will die EU den Mitgliedstaaten vorschreiben, dass diese ihr Planungschaos beenden sollen. Die Erarbeitung der Planungsgrundlage soll zwei Jahre dauern dürfen, der Genehmigungszeitraum – jetzt hören Sie alle einmal zu! – soll laut EU nur ein Jahr betragen. Dagegen gibt es Widerspruch von der Bundesrepublik Deutschland. Ich zitiere aus Ihrem Widerspruch: Artikel 6 … verkennt, dass sich die Dauer eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht gesetzlich verordnen lässt. Insoweit sind die Fristen … – der EU; das habe ich jetzt eingefügt – willkürlich gesetzt. Sie sind zudem in der Praxis nicht umsetzbar, da weder national … noch europarechtlich … vorgeschriebene Verfahren berücksichtigt sind. Ich übersetze das einmal in die Umgangssprache: Die Bundesregierung möchte die deutschen Behörden so lange planen und genehmigen lassen, wie sie es für richtig halten – notfalls auch ewig. ({2}) Argumentiert wird mit der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerbeteiligung. Viele andere Staaten der EU, zum Beispiel die Niederlande bzw. Dänemark, die solche Genehmigungsprozesse in zwei Jahren durchziehen, sind also nach Einschätzung der Regierung keine Rechtsstaaten oder haben unzureichende Bürgerbeteiligungen. In Ihrem vorliegenden Antrag machen Sie übrigens genau das Gegenteil von Bürgerbeteiligung: Für die total unsinnige Verspargelung unserer Landschaft mit Hunderte Metern hohen Windindustrieanlagen schließen Sie die aufschiebende Wirkung von Klageverfahren explizit aus. Ich fasse zusammen: Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil er genau da, wo es für dieses Land wichtig ist, nämlich bei der Straßeninfrastruktur, fast keine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren erzielt, und genau da, wo wir die Bürgerbeteiligung erhalten wollen, etwa bei Windindustrieanlagen, wollen Sie die Bürgerbeteiligung ausschalten. ({3}) Es ist unsere Aufgabe als Oppositionspartei, Ihre Mogelpackung und doppelzüngige Politik aufzudecken. Genau das werden wir auch weiterhin tun. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Spaniel. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Mathias Stein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Spätsommer trank ich in der Kieler Innenstadt einen Cappuccino, während eine Gruppe von Klimaaktivisten von Extinction Rebellion drohte, eine Aktion zu machen. Sie warnte vor dem Klimawandel, und ein junger Mann erklärte, dass er zur Rettung des Klimas und mit deutlichem Unmut seiner Mutter zu Hause die Heizung abgedreht hatte. Seine Botschaft war deutlich: Wir müssen verzichten und notfalls frieren, um das Klima und unseren Planeten zu retten. Das ist nicht die Botschaft von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Wir wollen und wir werden das Klima retten; aber unser Weg ist ein anderer. Wir sagen: Wir müssen mehr investieren, mehr Innovationen fördern und auch hart arbeiten, um unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren möglichst schnell klimaneutral umzubauen. ({0}) Dafür müssen wir die klimafreundliche Bahn und den öffentlichen Nahverkehr stärken, erneuerbare Energien zügig ausbauen und Technologien wie die Kraft-Wärme-Kopplung und die Fernwärme stärker nutzen. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet dieses Gesetz einen großen Beitrag. ({1}) Wir beseitigen Stück für Stück Investitionshemmnisse im Planungsbereich. Ein großer Teil unseres Bahnnetzes in Deutschland ist weder elektrifiziert noch digitalisiert oder gar barrierefrei für Menschen mit Behinderung. Die Bahn ist schon heute eines der umweltfreundlichsten Verkehrsmittel. Mit diesem Gesetz werden wir einen großen Teil der Umbaumaßnahmen in Richtung Klimaneutralität, Barrierefreiheit und Digitalisierung unbürokratischer planen und bauen können. In den allermeisten Fällen entfallen Planfeststellung oder eine Plangenehmigung. Meine Kollegin Kirsten Lühmann wird das noch näher erläutern. Das Verkehrsministerium hat natürlich auch in diesem Gesetzentwurf wieder etwas vergessen, und zwar das Rückgrat der Verkehrswende in den Städten: den öffentlichen Nahverkehr. Wir haben im parlamentarischen Verfahren dafür gesorgt, dass die Erleichterungen für die Schiene auch für Straßenbahnen und Trams gelten. Mein Kollege Detlef Müller wird dazu nähere Ausführungen machen. Aber wir beschleunigen nicht nur bei Verkehrsprojekten, sondern gehen auch im Energiebereich stark voran. Wer die Klimaziele erreichen will, muss dafür auch die notwendigen Schritte tun. Wir brauchen mehr Windkraft und dürfen nicht einfach nach dem Sankt-Florian-Prinzip vorgehen. Klagen gegen mehr als 50 Meter hohe Windenergieanlagen werden deshalb künftig direkt vor den Oberverwaltungsgerichten verhandelt. ({2}) Zudem haben diese Klagen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung mehr. Wir steigen aus der Kohle aus; das ist notwendig, das ist richtig. Die vereinbarte Umrüstung von Kohle- auf Gaskraftwerke findet aber nach einem äußerst ambitionierten Zeitplan statt. Wir wollen nicht, dass Kohlekraftwerke länger laufen, weil wir in die Gaskraftwerke noch keinen Strom und keine Wärme einspeisen können. Daher ist es richtig und vertretbar, Klagen gegen große Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen ab 50 Megawatt direkt zu den Oberverwaltungsgerichten zu geben. Fernwärme aus industrieller Abwärme soll viel stärker als bisher für den Bereich Wohnen genutzt werden; besonders in der Region Hamburg soll dies erprobt werden. Wir beschleunigen dafür die Realisierung der Fernwärmeleitungen. Oft ist schon früh klar, dass ein Planfeststellungsverfahren kommt. In diesen Fällen darf früher damit begonnen werden, zum Beispiel mit Ausgleichsmaßnahmen im Artenschutz. Diese Regelung erlauben aber nur solche Maßnahmen, die wieder zurückgenommen werden können. Das Roden eines alten Eichenwaldes ist zum Beispiel nicht zulässig. Wir packen also ordentlich an, um wichtige Infrastrukturmaßnahmen für eine klimaneutrale und wohlstandsfördernde Industriegesellschaft auf den Weg zu bringen. Gelingen wird uns dies allerdings nur, wenn wir die Beschleunigung von Infrastrukturmaßnahmen als Teamleistung ganz, ganz vieler verstehen: die Länder, indem sie im Bundesrat diesem Gesetz zustimmen und die Oberverwaltungsgerichte mit genügend Personal ausstatten; ({3}) die Vorhabenträger, indem sie die Menschen anständig informieren und, wo notwendig, noch besser beteiligen; wir Abgeordnete, indem wir deutlich machen, dass Sanierung, Modernisierung und Ausbau von Infrastruktur einen wesentlichen Beitrag leisten, um unsere Klimaziele einzuhalten. ({4}) Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Mit den richtigen Investitionen und einer ordentlichen Portion Tatkraft können wir das Klima schützen, mobil bleiben, nicht frieren und mit unserem Wohlstand für ein gutes Leben sorgen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mathias Stein, auch danke für die Punktlandung, was die Redezeit angeht. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Torsten Herbst. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Dienstag dieser Woche um 13 Uhr erging ein wegweisendes Urteil. Das war das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Bau des deutschen Teils der Fehmarnbeltquerung. Alle Klagen wurden abgewiesen. Das war ein positives Signal, nicht nur für dieses Verkehrsprojekt, sondern insgesamt für die Verkehrsinfrastruktur und Großprojekte in diesem Land. ({0}) Der Weg dahin war allerdings quälend langsam. Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Wir können es uns nicht leisten, dass unsere Verkehrsinfrastruktur im Schneckentempo modernisiert wird, obwohl wir eigentlich den Planungsturbo brauchen. ({1}) Das setzt aber eines voraus: Wir brauchen in diesem Land den Grundkonsens, dass Mobilität kein Übel ist. Mobilität ist eine Grundvoraussetzung, die Triebfeder dafür, dass wir unseren Wohlstand erhalten und zukünftig noch ausbauen können. ({2}) Die Koalition hat jetzt im dritten Anlauf ihr viertes Investitionsbeschleunigungsgesetz vorgelegt. In weiten Teilen begrüßen wir die Punkte, die darin stehen; wir werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen. Wir hätten uns aber auch gewünscht, dass Sie früher initiativ geworden wären, dann hätten einige Regelungen nämlich schon Wirkung zeigen können. Wir hätten uns auch gewünscht, dass Sie mutiger gewesen wären; denn mit Ihrem Gesetzentwurf bleiben Sie hinter Ihren eigenen Koalitionsbeschlüssen vom 8. März dieses Jahres zurück, und Sie bleiben auch in vielen Punkten hinter dem zurück, was der CDU-Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, gefordert hat. Hätten Sie eher den Mut gehabt, ein komplettes Paket auf den Tisch zu legen, wären wir heute schon woanders, als wir im Moment sind. ({3}) Uns, der FDP, fehlen auch einige wichtige Punkte: das Thema „Stichtagsregelung für Einsprüche“ – was auch Vertreter Ihrer Fraktion sehr oft vortragen –, das Thema „eine noch engere Verzahnung von Raumordnung und Planfeststellung“, und – wenn wir ehrlich sind – auch bei der Digitalisierung ist noch richtig viel Luft nach oben. Es kann doch nicht angehen, dass wir in diesem Land bis heute Aktenordner mit dem Lkw zwischen Behörden hin- und herfahren. Nun haben Sie als Koalition zugegebenermaßen einiges für die Schienenwege und auch für die Wasserstraßen getan. Aber ich sage auch: Wir dürfen die Straßen in Deutschland nicht vergessen. ({4}) Über 80 Prozent der gesamten Transportleistung dieses Landes werden auf unseren Straßen erbracht. Und wenn die Grünen der Meinung sind, man brauche jetzt ein Baumoratorium, Straßenbau dürfe überhaupt nicht mehr stattfinden, dann sage ich: Sie leben in einer grünen Traumparallelwelt, die mit der Realität in Deutschland nichts zu tun hat. ({5}) Jeden Tag sind Millionen Pendler auf unseren Straßen unterwegs, um ihre Arbeitsplätze zu erreichen. Auf den Straßen sind auch nicht nur die Lkws mit den Waren des täglichen Bedarfs unterwegs, sondern beispielsweise der ÖPNV, die Schulbusse, Rettungswagen. All diese Verkehrsmittel brauchen ein leistungsfähiges Straßennetz. Sie mögen Biosupermärkte ganz besonders. Ganz ehrlich, wenn ich mir anschaue, wie dort angeliefert wird, dann sehe ich relativ wenig Waren, die per Lastenfahrrad oder Eisenbahn angeliefert werden, die kommen per Lkw. Auch die brauchen ein vernünftiges Straßennetz. ({6}) Deswegen legen wir Freie Demokraten auch einen eigenen Gesetzentwurf zur Baubeschleunigung der Bundesfernstraßen vor. Wir wollen, dass der Bundestag genau wie bei den Wasserwegen und Schienenstrecken selbst Vorhabenträger werden kann, damit wir national bedeutsame Projekte hier im Bundestag beschließen und dafür Baurecht schaffen können. ({7}) Wenn wir uns umschauen und unsere Nachbarn betrachten, stellen wir fest: Die Dänen bauen schneller als wir; die Niederländer bauen schneller als wir; die Polen bauen schneller als wir. Die Schweizer und auch die Österreicher schaffen es schneller. Das muss doch unseren Ehrgeiz anstacheln, dass wir es mindestens genauso gut hinbekommen oder – ich sage es deutlich – als modernes Land besser werden. Deshalb, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns jetzt wirklich den Planungsturbo zünden! ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Torsten Herbst. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion die Linke Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die Einzelheiten einsteige, möchte ich auf den Rahmen zu sprechen kommen, in dem wir über dieses Investitionsbeschleunigungsgesetz debattieren. Die Kollegen, die vor mir geredet haben, haben es schon gesagt: Es ist das vierte Beschleunigungsgesetz in dieser Legislatur. Aber die Geschichte der Planungsbeschleunigungs- und Investitionsbeschleunigungsmaßnahmen diverser Bundesregierungen reicht zumindest schon die elf Jahre, die ich dem Bundestag angehöre, zurück; sie ist eigentlich noch viel länger. Was bisher noch nicht wirklich vorliegt, ist eine Auswertung dieser Maßnahmen. 2006 gab es zuletzt eine Darstellung dazu, was Investitionsbeschleunigung gebracht hat; das ist nun schon 14 Jahre her. Es ist Zeit, noch einmal zu sehen, was welche Maßnahme tatsächlich bewirkt hat. Das wird nicht getan, und das ist ein Problem. Das zweite Problem, das ich aber noch gravierender finde, ist die Tatsache, dass Sie alles beschleunigen. Wir haben es gerade schon einmal gehört: Sie sind der Meinung, dass man die gesamte Verkehrsinfrastruktur schneller ausbauen muss. ({0}) Das halten wir für einen grundfalschen Ansatz, ({1}) weil wir nämlich, um die Klimaschutzziele erreichen zu können, dringend Verkehr reduzieren müssen. Verkehr reduzieren kann man aber nur, wenn Menschen zum Beispiel nicht mehr alleine in ihrem Automobil unterwegs sind, sondern Alternativen haben, wenn wir mehr Bahn und Bus für alle zur Verfügung stellen. Und genau dafür müssen wir die Investitionsmittel neu verteilen, und zwar schnell. ({2}) Sie alle haben wahrscheinlich die neueste Studie des Wuppertal Institutes gelesen, die deutlich macht: Wenn im Verkehrssektor nicht dramatische Veränderungen stattfinden, wird dieser Sektor die Klimaziele nicht erreichen. Die Bundesregierung bleibt eine Konzeption dafür leider immer wieder schuldig. Wir finden, dass das gar nicht so schwierig ist. Sie haben leider mit früheren Investitionsbeschleunigungsmaßnahmen dafür gesorgt, dass demokratische Möglichkeiten, Alternativen zu prüfen, blockiert werden. Sie haben im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung 2020 über tausend Fernstraßenprojekte mit einem Fernstraßenausbaugesetz sozusagen als verbindlich dargestellt. Es wird jetzt so interpretiert – so kommen dann auch solche Gerichtsurteile zustande –, als sei es gar nicht mehr zulässig, Alternativen zu prüfen. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie jetzt in Hessen die A 49 mit aller Gewalt durchsetzen, dann verpassen Sie eine große Chance, Alternativen zu finanzieren. Mit den 1,4 Milliarden Euro, die dort für 40 Kilometer neue Autobahn eingesetzt werden, könnten viel bessere Ost-West-Bahnlinienverbindungen geschaffen werden. Gemeinden wie Homberg (Ohm), die keinen Bahnanschluss haben, und andere Gemeinden, die Tausende Einwohnerinnen und Einwohner zählen, aber keinen Anschluss an die Bahn haben, könnten diese Anschlüsse bekommen. Das kann man mit diesem Geld finanzieren, und das fordern wir Linke. Das würde wirklich eine Investitions- und Planungsbeschleunigung bedeuten, die in die richtige Richtung geht. ({3}) Das dritte große Problem ist, dass Sie in der Tendenz so eine Haltung haben, als seien die Umwelt- und Verkehrsverbände, die Bürgerinnen und Bürger, die sich da kompetent einbringen, Ihre Gegner. Wir haben aber in der Anhörung gehört und an den Beispielen, die Sie immer wieder nennen – Schweden oder Dänemark –, gesehen, dass eine frühzeitige Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern und auch die kompetente Einbeziehung von Umweltverbänden dazu führt, dass es bessere Planungen und schnellere Umsetzung geben kann. Das ist ein total wichtiger Punkt. Das fordern wir als Linke seit vielen Jahren. Sie haben es bisher nicht geschafft, ein Konzept für gute Bürgerbeteiligung vorzulegen, obwohl es seit 2013 versprochen ist. Das wird einfach gebraucht. ({4}) Ein weiterer Punkt, der damit zusammenhängt, ist die Frage der personellen Ausstattung. Wenn wir Umverteilung und Neuverteilung von Mitteln, von Ressourcen fordern, dann gilt das nicht nur für die Frage, wohin Investitionsmittel gesteuert werden, sondern auch für die Frage, wie Personal eingesetzt wird. Da geht es natürlich auch darum, dass Verwaltungs- und Planungsbehörden, aber auch Gerichte besser ausgestattet werden müssen, damit bestimmte Prozesse einfach schnell gehen können. Was nützt es, wenn die Gerichte jetzt alle möglichen Entscheidungen fällen sollen, dort aber nicht mehr Menschen mit den Fragen beschäftigt werden? Das heißt, wir brauchen auch eine Umverteilung, eine Neuverteilung von personellen Ressourcen. ({5}) Zum Schluss möchte ich sagen, dass wir mit vielen der Maßnahmen, die jetzt in diesem konkreten vierten – vorläufig letzten – Investitionsbeschleunigungsgesetz vorgesehen sind, schon einverstanden sind. Wir können aber nicht mit vollem Herzen zustimmen, weil Sie sich nicht darauf beschränken, dass bessere Elektrifizierungsmaßnahmen und Ertüchtigungsmaßnahmen für Bahnhöfe, die Bahn und für Windkraftanlagen durchgeführt werden, sondern sich Hintertüren offenlassen und auch Maßnahmen für Landstraßen vorsehen. Wir wollen, dass Beschleunigung auf den Ausbau der zukunftsfähigen, sozialökologischen und klimagerechten Infrastruktur beschränkt wird. ({6}) Unter diesen Bedingungen könnten wir zustimmen; so müssen wir uns enthalten. ({7})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt sind wir uns einig: Wir brauchen schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Um es vorwegzunehmen: Ja, wir werden, wenn auch mit einigen Bauchschmerzen, heute zustimmen, ({0}) weil wir uns unserer Verantwortung stellen und, ja, weil wir nicht für einen Ansatz stehen, bei dem wir uns im Streit zerfetzen. Vielmehr wollen wir gemeinsam nach dem Weg suchen, wie wir gute Infrastruktur für unser Land bauen können. ({1}) Der große Wurf und ein Ruhmesblatt ist dieser Gesetzentwurf leider trotzdem wieder einmal nicht. Herr Lange, Sie haben stolz verkündet, dass es sogar schon der vierte in dieser Legislatur ist. Ja, aber das ist doch kein Grund, stolz zu sein. Wenn man auf ein Pferd steigt, sagt man doch auch nicht: Oh, ich versuche es schon zum vierten Mal; ich bin immer noch nicht oben angekommen. – Gut wäre es gewesen, wenn der erste Versuch gesessen hätte und Sie schon einmal losgeritten wären. Was aber tatsächlich passiert, ist: Sie stochern so ein bisschen im Nebel; beschleunigt haben Ihre bisherigen Versuche leider nichts. ({2}) Deshalb halten Sie auch so eine Art Oppositionsrede und bemängeln, was alles nicht funktioniert bei uns im Land. Ja wer hat denn die letzten zehn Jahre – und länger – hier regiert? Wer hätte denn die Chancen gehabt, es besser zu machen? Und nein, es sind nicht die Grünen und die Umweltverbände, die schuld daran sind, dass die Planungen nicht schneller laufen; diese ewige Leier vom Sündenbock bringen Sie doch nur deshalb, weil Sie Ihre eigenen Hausaufgaben nicht gemacht haben. ({3}) Das zweite Problem ist, dass Sie einfach gar nicht klären, welche Infrastruktur wir brauchen. In der vorletzten Sitzungswoche haben wir hier über Autobahnen und Infrastruktur diskutiert. Da konnte man wirklich tief blicken: Kollege Ploß sagte – ich zitiere –, es seien „Investitionen ins Autobahnnetz genau das, was wir mit Blick auf Klimaschutz … brauchen“. ({4}) Ich kann nur sagen: Da haben Sie etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Minister Scheuer sagte – Zitat –: Ich bin glücklich, wenn ich unterwegs bin und neue Infrastrukturprojekte eröffnen kann. Ich freue mich auch, wenn ich ein gutes Infrastrukturprojekt eröffnen kann; aber es ist doch nicht egal, welches. ({5}) Der dritte Punkt, den Sie dringend adressieren müssen, wenn Sie mit der Beschleunigung von Infrastrukturausbau Erfolg haben wollen, ist die Bürgerbeteiligung. Leider sind auch in diesem Gesetzentwurf wieder einige Tücken drin. Wir fordern zum Beispiel, dass natürlich alle Unterlagen für das Raumordnungsverfahren auch in Papierform ausgelegt werden müssen und nicht nur digital. Sie garantieren nicht, dass tatsächlich Dialogveranstaltungen im Raumordnungsverfahren stattfinden, sondern sagen: Na ja, ach, da kann man irgendwie eine Information machen. – So funktioniert das nicht. Sie werden Planung nur dann beschleunigt bekommen, wenn Sie die Bürger endlich ernst nehmen, wenn Sie mit den Menschen und nicht gegen die Menschen planen. ({6}) Als Allerletztes, Herr Herbst: Wenn Sie meinen, wir hätten noch nicht genug Straßen: Das Straßennetz in Deutschland reicht bis zum Mond und zurück. ({7}) Da wird auch Ihr Gummibärchennachschub im Supermarkt nicht gefährdet sein, ({8}) wenn wir nicht noch mehr Straßen dazubauen, sondern die bisherigen Straßen erhalten und andere Infrastruktur dazubauen. Herzlichen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ingrid Nestle. – Der nächste Redner ist der Minister. Ich gebe das Wort an Bundesminister Andreas Scheuer. ({0})

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist interessant, was man in dieser Debatte alles lernen kann, ({0}) über Hoheiten und Pferde und alles Mögliche. ({1}) – Auch über Gummibärchen. Ich darf erst mal hervorheben, Frau Kollegin Nestle: Die Grünen werden diesem Paket zustimmen. Schön, danke! ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Realitäten schauen dann oft ganz anders aus. Frau Dr. Nestle, Sie kommen ja aus Schleswig-Holstein. Da haben wir Gott sei Dank für ein nächstes großes Projekt die Freigabe bekommen, durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Fehmarnbelttunnel. ({3}) Das zeigt: Wir können im Einklang mit Natur und Umwelt planen, und wir nehmen die Interessen vor Ort ernst. Aber wir haben auch den Nutzen dieser Maßnahmen im Blick. Deswegen leisten wir mit diesem Projekt einen großen Beitrag, dass Europa besser zusammenwächst. Die Infrastruktur bietet dazu die größten Chancen. Frau Kollegin Nestle, Sie kommen aus Schleswig-Holstein. Die Grünen haben sich noch nicht entschließen können, dieses Projekt intensiv zu unterstützen. Vielleicht tut sich ja heute, an diesem Tag, was dafür. Vielen Dank, dass wir beweisen können, dass wir sorgsam, sorgfältig, achtsam und ausgewogen solche Großprojekte umsetzen können. ({4}) Frau Kollegin Leidig, diese Koalition möchte keine Entschleunigung für Deutschland, sondern wir möchten Beschleunigung für Deutschland in vielen, vielen Projekten. Vielleicht geben Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei in Rostock noch mal einen guten Rat. ({5}) Wir haben da nämlich die Warnow-Brücke. Die Warnow-Brücke ist ein großes Projekt für den Radverkehr und den Fußverkehr für die BUGA. Die Linken sind gegen dieses Projekt. ({6}) Ich fragte mich während Ihrer Rede, für was Sie jetzt sind an Infrastruktur. Wenn man gar keine Infrastruktur mehr bauen darf, wenn man als Linkspartei sogar schon gegen Rad- und Fußverkehr an dieser Brücke ist, ({7}) dann zeigt das: Beschleunigung für Deutschland gibt es nur in dieser Koalition und in sonst keiner. Danke, dass Sie das heute wieder bewiesen haben. ({8}) Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir hatten heute gerade eine Haushaltsausschusssitzung. Ich bedanke mich noch mal für die sehr intensiven Beratungen und dass das Parlament für die großen Investitionen des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur so viel Geld bereitstellt. Jetzt müssen wir mit diesem vierten Paket die Umsetzung dieser Investitionsmittel noch ein Stück besser machen. Ich darf an die drei Gesetze erinnern, die wir schon beschlossen haben: Im ersten Gesetz haben wir unter anderem Gerichtsverfahren beschleunigt, Doppelprüfungen ausgeschlossen und Aufgaben zusammengelegt. Das zweite diente dazu, dass Baurecht künftig auch durch Gesetze geschaffen werden kann. Und im dritten haben wir Genehmigungspflichten für Ersatzneubauten aufgehoben und Kommunen finanziell entlastet. Die Maßnahmen spüren wir schon jetzt; gerade bei den Schienenwegen, gerade bei den Ersatzneubauten sehen wir einen Schub. Danke für diese Unterstützung! Die Maßnahmen haben Erfolg. Das haben die Sachverständigen von Kommunen, Industrie und Verkehrsunternehmen in einer Anhörung des Verkehrsausschusses am 5. Oktober bestätigt. Der Koalitionsausschuss hat uns im März dieses Jahres noch mal den Auftrag gegeben – Gott sei Dank –, die Maßnahmen zu beschleunigen – deswegen gibt es jetzt einen vierten Vorschlag, unser viertes Gesetz zur Planungsbeschleunigung. Frau Kollegin Nestle, wie oft man jetzt den Versuch macht, aufzusteigen – das Ergebnis zählt. Zum Schluss gibt es eine Verbesserung, und das heißt Investitionsbeschleunigung für Deutschland und einen wirklichen Modernisierungsschub für unser Land. Jetzt nehmen wir uns das Planfeststellungsverfahren vor, das Raumordnungsverfahren und die nachgelagerten Gerichtsprozesse. ({9}) Wir straffen, kürzen oder schaffen ganz ab, sodass wir unsere Infrastrukturprojekte beschleunigen. Herr Kollege Herbst, Sie haben ein paar Beispiele aus unseren Nachbarländern genannt. Es passiert immer wieder bei großen Projekten, dass es Probleme gibt. Über den Brenner-Tunnel hat hier keiner berichtet. Wenn bei uns in Deutschland mal was nicht so gut läuft, dann berichtet jeder darüber. Aber dort gab es einen Streit mit dem Auftragnehmer. Bei diesem Tunnel rechnet unser Nachbarland jetzt damit, dass es fünf Jahre Bauverzögerung gibt. Das passiert mal bei großen Bauprojekten, aber das soll natürlich nicht oft vorkommen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass das Controlling passt, dass das Monitoring passt, wenn die Maßnahmen an den Start gehen. Aber vorher – und dazu sind wir heute zusammen – wollen wir vor allem die Planungsverfahren beschleunigen – also weniger langwierige Planfeststellungsverfahren –, und wir wollen, dass die Raumordnungsverfahren überflüssig gemacht werden in vielen Dingen, wo keine Rechte von Bürgern betroffen sind, wo es keine Gefahren für die Natur gibt, wo es keine Eingriffe in Landschaft und Raumgestaltung gibt. Wenn das alles erzielt ist, dann haben wir wirklich eine Beschleunigung. Also: Wo kein Ärger, da kein Kläger, und auch kein Raumordnungsverfahren. Deswegen werden wir auch die Digitalisierung noch mal verstärkt in diese Prozesse einbringen, wir werden die Unterlagen verstärkt online veröffentlichen und weniger auslegen, und wir werden noch mal bei den Gerichtsverfahren straffen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Sie haben immer einen straffen Blick auf den Zeitplan.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich habe ihn gar nicht angeschaut.

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Ich kann Ihnen sagen: Wir haben auch einen straffen Blick auf den Zeitplan. Wir sind sehr konzentriert an dieser Stelle, um die großen Projekte für Deutschland umzusetzen und sie zu beschleunigen. Herzlichen Dank für die Unterstützung. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Eine freie Gesellschaft lässt ihren Bürgern die Entscheidung, welches Verkehrsmittel sie wählen, ({0}) und sie lässt sich selbst die Freiheit, ihre Infrastruktur zügig an den Bedarf anzupassen. Die AfD-Fraktion hat einen Antrag stellt, der diesen Freiheiten dient. Die Koalition hat gezeigt, wie man ein Sammelsurium kleiner Verbesserungen durch einen naturschutzpolitischen Sündenfall entwerten kann. ({1}) Die AfD fordert, für alle Verkehrsträger die Planung zu beschleunigen. Ein Umsetzungsbeispiel dafür liefert der Gesetzentwurf der Kollegen von der FDP-Fraktion für ein Bundesfernstraßen-Baubeschleunigungsgesetz. Das füllt eine große Lücke, die die Koalition mit ihren Regelungen für Maßnahmengesetze gelassen hat, weil sie nur Bahn und Wasserwege im Blick hat. ({2}) Wir sind fest davon überzeugt, dass der Bund nicht erst sieben Jahre warten muss, bis er bei einem vordringlichen Projekt eingreift, weil sich ein Planfeststellungsverfahren ewig hinzieht. Aber die Richtung stimmt, und deshalb werden wir zugunsten dieses Gesetzentwurfes abstimmen. ({3}) Das Gegenbeispiel liefert der Entschließungsantrag der Grünenfraktion. Dort wird nicht nur ernsthaft die Planungsbeschleunigung für Nischenprojekte wie Oberleitungsbusse gefordert. Nein, mit ihrer Ziffer 4 wollen die Antragsteller die Projekte an die ideologische Kandare nehmen und sie unter die Bedingung stellen, dass sie die richtige – ich zitiere – „Klima- und Verlagerungswirkung“ haben sollen. Darüber entscheidet dann wahrscheinlich eine grünlackierte Verkehrslenkungskommission. Natürlich richtet sich dieser Ansatz einseitig gegen den Bau notwendiger Straßenprojekte; denn bei Ihnen geht Verkehrsverlagerung bekanntlich immer nur in eine Richtung. ({4}) Dabei spricht gar nichts gegen sinnvolle Eisenbahnprojekte, gerade dort, wo die Bahn ihre Stärken hat. Die liegen darin, große Verkehrsmengen zu bündeln und damit auch die Straßen zu entlasten. Sie liegen darin, hohe Geschwindigkeiten sicher zu beherrschen und große Entfernungen zu Lande rasch zu überwinden. Mit guter Infrastruktur wird die Bahn im Wettbewerb der Verkehrsträger besser dastehen. ({5}) Die Bekämpfung des Verkehrsträgers Straße aber, sei es aktiv oder durch gezielte Vernachlässigung, ist in einer freiheitlichen Gesellschaft unvorstellbar. ({6}) Die AfD-Fraktion wird den Antrag der Grünen mit aller Entschiedenheit ablehnen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Wolfgang Wiehle. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Detlef Müller. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe wieder was gelernt: „Lobbytaste“, ein sehr schöner Begriff, sollte man sich merken. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit ein paar Wortungetümen beginnen: Gesetz zur weiteren Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Verkehrsbereich, Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetze I und II und das Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen, über das wir heute beraten. Zum insgesamt vierten Mal in dieser Legislatur – es wurde bereits gesagt – beschäftigen wir uns also mit der schnelleren Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen in unserem Land. Das ist absolut folgerichtig und auch notwendig; denn die Infrastruktur ist die Grundlage der Wertschöpfung und die Basis des Wohlstandes von 83 Millionen Menschen. Deswegen müssen wir sie nicht nur erhalten, sondern wir müssen sie anhand der Bedarfe in der Zukunft ausrichten und ausbauen. Tun wir das nicht, lassen sich die notwendigen Transformationsprozesse unserer Zeit – Verkehrswende, Klima- und Energiewende, Digitalisierung und Automatisierung – nicht umsetzen. Finanziell haben wir gerade im Verkehrsbereich die Grundsteine dafür gelegt; Stichworte sind drei weitere Wortungetüme: Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III sowie das Strukturstärkungsgesetz. So richtig kreativ sind diese Wortschöpfungen nicht, Herr Minister. Da ist das Familienministerium deutlich besser. ({0}) Das Geld ist also da. Jetzt gilt es, diese Mittel einzusetzen und in tatsächliche Kapazitätssteigerungen auf der Schiene zu überführen. Hier haben wir tatsächlich Nachholbedarf, nicht nur beim Neubau von Strecken, sondern auch bei der Modernisierung. Allein bei der Elektrifizierung hat das deutsche Schienennetz laut Zahlen der Allianz pro Schiene einen Ausbaubedarf von über 3 300 Kilometern. Noch immer sind nur 27 von 57 Grenzübergängen im Schienenverkehr elektrifiziert. Das müssen wir angehen, ({1}) um unsere ambitionierten Ziele für die Schiene wie den Deutschlandtakt, die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030 und die Steigerung des Schienenanteils im Güterverkehr auf 25 Prozent wirklich zu erreichen. Dazu schaffen wir mit dem Investitionsbeschleunigungsgesetz neue Möglichkeiten, und zwar dadurch, dass Erneuerungen von Betriebs- und Bahnanlagen von der Planfeststellung freigestellt werden, insbesondere auch beim barrierefreien Umbau, dadurch, dass es bei Modernisierung und Digitalisierung von Bestandsstrecken nicht erneut zu Umweltverträglichkeitsprüfungen kommen muss, sowie dadurch, dass es bei Lückenschlüssen bei der Elektrifizierung von Strecken unter 15 Kilometern keines zusätzlichen Planfeststellungsverfahrens für die Strecke, aber auch für die zugehörigen Bauwerke wie Brücken, Bahnquerungen und Tunnel bedarf. All das ermöglicht eine tatsächliche Beschleunigung von notwendigen Investitionen. Besonders freut mich zudem, dass dieses Gesetz auch Verbesserungen für den Güterverkehr und den ÖPNV bringen wird: für den Güterverkehr, weil die Herstellung von Gleisanschlüssen und von Zuführungs- und Industriestammgleisen vereinfacht wird – auch das schafft Voraussetzungen für mehr Güter auf der Schiene – und für den ÖPNV, weil wir die Befreiung von der Planfeststellung auch auf die Sanierung und Modernisierung von Straßenbahnstrecken anwenden. Gerade im Zusammenhang mit dem deutlichen Mittelaufwuchs im GVFG ist das ein wichtiger Schritt. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, das heute hier debattierte Investitionsbeschleunigungsgesetz muss wirken. Wir müssen die Wirkung prüfen und im Bedarfsfall auch nachsteuern. Wir dürfen uns hier nicht zurücklehnen und hoffen, dass das alles schon irgendwie klappt. Wir machen die Gesetze ja nicht wegen der Gesetze. Es darf nicht nur weiße Salbe sein, die andere Probleme bei der Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen überdeckt. Hier sind alle beteiligten Akteure – Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Gerichte und die Planungsbüros – gefragt, entsprechende Kapazitäten zur Planung und Umsetzung dieser Maßnahmen vorzuhalten und zu nutzen, damit, Herr Bundesminister, es tatsächlich schneller geht. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Detlef Müller. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Christian Jung. ({0})

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Konjunktur braucht Infrastruktur. Dies ist seit Jahren mein politisches Motto. Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, damit wir in den kommenden Jahren mithilfe einer besseren Infrastruktur im Verkehrsbereich und in der Digitalisierung Standorte mit vielen Arbeitsplätzen wie bei mir in Baden-Württemberg attraktiver machen. ({0}) Dabei gilt: Alles, was Arbeitsplätze schafft und sichert, auch durch Infrastruktur, ist sozial. Konjunktur braucht Infrastruktur. Demgegenüber steht nicht nur im Südwesten die Länge der Staus auf den deutschen Autobahnen. Diese hat sich in den Jahren 2002 bis 2019 fast verfünffacht; das zeigt die Probleme auf, die gelöst werden müssen. Für Schwertransporte sind wichtige Autobahnbrücken gar nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Allein in Baden-Württemberg mussten 2019  21 Brücken an Bundesfernstraßen saniert und instand gesetzt werden. Aufgrund veralteter Schienenstrecken und fehlender Ausweichstrecken kommt es immer wieder zu Sperrungen, die nicht durch andere Strecken abgefedert werden können und bundesweit zu spüren sind. Es wird deutlich: Wir haben in Deutschland einen großen Bedarf im Aus- und Neubau und in der Optimierung der Verkehrswege. Viele Projekte verzögern sich jedoch aufgrund von komplizierten und oftmals langjährigen Genehmigungs- und Planungsverfahren. Natürlich müssen wichtige Aspekte wie Umwelt- und Lärmschutzfragen sowie die Bürgerbeteiligung berücksichtigt werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass, wie bei der zweiten Rheinbrücke zwischen Karlsruhe und Wörth, mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte vergehen, bis Projekte umgesetzt werden. ({1}) Die Beschleunigung der Planung und Umsetzung wichtiger Infrastrukturprojekte ist daher richtig und wichtig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung von Investitionen bleibt aber in einigen Punkten hinter den Erwartungen der Freien Demokraten zurück. Verbesserungsmöglichkeiten wie eine Stichtagsregelung wurden nicht wahrgenommen. Insgesamt geht der Gesetzentwurf aber in die richtige Richtung, sodass wir als FDP-Bundestagsfraktion dem Entwurf auch schon im Ausschuss zugestimmt haben. Durch unseren Gesetzentwurf für Bundesfernstraßen können Projekte, die in der Planung geradezu feststecken, schneller auf den Weg gebracht werden. Allein in meinem Bundesland Baden-Württemberg gibt es viele Projekte, die einer dringenden Beschleunigung bedürfen. Dabei gilt: Wir dürfen Verkehrsträger nicht gegeneinander ausspielen. Straßenverkehrswege sind genauso wichtig wie die Schiene, die Wasserwege und die Luftfahrt. Erst in der Kombination miteinander, durch mehr Planer und bessere digitale Planungsverfahren im Bund und in den Ländern kommen wir gemeinsam zum Erfolg und sichern durch eine moderne Infrastruktur immer auch Arbeitsplätze. Konjunktur braucht Infrastruktur! ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Christian Jung. Auch das war eine Punktlandung, genau auf die Sekunde. Jetzt haben wir schon zwei Vorbilder heute. ({0}) – Tja, das hat mit mir zu tun, Herr Brandner. ({1}) – Das glaube ich, dass Sie das nicht kennen. ({2}) Entschuldigung. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Stefan Gelbhaar. ({3})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum vierten Mal in dieser Legislaturperiode stimmen wir heute über ein Gesetz zur Beschleunigung der Planung von Infrastrukturprojekten ab. CDU/CSU und SPD feiern sich dafür gegenseitig. ({0}) Dabei wird dadurch doch eines klar: Die letzten drei Gesetze waren nur halbherziger Murks. Noch immer liegen zwischen Planungsbeginn und Baufreigabe im Schnitt 10 bis 15 Jahre. Das klingt paradox, aber es ist durchaus logisch; denn jede neue Version eines Gesetzes führt erst mal zu mehr Bürokratie. Es ist ein Gesetz mehr und keins weniger. Deswegen muss so ein Gesetz sitzen. ({1}) Wir bewegen uns aber nur in Trippelschritten. Sie machen, was nötig ist, aber nicht, was möglich ist. Ja, Sie vereinfachen die Elektrifizierung und den Lärmschutz bei Straßenbahnen – endlich. Aber warum fehlt das für Oberleitungsbusse? Warum steht da nichts zur Digitalisierung der U-Bahn? Warum weist der Gesetzentwurf bei der Radinfrastruktur nur eine große Lücke auf? Das riecht nach Absicht. Sie reden hier ständig nur von der Straße; die FDP war heute das beste Beispiel. ({2}) Wir haben aber in Europa das dichteste Straßennetz. Das alles verkennt die Realitäten. Es verkennt auch die Dringlichkeit beim Klimaschutz, und das muss sich ändern. ({3}) Sie sagen stets, wir hätten ein Planungsbeschleunigungsproblem. Ich meine, wir haben ein Umsetzungsproblem. Sie wollen schneller werden? Dann los! Bringen Sie mehr Personal in die Verwaltung, um die Projektplanung voranzutreiben! ({4}) Bringen Sie mehr Personal an die Gerichte, sodass strittige Verfahren schneller beschieden werden können! Papier bedrucken alleine reicht nicht. ({5}) Mit dieser Politik werden wir – Herr Lange hat es schon angekündigt – auch noch einen fünften Anlauf von Ihnen hier debattieren. Der Gesetzentwurf ist nicht falsch, und wir werden ihm zustimmen; aber Ihr Vorgehen ist stümperhaft. ({6}) Die Planungsbüros, die Verwaltungen fassen sich doch alle an den Kopf. Die kriegen von Ihnen halbjährlich neue Regelungen rein. Das ist doch nicht normal. So, meine Damen und Herren, bringt das weder unsere Verkehrswende noch Ihre autofixierte Politik voran, sondern es schafft beständig mehr Aufwand statt weniger, und das muss besser werden. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Gelbhaar. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Patrick Schnieder. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Planungsbeschleunigung, Genehmigungsbeschleunigung, Investitionsbeschleunigung sind ein besonderes Anliegen in der Union. Deshalb treiben wir seit Jahren dieses Thema voran, und deshalb sind wir auch stolz darauf, dass wir heute das vierte Gesetz dazu allein in dieser Wahlperiode verabschieden. Und um das Bild etwas zu korrigieren, Frau Kollegin von den Grünen: Das ist nicht ein Pferd, das wir zum vierten Mal beladen, sondern, wenn Sie so wollen, spannen wir das vierte Pferd vor die Kutsche, damit es in der Planung und Genehmigung noch schneller geht. ({0}) Das ist ein wichtiges Thema für uns, und es ist auch ein wichtiges Thema für dieses Land, weil wir so in die Lage versetzt werden, das Geld, das vorhanden ist, schneller zu verbauen; immerhin stehen Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit für unser Land auf dem Spiel. Standortvorteile schaffen wir mit schnellen Verfahren. Das sehen wir überall da, wo Großinvestitionen getätigt werden. Dort brauchen wir schnelle Entscheidungen, schnelle Genehmigungen, schnelle Planungsprozesse. Letztlich geht es auch um das Vertrauen der Bürger in den Staat; denn die Bürger wollen doch miterleben, dass Entscheidungen, die getroffen worden sind, noch zu ihren Lebzeiten umgesetzt werden. Heute erleben wir, dass Jahre oder gar Jahrzehnte zwischen Entscheidung und Umsetzung liegen. Das darf nicht so bleiben, und deshalb ist mit dem Beschluss dieses Gesetzes heute ein guter Tag für die Infrastruktur in Deutschland. ({1}) Und in der Tat: Heute legen wir einen Schwerpunkt auf den Ausbau des Schienenverkehrs, insbesondere auf die Elektrifizierung und auf die klimafreundliche Transformation unseres Energie- und Verkehrssystems. Herr Minister Scheuer, vielen Dank für den hervorragenden Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben. Wir haben ihn noch ein bisschen besser gemacht. Das machen wir so in der Koalition. ({2}) Deshalb haben wir zusätzlich noch Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, Fernwärmeleitungen und Windkraftanlagen aufgenommen. Lassen Sie mich das Ganze in der Zusammenschau der Maßnahmen nicht nur dieser Wahlperiode, sondern auch der vorangegangenen Wahlperioden betrachten. Wir werden in den nächsten Jahren deutliche Beschleunigungseffekte sehen. Gleichwohl darf das nicht der Schlusspunkt sein, und es wird auch nicht der Schlusspunkt sein. Überall da, wo wir weitere Beschleunigungspotenziale heben können, werden wir das tun, und wir müssen es auch tun. Das bleibt eine Daueraufgabe. Es ist heute schon mehrfach gesagt worden: Unser Wunschzettel war noch länger. Dazu gehört auch die Präklusion, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wenn das nicht vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig wäre, wenn schon entschieden wäre, wie weit wir dort gehen können, dann hätten wir das schon lange mit hineingepackt. Wir wollen die materielle Präklusion, wir wollen gesetzliche Stichtagsregelungen, und deshalb warten wir nur noch diese Entscheidung ab. Ich denke, das ist auch geboten aus Respekt vor der Entscheidung des Gerichtes. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir erzielen aber nur dann Beschleunigungswirkungen, wenn wir wirklich ernsthaft vorhaben, in Infrastruktur zu investieren, und wenn wir Entscheidungen, die wir politisch getroffen haben und die von Gerichten sanktioniert wurden, dann auch akzeptieren. Wir dürfen nicht dazu übergehen, getroffene Entscheidungen zu blockieren, zu verzögern und zu hintertreiben. Die Praxis wird den Lackmustest darstellen, ob wir hier mit tollen Worten Beschleunigung begrüßen, dann aber im tatsächlichen Handeln vor Ort, wo wir Verantwortung tragen, alles wieder konterkarieren. Deshalb will ich hier ganz klar sagen: Das, was zum Beispiel die Grünen im Moment mit der A 49 in Hessen betreiben, ist ein solches doppelzüngiges und doppelbödiges Spiel, ({4}) und das nicht nur deshalb, weil es hier um Straße geht. Wir können doch nicht so tun, als könnten wir auf Straßenausbau verzichten. Das ist ein Schlag ins Gesicht der ländlichen Räume und der Menschen, die von Umgehungs- und Ausweichverkehren betroffen sind, weil Lückenschlüsse nicht vollzogen werden oder weil notwendige Maßnahmen an Autobahnen unterbleiben. Wir haben für die A 49 gutachterlich ganz klar belegte Wirkungen eines solchen Lückenschlusses. Wir haben demokratische Mehrheiten in Entscheidungen. Wir haben die höchstrichterliche Bestätigung all dieser Dinge. Auf Landesebene stimmen Sie dem im Koalitionsvertrag noch zu, und hier versuchen Sie, es zu hintertreiben. Das ist die Erschütterung des Vertrauens der Bürger in staatliche Prozesse, und genau das müssen wir mit schnelleren Planungs- und Genehmigungsprozessen wiederherstellen. Wir wollen nämlich noch erleben können, dass Entscheidungen, die getroffen wurden, auch umgesetzt werden. ({5}) Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren: Es ist ein wichtiges Gesetz, das wir heute verabschieden. Es macht nur Sinn, wenn wir überhaupt in Infrastruktur investieren, und zwar in alle Verkehrsträger, so wie wir sie nach dem Bedarf brauchen. Wir jedenfalls wollen den Ausbau von Straßen, von Schienenwegen, von Wasserstraßen, und zwar beschleunigt. Mit diesem Gesetz kommen wir einen weiteren wichtigen Schritt voran. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Patrick Schnieder. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die meisten wissen es: Ich komme aus Niedersachsen. ({0}) – Ah, einige Niedersachsen sind im Raum. – Warum sage ich das? Ich sage es, weil ich ein wenig stolz bin, stolz darauf, dass wir in Niedersachsen den ersten Wasserstoffpersonenzug auf die Schiene gebracht haben, der im Regelverkehr verkehrt. Darum habe ich ihn auch in mein Verkehrsquartett aufgenommen: eine tolle Technik, 140 km/h schnell, zweimal 272 kW Leistung. Die Menschen in der Region Cuxhaven, wo er fährt, sind froh, dass es an ihrer nichtelektrifizierten Strecke jetzt sauber und dass es leiser ist. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind uns einig: Noch besser, noch effizienter ist die Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken. Daher hat die Koalition auch im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir bis 2025  70 Prozent aller Strecken der Deutschen Bahn AG elektrifizieren werden – und das ist auch gut so. ({1}) Wir haben konsequenterweise dafür auch das Geld zur Verfügung gestellt. Schon in der letzten Legislatur haben wir begonnen, einen Investitionshochlauf zu machen, ihn zu verstetigen, damit wir diese Ziele auch wirklich erreichen können. Aber wir haben trotzdem noch ein Problem: Selbst die kleinste Maßnahme, die wir ergreifen, hat bis jetzt ein aufwendiges Planfeststellungsverfahren nach sich gezogen, auch wenn die Maßnahme selber eigentlich völlig klar und unproblematisch ist. Und das haben wir jetzt geändert. Wie haben wir das gemacht? Wir haben zum Beispiel bei Elektrifizierungen, auch wenn auf der Strecke Brücken oder Tunnel sind, gesagt: Wir machen nicht sofort das gesamte Verfahren, sondern wir machen erst eine allgemeine Umweltverträglichkeitsprüfung. – Und wenn diese Prüfung dann besagt: „Es gibt keine Probleme; wir brauchen keine richtige Umweltverträglichkeitsprüfung“, dann machen wir nur die Vorprüfung. Wenn die Vorprüfung ergibt: „Alles okay“, dann brauchen wir weder ein Planfeststellungsverfahren noch ein Plangenehmigungsverfahren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschleunigt wirklich. ({2}) Das heißt aber nun nicht, dass diese Maßnahme, weil es keine Umweltverträglichkeitsprüfung gibt oder weil es keine Genehmigungspflicht gibt, jetzt völlig frei ist und der Bauherr oder die Bauherrin ohne jegliche Rahmen bauen kann. Nein, selbstverständlich – das steht auch in dem Gesetz – sind landesrechtliche Vorschriften, ist Umweltschutz, ist die Beteiligung der betroffenen Dritten zwingend erforderlich, auch wenn es nur eine Anzeigepflicht gibt. Insofern ist es eben nicht ein Schleifen von Beteiligungsrechten, wie ich es hier gehört habe, oder von Umweltschutzrechten, sondern es ist eine sinnvolle Maßnahme mit Augenmaß, die wir hier auf den Weg gebracht haben. ({3}) Wir haben diese allgemeine Vorprüfung auch für andere Projekte ins Leben gerufen, für die Digitalisierung von Strecken und, ganz wichtig, für den barrierefreien Umbau. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erleben es in Ihren Wahlkreisen doch auch: Man kann doch niemandem erklären, dass man dann, wenn man Barrierefreiheit durch eine Rampe herstellen und dafür den Bahnsteig etwas verlängern will, mit fünf, sechs Jahren Planungsverfahren zu rechnen hat. Das ist Quatsch. Das ändern wir hier. Die Barrierefreiheit genauso wie Schallschutzwände werden wir jetzt effizient und schnell durchsetzen können. ({4}) Als weitere Beschleunigung haben wir veranlasst: Bis 15 Kilometer Elektrifizierung ist sogar nur noch eine standortbezogene Vorprüfung erforderlich. Also, Sie sehen: rundum ein Paket, das deutliche Beschleunigung bringt, ohne aber die Belange des Naturschutzes zu vernachlässigen oder die Beteiligung der betroffenen Dritten einzuschränken. Mein Dank geht hier an die beteiligten Ministerien, zuerst an das Verkehrsministerium, aber auch an das Umweltministerium und an die Kollegen und Kolleginnen der betroffenen Arbeitsgruppen. Wir haben da hart zusammengearbeitet. Ich denke, wir haben einen sehr guten Kompromiss gefunden, der schnelleres Bauen, schnelleren Lärmschutz, schnellere Barrierefreiheit und saubere Luft zur Folge haben wird. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kirsten Lühmann. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Donth. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie es mich als letzten Redner in dieser Debatte einfach noch mal zusammenfassen. Heute ist ein guter Tag für das Klima, ein guter Tag für die Wirtschaft, für den Energiesektor und vor allem ein guter Tag für die Verkehrspolitik. Gerade für mich als Berichterstatter meiner Fraktion für die Schiene war eigentlich schon zu Beginn dieses Vorhabens klar, dass sich all das nicht gegenseitig ausschließt; manche hier im Haus scheinen das immer noch zu meinen. Dass Verkehr und Klimaschutz Hand in Hand gehen können, zeigt der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Investitionsbeschleunigung, wie ich meine, sehr eindrücklich. Wir Schwaben wissen das schon lange, und schon seit Beginn der Diskussion um Stuttgart 21 ist immer wieder ein Aufkleber zu sehen mit der Aufschrift: „Ed bruddla, buddla!“

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

„Net bruddla, buddla!“, so heißt es bei mir.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, genau. ({0}) Für Nichtschwaben hier im Saal frei übersetzt: nicht bruddeln – also schimpfen –, sondern schippen – also mit dem Bau loslegen. Denn durch Reden und Mosern alleine wird kein Meter Fahrdraht über einer Schienenstrecke verlegt. So verbessert sich für den klimafreundlichen elektrischen Verkehrsträger Schiene absolut gar nichts. Wir handeln heute getreu diesem Motto. Wir verkürzen für Bauvorhaben, die den Klimaschutz voranbringen, die langen Planungszeiten. Wir beschleunigen die Elektrifizierung von Bahnstrecken, und das nach einem langen Ringen auch dann, wenn sich ein Tunnel oder andere Bauwerke auf dem Abschnitt befinden. Das bedeutet weniger Dieselzüge, weniger CO2-Emissionen und mehr E-Loks. Und wir beschleunigen Bahnsteigverlängerungen und die Digitalisierung unseres Schienennetzes. Das bedeutet Platz für längere Züge, für mehr Kapazität, die wir für die Umsetzung des Deutschlandtaktes dringend brauchen. Wir beschleunigen die Herstellung einer vollständigen Barrierefreiheit – vom großen Hauptbahnhof bis zur kleinen Straßenbahnhaltestelle. Das bedeutet mehr Reisen für alle im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Und wir beschleunigen und entbürokratisieren den Bau von Industriegleisen und Gleisanschlüssen, um den Güterverkehr auf der Schiene schneller voranzubringen. ({1}) Je attraktiver öffentliche Verkehrsmittel für uns alle sind, desto unattraktiver wird die Nutzung weniger klimafreundlicher Verkehrsträger. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir ohne Autoverhinderungspolitik; denn unser Weg ist es, die Alternativen attraktiver und besser zu machen. Eines möchte ich schon noch anführen. Dieses Gesetz ist ein Kompromiss – wie immer im parlamentarischen Verfahren. Wir haben in der Diskussion den schon guten Entwurf des Hauses in zahlreichen Punkten noch weiter verbessert. Auch wenn ich mir – das ist bei einem Kompromiss eben immer so der Fall – manchmal etwas mehr gewünscht hätte: Es ist trotzdem im Endergebnis ein wirklich gutes Gesetz. ({2}) Daher freut es mich, dass wir für dieses Gesetz auch die breite Zustimmung hier im Hause heute bekommen; denn wer gegen dieses Gesetz stimmt, der ist dagegen, dass wir schneller klimafreundlichen Verkehr und schneller mehr Barrierefreiheit im Schienenverkehr bekommen. Energischer als mit diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es eigentlich fast nicht. Dieses Gesetz steht für ein hochmodernes, digitales Schienennetz, das mehr Kapazitäten bietet. Deshalb braucht es jetzt dieses Gesetz, deshalb braucht es diese Investitionsbeschleunigung jetzt, und deshalb braucht es jetzt weniger Bruddeln und mehr Buddeln. Wenn ich dann hören muss, Herr Spaniel, dass Sie argumentieren: „Wir stimmen dem Investitionsbeschleunigungsgesetz nicht zu, weil es zu wenig für den Straßenbau enthält“, erinnert mich das schwer an Sandkastenkinderspiele. Wir wollen dieses Land voranbringen, und das noch schneller. Deshalb stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Vielen Dank. ({3})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Coronakrise zeigt uns erneut, wie wichtig es ist, Spitzenverdiener und Millionäre in die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einzubeziehen. ({0}) Denn im nächsten Jahr fehlen in der gesetzlichen Krankenversicherung mindestens 16,6 Milliarden Euro. Diese Kosten dürfen nicht auf die kleinen und mittleren Einkommen abgewälzt werden. ({1}) Meine Damen und Herren, Ungleichheit beim Zugang zur Gesundheitsversorgung ist nicht akzeptabel. ({2}) Alle Menschen, die in Deutschland leben, müssen die gleiche hochwertige Gesundheitsversorgung bekommen, unabhängig von Einkommen, Herkunft oder Wohnort. Aber ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle und eine solidarische Finanzierung sind nur möglich ohne private Krankenversicherung. ({3}) Die private Krankenversicherung ermöglicht es Besserverdienern, sich der solidarischen Finanzierung und dem Lastenausgleich zu entziehen. Für die gesetzliche Krankenversicherung bleiben dann nur noch die kleinen und mittleren Gehaltsgruppen. ({4}) Diesen Zustand will Die Linke mit der Einführung einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung beenden. ({5}) Aber, meine Damen und Herren, die private Krankenversicherung schadet nicht nur der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern sie schadet auch den Privatversicherten selbst. Obwohl die private Krankenversicherung bislang an den Kosten der Pandemiebekämpfung so gut wie nicht beteiligt war, erhöhen sich die durchschnittlichen Beiträge im Januar um 8,1 Prozent. Bei der Debeka werden es sogar 17,6 Prozent sein. Meine Damen und Herren, das ist nicht im Interesse der Privatversicherten. ({6}) Für viele Privatversicherte wird die eigene Versicherung im Alter zur unentrinnbaren Armutsfalle; denn sie können im Ruhestand bei sinkenden Einkommen die steigenden Beiträge nicht mehr zahlen. Sie rutschen dann, wie auch viele Selbstständige mit geringen Einkommen, in den Basis- und Notlagentarif. Meine Damen und Herren, wir sprechen hier über 100 000 Menschen, die dann nur noch eine stark eingeschränkte Gesundheitsversorgung haben. Ich möchte gern an dieser Stelle eine 59-jährige Fotografin zu Wort kommen lassen, die mit großen Beitragsschulden im Basistarif versichert ist und jetzt Angst hat, in der Krise in den Notlagentarif abzurutschen. Ich zitiere: Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt damit, wie viele Ängste das auslöst? Noch bin ich vermutlich gesund, was passiert, wenn ich schwer, zum Beispiel an Krebs erkranke? Ich bekomme dann keine Behandlung, weil ich die unendlich hohen Beiträge der PKV nicht bezahlen kann. Weil Ärzte meine Behandlung aufgrund des Notlagen- bzw. Basistarifs in der PKV ablehnen können! Diese Gesetzgebung ist unmenschlich, ungerecht und unsozial. Sie treibt viele Menschen in tiefe Depression, die ihr Leben lang gearbeitet und Steuern bezahlt haben, um dann in ihrer Rente zu Menschen und Patienten zweiter Klasse zu werden. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, gehört die private Krankenversicherung auch im Interesse der Privatversicherten abgeschafft! ({7}) Wir stellen deshalb heute vier Anträge zur Diskussion. Mit dem ersten fordern wir, dass alle in Deutschland lebenden Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sein sollen und dass die private Krankenversicherung abgeschafft wird. ({8}) Ich habe allerdings das Gerücht gehört, dass sich die übrigen Fraktionen diesem Antrag nicht anschließen wollen. Deshalb stellen wir heute auch vernünftige Zwischenschritte zur Abstimmung, die es insbesondere SPD und Grünen ermöglichen sollen, zuzustimmen: Mit dem zweiten Antrag wollen wir Beamtinnen und Beamten des Bundes den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung ermöglichen, wie es viele Bundesländer ja schon tun. ({9}) Das ist kein Zwang, sondern nur eine Streichung der Subventionierung der privaten Krankenversicherung. Das, meine Damen und Herren, kann man nur ablehnen, wenn man ideologisch verblendet ist oder den Wünschen der Lobbyisten der Versicherungswirtschaft nach staatlicher Unterstützung folgt. ({10}) Denn ohne die staatlichen Beihilfen für Beamtinnen und Beamte wäre die private Krankenversicherung längst sang- und klanglos untergegangen. Und dafür ist es höchste Zeit! ({11}) Im dritten Antrag fordern wir, die Beitragsbemessungsgrenze zuerst anzuheben und dann ganz abzuschaffen; denn dass ich als gut verdienender Abgeordneter in der gesetzlichen Krankenversicherung prozentual nur rund die Hälfte von dem bezahlen muss, was eine Lidl-Verkäuferin bezahlt, das ist wirklich eine bodenlose Ungerechtigkeit und muss beendet werden. ({12}) Mit dem vierten Antrag möchten wir Privatversicherten den Wechsel in eine andere private oder gesetzliche Versicherung ermöglichen, indem sie ihre Altersrückstellungen mitnehmen können. Meine Damen und Herren, wenn Sie Wettbewerb möchten, dann müssen Sie den Privatversicherten auch erlauben, ihre private Krankenversicherung zu verlassen und in eine andere zu wechseln. ({13}) Wir brauchen dringend einen Ausweg für Privatversicherte, die nicht mehr weiterwissen – und zwar ohne, dass wir dadurch der gesetzlichen Krankenversicherung schaden. Meine Damen und Herren, die lebenslange Zwangsmitgliedschaft vieler Privatversicherter kann heute ein Ende haben, wenn Sie unserem Antrag zustimmen! Mit unseren Anträgen insgesamt wollen wir das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken und die gesetzliche Krankenversicherung zu einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung ausbauen. Das bedeutet konkret: Der durchschnittliche Krankenkassenbeitrag würde um fast ein Viertel sinken. 90 Prozent der Versicherten müssten weniger zahlen und hätten am Ende des Monats mehr im Geldbeutel. Wir könnten in der Krankenversicherung alle Zuzahlungen abschaffen. Die Kosten für Brillen und Zahnersatz könnten wieder komplett übernommen werden. Besonders belastete Gruppen, wie zum Beispiel Freiberufler mit schwankenden Einkommen – ein aktuelles Thema –, könnten endlich entlastet werden. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. – Wir hätten insgesamt eine hochwertige gesundheitliche und pflegerische Versorgung für alle Menschen. Ich bitte Sie deshalb: Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Achim Kessler. – Bevor Sie sich wundern, möchte ich Ihnen sagen, dass Minister Spahn für diese Debatte entschuldigt ist. Er ist im Ausschuss. ({0}) Nächste Rednerin: Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal – wir hatten das Thema schon – wünschte ich mir, Herr Dr. Kessler, dass die Opposition ihre Forderungen anspruchsvoller begründen und vertreten würde. ({0}) Ihre Anträge sind jedenfalls altbekannte Wiedergänger. Sie machen sich ja noch nicht einmal die Mühe, auf juristische wie politische Einwände aus den letzten zehn Jahren qualifiziert einzugehen. ({1}) Ich jedenfalls würde hier gerne einmal über den Reformbedarf bei der PKV diskutieren. Sie haben ja recht: Da gibt es Reformbedarf. Da gibt es viele ältere Versicherte, die durch steigende PKV-Prämien stark belastet werden. Ich würde zum Beispiel gerne den Standardtarif wieder öffnen und im Basistarif Verbesserungen anmahnen. Ja, die Höhe der Prämien bereitet Schwierigkeiten. Ja, die ärztliche Versorgung im Basistarif ist schwierig. Aber dagegen sperrt sich nicht nur Ihre Fraktion. Sie – und das geht jetzt nicht nur an die Linke – ordnen dem politischen Ziel einer Einheitsversicherung alle Sorgen und Nöte der PKV-Versicherten schlicht unter. ({2}) Ich ganz persönlich fühle mich jedenfalls den 9 Millionen PKV-Versicherten mindestens genauso verpflichtet wie allen gesetzlich Versicherten. Ich meine, „sozial“ und „solidarisch“ gehen hier komplett anders. ({3}) Dann auf ein Neues! Wir setzen uns mit Ihren Argumenten zur Abschaffung der PKV gerne auseinander. Sie behaupten, die private Krankenversicherung verstoße gegen das Prinzip der Solidarität. Tja, innerhalb der privaten Kassen, stelle ich zumindest fest, wird die Solidarität der älteren Versicherten zugunsten der jüngeren Generationen gelebt. PKV-Versicherte bauen über Jahre kontinuierlich mit eigenen Altersrückstellungen einen Kapitalstock auf. Sie tragen so ihre im Alter steigenden Gesundheitskosten selbst. Künftige Generationen von Kindern und Enkelkindern werden durch die PKV-Versicherten mit Rücklagen ({4}) in Höhe von aktuell – danke, Herr Kessler – 270 Milliarden Euro entlastet. Solidarität entsteht aber auch zu den gesetzlich Versicherten. Dass die GKV Steuerzuschüsse erhält, ist uns allen bekannt. Und zu Ihren Gunsten, Herr Dr. Kessler, rechne ich jetzt mal mit den 14,5 Milliarden Euro aus der Vorcoronazeit. Die Privatversicherten beteiligten sich daran als Steuerzahler im Schnitt mit über 175 Euro pro Kopf und Jahr, in der Summe mit 1,6 Milliarden Euro, obwohl sie von den versicherungsfremden Leistungen der GKV sicher nicht profitieren. ({5}) Privatversicherte zahlen auch – darauf weisen Sie zu Recht hin – für viele medizinische Leistungen höhere Honorare. Damit unterstützen sie natürlich das Gesundheitswesen, und zwar jährlich mit 13 Milliarden Euro zusätzlich. ({6}) Diese zusätzlichen Einnahmen ermöglichen zum Beispiel den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern zusätzliche Investitionen in moderne Geräte und Behandlungsmethoden, die wiederum sowohl den PKV-Versicherten als auch den gesetzlich Versicherten zugutekommen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die private Krankenversicherung – so habe ich gelesen – soll nun abgeschafft, Privatversicherte sollen zu gesetzlich Versicherten gemacht und die bisherige Beihilfe des Bundes für seine Beamten soll zu einem Arbeitgeberbeitrag in der GKV umgewandelt werden. Kurz: Sie fordern ein objektives Berufsverbot für private Kassen, greifen in die Eigentumsrechte der Privatversicherten ein, ({8}) und Sie enteignen die privaten Krankenkassen, wenn Sie ihnen die 270 Milliarden Euro Altersrückstellungen wegnehmen und in den Gesundheitsfonds übertragen wollen. Juristisch sage ich: Subfiligran! – Das macht Ihnen so schnell keiner nach. ({9}) Dann fordern Sie die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch da: Die juristische Expertise dazu bewerten Sie durchaus entspannt. – Sie wissen es doch besser: Die Solidarität der gesetzlich Krankenversicherten darf bei der Beitragsbemessung eben nicht überdehnt werden. Auch dort muss es in einem gewissen Rahmen beim Äquivalenzprinzip bleiben. ({10}) Beiträge, die nicht einmal mehr in einem großzügigen Rahmen in Beziehung zur Leistung stehen, also zum gewährten Versicherungsschutz, die mutieren zur Steuer und sind damit rechtswidrig. Übrigens würden Sie ganz praktisch auch noch eine Bremse für jede Gehaltserhöhung einführen: Arbeitgeber würden ja für die Bezahlung der höheren Löhne und Gehälter bestraft; die Beitragslast würde insgesamt gleichzeitig erhöht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung der Kollegin Vogler von der Linken?

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, liebe Karin Maag, dass Sie meine Zwischenbemerkung zulassen. Ich will jetzt mal auf diese Legendenbildung rund um das Äquivalenzprinzip eingehen. Das Äquivalenzprinzip kann doch nur für ein Versicherungssystem gelten, in dem die Leistung in Bezug zum Beitrag steht. Der Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung steht aber in überhaupt keinem Verhältnis zum Leistungsversprechen. Das Leistungsversprechen wird nämlich allein durch den Bedarf bzw. die Bedürfnisse der versicherten Person geregelt, wenn sie denn krank und damit zur Patientin oder zum Patienten wird. Es ist vom Grunde her im Prinzip unbegrenzt: Also auch wenn eine familienversicherte Person, beispielsweise ein Kind, das noch nie einen einzigen Cent Beitrag gezahlt hat, schwer an einer seltenen Krankheit, an einer besonderen Krebsform erkrankt, hat dieses Kind, diese familienversicherte Person, einen quasi unbegrenzten Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung, auf Rehaleistungen, auf Leistungen, die die Gesundheit wiederherstellen, das Befinden bessern usw. usf. Deswegen finde ich, diese Argumentation über das Äquivalenzprinzip kann man gern in der Rentendebatte führen. An dieser Stelle aber, in der Diskussion über gesetzliche Krankenversicherung versus Privatversicherung, hat das überhaupt nichts zu suchen. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin, Sie haben eines vergessen, nämlich dass das Äquivalenzprinzip auf den durchschnittlichen Betrachter und auf die durchschnittliche Leistung abstellt. ({0}) Deswegen ist das Leistungsversprechen der GKV tatsächlich unbegrenzt. ({1}) – Entschuldigung, aber wenn ich die Fragen Ihrer Kollegin beantworte, dann müssen Sie es ertragen, dass ich eine andere Meinung habe. ({2}) Also, noch mal: Selbstverständlich ist das Leistungsversprechen der GKV unbegrenzt; da sind wir uns völlig einig. ({3}) Ob ein Beitrag aber tatsächlich geeignet ist, dieses Leistungsversprechen in irgendeiner Form zu ermöglichen, hat nichts mit der Unbegrenztheit des Leistungsversprechens zu tun, sondern er wird pauschal berechnet und auf eine durchschnittliche Betrachtung heruntergebrochen. Deswegen habe ich auch nicht formuliert, dass es zentral festgezimmert ist, sondern formuliert, dass es jedenfalls so, wie Sie es in den vergangenen zehn Jahren ausgedrückt haben, falsch ist. Wenn Sie die Aussagen der Sachverständigen, die sich in den letzten zehn Jahren bei Anhörungen zu diesem Thema geäußert haben, durchsehen, dann werden Sie feststellen, dass sich tatsächlich der eine oder andere Sachverständige in unserem Sinne ausgedrückt hat. Dass sich Sachverständige in Ihrem Sinne ausgedrückt haben, habe ich noch nicht so richtig bemerkt. ({4}) Jetzt mache ich weiter. – Sie wollen ja auch noch die 9/10-Regelung abschaffen. Klar, wenn Sie die PKV insgesamt abschaffen, dann braucht es diese Regelung nicht mehr. Falls sie bleiben sollte, dann, sage ich Ihnen, redet die Union von Solidarität, und zwar von Solidarität mit den Beitragszahlern in der GKV. Wenn jemand jahrzehntelang Vorteile der PKV in Anspruch genommen hat, dann muss er natürlich auch später mit den Nachteilen leben und kann dann nicht in die GKV wechseln. Kommen wir noch zur Portabilität der Altersrückstellungen. Wir haben bereits 2007 mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz diese Portabilität innerhalb der PKV verbessert, auch da wieder im verfassungsrechtlich gebotenen Rahmen, nämlich nur im Umfang des Basistarifs. Wenn nun die Jungen, die Gesunden, die Versicherten mit den niedrigeren Risiken zu anderen privaten Versicherungen abwanderten und ihre Altersrückstellungen komplett mitnähmen, würde das unweigerlich zu Beitragserhöhungen bei den Verbliebenen in ihrer jeweiligen Kohorte führen. Das wollen wir zumindest nicht. Und die Portabilität gar in die GKV zu ermöglichen, würde – da reden wir wiederum über gute Argumente der letzten zehn Jahre – die Eigentumsgarantie gemäß Artikel 14 Grundgesetz verletzen. Aus unserer Sicht jedenfalls hat sich das Nebeneinander von GKV und PKV sehr praktisch bewährt. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen sich in einem Systemwettbewerb zugunsten ihrer Versicherten beweisen und anstrengen. Das fördert Qualität. Deswegen werden wir wie immer Ihre Anträge ablehnen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, könnten Sie bitte Ihren Mund-Nase-Schutz mitnehmen und auch aufsetzen? ({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Jörg Schneider für die AfD-Fraktion. ({1})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Eine gute Idee hat Die Linke: Sie möchte Privatversicherten ermöglichen, bei einem Kassenwechsel die Rückstellungen mitzunehmen. Das würde tatsächlich den Wettbewerb zwischen den privaten Krankenversicherungen beleben. Das, finde ich, ist eine gute Idee. Aber damit habe ich Sie für heute auch schon genug gelobt. ({0}) Mehr Lob gibt es nicht. ({1}) Der nächste Punkt ist nämlich: Sie möchten bei Beamten gerne eine Wahlmöglichkeit schaffen zwischen Beihilfeverfahren, wie jetzt üblich, und der gesetzlichen Krankenversicherung. Da frage ich mich schon mal: Können Sie da nicht direkt ehrlich sagen: „Alle Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung“? Und da drucksen Sie jetzt so ein bisschen rum: Ja, das ist verfassungsrechtlich problematisch; da bräuchte man Zweidrittelmehrheiten. – Ich erinnere Sie mal dran: Sie sind die Oppositionspartei, und ich hoffe, Sie werden hier ganz lange Oppositionspartei bleiben. ({2}) Und als Oppositionspartei haben Sie ohnehin ein gewisses Problem, hier Mehrheiten zusammenzufinden. ({3}) Ich finde, dann kann man direkt auch wirklich ehrlich fordern, was man will. Aber, wissen Sie, das wollen Sie ja gar nicht; denn wenn Sie wirklich alle Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung schicken würden, dann wären da natürlich auch viele Lehrer, viele Sozialarbeiter dabei. Das sind viele Sympathisanten von Ihnen; die möchten Sie nicht vor den Kopf stoßen. Deswegen eiern Sie hier so ein bisschen rum. ({4}) Das ist ganz klar Klientelpolitik, was Sie hier machen. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen, meine Damen und Herren. ({5}) Ihre Forderung, die private Krankenversicherung abzuschaffen, ist dann zumindest schon mal ein bisschen ehrlicher. Ich sage „ehrlicher“, nicht „besser“. ({6}) – Ich sage durchaus was zur Gesundheitspolitik; darüber spreche ich doch gerade, Herr Kessler. ({7}) Sie möchten gerne die private Krankenversicherung abschaffen, diese böse Zweiklassenmedizin. ({8}) In diesem sozialistischen Einheitssystem werden wir dann alle gleichermaßen glücklich oder – das sollte man vielleicht besser sagen – gleichermaßen unglücklich. ({9}) Denn das gibt es doch schon. Gucken Sie mal nach Großbritannien; da gibt es den National Health Service. Das ist ein marodes System für die breite Masse; und für einige wenige wirklich Reiche gibt es dann Privatkliniken. Meine Damen und Herren, das ist ein Zweiklassensystem, was Sie uns hier aufdrücken wollen. ({10}) Vielleicht noch mal zur Erläuterung. Der National Health Service wurde in Großbritannien 1948 von einer damals stramm sozialistischen Labour-Partei eingeführt. ({11}) – Nein, das war 1948. Lesen Sie es mal nach. – Er wurde eingeführt von einer stramm sozialistischen Labour-Partei mit großen Sympathien für die Sowjetunion, für den Genossen Stalin. ({12}) Ich weiß nicht, vielleicht ist es diese Bruderschaft im Geiste, die Sie dazu bewegt, uns hier in Deutschland jetzt das gleiche gescheiterte System aufzwingen zu wollen. ({13}) Meine Damen und Herren, wir sind doch mit diesem dualen System sehr gut gefahren; das funktioniert doch. ({14}) Wir haben einen Wettbewerb zwischen den Systemen, und – Frau Maag sprach es eben auch schon an – der Privatversicherte bezahlt für die gleiche Leistung quasi das Doppelte dessen, was der gesetzlich Versicherte bezahlt. Dadurch haben wir in den Praxen, in den Kliniken schon eine Quersubventionierung, und das ist durchaus ein Stück gelebte Solidarität. In einem Punkt gebe ich Ihnen natürlich recht: Viele Privatversicherte sparen dadurch Geld. Das möchten Sie denen gerne wegnehmen, weil Sie ihnen das nicht gönnen. ({15}) Aber bitte nehmen Sie doch endlich mal zur Kenntnis: Wir haben in Deutschland weltweit die höchsten Steuer- und Sozialversicherungsabgaben. Gerade denjenigen, die von Ihrer Regelung besonders betroffen wären – die Ärzte, die Ingenieure – bleiben schon heute von 1 Euro, den sie vielleicht als Gehaltserhöhung bekommen, nicht mal 50 Cent übrig. ({16}) Meine Damen und Herren, wir müssen für diese Menschen die Beiträge endlich ein Stück weit senken, ({17}) damit wir ihnen tatsächlich die Möglichkeit geben, weiter ihre berufliche Zukunft in Deutschland zu suchen, und sie nicht ins Ausland abwandern. Dazu leistet Ihr Antrag keinerlei Beitrag, und deswegen werden wir ihn auch ablehnen. ({18}) Ich danke Ihnen. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist allgemein bekannt, dass die SPD die gesetzliche Krankenversicherung für weitere Beschäftigtengruppen öffnen möchte und damit Schritt für Schritt auf die Einführung einer Bürgerversicherung hinarbeitet. ({0}) In eine Bürgerversicherung würden – wie der Name schon sagt – alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden, also auch Freiberufler, Selbstständige und Beamte. Damit würden alle Berufsgruppen Beiträge in die solidarische Krankenversicherung einzahlen, und die Lasten würden auf mehr Schultern verteilt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig, dass es auch in der gesetzlichen Krankenversicherung Reformbedarf gab und gibt. So haben wir zum Beispiel die Mindestbeiträge für Soloselbstständige um mehr als die Hälfte gesenkt und Zeitsoldaten den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht. Damit haben wir die GKV für weitere Personengruppen attraktiver gemacht. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass sich die PKV mittlerweile selbst entzaubert hat. Mit jeder neuen Welle von Prämiensteigerungen zum Jahresende erreichen uns Briefe von verzweifelten Privatversicherten, die angesichts der davongaloppierenden Versicherungsbeiträge nicht mehr wissen, wie sie diese in Zukunft bezahlen sollen. Und da hilft auch nur bedingt ein Notlagen- oder Basistarif. ({2}) Verschärft wird dieser Trend durch die fortdauernde Niedrigzinsphase, die die wirtschaftlichen Verhältnisse der PKV durcheinanderwirbelt. Prämiensteigerungen von mehr als 15 Prozent sind keine Seltenheit. Bei einer echten Wahlfreiheit begeben sich viele Bürgerinnen und Bürger schon heute lieber in den sicheren Hafen der GKV. ({3}) Hier kann man sich als Versicherter nicht nur auf planbare Beiträge verlassen, sondern hat auch die Sicherheit, nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin behandelt zu werden. ({4}) Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die PKV in der heutigen Form über kurz oder lang ein Auslaufmodell sein wird. ({5}) Das Neukundengeschäft für Vollversicherungen ist – außer bei Beamten – nahezu zum Erliegen gekommen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es macht einen erheblichen Unterschied, ob man die private Krankenversicherung in einen echten Wettbewerb mit den gesetzlichen Kassen schickt oder ob man die Beitragsbemessungsgrenze und die PKV von jetzt auf gleich zum Stichtag X abschaffen möchte. Denn da gibt es erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken und auch sehr konträre Rechtsauffassungen; das haben uns die vielen Anhörungen gezeigt, die wir zu dieser Thematik ja schon durchgeführt haben. Wir Sozialdemokraten setzen daher lieber auf einen Versicherungsmarkt mit gleichen Regeln für alle und echte Wahlfreiheit für die Versicherten. ({6}) Hamburg hat es vorgemacht und bietet für neue Beamte eine echte Wahlfreiheit zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung an. Auch in der GKV bekommt man nun die pauschale Beihilfe. Mittlerweile machen auch Berlin, Brandenburg, Thüringen und Bremen ihren Neubeamten dieses Angebot. Auch die Beamten, die sich bislang schon in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert haben, weil sie beispielsweise aufgrund einer Vorerkrankung überhaupt keine private Krankenversicherung gefunden haben, erhalten nun endlich den Arbeitgeberzuschuss. ({7}) Es wäre nur konsequent, auch auf Bundesebene für die Beamtinnen und Beamten aktiv zu werden. Leider hat die Union bislang weder ein Interesse daran, die Situation der gesetzlich versicherten Bundesbeamten zu verbessern, noch daran, den Beamten eine echte Wahlfreiheit zu ermöglichen. Diese Haltung der Union könnte man ja noch mit einer – ja – ideologischen Nibelungentreue zur PKV erklären. Aber richtig fragwürdig für mich ist die ablehnende Haltung des Beamtenbundes, der glaubt, seine Mitglieder vor einer freien Entscheidung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung schützen zu müssen. Er nimmt dabei als Kollateralschaden in Kauf, dass gesetzlich versicherte Beamte den kompletten Beitrag alleine zahlen müssen, während ihr Beihilfeanspruch komplett ins Leere läuft. Das ist für mich, Kolleginnen und Kollegen, wirklich sehr bemerkenswert. ({8}) Über die Bundesländer könnte hier auch wieder ein bisschen Dynamik in das Geschehen kommen, wenn man sich beispielsweise in Baden-Württemberg mit dem grünen Gesundheitsminister dafür einsetzen würde, dass der Arbeitgeberzuschuss auch für die Beamtinnen und Beamten in der GKV geleistet wird. Kolleginnen und Kollegen, es wird zweifelsohne noch ein langer Weg sein, bis wir ein einheitliches und solidarisches Versicherungssystem haben: für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig vom Status, ob Beamter, Angestellter, Freiberufler oder Selbstständiger. Aber – davon bin ich überzeugt –: Die Bürgerversicherung – oder wie immer man sie dann auch nennen mag – wird kommen. Davon bin ich überzeugt, und dafür werden wir als SPD weiterkämpfen. Die Anträge der Linken lehnen wir allerdings ab. Denn wir setzen weniger auf verfassungsmäßig fragwürdige Verbote, als vielmehr auf die Überlegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst in Coronazeiten lassen es sich die Linken doch wieder einmal nicht nehmen, zum gefühlt hundertsten Mal die Abschaffung der PKV zu fordern. Ich kann es langsam nicht mehr hören, meine Damen und Herren. ({0}) Ihrer Fraktion ist es ja anscheinend noch nicht aufgefallen: Deutschland ist gerade mit seinem dualen System aus beiden Krankenversicherungsformen so gut aufgestellt. Denn der Qualitätswettbewerb – es wurde schon angesprochen – zwischen GKV und PKV um die beste Versorgung ist doch geradezu der Motor für Innovationen, und das garantiert eben auch unser hohes Niveau in der Gesundheitsversorgung, meine Damen und Herren. ({1}) Von diesem Qualitätswettbewerb profitieren alle Versicherten, nämlich sowohl die gesetzlich Versicherten als auch die Privatversicherten. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Zufriedenheit der gesetzlich und privat Versicherten ist im Moment auf Rekordniveau; so hoch war die Zufriedenheit noch nie. Und dann kommen Sie mit Ihrem Antrag! Ich verstehe Ihr ewiges Gerede von der Zweiklassenmedizin nicht. Privatversicherte zwangsweise in ein GKV-System zu verschieben, ist doch geradezu absurd. Fragen Sie doch einfach mal die Menschen. ({2}) Einen kompletten Systemwechsel lehnen wir von der FDP ab. ({3}) Die von Ihnen vorgebrachten Argumente sind auch schlichtweg falsch. Sie führen ja einen ungleichen Zugang an und – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen –: Weil Ärztinnen und Ärzte bei gleicher Leistung für Privatversicherte viel höhere Vergütungen bekommen, erhalten Privatversicherte früher einen Termin. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist erst mal ein ungeheuerlicher Vorwurf und ein Vorurteil gegenüber den Ärztinnen und Ärzten, die nämlich überhaupt nicht darauf gucken. Wenn jemand krank ist, wird er behandelt. So ist und bleibt es auch. ({4}) Zweitens stelle ich immer wieder fest – auch bei Ihnen, Herr Schneider –, dass Sie den Unterschied zwischen privater Gebührenordnung und gesetzlicher Gebührenordnung überhaupt nicht verstanden haben. Bei den gesetzlich Versicherten ist es nämlich so, dass ein Punktwert zugrunde liegt, und bei den Privatversicherten basiert die Gebührenordnung auf einem Euro-Betrag mit einem Steigerungsfaktor. Das wird mit einem Steigerungsfaktor multipliziert. ({5}) Dieser Steigerungsfaktor hat aber auch null mit der gesetzlichen Gebührenordnung zu tun. ({6}) Wenn hier davon geredet wird, dass jetzt 100 Euro mit Steigerungsfaktor 2,3  230 Euro seien, ist das schlichtweg falsch, meine Damen und Herren. ({7}) Das ist bei Ihnen die ideologische Brille, die Sie aufhaben. Nehmen Sie sie einfach mal ab; dann würden Sie auch den Unterschied erkennen und würden nicht immer so ein dummes Zeug erzählen, was Ihnen einige hier im Saal auch noch glauben. Meine Damen und Herren, nicht das Nebeneinander der Gebührenordnungen ist das Problem, sondern das Problem ist doch, dass die Leistungen, die über die GKV abgerechnet werden, budgetiert sind. Also anstatt hier die Abschaffung der PKV zu fordern, hätten Sie doch mal unserem Antrag auf Aufhebung der Budgetierung zustimmen sollen. Das hätte den Versicherten mehr geholfen als alles andere. ({8}) Als weiteres großes Argument führen Sie an, dass sich die Ärzte so gerne da niederlassen würden, wo viele Privatversicherte sind, und das Ursache des Ärztemangels auf dem Land sei. ({9}) Auch das ist falsch, meine Damen und Herren. Aus meinem Wahlkreis zum Beispiel weiß ich, dass der Privatpatientenumsatz bei mir im Kreis um ein Drittel höher ist als in der Stadt Lübeck. Das ist also auch wieder ein Argument, das völlig falsch ist, Sie aber benutzen, um hier dafür plädieren, die PKV abzuschaffen. ({10}) Ja, ich gebe Ihnen in einem Punkt recht: Der Wettbewerb innerhalb der PKV muss gestärkt werden, also die Portabilität muss flexibler zu handhaben sein. Das gilt aber nur innerhalb der PKV. So einfach, wie Sie sich das hier denken, geht es mit der Mitnahme der Altersrückstellungen nämlich nicht; denn wir müssen uns auch der rechtlichen Problematik von Altverträgen bewusst sein. Wir als FDP-Fraktion achten die rechtliche Problematik und die gesetzlich normierte Vertragstreue sowohl bei privaten als auch bei gesetzlichen Krankenversicherungen. Deswegen werden wir selbstverständlich Ihre Anträge ablehnen. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Denken Sie bitte an den Mund-Nase-Schutz! ({0}) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort. ({1})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir haben jetzt in der Krise, in der Coronapandemie, erlebt, wie leistungsfähig unser Gesundheitssystem ist. Dass es so leistungsfähig ist, hat im Kern mit der langen, langen Tradition der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung zu tun. ({0}) Jeder, der was anderes hier als Bild erzeugen will, muss sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen: Nirgendwo sonst weltweit habe ich einen so großen und so umfangreichen Anspruch auf gute Leistungen, auf qualitätsgeprüfte und gesicherte Leistungen, und zwar unabhängig davon, in welcher sozialen Lage ich bin, welches Einkommen ich bekomme und ob ich behindert bin oder andere große Bedarfe mitbringe. Unbesehen von der Person ist zumindest idealiter der Anspruch da, gut versorgt zu werden. Das ist ein hohes Gut, das wir schützen müssen. ({1}) Und wir müssen auch darauf achten, dass dieses Prinzip nicht beschädigt wird. Gucken wir uns die Zahlen an: Mehr als 73 Millionen Menschen in Deutschland sind gesetzlich versichert; gerade mal 9 Millionen sind privat versichert, davon die Hälfte wiederum Beamte, die eben mit Beihilfe plus einer besonderen Form der privaten Versicherung abgesichert sind. ({2}) Niemand weltweit würde auf die Idee kommen, dass man ausgerechnet diejenigen, die über hohe Einkommen verfügen und die in der Regel aufgrund ihres sozialen Status auch geringere Gesundheitsrisiken haben, außerhalb dieses solidarischen und so leistungsfähigen Systems versichert. Ich glaube, dieser Tatsache muss man sich stellen. ({3}) Und dieser Tatsache muss man sich auch deshalb stellen, weil wir wissen, dass wir in mehrerlei Hinsicht unter Druck sind: Wir sind erstens unter Druck, weil wir nach dem Ende dieser Wahlperiode mit mindestens 16 Milliarden Euro Deckungslücke zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in die nächste Wahlperiode starten werden. Zweitens. Wir haben viele, viele Privatversicherte, die eben nicht in der günstigen Situation als Beamte sind und mit den Bedingungen der privaten Krankenversicherung keinesfalls gut fahren. Es ist nämlich ein Märchen, wenn man sagt, das sei eine bessere Absicherung, damit sei eine bessere Versorgung verbunden. Vielmehr haben wir im Gegenteil viele, viele Gruppen, die am Anfang so schlechte Tarife für sich gewählt haben – oft, ohne das zu wissen –, dass wesentliche gesundheitliche Risiken nicht abgesichert sind. ({4}) Wer weiß denn, dass zum Beispiel Rehamaßnahmen in sehr, sehr vielen Tarifen nicht inkludiert sind? Wer weiß das? Und wer weiß als junger Mensch, wenn er eine private Krankenversicherung wählt, dass er, wenn er vielleicht eine psychische Erkrankung bekommt und einen längeren Rehaaufenthalt nötig hat oder vielleicht nach der Implantation einer künstlichen Hüfte einen langen Rehaaufenthalt braucht, auf all diese Dinge in den allermeisten Tarifen der privaten Krankenversicherung keinen wirklichen, rechtlich verbrieften Anspruch hat? ({5}) Das sind doch die Themen, denen wir uns stellen müssen, auch aufgrund unserer Fürsorgepflicht. Denn auch für die 9 Millionen Privatversicherten sind diese Themen natürlich von Bedeutung, und denen müssen wir uns zuwenden. ({6}) Wenn wir uns gleichzeitig anschauen, wie viel Nebenwirkung dieses Nebeneinander von privat und gesetzlich hat, dann können wir rational nicht begründen, wieso wir diese Wege gehen. Vielmehr brauchen wir Mechanismen wie beispielsweise die Beitragsbemessungsgrenze, die Versicherungspflichtgrenze. All diese Mechanismen brauchen wir ja, um das Nebeneinander der verschiedenen Risikosortierungen, die sich da ergeben, überhaupt irgendwie tragfähig zu machen. Auch das ist was Anachronistisches. Das würden wir uns freiwillig neu nie wählen. Das muss man doch ganz klar sehen. ({7}) Jetzt sind wir doch alle in der Verpflichtung, zu schauen: Wie bekommen wir ein zukunftsfähiges, tragfähiges und solidarisches System erhalten und auf die neuen Anforderungen eingestellt, die sich uns stellen? Wir haben das Problem der demografischen Entwicklung. Wir werden erleben, dass sich in den nächsten zehn Jahren die Anzahl der Hochbetagten verdoppelt. Die Folgekosten daraus werden wir zu stemmen haben; da brauchen wir Antworten. Wir brauchen aber gleichzeitig auch die Antwort darauf, wie wir mit dem Umstand umgehen, dass es ein Nebeneinander gibt zwischen Erwerbstätigen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die sich den Belastungen stellen, und großen Gruppen, die andere Einkommensarten haben, aber nicht in die solidarische Finanzierung einzahlen müssen. Das sind doch Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Da sind wir überhaupt nicht gut beraten, in alte ideologische Scharmützel zu verfallen. ({8}) Vielmehr müssen wir schauen: Wie kriegen wir ein gemeinsames System hin, mit dem wir solidarisch die Risiken aus Gesundheit und Pflege absichern, mit dem wir dafür Sorge tragen, dass es dabei gerecht zugeht, und das wir bezahlbar halten? Das ist doch der Spagat, den wir hinzukriegen haben, und das ist das, was wir auch einer guten Versorgung schulden. Gerade weil wir wissen, dass wir uns zum Beispiel lange ausgeruht haben und nicht dafür gesorgt haben, dass bestimmte Beschäftigtengruppen im Gesundheitswesen adäquat bezahlt werden, und weil wir sehen und jetzt ja so deutlich und schmerzlich erleben, dass wir einen riesigen Fachkräftemangel haben, brauchen wir finanzielle Möglichkeiten. Die können wir darüber heben, dass wir wirklich Sorge dafür tragen, dass alle in die solidarische Finanzierung einbezogen sind und damit auch die Kosten stemmen, die sich notwendigerweise ergeben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Klein-Schmeink, achten Sie bitte auf die Zeit.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit stellen wir zusätzlich sicher, dass alle Zugang zu einer guten Versorgung haben. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Abgeordnete Petra Nicolaisen das Wort. ({0})

Petra Nicolaisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Beamtinnen und Beamten den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung erleichtern“ ist der Titel eines der vorliegenden Anträge der Linken. Ich sage ganz deutlich: Das Thema ist mir nicht unbekannt. Die Forderung, das gegenwärtige Beihilfesystem dahin gehend zu ändern, wahlweise einen Arbeitgeberzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung für Beamtinnen und Beamte einzuführen, war sowohl Gegenstand einer meiner letzten Debatten im Schleswig-Holsteinischen Landtag als auch im Jahre 2018 hier im Bundestag. Wir haben dazu ein Jahr später ja auch eine Anhörung durchgeführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeachtet der Frage nach einem eventuellen Bedarf und einem möglichen Interesse sprechen insbesondere verfassungsrechtliche Bedenken sowie Kosten gegen die im Antrag vorgeschlagenen Änderungen des bewährten Beihilfesystems. Lassen Sie mich zunächst einige Punkte zu den Kosten sagen. Die finanziellen Auswirkungen auf Bund, Länder und Kommunen lassen sich auf lange Zeit kaum vorhersagen. Die Mehrkosten für die Steuerzahler, die sich aus einem Arbeitgeberzuschuss ergeben würden, wären nicht mit den Kosten der bestehenden Beihilfe zu vergleichen. Zudem werden beim bestehenden Beihilfesystem für den Personenkreis neu einzustellender Beamtinnen und Beamten in der Regel in den ersten Jahren kaum Kosten verursacht. Auch mögliche Beitragssteigerungen für Beamtinnen und Beamte in der privaten Krankenversicherung wurden nicht in den Blick genommen, ganz zu schweigen von den Mehrbelastungen für die gesetzlichen Krankenversicherungen und deren Beitragszahler, insbesondere jetzt, wo die gesetzlichen Krankenversicherungen pandemiebedingt mit massiv steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen zu kämpfen haben. Daneben ergäbe sich für das Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung zudem das Risiko, dass hauptsächlich Beamtinnen und Beamte mit Vorerkrankungen in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln. ({0}) Und damit nicht genug: Im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses verpflichtet sich der Dienstherr, für die Beamtinnen und Beamten zu sorgen. Diese Fürsorgepflicht macht einen Teil der Attraktivität des öffentlichen Dienstes aus. ({1}) Mit einer Änderung des bewährten Beihilfesystems könnte gerade diese Attraktivität des öffentlichen Dienstes gefährdet werden. Darüber hinaus erfordert die Schutz- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn in gewissen Fällen ein Mehr an Leistungen. Das bedeutet, dass auch für freiwillig gesetzlich versicherte Beamtinnen und Beamte eine Restbeihilfe immer bestehen bleiben müsste. Daraus ergäben sich zwei parallele Systeme mit zusätzlichen Kosten für den Dienstherrn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Änderung des Beihilfesystems würde voraussichtlich für alle teurer, aber nur für wenige Ausnahmefälle besser werden. Nicht zuletzt bietet das bisherige System zwischen Besoldung, Versorgung und Beihilfe Gewähr für die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Beamtinnen und Beamten leisten wertvolle Arbeit für das Gemeinwohl und sind unverzichtbar. Durch sie wird eine leistungsfähige sowie unabhängige Verwaltung gewährleistet. Daher bin ich der Auffassung, dass auch wir eine gewisse Verpflichtung gegenüber dem Beamtentum haben. ({2}) Ich bin mir sicher, dass wir mit unserem dualen Versicherungssystem und dem Dreiklang aus Besoldung, Versorgung und Beihilfe dieser Verpflichtung nach wie vor gerecht werden. Das bestehende System ist die Grundlage für eine gute Versorgung der Beamtinnen und Beamten. Es gilt, das Gute zu bewahren. Der vorliegende Antrag ist – wenn wir ehrlich sind – der Versuch, einen Grundstein in Richtung Bürgerversicherung zu legen; das haben Sie gesagt. Das wird den Beamtinnen und Beamten und ihrer Tätigkeit im Staatsdienst nicht gerecht. ({3}) Und so bin ich nach wie vor der festen Überzeugung, dass das bestehende System nicht nur die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben, sondern auch eine gute Versorgung der Beamtinnen und Beamten gewährleistet. Aus diesen Gründen gilt nach wie vor – wie bereits im Jahre 2018 – unverändert: Der vorliegende Antrag ist abzulehnen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer an den TV-Geräten! Werter Minister Spahn! Auf Wunsch der Genossen und Genossinnen der Fraktion Die Linke beschäftigen wir uns einmal wieder mit dem dunkelroten Traum von der Rückkehr zum Staatssozialismus. Wer die Beitragsbemessungsgrenze abschaffen und dadurch durch vermeintliche Mehreinnahmen von bösen Reichen die Beiträge für die guten Armen senken will, der hat das Solidarsystem der Krankenkassen definitiv nicht verstanden. ({0}) Denn warum wurde die Beitragsbemessungsgrenze überhaupt eingeführt? Eingeführt wurde sie einst vor allem zum Schutz der gesetzlichen Krankenkassen. Das haben Sie in Ihrem Antrag auch richtig dargelegt. Nur leider haben Sie wieder mal die völlig falschen Schlüsse daraus gezogen; denn Sie glauben nun, dass es effektiver ist, die Besserverdienenden durch den Wegfall dieser Bemessungsgrenze kräftiger zur Kasse bitten zu können. ({1}) Was Sie offensichtlich vergessen haben, ist, dass es sich bei den Krankenversicherungen und auch bei den Pflegeversicherungen um ein Leistungsprinzip auf solidarischer Ebene handelt. Wer viel verdient, zahlt viel. Wer wenig verdient, zahlt auch weniger. Dennoch sind die Leistungen der Krankenkassen für alle gleich. Die prozentualen Beiträge der Kranken- und Pflegeversicherung sind ebenso für alle Einkommenshöhen gleich, im Gegensatz zur progressiven Steuerlast. Zum Beispiel ein Hilfsarbeiter mit 2 000 Euro brutto zahlt 173 Euro Lohnsteuer. Das entspricht 8,65 Prozent seines Gehaltes. Der Meister mit 6 000 Euro brutto zahlt 1 370 Euro. Das sind also 22,8 Prozent Lohnsteuer. Wenn Sie nun die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Krankenkasse abschaffen wollen, so treiben Sie die Besserverdienenden, die noch Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, zuhauf in die private Krankenversicherung. Damit das nicht passiert, wollen Sie bereits, wie mein Kollege Jörg Schneider erwähnte, diese auch gleich abschaffen. Sie konstruieren hier eine Kette von verunglückten Anträgen, von denen der neueste die Fehler des vorherigen korrigieren soll. Diese unsinnige Arbeitsweise war mir eigentlich nur durch das Ministerium von Minister Heil bekannt. Diese Form des Sozialismus, die die Linken wie eine Monstranz vor sich hertragen, spaltet die Gesellschaft schon seit Jahren. ({2}) Mit diesen von Gier aufs Geld anderer Leute getriebenen Anträgen schlagen Sie den Spaltpilz noch tiefer ins Holz unserer Gesellschaft, als Sie es bisher schon getan haben. ({3}) Wir lehnen Ihr Konvolut zur Einführung der SED, der sozialistischen Einheitskrankenkasse Deutschlands, generell ab. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Martina Stamm-Fibich für die SPD-Fraktion. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die gesundheitspolitische Linie der SPD in den letzten Jahren verfolgt hat, dem sollte nicht verborgen geblieben sein, dass es zwischen unserer Linie und den heutigen Oppositionsanträgen inhaltliche Übereinstimmungen gibt. Leider kann man das über unseren Koalitionspartner nicht sagen. Wie Sie gleich hören werden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Es gibt Lichtblicke. Wir geben die Hoffnung jedenfalls nicht auf. Nun aber zum Inhaltlichen. In meinem Wahlkreis habe ich einen jungen Mann, der Beamter im gehobenen Dienst in Bayern ist und – wie dort üblich – privat versichert ist. Das Problem: Aufgrund einer Vorerkrankung zahlt er direkt mal 30 Prozent mehr Krankenversicherungsbeiträge als seine Kolleginnen und Kollegen im gleichen Alter, obwohl die Krankheit laut Attest vom Arzt kein Thema mehr ist. Um überhaupt versichert zu werden, musste der junge Mann einen dreimonatigen Papierkrieg mit dem Krankenversicherer führen. Zwischendurch sagte er mir: Ich weiß nicht, ob die mich überhaupt nehmen. – Die Alternative wäre gewesen, sich freiwillig gesetzlich zu versichern und den Arbeitgeberanteil selbst zu tragen. ({0}) Das, meine Damen und Herren, ist für einen Beamten in der Besoldungsgruppe A 9 keine Option. Dies ist finanziell in keiner Weise sinnvoll und auch nicht machbar. ({1}) Und so etwas darf auch nicht passieren; denn das ist nicht solidarisch, und das ist auch nicht gerecht. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie wir das in Zukunft lösen und über die wir diskutieren können. Die eine ist: Die PKV nimmt jeden Beamten, unabhängig von seinen Vorerkrankungen, zu den gleichen Konditionen auf. Die Gesichter bei der PKV würde ich jetzt gern sehen. ({2}) Oder aber wir kommen der PKV dadurch entgegen, dass wir netterweise den Arbeitgeberanteil für die GKV übernehmen und dadurch eine echte Wahlfreiheit schaffen. Es wird Ihnen nicht entgangen sein: Glücklicherweise gibt es die zweite Lösung an manchen Orten in dieser Republik ja schon. In Hamburg hat es Olaf Scholz vorgemacht. Immer mehr Bundesländer ziehen nach. Ja, das Hamburger Modell ist ein Erfolg. ({3}) Mittlerweile gehen mehr als die Hälfte der Beamten in die GKV. ({4}) Und jetzt zum angekündigten Lichtblick. Als diese Gerechtigkeitslücke in Brandenburg geschlossen wurde, hat selbst der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Björn Lakenmacher, zugegeben, dass die Stärkung der Wahlfreiheit durch die Beihilfe zu mehr Gerechtigkeit führt. ({5}) Also: Lassen Sie sich hiervon inspirieren, und lassen Sie uns eine echte Wahlfreiheit im Wettbewerb schaffen! Zum Schluss noch ein paar Worte zum System im Allgemeinen. Es vergeht kein Monat, in dem wir in diesem Haus nicht über irgendwelche Probleme diskutieren, die durch das duale Krankenversicherungssystem getriggert werden. Durch meine Arbeit im Petitionsausschuss sehe ich obendrein auch die ganzen Einzelfälle, die in diesem System durch den Spalt zwischen GKV und PKV fallen. Nein, es geht hier nicht um eine Neiddebatte. Es geht auch nicht darum, das System infrage zu stellen. Aber es geht darum, dass sich immer mehr PKV-Versicherte die Beiträge nicht mehr leisten können. An die Auswirkungen der Pandemie habe ich hier noch gar nicht gedacht. Es geht darum, dass eine große Anzahl von Menschen überhaupt keinen oder nur einen sehr geringen Versicherungsstatus aufweist und Gesundheitsleistungen immer häufiger – darüber diskutieren wir wenig – von Kommunen, von Wohlfahrtsverbänden und von vielen, vielen Freiwilligen erbracht und finanziert werden. Wir haben keine Lust mehr darauf, ständig diese Ausnahmen und Regelungsflicken zu verabschieden, die doch am Ende nur die Symptome dieses ökonomisch unsinnigen Systems abschwächen. Deshalb muss das Problem an der Wurzel gepackt werden. Wir brauchen eine Krankversicherung für alle. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Wieland Schinnenburg das Wort. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegen vier Anträge der Linken vor. Mit diesen Anträgen wollen Sie die PKV zunächst schwächen und dann abschaffen. Ich sage Ihnen: Die Freien Demokraten kämpfen für den Erhalt und für die Stärkung der privaten Krankenversicherung. ({0}) Warum tun wir das? Zunächst einmal tun wir es, weil wir Wettbewerb wollen, wie wir es immer wollen. Wir wollen, dass die Menschen auswählen können, wo und wie sie sich versichern. Jeder Mensch weiß doch selber am besten, welche Versicherung zu ihm passt. ({1}) Das wollen Sie abschaffen. Wir wollen das beibehalten, meine Damen und Herren. Zweiter Punkt. Die private Krankenversicherung hat eine ganze Reihe von ganz erheblichen Vorteilen. Am wichtigsten ist zunächst die Therapiefreiheit. Wie kann es denn sein, dass in der GKV irgendwelche Gremien entscheiden, woraus die Behandlung besteht? Wir wollen, dass Arzt und Patient für sich entscheiden, wie die Behandlung abläuft. Die einzige Begrenzung ist bei der PKV der Begriff der medizinischen Notwendigkeit. Zum Glück ist es so, dass der Bundesgerichtshof diesen Begriff sehr weit auslegt. Mir persönlich ist es vor Gericht regelmäßig eine große Freude, der PKV deutlich zu machen, wie weit dieser Begriff auszulegen ist. Dritter Punkt: Budgetierung. Wie kann es sein, dass Gremien festlegen, wie viel Geld für die Behandlung kranker Menschen zur Verfügung steht? Das ist in der GKV so. Man kann ja vieles budgetieren, aber doch nicht die Behandlung kranker Menschen, meine Damen und Herren. Das geht gar nicht. ({2}) Vierter Punkt: Niederlassungsfreiheit. Wie kann es sein, dass in irgendwelchen Gremien festgelegt wird, wo Ärzte ihre Praxis aufmachen dürfen? Ein Arzt soll doch selber entscheiden, wo nach seiner Einschätzung die Menschen sind, die seine speziellen Qualifikationen nachfragen. Auch das ist ein Grundfehler der GKV. ({3}) Fünfter Punkt: Transparenz. Jeder Privatversicherte kann genau nachlesen, welche Leistungen bei ihm erbracht wurden und was dafür berechnet wurde. Auch das gibt es bei der GKV nicht. ({4}) Sechster Punkt. Die PKV ist demografiefest. Wir haben schon festgestellt, dass hier 270 Milliarden Euro Altersrückstellungen gebildet wurden. So etwas gibt es bei der GKV auch nicht. Und Sie werden feststellen: In wenigen Jahren werden die Beiträge der GKV kräftig steigen, weil viele Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und dann weniger Beitrag zahlen können. Auch dieses Problem gibt es bei der PKV nicht. ({5}) Einen Vorteil der GKV gibt es aber, und zwar besteht grundsätzlich Kontrahierungszwang. Grundsätzlich können sich Patienten unabhängig von ihrem Alter und ihrem Gesundheitszustand versichern lassen. Das ist ein Punkt, den die PKV auch einmal übernehmen sollte. Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Wir sind für Wettbewerb. Wir wollen, dass Menschen selber bestimmen können. Was wir nicht wollen, ist eine Enteignung von Menschen in zigfacher Milliardenhöhe. Was wir nicht wollen, ist die Vergesellschaftung von Altersrückstellungen. Schämen Sie sich dafür, meine Damen und Herren! Die FDP wird weiter für eine freie, solidarische und gegliederte Krankenversicherung sorgen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dietrich Monstadt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unser duales Krankenversicherungssystem haben wir in diesem Hause immer wieder diskutiert. Gefühlt haben wir dieses Thema ähnlich intensiv wie das aktuelle Thema der Coronapandemie diskutiert, ohne dass es dadurch besser würde. ({0}) – Das kann ich an Sie zurückgeben, Herr Kessler. Ein Antrag fordert, wie wir jetzt gelernt haben, als Zwischenschritt – so haben Sie uns das erklärt –, die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abzuschaffen, allerdings ohne die in jedem Fall hilfreich sein könnenden neuen Argumente. Frau Maag hat darauf nachdrücklich hingewiesen. Ihr Antrag ist vielmehr zum wiederholten Male aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken abzulehnen. ({1}) – Hören Sie doch mal zu! Das wäre hilfreich. Vielleicht lernen Sie noch etwas. ({2}) Bei der Beitragsbemessung in unserem solidarisch ausgerichteten System darf die Solidarität in der Versicherungsgemeinschaft nicht überdehnt werden. Um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen, muss in solchen Systemen das Äquivalenzprinzip der Versicherung bleiben. ({3}) Das heißt – jetzt passen Sie auf! –, dass Leistungen, für die Beiträge entrichtet werden, auch dem Interesse der Versicherten entsprechen müssen. Anderenfalls kommen die Beiträge einer Steuer gleich. Das wollen wir nicht. ({4}) In einem zweiten Antrag fordern Sie, die private Krankenversicherung ab einem bestimmten Stichtag auf medizinisch nicht notwendige Zusatzversicherungen zu begrenzen. Alle privat Krankenversicherten sollen per Gesetz zu gesetzlich Versicherten werden. Diese faktische Abschaffung der PKV begegnet ebenfalls grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies würde einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Berufsfreiheit der Versicherer darstellen. Warum wollen Sie unser zuverlässiges System gefährden? Das deutsche Gesundheitssystem hat im internationalen Vergleich eine hohe Versorgungsdichte und ermöglicht allen Patientinnen und Patienten einen einfachen Zugang zu medizinischen Leistungen. Bei Einführung einer Bürgerversicherung sehe ich, sehen wir als Union eher eine Verschlechterung der Situation. Wir befürchten, dass ohne die Dualität der Systeme die Gefahr besteht, dass der Leistungskatalog nicht mehr dem medizinischen Fortschritt angepasst und mittelfristig auf eine minimale Grundversorgung reduziert wird. Meine Damen und Herren, nicht mit uns! ({5}) Meine Damen und Herren, auch die Zahlen sprechen für sich. Laut einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung stehen durch die PKV 12,89 Milliarden Euro mehr für das deutsche Gesundheitswesen zur Verfügung. Die Zusammenlegung der zwei Versicherungssysteme zu einer Einheitsversicherung bedeutet auch nicht, dass eine Zweiklassenmedizin abgeschafft wird bzw. nicht entstehen kann; vielmehr fördert sie soziale Ungerechtigkeit. Es wird zu einem Anstieg der privaten Zusatzleistungen kommen. Das kann und will sich nicht jeder leisten. Meine Damen und Herren von den Linken – ich schaue auch in die Reihen der SPD und der Grünen –, dann hätten wir gerade die Zweiklassenmedizin, die Sie nicht wollen. Kommen wir zu einem weiteren Antrag: „Lebenslangen Bindungszwang an private Krankenversicherungen abschaffen“. Hier ignorieren Sie schlicht den Artikel 14 des Grundgesetzes in seinem komplexen Regelungsrahmen. Auch haben wir schon im Jahr 2009 im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz die Umsetzung des Transfers für die jeweiligen Altersrückstellungen in der PKV im Umfang des Basistarifs ermöglicht. Meine Damen und Herren, wir stehen für ein freiheitliches Versicherungssystem. Wir wollen Vielfalt und Wahlmöglichkeiten im Sinne der Versicherten sicherstellen. Grundsätzlich profitieren die gesetzlichen und die privaten Krankenkassen – es ist wiederholt angesprochen worden – im Wettbewerb voneinander. In der ambulanten Versorgung gilt der Erlaubnisvorbehalt für die GKV. Das bedeutet, dass neue, innovative Leistungen vom Gemeinsamen Bundesausschuss erst ausdrücklich zugelassen werden müssen, ehe sie in die Regelversorgung gelangen. Dass diese Prozesse manchmal Jahre dauern, habe ich beispielsweise für Medizinprodukte an dieser Stelle immer wieder kritisch angemerkt. In der PKV gilt der Erlaubnisvorbehalt nicht. Die gesetzlichen Krankenkassen sind dadurch gezwungen, sich ebenfalls mit innovativen Behandlungsmethoden auseinanderzusetzen und diese gegebenenfalls schneller in ihren Leistungskatalog aufzunehmen. Diese Innovationsmotorik, die durch den Wettbewerb der beiden Krankenkassensysteme hervorgerufen wird, gerade auch bei Sprunginnovationen, käme zum Erliegen. Diesen Wettbewerb in unserem System wollen wir deshalb genau so erhalten. ({6}) Meine Damen und Herren, auch das vorgeschobene Argument, dass GKV-Versicherte erschwert Arzttermine bekommen, ist durch die Regelung im TSVG vom Tisch. ({7}) Das duale Versicherungssystem hat sich in seiner Form bewährt. Von daher lehnen wir Ihre Anträge unisono ab. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss quasi direkt, lieber Kollege Monstadt, auf Ihren Beitrag eingehen, weil Sie sich ausdrücklich für Vielfalt und Wahlfreiheit ausgesprochen haben. Da drängt sich sofort die Frage auf: Warum dann nicht auch für die Beamtinnen und Beamten? Denn diese haben zum jetzigen Zeitpunkt Vielfalt und Wahlfreiheit nicht. ({0}) Das ist etwas, was uns allerdings ganz massiv stört. Um dann auch die Fürsorgepflicht direkt aufzugreifen: Ja, natürlich hat der Staat eine Fürsorgepflicht für seine Beamtinnen und Beamte. Es gibt aber sogar schon Ausführungen der Gerichte, dass diese keineswegs vernachlässigt wird, wenn Beamtinnen und Beamte in das gesetzliche Versicherungssystem einbezogen werden. Die Fürsorgepflicht gilt übrigens für alle Beamtinnen und Beamte. Meine Kollegin hat nur eines von vielen Beispielen, die wir auf den Tisch bekommen, angesprochen, das deutlich macht, wann die Fürsorgepflicht nicht erfüllt wird. Was das Geld angeht, um das auch mal deutlich zu machen: Abgesehen davon, dass es nicht wirklich klar ist, ob und in welchem Umfang Mehrkosten verursacht würden, hat der Staat, der öffentliche Dienst – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich herzlich danken – ja nicht nur Beamtinnen und Beamte. Er hat auch Angestellte, und zwar ganz viele Angestellte. Warum gilt da nicht auch die Fürsorgepflicht? Wenn es wirklich gilt, dass die Kosten an dieser Stelle sinken, würde sich das womöglich für den öffentlichen Dienst sogar völlig ausgleichen. Insofern, selbst wenn es zu einer Steigerung käme, heißt das nicht, dass dies unbedingt deutlich teurer würde. Aber das vielleicht nur kurz zu Beginn. Ich will jetzt auf die Anträge eingehen. Liebe Kolleginnen von der Linken! Jetzt habe ich sozusagen andersrum nicht gegendert. Natürlich: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie haben vier Anträge vorgelegt. Das, was Sie da machen, ist ein bisschen widersprüchlich; das muss ich schon sehr deutlich sagen. Das Problem ist: Die vier Anträge in Richtung Bürgerversicherung heben sich in dem einen oder anderen Punkt wieder auf. Das ist auch nicht wirklich ein erfolgversprechender Weg, um zur Bürgerversicherung zu kommen. ({1}) Die Kollegin Maag hat ja den Punkt mit der Altersrückstellung schon angesprochen. Ich will ausdrücklich sagen: Nähme man den Antrag zur Altersrückstellung ganz alleine, also ohne all die anderen Punkte, die Sie dazugesetzt haben, dann wäre dieser Antrag möglicherweise sogar höchst unsolidarisch. Er würde nämlich dazu führen, dass dann, wenn bestimmte Punkte aufgehoben werden, erstens ein Hopping zwischen privater und gesetzlicher Kasse zustande käme und dass zweitens den gesetzlich Versicherten aufgebürdet würde, im Zweifel all das zu bezahlen, was die Menschen, die vorher lange in der privaten Krankenversicherung waren, nicht mehr bezahlen können. ({2}) Das halte ich und halten wir nun überhaupt nicht für den richtig gangbaren Weg. Bei dem Antrag, den wir jetzt überweisen werden, also Ihrem letzten Antrag, hat man ein bisschen den Eindruck, dass Sie Ihrem ersten Antrag nicht viel Erfolgsaussichten zubilligen; denn de facto greift der letzte Antrag einen Punkt noch mal auf: Würde heute der erste Antrag beschlossen – ich nehme an, dafür treten Sie immer noch ein –, ({3}) würde der letzte Antrag überhaupt keinen Sinn mehr machen, weil dann mit dem ersten Antrag die Jahresarbeitsentgeltgrenze bereits aufgehoben wäre. Also scheinen Sie dem Verfahren selbst nicht richtig zu trauen. Ich sage noch mal deutlich für die SPD: Wir sind für einen sinnvollen Weg Richtung Bürgerversicherung. Ich finde es übrigens gut, darüber immer wieder zu diskutieren. Steter Tropfen höhlt den Stein: Ich hoffe, an der einen oder anderen Stelle dann auch den Widerstand beim Koalitionspartner. – Vielleicht denken Sie über die Beamten und die Beamtinnen noch mal nach. Wir können vielleicht irgendwann einen Weg gehen. Aber es muss ein vernünftiger, ein abgestimmter Weg sein, der für alle gangbar ist und der alle mitnimmt und bei dem wir die verschiedenen Probleme bedenken. Da meine Zeit zu Ende geht: ({4}) Ich bedanke mich fürs Zuhören, freue mich auf die weitere Diskussion, die wir mit dem letzten Antrag noch haben werden. Und: Bleiben Sie alle gesund! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Pilsinger das Wort. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst geht mein Dank an die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke. Aus meiner Sicht gibt es keinen besseren Zeitpunkt, um über das Thema Einheitsversicherung hier im Plenum zu diskutieren. Der Grund ist ganz einfach: Die vergangenen Pandemiemonate haben eindrucksvoll gezeigt, dass unser Gesundheitssystem zu den besten der Welt gehört und dass das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, meine Damen und Herren, ein elementarer Bestandteil dieses leistungsfähigen Systems ist. ({0}) Wenn ich aber dann in Ihrem Antrag lese, die private Krankenversicherung müsse abgeschafft werden, um die Zweiklassenmedizin zu überwinden, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie ignorieren damit völlig den Versorgungsalltag in unserem Land. Ich spreche hier nicht nur von der hervorragenden Akut- und Regelversorgung in unseren Arztpraxen und Kliniken oder unserem dichten Netz an spezialisierten Laboren. Vielmehr zeigt sich gerade jetzt in der Krise, dass unser Gesundheitssystem in fast allen Bereichen deutlich besser strukturiert und organisiert ist als die meisten anderen Systeme auf dieser Welt. ({1}) Wenn die bisher sehr erfolgreiche Bewältigung dieser anhaltenden Gesundheitskrise nicht der Beweis dafür ist, dass das duale System ein Erfolgsmodell ist, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken: Welche Belege brauchen Sie denn dann? Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Kein System ist perfekt oder ohne Fehler. Wir haben gezeigt, dass wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst nehmen. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz haben wir bereits im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass gesetzlich Versicherte schnell einen Arzttermin bekommen. Dazu gehört auch, dass die Terminservicestellen als zentrale Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten ausgebaut wurden und somit 24 Stunden an sieben Tagen der Woche erreichbar sind. Parallel dazu wurde das Mindestsprechstundenangebot der Vertragsärzte erhöht, und es wurden Anreize für Zusatzangebote wie zum Beispiel die Vermittlung eines Facharzttermins durch den Hausarzt geschaffen. Aber das sind nicht die einzigen Maßnahmen, mit denen wir die ärztliche Versorgung für die Versicherten verbessert haben. So erhalten Ärzte, die in wirtschaftlich schwachen und unterversorgten ländlichen Räumen praktizieren, künftig regionale Zuschläge. Darüber hinaus wird auch der Strukturfonds der Kassenärztlichen Vereinigung ausgebaut und der finanzielle Spielraum des Fonds entscheidend verbessert. In Gebieten mit zu wenig Ärzten können die Länder zudem unter bestimmten Voraussetzungen Zulassungssperren aufheben. Das alles sind sinnvolle und zielführende Maßnahmen, die eine spürbare Verbesserung im Versorgungsalltag der Patientinnen und Patienten ausmachen. Leider kann man das von Ihren Vorschlägen zur Abschaffung der privaten Krankenversicherung und zur Einführung einer Einheitsversicherung nicht sagen. Ich frage mich, welches Ziel Sie mit Ihren Vorschlägen eigentlich verfolgen; denn wissenschaftlich haltbare Nachweise dafür, dass die Einführung einer Einheitsversicherung zu Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung führt, können Sie nicht vorlegen. Das ist auch kein Wunder; denn diese Nachweise gibt es auch gar nicht. ({2}) Im Gegenteil: Schauen Sie nur nach England. Eine Überlastung der Kliniken und Arztpraxen tritt dort regelmäßig schon während der saisonalen Grippewelle auf. – Ganz zu schweigen davon, dass die Abschaffung des dualen Systems zu Verwerfungen in der Versicherungslandschaft führen und die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung in die Höhe treiben würde. Auch Ihr Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze gleich mit abzuschaffen, würde wie eine indirekte Steuererhöhung wirken und damit dem deutschen Mittelstand in dieser Krisensituation enormen Schaden zufügen. Steigende Gesundheitskosten wären schlussendlich nicht nur zum Nachteil aller Bürgerinnen und Bürger, sondern würden auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltigen Schaden zufügen. Die Einführung einer Einheitsversicherung, meine Damen und Herren, ist weder sozial noch ökonomisch begründbar und bringt keinerlei Vorteile für die medizinische Versorgung. ({3}) Vielmehr wäre das, was Sie hier vorschlagen, eine Abkehr von den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft, die unser Land und vor allem unser Gesundheitssystem in den vergangenen Jahrzehnten so stark gemacht haben. Und das werden wir nicht zulassen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die jüngsten Anschläge in Wien, Nizza und nahe Paris haben uns erneut vor Augen geführt, welch ungeheure Bedrohung der islamistische Terror für uns nach wie vor darstellt. Auch in Deutschland mussten wir in diesem Jahr schon drei islamistische Anschläge verzeichnen: einen Brandanschlag in Waldkraiburg, den Angriff auf der Berliner Stadtautobahn und den Angriff in Dresden mit einem Mord. Die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus besteht also unverändert fort. Wir wussten und wissen um diese Gefahr, und wir haben dies auch in den Monaten vor den genannten Taten hier immer wieder betont. Wie oft habe ich darauf hingewiesen, dass unserem Lande die größte Bedrohung durch den Rechtsextremismus erwachsen ist. Ich habe auch immer wieder betont, wir dürften auf keinem Auge blind sein. Auch der islamistische Terror gehört zu den Herausforderungen unserer Zeit. ({0}) Die Gefährdungslage bei uns im Lande ist hoch, das heißt, für die Allgemeinheit übersetzt – ohne dass wir Angst machen; wir beschreiben die Realität –: Mit Anschlägen muss auch bei uns jederzeit gerechnet werden. Wir haben also die Pflicht, alles zu tun, um die Gesundheit und das Leben unserer Bevölkerung zu schützen. Aber ich möchte gleich zu Beginn sehr klar sagen: Unser Kampf gegen Terrorismus richtet sich nicht gegen den Islam, sondern gegen fanatischen und gewalttätigen Extremismus. ({1}) Unsere Sicherheitsbehörden sind hochsensibel, hellwach und auch gut gerüstet. Dies, glaube ich, darf ich auch für unsere Bundesländer sagen, mit denen wir gerade in diesen Tagen in einem regelmäßigen Kontakt stehen. Es freut mich auch, dass der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Kollege Georg Maier, sich an dieser Debatte beteiligt. Unsere Sicherheitsbehörden brauchen in dieser schwierigen Zeit die vollste Rückendeckung von uns allen; denn sie verrichten gerade in dieser Richtung einen äußerst schwierigen Dienst. ({2}) Was ist zu tun? Ich denke, das Allerwichtigste ist, dass wir die Befugnisse, die unsere Sicherheitsbehörden haben, und das geltende Recht richtig anwenden, konsequent anwenden und nicht dem Reflex hinterherlaufen, bei jeder Herausforderung immer wieder neu zu überlegen, welche Paragrafen wir zusätzlich brauchen. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir das geltende Recht konsequent anwenden. Ich kann aus der Erfahrung der letzten Tage sagen, dass es dabei vor allem auf Kooperation und Informationsaustausch ankommt. Natürlich müssen wir auch immer wieder überlegen, welche zusätzlichen Maßnahmen sinnvoll sind. Wir tun dies im Bundesinnenministerium jeden Tag meistens einige Stunden, wie heute Vormittag, aber nicht nur anlässlich von Anschlägen, sondern das ist eine permanente Aufgabe. Aber ich werbe dafür, mit Schnellschüssen immer zurückhaltend zu sein. Entscheidend ist, welche zusätzliche Maßnahme wirksam ist und uns in der Sache auch weiterbringt. Wenn eine Maßnahme wirksam erscheint und uns in der Sache, in der Bekämpfung des Terrorismus, vorwärtsbringt, dann sollten wir sie auch angehen. Aber es ist in diesem Bereich nichts so gefährlich, als wenn mit Schnellschüssen Erwartungen geweckt werden, die dann nicht realisiert werden können. Deshalb werbe ich dafür, zuallererst das bestehende Recht anzuwenden, konsequent anzuwenden, und permanent auch gemeinsam zu überlegen, wo wir die Dinge bei uns in der Bundesrepublik Deutschland noch optimieren können. Dieses Phänomen ist keine regionale Erscheinung, ist auch keine nationale Erscheinung, sondern eine europäische und eine weltweite. Deshalb kommt es darauf an, dass wir international zusammenarbeiten, insbesondere auch auf der Ebene der Europäischen Union. Ich habe heute – wir haben ja im Moment die Ratspräsidentschaft inne – auch mit der zuständigen Kommissarin darüber gesprochen. Wir werden nächste Woche bereits, am 13. dieses Monats, ohnehin eine Innenministerkonferenz durchführen, wegen der Asylreform. Wir werden einen erheblichen Teil dieser Konferenz nutzen, um uns mit der Sicherheitslage in Europa auseinanderzusetzen, auch mögliche Konsequenzen für die internationale Zusammenarbeit zu überlegen. Wir stimmen mit der Kommission völlig überein, aber auch mit den Mitgliedstaaten, insbesondere mit den hauptbetroffenen Ländern, dass wir den Terroristen und ihren Hintermännern nur gemeinsam das Handwerk legen können. Es wäre eine blanke Illusion, zu glauben, dass man auf diese globale Herausforderung national, alleine reagieren kann. ({3}) Ich danke bei dieser Gelegenheit dem gesamten Parlament. Wir haben ja schon seit geraumer Zeit – das heißt seit einigen Jahren – bei unseren Bitten, zusätzliches Personal, zusätzliche Ressourcen zu bekommen, immer wieder vom Deutschen Bundestag die notwendige Unterstützung erhalten. Ich denke nur an die personelle Ausstattung: Wenn man Gefährder überwachen will, ist dies unheimlich personalintensiv. Wir haben ja durch den Fall in Wien auch Bezüge nach Deutschland hin zu Gefährdern, die 24 Stunden, rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche überwacht werden – Gefährder, die ich als hochgefährlich einschätze. Es ist zu kurz gesprungen, wenn man glaubt, man könnte das alles nur durch das Aufenthaltsrecht lösen. Ich darf hier einmal mitteilen, dass wir derzeit 615 islamistische Gefährder in Deutschland haben; davon sind 217 mit deutscher Staatsangehörigkeit, 119 mit einer zweiten Staatsangehörigkeit neben der deutschen und 279 mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Ich nenne diese Zahlen, um noch einmal deutlich zu machen, dass hier ein sehr umfassender Ansatz notwendig ist und man sich nicht nur auf die Nationalität konzentrieren sollte. Noch einmal: 217 deutsche Staatsangehörige, die radikalisiert sind und Gefährder sind nach Meinung der Sicherheitsbehörden, und 119 mit einer doppelten Staatsangehörigkeit; aber die deutsche ist immer dabei. Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Sie können sich darauf verlassen, dass wir uns mit aller Kraft gegen diesen barbarischen Terror stemmen, und zwar mit allen Instrumenten, die uns zur Verfügung stehen: mit repressiven Mitteln, mit präventiven Mitteln, mit polizeilichen Mitteln, mit Überwachungsmaßnahmen, mit Integrationsmaßnahmen und auch mit Abschiebungen. Nur eine solche ganzheitliche Herangehensweise wird uns auch dazu führen, dass wir eines Tages diese Geißel unserer Zeit überwinden werden. Ich danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Werte Abgeordnete! Liebe Landsleute! Der gewaltbereite Islamismus und der Dschihadismus versuchen, die Spielregeln in Europa zu ändern. Ihr von Hass erfüllter Kampf zieht eine Blutspur durch Europa: Zuerst enthauptete ein fanatischer Islamist den Lehrer Samuel Paty in einem Pariser Vorort auf offener Straße. Wenige Tage später versuchte ein Islamist in Nizza, eine 60-jährige Kirchenbesucherin zu köpfen. Als sein Versuch scheiterte, tötete er die Frau, die zum Beten gekommen war, mit einem sehr tiefen Kehlenschnitt, wie die Zeitung „Le Monde“ berichtet. Außerdem tötete er einen 55-jährigen Küster durch Messerstiche in den Hals und eine 30-jährige Mutter von zwei Kindern. Meine Damen und Herren, und nun am Montag das Blutbad von Wien. Es war der letzte Abend vor dem von der Regierung ab Mitternacht verhängten Lockdown. Tausende Wiener nutzten die Gelegenheit, bei fast sommerlichen Temperaturen noch einmal auszugehen. Gegen 20 Uhr machte sich der fanatische Islamist mit einer Kalaschnikow, einer Pistole und einer Machete bewaffnet auf den Weg. In nur wenigen Minuten tötete er 4 Passanten und verletzte 22 weitere zum Teil schwer. Die Mordanschläge von Paris, Nizza und Wien zielten auf das Herz unserer Kultur und unserer Demokratie, sie waren Anschläge auf unsere Werte, sie waren eine Kriegserklärung an die Freiheit, sprich: an unsere westliche Lebensweise; darum betreffen die Ereignisse nicht nur Frankreich und Österreich, sondern Europa als Ganzes. ({0}) Wir als AfD gedenken der Opfer, ihrer Familien und Freunde. Meine Damen und Herren, wir müssen uns wieder einmal fragen – vor allem Sie müssen das –, wie es dazu kommen konnte. Der Attentäter war gebürtiger Wiener. Seine Eltern waren als Albaner aus Mazedonien nach Österreich gekommen. Bislang galt der auf dem Balkan praktizierte Islam als vergleichsweise liberal, doch längst haben sich auch dort junge Muslime radikalisiert. Diese Radikalisierung wirkt auch auf Österreich; denn die Mehrheit der dort lebenden Migranten stammt aus Balkanländern, und wie wir heute wissen, haben radikalisierte Muslime auf dem Balkan engen Kontakt zu gewaltbereiten Islamisten in Syrien, im Irak und in anderen arabischen Ländern. Die Sicherheitsbehörden berichten von auffällig vielen jungen Muslimen, die vom Balkan als Dschihadisten nach Syrien reisten. Auch der am Montagabend erschossene 20-jährige Attentäter hatte mehrfach vergeblich versucht, auszureisen und sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Und nicht nur Österreich hat ein Problem mit Islamisten vom Balkan. Auch nach Deutschland gibt es Kontakte, wie die Bundesregierung bereits 2018 einräumte. Meine Damen und Herren, als der große Migrationsstrom im Sommer 2015 über den Balkan nach Deutschland floss, haben wir von der AfD davor gewarnt, dass viele gewaltbereite Islamisten im Strom der Migranten mitschwimmen könnten, und wir haben recht behalten. In Deutschland halten sich derzeit 630 islamistische Gefährder auf. Die deutschen Sicherheitsbehörden warnen – ich zitiere –: Obwohl der islamische Staat im Jahr 2019 seine letzte territoriale Basis verloren hat und obwohl er den Tod seines Anführers Abu Bakr al-Baghdadi zu beklagen hatte, zeigt sich die anhaltende Relevanz einer dschihadistischen Ideologie sehr deutlich. Diese Menschen, meine Damen und Herren, sind nicht willens, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sie wollen sich nicht an unsere Gesetze halten. Sie stellen ihren religiösen Fanatismus über Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. ({1}) Und ich frage Sie – auch Sie, Herr Seehofer, weil Sie hier gefragt haben: was ist zu tun? –: Was hindert uns daran, diese Leute unverzüglich in ihre Heimatländer abzuschieben? Stattdessen denken Grüne, Linke und Sozialdemokraten immer öfter darüber nach, Aspekte der Meinungsfreiheit einzuschränken, weil die Islamisten dies einfordern. ({2}) Auf diese Weise geben wir grundlegende demokratische Werte wie das Recht auf Selbstbestimmung auf. Ich frage Sie: Warum? ({3}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Satz von Ahmad Mansour enden, dem in dieser Situation nichts hinzuzufügen ist – ich zitiere –: Die Antwort auf den Terror liegt im vertieften, gefestigten Bekenntnis zum säkularen Staat, zum demokratischen Rechtsstaat, samt Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Religionskritik. Nur mit Aufklärung, klarer Kommunikation und konsequenter Rechtsstaatlichkeit lässt sich der politische Islam und damit letztlich die Wurzel des Terrors entschieden bekämpfen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Landesminister für Inneres und Kommunales des Freistaates Thüringen, Georg Maier. ({0})

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich spreche heute als Vorsitzender der Innenministerkonferenz, also als Vertreter der Sicherheitsbehörden der Länder, zu Ihnen, und, meine sehr geehrten Damen und Herren, der Anlass ist ein denkbar trauriger. Nachdem unser Nachbarland Frankreich von mehreren grausamen Attentaten getroffen wurde und auch in Dresden feige gemordet wurde, hat nun auch Österreich Opfer eines islamistischen Anschlags zu beklagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich anfangs sehr deutlich sagen: Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Großer Dank gilt unter diesen traurigen Umständen besonders den Polizistinnen und Polizisten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden in Frankreich, in Österreich, aber auch in Deutschland. ({0}) Der Bundesminister hat es eben gesagt: Die Geschehnisse zeigen ganz deutlich, dass die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und die alltägliche Bedrohung für die Bürgerinnen und Bürger Europas und der Bundesrepublik nicht abstrakt, sondern sehr konkret sind. Ich bin deshalb sehr dankbar, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen. Deutschland verteilt mit seiner föderalen Struktur die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung auf viele Schultern. Wir Länder kooperieren eng miteinander. Mit dem Bund wissen wir einen starken Partner an unserer Seite, den wir insbesondere jetzt, mit Blick auf die übergeordnete Bedrohung unseres Landes, brauchen. Dies gilt insbesondere für den jetzt wieder zutagegetretenen islamistischen Terror. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist die Logik des Terrors, die Logik des Hasses, Menschen einzuschüchtern. Dieser Logik müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen. ({1}) Diese Anschläge sind keine Angriffe auf einzelne Staaten, auf Städte oder Menschengruppen, es sind Angriffe auf das Grundverständnis unseres Zusammenlebens. Das genau meinen wir, wenn wir sagen: Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf uns alle. – Wir alle sind getroffen, wir alle sind verletzt. Aber wir alle sind auch in der Pflicht, das heißt, wir dürfen niemals akzeptieren, dass unser Modell einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft angegriffen, beeinträchtigt oder ausgehöhlt wird. Unser Grundgesetz ist der Grund, auf dem wir uns als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger begegnen, auch Konflikte austragen, ganz gleich, welche persönlichen Ansichten und Einstellungen jeder hat. ({2}) Was dabei niemals zur Disposition stehen darf, sind die Grundprinzipien unserer Verfassung: die individuellen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Innenminister des Freistaates Thüringen und als Vorsitzender der Innenministerkonferenz beschäftige ich mich natürlich nicht erst seit den jüngsten Anschlägen mit dem Thema „islamistischer Terrorismus“. Ich kann Ihnen und den Menschen in Deutschland versichern, dass wir, insbesondere im Kreise der Innenminister, stetig damit befasst sind, die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Terror, egal aus welcher politischen oder weltanschaulichen Richtung, noch schlagkräftiger zu machen. Wir als Innenminister sind in erster Linie dafür verantwortlich, Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwenden und Straftaten zu verfolgen. Spätestens nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz haben wir sehr wichtige Schritte unternommen, die länderübergreifende Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden weiter zu verbessern. ({3}) In unserem föderalen Staat teilen sich die Sicherheitsbehörden die Aufgaben. Deswegen ist eine enge Kooperation und Abstimmung zwischen den Sicherheitsbehörden entscheidend für den Erfolg im Kampf gegen den Terror; der Bundesminister hat das eben auch sehr deutlich gemacht. Die Arbeit des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums beim BKA möchte ich hier besonders hervorheben. In den entsprechenden Abteilungen – eine ist ausgerichtet auf rechtsextremistischen Terror, eine andere auf islamistischen Terror – laufen alle Informationen über terroristische Bestrebungen zusammen, und es werden entsprechende Abwehrmaßnahmen länderübergreifend koordiniert. Wesentlich für die erfolgreiche Zusammenarbeit ist die Kooperation zwischen nachrichtendienstlichen und polizeilichen Institutionen und Akteuren. Es wird analytisch und gleichfalls einzelfallbezogen gearbeitet. Man spricht von einem ganzheitlichen Ansatz. Nachrichtendienste und Polizei müssen miteinander sprechen; das ist gut so, und das hat sich bewährt. Dabei spielen auch technische Anwendungen zur Überwachung des Cyberraums eine immer wichtigere Rolle. Ziel ist es, wie auf einem Radar frühzeitig zu erkennen, wo sich Menschen, gerade im Netz, radikalisieren und zu Gefährdern werden. Und – das möchte ich auch deutlich sagen – mehrfach ist es uns gelungen, Anschläge auf diese Art und Weise zu vereiteln. Den kürzlich in der Koalition gefundenen Kompromiss zum Einsatz von Quellen-Telekommunikationsüberwachung durch den Verfassungsschutz begrüße ich persönlich an dieser Stelle ausdrücklich. ({4}) Die Aufdeckung von Strukturen und die Verhinderung von Straftaten dürfen heutzutage nicht daran scheitern, dass potenzielle Täter nicht mehr mit dem Handy miteinander telefonieren, sondern dass sie das tun, was wir jeden Tag auch tun: Sie kommunizieren über Messengerdienste. Trotzdem, meine sehr geehrten Damen und Herren, erfüllt mich diese aktuelle Anschlagsserie in Europa mit Sorge. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um eine neue Welle terroristischer Aktivitäten handelt. Einerseits ist denkbar, dass es sich um eine Welle von Nachahmungstaten handelt, andererseits ist auch denkbar, dass dahinter eine perfide Strategie steckt, dass es gesteuert ist. Sie wissen: Die Menschen sind aufgrund der Pandemie verunsichert. Mit diesen Anschlägen, die wahllos Opfer finden, wird etwas ausgelöst; dadurch wird Angst und Schrecken in einer verunsicherten Bevölkerung verbreitet. Was mich aber besonders umtreibt, ist die Tatsache, dass es sich bei den Attentätern in Dresden und Wien um Personen handelt, die bereits im Fokus der Sicherheitsbehörden standen. Deren Gefährlichkeit war bekannt. Beide waren bereits im Vorfeld in Haft, und trotzdem konnten die Anschläge nicht verhindert werden. Wir sind deshalb aufgerufen, zu prüfen, wie wir in Zukunft insbesondere mit diesem Personenkreis umgehen. Darüber werden wir auf der nächsten Innenministerkonferenz beraten. ({5}) Auf den ersten Blick scheint mir geboten, die Anstrengungen bei der Deradikalisierung zu intensivieren, gerade auch in Haftanstalten. Ferner müssen wir bei besonders gefährlichen Personen nach der Haft zum Beispiel noch eine stärkere Beobachtung bis hin zu einer temporären vorbeugenden Ingewahrsamnahme in Betracht ziehen. ({6}) Dies muss natürlich – und das ist für mich handlungsleitend – unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit geschehen. Wir haben in Thüringen von diesem Instrument bereits Gebrauch gemacht. Mein Appell an uns ist, auf Bundes- und Landesebene weiter wirksam gegen die Bedrohung des Islamismus vorzugehen. Dazu gehört zum Beispiel die Unterstützung der Demokratieförderung und der Extremismusprävention durch Bund und Länder. Stärken wir darüber hinaus den Sicherheitsbehörden in unserem Land weiter den Rücken. Sie erfüllen das Versprechen auf den Schutz der Menschenwürde, die Durchsetzung des Rechts und die Wahrung der Freiheit durch ihre tägliche Arbeit. ({7}) Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, verdienen unseren Respekt und unsere politische Unterstützung. Die Erweiterung von Befugnissen und das Zollen von Respekt sind jedoch weitgehend wirkungslos, wenn nicht genügend Fachpersonal in den Sicherheitsbehörden zur Verfügung steht. Hier möchte ich als Vorsitzender der IMK nochmals auf den Pakt für den Rechtsstaat hinweisen. Dieser Pakt hat uns wesentlich vorangebracht, und dieser Weg muss weiter beschritten werden. ({8}) Wir sollten uns immer wieder die Frage stellen, ob wir genug Vorsorge getroffen haben, um Anschläge auf unsere Bürgerinnen und Bürger – egal aus welcher Motivation heraus – in Zukunft verhindern zu können. Es gilt, demokratiefeindliche Parallelgesellschaften zu verhindern und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zum Ende. Die Menschen in unserem Land vertrauen darauf, dass sie vom Staat kraftvoll vor Bedrohungen geschützt werden. Dieser kraftvolle Staat, das sind nicht nur die Sicherheitsbehörden und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern das sind wir alle. Handeln wir auch weiterhin engagiert, sorgsam und verantwortungsbewusst, um dem Anspruch, den die Bevölkerung an uns stellt, gerecht zu werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Thomae das Wort. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Paris, in Nizza, in Dresden und in Wien mussten insgesamt neun unschuldige Menschen ihr Leben lassen, weil fanatische Islamisten aus Hass gegenüber unserer freiheitlichen Lebensform Menschen wahllos ermordet haben. Unsere Trauer, unser Mitgefühl und unsere Solidarität gelten den Opfern und Hinterbliebenen. Die Vorfälle zeigen uns, dass die Bedrohungslage durch den fanatischen Islamismus nicht abgenommen hat. Er war in der letzten Zeit etwas verdeckt; aber er hat sich weiterentwickelt und kämpft sich jetzt mit großer Brutalität und Grausamkeit wieder nach vorn. Wir können aber unterscheiden zwischen fanatischem, gewalttätigem Islamismus und dem Islam, also Menschen, die einfach nur friedlich in unserer Mitte leben wollen. Wir sind ein weltoffenes, tolerantes und plurales Land. Das Grundgesetz kennt keine Konfessionen, und die Religionsfreiheit gehört zu unserem Land dazu. Menschen aller Religionen und Konfessionen können bei uns leben; aber sie müssen sich ebenfalls zu diesem Grundsatz der Toleranz, der Weltoffenheit und der Pluralität bekennen. ({0}) Zu unserem Grundverständnis eines toleranten Landes gehört auch das Recht auf Meinungsfreiheit, und das schließt ein, dass Religionen und Religionsgemeinschaften auch Kritik über sich ergehen lassen müssen. Das kann manchmal schmerzhaft sein, zum Beispiel wenn es Kritik in der Form von Satire ist, aber damit muss man klarkommen; auch das muss man tolerieren können. Unser Grundgesetz schützt die Religionsausübung, aber es schützt nicht vor Kritik an der eigenen Religion. Und das ist ein wichtiger Grundsatz, den alle Menschen beherzigen müssen, die bei uns auf Dauer leben wollen. ({1}) Menschen, vor allem Muslime, die damit klarkommen, können dauerhaft einen Platz in unserer Gesellschaft finden. Was keinen Platz in unserem Land haben kann, ist fanatischer Islamismus. Den müssen wir auf allen Ebenen bekämpfen, und deswegen brauchen wir eine konsistente, in sich geschlossene Bekämpfungsstrategie, die auf verschiedenen Ebenen angreifen muss. Da ist zunächst die Ebene der Prävention. Wir müssen selber verstehen: Wie entsteht, wie verfestigt sich Islamismus? Gibt es in unserem Rechtsstaat einen toten Winkel, in dem Muslime in bestimmten Quartieren sich selbst überlassen sind, wo sie das Gefühl haben, dass niemand hinschaut, was dort entsteht und was sich dort tut? Wir brauchen auch eine Imamausbildung in Deutschland, eine vermehrte Ausbildung deutscher Imame, die nach unserem Verständnis von Meinungsfreiheit und Kritik ihre Religion predigen. Wir brauchen mehr islamischen Religionsunterricht, damit Jugendliche und Kinder ihre Auffassung von Religion nicht in Moscheevereinen bekommen, in die wir nur schwer hineinblicken können. ({2}) Wir müssen aber auch Moscheevereine kritischer durchleuchten. Wir müssen darauf achten, dass sie nicht aus dem Ausland finanziert und dadurch beeinflusst oder gar gesteuert werden. Wir brauchen auch nicht zuletzt städtebauliche Konzepte, um dafür zu sorgen, dass nicht Räume entstehen, in denen Muslime sich selbst überlassen sind. Das ist der Bereich der Prävention. Im Bereich der Reaktion und der Repression muss – das ist schon angesprochen worden – die Strafverfolgung konsequent ausgeübt werden, dürfen keine Straftaten bagatellisiert oder eine Art Rabatt gewährt werden. Gefährder müssen konsequent überwacht werden, nötigenfalls unter Einsatz elektronischer Fußfesseln. Sie müssen aber – da, wo es rechtlich möglich ist – auch konsequent abgeschoben werden. ({3}) Das ist ein Punkt – ich blicke zu den Kollegen der Grünen –, den die Grünen mal für sich klären müssen. Auch Sie fordern, da, wo es rechtlich möglich ist, Abschiebungen konsequent durchzuführen. Im Bundesrat aber erschweren Sie konsequente Abschiebungen, indem Sie verhindern, dass solche Länder wie Georgien oder die Maghreb-Staaten als sichere Länder anerkannt werden. Das mag an anderer Stelle zu diskutieren sein, aber es gehört insgesamt zu diesem Bereich hinzu. ({4}) Schließlich müssen wir auch dafür sorgen, dass Vereinsverbote konsequent geprüft und ausgesprochen werden, wo es möglich und geeignet ist, um das Entstehen von Islamismus zu verhindern. Der dritte Bereich ist die Kooperation, also eine bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im eigenen Land. Wir fordern seit Langem eine Föderalismuskommission zur Reform unserer Sicherheitsstruktur, um die Strukturen zu verbessern und zu bearbeiten und um die Zusammenarbeit zu verbessern. Das Gleiche brauchen wir auf europäischer Ebene. Wir müssen Europol hin zu einem europäischen Kriminalamt weiterentwickeln und auch da die Zusammenarbeit und den Austausch der Informationen und Daten verbessern, hin zu einer europäischen Gefährderdatei. Wir brauchen zudem eine bessere internationale Zusammenarbeit, weil sich auch der Islamismus international betätigt. Dieser Dreiklang aus besserer Prävention, besserer Reaktion und besserer Kooperation muss unser Instrument sein, um den Islamismus bei uns in Deutschland und in Europa besser und effektiver zu bekämpfen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir allen stehen noch unter dem Eindruck der furchtbaren islamistischen Terrorangriffe der vergangenen Wochen, zuletzt am Montagabend in Wien. Unsere Gedanken sind bei den Ermordeten und ihren Angehörigen. Den vielen Verletzten wünsche ich von Herzen eine schnelle und vollständige Genesung. Es muss jetzt alles darangesetzt werden, diese abscheulichen Verbrechen vollständig und so schnell wie möglich aufzuklären. Und das ist jetzt in Bezug auf Wien nicht nur eine Aufgabe der österreichischen Behörden; denn Berichten zufolge hatten die Attentäter auch Kontakt zu Islamisten in Deutschland. Dem muss konsequent nachgegangen werden. ({0}) Das eine ist die vollständige Aufklärung dieser Verbrechen, die Aufdeckung der dahinterstehenden islamistischen Netzwerke und die konsequente Verfolgung der Verantwortlichen mit allen rechtsstaatlichen Mitteln; das andere ist die Verhinderung weiterer terroristischer Anschläge. Und auch hier braucht es Konsequenz. Überall da, wo Straftaten vorbereitet oder verabredet werden, überall da, wo Hass und Gewalt gepredigt werden, muss mit allen rechtsstaatlichen Mitteln konsequent durchgegriffen werden. ({1}) Zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus ist es auch notwendig, sogar dringend notwendig, alle Möglichkeiten zu nutzen, Terroristen den Geldhahn zuzudrehen. Das ist ein zentraler Punkt. Und es darf auch nicht sein, dass Terroristen direkt oder indirekt mit Waffen versorgt werden. Aber das geschieht, unter anderem auch aus Deutschland. Das muss aufhören. ({2}) Länder, die den Terror exportieren, dürfen keine strategischen Partner sein, und alle Waffenlieferungen müssen sofort eingestellt werden. ({3}) Denn wenn der islamistische Terror konsequent und entschieden bekämpft werden soll, dann schließt das auch den Kampf gegen die Finanzierung von islamistischen Terrornetzwerken ein. Der Islamismus ist eine menschenverachtende, gefährliche Ideologie, die sich brutal gegen alle richtet, die nicht so leben und denken, wie die Islamisten es wollen. Er richtet sich gegen die freie Meinungsäußerung, gegen die Demokratie, gegen Gleichberechtigung, gegen die Freiheit von Bildung und Wissenschaft – hier bei uns in Europa, aber auch auf der ganzen Welt. Erst am Montag starben in Kabul mindestens 35 Menschen, als IS-Kämpfer die Universität stürmten. Zehn Tage zuvor waren bereits 24 Kinder bei einem Anschlag auf eine Schule in Afghanistan ermordet worden. Jeder islamistische Anschlag, jeder Mord ist grauenvoll und erschütternd, egal wo er stattfindet. ({4}) Und wenn ich von einem islamistischen Anschlag erfahre, dann ergreift mich als Muslima auch immer die Sorge, was das mit unserer Gesellschaft macht, was das mit dem Bild vom Islam in unserer Gesellschaft macht. Wie ich haben viele Muslime nach jedem islamistischen Anschlag die Sorge, dass jetzt Vorbehalte gegen sie wachsen, dass sie weiter wachsen, muss man leider sagen; denn Vorbehalte und Pauschalurteile gibt es bereits heute. Und auf einer menschlichen Ebene ist es auch nachvollziehbar, dass nach einem Terroranschlag Unsicherheit aufkommt. Das ist eine schwierige Situation für alle. Doch es ist auch bedrückend, wenn man zum Beispiel beim Arzt im Wartezimmer sitzt und Leute um einen herum zusammenzucken, wenn der Name „Mohamed Ali“ aufgerufen wird. Es ist das erklärte Ziel der Terroristen, Angst zu schüren, Hass zu säen und die Gesellschaft zu spalten. Aber genau das dürfen wir alle gemeinsam nicht zulassen. ({5}) Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wir dürfen uns nicht spalten lassen. Und dazu gehört auch, dass es keinen Zweifel daran geben darf, dass alle Muslime, die hier friedlich und auf dem Boden unseres Grundgesetzes leben, ein gleichberechtigter und gleichwertiger Teil unserer Gesellschaft sind. ({6}) Und es ist vollkommen unverantwortlich, dass politische Kräfte auch in diesem Hause mit Hass und Hetze einen Generalverdacht gegenüber Muslimen verbreiten und noch nicht einmal davor zurückschrecken, die schrecklichen Terroranschläge dafür zu instrumentalisieren, ihre rassistische und menschenverachtende Propaganda zu befördern. Und das möchte ich jetzt einmal stellvertretend für alle demokratischen Kräfte in diesem Haus sagen: Dem stellen wir uns klar entgegen. ({7}) Im Kampf gegen Terrorismus braucht es Mut, konsequentes Handeln auf allen Ebenen, es braucht Zusammenhalt und Solidarität. Gehen wir gemeinsam diesen Weg. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dr. Konstantin von Notz hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder der Terroranschläge aus Nizza und jetzt aus Wien sind schrecklich und zutiefst erschütternd. Und im Namen meiner Fraktion möchte ich noch einmal unser aufrichtiges und tiefes Beileid an alle Hinterbliebenen, die Freunde der Opfer und an die Verletzten aussprechen. Den Beamtinnen und Beamten der Polizei, die durch ihr schnelles und mutiges Durchgreifen Schlimmeres verhindert haben, gebühren unser Dank und unsere Anerkennung, meine Damen und Herren. ({0}) Der Anschlag in Nizza, die grausame Ermordung zweier völlig argloser Frauen und eines Küsters frühmorgens in einer Kirche, und der Anschlag in Wien, das Erschießen von unbewaffneten und völlig wehrlosen Frauen und Männern – diese Taten sind in ihrer ruchlosen Grausamkeit empörend und entsetzlich, und die dahinterliegende menschenverachtende Ideologie ist schlicht widerlich, meine Damen und Herren. ({1}) Es ist das erklärte Ziel von Terroristen, einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben. Lassen wir das zu, gewinnen sie; so einfach ist das. Und deswegen hat Sebastian Kurz – ich zitiere ihn nicht oft – recht, wenn er sagt, dies sei keine Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen, sondern ein Kampf zwischen den vielen Menschen, die an den Frieden glauben, und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen. – So ist das, meine Damen und Herren. ({2}) Und was uns Wien auch lehrt: Die ach so einfachen Parolen und teils offen rassistischen Antworten passen eben nicht. Erstens. Der Täter von Wien war Österreicher. Und deswegen führt die pauschale, an jeder Ecke und jedem Ende geäußerte Forderung nach Abschiebung – Horst Seehofer hat es gesagt – als Lösung für alle Fragen in die Irre, meine Damen und Herren. ({3}) Zweitens. Der Täter begründete seinen Hass und sein Morden religiös. Tatsächlich aber stehen auch religiöse Muslime an der Seite der Bedrohten, schreiten ein und retten Menschen. So war es, als der Terrorist Albakr 2016 von Geflüchteten überwältigt und bei der Polizei abgeliefert wurde, und so war es jüngst auch in Dresden und Wien. Vergessen wir nicht, meine Damen und Herren – es klang eben an –: Die meisten Menschen, die von Islamisten ermordet werden, sind Muslime. Und deswegen ist die Chiffre der Rechtsextremisten und der Islamisten vom Religionskrieg irreführend und falsch. ({4}) Drittens. Österreich ist eine strikte Abschottungspolitik in Bezug auf Geflüchtete gefahren, und dennoch hat das Land, gemessen am Anteil, eine der größten salafistischen Szenen in Europa. Viertens. Auch über die Hälfte der deutschen Gefährder im Bereich Islamismus – Horst Seehofer hat es gesagt – sind Deutsche. Und deswegen sind alle Grenz-, Mauer-, Festungsdiskussionen, wie sie gerne von den extremen Rechten betrieben werden, eben auch sicherheitspolitisch sinn- und wirkungslos. ({5}) All das zeigt, Marian Wendt: Populismus, Hetze, Islamophobie, Rassismus sind nicht nur menschenverachtend; es ist auch grottenschlechte Sicherheitspolitik und gefährlich für uns alle, meine Damen und Herren. ({6}) Stattdessen brauchen wir gut kooperierende, personell und technisch top ausgestattete Sicherheitsbehörden, die Informationen rechtsstaatlich zulässig und zuverlässig teilen. Wenn es stimmt, dass in Wien relevante Informationen aus der Slowakei nicht richtig berücksichtigt wurden, muss das aufgeklärt werden. Aber wir sollten selbst sehr demütig sein; denn auch vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz leuchteten 32 von 20 möglichen Warnlampen bei unseren Behörden, meine Damen und Herren. ({7}) Und natürlich müssen wir ausländische Gefährder abschieben, aber eben nur, wenn dies nach internationalem und deutschem Recht möglich ist. Das reicht aber nicht aus. Wir müssen auch bei deutschen Gefährdern und denjenigen, die nicht abgeschoben werden können, aktiv werden. Natürlich brauchen wir starke Programme zur Prävention und zur Deradikalisierung. Aber für Gefährder, seien Sie islamistisch oder rechtsextremistisch, brauchen wir vonseiten der Justiz eine scharfe Nulltoleranzlinie. Der Weg des Paktes für den Rechtsstaat – das klang an – muss konsequent weitergegangen werden. Die Strafverfahren, die es bei Gefährdern immer gibt, müssen beschleunigt entschieden werden. Und wir müssen bei radikalisierten und gewaltbereiten Tätern im Vollzug über die Möglichkeiten der Sicherungsverwahrung sprechen, meine Damen und Herren. Und schließlich fordere ich das BMI auf, Herr Innenminister, endlich entschlossen und konsequent, mit aller Härte gegen jegliche extremistischen Vereine mit Verboten vorzugehen. Dass die Feinde unseres Rechtsstaats und unserer Freiheit das Vereinsprivileg für sich nutzen können, ist unerträglich. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Mathias Middelberg. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon gesagt worden: Der islamistische Terror und die islamistische Gefahr, die wir eine Zeit lang nicht immer so präsent im Auge hatten, sind nach wie vor hoch – in ganz Europa. Ich will bewusst noch einmal Zahlen nennen: Unsere Sicherheitsbehörden zählen hier in Deutschland gegenwärtig 28 000 Islamisten. Davon stufen sie 615 als Gefährder ein. Gestern im Ausschuss hat uns der Präsident des Bundeskriminalamtes noch mal vor Augen geführt, dass die Gefahr dadurch verschärft und vergrößert wird, dass wir jetzt zunehmend mit mehr IS-Rückkehrern aus Syrien und Irak rechnen müssen. Der Extremismus insgesamt nimmt allerdings zu, nicht nur der islamistische, sondern auch der von links und auch der von rechts. Rechts zählen wir 32 000 Extremisten und 72 Gefährder, und links zählen wir 33 000 Extremisten und 5 Gefährder, etliche Tausend in allen Bereichen, denen unsere Sicherheitsbehörden Gewaltorientierung bescheinigen. Also, die Gefahren nehmen zu. Minister Seehofer hat völlig zu Recht gesagt: Zunächst gilt es, den Blick auf den Rechtsterrorismus und den Rechtsextremismus zu richten – von ihm geht gegenwärtig die größte Gefahr aus –, aber wir müssen genauso auf den Linksextremismus schauen, und wir müssen genauso auf den Islamismus blicken, dessen Gefahr uns gerade in den letzten Wochen noch mal ganz besonders vor Augen geführt wurde. Das Thema müssen wir grundlegend angehen. Hierzu ist schon viel Richtiges gesagt worden – gerade auch zum Thema Integration –, an welchen Punkten der Blick zu schärfen ist. Ich schließe mich hier ausdrücklich den Ausführungen des Kollegen Thomae von der FDP zum Thema Religionsfreiheit, aber auch zur Meinungsfreiheit und zum Verhältnis dieser beiden Freiheiten an. Ich fand das, was Sie gesagt haben, sehr zutreffend und richtig. Ich teile diese Einschätzung ausdrücklich. ({0}) Ich sage das auch, weil in meinem Wahlkreis an der Universität Osnabrück gerade ein Modellprojekt Imamausbildung läuft. Dort werden schon Religionslehrer, also Lehrer für islamische Theologie, ausgebildet. Jetzt probiert man es mit der Imamausbildung. Ich halte dieses Projekt, das ich exemplarisch herausgegriffen habe, wirklich für ein ganz wichtiges Projekt. Wir sollten es konsequent fortführen und dann auch ins Werk setzen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir Glaubenslehrer in diesem Land haben – und zwar völlig unabhängig davon, für welche Religion sie Glaubenslehrer sind –, die die Sprache dieses Landes sprechen, die dieses Land möglichst kennen und die die Werte dieses Landes teilen, die demokratisch orientiert sind, die rechtsstaatlich orientiert sind und freiheitlich denken. ({1}) Der dritte Aspekt, den ich ansprechen möchte, betrifft die Situation – ich sag das mal so –, in der das Kind schon in den Brunnen gefallen ist; die Fälle haben wir ja leider auch. Man kann auch versuchen, in der Haft mit Deradikalisierung vorzugehen; was Sie gesagt haben, Herr Maier, ist richtig. Aber wir werden nicht alle diese Fälle erfassen können. Wir werden nicht alle gewissermaßen umerziehen können. Wir werden nicht alle mit gutmeinenden, wohlmeinenden Programmen erreichen können. Deswegen brauchen wir starke Sicherheitsbehörden. Ich habe Ihnen, Herr von Notz, eben sehr genau zugehört. Sie haben gesagt: Wir brauchen starke Sicherheitsbehörden; sie müssen personell und technisch stark aufgestellt sein. ({2}) Ich sage: Wir brauchen sie auch stark aufgestellt, was die Kompetenzen angeht. Ich begrüße ausdrücklich, was Herr Maier dazu gesagt hat – das ist richtig –: Wir brauchen jetzt unbedingt so was wie die Quellen-TKÜ. ({3}) Die Quellen-TKÜ ist nichts anderes als Telefone abhören, was wir schon dürfen. Aber die technische Entwicklung ist halt weitergegangen, die Leute telefonieren nicht mehr so viel. Es wäre schön, wenn Sie sich dem Vorhaben anschließen und zustimmen könnten und wir diese Quellen-TKÜ für unseren Verfassungsschutz einrichten könnten. Ich werte das dann als Zustimmung, Herr von Notz. Das begrüßen wir ganz außerordentlich. ({4}) Wir wollen gar keine weiter gehenden Kompetenzen für den Verfassungsschutz; wir wollen aber, dass der Verfassungsschutz unter den heutigen technischen Bedingungen das machen kann, was er vor 10 oder vor 20 Jahren auch machen konnte. Das wollen wir umsetzen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich – letzte Bemerkung –: Wir werden auch über andere Fragen – Stichwort: Onlinedurchsuchung – in diesem Hause noch mal sprechen müssen. Wir werden auch nicht umhinkommen, in wenigen Einzelfällen – vielleicht sind es 10 oder 20 pro Jahr –, in denen sich die Verdachtsmomente verdichten, mal auf Speichermedien gucken zu müssen. Ich glaube, das sind Themen, über die wir uns ernsthaft unterhalten müssen, wenn wir es mit der Bekämpfung des Extremismus und des Terrorismus wirklich ernst meinen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile als Nächstes das Wort dem Kollegen Martin Hess von der AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Zum wiederholten Male stehen wir hier, weil islamistische Barbaren in Frankreich, in Österreich und in Deutschland Menschen bestialisch ermordet haben. Zum wiederholten Male müssen wir die übliche Betroffenheitsrhetorik zur Kenntnis nehmen, und natürlich versprechen sowohl die Regierung als auch der Rest der Fraktionen hier im Hause, alles Menschenmögliche zu tun, um den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen. Aber die Wahrheit ist: Sie tun es nicht, und Sie haben es nie getan. ({0}) In Deutschland und in Europa sterben Menschen, weil Sie sich weigern, die erforderlichen Schutzmaßnahmen umzusetzen, und dafür sollten Sie sich schämen. Ihr Totalversagen ist nicht weiter hinnehmbar. ({1}) Die Bürger haben es satt, von Ihnen immer nur große Worte zu hören. Die Bürger wollen, dass das Krebsgeschwür des islamistischen Terrorismus endlich entfernt und Deutschland wieder sicher wird. Das ist die derzeit wichtigste Aufgabe des Staates, und diese muss sofort mit aller Konsequenz und mit allen erforderlichen Mitteln umgesetzt werden. ({2}) Das fängt mit der klaren und unmissverständlichen Benennung der Wahrheit an. Wenn die Kanzlerin bei ihrer Erklärung zum islamistischen Terroranschlag von Nizza mit keinem Wort die Ursache erwähnt, nämlich den Islamismus, dann ist das Feigheit vor dem Feind. Ja, Sie haben richtig gehört. Islamisten haben Europa den Krieg erklärt, und wir müssen jetzt endlich zurückschlagen. ({3}) Dazu ist es unabdingbar, dass der Feind auch klar benannt wird. Und wer glaubt, er könne den islamistischen Terror quasi totschweigen, der drückt sich nicht nur um die Lösung des Problems, nein, er ist Teil des Problems. Wovor haben Sie denn Angst? Glauben Sie, dass es, wenn wir effektiv gegen den Terror vorgehen, dann noch weitere Terroranschläge geben wird? Ich sage Ihnen: Ihre feige Zurückhaltung sorgt dafür, dass die Lage immer weiter eskaliert. Der barbarische Islamismus lässt sich nicht mit Appeasement bekämpfen, sondern nur mit absoluter Entschlossenheit, und dafür ist es allerhöchste Zeit. ({4}) Wenn wir jetzt keine Härte zeigen, werden wir diesen Kampf verlieren, und das wird die AfD-Fraktion unter keinen Umständen zulassen. Also tun Sie bitte nicht so, als würden Sie jetzt schon alles tun, was der Rechtsstaat hergibt, um den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen. Das ist mitnichten der Fall. Die Bürger haben angesichts der existenziellen Bedrohung, die vom islamistischen Terror ausgeht, für Ihr zögerliches, ja fast schon hilfloses Agieren keinerlei Verständnis mehr. Politik hat die Aufgabe, die Rechtsgrundlagen an die reale Sicherheitslage anzupassen und gegebenenfalls neue zu schaffen. ({5}) Und deshalb: Klagen Sie nicht, sondern handeln Sie endlich! Nur so werden wir den Kampf gegen den Terror auch gewinnen. ({6}) Wir müssen jetzt endlich unsere Grenzen wirksam schützen, damit nicht weiterhin islamistische Terroristen in unser Land strömen. ({7}) Der syrische Terrorist von Dresden hätte seinen Messeranschlag, Herr von Notz, nie begehen können, wenn die Bundesregierung, wie die AfD seit Jahren fordert, den Schutz unserer Grenzen veranlasst hätte. Ihre Politik der offenen Grenzen sorgt für islamistischen Terror in Deutschland und in Europa und damit für Leid und Tod. Damit muss jetzt endlich Schluss sein! ({8}) Unsere Sicherheitsbehörden stufen derzeit 619 Islamisten als Gefährder ein. All diese Gefährder wollen einen Terroranschlag begehen. Mehr als die Hälfte von ihnen hält sich in Deutschland auf, die meisten sind auf freiem Fuß. Weder Fußfessel noch Observation helfen dabei, diese tickenden Zeitbomben zu entschärfen. Das wissen wir auch seit mindestens fünf Jahren, und der Anschlag von Dresden hat das wieder eindringlich und bitter bestätigt. Ich frage Sie: Wie viele unschuldige Menschen müssen denn noch dem islamistischen Terror zum Opfer fallen, bevor Sie endlich effektive Maßnahmen ergreifen? ({9}) Wir müssen so schnell wie möglich den Aktionsradius der potenziellen Massenmörder auf null reduzieren. Das ist nur mit den Maßnahmen möglich, die unsere Fraktion schon seit Langem fordert: Alle islamistischen Gefährder sind sofort in Abschiebehaft zu nehmen und abzuschieben. ({10}) Wo dies nicht möglich ist, brauchen wir endlich eine bundesweit einheitliche Rechtsgrundlage für den längerfristigen Gefährdergewahrsam. Islamistische Gefährder müssen so lange hinter Gitter, bis sie keine Gefahr mehr für Leben und Gesundheit unserer Familien darstellen. Um das schnellstmöglich umzusetzen, hat die AfD-Fraktion diese Woche auch einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht. Ich rate Ihnen: Stimmen Sie diesem Antrag zu! ({11}) Wer sich jetzt noch effektiven Maßnahmen zur Terrorbekämpfung verweigert, der trägt Mitverantwortung für jeden künftigen Anschlag. ({12}) Und um nicht missverstanden zu werden: Gegen Muslime, die mit uns in Frieden leben wollen und unsere Grund- und Werteordnung teilen, hat niemand etwas. Wer aber den Koran über unsere Gesetze stellt, wer unseren Staat verachtet, wer Hass predigt oder unsere Gesellschaft aktiv bekämpft, ({13}) für den haben wir eine klare Botschaft: ({14}) Wir, die Bürger dieses Landes, werden unsere Werte und die Art und Weise, wie wir leben, gegen eure menschenverachtende Ideologie des Hasses verteidigen, und wir werden siegen. Also, passt euch an, oder geht! ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Ute Vogt. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es gibt überhaupt keinen Anlass dafür, zu glauben, dass irgendjemand in diesem Raum nicht dafür arbeitet, jedenfalls auf der Seite der demokratischen Parteien, dass dieses Land und auch andere Länder sicher sind vor Terrorismus. Und es ist niemand hier in diesem Raum, der nicht dafür einstehen würde, dass Terroranschläge, egal von wem sie verübt werden, möglichst nie wieder stattfinden. Wir bekämpfen den Terrorismus mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat möglich macht. ({0}) Es gehört in einer parlamentarischen Demokratie – und die gilt es zu verteidigen – auch dazu, dass wir uns gegenseitig zuhören, Herr Hess. Wenn Sie der Debatte zugehört hätten, hätten Sie erfahren, dass bei vielen der Straftäter eine Abschiebung leider gar nicht funktioniert, weil sie deutsche Staatsbürger sind. Jetzt in Österreich war es zum Beispiel ein österreichischer Staatsbürger. Also machen Sie den Leuten hier nichts vor mit Ihren Pseudolösungen und irgendwelchen Vorschlägen! So, wie Sie sie hier vorgetragen haben, fördern Sie nur die Gewalt und schüren den Hass in unserem Land. ({1}) Sie sagen hier verbal so etwas wie „Wir erklären den Krieg“ und „Wir schlagen zurück“. Ja, das ist es doch, was der Terrorismus erreichen will, nämlich dass diese Gesellschaft auf einmal gewalttätig und brutal wird. Genau das gilt es zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Unsere Antwort ist: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität. ({3}) Das war die Antwort von Jens Stoltenberg nach dem grausamen Attentat auf Utoya, wo 69 vorwiegend ganz junge Menschen ihr Leben verloren haben. Darum geht es. Wir dürfen eben nicht den Zielen der Terroristen nachgeben, sondern müssen deutlich machen: Wir stehen ein für ein offenes Land! Wir stehen ein für Mitmenschlichkeit! Der Kollege von Notz hat es beschrieben: In Österreich konnten wir gerade erleben, dass zwei muslimische Bürger geholfen und einem Polizisten das Leben gerettet haben, dass sie eingegriffen haben. Mitmenschlichkeit hat nichts damit zu tun, woher die Menschen kommen, sondern hat damit etwas zu tun, was die Menschen im Kopf haben und was sie im Herzen tragen. Das ist das Entscheidende. ({4}) Terrorismusbekämpfung beginnt also schon in den Köpfen, beginnt damit, dass wir Aufklärung zulassen. Allen antiaufklärerischen Tendenzen, die am Ende zu Fanatismus führen, ob von Rechtsextremisten, von Islamisten oder auch von Linksextremisten, erteilen wir eine Absage, weil es nie gut ist, wenn man fanatisch und extremistisch agiert, und weil es nicht gut ist, wenn man einfach nur gewalttätig antwortet. Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten erleben können, dass es große Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung gab. Natürlich gibt es bei jedem Anschlag öffentliche Aufmerksamkeit, öffentliche Begleitung und zu Recht Betroffenheit. Was in der Öffentlichkeit aber weniger wahrgenommen wird, das sind die vielen Ermittlungserfolge unserer Sicherheitsbehörden, die in den letzten Jahren eine enorme Zahl an Straftaten im Vorfeld verhindern konnten. Unsere Sicherheitsbehörden haben aufgespürt, wo sich Terroristen zusammengetan haben, haben Einzeltäter aufgespürt, die auf einmal Sprengstoff gekauft und Attentate vorbereitet haben. Diese wurden verhaftet, verurteilt und teilweise auch abgeschoben, soweit sie nicht deutsche Staatsbürger waren. Es gilt, das eben auch zur Kenntnis zu nehmen und verstärkt deutlich zu machen, dass vieles nicht passiert ist, weil wir in den letzten Jahren den islamistischen Terror eben nicht aus den Augen verloren haben. Das ist in der medialen Wahrnehmung manchmal vielleicht etwas untergegangen. Ein Letztes will ich noch sagen: Terror entsteht auch durch Nachahmung. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir gerade in Zeiten der sozialen Medien stark beachten müssen. Jedes geteilte Video von Szenen, in denen Menschen umkommen, jedes Video, in dem ein Täter vermeintliche Erfolge in seiner eigenen Szene darstellen kann, ist ein Beitrag dazu, dass es weiterhin Hass, dass es weiterhin Verfolgung und Gewalt geben wird. Ich glaube, da müssen wir noch stärker ansetzen. Wir müssen auch mit den Medien noch intensiver diskutieren, dass es nicht angeht, dass die Taten wieder und wieder gezeigt werden, dass die Täter von vorne bis hinten durchleuchtet werden. Wir müssen über die Opfer reden und die Täter so wenig wie möglich erwähnen. Nur so schaffen wir es, ihnen ihre Wichtigkeit zu nehmen. Dann sind sie keine Vorbilder mehr. Dann sind sie das, was sie sind: kleine, mickrige gewalttätige Verbrecher. So muss man sie bezeichnen. Und das hilft auch, Nachahmer möglichst kleinzuhalten. ({5}) In diesem Sinne bitte ich um eine differenzierte Debatte. Ich bitte darum, nicht zu versuchen, dieses Thema politisch zu instrumentalisieren. Das haben unsere Bürgerinnen und Bürger nicht verdient. Sie verdienen unseren Einsatz für ihre Sicherheit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der islamistische Terror zieht eine schreckliche Blutspur durch Europa. Noch letzten Freitag haben wir hier über Nizza und Dresden debattiert – ich durfte dazu auch sprechen –, und jetzt debattieren wir über Wien. Dieser Anschlag erfüllt uns ebenso mit Trauer und Abscheu wie mit Wut. Wir sind mit unseren Gedanken bei unseren österreichischen Freunden und den Angehörigen der Opfer. Der islamistische Terror war nie weg, auch wenn er die letzten Monate etwas in den Hintergrund getreten ist. Er ist nach wie vor sehr real, und gerade jetzt droht auch die Gefahr von Nachahmertaten. Aber wir werden nicht nachgeben. Wir werden unsere Werte noch entschiedener einfordern als bisher: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit für alle, das heißt auch den Respekt für den Andersgläubigen, und die Presse- und Meinungsfreiheit, die gerade auch in Bezug auf Religionsgemeinschaften gilt. Ich will deutlich sagen, dass die allermeisten der in Deutschland lebenden Muslime dies ganz genauso sehen und diesen Islamismus ganz genauso ablehnen, wie wir alle hier dies tun. ({0}) Ich will aber auch deutlich sagen, dass wir insbesondere von den muslimischen Verbänden, die auch Gesprächspartner unserer Regierung sind, einfordern, Herr Minister, dass sie gegenüber ihren Mitgliedern eine Nulltoleranzstrategie fahren und auch nur den Ansatz von islamistischem Gedankengut zurückweisen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wurde schon gesagt: Wir haben über 600 Gefährder in Deutschland, solche mit deutschem Pass und solche mit ausländischem Pass. Wir müssen natürlich primär danach schauen, dass wir die ausländischen Gefährder aus unserem Land hinausbringen. Das haben wir durch eine Verbesserung der Maßnahmen geschafft. Der Präsident des Bundeskriminalamtes hat heute Mittag im Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz berichtet, dass an die 100 Gefährder in den letzten Jahren abgeschoben werden konnten. Wir haben das auch gefördert, etwa durch das Geordnete-Rückkehr-Gesetz, das wir beschlossen haben. Ich freue mich, wenn der Vorsitzende der Grünen, der Herr Habeck, in der „Welt am Sonntag“ sagt: Ja, wir müssen ausländische Gefährder ausweisen. – Nur würde ich mich auch darüber freuen, wenn die Grünen bei den entsprechenden Taten mitmachten und nicht nur darüber redeten. Sie hätten beispielsweise den Entwurf zu einem Geordnete-Rückkehr-Gesetz unterstützen können. Sie könnten etwa heute Abend bei der nächsten Debatte mitmachen, wenn wir in diesem Bereich entsprechend nachbessern. Ansonsten sind die Worte von Herrn Habeck nur wertlose Prosa, und dann ist es nicht glaubwürdig. ({1}) – Herr Kollege von Notz, zu Ihnen komme ich auch noch. – Wir haben 2017 auch für die deutschen Gefährder die Gesetze zur Sicherungsverwahrung verschärft. Herr Kollege von Notz, ich habe es sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Sie gerade in Ihrer Rede gesagt haben: Da müssen wir noch mehr tun. – In der Tat, die Anwendung dieser Gesetze ist noch etwas suboptimal. Wir müssen auch evaluieren, ob wir da noch etwas nachschärfen müssen. Nur, Herr Kollege von Notz, warum haben Sie dann als Grüne 2017 nicht wenigstens diesen Gesetzentwürfen zugestimmt? Sie haben sie abgelehnt. ({2}) Insofern müssen Sie Ihren Worten eben auch Taten folgen lassen. ({3}) Eine letzte Bemerkung möchte ich machen. Wir müssen auch schauen, dass wir die ausländischen Gefährder abschieben. Das gilt auch für diejenigen aus Syrien. Deswegen brauchen wir eine Neubewertung des Abschiebestopps, auch wenn wir wissen, dass es noch andere Hürden gibt und wir natürlich rein praktisch Personen nur schwer nach Syrien verbringen können. Aber das eine ist die Bewertung der Sicherheitslage in Syrien, die das Auswärtige Amt vornimmt, und das andere ist die Frage, ob die Innenministerkonferenz den absoluten Abschiebestopp nicht doch wenigstens für eine bestimmte Personengruppe aussetzen kann, ({4}) und das ist die Personengruppe der eingestuften Gefährder aus Syrien. Denn wenn jemand selbst erklärt, er sei Feind von Deutschland und er beabsichtige, hier Menschen zu töten oder zu schädigen, dann hat er keine Chance verdient. ({5}) Er verdient dann weder den Schutz des Asylrechts noch den Schutz eines Abschiebestopps. Deswegen ist mein Appell an Sie, Herr Minister Seehofer, dass Sie die Möglichkeit prüfen – unabhängig von der Einschätzung des Auswärtigen Amtes –, wenigstens diese kleine Gruppe von Gefährdern aus Syrien vom Abschiebestopp auszunehmen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Uli Grötsch. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle stehen noch unter Schock angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Europa, erst hier in Deutschland, in Dresden, dann zum wiederholten Male in Frankreich, diesmal in Nizza, und jetzt jüngst in Wien, und das alles, nachdem bis Oktober die Zahlen islamistischer Anschläge und Anschlagsvorhaben in Deutschland und Europa insgesamt rückläufig waren. Das zeigt uns: Terrorismus ist eine dauerhafte Gefahr und seine Bekämpfung eine dauerhafte Aufgabe, in allen Bereichen der Gesellschaft, von der Zivilgesellschaft über die Sicherheitsbehörden bis hin zu jeder und jedem von uns. Das betrifft Terrorismus in all seinen hässlichen Ausprägungen gleichermaßen. Unsere Gedanken sind bei den Opfern dieser schrecklichen islamistischen Terroranschläge und deren Angehörigen. Für uns Demokratinnen und Demokraten in Europa heißt das jetzt, dass wir solidarisch Seite an Seite stehen und geschlossen gegen alle Terroristen und Demokratiefeinde aufstehen, die unsere Lebensweise und unsere Werte in Europa bekämpfen. ({0}) Sie wollen uns Angst machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber ich sage Ihnen: Die Einzigen, die jetzt Angst haben sollten, sind die Terroristen selber. Terrorismus ernährt sich vom Hass. Lassen Sie uns deshalb alle gemeinsam alles dafür tun, dass diese Angst bei den Menschen in Deutschland und Europa nicht entsteht, sondern dass alle Menschen wissen, dass sie in Frieden und Freiheit leben können und dass es eben die Terroristen sind, die Angst haben müssen, und zwar vor Verfolgung durch unsere topaufgestellten deutschen Sicherheitsbehörden. ({1}) Vom Terror in Europa profitieren meines Erachtens zwei Seiten. Auf der einen Seite profitieren die Terroristen bzw. der „Islamische Staat“ selber. Sie töten feige und brutal unschuldige Menschen und rühmen sich damit. Auf der anderen Seite profitieren die Rechten und die Islamfeinde, auch die in diesem Hohen Haus. Für sie ist jeder islamistische Anschlag ein gefundenes Fressen, um Ressentiments und Hass in unserer Gesellschaft gegenüber unseren muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und gegenüber demokratischen Parteien zu schüren. Für Demokratiefeinde ist die Schuldfrage geklärt. In ihren Augen haben alle Muslime Schuld. Ihre Kollegin Frau von Storch kommentierte auf Twitter: Solche Anschläge passieren immer da, wo es islamische Gemeinden gibt. – Die intellektuelle Leistung, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, überstieg dabei ganz offenbar ihre Fähigkeiten. ({2}) Natürlich – das war schon immer so – haben die Rechten vermeintlich einfache Lösungen parat, wenn es darum geht, wie der Terror aus Deutschland verschwindet. Nur, leider ist die Realität viel komplexer. Weder gibt es einfache Lösungen, noch gibt es hundertprozentige Sicherheit. Auch wenn wir in den Sicherheitsbehörden die besten Frauen und Männer haben, die es wohl weltweit gibt: Selbst die können nicht für hundertprozentige Sicherheit überall in Deutschland und Europa sorgen. Aber ich sage Ihnen: Genauso wenig, wie wir den IS-Terroristen erlauben, uns Angst zu machen, uns zu spalten und unsere freie Gesellschaft zu attackieren, genauso wenig werden wir ihnen erlauben, Profit aus unserer Trauer und unserer Solidarität zu schlagen. Jetzt wachsen wir erst recht zusammen. Zum Beispiel kandidiert ein Hanauer Architekt mit türkischen Wurzeln für den Bundestag, nachdem sein Cousin am 19. Februar 2020 in Hanau von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Abdullah Unvar sagt, er wolle sich für das friedliche Zusammenleben und gegen Menschenfeindlichkeit engagieren. „Jetzt erst recht“, sagt er. Ich bin froh, dass er das für die SPD macht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Es sind übrigens zwei Menschen mit türkischen Wurzeln, die als Helden von Wien gefeiert werden, weil sie selbstlos einen Polizeibeamten aus dem Kugelhagel gerettet haben. Ich sage allen Demokratiefeinden, egal ob islamistisch oder rechtsextrem: Wir lassen uns nicht spalten! Im Gegenteil: Bei jedem Anschlag wachsen wir noch näher zusammen, und das erfüllt mich mit Stolz. Wir sind mehr – jetzt erst recht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dresden, Paris, Nizza, Lyon, Wien – innerhalb von 28 Tagen wurden neun Menschen in Europa, mitten unter uns, auf grausamste Art und Weise von Islamisten ermordet und viele weitere schwer verletzt. Wir trauern mit den Angehörigen und Freunden der Opfer. Wir befinden uns in einem europäischen Terrorherbst, und der islamistische Terrorismus in Europa nimmt zu. Aber – das haben die Kolleginnen und Kollegen heute bestätigt – es ist kein Kampf zwischen Christen und Muslimen. Es ist ein Kampf zwischen der Mehrheit der Menschen, die sich für Frieden engagieren und sich ein Leben in Freiheit wünschen, und denen, die die Welt brennen sehen wollen. Deswegen ist der gemeinsame Kampf aller gesellschaftlichen Kräfte besonders wichtig. Wir sollten als Christen, als Juden, als Muslime, als Atheisten zusammenstehen. Genau weil es sich um islamistischen Terrorismus handelt, ist es besonders wichtig, Frau Ali, dass die Muslime ein deutliches Zeichen senden. Es muss klar sein, dass Muslime diesen Hass und diese Gewalt verurteilen; dieses Signal wünsche ich mir noch sichtbarer. ({0}) – Weil Sie das gefordert haben, und ich unterstütze Sie dabei. Der Islamismus ist eine Gefahr für Deutschland und Europa. Der Angriff auf ein schwules Paar in Dresden war der Beginn dieses europäischen Terrorherbstes. Der mutmaßliche Angreifer war ein mehrfach verurteilter islamistischer Gefährder. Unsere Sicherheitsbehörden tun ihr Möglichstes, um die Bevölkerung vor Anschlägen wie diesem zu schützen, und wir hier im Deutschen Bundestag – wie auch die Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen – sind aufgefordert, unser Möglichstes zu tun, um sie dabei zu unterstützen. Nun heißt es nämlich ganz konkret, Farbe zu bekennen. Wir haben vom Innenministerium und von der Bundesregierung einen Vorschlag zur Umsetzung der Quellen-TKÜ auf dem Tisch. Alle Fraktionen hier im Hohen Haus können diesen guten Vorschlag, diese Novelle zum Verfassungsschutzgesetz, unterstützen und daran mitarbeiten, dass unsere Sicherheitsbehörden, die Männer und Frauen, die für unsere Sicherheit zuständig sind, entsprechende Instrumente an die Hand bekommen, um uns noch besser vor diesen Gefährdern zu schützen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Denn wir dürfen aus meiner Sicht nicht akzeptieren, dass unsere Sicherheitsbehörden den Terroristen wegen mangelnder Befugnisse im digitalen Raum hinterherlaufen. Wir können im Jahre 2020 nicht mit der Gesetzgebung von 1990 gegen Terroristen vorgehen. Ich möchte an dieser Stelle betonen, lieber Konstantin von Notz, weil du von „allem rechtlich Möglichen“ gesprochen hast: Es ist jetzt an der Zeit, Farbe zu bekennen. Macht mit! Reiht euch ein! Sorgt für Akzeptanz, und unterstützt die schnelle Einführung der Quellen-TKÜ! Aber wir müssen auch ein Stück weiter schauen, außerhalb unseres Landes. Der mutmaßliche Attentäter von Dresden ist 2015 nach Deutschland gekommen, zusammen mit hunderttausend weiteren Menschen. In dieser Ausnahmesituation wussten unsere Sicherheitsbehörden zeitweise nicht, wer da alles über die Grenzen zu uns kam. Deshalb: Ja, wir als Union setzen uns für striktere Einreisekontrollen ein. Wir müssen an unseren europäischen Außengrenzen die Hintergründe und Motive der Einreisenden aus entsprechenden Gebieten vorab prüfen und erst dann die Einreise ermöglichen. Es braucht einheitliche Terrordatenbanken, einheitliche Gefährderlisten und ein einheitliches Asylregime, damit wir dieser Situation gerecht werden können. Ansonsten setzen wir unsere Bürgerinnen und Bürger in Europa einer möglichen Gefahr aus wie in Nizza oder Dresden, und das dürfen wir unter keinen Umständen zulassen. Für mich ist es, ehrlich gesagt, immer noch schwierig, zu verstehen, dass ein Gefährder, der in Italien als solcher registriert ist, überhaupt keinen Alarm auslöst, wenn er sich in Frankreich aufhält. Das müssen wir zwingend und sofort beenden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Neben dem dringend benötigten schnelleren und europaeinheitlichen Informationssystem ist auch ein – es wurde von mir schon angesprochen – einheitliches Asylsystem wichtig. Wir müssen alles dafür tun – das haben die Kolleginnen und Kollegen heute auch gesagt –, dass wir die vermeidbaren Gefahren begrenzen, und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger kein Leben in Angst und Hass führen, sondern sich sicher fühlen, dass sie in unserem freiheitlichen Land, auf diesem freiheitlichen Kontinent gerne leben. Dafür braucht es eine starke Zivilgesellschaft, die ein Bollwerk gegen radikale Islamisten aufbaut. Ich glaube – das sage ich zum Schluss –, dieser europäische Terrorherbst erinnert uns doch daran, dass wir – egal was wir glauben oder denken – für unsere freiheitliche Gesellschaft in Europa kämpfen werden und diese Terroristen am Ende nicht siegen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Aydan Özoğuz. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende der Debatte möchte ich noch mal festhalten: Wir reden in diesem Haus über die zutiefst schockierenden und furchtbaren Anschläge in verschiedenen Städten Europas. Ich habe aber den merkwürdigen Eindruck, dass wir es nicht alle ganz gleich meinen. Das sage ich jetzt in aller Deutlichkeit zu Ihnen, Herr Hess. Es war nicht nur Ihre Kriegsrhetorik, die meine Kollegin Ute Vogt schon angesprochen hat. Würden Sie von dieser Stelle aus nur einmal vom „Krebsgeschwür des Rechtsterrorismus“ sprechen, dann würde ich Ihnen mehr glauben, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem Kampf gegen Extremismus in all seinen Formen und nicht nur gegen eine Richtung davon. ({0}) Auch ich möchte noch einmal festhalten: Wir stehen natürlich fest an der Seite unserer französischen und österreichischen Freunde. Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer und wünschen allen Verletzten schnelle Genesung. Wichtig ist aber auch: Wir teilen nicht nur diesen Moment der Trauer, sondern stehen gemeinsam gegen Extremisten, gegen Terroristen, gegen jeden, der meint, dass er sich über das Gesetz und das Leben von anderen stellen dürfe. Das dürfen wir nicht zulassen. Unsere Innenpolitiker haben schon einiges dazu mit Blick auf die Sicherheitspolitik gesagt, so Herr Landesminister Maier und Herr Bundesminister Seehofer. Wir müssen hier gemeinsam zusammenstehen und sowohl zu uns als auch nach draußen immer sagen: Wir lassen nicht nach in unserem Bemühen um unsere Freiheiten, um unser kostbares und übrigens auch hart erarbeitetes Miteinander. Das müssen wir verteidigen. Und das können wir nur schaffen, wenn wir uns von niemandem dieser Extremisten in die Irre führen lassen. ({1}) Diese grausamen Taten – es wurde schon gesagt – sollen uns verunsichern. Die Attentäter und ihr Umfeld zielen perfide darauf ab, dass wir uns gegenseitig misstrauisch beäugen, nach Herkunft, nach Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften sehen; einige schüren das durchaus auch. Die Gefahr für uns alle geht von all denen aus, die bereit sind, gewalttätig zu sein. Ein rechtsextremer Terrorist in Halle, der plant, eine jüdische Gemeinde auszulöschen, und dann wahllos Passanten erschießt, hat das gleiche Ziel wie die IS-Rekruten, die wahllos auf Menschen schießen. Was diese völlig unterschiedlichen Täter vereint, ist der Wille, zu töten, im Namen ihrer jeweils eigenen Radikalität, ihres Fanatismus und ihrer menschenverachtenden Ideologie. Ob islamistischer Attentäter oder Rechtsextremist, jeder Fanatiker ist Feind unserer Gesellschaft, und dem sollten und müssen wir uns immer gemeinsam entgegenstellen. ({2}) Natürlich müssen wir uns auch die Motive sehr genau anschauen, schon aus dem Interesse heraus, uns zu schützen. Eines will ich doch noch mal sagen: Dem Attentäter in Wien beispielsweise war es ja völlig egal, auf wen er geschossen hat. Er hat auch einen Nordmazedonier getroffen, obwohl er selber einer ist; er hat die gleiche Herkunft. Ich möchte auch an die zwei fanatischen Brüder in Frankreich erinnern. Sie haben ja noch mit dem Polizisten gesprochen und wussten, dass er ein Muslim war. Das hat sie nicht davon abgehalten, ihn kaltblütig zu erschießen. Andersherum halfen zwei türkeistämmige Österreicher der verletzten älteren Dame und dem Polizisten. Sie haben sicherlich nicht über Religionszugehörigkeiten nachgedacht, sondern einfach einen Wahnsinnigen gesehen, der auf Menschen schießt, und sofort geholfen. So müssen wir miteinander agieren. ({3}) Die Welt der Extremisten und Attentäter ist nicht so leicht zu zeichnen, wie es einige hier immer wieder glauben machen wollen. Genau hier, am Punkt der Radikalisierung, müssen wir ansetzen und unsere Bemühungen intensivieren. Ob es eine Hasspredigt in einer extremistischen Moscheegemeinde ist, ob es wirre Thesen in Onlineforen sind ober ob es die Rekrutierung von ausländischen Terrororganisationen ist, die Hass in den Köpfen dieser Täter säen – wir müssen aufmerksam sein. Zur Imamausbildung könnte man jetzt eine Menge dazu sagen, wie viele dicke Bretter wir damals bohren mussten; aber immerhin sind wir ja schon ein paar Schritte weiter. Es schockiert mich zutiefst, dass Menschen gerade in unseren Gesellschaften derart ihre Menschlichkeit verlieren und zu solch einer Gefahr für andere werden. Und es schockiert mich, dass sie zur Rechtfertigung ihrer Taten beispielsweise auch den Islam, meine Religion, nennen. Ich weiß, dass Sie das eben nicht so gemeint haben, Herr Wendt. Aber es war etwas eigenartig, dass Sie gerade ausgerechnet Frau Mohamed Ali angesprochen haben, ({4}) als Sie sich an die Muslime gewandt haben. Ich glaube, Sie haben das anders gemeint. Aber ich wollte sagen: Das ist es ja gerade, was wir nicht wollen. Wir wollen, dass wir zusammenstehen. Ich möchte schon auch noch mal sagen, wie widerwärtig das ist. Ich war nie Fan dieser Karikaturen von „Charlie Hebdo“. Ich möchte es deutlich sagen: Sie stoßen mich ab. Das darf ich hier sagen, so wie jemand anderes diese Karikaturen zeichnen darf. Niemand darf sich aber erheben und einen anderen Menschen dafür verfolgen oder gar umbringen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir brauchen gegen Fanatismus ohne Zweifel gut ausgestattete Sicherheitsbehörden. Die stärkste Antwort auf Hass und Gewalt aber bleibt die Menschlichkeit als Leitbild für unser Zusammenleben. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich es ganz wichtig fand, dass sich auch islamische Organisationen und Moscheen in all diesen Ländern zu Wort gemeldet haben und deutlich gesagt haben, wie stark sie diese Taten verurteilen und mit welcher Abscheu sie sie betrachten.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, Sie müssen sich an die Redezeit halten.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben völlig recht. Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege von der AfD, Sie telefonieren jetzt seit fünf Minuten. Wenn Sie telefonieren wollen, gehen Sie doch bitte raus. Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen in unserem Land haben Angst, Angst vor Islamismus, vor politischem Terror im Namen des Koran. Diese Angst ist tatsächlich nicht ungerechtfertigt. In Anbetracht der Tatsache, dass wir ungefähr 28 000 islamistische Gefährder in unserem Land zählen, kommt auch der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu der Überzeugung – ich zitiere –: … wir müssen jeden Tag auch in Deutschland mit einem islamistischen Anschlag rechnen. Ich pflichte ihm bei, dass diese Sorge berechtigt ist. Die Menschen in unserem Land haben aber nicht nur Angst vor islamistischem Terror. Sie haben vor allen Dingen die Sorge, dass wir in der deutschen Politik – damit meine ich den Bund und die Länder – nicht genug tun, wenn es um die Bekämpfung des politischen Islamismus geht. Ich kann sagen: Es ist mitnichten so, wie behauptet wird, dass wir gar nichts tun. Wir haben bereits das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, wir haben eine Schwerpunktstelle im Bundesinnenministerium, wir haben das Gemeinsame Internetzentrum und vieles mehr. Wir werden in Kürze auch noch die vielfach angesprochene Quellen-TKÜ endlich gesetzlich verankern können, sodass wir Islamisten auch im Internet richtig verfolgen können. Das tun wir alles. Doch wenn wir ehrlich zu uns sind, dann müssen wir uns die Frage stellen: Reicht das aus? Ich sage: Es geht noch mehr. Wir müssen anfangen, auch Ross und Reiter zu benennen, und das ist nun mal der politische Islamismus. Sehr geehrter Herr von Notz, Sie haben vorhin den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz zitiert. Ich habe hier ein weiteres Zitat für Sie: Die falsch verstandene Toleranz muss endlich ein Ende haben. Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, wie gefährlich die Ideologie des politischen Islams für unsere Freiheit und für das europäische Lebensmodell ist. Wenn wir das akzeptieren möchten oder können – manch einem wird das vielleicht sogar schwerfallen –, dann müssen wir diese Debatten ehrlich führen und zu dem Schluss kommen, dass es nicht ausreicht, nur Gesetze zu erlassen und unsere Sicherheitsbehörden zu stärken. Denn was tun wir damit? Wir bekämpfen damit die Symptome. ({0}) Wir müssen aber an die Ursache heran. Die Ursache liegt im politischen Islamismus, meine Damen und Herren. Das möchte ich hier mal ganz klar so zur Sprache bringen. ({1}) Wenn ich sage, dass es vielleicht nicht ausreicht, mit Gesetzen und einer Stärkung der Sicherheitsbehörden gegen dieses extrem gefährliche Phänomen vorzugehen, dann nenne ich auch einige Maßnahmen. Das unterscheidet uns Regierungsfraktionen – ich schließe die SPD ein – fundamental von der AfD, die hier immer nur Forderungen in den Raum wirft. Ich nenne Ihnen ein paar Maßnahmen und möchte aus einem kürzlich in der „Welt“ erschienenen Artikel zitieren. Dieser wurde unter anderem von Necla Kelek, Seyran Ates und Ahmad Mansour gezeichnet. – Dazu möchte ich sagen: Ahmad Mansour wäre sicherlich nicht stolz darauf, von der AfD zitiert zu werden. – Mitgezeichnet haben ihn auch meine Kollegen Linnemann und de Vries. Darin stehen einige Forderungen, die ich gerne hier anführen möchte: Wir brauchen eine Schulstudie. Wir brauchen die Erfahrungen der Lehrer im Umgang mit Islamismus im Alltag, in der Schule. Was ist los, wenn Kinder, die unter dem Einfluss des Islamismus stehen, Frauen nicht die Hand geben wollen, wenn Kinder nicht zum Schwimmunterricht geschickt werden? Das sind die ersten Indizien. Wir brauchen eine Dokumentationsstelle für den politischen Islam, die die Finanzierungsströme aufdeckt, die die Strategien und Strukturen hinter islamistischen Verbänden aufdeckt. Ein gutes Beispiel dafür könnte Österreich sein. Wir brauchen eine Einrichtung von Lehrstühlen an den Universitäten zum Thema „politischer Islam“. ({2}) Wir brauchen endlich ein Ende der Kooperation mit staatlichen und politischen Vertretern des politischen Islams. ({3}) – Wir sind doch schon dabei. Warum regen Sie sich denn so auf? ({4}) Wir brauchen die Einrichtung eines Expertenkreises für politischen Islam im BMI; da sehe ich zu unserem Bundesinnenminister. Ich füge hinzu: Wir brauchen auch die Möglichkeit als Ultima Ratio, Kinder aus schwerstkriminellen Familienclans und aus dem islamistischen Milieu herauszunehmen. Genauso – das wurde hier schon vielfach angesprochen; das begrüße ich sehr – müssen wir darüber reden, die Imamausbildung hier in Deutschland voranzutreiben. ({5}) – Jetzt seien Sie doch mal still, Mensch! Hören Sie mal zu. Also wirklich! ({6}) Selbstverständlich ist nicht jede Muslima und nicht jeder Muslim ein Terrorist. Auf diese Differenzierung kommt es an. Genauso müssen wir aber auch differenzieren, wenn wir sagen: Der politische Islam gehört eben nicht zu Deutschland. Es kann keine Rechtfertigung für eine Gewalttat sein, wenn Satire veröffentlicht wird, auch wenn man selber diese nicht teilt. Wenn religiöse Figuren in irgendeiner Weise schändlich dargestellt werden, dann ist das keine Rechtfertigung für irgendeine Form von Gewalt. Das müssen wir genauso deutlich aussprechen. ({7}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Titel dieser Aktuellen Stunde ist unter anderem: „Unsere freie Gesellschaft verteidigen“. Wenn wir das wirklich ernst nehmen, dann können wir das eben nicht nur mit Gesetzen und einer Stärkung der Sicherheitsbehörden tun; dann müssen wir es mit den von mir genannten Maßnahmen tun. Wir müssen vor allen Dingen auch lernen, konsequent und selbstbewusst unsere Normen und Werte zu verteidigen und diese auch von den Gegnern dieser Werte einzufordern. Eines ist klar: Ein Weiter-so kann es in dieser Form nicht geben. Herzlichen Dank. ({8})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die wichtigen Beschlüsse des EU-Bankenpaketes, die Finanzminister Olaf Scholz auf europäischer Ebene verhandelt hat, setzen wir heute mit dem vorliegenden Risikoreduzierungsgesetz fristgerecht in nationales Recht um. Wie der Titel schon sagt, trägt das Gesetz zur Reduzierung von Risiken im Bankensektor bei, stärkt aber gleichzeitig die Ausgewogenheit bei der Bankenregulierung. Die Risikoregulierung erfolgt unter anderem durch die Stärkung der Kapital- und Liquiditätsanforderungen für Banken. Die Banken müssen künftig Verlustpuffer von mindestens 8 Prozent ihrer Bilanzsumme vorhalten und zudem eine verbindliche Verschuldungsobergrenze von 3 Prozent der Bilanzsumme einhalten. ({0}) Damit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, machen wir die Banken in Stresssituationen sicherer und widerstandsfähiger. ({1}) Um die Abwicklungsfähigkeit von Banken zu verbessern, enthält das Gesetz nun Anforderungen, in welchem Umfang die Banken künftig Eigenmittel und andere Finanzierungsinstrumente halten müssen, die dann im Abwicklungsfall Verluste tragen; denn sollte es doch einmal notwendig sein, dann sollen die Kosten einer Bankenrettung von den Gläubigern und Eigentümern einer Bank sowie aus dem Bankensektor selbst heraus getragen werden und nicht vom Steuerzahler, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir müssen dafür Sorge tragen, dass für Kundinnen und Kunden von Banken keine Geschäfte organisiert werden, die mit hohen Risiken verbunden sind und von den Bürgerinnen und Bürgern eigentlich gar nicht richtig verstanden werden. Es soll nicht sein, dass der einfache Bankkunde denkt, er habe in etwas sehr Sicheres sein Geld angelegt hat, und im Krisenfall ist sein Geld doch als Erstes weg. Solche Anleihen, die sogenannten nachrangigen Verbindlichkeiten, sollen größtenteils institutionellen Anlegern vorbehalten bleiben, weil diese genau um die Ausfallrisiken wissen, die Anlagen einschätzen können und Verluste im Abwicklungsfall auch tragen müssen. Wir führen deshalb eine Mindeststückelung dieser verlusttragenden Finanzierungsinstrumente von 50 000 Euro ein. Beim ergänzenden Kernkapital kleiner Banken ist eine Mindeststückelung von 25 000 Euro vorgesehen. Das ist ein guter Schritt, um den Schutz der Verbraucher zu verbessern und zu stärken, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Es geht also bei der Reduzierung von Risiken nicht nur um eine bessere Absicherung für Banken, sondern in hohem Maße auch um einen deutlich verbesserten Anlegerschutz. Bei der Eigenmittelzielkennziffer, die als Stresspuffer dient, um Verluste im laufenden Betrieb abzufedern, setzen wir die EU-Richtlinie eins zu eins um. Das heißt jedoch nicht – das möchte ich hier ausdrücklich betonen –, dass die Aufsicht nicht die Hinterlegung mit hartem Kernkapital einfordern sollte. Denn es ist in völliger Übereinstimmung mit den EBA-Leitlinien, wenn Bundesbank und BaFin hier auch auf hartem Kernkapital bestehen. Das hat die Bundesbank ja in der Anhörung am Mittwoch noch einmal deutlich gemacht. An dieser Stelle kann man ganz grundsätzlich den Sachverständigen aus der Anhörung noch mal ganz herzlich für ihre wichtige Expertise danken, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Neben der Risikoreduzierung geht es aber auch – das habe ich eingangs erwähnt – um eine bessere Ausgewogenheit der Regulierung. Um der Proportionalität Rechnung zu tragen, führen wir mit der Umsetzung der europäischen CRR-II-Verordnung insbesondere für kleine und nicht komplexe Banken zahlreiche administrative Erleichterungen in der Finanzaufsicht ein. Diese Erleichterungen kommen – neben dem Wegfall der europäischen Bankenabgabe – auch bei den kleinen Förderbanken voll zum Tragen. Da die rechtlich selbstständigen Förderbanken aus dem Anwendungsbereich der EU-Bankenregulierung herausfallen, unterliegen sie nun ausschließlich einer nationalen Aufsicht. Diese soll nach dem Kreditwesengesetz durch die BaFin erfolgen. Wir bauen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, viel Bürokratie ab. Wir tragen zu einer besseren Ausgewogenheit der Regulierung bei, und wir reduzieren Risiken im Bankensektor. Risiken, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es überall. Das sehen wir nicht nur im Bankensystem, sondern auch beim Fußball. Das ist zum Beispiel beim FC Bundestag der Fall. Im Sport kann man beim nächsten Mal vielleicht durch besseres und intensiveres Warmmachen Verletzungsrisiken reduzieren. Im Bankensystem machen wir das mit dem Risikoreduzierungsgesetz. Gute Gründe, um dem Gesetz gleich Ihre Zustimmung zu geben! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schraps, und gute Besserung.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Redner wäre jetzt für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Bruno Hollnagel gewesen. Er musste allerdings seine Rede krankheitsbedingt zu Protokoll geben. Wir machen jetzt mit der Opposition weiter, und zwar mit der Kollegin Katja Hessel von der FDP-Fraktion. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schraps, so ganz kann ich Ihre Begeisterung für das vorliegende Gesetz nicht teilen. Der Titel des Gesetzes zur Reduzierung der Risiken und Förderung der Proportionalität im Bankensektor klingt so, als ob es dem Bankensektor etwas Gutes tun würde, als ob wir Proportionalität fördern und Risiken senken würden. Ich befürchte, bei den Betroffenen wird es mehr zu Enttäuschung führen als zu Freude über dieses Gesetz. ({0}) Viele Themen, die im Gesetz berücksichtigt werden, betreffen hauptsächlich die Finanzmarkttechnik. Nichtsdestotrotz würde aber, wenn man über Proportionalität spricht, vielleicht auch mal der Blick nach Europa notwendig sein. Viele der vorgesehenen Regelungen müssten in Europa einmal angegangen werden. Man muss einheitliche Größenklassen festlegen. Mit einer entsprechenden Kategorisierung ließe sich auch die Proportionalität der Banken fördern. Ganz besonders bedauerlich ist – Sie haben das auch angesprochen –, dass die Richtlinie eben nicht überall eins zu eins umgesetzt worden ist, sondern dass ganz oft das sogenannte Gold-Plating betrieben worden ist. Wir haben als FDP-Fraktion fünf Änderungsanträge zur – aus unserer Sicht – Schadensbegrenzung eingereicht, damit vielleicht doch noch irgendetwas besser wird. Wir wollten einmal die Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereiches der Organkredite, die Sie einbezogen haben, wieder streichen, weil dies aus unserer Sicht nicht notwendig ist. ({1}) Die Erweiterung ist weder durch die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht begründet noch aus den Basler Grundsätzen heraus geboten. Es bedeutet gerade für die kleinen Banken eine Menge zusätzlicher Arbeit für Vorstände und Aufsichtsräte. Es ist nie belegt worden, dass gerade bei den Organkrediten in Bezug auf diese Personengruppe und die in Rede stehenden Geschäfte große Missstände zu verzeichnen sind. ({2}) Ein weiteres, besonders schwieriges Thema ist die Mindeststückelung bei den nachrangigen Verbindlichkeiten. Wir sehen Verbraucherschutz, insbesondere den finanziellen, ein wenig anders. Durch die Mindeststückelung von 50 000 Euro wird nun genau kleineren Anlegern die Möglichkeit nicht gegeben, in momentan noch renditestarke Produkte zu investieren. Sie können nicht mehr investieren, weil eine Mindeststückelung von 50 000 Euro das nicht hergibt. ({3}) Der finanzielle Verbraucherschutz ist bereits gut geregelt. Hier wäre eine Eins-zu-eins-Umsetzung wichtig gewesen. Die erhöhte Mindeststückelung ist jedenfalls als Instrument des Verbraucherschutzes ungeeignet. Das ist eine Bevormundung der Verbraucher. Das führt zu einem Nanny-Staat. Das wollen wir so nicht mittragen. ({4}) Eine kleine Erleichterung hat es durch den achten Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen noch gegeben. Aber auch das können wir nicht ganz verstehen. Es kann ja wohl nicht sein, dass das Risiko des Verbrauchers darin besteht, wie groß die Bank ist, bei der er anlegen will. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir eine BaFin, die für die Bankenaufsicht zuständig ist. Allein, Ihr Gesetzentwurf zeigt mir, dass Ihr Vertrauen in die BaFin vielleicht nicht das größte ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden aus diesen Gründen den Gesetzentwurf ablehnen. Zu dem Gesetzentwurf der AfD braucht man ja nicht viel zu sagen. Die AfD-Kollegen konnten sich im Ausschuss nicht einmal dazu entschließen, ihrem eigenen Gesetzentwurf zuzustimmen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollegin Katja Hessel. – Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alexander Radwan. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Woche wurde im Ausschuss Frau Professor Buch von der Deutschen Bundesbank per Video zugeschaltet. Es ging um das Thema Finanzstabilität. Wir konnten erfahren und mit ihr diskutieren, dass die Maßnahmen, die wir in den letzten Jahren auf europäischer und nationaler Ebene beschlossen haben, dazu geführt haben, dass wir in der jetzigen Phase, der Coronakrise, von stabilen Banken ausgehen können. Das heißt mit Blick auf das kommende halbe Jahr nicht, dass das von Haus aus gegeben ist. Aber es zeigt auch, dass die Regulierung auf europäischer und nationaler Ebene entsprechend greift und dass die Flexibilitäten, die hier vorgesehen sind, entsprechend angewendet werden können und dass die Puffer, die von den Banken aufgebaut wurden, entsprechend positiv genutzt werden. Darum ist es auch logisch, dass wir im Rahmen der Umsetzung der europäischen Richtlinie auch weiter daran arbeiten, die Stabilität zu verbessern, entsprechende Vorgaben nachzujustieren und letztendlich die Regulierung und damit auch den Finanzmarkt krisenfester und zukunftsfähiger zu machen, damit nicht wieder eintritt, was wir alle nicht wollen, dass die Steuerzahler herangezogen werden. ({0}) Ich persönlich hätte mir beim Stichwort „Proportionalität“ mehr gewünscht. Umso mehr ist es auch unsere Aufgabe, bei zukünftigen Gesetzgebungen auf europäischer und nationaler Ebene darauf zu achten, dass das Wort nicht nur vorkommt, sondern auch mit Leben erfüllt wird und entsprechend angewendet wird. ({1}) Lassen Sie mich auf ein, zwei, drei Punkte eingehen. Einige wurden schon angesprochen. Es geht um die Frage der Stückelungen von 25 000 Euro und 50 000 Euro. Das wurde auch kontrovers diskutiert. Ich gehe davon aus, dass nach mir folgende Redner darauf entsprechend eingehen werden. Ich halte es für richtig, dass wir auf der einen Seite die Grenze von 50 000 Euro gezogen haben, dass wir auf der anderen Seite aber kleinen Banken die Möglichkeit gegeben haben, 25 000 als Grenze zu haben, um kleineren Anlegern in ihrem Segment entsprechende Angebote machen zu können. Letztendlich wollen wir verhindern, dass sich kleinere Anleger verpflichten, mit einer Summe zu investieren. Darum ist die Grenze von 5 Milliarden Euro Bilanzsumme die richtige, um die 25 000-Euro-Grenze einzuziehen. Wichtig ist uns auch die entsprechende Umsetzung eins zu eins. Diese konnten wir gerade mit Blick auf die Eigenkapitalanforderungen durchsetzen. Letztendlich konnten wir die Verschärfungen herausnehmen. Diese Maßnahmen werden zukünftig – so viel zum Vertrauen in BaFin und EBA – in entsprechenden Grenzen durch die europäischen Aufseher mit aufgenommen. Meine Damen und Herren, es ist ein richtiger Schritt, die Richtlinie hier nur eins zu eins umzusetzen. ({2}) Die Förderbanken konnten wir auf europäischer Ebene nach zähem Ringen aus diesem Anwendungsbereich herausnehmen. Darum ist es auch nur denklogisch, dass wir dann natürlich auf nationaler Ebene dieses entsprechend handhaben und nicht durch die Hintertür das eine oder andere erschweren. Ich glaube, es ist uns mit entsprechenden Diskussionen gelungen, auch mit dem BMF und den zuständigen Personen, hier den richtigen Weg zu finden. Förderbanken sind bei den Offenlegungspflichten an den Märkten nicht so gefordert wie andere. Darum waren wir froh und sind guten Mutes, dass wir das hier herausgenommen haben. ({3}) Bei den Verwaltungsräten konnten wir die bisherige Praxis entsprechend anwenden. Es war uns wichtig, auch aus Compliance-Gesichtspunkten zu sagen: Die Bank an sich ist hier verantwortlich, dass Verwaltungsräte, dass Aufsichtsräte entsprechende Qualifikationen haben, und es werden nicht diejenigen, die zukünftig beaufsichtigt werden, herangezogen, über ihre zukünftigen Aufseher ein Stück weit mitzuentscheiden. Das waren alles Punkte, meine Damen und Herren, die wir im Rahmen der Diskussion weiterentwickelt haben. Letztendlich wird dieses Paket dann auch im weiteren Verlauf der Coronakrise in die Umsetzung kommen. Es ist mir schon wichtig, heute klarzumachen: Das, was wir an Erleichterungen in diesen letzten Monaten, im letzten halben Jahr geschaffen haben, muss entsprechend überprüft werden, es muss kontrolliert werden, es muss dagegengehalten werden, um zu sehen, welche Erleichterungen beibehalten werden können, was letztendlich den Banken das Leben erleichtert und wo es notwendig ist, nachzujustieren. Lassen Sie mich abschließend noch einen Punkt sagen. Der Kollege Hollnagel ist krankheitsbedingt nicht da. Ich habe mir aber trotzdem vorgenommen, hier noch einmal klar zu positionieren, weil er es im Ausschuss entsprechend gesagt hat: Immer wieder den Vortrag zu bringen, man lehne ein Gesetz ab, weil man es für falsch hält, dass die Finanzmärkte in Europa europäisch beaufsichtigt werden, ist ein grundverkehrter Weg. Die Finanzkrise, die Subprime-Krise, ging auf europäischer Ebene in Irland los. Das Problem war, dass die europäischen Aufseher über die finanzielle Bankenvernetzung nichts gewusst haben und auch nicht gewusst haben, welche Risiken wo in welchem Land sind. Meine Damen und Herren, wenn man dann heute daran arbeitet, die Aufsicht wieder zu nationalisieren, ist man ein finanzpolitischer Geisterfahrer und ein Risiko für diese Volkswirtschaft. ({4}) Besten Dank. Wir werden dem entsprechenden Gesetzentwurf zustimmen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Radwan. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwölf Jahre nach der großen Finanzmarktkrise 2008 reden wir auch heute noch über Gesetze, die sichern sollen, dass die Lehren aus dieser Krise gezogen werden. Das an sich ist schon verwunderlich. Auch mit diesem Gesetzentwurf geht es immer noch darum, den Anspruch einzuholen, dass nie wieder mit Steuergeld Banken gerettet werden müssen. Das zeigt aus unserer Sicht, dass hier eine durchgreifendere Regulierung notwendig ist. Das ist auch mit diesem Gesetzentwurf leider nicht gelöst. ({0}) Konkret für diesen Gesetzentwurf heißt das: Die Menge an Geld und Eigenmitteln – untechnisch gesprochen –, die eine Bank im Verhältnis zur Gesamtsumme in ihrer Bilanz ausweisen muss, muss deutlich höher angesetzt werden. Statt 3 Prozent schlagen wir 10 bis 15 Prozent, je nach Größe der Bank, vor. Diese – jetzt wird es wieder technisch – sogenannte risikogewichtete Eigenmittelquote muss auch verbindlich vorgegeben werden und darf nicht nur ergänzende Kennzahl bleiben. ({1}) Es ist gut, dass es jetzt einen Mindeststandard für mittelfristige Planungen gibt, wie eine Bank ihren Zahlungsverpflichtungen immer nachkommen kann. Dieser sogenannte Net Stable Funding Ratio darf aber nicht dadurch verwässert werden, dass Vermögensgegenstände angerechnet werden können, die riskant und deshalb unsicher sind oder bei denen eine sofortige Umwandlung in Zahlungsmittel nicht gewährleistet ist. Auch den neuen Verlustpuffer, den Banken halten müssen, um im Falle einer Insolvenz ohne Schaden für Dritte abgewickelt werden zu können, begrüßen wir. Allerdings muss auch dieser deutlich höher liegen als die im Gesetz enthaltenen 8 Prozent der Bilanzsumme. Gerade die Großbanken, die das höchste Risiko tragen, im Falle einer Finanzmarktkrise vom Steuerzahler gerettet werden zu müssen, weil sie zu groß sind, um scheitern zu können, ermitteln ihre Eigenmittelquote durch selbsterstellte interne Modelle, die auch nicht öffentlich überprüft werden können. Es besteht also die Gefahr, dass Risiken kleingerechnet werden. Hier braucht es eine einheitliche Orientierung am Standardmodell. ({2}) Eigentlich sachfremd im Zusammenhang mit dem Bankenpaket wird im Gesetz auch ein Sicherungsfonds für private Kranken- und Lebensversicherungen geregelt. Dieser Fonds ist intransparent. Die Beteiligung am Fonds ist für die Versicherer freiwillig, sie können sich also um die Mitfinanzierung herumdrücken. Reichen die Mittel im Fonds nicht aus, sollen die Zahlungen an die Versicherten um maximal 5 Prozent gekürzt werden, vielleicht geht auch noch mehr. Das darf so nicht bleiben. Wir brauchen eine Kürzungssperre für die Versicherten. Wir brauchen eine klare Regelung, dass Lebensversicherungen endlich finanzielle Eigenverantwortung übernehmen und ihre Belastungen nicht auf Kunden oder Steuerzahler abwälzen. Danke schön. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Es macht sich bereit die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir verabschieden heute hier ein Gesetz, das nicht der aktuellen Covid-19-Krise dienen soll, sondern ganz bewusst in den guten Zeiten den Puffer aufbauen soll, den wir in Krisen, wie wir sie jetzt zum Beispiel haben, brauchen. Es geht um die Umsetzung eines Teils des EU-Bankenpakets; denn ein stabiles Finanzsystem ist ganz entscheidend in jeder Krise. Wir mussten 2008/2009 erleben, in welche Katastrophe uns ein instabiles Finanzsystem führt. Es waren 5 000 Milliarden Euro Staatshilfen, die bereitgestellt werden mussten. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in der Europäischen Union stieg um 67 Prozent auf 12 500 Milliarden Euro. Die folgenden Sparprogramme führten in etlichen Ländern zu drastischen Einschnitten in die öffentliche Daseinsvorsorge und zu einem massiven Vertrauensverlust der Bevölkerung. Wir erleben umgekehrt in der jetzigen Krise, dass wir es dank einer gewissen Eigenkapitalverbesserung der Banken, die in den letzten zehn Jahren tatsächlich erfolgt ist, bisher zumindest ökonomisch nur mit einer Wirtschaftskrise zu tun haben. Die milliardenschweren Rettungspakete stabilisieren derzeit zwar natürlich auch die Banken. Aber bisher sind eben durch das Bankensystem keine zusätzlichen Turbulenzen und keine zusätzlichen Dominoeffekte aufgetreten. Das zeigt, wie wichtig diese Reformen sind, über die wir heute reden, meine Damen und Herren. ({0}) Aber dennoch – Stand heute, im Jahr 12 nach der Lehman-Pleite – müssen wir feststellen: Das Versprechen von Angela Merkel: „nie wieder Steuergeld für Bankenrettungen“ ist immer noch nicht wirklich belastbar. Das hier vorliegende Gesetz ist nun zwar wieder ein weiterer Schritt dahin, dieses Versprechen belastbar zu machen. Ja, die Richtung stimmt: Risiko durch höhere Eigenkapitalvorschriften zu reduzieren und kleinere Banken nach dem Prinzip der Proportionalität zu entlasten; das ist richtig. Aber die Maßnahmen bleiben bei Weitem wieder hinter dem, was für ein stabiles Finanzsystem nötig wäre, zurück. Deswegen werden wir diesem Gesetz heute nicht zustimmen, meine Damen und Herren. ({1}) Insbesondere aus drei Gründen: Erstens wird eine Leverage Ratio – wir nennen es volkstümlich „Schuldenbremse für Banken“ – zwar eingeführt. Sie ist aber zu niedrig – darauf wurde bereits hingewiesen –: Sie liegt nur bei 3 Prozent. Viele Wissenschaftler sagen, 20 oder 30 Prozent wären nötig. Wir sagen: Wir wollen einen Risikopuffer von mindestens 10 Prozent aufbauen, und dann können auch die Entlastungen für viele kleine und mittlere Banken deutlich umfangreicher ausfallen. Zweitens fehlen in diesem Gesetz harte Vorgaben zur Begrenzung von Risiken aus Schattenbanken. Aber so besteht eben weiterhin die Gefahr, dass Teile der Bankengeschäfte in unregulierte Bereiche des Finanzsystems abwandern, meine Damen und Herren. Drittens bestehen bei der Abwicklungsfähigkeit von besonders großen und grenzüberschreitend tätigen Banken immer noch große Lücken. Mit anderen Worten: Banken sind immer noch „too big to fail“. Auch deshalb brauchen wir dringend ein Trennbankensystem. ({2}) Fazit: Wir werden uns bei diesem Gesetz enthalten. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben aus der Finanzkrise gelernt, dass die Banken zu wenig Eigenkapital haben und dass sie zu kurzfristig finanziert waren, wohl deshalb, weil viele Banken mit wenig Eigenkapital ein großes Rad drehen wollen. Das Ziel dieses Gesetzes ist, die Risiken zu reduzieren. Für wen eigentlich die Risiken reduzieren? Na gut, für die Banken selbst. Warum wollen wir die Banken schützen? Wir wollen die Einleger schützen. Wir wollen die Kreditnehmer schützen. Wir wollen die Steuerzahler schützen, also den Staat. Weil dieses Ziel ein sehr hehres Ziel ist, haben mich – das muss ich sagen – die Aktivitäten verschiedener Lobbyisten wirklich gestört, die sich gegeneinandergestellt haben, die sich gegen uns gestellt haben, die einen sehr merkwürdigen Risikobegriff haben und gar nicht verstanden haben, worum wir uns eigentlich bemühen, und die uns nicht wirklich unterstützt haben, das Problem zu lösen. Das hat mich gestört. ({0}) Das Wort „Risiko“ ist auch ziemlich schwierig zu definieren. Was ist eigentlich Risiko? Wenn ich weiß: „Es besteht eine Risikowahrscheinlichkeit von 5“, was mache ich dann? Kaufe ich ein Produkt, kaufe ich das nicht? Das ist richtig schwierig. Jetzt gibt es aber Leute, die sagen: kleine Bank, kleines Risiko. Ich sage: Vielleicht gilt das auch umgekehrt: kleine Bank, großes Risiko; große Bank, kleines Risiko. Das ist so ohne Weiteres gar nicht zu messen. Ich glaube, das Risiko hängt vielmehr von Produkten und vom Geschäftsmodell ab und davon, wie die Bank agiert. Das macht auch den Begriff der Proportionalität so schwierig. Wenn ich „proportional“ sage, dann denke ich immer an die Bilanzsumme der Bank, aber diese ist gar kein Maßstab. Also, das ist richtig schwierig, da kann man schnell Fehler machen. Insofern war es bestimmt gut, eine essenzielle Größe, über die wir schon lang diskutieren, die Verschuldungsquote, Leverage Ratio heißt das auch, verbindlich einzuführen. Das sind jetzt 3 Prozent der Bilanzsumme. Jetzt hat Jörg Cezanne in diesem Zusammenhang 15 Prozent gefordert, Lisa Paus hat erklärt, Wissenschaftler halten 20 Prozent und mehr für richtig. Es ist schade: Wäre ich in der Opposition, ich würde auf jede Zahl warten und sagen: Plus eins! – Also, wenn jetzt jemand 22 Prozent nennt, hätte ich eine supergute Idee; denn 23 Prozent – das stimmt – würden die Sache noch sicherer machen. Aber kaum habe ich die Zahl gesagt, käme der Jörg Cezanne und würde 24 Prozent fordern. Also, die ehrliche Antwort ist – das ist völlig klar –: Wir wissen gar nicht, was hinreichend ist. Wir merken das immer erst, wenn ein Problem wirklich auftaucht. Wir haben nicht nur diese Zahl. Wir haben auch eine lange Haftungskaskade. Wir haben darüber schon vor einigen Jahren, nämlich 2017, ausführlich gesprochen – ich halte die Übersicht noch mal hoch –: Da sind ganz viele Eigenmittel, da ist ganz viel Fremdkapital, das man umwandeln kann, um die Bank im Ernstfall retten zu können, um Reserven zu haben. Deshalb glauben wir: In Kombination dessen, was wir schon gemacht haben, mit dem, was wir heute machen, sind wir einen Riesenschritt weitergekommen; das hat auch Lisa Paus gesagt. Da darf ich sagen: Wenn die Opposition sagt: „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, nur nicht groß genug“, dann haben wir gut gearbeitet. Wenn eine Opposition das so beurteilt, ist das Vorhaben in Ordnung. ({1}) Das heißt aber auch, dass wir fair miteinander umgegangen sind. Da will ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken. Das war eine sehr gute Debatte. Ich glaube, wir haben an der Sache wirklich ernsthaft gearbeitet, insgesamt ein gutes Ergebnis erzielt. Wenn das nicht genügt, dann befassen wir uns in einigen Jahren wieder damit. Schönen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Sepp Müller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern titelten die „Stuttgarter Nachrichten“, dass der „Bankenrebell aus Gammesfeld“, Fritz Vogt, verstorben ist. Fritz Vogt ist kurz vor seinem 90. Geburtstag verstorben. Warum war er ein Bankenrebell? Weil er Vorstandsvorsitzender der kleinsten Raiffeisenbank hier in unserer Republik war: mit 341 Mitgliedern und 1 000 Kunden. Wer kann sich nicht noch an den Spruch von Hilmar Kopper erinnern: Das waren ja alles nur Peanuts. – Damit bezeichnete der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank 50 Millionen D-Mark offene Handwerkerrechnungen beim damaligen Finanzierungsskandal in Leipzig. Das ist der deutsche Bankenmarkt: von kleinen Volksbanken vor Ort, Raiffeisenbanken über Sparkassen und kleine Privatbanken vor Ort bis hin zu global agierenden Finanzhäusern wie der Deutschen Bank und der mittlerweile teilverstaatlichten Commerzbank. In diesem großen Spektrum bewegen wir uns. Deswegen ist es richtig, dass wir uns hier als Große Koalition auch Gedanken machen, wie wir die Risiken in diesen speziellen Bereichen reduzieren können – immer vor dem Hintergrund, dass wir ein Auge auf die kleinen und mittleren Banken haben, die vor Ort nicht nur Arbeitsplätze erhalten, sondern die sich vor Ort engagieren, die dem Sportverein den Trikotsatz sponsern und die gleichzeitig auch in der Covid-19-Krise die Türen offen gehalten haben, ohne dass jemand Angst haben musste, dass er kein Bargeld bekommt. ({0}) Lieber Herr Präsident, meine Uhr läuft nicht, aber ich gehe fest davon aus, dass ich so lange reden darf, bis die Uhr irgendwann läuft. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich sage dann Bescheid. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kein Problem. Sie geben dann sicherlich ein Signal. Ich habe noch ein bisschen was im Koffer. – Jetzt geht sie. Die Minute haben Sie mir geschenkt; das finde ich gut. Danke schön! Jetzt sagt die Opposition, gerade aus Richtung der Linken und auch von den Grünen, wir müssten mehr Eigenkapital vorhalten, wir müssten eine höhere Leverage Ratio vorhalten. ({0}) Ich will das gar nicht übersetzen. Aber vielleicht ist es wichtig, zu erwähnen: Was bedeutet denn Eigenkapital? Wie schafft denn heutzutage ein Kreditinstitut überhaupt Eigenkapital? Wenn wir wissen, dass zwei Drittel der Kosten in deutschen Kreditinstituten Personalkosten sind, dann ist der erste Hebel – das haben wir in den letzten Jahren gesehen – ein massiver Stellenabbau. Das muss man jedem Verdi-Mitglied sagen: Wer sein Kreuz bei der Linken macht und bei der Sparkasse arbeitet, ist dafür, dass demnächst sein Arbeitsplatz nicht mehr sicher ist. Mit mehr Eigenkapital in diesen Bereichen wird die Forcierung vorgenommen, dass deutlich mehr Arbeitsplätze abgebaut werden. Man kann natürlich auch anders Eigenkapital schöpfen, etwa indem man mehr Erträge erzielt. Aber wenn man noch mal Fritz Vogt nimmt, der Geld in der Raiffeisenbank Gammesfeld eingenommen und Kredite herausgegeben hat, dann ist das das Butter-und-Brot-Geschäft – davon leben die Sparkassen und Volksbanken –, dann ist es die Zinsmarge. Und die Zinsmarge – das wissen Sie selber – ist deutlich, deutlich geschrumpft. Deswegen bin ich auch sehr dankbar, liebe Kollegen der Großen Koalition, dass wir sehr konstruktiv waren und mit zehn Änderungsanträgen das gute Gesetz noch viel besser gemacht haben. Wir haben unser Augenmerk auf Proportionalität gelegt. Die Regelungen zur Eigenmittelzielkennziffer werden wir jetzt eins zu eins umsetzen. Wir haben gleichzeitig die Förderbanken im Blick, die neben Volksbanken, Sparkassen und Raiffeisenbanken sowie Privatbanken ein gesondertes System sind. Warum sind die Förderbanken so wichtig? Gerade in der Covid-19-Krise haben viele Unternehmerinnen und Unternehmer dort ihren Antrag gestellt, unter anderem, um Staatshilfen zu bekommen. Die Förderbanken spielen eine gesonderte Rolle. Deswegen bringen wir als Gesetzgeber – ich muss hier ein bisschen technisch werden – zum Ausdruck, dass sie weiterhin als anderweitig systemrelevante Bank gelten. Uns ist wichtig, dass der Standard BCBS 239 nicht angewendet wird. Förderbanken sind besondere Banken, und darauf wollen wir unser Augenmerk legen. ({1}) Strich darunter. Wir als Große Koalition sagen deutlich: kein Steuergeld mehr für Banken. Wir sagen deutlich: Wir haben natürlich das Eigenkapital im Blick, natürlich muss da mehr gemacht werden. Aber wir sagen auch: Es ist ein Unterschied, ob Fritz Vogt mit seiner kleinen Raiffeisenbank in Gammesfeld oder ob Herr Kopper als Vorstandssprecher der Deutschen Bank gemeint ist. Hier machen wir als Große Koalition einen großen Unterschied, lieber Kollege. Danke. ({2})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf. So lautet Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung, der direkt in Artikel 140 unseres Grundgesetzes übernommen wurde. Über 100 Jahre nach diesem Auftrag der Nationalversammlung und 71 Jahre nach dem erneuten Auftrag durch den Parlamentarischen Rat legen heute die Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen diesem Hohen Haus einen Entwurf eines Grundsätzegesetzes vor. Wir machen das, weil wir unseren Verfassungsauftrag ernst nehmen, den uns die Mütter und Väter der Weimarer Verfassung und des Grundgesetzes ins Stammbuch geschrieben haben, und wir nehmen ihn genauso ernst, wie alle anderen Artikel unseres Grundgesetzes, auf die sich diese Fraktionen im Hohen Hause so gerne berufen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Gesetzentwurf ist ein Kompromiss, ja, und er ist ein faires Angebot, das im Dialog mit den Kirchen über viele Monate und Jahre entstanden ist. Wir machen ein faires Angebot an die Kirchen. Sie haben die historische Chance, um auf Basis eines realistischen Kompromisses mit den Ländern individuelle und passgenaue Lösungen auszuhandeln. Wir machen ein faires Angebot an die Länder, um endlich rechtssichere Ablösegesetze mit den Kirchen abschließen zu können, und wir machen ein faires Angebot an die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die noch immer Lasten aus längst vergangenen Zeiten tragen müssen. Denjenigen, die aus der Kirche ausgetreten sind, können wir auch nicht erklären, warum sie über Umwege die Kirche mitfinanzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Das Wesen eines Kompromisses ist, dass keine Seite so wirklich zufrieden sein kann. Was aber nicht geht, ist, zu unserem Gesetzentwurf Nein zu sagen und selbst keinen Vorschlag vorzulegen. ({2}) Das richtet sich vor allem an die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Union. Herr Castellucci, Sie haben vor einem Jahr zu unserem Vorschlag gesagt, dass – Zitat – die Bundesländer kein Interesse an der Ablösung angemeldet hätten. Mit Verlaub: Das ist kein Argument. ({3}) Diese Ablösung steht nicht im Ermessen der Bundesländer; das ist ein Verfassungsauftrag. Wir Parlamentarier haben ihn umzusetzen, Herr Castellucci. ({4}) Herr Gröhe, Sie haben uns damals wissen lassen, dass die Ablösung keine vordringliche Aufgabe sei. Herr Gröhe, ich sage es einmal von Christ zu Christ mit dem Buch Kohelet: Alles hat seine Zeit. – Nach 100 Jahren ist es an der Zeit, Zahlungen von einer halben Milliarde Euro pro Jahr abzulösen. Wir wollen den Verfassungsauftrag ernst nehmen und keine weiteren 100 Jahre warten. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte ich mich nicht nur bei den Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen bedanken, dass es uns gemeinsam gelungen ist, diesen Kompromiss vorzulegen, sondern ich möchte mich auch bei einem ehemaligen Kollegen dieses Hohen Hauses bedanken, Dr. Stefan Ruppert, der unsere Debatte jetzt im Fernsehen verfolgt. Lieber Stefan, vielen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz, deine zahlreichen Gespräche mit den Kirchen, aber auch mit den Sprecherinnen und Sprechern der anderen Fraktionen. Ohne dich wäre dieser Entwurf so nicht möglich gewesen: Dafür vielen herzlichen Dank! ({6}) Heute liegt mit unserem Gesetzentwurf in diesem Haus zum ersten Mal ein fairer und vor allem realisierbarer Kompromiss vor. Nach hundert Jahren kann man zu Recht sagen: auch ein historischer. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Strasser. – Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Hermann Gröhe. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP, der Linken, von Bündnis 90/Die Grünen zu den Staatsleistungen an Kirchen und Religionsgemeinschaften hat ein Thema zum Inhalt, das in der öffentlichen Diskussion immer wieder mit großer Polemik angegangen wurde und wird, weil Staatsleistungen ganz schnell als Privilegien der Kirchen verunglimpft werden, ihr Charakter als Ausgleich für Enteignungen der Vergangenheit geflissentlich übersehen wird. Darauf folgt dann regelmäßig – auch das sei zugegeben – geradezu reflexhaft die Verteidigung des Status quo. Daher ist es mir ein Anliegen, zu Beginn dieser Debatte durchaus zu würdigen, dass Ihr Gesetzentwurf einen wichtigen Beitrag zu einer sachlichen Diskussion über einen notwendigen Schritt zur Umsetzung eines Verfassungsgebots darstellt. Ich hätte mir gewünscht, lieber Herr Strasser, Sie wären in Ihrer Rede nicht unnötig hinter die Sachlichkeit Ihres Gesetzentwurfs zurückgefallen; denn, ehrlich gesagt, eine Entschädigungsleistung als eine einem Nichtgläubigen nicht zumutbare Mitfinanzierung zu bezeichnen, wird der eigenen Beschreibung der Rechtsgrundlagen in Ihrem Gesetzentwurf in keiner Weise gerecht. ({0}) Dennoch sei der Gesetzentwurf in seiner Sachlichkeit gewürdigt, und auch von mir sei der Kollege Ruppert gegrüßt. Meine Damen und Herren, Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung und Artikel 140 des Grundgesetzes zielen auf die finanzielle Entflechtung von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Dieses Verfassungsgebot ist Bestandteil eines Regelungszusammenhangs, der gerade nicht auf eine laizistische, vollständige Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften zielt. Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz – in beiden Fällen war den Müttern und Vätern dieser Rechtsetzung die laizistische Ordnung, etwa in Frankreich, vor Augen – verbanden die Trennung von Staat und Kirche und die daraus gefolgerte religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates mit einem Bekenntnis zum öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen und zu einem Rahmen für die Mitwirkung der Kirchen und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Bereich, wie er beispielsweise für die Militär- und Anstaltsseelsorge, den Religionsunterricht oder die theologischen Fakultäten geschaffen wurde. Als CDU und CSU bekennen wir uns ausdrücklich zu diesem Leitbild partnerschaftlicher Kooperation. ({1}) Ohne die Beiträge der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum öffentlichen Leben wäre unser Gemeinwesen ärmer und wäre es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt schlechter bestellt. In diesem Geiste wollen wir die Ablösung von Staatsleistungen umsetzen. Das bedeutet, die Ablösung muss auf die Erfüllung der vollen staatlichen Pflicht zielen. Das erkennt Ihr Gesetzentwurf, indem er auf das Äquivalenzprinzip Bezug nimmt, ausdrücklich an. Ich sage das, weil es einen anderen Gesetzentwurf, den wir zu anderer Gelegenheit diskutieren werden, gibt, der eine bloße Beendigung von Staatsleistungen vorschlägt. Die Bewältigung früherer Enteignung durch eine neuerliche Enteignung beenden zu wollen, wäre geradezu absurd, meine Damen, meine Herren. ({2}) Die Ablösung betrifft in besonderer Weise das Verhältnis von Bund und Ländern. Deswegen erscheint es mir diskussionswürdig, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf einen konkreten Faktor benennen – das 18,6-Fache – und nicht einen Korridor für individuelle Lösungen durch die Länder vorschlagen, wobei ich anerkenne, dass der Faktor 18,6 zeigt, dass Sie es mit dem Äquivalenzprinzip ernst meinen. Ob es allerdings angemessen ist, den Ländern vor einer umfassenden Konsultation einen Zeitraum von fünf Jahren vorzuschreiben, halte ich für fragwürdig. ({3}) Deswegen glaube ich: Wir brauchen diese umfassenden Konsultationen; wir brauchen weitere Diskussionen. Ihr Gesetzentwurf gibt dazu weitere gute Gelegenheit. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Volker Münz. ({0})

Volker Münz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004835, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über 100 Jahren gibt es den Verfassungsauftrag, die sogenannten Staatsleistungen an die Kirchen zu beenden. Dieser Auftrag wurde bis heute nicht umgesetzt, obwohl die Religionsartikel der Weimarer Reichsverfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind. Dieser seit 1919 bestehende Verfassungsauftrag sollte endlich umgesetzt werden, meine Damen und Herren. ({0}) Staatsleistungen sind Zahlungen der Bundesländer von derzeit rund 550 Millionen Euro pro Jahr an die katholischen Bistümer und an die evangelischen Landeskirchen. Diese Leistungen gehen im Wesentlichen zurück auf Entschädigungen nach Enteignungen von Kirchengütern im Jahre 1803. Es geht nicht um die 12 Milliarden Euro Kirchensteuer – denn das sind Mitgliedsbeiträge – oder um Zuschüsse für Kirchenrenovierungen, Diakonie, Kindergärten und Ähnliches. Von den Gesamteinnahmen der Kirchen machen die Staatsleistungen nur rund 2 Prozent aus. Seit 217 Jahren werden Zahlungen an die Kirchen geleistet, die seit 100 Jahren beendet werden sollen. Es wird endlich Zeit, dies zu tun, meine Damen und Herren. ({1}) Denn es geht hier um die Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers und der Kirchen. Es geht um die Entflechtung von Staat und Kirche oder, wie Papst Benedikt gefordert hatte, um die Entweltlichung der Kirche. Nur durch die im internationalen Vergleich gute Finanzausstattung können sich die Kirchen Dinge leisten, die mit Kirche gar nichts zu tun haben, meine Damen und Herren. ({2}) So leistet sich zum Beispiel die EKD ein Gender-Institut und ein Schiff auf dem Mittelmeer, das Migranten nach Europa bringt. ({3}) Beide Amtskirchen mischen sich stark in die Politik ein. Eine Konzentration auf das Wesentliche, auf die eigentlichen Aufgaben der Kirche, auf Verkündigung und Seelsorge, wäre zum Vorteil für die Gläubigen, meine Damen und Herren. ({4}) Der Gesetzentwurf meiner Fraktion, der ja schon erwähnt wurde, sieht vor, dass nur noch bis zum 31. Dezember 2026 Staatsleistungen gezahlt werden, also noch sechs Jahresleistungen. Das sind noch rund 3,3 Milliarden Euro. Damit ist hinreichend Planungssicherheit gegeben. Der Entwurf der anderen Oppositionsfraktionen sieht vor, dass eine Summe in Höhe des 18,6-Fachen der aktuellen Jahresleistung als Einmalzahlung oder Ratenzahlung geleistet wird. Das wären rund 10 Milliarden Euro. Das halten wir nicht zuletzt wegen der angespannten Haushaltslage der Länder, die die Zahlungen ja aufbringen müssen, für überzogen. Der Faktor 18,6 entstammt dem Bewertungsgesetz und damit dem Steuerrecht. Dieses ist hier jedoch nicht anwendbar. Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Ablösebetrag zu zahlen ist, ist umstritten. Wir schließen uns der Rechtsauffassung an, dass der Staat die Kirchen mit den seit nunmehr über 200 Jahre lang geleisteten Zahlungen bereits vollständig für historische Enteignungen entschädigt hat. Wir werden dies sicher weiter in den Ausschüssen beraten. Ich hoffe, dass die Koalitionsfraktionen ihre Blockadehaltung aufgeben werden, damit der seit Langem offene Verfassungsauftrag endlich erfüllt wird. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Münz, bis jetzt haben wir alle gewusst, dass Sie muslimfeindlich sind. Seit dieser Rede wissen wir auch, dass Sie kirchenfeindlich sind. Ich hoffe, diese Rede haben viele gehört. ({0}) Bevor ich über die Staatsleistungen an die Kirchen spreche, möchte ich gerne über die Kirchenleistungen an den Staat sprechen. Es lohnt an dieser Stelle, den großen sozialdemokratischen Rechtsgelehrten Ernst-Wolfgang Böckenförde zu zitieren, der gesagt hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Diesen Satz sollten wir uns alle in diesem Parlament gut merken. ({1}) Wir haben ganz konkret zu danken für jede Stunde Singen im Chor, für jede Stunde Besuchsdienst, häufig bei Menschen, die sonst überhaupt keine Ansprache mehr haben. Wir haben zu danken für ein Schiff, das auf dem Meer Leben rettet, da, wo die Staatsleistungen ein kompletter Ausfall sind. ({2}) Für dieses Engagement haben wir den Kirchen zu danken. Unser Land wäre kälter, unser Land wäre ärmer ohne sie. ({3}) Ich sage das, weil wir zu unserem Thema immer wieder viel Post bekommen von Menschen, die mit Kirchen oder mit Religion nichts am Hut haben – das ist ihr gutes Recht –, die das aber in einer Weise betreiben, als wäre es eine Ersatzreligion, und dann alles Mögliche verrühren und zum Kirchenkampf aufrufen. Da will ich für meine Fraktion klar sagen: Wir sind kampferprobt, aber bei diesem Kampf muss man auf die SPD verzichten. ({4}) Bei dem, was miteinander verrührt wird, ist dann auch immer die Rede von der Kirchensteuer. An dieser Stelle sei klar gesagt: Heute geht es nicht um die Kirchensteuer; die Kirchensteuer ist der Mitgliedsbeitrag, und der Staat hat den Kirchen nur angeboten, dass diese Mitgliedsbeiträge über die Steuer erhoben werden können, ({5}) und kassiert dafür sogar Verwaltungsgebühren. Das ist nicht zu kritisieren. Die Kirchen selber müssen entscheiden, ob sie bei diesem Modell bleiben wollen. Aber ich erinnere an eine andere Debatte, die wir heute geführt haben: Da war die Frage, wie wir mit der Imam-Ausbildung weiterkommen. Das sage ich als ein Beispiel: Wenn wir wollen, dass Kirchen und Religion in diesem Land nicht dem Zugriff ausländischer Staaten unterliegen, dann müssen wir ihnen auch helfen, auf eigenen Füßen zu stehen, und möglicherweise ist die Kirchensteuer ein Modell, das auch für alle anderen Religionsgemeinschaften Pate stehen kann und mit dem wir werben können. Aber es geht hier um die Staatsleistungen an die Kirchen, etwa 500 Millionen Euro jedes Jahr. Auch hier ist gesagt worden: Wir haben einen Verfassungsauftrag, sie abzulösen. Aber gleichzeitig – und das sollten wir nicht vermengen – haben die Kirchen einen Anspruch auf diese Staatsleistungen. Es ist kein Privileg der Kirchen, dass sie Gelder bekommen, sondern sie erhalten diese Gelder aufgrund von Recht, weil sie im 19. Jahrhundert in Teilen enteignet worden sind, und in diesem Staat gilt selbstverständlich das Recht, auch in Richtung der Kirchen. Deswegen ist es auch keine so ganz einfache Sache, hier zu einer Lösung zu kommen. Wir haben Rechtsansprüche auf der einen Seite und das Gebot der Ablösung auf der anderen Seite.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Castellucci, der Kollege Münz würde gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das erlaube ich nicht. Hier möchte ich jetzt den drei Oppositionsparteien – der Linken, den Grünen und vor allem der FDP – danken. Denn ich glaube, wir sind durch die Vorlage Ihres Gesetzentwurfs tatsächlich weitergekommen – schauen wir mal, wie die Debatte heute noch weiter vonstattengeht –; denn zumindest in den genannten Parteien – CDU, CSU und wir – stellt niemand von uns mehr infrage, dass es diesen Anspruch gibt – ganz im Gegensatz zu dem, was wir von Herrn Münz gehört haben. Wenn jemand früher zur Miete wohnte und nach zehn Jahren Miete seinem Vermieter gesagt hätte: „Hör mal zu, ich zahle jetzt lange genug Miete, irgendwie reicht das jetzt; eigentlich habe ich das Recht, da zu wohnen, damit abgegolten“, dann hätte der mir doch auch gesagt: in Deutschland nicht. – Das gilt natürlich in Richtung Kirchen in gleicher Weise. Die Ablösung bedeutet, dass wir noch mal Geld in die Hand nehmen müssen, und nicht, dass bereits getilgt wäre. Über die Höhe, wie viel abgelöst werden muss, ist ja hier heute auch schon gesprochen worden. Dazu möchte ich sagen: Die Kirchen müssen mit dem Geld, das sie dann bekommen, in die Lage versetzt werden, die Einnahmen zu erzielen, die sie heute auch haben. Das nennt man Äquivalenzprinzip, und dieses Äquivalenzprinzip ist uns als Sozialdemokraten wichtig. ({0}) Ich würde dieses Äquivalenzprinzip auch in einen Gesetzentwurf hineinschreiben und mich nicht als Bundesgesetzgeber aufmachen, eine konkrete Zahl – Faktor 18,9 – in so einem Verfahren hier festzulegen, ({1}) sondern das ist aus meiner Sicht eine Aufgabe, die mit den Ländern verhandelt werden muss. ({2}) Das ist auch der Knackpunkt, warum wir heute nicht zustimmen können, und da spreche ich jetzt als Vertreter einer Partei, die immer noch die meisten Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten oder Regierenden Bürgermeister in diesem Land stellt. Von uns wird es selbstverständlich keine Gesetzgebung gegen die Bundesländer geben, sondern wir müssen bei diesem Gesetzgebungsvorhaben die Bundesländer mitnehmen. ({3}) Bei Ihnen kommt es mir so vor, als ob Sie eine Lokalrunde schmeißen wollen, und wenn alle besoffen sind, dann merken Sie plötzlich: Die, die die Rechnung zahlen wollten, sind ja schon längst aus der Kneipe verschwunden, und Sie müssen die Rechnung selber bezahlen. Das funktioniert so nicht. Wir brauchen hier jetzt eine Abstimmung –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Castellucci.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– und ein gutes Benehmen mit den Kirchen und mit den Bundesländern. Diese nächste Runde müssen wir miteinander noch drehen, und das wird dann auch die weiteren Beratungen nach sich ziehen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nachdem Sie den Kollegen Münz direkt angesprochen haben, erteile ich ihm das Wort zu einer Kurzintervention.

Volker Münz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004835, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, für das Wort. – Herr Castellucci, wir kennen uns ja nun auch schon ein paar Jahre. Ich finde es menschlich äußerst unanständig ({0}) – ja –, dass Sie mich als kirchenfeindlich bezeichnen. Sie wissen ganz genau: Ich bin der kirchenpolitische Sprecher, und wir waren oft bei Veranstaltungen dabei. Das ist schon, finde ich, ein starkes Stück. Wenn ich diesen Gesetzentwurf meiner Fraktion hier vertrete, dann geht es mir dabei, wie ich gesagt habe, insbesondere um die Glaubwürdigkeit der Kirche. Außerdem gibt es Kirchen und christliche Gemeinschaften, die kein Geld vom Staat bekommen, die keine Kirchensteuer einziehen und auch keine Staatsleistungen bekommen. Also, das muss man trennen. Ich bin Mitglied einer Landeskirche, und wenn ich meine Kirche kritisiere, dann deswegen, weil ich nicht möchte, dass sich meine Kirche unglaubwürdig macht. Ich habe auch gesagt: Es geht darum, dass die Kirche sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwendet und nicht Politik macht zum Beispiel. ({1}) Das kann die Kirche nur, weil sie diese Geldmittel zur Verfügung hat. Deswegen ist es durchaus angemessen, zu sagen: Was über 100 Jahre der Verfassungsauftrag ist, sollte endlich beendet werden, wegen der Glaubwürdigkeit der Kirche, und das ist auch meine Kirche. Danke. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Castellucci, der Kollege Strasser hätte auch noch eine Kurzintervention. Wollen Sie beide zusammen?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir können das nacheinander machen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bitte schön, dann haben Sie das Wort.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Münz, die eigentliche Aufgabe der Kirche ist die Liebe, und Ihre eigentliche Aufgabe ist der Hass, und das passt einfach nicht zusammen. ({0}) Sie haben gesagt, dass wir uns nun schon seit vielen Jahren kennen. Das habe ich leider nicht vermeiden können. Dabei ist mir im Übrigen aufgefallen, dass Sie auf Empfängen der Kirche, der katholischen wie auch der evangelischen Kirche, immer klatschen, wenn die Rednerinnen und Redner dort von Dingen sprechen, die ebendas zum Ausdruck bringen, was Kirche ausmachen soll – Menschenrechte, Menschenwürde, die gleiche Würde aller Menschen –, dass Sie aber hier Reden Ihrer Fraktionskollegen applaudieren, die das genaue Gegenteil zum Inhalt haben. Deswegen möchte ich sagen, dass ich Sie nicht nur in Ihren Reden hier für kirchenfeindlich halte, sondern auch für scheinheilig. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Strasser hat das Wort zu einer Kurzintervention.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Castellucci, nach Ihrer Rede bleibt man, ehrlich gesagt, etwas ratlos zurück, weil Sie im ersten Teil Ihrer Rede gar nicht zum Thema geredet haben und im zweiten Teil erst mal gesagt haben, was Sie alles nicht wollen bei der Ablösung der Staatsleistungen für die Kirchen. Deswegen müssen wir uns, glaube ich, noch mal diesem Henne-Ei-Problem widmen. Die Verfassung schreibt einen ganz klaren Weg vor: Der Bund stellt ein Grundsätzegesetz auf, die Länder machen ein Ablösegesetz. Jetzt kann man natürlich sagen: Wir machen das erst, wenn die Länder das wollen. – Das haben wir die letzten Jahrzehnte erlebt. Und die Länder sagen: Wir machen es erst, wenn der Bund ein Grundsätzegesetz vorlegt; erst dann können wir wirklich verhandeln. Deswegen ist die Frage: Was will die SPD? Was sind denn Ihre nächsten Schritte, damit wir nicht noch 100 Jahre auf die Ablösung dieser Staatsleistung warten müssen? Das ist in Ihrer Rede überhaupt nicht erwähnt worden: was Sie eigentlich wollen, wo die Kompromisslinie zu Ihnen ist. Ich habe immer nur gehört, Sie wollen nichts. ({0}) Das ist für mich keine Lösung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, bitte schön.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Strasser, in aller Kürze: Wir regieren in den Bundesländern in verantwortlicher Position. ({0}) Deswegen achten und respektieren wir auch die Arbeit in diesen Bundesländern und werden uns mit den Bundesländern ins Benehmen setzen müssen. Das unterscheidet unsere beiden Parteien; ich glaube, das kommt in dieser Debatte zum Ausdruck. Aber ich möchte Ihnen auch entgegenkommen und sagen, dass ich Herrn Ruppert in guter Erinnerung habe; denn als er zu der ersten Runde eingeladen hat, an der wir ja auch teilnehmen durften, hat er gesagt, er habe hier einem Gesetzentwurf der Fraktion der Linken nicht zugestimmt, weil er mit ihm unzufrieden war. Er hat dann aber, als er nach Hause gegangen ist, gesagt: Wenn man hier mit einem Vorgehen und einem Antrag unzufrieden ist und ihn ablehnt, dann ist man irgendwie auch selber in der Verantwortung, etwas vorzulegen. Dem stimme ich ausdrücklich zu. Einen solchen Gesetzentwurf für die SPD-Bundestagsfraktion habe ich längst in der Tasche, und den werden wir zu gegebener Zeit hier diskutieren können. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Christine Buchholz. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den gemeinsamen Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen. Dieser Gesetzentwurf ist wichtig, weil er die Trennung von Staat und Kirche auch finanziell umsetzen will. Bei den Staatskirchenleistungen geht es um historisch gewachsene Entschädigungen, die vom Staat als Ausgleich für die Enteignung von kirchlichen Ländereien und Gütern im frühen 19. Jahrhundert gezahlt wurden und immer noch werden. ({0}) Es wäre zutiefst ungerecht, wenn die Kirchen bis in alle Ewigkeit Gelder vom Staat erhalten sollen für Ereignisse, die mehr als 200 Jahre zurückliegen. ({1}) Auch deswegen enthielt die Weimarer Reichsverfassung von 1919 den Auftrag, diese Zahlungen abzulösen. Dieser Auftrag wurde ins Grundgesetz übernommen. Der Bund soll Grundsätze für die Umsetzung aufstellen. Das haben wir mit unserem Gesetzentwurf gemacht. ({2}) Die Länder müssen dann mit den Kirchen in ihrem Bundesland Verträge zur Umsetzung vereinbaren, und genau darum geht es, Herr Castellucci. Ich bin gespannt auf den Entwurf der SPD. Schade, dass er heute nicht zur Diskussion gebracht wurde. ({3}) Es wird Zeit, dass der Verfassungsauftrag erfüllt wird und die Staatsleistungen endlich abgelöst werden. Denn wenn man nichts tut, wie CDU/CSU und SPD bisher, dann kostet das ewig, und zwar Steuergelder. Das ist nicht hinzunehmen. ({4}) Die Linke setzt sich seit Jahren für eine Regelung ein. 2012 haben wir einen Gesetzentwurf eingebracht – das wurde eben schon erwähnt – und 2015 die Einsetzung einer Expertenkommission beantragt, die einen Vorschlag erarbeiten sollte. Beides wurde abgewiesen. Seitdem ist vonseiten der Parteien der Großen Koalition nichts passiert, und das kommt die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler teuer zu stehen. Momentan werden Staatsleistungen in Höhe von einer halben Milliarde Euro jährlich an die beiden großen christlichen Kirchen gezahlt. Seit unser Gesetzentwurf hier im Bundestag abgelehnt wurde, sind rund 4 Milliarden Euro geflossen. Deswegen haben wir gehandelt. Nach der letzten Bundestagswahl haben Konstantin von Notz und ich zusammengesessen, und bald war Stefan Ruppert von der FDP mit an Bord. Gemeinsam haben wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet. Wenn es nach der Linken gegangen wäre – das wurde schon gesagt –, wäre die an die Kirchen zu zahlende Ablösesumme deutlich geringer ausgefallen. Die Forderung aus dem Gesetzentwurf von 2012 bleibt unsere inhaltliche Position; ({5}) aber der jetzige gemeinsame Gesetzentwurf bietet eine Grundlage, auf die sich eine Mehrheit im Bundestag einlassen könnte. SPD und CDU/CSU müssen erklären, ob sie den Verfassungsauftrag weiterhin ignorieren und aussitzen wollen oder ob sie sich für eine Lösung starkmachen, die im Übrigen dem Gleichbehandlungsgebot gegenüber allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in unserer zunehmend plural geprägten Gesellschaft entspricht. Herr Gröhe, es ist gut, zu reden, aber ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das mache ich jetzt. – Handeln Sie jetzt! Wir sind bereit, Schritte mit Ihnen zu gehen, aber nur in die richtige Richtung. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Konstantin von Notz. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl keine Mühle der deutschen Gesetzgebung, die so langsam mahlt wie diese hier. Über 100 Jahre alt ist der Verfassungsauftrag nun, umgesetzt wurde er nie. Deswegen ist es gut, dass diese Baustelle nun endlich angegangen wird, und es ist gut, dass wir hier heute einen konkreten gemeinsamen Vorschlag aller demokratischen Oppositionsfraktionen haben, meine Damen und Herren. ({0}) Nach den vielen qualifizierten Beiträgen spare ich mir alle historischen Exkurse. Klar ist: Staat und Kirche haben in Deutschland eine bewegte Trennungs- und Beziehungsgeschichte. Wenn wir heute über unseren Gesetzesentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen sprechen, reden wir nicht über die Legitimität der Möglichkeit zur Erhebung von Kirchensteuern, die selbstverständlich bleibt. Wir rütteln auch nicht am bewährten, gerade in diesen Zeiten erfolgreichen verfassungsrechtlich gesicherten kooperativen Grundverständnis von Kirche und Staat in Deutschland. Uns geht es nur um die Ablösung der Staatskirchenleistungen, und das „nur“ in diesem Satz ist eine harte Untertreibung; denn seit 100 Jahren hat sich niemand gekümmert, nichts hat sich bewegt, nichts Belastbares wurde hingekriegt. ({1}) Ein Grundlagengesetz schafft Grundlagen. Wir zeigen einen machbaren, verfassungskonformen und angemessenen Weg auf. Wir wollen die Abhängigkeit der Kirchen von der staatlichen Abhängigkeit in diesem Bereich beenden, und wir wollen die staatlichen Haushalte entlasten; auch das ist richtig. Wir wollen keinen Kahlschlag bei Kirchen, kirchlichen Krankenhäusern, Schulen und Sozialeinrichtungen; denn sie sind ein wichtiger Teil der sozialen Infrastruktur dieses Landes, gerade in der Fläche. ({2}) Dafür will ich an dieser Stelle allen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Kirchen selbst sehr herzlich danken. ({3}) Wir haben den wichtigen Dialog mit den betroffenen Kirchen geführt. Für uns ist zentral, dass bei der Ablösung durch Geldleistungen das Äquivalenzprinzip zugrunde gelegt wird; das wurde vielfach gesagt. Wir stellen damit sicher, dass diese Ablösung verfassungskonform – verfassungskonform! – geschieht und keine illegitime Herabsetzung der wirtschaftlichen Grundlagen der Kirchen darstellt. In Richtung GroKo sage ich: Es ist eben nicht ein Zeichen der besonderen Solidarität mit den Kirchen, wenn wir dieses Abhängigkeitsverhältnis in diesem Punkt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufrechterhalten und unseren Verfassungsauftrag ignorieren. Lars Castellucci, ins Benehmen setzen ist immer gut, aber dafür hatten wir jetzt 100 Jahre Zeit. Es wäre einfach ein guter Zeitpunkt, das anzugehen und sich nicht nur ins Benehmen zu setzen. ({4}) Ich komme zum Schluss. Alles hat seine Zeit. Der Kollege Strasser hat es gesagt: Der Gesetzgeber sollte die Dinge regeln, wenn er es unbefangen und selbstbestimmt kann. Die Zeit ist jetzt. Ich danke der Kollegin Buchholz und dem Kollegen Strasser, und auch von mir gehen liebe Grüße an den Kollegen Ruppert. Geben Sie sich einen Ruck, Große Koalition! Kommen Sie endlich aus dem Knick! Dann kriegen wir das hin. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Philipp Amthor. Bitte schön. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier häufig über Verfassungsrecht. Aber ich gestehe zu: Es ist in der Tat besonders, dass wir über die Weimarer Reichsverfassung und über einen über 100 Jahre alten Verfassungsauftrag reden, nämlich über den in Artikel 140 Grundgesetz inkorporierten Auftrag zur Regelung der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen in Deutschland. Ich knüpfe gerne an das an, was der Kollege Hermann Gröhe schon gesagt hat – und das sage ich nicht oft –: Das ist wirklich ein guter und ein vernünftiger Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, und sicherlich eine passable Grundlage, über die wir reden können. ({0}) Vor der Ausschussdebatte möchte ich aber doch noch einige Anmerkungen zum Rechtsgrund der Staatsleistungen, zur Rolle des Bundes und zum Inhalt des Ablösungsgebots machen. Wenn wir über diese Staatsleistungen reden, ist es, glaube ich, wichtig, dass in dieser Debatte kein falscher Zungenschlag entsteht: Diese Staatsleistungen sind keine Geschenke und keine herkömmlichen Subventionen, sondern sie sind – das muss man so klar kommunizieren – verfassungsrechtlich geschuldete Entschädigungszahlungen des Staates. Diese Leistungen erhalten die Kirchen aufgrund von Vermögensverlusten, die sie im Zuge der Säkularisierung erfahren haben. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde heute schon genannt. Schon 1803 hat man sich für einen klugen Grundsatz entschieden, der heute immer noch im Grundgesetz verankert ist, nämlich dass es keine staatlichen Vermögenseingriffe ohne Entschädigungszahlungen gibt. Diesem zentralen Gedanken, dass man für Enteignungen entschädigt, müssen wir auch in der Rechtsnachfolge des Reiches folgen. Das ist unsere klare Überzeugung. Ich glaube, daran darf man auch nicht rütteln, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Frage ist – das führt dann ein Stück weit zu den Unterschieden –: Welche Rolle soll der Bund dabei übernehmen? Es wurde schon verschiedentlich gesagt: Wir reden heute auch über die Rechtsposition Dritter, nämlich über die Rechtsposition der Länder. – Am Ende schulden nicht wir als Bund diese Entschädigungszahlungen, und wir werden sie auch nicht zahlen, sondern das Grundgesetz und die Weimarer Reichsverfassung haben uns die Rolle eines neutralen Mittlers zugewiesen. Das heißt, wir müssen auch bedenken, dass die Länder bisher in keiner Weise ihren klaren Willen artikuliert haben. Erst dann, wenn dieser klare Wille artikuliert worden ist, wäre aus dem Bundesstaatsprinzip heraus eine Verpflichtung aus dem Prinzip der Bundestreue zu sehen, dass wir diese Regelung erlassen. Bis dahin ist es unser freies Ermessen, wann wir diese Regelung treffen und wann nicht. Wir müssen auch sehen, dass es in der aktuell durch Corona angespannten Haushaltslage auch andere Schwerpunkte in den Ländern gibt, als jetzt zwingend innerhalb der nächsten fünf Jahre diese Staatsleistungen mit einer Höhe von 10 Milliarden Euro zu regeln. Das müssen wir auch berücksichtigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Zum Inhalt des Ablösungsgebots wurde schon einiges gesagt. Ich finde es richtig, dass Sie sich zum Äquivalenzprinzip bekennen. Das ist dem Verfassungsrecht geschuldet, und das erkennen wir an. Aber man muss auch sagen: Es greift vielleicht etwas stark in die Position der Länder ein, wenn Sie den Ablösefaktor so konkret vorgeben wollen. Sie sprechen vom 18,6-Fachen des Jahreswertes und orientieren sich, um auf diese Zahl zu kommen, an dem Bewertungsgesetz. Das kann man tun. Aber Sie müssen auch bedenken, dass dieses Gesetz aus einer Zeit mit einem Zinsumfeld von 5 Prozent stammt und nicht aus unserer aktuellen Niedrigzinssituation. Deswegen glaube ich, dass der von Ihnen vorgeschlagene Faktor zu gering ist. Gerade als Abgeordneter aus Ostdeutschland sage ich Ihnen auch: Die Bedeutung der Staatsleistung ist in manchen Diözesen, in manchen Landeskirchen in Ostdeutschland durchaus höher. Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir hier eine solide Lösung finden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Damit sind Sie am Ende.

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht für uns darum, dass wir hier gemeinsam vernünftig diskutieren. Ich kann sagen: Das ist ein solider Antrag, und wir werden schauen, dass wir zu einer vernünftigen Lösung kommen. Ich freue mich auf die Diskussionen im Innenausschuss. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Philipp Amthor. – Einen schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist die zweite Runde für mich, und die dritte kommt bestimmt noch. Um es aber abzukürzen, wird es jetzt strenger mit den Redezeiten. Der nächste Redner ist Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung benannten Staatsleistungen sind eine Entschädigungspflicht des Staates für die Abgabe von kirchlicher, staatsrechtlich begründeter Herrschaft im Jahr 1803. Die Ursache liegt also nicht in der Religion an sich, sondern in der Aufgabe staatlichen Besitzes und staatlicher Herrschaft. Gerade weil von 1803 bis 1919 nichts passiert ist, hat die Weimarer Reichsverfassung diesen Anspruch in die Verfassung aufgenommen. Man möchte heute fast meinen, dass sich diese Ablöseverpflichtung der Staatsleistungen zu einer Art Institutionsgarantie gewandelt hat, weil beinahe 200 Jahre lang nichts passiert ist. Deswegen müssen wir sehr sorgfältig mit dieser Frage umgehen. Aber in der Tat: Es besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf die Staatsleistungen, und für uns als Gesetzgeber besteht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, sie abzulösen. Daran halten wir auch fest. Der entscheidende Punkt ist, wie hoch zunächst einmal diese Ablösungen zu bemessen sind. Die Konstruktion, dass das Reich oder der Bund die Grundsätze aufstellt und die Länder davon betroffen sind, ist deswegen gewählt worden, weil man verhindern wollte, dass die Länder aufgrund einer möglicherweise angespannten Haushaltslage im Jahr 1919 – möglicherweise auch heute – eine Entschädigungsregelung wählen, die unter dem Wert bleibt, den die Kirchen damals verloren haben. Deswegen ist es richtig – auch wegen der Einheitlichkeit der verfassungsrechtlichen Ordnung –, hier zu einer ordnungsgemäßen Bewertung zu kommen, die mir mit dem Faktor von 18,6 nach dem Bewertungsgesetz angemessen, fair und gerecht erscheint. ({0}) Dennoch sollten wir uns mit den Ländern ins Benehmen setzen, inwieweit diese einen Zeitplan aufstellen können, um diese Staatsleistungen abzulösen. Der Punkt ist: Wenn wir 500 Millionen Euro jährlich an Staatsleistungen an die Kirchen bezahlen, dann wäre es bei dem Faktor 18,6 im Prinzip nur zehn Jahre lang das Doppelte. Es ist insofern auch wichtig, dass wir eine zeitliche Abfolge für diese Ablösung hinbekommen. Deswegen meine Bitte, mit den Ländern zu sprechen. Was bleibt, ist Folgendes: Wir halten fest an dem Konzept der weltanschaulichen, religiösen Neutralität und auch an der Staatsferne der Kirchen; der Staat hat sich da nicht einzumischen. Aber wir haben auch das Konzept einer wohlwollenden Begleitung von Kirche und Staat. Uns ist nicht gleichgültig, wie sich die Menschen organisieren; deswegen wird diese Gesellschaft auch nach wie vor auf diese Prägungen setzen. Die Ablösung der Staatsleistungen bedeutet nicht, dass diese gewachsene Verbindung zwischen Staat und Kirche in Deutschland aufhört, sondern sie wird weiter vorhanden sein und noch wachsen. Deswegen: Lassen Sie uns über diese Fragen konstruktiv diskutieren. Herzlichen Dank. ({1})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003865

Frau Präsidentin! Lieber Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Strom aus Windenergieanlagen auf See durch unsere Steckdosen fließen soll, dann muss viel zusammenkommen. Da muss einer die Windenergieanlagen auf See erstellen und darin investieren. Da müssen die Leitung und der Anschluss bis hin zum Verbraucher geschaffen werden. Wir brauchen Behörden, die planen und genehmigen. Und wenn es zum Streit kommt, dann brauchen wir auch noch Gerichte, die diesen Streit lösen. Wie das alles zusammenpasst und wie damit klare Mengenvorgaben realisiert werden, das ist Gegenstand des Windenergie-auf-See-Gesetzes, das seit dem Jahr 2017 in Kraft ist und das wir heute noch besser machen. Wir setzen das Ganze noch konsequenter um. Wir erhöhen das Ausbauziel für die Offshorewindenergie von 15 Gigawatt auf 20 Gigawatt Leistung bis zum Jahr 2030 und setzen damit um, was die Bundesregierung im Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen hat. Zum ersten Mal verankern wir auch ein Langfristziel von 40 Gigawatt bis zum Jahr 2040. Damit setzen wir ein Signal, dass Deutschland weiterhin ein führender Markt in der Offshorewindenergie ist und bleiben wird. Das schafft Planungssicherheit für die Unternehmen. Das schafft auch gute Rahmenbedingungen für Wertschöpfung und Arbeitsplätze in unserem Land und hat deshalb auch eine industriepolitische Dimension. Das ist ausgesprochen wichtig. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie bitte. – Herr Kollege Linnemann, hier wird nicht fotografiert; das müssten Sie langsam wissen. Das gilt für alle. ({0}) – Ja, das sage ich immer wieder mal bei Ihnen, zu Recht, und dann gilt es für die anderen genauso. – Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. – Liebe Abgeordnete, es wäre übrigens nett, wenn Sie der Rednerin mal zuhören würden. Frau Winkelmeier-Becker, Sie sind dran.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003865

Ich hatte gerade die industriepolitische Wichtigkeit des Vorhabens unterstrichen. Mit dem Gesetz schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass diese vielen Aspekte zusammenkommen, um die Ausbauziele zu erreichen. Für die Ausschreibungen, die die Bundesnetzagentur ab dem nächsten Jahr durchführen wird, muss das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH, demnächst vorab tätig werden. In einem zentralen Verfahren muss das Bundesamt voruntersuchen, welche Flächen denn konkret in Betracht kommen. Damit wird dann auch Klarheit erzielt, auf welchen Flächen weiter geplant werden kann. Die Übertragungsnetzbetreiber müssen dann die Netzanbindungen umsetzen. Das Gesetz schafft die Grundlagen für diese Prozesse. Es fängt bei den erforderlichen Stellen und Mitteln an, die dafür bei den entsprechenden Behörden geschaffen werden müssen, und es erfüllt damit die Zusage der Bundesregierung aus der Offshore-Vereinbarung, die Minister Altmaier mit den Energieministern der Küstenländer, mit dem BSH, mit der Bundesnetzagentur und den Übertragungsnetzbetreibern im Mai dieses Jahres getroffen hat. Unser Ausschreibungssystem bietet damit auch weiterhin verlässliche und attraktive Bedingungen als Grundlage für diese erforderlichen Investitionen; denn die Bieter erhalten alle nötigen Daten der Voruntersuchungen, und sie erhalten, je nachdem, wie der Zuschlagswert dann aussieht, auch eine Förderung im Rahmen der gleitenden Marktprämie. Wir haben dafür auch den Höchstwert für Ausschreibungen angepasst, der ansonsten nach den letzten Ausschreibungen bei null gelegen hätte. Wir haben in diesem Zusammenhang auch den Umgang mit 0-Cent-Geboten in den zukünftigen Ausschreibungen intensiv diskutiert. Das Gesetz, wie es heute vorliegt, enthält dazu eine Evaluierungsklausel, die die erneute Prüfung im Jahr 2022 vorsieht. Im Fall mehrerer 0-Cent-Gebote wird bis dahin das Los entscheiden. Aus unserer Sicht ist wichtig, dass wir bei dem bewährten System der gleitenden Marktprämie bleiben. Die 0-Cent-Gebote aus den Übergangsausschreibungen belegen doch gerade den Erfolg dieses Fördersystems. Mit dem Gesetz erhöhen wir zugleich das Tempo. Wir werden zukünftig nicht nur das Jahr, sondern auch das konkrete Quartal der Inbetriebnahme von Offshorewindparks und Anbindungsleitungen festlegen. Dadurch wird der Ablauf besser koordiniert, und das ermöglicht dann auch, dass die entsprechenden Realisierungsfristen kürzer werden. Außerdem erweitern wir die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auf Klagen gegen die Offshoreanbindungsleitungen. Auch das wird deutlich dazu beitragen, dass wir die Verfahren verkürzen. Mit diesem Gesetz schaffen wir also die Grundlage für eine zunehmend bedeutende Funktion der Windenergie auf See zum Erreichen unserer Energie- und Klimaziele. Gleichzeitig trägt die Offshorewindenergie dazu bei, dass die Strompreise bezahlbar und die Stromversorgung sicher bleiben. Nicht zuletzt schaffen wir damit auch gute Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Deutschland und bringen so Wirtschaft und Klima zusammen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Winkelmeier-Becker. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Steffen Kotré. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Gesetz schaffen wir die Grundlagen für Umweltzerstörung und für die Verschleuderung von Volksvermögen. Windindustrieanlagen im Meer sind umweltschädlich. ({0}) Sie beeinträchtigen die Meerestiere, sie verändern die Ökosysteme und die Strömungen, und das in stärkerem Ausmaß als bisher gedacht. Ich zitiere einen Umweltschutzverband: Der Bau, Betrieb und die Wartung von Offshore-Windkraftanlagen sind mit schädlichen Auswirkungen auf Meeressäuger, Vögel, Fische und die Lebensgemeinschaften am Meeresboden … verbunden. … See- und Zugvögel werden beeinträchtigt. … Rast- und Nahrungsgebiete gehen verloren … Aber das scheint die Bundesregierung nicht zu interessieren. Sie haben ja auch gar kein Konzept für den Artenschutz, für den Naturschutz. Sie handeln damit umweltschädlich, und dies leider mit steigender Tendenz. ({1}) Meine Damen und Herren, nur noch mal kurz zur Verdeutlichung, warum das alles so geschieht: Sie wollen ja CO2 einsparen. ({2}) Wir wollen uns die Verhältnisse mal vergegenwärtigen. Beim weltweiten CO2-Ausstoß entfallen circa ein Drittel auf die USA, circa ein Drittel auf China und 1,9 Prozent auf Deutschland. Um diesen Ausstoß jetzt zu verringern, verschleudern wir insgesamt 2 Billionen Euro – 2 Billionen Euro! Das bedeutet, dass die Bundesregierung mit der Energiewende jedem Menschen hier in diesem Lande 25 000 Euro aus der Tasche zieht – 25 000 Euro für nichts und wieder nichts! Denn wenn wir die Rechnung machen, wie viel Temperaturerhöhung wir dadurch verhindern können, dann zeigt sich: Das sind wenige Tausendstel Grad. Also, für nichts und wieder nichts verschleudern wir hier Volksvermögen. Der Ausbau der Windenergieanlagen geschieht ohne Grundlage. Wir haben kein Fundament. Fundament wäre die Speicherfähigkeit; aber die haben wir nicht. Das ist so, als wenn Sie ein Haus ohne Fundament bauen würden. ({3}) Wir haben die Speicherfähigkeit nicht im großindustriellen Maßstab und vor allen Dingen nicht so, dass es ökonomisch sinnvoll ist. Wir brauchen am Tag 1,7 Milliarden Kilowattstunden elektrischen Strom. Den können wir natürlich in Lithiumbatterien speichern. Aber wenn wir das tun würden, dann würden wir hier zusätzlich Investitionskosten von 4,8 Billionen Euro haben: 4,8 Billionen Euro, 4 800 Milliarden Kilowattstunden. Damit würden wir dann diese Dunkelflaute von 14 Tagen abdecken können, ({4}) 200 Euro an Investitionskosten zur Speicherung für 1 Kilowattstunde. Aber das sind natürlich Irrsinnszahlen, und daran kann man erkennen, dass das gar nicht funktionieren kann. Dann kommt man auf die Idee, dass es Wasserstoff richten kann. Aber auch da brauchen wir exorbitante Kapazitäten an Elektrolyse, die wir gar nicht haben. Ich glaube, das sind auch noch mal 70 Terawattstunden, die wir in Form von Wasserstoff bevorraten müssten. Wir wissen, wir müssen 3 Kilowattstunden aufwenden, um anschließend 1 Kilowattstunde zu haben. Wir vernichteten im Prinzip zusätzlich 2 Kilowattstunden, wenn wir diesen Strom dort speichern wollten. Also, Wasserstoff ist in diesem großen industriellen Maßstab der Energieerzeugung für die Katz. Das ist Wolkenkuckucksheim, und das sind Luftschlösser, auf Sand gebaut, meine Damen und Herren. ({5}) Wenn sich die Politik und die Verantwortlichen weiterhin so wissenschaftsfrei und technikfrei bewegen und die Verdummung in unserem Lande weiter antreiben, dann reiben wir uns demnächst die Augen und finden uns in einem Entwicklungsland wieder. Deindustrialisierung hat im energieintensiven Bereich schon eingesetzt; das können Sie nachlesen. Wir haben die unsozialen Preise: 30 Cent. Das wird natürlich nur nach oben gehen. Legen Sie da noch mal 10, 15 oder 20 Cent drauf. Dann landen wir bei bis zu 50 Cent die Kilowattstunde, wenn das hier so weitergeht mit Ihrer Energiewende, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss. Sie sind deutlich drüber.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– die aber alles andere als vernünftig ist. Deswegen: Wir sollten wieder hin zur Energieversorgung des Marktes, weg von subventionierten Energieträgern. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zurück zum Thema. Das, was wir eben vom Vorredner hören mussten, ist sicherlich nicht das, was uns nach vorne bringt, sondern wir handeln auf der Basis internationaler Verträge, zum Beispiel des Pariser Klimaschutzabkommens. ({0}) Das scheint Sie nicht zu interessieren. Für uns ist das Richtschnur unserer Politik; wir fühlen uns da verpflichtet, und deshalb handeln die Bundesregierung und diese Große Koalition genau auf dieser Basis. Es gilt, dem Klimaschutz gerecht zu werden. Genau dieses Gesetz, das wir hier beraten und heute beschließen wollen, betrifft den Bereich, den wir mit der Offshorewindenergie ausbauen, und zwar in erheblichem Maße. Zurzeit sind diese Technologien international am Start, und Deutschland kann einen enormen Beitrag leisten, weil wir national jetzt dafür den Rahmen schaffen, 40 Gigawatt bis 2040 auszubauen. Im Moment sind 7,7 Gigawatt installiert. Bis zum Jahr 2030 wollen wir den Zwischenschritt vollziehen und 20 Gigawatt bei uns installieren. Dies ist also ein erheblicher Beitrag, womit wir Planungssicherheit, Investitionssicherheit für neue Technologien, für industrielle Strukturen, die dort entstehen, schaffen. Deshalb ist das etwas, meine Damen und Herren, womit wir uns dem 65-Prozent-Ziel bis 2030 auf jeden Fall weiter nähern. ({1}) Das Windenergie-auf-See-Gesetz erzeugt Rahmenbedingungen dafür, dass wir die Technologie dort in Nord- und Ostsee bauen, wo der Wind am meisten weht. Deshalb sind es sehr hohe und effiziente Anlagen, die dort an den Start gehen. Wir haben verhindert, dass mit diesem Gesetz eine zweite Gebotskomponente eingeführt wird. Diese zweite Gebotskomponente wäre immer bei 0-Cent-Geboten zum Einsatz gekommen, um zu differenzieren und auszuwählen. Wir haben entschieden, dass mit diesem Gesetz eine zweite Gebotskomponente nicht eingeführt wird, weil das die Anlagen verteuert hätte, weil das die Projekte und damit den Strom für die Verbraucherinnen und Verbraucher verteuert hätte. In der parlamentarischen Beratung ist es gelungen, diese Komponente rauszunehmen. ({2}) Wenn wir uns auf internationaler Ebene umschauen, sehen wir, dass zum Beispiel Großbritannien die Offshoreenergie stark ausbaut. Großbritannien erreicht das 40-Gigawatt-Ausbauziel übrigens schon 2030. Die Briten machen das über das Modell „Contract for Difference“. Wir regeln das über eine Klausel im Gesetz. Wir sehen ein Monitoring vor, sodass wir in den nächsten zwei Jahren schauen können, wie sich der Markt entwickelt. Wir haben sicherlich die Möglichkeit, diese Komponente auch im weiteren Verlauf ins Gesetz aufzunehmen. Wir schaffen bzw. sichern damit industrielle Strukturen und sichere Arbeitsplätze an den Küsten. Wir tragen dem Umweltschutzgedanken Rechnung, und vor allen Dingen sorgen wir für Realisierungssicherheit bei diesen Projekten. Sonst wäre im Zuge einer Ausschreibung womöglich ein Projekt zwar bezuschlagt worden, aber es hätten große Risiken für die Realisierung bestanden. Mit diesem Konzept ist es gelungen, diese Planungs- und Investitionssicherheit herzustellen. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz gute Rahmenbedingungen und eine gute Basis für den weiteren Ausbau der Windenergie schaffen, auch mit Blick auf die Einspeisung der offshore erzeugten Energiemengen in das Stromnetz und mit Blick auf die Erzeugung von Wasserstoff, vielleicht sogar schon auf See. Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetz zuzustimmen. Das ist ein gutes Gesetz, das Perspektiven für Innovationen und Investitionen schafft. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bernd Westphal. – Die nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin, vielleicht weil ich Deutsch-Französin bin, aus tiefstem Herzen Europäerin. Deswegen freut es mich immer wieder besonders, wenn europäische Länder gemeinsam Projekte vorantreiben. Dafür ist für mich die Windenergie auf See ein Paradebeispiel, weil sie zeigt, wie Energiepolitik europäisch gedacht in der Praxis aussehen kann. Schon heute haben wir Windparks in der Nordsee und in der Ostsee, die ein enormes Potenzial aufzeigen. Windenergie auf See hat einen ganz großen Vorteil: Die Menschen akzeptieren sie dort deutlich besser als Windkraftanlagen an Land. ({0}) Und so sage ich auch ganz klar: Offshore muss vor onshore stehen. Bei der Windkraft an Land haben wir vielerorts die Schmerzgrenze der Menschen erreicht. Den weiteren Ausbau sehe ich sehr kritisch. Offshore hingegen leistet einen erheblichen Beitrag, um uns sicher mit Energie zu versorgen. Deshalb begrüßen wir Freien Demokraten, dass sich die Koalition jetzt endlich geeinigt hat, dass es Klarheit beim weiteren Ausbau gibt, auch wenn wir an der Einigung einiges zu kritisieren haben. Ich werde nicht müde, zu sagen: Die deutsche Energiewende muss viel stärker europäisch gedacht werden, und sie muss sich vor allen Dingen dem europäischen Klimaschutz widmen. Deswegen, Herr Altmaier, nutzen Sie die deutsche Ratspräsidentschaft! Lange dauert sie nicht mehr. ({1}) Bringen Sie die europäische Energiewende voran, und machen Sie sich vor allen Dingen für die Ausweitung des europäischen Emissionshandels stark. ({2}) Isolieren Sie uns hier in Deutschland nicht weiter mit Ihrer national ausgerichteten Energiewende. Herr Altmaier, ich muss Sie noch mal ansprechen: Isolieren Sie uns auch nicht bei den Energiepreisen. ({3}) Ein französischer Mittelständler zahlt mittlerweile nur noch die Hälfte von dem, was ein deutscher Unternehmer auf der Stromrechnung hat. Das ist staatlich verursachte Wettbewerbsverzerrung, die Sie abstellen können. ({4}) Die Windenergie auf See ist ein schönes Beispiel, wie die Energiewende insgesamt funktionieren kann: Wir haben Strom, der vor der Küste produziert wird, er wird mit einem vernünftigen Netzausbau zum Verbraucher gebracht, und über Ländergrenzen hinweg entstehen immer neue Projekte, von denen wir gemeinsam profitieren können. Das heißt, die Produktion, die Speicherung und der Transport von Energie werden so immer effizienter. – Da muss doch die Reise hingehen, meine Damen und Herren. Deshalb fordern wir Freien Demokraten Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass Deutschland ein Signal Richtung Europa setzt, und bauen Sie eine Energiepolitik mit einer Brücke nach Europa. Ich glaube, damit ist uns allen geholfen, Herr Altmaier. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In 2020 hatten wir bis jetzt mehr als 50 Prozent Ökostrom im gesamten deutschen Stromnetz. Erinnern Sie sich noch an die 1990er-Jahre, in denen die deutschen Energiekonzerne großformatige Anzeigen geschaltet haben, mit denen sie gesagt haben: „4 Prozent Ökostrom, und in Deutschland gehen die Lichter aus und die deutsche Wirtschaft bricht zusammen“? Heute wissen wir: Das war pure Propaganda; denn die Energiekonzerne wollten ihre Profite retten. Die Geschichte der erneuerbaren Energien in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, und das ist gut so. ({0}) Doch wenn wir die Klimaziele einhalten wollen, müssen wir die Erneuerbaren viel schneller als bisher ausbauen. Dafür brauchen wir nicht nur die Solarenergie und die Windkraft an Land. Nein, wir brauchen auch die Windkraft in Nord- und Ostsee. Deshalb begrüßen wir als Linke ausdrücklich, dass die Bundesregierung ihre Ausbauziele für Windkraft auf See für 2030 und 2040 deutlich erhöht. ({1}) Wir sagen auch: Die Offshorewindenergie leistet einen wichtigen Beitrag für die Versorgungssicherheit bei uns in Deutschland; denn der Wind weht auch dann auf dem Meer, wenn wir an Land vielleicht längst Flaute haben. Deswegen ist sie so wichtig. Auf der anderen Seite haben wir in Nord- und Ostsee große Nutzungskonflikte, beispielsweise mit dem Schiffsverkehr, der Fischerei oder auch dem Militär. Meeresschützerinnen und Meeresschützer sagen uns, dass Nord- und Ostsee bereits jetzt deutlich überlastet sind. Deshalb sagen wir als Linke: Wir brauchen auch eine Antwort auf diese Naturschutzaspekte. Wir müssen Nord- und Ostsee auch für kommende Generationen erhalten. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Wir wollen zum einen den Schiffsverkehr in diesen Regionen reduzieren, und wir müssen selbstverständlich auch eine Reduzierung des Militärs in diesen Regionen haben. ({2}) Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Militär einer der größten Klimazerstörer ist. Deshalb ist es gut, wenn wir die militärische Präsenz in Nord- und Ostsee reduzieren. Wir sagen aber auch: Der Netzanschluss und der Netzausbau, der für die Offshorewindenergie notwendig ist, wird von der Allgemeinheit finanziert, auch über die Strompreise. Die Netze sind in der Hand von vier großen Netzbetreibern in Deutschland. Diese Netzbetreiber sind private Monopole, und sie haben garantierte Gewinne. Das ist eine Folge des Privatisierungswahns in den 1990er-Jahren. Das war ein fataler Irrweg. ({3}) Deshalb sagen wir als Linke: Folgen wir doch einfach dem Beispiel Dänemarks. Dänemark macht es klüger – es liegt übrigens bei der Energiewende mittlerweile weit vor Deutschland –: In Dänemark sind die Netze zu hundert Prozent in der Hand des Staates. Also, verstaatlichen wir die Stromnetze, ({4}) und verstaatlichen wir die Stromnetzbetreiber! Für die Energiewende der vielen, demokratisch und gerecht! Keine Energiewende der Konzerne! Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Julia Verlinden. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch eine kurze Ergänzung zu meinem Vorredner: Auch der Rohstoffabbau in Nord- und Ostsee muss dringend reduziert werden. ({0}) In der zukünftigen, klimagerechten Energiewelt wird Energie deutlich effizienter genutzt, der Energiebedarf sinkt. Weil immer weniger Kohle, Öl und Erdgas verbrannt werden, steigt aber selbst bei höherer Energieeffizienz gegenüber heute der Bedarf an sauberem Strom: für Elektromobilität, Wärmepumpen, Grünen Wasserstoff. Deshalb brauchen wir neben dem Ausbau von Solar- und Windenergie an Land natürlich auch mehr Windstrom vom Meer. Das ist nachhaltig und klimaverträglich. Nun legen Sie von der Bundesregierung ein Gesetz vor, das den Ausbau der Offshorewindenergie voranbringen soll. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass darin ja immerhin ein Punkt in die richtige Richtung geht: Sie haben hier nämlich Ihre eigenen, bisher viel zu niedrigen Ausbauziele für die Windenergie auf See angehoben. Statt bisher 15 Gigawatt sollen es bis 2030 immerhin 20 Gigawatt werden, und zehn Jahre später doppelt so viel. Doch wie das mit Zahlen so ist: Sie muss man ins Verhältnis setzen, um sie zu bewerten. Und dann kommt das wahre, ernüchternde Bild zum Vorschein, das diese Regierung seit Jahren bei der Energiewende abgibt. 2014 nämlich erst hatte diese Koalition aus Union und SPD hier im Bundestag das Ausbauziel für Windenergie auf See für das Jahr 2030 von 25 Gigawatt auf 15 Gigawatt reduziert. ({1}) Mit der im heute vorliegenden Gesetzentwurf neuen Zielmarke von 20 Gigawatt bleiben Sie also noch weit unter der Messlatte, die vor sieben Jahren schon einmal galt. Sie scheinen eingesehen zu haben, dass Sie damals einen Fehler gemacht haben. Sie haben wichtige Investitionen in ein stabiles und zukunftsfähiges Energiesystem verzögert, und nun hoffen Sie, dass die Unternehmen flexibel genug sind, milliardenschwere Projekte auch kurzfristig noch umzusetzen. Die Offshorewindenergie kann dauerhaft gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen und den Klimaschutz ein gutes Stück voranbringen. Doch dafür braucht sie verlässliche, rechtssichere und naturverträgliche Rahmenbedingungen für Planungssicherheit, ({2}) und nicht so ein Hin und Her wie bei Ihnen. Wie begrenzt das Engagement der Union für die Klimaschutzindustrie ist, haben wir auch in der Diskussion über die Finanzierung erlebt. Mit den Differenzverträgen lag für dieses Gesetz ein wirklich guter Vorschlag auf dem Tisch. Von Umweltverbänden über die Windbranche bis hin zu Industrievertretern waren alle dafür; doch die Union hat trotzdem mal wieder ihr Veto eingelegt und diese kostengünstige und kalkulierbare Lösung für die Finanzierung blockiert. Sehr, sehr schade! ({3}) Meine Damen und Herren von der Union, lassen Sie die Investoren nicht länger im Unklaren, wie und wann sie ihre Milliarden in die Energiewende stecken dürfen; wir haben wahrlich keine Zeit mehr zu verlieren. Und um auf die kommenden Wochen zu schauen: Wenn Sie nun festgestellt haben, dass man eigentlich die erneuerbaren Energien doch schneller ausbauen sollte, als Sie das in den letzten Jahren geplant hatten – herzlichen Glückwunsch! –, dann nehmen Sie diese Erkenntnis doch bitte auch mit in die jetzt aktuellen Beratungen zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. Denn es ist für die Arbeitsplätze, für die Investitionen, für das EU-Klimaziel, für die künftigen Generationen, für alle besser, wenn Sie jetzt direkt schon einen schnelleren Ausbau auch von Wind an Land und Sonnenenergie vorsehen und damit Planungssicherheit den vielen Menschen geben, die bei der Energiewende mitmachen wollen. Denn einen schnelleren Ausbau von Erneuerbaren wird es doch sowieso brauchen. Die fortschreitende Klimakrise wird die Regierung zum Handeln zwingen. Also, nur Mut: Die richtige Zeit zum Handeln ist jetzt! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Julia Verlinden. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wind offshore ist ein wichtiger Teil der Energiewende und ein wichtiger Teil der jetzigen, aber vor allem auch der zukünftigen Energieversorgung. Das sage ich als Bayer auch aus voller Überzeugung. Wir haben es hier schon in einigen Beiträgen gehört: Es ist kaum zu leugnen, dass der Wind – zumindest der physische – an der Küste und auf See etwas heftiger bläst als in Bayern oder anderen Gegenden der Republik. ({0}) Deshalb wollen wir hier einen günstigen Ausbau und wirtschaftliche Investitionen in Erneuerbare für alle Beteiligten. Wir liefern also, und wir erhöhen die Ziele kräftig, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Momentan liegt die Kapazität im Offshorebereich bei etwa 7,5 GW; das macht ungefähr 5 Prozent des jährlichen Strombedarfs in Deutschland aus. 2030 wird die Nennleistung bereits 20 GW betragen, also etwa 10 bis 15 Prozent des jährlichen Strombedarfs. Und 2040 werden wir mit 40 GW etwa 30 Prozent des Stroms aus dem Offshorebereich decken. Das ist ambitioniert, das ist aber auch machbar. Wir brauchen aber immer auch umsetzbare Projekte, Julia Verlinden. Deswegen sind das eine die umsetzbaren Projekte und das andere die entsprechenden Ziele. Wir brauchen natürlich auch einen Leitungsausbau. ({2}) Es wäre wirtschaftlich nicht sinnvoll gewesen, wenn wir irgendwelche Projekte realisiert hätten, ohne die entsprechenden Leitungen zu haben. Während vor zehn Jahren noch 19,4 Cent pro Kilowattstunde bezahlt werden mussten, liegt der Höchstgebotspreis jetzt bei 7,2 Cent. Wir sehen aber auch Ausschreibungen zu 0 Cent, wie ja bekannt ist. ({3}) Wir schaffen also mit dem vorliegenden Gesetz Verlässlichkeit für die Hersteller, für die Projektierer, aber vor allem auch für die Stromkunden und die Gesamtwirtschaft, und das ist ein wichtiges Signal, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Natürlich ist neben dem Leitungsanschluss auch die Weiterleitung, der Netzausbau an Land, wichtig. Wir brauchen die Stromleitungen, und wir brauchen die Stromleitungen schnell. Deshalb beinhaltet der Gesetzentwurf auch beschleunigende Aspekte hinsichtlich der Planung der Offshoreanbindungsleitungen. Hier werden die Verfahren letztlich verkürzt. Auch das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Offshore hat auch eine industriepolitische Komponente. Viele deutsche Unternehmen sind Weltmarktführer und haben Zugang zu allen Märkten auf der Welt. Das globale Wachstum in diesem Bereich beträgt jährlich circa 20 Prozent. ({5}) Die Branche erwartet global bis 2040 jährliche Investitionen in Windprojekte sowohl auf On- als auch auf Offshoreebene, also an Land und auf See, in Höhe von jährlich 178 Milliarden Dollar. Die Offshoreinstallationen steigen global von jährlich 6 GW im Jahr 2025 auf 25 GW im Jahr 2030. Deutschland kann und Deutschland muss von diesem Wachstum profitieren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Dr. Nestle?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. Sie ist auch nur ganz kurz. – Habe ich es richtig verstanden, dass Sie sagen, in 2040 würden Sie mit 40 GW Offshore 30 Prozent des Strombedarfs decken? Und heißt das, dass Sie überhaupt nicht von einem steigenden Stromverbrauch ausgehen, auch nicht bis 2040?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, das ist die jetzige Einschätzung. Wir gehen allerdings im Gegensatz zu Ihnen davon aus, Energieeffizienzen heben zu können. Wir wollen die Energieeffizienz erhöhen, wir wollen beim Stromverbrauch insgesamt effizienter werden. ({0}) Insofern ist das eine tragbare Schätzung, die den aktuellen Gegebenheiten entspricht und die auch durchaus realistisch ist. Also circa ein Drittel des Strombedarfs 2040 aus Offshorewindenergie – das ist eine realistische Schätzung. Sollte sich daran was ändern, können wir die Stellschrauben entsprechend anpassen. Aber Sie haben mich da richtig verstanden: circa 30 Prozent; das wird auch vom Wirtschaftsministerium entsprechend beziffert. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut, vielen Dank. – Es geht weiter mit der Rede.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie gesagt: Wind offshore ist eine beeindruckende Technologie. Wir in Deutschland können davon profitieren. Es ist ein Wachstumstreiber. Davon profitieren Unternehmen im Land, aber natürlich schafft es auch hochqualifizierte Arbeitsplätze. Wenn man sich diese Technologie etwas näher anschaut, dann beeindruckt beispielsweise ein Projekt in den Niederlanden. Dort wurde eine 14-Megawatt-Turbine mit einem Rotordurchmesser von 222 Metern installiert. Das ist Hochtechnologie made in Germany, und das wollen wir natürlich auch in Deutschland umsetzen. Wir profitieren also ökonomisch, aber auch ökologisch, da wir einen Beitrag zur Erreichung der Ziele leisten. Deshalb wollen wir auch den sogenannten Eingriffsausgleich für Offshorewindenergie dauerhaft aussetzen. Das stärkt die Fischerei vor Ort, das stärkt aber auch die Akzeptanz insgesamt. Wir schreiben weiterhin aus. Der Zuschlag erfolgt entsprechend den abgegebenen Geboten für die Einspeisevergütung. Wir glauben, dass es das richtige Instrument ist, dass der Wettbewerb entscheidet, welches Gebot zum Zug kommt. Wir verzichten überdies auf die zweite Gebotskomponente. Das Ganze werden wir 2022 evaluieren. Es ist ein gutes, es ist aber auch ein wichtiges Gesetz. Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Lenz. – Jetzt kommen wir vom tiefen Süden in den hohen Norden. Letzter Redner in dieser Debatte: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erste Botschaft vorweg: Wir heben unsere Offshoreziele an, und zwar deutlich: 5 Gigawatt zusätzlich bis 2030 auf dann 20 Gigawatt, und wir wollen 40 Gigawatt in 2040 erreichen. Ich glaube, das ist eine gute Botschaft; die muss vorab erwähnt werden. ({0}) Ich will an dieser Stelle auch erwähnen, dass 1 Gigawatt Offshore nicht gleich 1 Gigawatt PV ist, sondern die Strommenge insgesamt ist viel höher als die Nennleistung. 1 Gigawatt Offshoreenergie entspricht ungefähr 2 Gigawatt Onshoreenergie oder 4 Gigawatt PV-Energie, und von daher ist das heute eine doppelt und dreifach gute Botschaft. ({1}) Es ist auch ein starkes Signal, liebe Kolleginnen und Kollegen, für den Ausbau der Erneuerbaren. Ich würde mich freuen, wenn es uns gelingt, das auch im Einklang mit den anderen europäischen Anrainern der Nordsee und der Ostsee – Frau Weeser, Sie haben darauf hingewiesen – ein Stück weit miteinander zu vernetzen. Man muss auch dazusagen, dass der Strombedarf für die Elektrolyseure aus der Wasserstoffstrategie noch gar nicht eingerechnet ist. Das heißt, wir brauchen noch mal 5 Gigawatt und müssen – ich hoffe, noch in dieser Legislaturperiode – eine verlässliche Antwort darauf finden, wie wir diese 5 Gigawatt tatsächlich mit Erneuerbaren darstellen wollen. ({2}) Wir geben der Branche, liebe Kolleginnen und Kollegen, Planungsperspektiven und ‑sicherheit, und die sozialdemokratische Fraktion hat dabei vor allen Dingen an die vielen Beschäftigten gedacht, die in der Offshorebranche um ihren Arbeitsplatz bangen mussten, so wie einige in der Onshorebranche auch. Diese Beschäftigten haben Zuverlässigkeit und Sicherheit verdient. ({3}) Wir halten damit Investoren in Deutschland und reizen das auch an; denn wir haben für gleiche Finanzbedingungen gesorgt – das, was man neuerdings auf Neudeutsch Level Playing Field nennt. Die SPD war nicht einverstanden mit der zweiten Gebotskomponente. Wir sehen mit dem Vorschlag steigende Investitionskosten verbunden, weil einfach die Finanzierung von Offshoreparks viel, viel teurer wird, weil das Risiko größer ist. Dadurch sehen wir auch Realisierungsrisiken, die wir uns nicht erlauben können. Wir müssen jetzt langsam mal PS auf die Straße bringen oder, wie wir das sonst in anderem Kontext sagen, einen Wumms für die erneuerbaren Energien erzeugen. Und wir sahen rechtliche Probleme. Für uns wäre ein Modell besser gewesen, das den Investoren auf der einen Seite Sicherheit gegeben hätte, auf der anderen Seite aber erstmalig auch die Möglichkeit einer Entlastung des EEG-Kontos mit sich gebracht hätte. Das haben wir jetzt nicht geschafft. Die Ausschreibungen werden in den nächsten zwei Jahren nach dem alten Verfahren laufen. Das ist auch nur möglich, weil wir das System für die Höchstpreisregelung verändert haben. Ich würde mir wünschen, dass die Evaluation in zwei Jahren auch noch mal den europäischen Aspekt betrachtet: „Wie machen das die anderen Mitgliedstaaten in Europa eigentlich?“, und dass wir dann nach der Evaluierung ein neues Ausschreibungsdesign auflegen können. Ich bedauere, dass wir keine Regelung für das Küstenmeer haben aufnehmen können. 20 Gigawatt in der Ausschließlichen Wirtschaftszone bis 2030 sind ambitioniert, und die Potenziale der Küstenmeerregion hätten uns wirklich geholfen. Vielleicht denken wir noch mal darüber nach, wenn wir über die EEG-Novelle miteinander verhandeln. Es gilt in der Energiepolitik wie allgemein im Leben, wie wir in Ostfriesland sagen würden: Tellt blot, wat skiert word. – Oder übersetzt, Frau Präsidentin, auf Schlau: Es reicht nicht das Erzählte, es zählt nur das Erreichte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute die Anpassung und Erhöhung der Grundsicherungsleistungen in Deutschland und damit auch die Erhöhung des Steuerfreibetrags. Zusätzlich zu den Kosten der Unterkunft, das heißt für Miete, Heizung und Warmwasser, erhalten Alleinstehende statt heute 432 Euro dann 446 Euro. Für Kinder zwischen 14 und 17 Jahren erhöhen wir den Regelsatz sogar um 45 Euro. Und erstmalig berücksichtigen wir Ausgaben für die Handynutzung. Ich sage: Man kann immer vieles besser machen. Und so, wie wir die Grundsicherung aktuell in der Krise angepasst haben – mit der vollen Übernahme der Wohnungskosten und der Akzeptanz von Vermögen und Altersvorsorge –, ist sie schon deutlich besser geworden. ({0}) Auch das will ich ganz zu Beginn sagen: Es ist keine Schande, auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Jeder und jede kann in Not geraten, und es ist das gute Recht von Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie in Not sind, dieses soziale Recht in Anspruch zu nehmen. Und niemand muss sich dafür schämen. ({1}) Grundlage für die Berechnung dieser Grundsicherungsleistungen sind die Ausgaben unterer Einkommen. Diese statistische Grundlage ist über die Fraktionen hinweg unbestritten. Es gibt aber an der Aufbereitung viel Kritik, und den für mich wichtigsten Punkt möchte ich erwähnen. Die Grundidee ist, dass man jeweils die Durchschnittswerte der verschiedenen Ausgaben für verschiedene Dinge nimmt. Damit hat man einen Bedarf insgesamt abgebildet; und anders als bei einem Warenkorbmodell, wo man Butter, Milch und Käse addiert, kann über diese Durchschnittswerte auch ein veganer Haushalt abgebildet werden, weil alle innerhalb der Gesamtheit der Ausgaben ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen. Dieses Prinzip ist klug und richtig, weil Menschen eben unterschiedliche Prioritäten und Lebensgewohnheiten haben. Was ein Problem wird, ist, wenn man aus diesem klugen Modell Dinge streicht, von denen man glaubt, dass Menschen sie nicht brauchen oder nicht brauchen dürfen. Wir streichen den Weihnachtsbaum, Bier, Schnittblumen, Unterhalt für ein Auto. Es wird angenommen, dass alle mit Bus, Bahn oder Fahrrad fahren. Das mag Möglichkeiten in großen Städten widerspiegeln; der Lebensrealität auf dem Land entspricht es aber nicht. ({2}) Ich schaffe durch die Streichungen – nicht nur auf dem Land – eine soziale Gruppe, die so nicht mehr wirklich in der Lage ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – erst recht nicht, wenn sie lange in Grundsicherung lebt –, und die sich so auch vom Arbeitsmarkt entfernt; und das ist nicht gut so. Zur Wahrheit gehört aber eben auch: Würden alle Ausgaben berücksichtigt, die bisher nicht berücksichtigt werden, dann wären das Mehrausgaben von fast 30 Milliarden Euro jährlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir mehr Leistungen bei der Grundsicherung, dann muss das also eingebettet werden in eine größere Sozialstaatsreform, wie wir sie in unserem Sozialstaatskonzept beschrieben und teilweise auch schon durchgesetzt haben: ({3}) Kinder raus aus dem SGB II, eine ordentliche Kindergrundsicherung, und dann für die Eltern einen armutsfesten Mindestlohn; ein Recht auf Arbeit, statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wie wir es mit dem sozialen Arbeitsmarkt sehr erfolgreich machen; dazu die Kinderbetreuung weiter verbessern, wie Franziska Giffey es gemacht hat, ({4}) damit auch Alleinerziehende ihr Einkommen selber sicherstellen können; und ein Sozialstaat, der als Partner agiert, der Gesundheitsschutz und Qualifikation über das gesamte Leben gewährleistet, damit so wenige wie irgend möglich auf Grundsicherung angewiesen sind. ({5}) Wir wollen verhindern, dass Menschen überhaupt in die Grundsicherung rutschen, und wir wollen, dass die, die schon lange drin sind, ({6}) wieder einen Weg herausfinden. Ich bin der festen Überzeugung, dass es für jeden Menschen einen produktiven Platz, eine gute Arbeit gibt. Man muss sich nur gemeinsam auf den Weg machen, sie zu finden. Und wenn es heute dafür keine Mehrheit gibt, dann vielleicht morgen. Glück auf! ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Uwe Witt. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten und im Livestream! ({0}) Herr Minister Heil, warum ist Ihr Ministerium nicht in der Lage, einmal einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, der handwerklich und inhaltlich ausgereift ist? ({1}) Wieder einmal wurde uns hier eine grobe Kladde vorgelegt, von der Sie selbst wussten, dass massiver Änderungsbedarf besteht. Der Aufschrei der Sachverständigen in der Anhörung ist jetzt noch zu hören. Dennoch hat der hier vorliegende Änderungsantrag keine wesentlichen Verbesserungen gebracht, nur kleine Detailveränderungen. Dafür öffnen Sie mit dem Omnibus von den bisherigen Leistungsausschlüssen für EU-Ausländer zu SGB‑Il-Leistungen bzw. SGB‑XII-Leistungen die Büchse der Pandora. ({2}) Der Gesetzentwurf leitet das Aufenthaltsrecht der Eltern als Voraussetzung für den Sozialleistungsbezug aus dem Schulbesuch der Kinder ab. Im Ergebnis haben arbeitslos gewordene EU-Bürger mit Kindern, die in Deutschland zur Schule gehen, in der Regel ein Aufenthaltsrecht und Recht auf deutsche Sozialleistungen wie deutsche Staatsbürger. Damit haben Sie einen weiteren Pull-Faktor für die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem geschaffen. ({3}) Bereits jetzt ist das größte Problem in unseren Sozialsystemen ({4}) das nicht mehr vorhandene Lohnabstandsgebot. Nehmen wir zum Beispiel einen ausgelernten Gesellen, verheiratet, fünf Kinder: Bei einem Bruttolohn von 2 500 Euro, was durchaus einem Durchschnittslohn entspricht, bleiben dem Gesellen 1 932 Euro netto. ({5}) Hinzu kommen noch 1 088 Euro Kindergeld. Diese Familie lebt also von insgesamt 3 020 Euro. Eine gleich große Familie im SGB‑II-Bezug, zum Beispiel nach Beendigung eines Asylverfahrens, erhält durch die Regelbedarfe aktuell 2 222 Euro für Kosten der Lebenshaltung. Hinzu kommen Kosten der Unterkunft in Höhe von 1 240 Euro. Diese Familie wird mit sage und schreibe 3 462 Euro in die deutsche Sozialhängematte eingeladen. ({6}) Bereits jetzt wird Nichtstun gegenüber harter Arbeit mit über 400 Euro mehr belohnt, Herr Heil. ({7}) Dieser Effekt wird sich noch weiter ausdehnen, wenn die Änderungen der Regelbedarfe in Kraft treten. In Anbetracht der 5 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen, die dank Ihrem verheerenden Versagen in der Coronakrise ihren Job verlieren werden, ({8}) können wir Deutsche uns keine weiteren Anreize erlauben, sämtliche Wirtschaftsflüchtlinge und Sozialtouristen aus Europa und der ganzen Welt anzulocken. ({9}) Ich möchte noch einmal für unseren Antrag „Taschengeld für die in Heimen lebenden Bürger“ werben. Hier fordern wir nichts weiter als die Gleichstellung einer kleinen Gruppe von sozial schwachen Menschen ({10}) – ich weiß, das interessiert Sie nicht, aber ich sage es trotzdem –, die ihr Leben in Alten- und Pflegeheimen sowie in Heimen für Menschen mit Behinderung fristen und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Und zwar fordern wir eine Gleichstellung mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, ({11}) die in Deutschland üppig mit dem Taschengeld, das Sie hier verabschieden, belohnt werden. ({12}) Dass sich wenigstens wir Oppositionsfraktionen Gedanken um unsere Mitbürger mit Behinderung machen, zeigt der Gesetzentwurf der FDP, ({13}) der eine Anpassung der Regelbedarfsstufe für Behinderte „in besonderen Wohnformen“ vorsieht. Es ist ein sinnvoller Gesetzentwurf zugunsten dieser behinderten Menschen; denn sie bilden in der Regel keine Bedarfsgemeinschaften und haben daher auch keine Haushaltsersparnis. Die FDP fordert, genau wie wir, die Gleichstellung von behinderten Menschen. Zu den Anträgen der Linken und Grünen kann ich wieder einmal nur eines sagen: Ihr sozialer Gedanke ist leider Sozialismus pur ({14}) und schießt deutlich über das Ziel hinaus. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Tobias Zech. ({0})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was soll man danach jetzt noch sagen? ({0}) Wissen Sie, wir haben eine der größten Wirtschaftskrisen in diesem Land, die größte seit dem Zweiten Weltkrieg. ({1}) Was wir heute machen, ist, dass wir über die Regelsätze diskutieren, festlegen, wie sie ermittelt werden, auch alle Regelsätze erhöhen. Das Erste, was mir in den Kopf kommt, auch wenn ich die ganzen außenpolitischen Debatten mitverfolge – keine Ahnung, ob man in Washington schon weiß, wie die Wahl ausgegangen ist –, ({2}) in denen über soziale Brennpunkte und Sicherungen diskutiert wird, ist, wie froh ich bin, in einem Land zu leben, in dem es die Regierung in der größten wirtschaftlichen Krise schafft, heute ein Gesetz vorzulegen, durch das alle Regelsätze steigen, das teilweise – in der Regelbedarfsstufe der 14- bis 17-Jährigen – eine Erhöhung der Regelsätze um 14 Prozent vorsieht, ({3}) mit dem wir heute über 1,4 Milliarden Euro für das Existenzminimum ausgeben. Darüber können wir alle froh sein – und darauf kann man auch stolz sein –, ({4}) wie stark unser soziales Netz ist. Und das muss auch verteidigt werden. So ein soziales Netz bedeutet Verantwortung. Und Verantwortung bedeutet, dass das Minimum für jeden gelten muss. Wir sprechen heute über ein Minimum! Das ist eine schwierige Debatte. Und wir werden uns da auch nie einigen können, weil man sich bei einem Minimum nie einigen kann! ({5}) – Entschuldigung! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Der Redner kommt aus Bayern. ({0})

Tobias Zech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004450, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber es ist richtig. Wo wären wir denn, wenn wir bei einer Debatte über das Existenzminimum nicht streiten würden? Da gibt es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Noch mal: Alle Regelsätze werden steigen. Wir geben heute noch mal 1,4 Milliarden Euro in das System. Und, Herr Minister, bei allen Unterschieden und Details, über die man immer streiten kann, muss man festhalten: Das Gesetz ist nicht handwerklich schlecht. – Herr Kollege von der AfD, ich weiß nicht, bei welcher Anhörung Sie waren. Ich kann sagen: Wir geben heute ein gutes Gesetz hier ins Parlament, und ich kann jetzt schon nur um Zustimmung bitten. ({0}) Ein weiterer Aspekt ist, dass wir hier auch reagieren. Wir haben ja die Diskussion: Was macht denn hier das Parlament in dieser Coronakrise? Meine Damen und Herren, wir verlängern heute das SodEG, ein ganz wichtiges Gesetz. Wir haben eine plurale Landschaft von Sozialdienstleistern, die teilweise ihre Leistungen nicht erbringen können, weil sie sie pandemiebedingt zum Beispiel in Werkstätten für Menschen mit Behinderung – ich sehe hier gerade Uwe Schummer – nicht anbieten können. Um sie vor Insolvenz zu schützen und um die plurale Landschaft zu erhalten, machen wir heute dieses Gesetz und verlängern die Verordnungsermächtigung bis nächstes Jahr im März. Und dann, Herr Minister, dürfen nicht Sie über die nächste Verlängerung entscheiden – auch das haben wir geändert –, dann können wir es wieder verlängern, weil wir das Parlament sind und wir darüber zu bestimmen haben. Dieses Gesetz ist auch deshalb wichtig, weil wir nicht nur die Dienstleisterlandschaft schützen, sondern weil wir in dem Spannungsfeld von Leistungsträger und Leistungserbringer auch den Leistungsempfänger in den Mittelpunkt nehmen müssen und wir mit dem Gesetz auch dazu motivieren, alternative Formen der Leistungserbringung zum Beispiel bei Sprachkursen anzubieten, um somit auch weiter zum Beispiel die Arbeitsförderung aufrechterhalten zu können. Dann regeln wir noch ein Drittes: den erleichterten Zugang zum SGB II. ({1}) – Auch bis März. Dann geht es wieder hierher, weil wir das hier zu entscheiden haben. – Das ist auch eine wichtige Regelung. Das gibt Sicherheit. Das gibt Sicherheit für die Soloselbstständigen, und das gibt Sicherheit für die Angestellten und Arbeitnehmer, die zum Beispiel pandemiebedingt Aufstockerleistungen beziehen müssen. Um denen zu helfen und Sicherheit zu geben, auch Planungssicherheit, verlängern wir heute die gesetzliche Regelung mit dem erleichterten Zugang zum SGB II. Meine Damen und Herren, das Wichtigste aber, was uns als Parlament treiben muss, ist, wenn wir über das Minimum sprechen, wenn wir über die Regelsätze sprechen, über das SodEG oder über den erleichterten Zugang zum SGB II: Eines dürfen wir niemals vergessen: Das Hauptziel von uns muss sein, dass wir nicht über Regelsätze und über ein Minimum diskutieren, ({2}) sondern darüber, wie wir die Menschen aus der Grundsicherung herausbekommen, wie wir die Menschen wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt bekommen, wie wir diese Krise überwinden. ({3}) Da muss ich auch wieder sagen: Ich bin froh, in einem so starken Sozialstaat zu leben, in einem solidarischen Sozialstaat. Ich kann nur um Zustimmung bitten. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Tobias Zech. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Bundesminister Hubertus Heil, wir werden dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe zustimmen. Die Berechnungsmethode ist in Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat das ja auch schon so bestätigt. Gleichwohl sehen wir als Freie Demokraten in dem ganzen Kontext von SGB XII und SGB II dringenden Handlungsbedarf. Ich möchte daran erinnern, was der gesetzliche Auftrag des Sozialgesetzbuchs II ist. Darin geht es nämlich nicht nur um die Leistungshöhe, sondern es geht auch darum, die Eigenverantwortung der Menschen im Bezug zu stärken. Es geht darum, sie dabei zu unterstützen, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln zu verdienen. Und es geht schlussendlich darum, dass wir sie dabei unterstützen, wieder in Arbeit zu kommen bzw. ihren Arbeitsplatz zu behalten. Das sind gesetzliche Vorgaben, liebe Kolleginnen und Kollegen, denen sich die Regierung hartnäckig verweigert. Das geht nicht so weiter. ({0}) Deshalb haben wir zu diesem Gesetz im Ausschuss einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir wichtige Dinge benannt haben. Lieber Herr Bundesminister, ich weiß, der Tag hat nur 24 Stunden; aber er hat 24 Stunden, und wenn Ihnen die Zeit nicht reicht, dann nehmen Sie einfach unsere Vorschläge, und stimmen Sie Ihnen zu! ({1}) Wir werden Sie nicht wegen Copy-and-paste verklagen. Wir wären froh; denn es würde den Menschen helfen. Es würde sie in Arbeit bringen und ihre Eigenverantwortung stärken, liebe Freundinnen und Freunde. ({2}) Da geht es zunächst einmal darum, dass wir die Zuverdienstgrenzen verbessern. Es kann nicht weiter angehen, dass wir den Menschen im Grundsatz 80 Cent von jedem verdienten Euro wegnehmen. Auch beim SGB XII sollten wir endlich mal an die Zuverdienstmöglichkeiten rangehen. Es wäre mehr als gerecht, wenn die Menschen mehr von ihrem selbstverdienten Geld behalten dürften. Das ist ein Auftrag, dem Sie sich leider hartnäckig verweigern. ({3}) Der Städtetag hat in der Anhörung darauf hingewiesen, dass wir die Mittel und Leistungen für die Kinder im Leistungsbezug als Investitionen begreifen müssen. Wir haben vorgeschlagen, dass wir das Bildungs- und Teilhabepaket deutlich erhöhen: bei den Leistungen für Sportunterricht, bei den Leistungen für Musikunterricht, bei den Leistungen für Schulmaterialien: statt 15 Euro 30 Euro, statt 150 Euro 170 Euro. Da knausern Sie um jeden Cent, wenn es um die Zukunft der Kinder im Leistungsbezug geht. ({4}) Das ist unverständlich, das ist unverantwortlich, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, liebe Bundesregierung. ({5}) Auch wenn es um Weiterbildung geht, wenn es um Bildung der Menschen geht, um Qualifizierung: Warum genehmigen Sie nicht in Zukunft auch dreijährige Umschulungen? Warum bauen Sie nicht Teilqualifizierungen aus? Es geht doch darum, die Menschen zu ertüchtigen, darum, dass wir den Menschen Chancen geben. – Herr Zech, Sie haben es angesprochen. Tun Sie was! Übernehmen Sie unsere Vorschläge! Das würde den Menschen guttun, und das wäre eine sinnvolle Politik für die Menschen, die heute noch am Rand der Gesellschaft stehen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Katja Kipping. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rund 700 Abgeordnete könnten heute, wenn sie alle da wären, über diesen Gesetzentwurf abstimmen. Direkt davon betroffen sind über 7 Millionen Menschen in diesem Land. Also stimmen rund 700 Leute, die jeden Monat eine stattliche Diät bekommen, darüber ab, was den ärmsten 7 Millionen Menschen in diesem Lande zusteht. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang. ({0}) Wir sollten nie vergessen, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen auf die Ärmsten im Land haben. ({1}) Wenn man Geld hat, kann man sich das kaum vorstellen: wie viel ein paar Euro bedeuten können, wie viel die Dinge bedeuten, die einem das Gefühl geben, ein Mensch zu sein, der es verdient, Glück zu empfinden. – Diese Worte stammen von der Autorin Anna Mayr, die unter den Bedingungen von Hartz IV aufwuchs. Von dem Gefühl, ein Mensch zu sein, dem es zusteht, Glück zu empfinden, sind wir natürlich weit weg, wenn wir über diese Regelbedarfe reden; da reden wir eher über Mangel. Die Hartz-IV-Aktivistin Inge Hannemann, Sachverständige bei der Anhörung, brachte es wie folgt auf den Punkt: Leben mit Hartz-IV-Regelsätzen bedeutet, dauerhaft mit einem Taschenrechner im Kopf zu leben. – Wir als Linke wollen das ändern. ({2}) Doch die Bundesregierung aus Union und SPD hat politische Festlegungen getroffen, die die Regelbedarfe weiter klein halten. Sie legen dabei unter anderem fest, welche Ausgaben Sozialleistungsbeziehern faktisch nicht zustehen. Darunter fallen Haltungskosten für ein Auto, auch im ländlichen Raum, Campingurlaub mit der Familie, eine Tasse Kaffee, wenn man sich mit Freunden in einem Café trifft, oder eine Haftpflichtversicherung. Jetzt habe ich das zuständige Ministerium gefragt, warum es der Meinung ist, dass Sozialleistungsbeziehenden nicht eine Haftpflichtversicherung zusteht. Die Antwort des Ministeriums lautete – Zitat –: Es besteht keine gesetzliche Verpflichtung dazu. – Diese Logik ist entlarvend. Es besteht ja auch keine gesetzliche Verpflichtung dazu, sich gesund und vollwertig zu ernähren, keine gesetzliche Verpflichtung, sich mit Freunden zu treffen. Mit der Methode kann man die Regelbedarfe wahrlich kleinrechnen. Seien Sie doch einfach ehrlich: Für die Union ist jede Erhöhung für die Ärmsten einfach ein No-Go. Offensichtlich ist Ihnen die gute Laune des Koalitionspartners wichtiger als die täglichen Nöte von 7 Millionen Menschen im Land. Ich finde das beschämend. ({3}) Wir als Linke haben mit anderen politischen Setzungen eigene Berechnungen beim Statistischen Bundesamt in Auftrag gegeben. Demnach müsste der Regelsatz im Monat bei 658 Euro liegen, plus Wohnkosten, plus Stromkosten in tatsächlicher Höhe. Jeder von Ihnen, der im Anschluss diesen Gesetzentwurf durchwinkt, ist am Ende mitverantwortlich dafür, dass über 7 Millionen Menschen gezielt in Armut gehalten werden, darunter arme Rentnerinnen und Rentner, Asylbewerberinnen und Asylbewerber, Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten. Sie könnten aber auch heute und hier zeigen, dass der Bundestag eben nicht einfach durchwinkt, dass ihm die Sorgen und Nöte der Ärmsten nicht egal sind. Es geht um nicht weniger als um Millionen Menschen in diesem Land, und es geht am Ende um ihre leise Hoffnung darauf, sich als ein Mensch zu fühlen, der es einfach nur verdient, Glück zu empfinden. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Kipping. – Ihre Maske, genau! Danke schön. ({0}) – Ach je! Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Sven Lehmann. ({1})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute hier zur Abstimmung vorliegt, zementiert in der Tat Armut und soziale Ausgrenzung, und das mitten in der Coronakrise, wo die Ärmsten der Gesellschaft besonders hart getroffen sind. Dass Sie dieses Gesetz trotzdem so verabschieden wollen, ist eine Bankrotterklärung der Sozialpolitik der Großen Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Wir sind mitten in einer Krise, die nicht nur eine Pandemie ist, sondern auch eine Krise der sozialen Sicherung. Denn Millionen von Menschen in Deutschland sind nicht ausreichend abgesichert: Erwerbslose, Kinder, Rentnerinnen und Rentner, Geflüchtete. Schon in der ersten Welle waren Menschen in Armut besonders betroffen. Tafeln haben geschlossen. Lebensmittel wurden deutlich teurer. Nebenverdienste fielen weg. Deswegen gab es einen breiten Aufruf von Sozialverbänden, von Gewerkschaften, von Kinder- und Familienverbänden, die alle einen Aufschlag auf die Grundsicherung gefordert haben. Das haben Sie ignoriert ({1}) und gleichzeitig milliardenschwere Hilfspakete geschnürt. Wie erklären Sie aber bitte einer alleinerziehenden Mutter, die sich mit Grundsicherung und Minijobs durchschlägt, dass sie auch künftig leer ausgeht? Ich finde, das kann man nicht erklären. Das müssen wir hier und heute ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Als Begründung sagen Sie dann immer – das kam eben auch wieder von der CDU/CSU –, dass Sie Menschen nicht alimentieren wollen, sondern aus der Grundsicherung in den Arbeitsmarkt holen wollen. Erstens. Wie zynisch ist dieses Argument eigentlich angesichts von Corona, wo massenweise Arbeitsplätze wegfallen? ({3}) Zweitens. Wenn Sie das wollen, dann erhöhen Sie hier und heute oder in den nächsten Wochen den Mindestlohn. Da sind wir sofort dabei. ({4}) Dann schaffen Sie eine Kindergrundsicherung. Da sind wir sofort dabei. Aber solange wir das nicht haben, ist es doch so: Die Menschen in der Grundsicherung haben jetzt Hunger. Die Menschen müssen jetzt Winterkleidung für ihre Kinder kaufen. Die Menschen müssen jetzt ihre Stromrechnungen bezahlen. Wenn wir die Regelsätze jetzt nicht deutlich erhöhen, dann werden die Armen noch ärmer, und das dürfen wir nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Und ja, bei vielen Anliegen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist es tatsächlich die Union, die auf der Bremse steht. Aber, liebe SPD, ihr könnt euch hier und heute nicht hinter der Union verstecken. ({6}) Ihr seid mitverantwortlich; denn ihr habt nicht einmal versucht, die Regelsätze nennenswert zu erhöhen. Und das gilt vor allem für den Minister Hubertus Heil. So gut viele Dinge sind, die er in der Arbeitsmarktpolitik anpackt: Bei der Bekämpfung von Armut ist dieser Minister ein Totalausfall, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir Grüne werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Wir werden ihn ablehnen, weil er methodisch schlecht ist, weil er keine Teilhabe garantiert, weil er Menschen in Armut ausgrenzt. Wir stellen heute unser eigenes Konzept zur Abstimmung. Wir wollen mit unserem Antrag verhindern, dass Menschen in der Grundsicherung abgehängt werden vom Rest der Gesellschaft. Mit unserem Modell garantieren wir Teilhabe und erfüllen den Auftrag der Verfassung, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Ihr Gesetz erfüllt leider beides nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sven Lehmann. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Daniela Kolbe. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Regelbedarfsermittlungsgesetz – das klingt so trocken und ist doch so wichtig, weil es um die Unterstützung für Familien geht, für Menschen, die – vielleicht auch nur zeitweise – nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie aufzukommen. Die Höhe der Regelsätze – das ist ganz klar – prägt natürlich die Lebenssituation dieser Menschen. Wir reden von 7,2 Millionen Leistungsbezieherinnen und ‑beziehern. Was mir besonders wichtig ist: Es ist beileibe nicht so, dass alle Menschen erwerbsuntätig wären, sondern viele von diesen Menschen arbeiten und versuchen, ihren Lebensunterhalt auch selbst zu bestreiten. Vollkommen zu Recht wird um die Höhe der Regelsätze gerungen und auch gestritten. Es ist klar, dass wir ein Verfahren haben, das dem Verfassungsgericht standhält. Dieses Verfahren haben wir auch dieses Mal beim Regelbedarfsermittlungsgesetz gewählt – vollkommen zu Recht. Ich finde es auch richtig, dass immer wieder darauf geguckt wird, an welchen Stellen nachjustiert werden muss, wo sich die Lebensrealität ändert. Ich finde es richtig, dass endlich auch Mobilfunkkosten dazugerechnet werden und Eingang in die Regelbedarfe finden. Das führt dazu, dass wir jetzt eine signifikante Erhöhung der Regelbedarfe sehen. Durch die Berücksichtigung des Änderungsantrags aus der Ausschussberatung haben wir auch noch einen Inflationsausgleich. Dadurch, dass das erste Halbjahr angeguckt wird, ist die Mehrwertsteuersenkungauch nicht drin. Das heißt, wir haben tatsächlich einen Inflationsausgleich. Deswegen steigt die Regelbedarfsstufe 1 um 14 Euro. Man kann sagen, dass das nicht so viel ist. Aber wenn man sich die Regelbedarfe zum Beispiel für kleine Kinder bis zum 6. Geburtstag anguckt, stellt man fest, dass es dort um 33 Euro pro Monat steigt. Für die großen Kinder über 14 Jahre steigt es sogar um 45 Euro. Man kann sagen, dass das nichts ist. Ich sage: Das ist schon was. Es hilft Familien, die eben wirklich wenig Geld haben, und gerade Familien mit Kindern. ({0}) Wir haben im Ausschuss mit dem Koalitionspartner zusammen noch andere Wünsche deutlich gemacht, die wir bezüglich der EVS haben. Wir wollen, dass dort mehr Familien mit Kindern mitmachen, dass – Thema „weiße Ware“ – Leistungsbezieherinnen und ‑bezieher nicht immer den billigsten Kühlschrank kaufen müssen, obwohl dieser viel Strom verbraucht, sondern dass klarer wird, dass ein energiesparender nicht nur Sinn macht, sondern auch irgendwie finanzierbar sein muss. Ich hoffe, dass wir da auch Handlungen seitens der Bundesregierung sehen. Es sind aber noch jede Menge andere, positive Dinge in diesem Gesetz enthalten: die Verlängerung des vereinfachten SGB-II-Zugangs immerhin bis zum 31. März 2021. Ich hätte es auch weiter verlängert; so ist das nicht. – Der Minister, der auch hier ist, nickt jetzt auch dazu. ({1}) Es ist wichtig für viele, die jetzt von der Krise gebeutelt sind: Kurzarbeiter, die vorher wenig Geld verdient haben, Soloselbstständige, die keine Aufträge mehr haben. Es wird nicht geguckt: In welcher Wohnung lebst du? Es wird nicht geguckt: Was hast du auf dem Konto? Das ist gut für die von der Krise Gebeutelten, und es ist auch gut für die Verwaltungen. Insofern ist es richtig, dass wir das in dieser Krise tun. ({2}) Außerdem passen wir das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, SodEG, an. Auch darauf sind wir stolz; denn für uns Sozialdemokraten sind soziale Dienstleister systemrelevant. Wir wollen, dass die Wohlfahrtsverbände diese Krise gut überstehen. Deswegen ist dieses Gesetz so wichtig. Ich kann nur dafür werben: Stimmen Sie dem zu! Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Kolbe. ({0}) – Hat er auch. Letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Matthias Zimmer. ({1})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der Kollegin Daniela Kolbe sehr dankbar, dass sie in ihrer ruhigen und sehr nachdenklichen Art auch die positiven Aspekte dieses Regelbedarfsermittlungsgesetzes einmal aufgeführt hat. Es ist, glaube ich, für keinen besonders vergnügungssteuerpflichtig, ein solches Gesetz erlassen zu müssen. Wir rechnen ja nicht selber als Politiker. ({0}) Wir sind keine Statistiker. Aber wir machen Vorgaben über die Art und Weise, wie wir das gerne sehen wollen. Darum geht es. Die erste und wichtigste Vorgabe ergibt sich aus dem Grundgesetz. Da ist von der Würde des Menschen die Rede und davon, dass wir daran gebunden sind, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu gesagt: Die Würde des Menschen erfordert, dass wir ein soziokulturelles Existenzminimum definieren. – Das ist auch für uns von der Union verbindlich für die Frage, wie der Regelbedarf berechnet wird. Sagen wir es ganz deutlich: Dass den Menschen ein soziokulturelles Existenzminimum gewährt wird, ist nicht nur das Recht der Menschen, sondern es ist auch die Pflicht unserer Gemeinschaft. Das ist gelebte Solidarität und verpflichtet uns auch. ({2}) Meine Damen und Herren, in den vergangenen Jahren hat uns das Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt: Die Art und Weise, wie wir das berechnen lassen, ist durchaus in Ordnung. – Die Kollegin Kolbe hat darauf auch hingewiesen. Nun sagt die Opposition, der Kollege Lehmann, die Kollegin Kipping: Das ist alles zu wenig. – Der Meinung kann man sein. Man kann auch großzügiger sein und mit anderen Annahmen arbeiten und Statistiker beauftragen, das dann einmal entsprechend durchzurechnen. Dann haben Sie ein etwas weiteres Verständnis von dem, was das Existenzminimum ausmacht. Auch das ist eine politische Vorgabe, mit der man zu anderen Zahlen kommt. Aber eines, Frau Kipping und Herr Lehmann, ist völlig klar: Unsere Vorstellung des notwendigen Minimums ist nicht verfassungswidrig oder gerade mal so mit der Verfassung vereinbar. ({3}) Unsere Vorstellung ist verfassungsgerecht. ({4}) Meine Damen und Herren, eine zweite Vorgabe, die wir machen, lautet: Wir wollen einen gewissen Abstand wahren, und zwar einen Abstand zwischen denjenigen, die Leistungen erhalten, und denen, die sie finanzieren müssen. ({5}) Wir wollen keine Anreize setzen, nicht zu arbeiten. Wir wollen nicht, dass diejenigen, die für wenig Geld arbeiten, den Eindruck haben: Wir sind diejenigen, die jeden Tag aufstehen und nur wenig mehr bekommen als Hartz IV; wir sind doch eigentlich Deppen. – Das wäre, glaube ich, schädlich für die Solidarität. Solidarität geht nämlich davon aus, dass ein System als gerecht empfunden wird. Ein System ist nicht gerecht, in dem jemand, der arbeitet, ebenso viel oder weniger erhält als jemand, der nicht arbeitet. ({6}) Nun sagen einige: Lasst uns doch die Löhne erhöhen, ({7}) durch mehr Möglichkeiten etwa, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen festzustellen, oder durch einen höheren Mindestlohn. Offen gesagt: Ich bin damit im Grunde einverstanden. ({8}) Ich wünsche mir eine höhere Tarifbindung, und ich wünsche mir auch, dass wir die Möglichkeiten erweitern, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. ({9}) Dafür haben wir in vielen Bereichen auch gearbeitet. Ich denke etwa an die Pflege.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Zimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Matthias W. Birkwald?

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da er diesmal keine Redezeit bekommen hat, gerne. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, lieber Kollege Matthias Zimmer, dass die Zwischenbemerkung zugelassen wird. – Zunächst einmal möchte ich festhalten: Nach geltendem Recht gibt es keine Konstellation, bei der jemand, der oder die alle rechtlich bestehenden Möglichkeiten wahrnimmt, in Erwerbsarbeit mit niedrigem Einkommen ist und ergänzende Sozialleistungen bekommt, weniger hat als jemand, der in Hartz IV ist. Das gibt es nicht. Das ist ein Märchen. Zweitens. Ich habe gehört: Der Kollege Matthias Zimmer von der CDU/CSU ist für einen gesetzlichen Mindestlohn, der höher ist als der heutige. ({0}) Das klingt wunderbar. Ich habe gehört: mehr Tarifautonomie und vor allen Dingen mehr und bessere Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Das alles sind Punkte, für die nicht nur Matthias Zimmer, sondern die Fraktion Die Linke, große Teile der SPD, große Teile der Grünen sind. ({1}) Ich frage jetzt mal: Wie viele Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion sind dafür, dass wir das gemeinsam verabschieden? Den Vorschlag „12 Euro gesetzlicher Mindestlohn“ hat Die Linke bereits auf ihrem Bundesparteitag in Magdeburg im Jahr 2016 vorgelegt. Ich fordere Sie alle auf: Erhöhen Sie den gesetzlichen Mindestlohn einmalig auf 12 Euro, damit die Mindestlohnkommission dann die weiteren Erhöhungen machen kann. Gehen Sie da mit? ({2})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erst einmal danke, lieber Kollege Birkwald, für die Frage. Ich hätte diese Frage auch im Fortgang meiner Argumentation beantwortet. Jetzt kann ich sie beantworten, ohne dass es bei meiner Zeit zu Buche schlägt. ({0}) Insofern haben wir beide etwas von der Zwischenfrage. Die Sache ist eigentlich relativ einfach. Ich habe gar nichts dagegen, dass der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wird. Es geht doch um das Verfahren. Das Verfahren, das wir verabredet haben, lautet: Wir sind diejenigen, die das, was die Tarifparteien in der Mindestlohnkommission vereinbart haben, umsetzen. Wir sind nicht diejenigen, die die politische Setzung machen. Ich glaube, dass es ein sehr gutes Verfahren ist; denn keiner kann garantieren, dass es nicht das letzte Mal gewesen ist, dass hier Kollegen aufstehen und sagen: Na ja, noch einmal werden wir den Mindestlohn erhöhen. – Dann kommt es zu einem weiteren Mal und vielleicht zu noch einem weiteren Mal. Dann sind wir im Geschäft, den Mindestlohn politisch festzulegen. Das wollten wir ganz bewusst nicht. Das haben wir abgelehnt. Aber das heißt doch nicht, dass wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern keinen höheren Mindestlohn gönnen und dass wir ihnen nicht gute Tarifabschlüsse gönnen. Es ist doch selbstverständlich, dass wir das wollen. Es ist selbstverständlich, dass wir für gute Arbeit auch guten Lohn haben wollen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Weiter in der Rede.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren, dann gibt es auch noch die AfD. Ich weiß nicht, was sie in der Frage so genau will. Ich glaube, das wissen die Kolleginnen und Kollegen auch nicht. Ein Teil der AfD will mehr Sozialismus, mehr Umverteilung. Ein zweiter Teil will das auch, aber nur für Deutsche. Ein dritter Teil ist völlig anders unterwegs. Die befürworten jeden Abbau von Schutzrechten. Ich habe in einer anderen Anhörung vor einigen Tagen einen Sachverständigen gehört – der Mann hatte weder von der Sache Ahnung, noch war er verständig –, der unter dem Beifall der AfD sogar Kinderarbeit gerechtfertigt hat. ({0}) Und das Schlimme bei der AfD ist – ob mehr Sozialismus, mehr Sozialismus nur für Deutsche oder Kinderarbeit für alle –: Der Vorsitzende der Fraktion sitzt immer in der ersten Reihe und klatscht freundlich. Sie müssen sich schon entscheiden: Sind sie Gobineau-Deutscher, Strasser-Jünger oder darwinistisch inspirierter Manchester-Liberaler? Oder haben Sie einfach Ihren Kompass verloren und damit auch jeden Sinn für Unterschiede? Sind Sie einfach ein Meister Yoda des Unbestimmten? ({1}) Nun, egal: Der Kollege Witt hat die Büchse der Pandora erwähnt. Die Büchse der Pandora hat bekanntlich auf ihrem Grund die Hoffnung. Über die Hoffnung, dass Sie alle bald in diesem Parlament nicht mehr vertreten sein werden, kann die Büchse der Pandora ruhig offen bleiben. Vielleicht werden sich eines Tages Historiker erbarmen und etwas über die Enthemmung des politischen Konservativismus schreiben, für die Sie ein gutes Beispiel sind. ({2}) Sicherlich wird ein Historiker auch einmal über die Ermittlung der Regelbedarfssätze schreiben und feststellen: Das haben die in der Großen Koalition ganz gut gemacht. Danke schön. ({3})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute erneut über einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die gesetzliche Festschreibung zur Erstellung eines Periodischen Sicherheitsberichtes unter genauen Vorgaben zum Gegenstand hat; schon einmal so geschehen am 28. September 2018 mit anschließender Beratung und Ablehnung im Innenausschuss am 15. November 2019. Die Antragsteller sind offensichtlich nicht bereit, zu akzeptieren, dass wir nicht den von ihnen vorgeschriebenen Weg einer gesetzlichen Festschreibung des Berichtes mitgehen möchten, verbunden mit engen Vorgaben für die Sicherheitsbehörden, beispielsweise in welcher Form oder in welcher Häufigkeit ein solcher Bericht durchzuführen ist. Kurzum: Die Grünen wissen wieder einmal alles besser. Daran halten sie fest, obwohl wir nach zwei in dieser Form erstellten Periodischen Sicherheitsberichten aus den Jahren 2001 und 2006 feststellen mussten, dass diese, was Zustandekommen, Umfang und Kosten anbelangt, zu umständlich, unhandlich und zu teuer waren. ({0}) Weitestgehend Konsens in diesem Hause ist, Frau Dr. Mihalic, dass es eines solchen regelmäßigen Sicherheitsberichtes neben der jährlich erscheinenden Polizeilichen Kriminalstatistik zur Erfassung von Kriminalitätslage, Bekämpfung und ihrer Ursachen bedarf. ({1}) Das war auch die allgemeine Meinung der dazu gehörten Sachverständigen; das ist auch meine ganz persönliche Überzeugung nach mehr als zwei Jahrzehnten strafrichterlicher Tätigkeit. Straftaten sind nicht nur zu verfolgen und zu ahnden. Es muss auch nach ihren Ursachen geforscht werden, um neuerlichen Taten vorbeugen zu können. Allerdings haben sechs von sieben Sachverständige, überwiegend Praktiker, die Periodizität von vier Jahren als ausreichend erachtet. Dieser, auch unserer Meinung haben sich die Antragsteller zwischenzeitlich angeschlossen. ({2}) Sie sind also lernfähig, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Nach unserer Ansicht muss der Bericht aber von unabhängigen staatlichen Institutionen geprägt werden, und das läuft bereits. Federführend ist das Bundesinnenministerium, an seiner Seite das Bundesjustizministerium, das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Justiz. Es wurde eine gemeinsame Geschäftsstelle eingerichtet, die arbeitet. Die Ergebnisse werden gegenwärtig zusammengetragen; das verzögert sich coronabedingt noch etwas. Vor der Sommerpause 2021 – da kann ich Sie beruhigen – wird der Periodische Sicherheitsbericht vorgelegt werden. ({3}) Das BKA lässt darüber hinaus auch durch das Institut für angewandte Sozialwissenschaft eine empirische Studie zum Thema „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ erstellen und dazu eine Bevölkerungsbefragung mit immerhin 120 000 Personen durchführen. Abgefragt werden das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung, die Qualität des Kriminalitätsschutzes und die Arbeit der Polizei, ({4}) insbesondere auch, um das sogenannte Dunkelfeld zu erhellen, wenn es um unangezeigte oder nicht bekanntgewordene Straftaten geht. Nach alledem braucht es Ihren Antrag also nicht mehr. Um es mit Montesquieu zu sagen: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ ({5}) Noch weniger kann ich allerdings den Antrag der AfD gutheißen: „Mehr Transparenz bei der Analyse und öffentlichen Darstellung von Kriminalität im Kontext von Migration“ wollen Sie, wohl wissend, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik zwischen Delinquenten mit deutscher und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit unterscheidet, ja sogar die Gruppe der Migranten seit 2015 besonders erfasst. Sie wollen aber eine genaue Zuordnung nach Nationalitäten, um dann ganze Gruppen von Menschen unter Generalverdacht zu stellen und nach Staatsangehörigkeit von oder aus Deutschland fernzuhalten. Und wieder einmal möchten Sie – das finde ich besonders perfide – zwischen Deutschen mit deutschen Vorfahren und Deutschen mit Migrationshintergrund unterscheiden. Sie wollen offenbar Deutsche unterschiedlicher Kategorien schaffen. Das hatten wir schon einmal, und das wollen wir in diesem Hause und darüber hinaus nie wieder haben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Müller. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Hess. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! An diesem Wochenende griffen Gruppen von Gewalttätern in Frankfurt wiederholt die Polizei an: Am Freitag wurden Streifenpolizisten mit Steinen und Flaschen attackiert, als sie die Personalien eines Gewalttäters aufnehmen wollten. Am Samstag sah sich die Polizei dann über 800 Randalierern gegenüber, und auch im nahen Darmstadt griffen 100 Jugendliche die Polizei an. In deutschen Städten häufen sich solche Tumultlagen wie auch in Stuttgart am 21. Juli dieses Jahres. Auch dort leisteten Personen bei einer Kontrolle massiven Widerstand und griffen Polizisten mit Flaschen und Steinen an. Der Widerstand gegen die Staatsgewalt war der Startschuss für Ausschreitungen, ({0}) die 500 Einsatzkräfte bis weit in den nächsten Morgen nicht in den Griff bekamen. Die Stuttgarter Innenstadt war über Stunden hinweg ein rechtsfreier Raum. Im Oktober waren dann 100 Tatverdächtige identifiziert: etwa ein Drittel davon Nichtdeutsche, 17 Prozent Deutsche ohne und ganze 50 Prozent Deutsche mit Migrationshintergrund. Über die Herkunft der Gewalttäter von Frankfurt und Darmstadt erfahren wir im Polizeibericht nichts. Allein schon diese Nichterwähnung reicht aus, dass die Bürger mittlerweile von Migranten ausgehen. Die Bürger wissen aus eigener Erfahrung: Auch in der zweiten und dritten Generation legt eine beachtliche Zahl deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Integration an den Tag. ({1}) Aber anstatt der Realität ins Gesicht zu sehen, verharmlosen und relativieren Sie das Problem nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. – Wer aber das Problem verharmlost, statt es zu lösen, der vergrößert es nur. Deshalb muss damit Schluss sein. Nur eine ideologiefreie und faktentreue Problemanalyse schafft die Grundlage für eine wirksame Gegenstrategie, und genau darum geht es in unserem Antrag. Bisher wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur zwischen „deutsch“ und „nichtdeutsch“ unterschieden; das ist unseres Erachtens unzureichend. Wir müssen zukünftig bei deutschen Tatverdächtigen Herkunftsländerbezüge ermitteln und diese auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik darstellen. Nur so kann das Problem in seinem vollen Umfang erfasst und dargestellt werden. ({2}) Kommen Sie jetzt nicht wieder mit der sachfernen Polemik wie nach Stuttgart. Die Erfassung des Migrationshintergrundes von Straftätern hat mit „Stammbaumforschung“, wie es damals hieß, nicht das Geringste zu tun. Es geht um die Schaffung einer sicherheitspolitisch zwingend notwendigen, differenzierten Datengrundlage. Nur wenn wir die Fakten kennen, können wir die auch zur Verbesserung der Sicherheitslage erforderlichen Korrekturen vornehmen und wirksame Gegenstrategien entwickeln. Auch die Berichterstattung der Polizei ist dringend optimierungsbedürftig. Das Verschweigen von Nationalität oder Migrationshintergrund von Gewalttätern passt nicht zu einer aufgeklärten Gesellschaft. Wie sollen sich die Bürger eine politische Meinung zur realen Lage bilden, wenn ihnen Fakten systematisch vorenthalten werden? ({3}) Eine Selbstzensur, wie sie etwa der Presserat den Journalisten empfiehlt, darf es in unseren Behörden nicht geben. Man kann den Bürgern nicht Informationen mit der Unterstellung vorenthalten, dass diese Diskriminierung befördern könnten. Weder die Presse noch die Polizei hat einen Auftrag zur Volkserziehung. ({4}) Die Bürger dort draußen können Informationen nämlich sehr wohl richtig einordnen. Hören Sie also auf, ihnen latenten Rassismus zu unterstellen; das ist eine Unverschämtheit und eine Beleidigung. Behandeln Sie die Bürger wie mündige Menschen, und nennen Sie endlich alle Fakten! ({5}) Hören Sie auf, der Bevölkerung die reale Sicherheitslage zu verschweigen! Ihr Märchen vom ach so sicheren Deutschland und einer heilen Multikultiwelt nimmt Ihnen doch sowieso keiner mehr ab. Die Realität lässt sich eben nicht verheimlichen. Wir brauchen dringend ein ungeschöntes, realistisches Kriminalitätslagebild, das eben auch Herkunftsländerbezüge bei Migranten umfasst. Nur so können wir im Bereich der Sicherheits-, der Migrations-, der Integrations-, der Bildungs- und der Sozialpolitik sachgerechte und zielführende Entscheidungen treffen. Unser Antrag leistet dazu einen wesentlichen Beitrag. Stimmen Sie ihm deshalb zu. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Susanne Mittag. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als langjährige Polizeibeamtin weiß ich, wie wichtig es ist, eine Lage richtig einzuschätzen, um erfolgreich handeln zu können. Noch besser ist es, wenn es Ermittlern gelingt, im Vorfeld bereits vor die Lage zu kommen, also im besten Fall präventiv zu handeln und Verbrechen zu verhindern. Das gelingt nur, wenn ich ein detailliertes, umfassendes Bild von der Kriminalitätslage habe. Und es stimmt: Dabei reicht es nicht, nur Zugang zu Kriminalitäts- und Strafverfolgungsstatistiken zu haben. Nein, um vor die Lage zu kommen, braucht es zum Beispiel Einblicke in das sogenannte Dunkelfeld, also in Straftaten, von denen die Polizei nie oder nur erst sehr, sehr spät erfährt. Wir brauchen die Stimmen der Opfer, die sich vielleicht gescheut oder geschämt haben, Fälle zur Anzeige zu bringen, oder die dachten: Ach, das bringt ja doch nichts! – Außerdem müssen wir in der Lage sein, Kriminalitätstrends und neue Entwicklungen auszumachen. Dazu bedarf es wissenschaftlicher Analysen der Kriminalitätsdaten und auch deren Fortschreibung, sodass man erkennen kann, welche Vergehen und Verbrechen verstärkt begangen werden, bei welchen und warum sich ein abnehmender Trend verzeichnen lässt und welche Auswirkungen gesellschaftlich neue Straftaten haben. Nur ein solch umfassender Blick auf die Kriminalitätslage ermöglicht uns eine zeitgemäße und wirksame Bekämpfung von Straftaten und damit auch eine sichere Gesellschaft. ({0}) So weit stimmen wir mit dem Antrag der Grünen überein; aber trotzdem werden wir ihm nicht zustimmen. ({1}) Da stellt sich natürlich die Frage: Und warum nicht? Weil wir keinen Gesetzentwurf brauchen, der etwas fordert, was wir ohnehin schon tun. ({2}) Wir verwirklichen das, was schon im Koalitionsvertrag steht, und was Sie auch in Ihrem Gesetzentwurf fordern. Zunächst einmal beginnt genau in diesen Tagen, Anfang November, eine groß angelegte Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamts. Dafür werden über 120 000 Menschen angeschrieben, die in Deutschland gemeldet sind. Damit handelt es sich um die größte Dunkelfeldstudie, die es jemals in Deutschland gab. Also, wer angeschrieben wird: Bitte antworten, es ist ganz wichtig. ({3}) Ziel ist, genau die Bereiche auszuleuchten, in denen Vergehen und Verbrechen häufig geschehen, ohne zur Anzeige zu kommen: Raub, Körperverletzung, Wohnungseinbrüche, aber auch Gewalt in der Partnerschaft, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, um nur einige zu nennen. Die Reihe kann man endlos fortsetzen. Erste Ergebnisse dieser Dunkelfeldstudie werden auch in den neuen Periodischen Sicherheitsbericht Eingang finden. Und damit kommen wir zum Kern Ihres Entwurfs und unseres Handelns, dem Periodischen Sicherheitsbericht. Dessen erster Entwurf wird gerade unter Federführung des Bundesjustizministeriums und des Bundesinnenministeriums erarbeitet und soll den Ministerien zum Jahresende vorliegen, uns dann hoffentlich frühzeitig vor der Sommerpause. Und er unterscheidet sich von einer bloßen Kriminalitätsstatistik genau durch die Dinge, die auch Sie angesprochen haben, nämlich durch einen breiten analytischen Blick auf die Kriminalitätslage im Land, der uns längerfristig geplantes und vorausschauendes Handeln ermöglicht. Neben der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung wird der Bericht besonders auf aktuelle Themen wie zum Beispiel Gewaltkriminalität, Cyberphänomene und rechts motivierte Kriminalität eingehen. Damit die Analyse möglichst umfassend und fundiert ist, beteiligen sich an diesem Bericht unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Statistische Bundesamt und das Amt für Sicherheit in der Informationstechnik, also das BSI. Damit gehen wir übrigens über Ihre Forderungen hinaus. ({4}) So wird aus dem Bericht nicht nur eine hilfreiche Quelle für die repressive und präventive Kriminalitätsbekämpfung; der Periodische Sicherheitsbericht wird auch für uns Politikerinnen und Politiker ein beratendes Instrument sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie sehen also: Was Sie fordern, tun wir bereits. Wir haben mit unserem Koalitionspartner darüber hinaus vereinbart, einen solchen Bericht alle zwei Jahre zu verfassen, ({5}) auch deshalb, weil sich die Kriminalitätsentwicklung beschleunigt hat und wir schneller Trends erkennen müssen, um erfolgreich gegenzusteuern. Der zweijährige Turnus passt insofern auch gut, weil das BKA beschlossen hat, seine Hell- und Dunkelfeldforschung alle zwei Jahre durchzuführen. Noch ein abschließendes Wort zum Antrag der AfD. Ich finde es langsam wirklich ermüdend, dass Sie jedes, aber auch jedes Thema, das man konstruktiv besprechen könnte, instrumentalisieren, um es gegen Geflüchtete und Menschen nichtdeutscher Herkunft zu wenden. Ich möchte inhaltlich gar nicht weiter darauf eingehen. Nur so viel: Wenn es Ihnen wirklich um Fakten und nicht um Stimmungsmache gehen würde, hätten Sie sich längst mit einem Blick in das Lagebild des BKA schlaumachen können; es gibt nämlich ein aktuelles von Mitte September zu „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“. Wir können nur froh sein, dass dieses Lagebild nicht so tendenziös ist wie Ihr überflüssiger Antrag. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Benjamin Strasser. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorneweg gesagt: Als Fraktion der Freien Demokraten werden wir uns heute bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Die Sachverständigenanhörung des Innenausschusses hat Kritik, auch handwerkliche Kritik, und Mängel an der Vorlage der Grünen dargelegt. Diese Mängel konnten leider nicht behoben werden, sodass wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Was wir als Freie Demokraten allerdings grundsätzlich teilen, ist das Grundanliegen der Grünen, das in diesem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Wir brauchen belastbare Erkenntnisse über die Kriminalitätslage und die Kriminalitätsentwicklung in unserem Land; das ist überfällig. Fakt ist, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik dafür allein nicht geeignet ist. Es muss uns zu denken geben, dass der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten, Sebastian Fiedler, warnt, die Kriminalstatistik für das Jahr 2020 werde die schlechteste sein, die es je gegeben hat, weil sie keine Aussagekraft über die reale Sicherheitslage besitzen wird. Das ist die Analyse eines Profis, liebe Frau Mittag, und deswegen sind wir aufgefordert, endlich etwas dagegen zu tun. ({0}) Die bisherige Kriminalstatistik muss also um Perspektiven ergänzt werden, die ihr bislang verborgen bleiben. Genau deshalb fordern wir Freie Demokraten einen regelmäßigen Periodischen Sicherheitsbericht, der uns einen geschärften Blick auf bestehende Dunkelfelder erlaubt – diese Dunkelfelder existieren. Ich finde es beschämend und unerträglich, wenn mir Jüdinnen und Juden erzählen, dass sie Straftaten teilweise gar nicht mehr zur Anzeige bringen. Solche Dunkelfelder gehören ins Hellfeld geholt, damit wir hier dafür passgenaue politische Lösungen finden können. ({1}) Das Bemerkenswerte ist, dass die Bundesregierung selbst diesen Periodischen Sicherheitsbericht will; er steht im Koalitionsvertrag. Das ist ja nicht mal ein Spaltpilz der Opposition, wo man schön reingrätschen kann; Sie haben es 2017 in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben und bis heute nicht geliefert. Frau Mittag, wir sind sehr, sehr gespannt, was Sie uns da jetzt noch auf den letzten Metern vorlegen wollen und ob das wirklich den Namen Periodischer Sicherheitsbericht verdient hat. Wenn ich höre, was da hineinsoll, habe ich so meine Zweifel. In der ersten Lesung hat der Kollege Müller noch gesagt, alle zwei Jahre seien utopisch, teuer und übertrieben. Jetzt will die Koalition das plötzlich machen. Ich glaube, das wird ein „Sicherheitsbericht light“, und der ist sicher nicht angemessen, diese Probleme zu bekämpfen. Wenn Sie es nicht tun, tut es eine andere Bundesregierung. Wir stehen dafür sehr gerne bereit. Vielen Dank. ({2})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grünen fordern einen regelmäßigen Sicherheitsbericht, der eine Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik vornimmt. Diesem Anliegen stimmen wir zu. Sicherheitspolitik darf nicht nach Bauchgefühl betrieben werden. Wenn es um die öffentliche Sicherheit geht, aber auch um Grundrechtseinschränkungen durch verschärfte Gesetze, sind seriöse Grundlagen dringend nötig. ({0}) Denn die Kriminalstatistik verrät uns ja nichts über die tatsächliche Kriminalität in Deutschland, sondern nur darüber, ob mehr oder weniger mutmaßliche Straftaten angezeigt werden. Zu untersuchen wären also unserer Auffassung nach folgende Fragen: Wie steht es zum Beispiel um die Rückfallquote? Welchen Erfolg bzw. welche Probleme hat die Bewährungshilfe? Inwiefern führen strengere Strafen wirklich zu weniger Straftaten? Welche sozialen und strukturellen Ursachen haben bestimmte Straftaten, und wie lässt sich dem begegnen? Welche Gründe führen dazu, dass manche Straftaten gar nicht erst angezeigt werden, und wie reagiert man darauf? Ich denke hier etwa an Straftaten gegen besonders marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Drogenabhängige, Obdachlose, Prostituierte oder Menschen ohne Papiere; Kollege Strasser hat eben schon angesprochen, dass bestimmte Gruppen genauer betrachtet werden müssen. Auch die Stichwörter „Racial Profiling“ und „rechtswidrige Polizeigewalt“ müssen hier fallen; diese Bereiche gehören zu einem seriösen Sicherheitsbericht dazu. ({1}) Das Manko an dem Entwurf der Grünen ist leider, dass sie darin keine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung fordern, sondern die Untersuchung allein dem Innenministerium überlassen möchten; die Wissenschaft soll nur beratend hinzugezogen werden. Das ist für uns nicht ausreichend. Wohin das führen wird, wissen wir – auch die Grünen wissen es ganz genau – aus der Erfahrung, die wir gemacht haben: Das Ministerium setzt der Untersuchung inhaltlich einen engen Rahmen, sodass das Ergebnis eigentlich schon vorher feststeht. Denken Sie nur an die Beispiele, die wir jüngst hin und her diskutiert haben! Herr Seehofer selbst hat mehrfach klargestellt, dass er eine Untersuchung zum Rassismusproblem in der Polizei nicht ernsthaft zulassen will. Eine Studie, in der das Innenministerium sich selbst untersucht, ist die Mühe eines Gesetzgebungsverfahrens nicht wert. Deswegen werden auch wir uns bei der Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf nur enthalten. Schönen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächte Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Ihnen, Herr Müller und Frau Mittag, so zuhört, dann kann man sich eigentlich nur noch verwundert die Augen reiben, insbesondere wenn man die Debatte um diesen Periodischen Sicherheitsbericht in der Vergangenheit verfolgt hat. Wir haben unseren Gesetzentwurf vorgelegt und darin gesagt: Wir brauchen alle zwei Jahre eine verlässliche Berichtslegung über die subjektive und objektive Sicherheitslage in Deutschland. – Daraufhin kam von Ihnen, wie ich im Nachhinein finde, der durchaus berechtigte Vorwurf: Zwei Jahre, das ist alles viel zu kurz; das kann man niemals seriös innerhalb von solchen Intervallen machen. – Wir haben also gesagt: „Prima, wir greifen Ihre Anregung auf, machen das alle vier Jahre“ und einen Änderungsantrag geschrieben. Jetzt kommt Frau Mittag hierher ins Plenum, stellt sich hier vorne hin und sagt: Nein, nein, alle zwei Jahre war doch eine ganz gute Idee; das wollen wir so umsetzen. – Also, ich kann mich da wirklich nur noch wundern, meine Damen und Herren. ({0}) Dabei haben Sie selbst gesagt, dass wir uns ja in dem Ziel alle einig sind: dass es eine regelmäßige Berichtslegung in diesem so wichtigen Themenfeld der Politik braucht, damit man eben verlässliche und wirklich wissenschaftlich fundierte Sicherheitskonzepte erarbeiten kann. Sinngemäß steht das ja auch so im gemeinsamen Vorwort von Brigitte Zypries und Dr. Wolfgang Schäuble zum Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht, der vor 14 Jahren letztmalig vorgelegt worden ist. Sie wissen auch, dass es seinerzeit nicht viel gebracht hat, sich das mal so vorzunehmen; denn seitdem ist eben nichts mehr passiert. Es hat keinen weiteren Periodischen Sicherheitsbericht gegeben. Und wenn Sie jetzt ankündigen: „Alle zwei Jahre machen wir das jetzt“, dann frage ich mich: Wer oder was kann eigentlich die nächste Bundesregierung dazu verpflichten, wenn wir dazu kein Gesetz machen? ({1}) Deswegen ist Ihr Einwand, Herr Müller und auch Frau Mittag, dass es das von uns vorgeschlagene Gesetz gar nicht bräuchte, nicht richtig. Es wäre wesentlich überzeugender, wenn Sie auf eine kontinuierliche Berichtslegung in diesem Bereich wenigstens alle vier Jahre verweisen könnten; aber das können Sie nun mal nicht. Ich hoffe nicht, dass, wenn niemand die Bundesregierung dazu verpflichtet, noch mal 14 Jahre vergehen, bis der nächste Periodische Sicherheitsbericht dann im Jahre 2035 vorgelegt wird; das reicht bei Weitem nicht. ({2}) Unser Gesetzentwurf beschränkt sich ja auch gar nicht darauf, einen regelmäßigen Bericht zu fordern, sondern er bildet auch die Grundlage dafür, dass nach dem Vorbild des Sachverständigenrats der sogenannten Wirtschaftsweisen ein entsprechendes Gremium aus fünf unabhängigen Expertinnen und Experten gebildet werden kann, das über besondere wissenschaftliche Sachkunde im Bereich der Kriminalität und Sicherheit verfügt. Auch im Fall der fünf Wirtschaftsweisen gibt es ein solches Gesetz. Deswegen verstehe ich die Kritik an unserem Gesetzentwurf auch nicht. Bei der Anhörung im Innenausschuss – Sie haben diese eben angesprochen, Herr Müller – war es mitnichten so, dass die meisten Sachverständigen den Sinn darin nicht gesehen haben. Im Gegenteil – lesen Sie ruhig noch mal das Protokoll! –: Es gab für unseren Vorschlag sehr viel Zustimmung aus dem Kreise der Sachverständigen, und die Kritikpunkte haben wir aufgenommen und unseren Gesetzentwurf noch mal verändert. Ich bitte Sie daher sehr darum, unseren Gesetzentwurf nicht deshalb abzulehnen, weil da in dieser Legislaturperiode irgendwann noch mal was von Ihnen kommt. Das glaube ich erst, wenn das Ding auf dem Tisch liegt. Mindestens die Kolleginnen und Kollegen aus dem Innenausschuss kennen eine solche Ankündigung ja nun auch schon wirklich geraume Zeit. Aber schön, wenn da noch mal was kommt, werden wir uns das selbstverständlich anschauen. Aber allein die Ankündigung einer Studie macht uns noch nicht schlauer, meine Damen und Herren. ({3}) Wir haben es ja alle mitbekommen: Ankündigungen von wissenschaftlichen Untersuchungen werden in diesen Tagen vom Innenministerium oder von der Bundesregierung so oft, wie sie gemacht werden, auch wieder geändert oder zurückgenommen. Ich möchte Sie deswegen noch mal inständig bitten, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen, wenn Sie nicht weiterhin eine bestenfalls wissenschaftsferne Innenpolitik hier im Deutschen Bundestag machen wollen. Ganz herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Irene Mihalic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Marc Henrichmann. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wie kämpft man effektiv gegen Kriminalität? Als Erstes, glaube ich: mal ohne Schaum vorm Mund und ohne Ideologie. Insofern erspare ich mir jetzt die Ausführungen zum Antrag von Rechtsaußen und sage nur: Monothematisch wie immer. Aber was wir brauchen, ist eine gut ausgestattete und vor allem motivierte Polizei. Natürlich brauchen wir auch Statistik. Und es ist gut, dass im Koalitionsvertrag die Überarbeitung des Periodischen Sicherheitsberichts vereinbart worden ist, und – Axel Müller hat es gesagt – er ist ja auf dem Weg. Der letzte hatte 830 Seiten. Dass er zu knapp gehalten war, kann man ihm nicht vorwerfen. Ich glaube, wir müssen auch bei der Statistik sehen, dass wir noch fokussierter werden. Die Aufblähung der Studienlandschaft, wie wir Sie jetzt auch im Gesetzentwurf der Grünen sehen, wird diesem Ziel einfach nicht gerecht. Wenn Sie von den Grünen von „vertiefter Berichtslegung über die Kriminalitätslage“ sprechen und man die Meldewege kennt, dass nämlich die einfachen – in Anführungsstrichen – Beamtinnen und Beamten in Amtsstuben melden, was sie im Alltag erleben, dann ist das, was Sie vorschlagen, ein Mehr an Schreibtischarbeit, ein Mehr an Dokumentation und damit auch mehr Bürokratie. In anderen Bereichen wie beispielsweise der Pflege sind wir uns alle einig, dass wir weniger Dokumentation brauchen, um mehr Power an den Menschen zu bringen. Gerade hier wollen wir es andersherum machen; ich halte das für falsch. ({0}) Wir brauchen Beamte auf der Straße. ({1}) Denn da sorgen sie für Sicherheit und erzeugen auch das Gefühl von Sicherheit. Diese Misstrauensdokumentation – anders kann ich persönlich diesen Gesetzentwurf nicht empfinden – ist handwerklich mau und auch in Teilen widersprüchlich; denn Sie fordern die Beteiligung der Wissenschaft – die erfolgt ja auch; wir haben es gehört –, aber auch der Zivilgesellschaft. Was das heißen soll, ist derart unbestimmt, dass es sich mir nicht erschließt. Sollen sich in Zukunft Kriminalbeamte mit Professoren, die das von der Materie her können, mit gewaltaffinen Antifagruppen oder Sozialarbeitern zusammensetzen, ({2}) die mit der Materie nicht vertraut sind? Ich weiß nicht, was das bringen soll. ({3}) Auch über den Datenschutz müssen wir mal reden. Wir haben gehört, dass allein 2017  8 400 Hinweise auf Kinderpornografie durchgesickert sind, weil keine Speicherung von IP-Adressen erfolgt – Stichwort „Onlinedurchsuchung“, Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“. Sie bekämpfen und fürchten all das wie der Teufel das Weihwasser. Aber Sie haben hier keine Hemmungen, der Zivilgesellschaft Einblick in strafrechtlich und ermittlungstechnisch sensible Daten zu geben. Auch das halte ich für hoch widersprüchlich. ({4}) Der größte Widerspruch für mich ist aber: Wenn eine Ermittlungsbehörde eine Fahndung ausschreiben und dabei auf Nationalität, Hautfarbe etc. abheben würde, dann wären Sie die Ersten, die hier Zeter und Mordio schreien würden. Sie fordern jetzt aber, dass sich der Sicherheitsbericht Kriminalitätsformen widmen soll, zu denen die PKS keine hinreichenden, spezifischen Merkmale erfasst. Wenn wir einmal an Clankriminalität denken, sehen wir, dass es da gerade auch um die Differenzierung nach Nationalitäten, nach Herkunft geht. Da müssen Sie sich schon die konkrete Frage gefallen lassen: Geht es hier um eine Haltung, oder geht es hier nur um Misstrauen gegenüber unserer Polizei? ({5}) Ich frage abschließend, ob Sie sich im Vorfeld dieses Gesetzentwurfes einmal die Mühe gemacht haben, mit den Basiskämpfern, der Polizei in den Kreispolizeibehörden, zu sprechen. Ich mache das regelmäßig, auch nächste Woche wieder. Die schildern mir immer wieder, dass sie Hunderte Überstunden vor sich herschieben, auch durch Einsätze wie im Hambacher Forst, in Lügde oder in Münster, dass Kriminalbeamte beispielsweise audiovisuelle Vernehmungen durchführen und danach noch selbst das Protokoll tippen. Wie wäre es, die Millionen von Euro, die Sie für Ihren Gesetzentwurf jetzt verplanen, einfach einmal in Entlastung unserer Polizeibeamten zu stecken, wie wäre es, wenn wir das Geld für überbordende Studien einsparen ({6}) und in bessere Arbeitsbedingungen und weitreichendere Befugnisse unserer Sicherheitsbehörden investieren? Zu den Bevölkerungsbefragungen, die Sie ja auch in Ihrem Gesetzentwurf erwähnen, ({7}) sage ich Ihnen ganz eindeutig: Auch die brauchen wir eigentlich nicht. Wir hatten im Sommer 2020 eine Umfrage von Statista, wie sehr die Bundesbürger der Polizei vertrauen. 84 Prozent haben – vollkommen zu Recht – gesagt, sie haben Vertrauen in unsere Polizei. Insofern braucht es diesen Gesetzentwurf in dieser Form jedenfalls nicht. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Sie haben spätestens in der Debatte gemerkt, dass sich zumindest weite Teile Ihres Antrags wahrscheinlich erledigt haben. ({0}) Die Koalition ist über die Aktualisierung des Periodischen Sicherheitsberichts im Gespräch, und Sie sehen, dass wir an der Stelle deutlich mehr anstreben, als Sie es fordern. Ich bitte Sie aber trotzdem, nicht weiter so zu tun, als ob der Periodische Sicherheitsbericht die einzige Quelle wäre, aus der seriöse Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Es ist auch nicht so, dass wir für all das unbedingt Gesetze brauchen. Bitte trauen Sie unseren Sicherheitsbehörden und dem Innenministerium zu, Statistiken – so wie bisher auch – weiterzuentwickeln. Das ist eine der Kernaufgaben der Exekutive. Insofern gibt es nicht nur den Periodischen Sicherheitsbericht, wenngleich, wie gesagt, wir da in der grundsätzlichen Frage nicht auseinanderliegen – übrigens auch nicht, was die Frage der Dunkelfeldausleuchtung betrifft. ({1}) Demgegenüber ist die Initiative der AfD wirklich völlig überflüssig. Ich möchte auch da noch mal daran erinnern: Die Polizeiliche Kriminalstatistik liefert ein detailliertes und differenziertes Bild über die Sicherheitslage in Deutschland, ({2}) übrigens auch über die Herkunft der Täter. Diese Informationen sind selbstverständlich – auch über die Ereignisse in Frankfurt – vorhanden; man muss sie nur lesen. Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Sicherheit in Deutschland durch Investitionen in Personal und Ausstattung unserer Beamten und durch Kompetenzanpassungen an die aktuellen Erfordernisse des Kriminalitätsgeschehens mehr geholfen ist als durch Investitionen in Papier. Ich will in Richtung der AfD noch sagen: Ich bin sehr dafür, dass wir im polizeilichen Berichtswesen weiterhin ehrlich bleiben und auch der Öffentlichkeit wichtige Informationen über den Täter und seine Herkunft nicht verschweigen. Man braucht schon viel grünen Humor, um es lustig zu finden, dass in Baden-Württemberg ein gestandener Polizeipräsident dazu gebracht worden ist, Horden von Gewaltverbrechern als „Partyszene“ zu etikettieren. ({3}) Aber worum es Ihnen geht, ist wirklich völlig aberwitzig, und es zeigt auch Ihre Besessenheit. Sie gehen ja in Ihrem Antrag schon so weit, dass Sie selbst Deutsche unter Generalverdacht stellen, nach dem Motto: Wer kriminell ist, kann nicht rein deutsch sein; das ist der Duktus Ihres Antrags. ({4}) Dazu sage ich Ihnen wirklich: Werden Sie doch bitte einfach mal Ihre Reflexe los, und beziehen Sie in Ihre politischen Handlungen wieder den Denkapparat mit ein! Denn – und das will ich zum Schluss sagen – wozu führt der ganze Irrsinn, den Sie hier vorschlagen? ({5}) Da sind Sie, zumindest in der Folge, in guter Gesellschaft mit den Grünen: Sie beide wollen, dass der polizeiliche Alltag in seinem Großteil von statistischer Erfassung geprägt wird. ({6}) Ich sage Ihnen auch – weil vorhin angesprochen wurde, dass bestimmte Opfergruppen dazu übergegangen sind, Straftaten gar nicht mehr anzuzeigen –: Niemand zeigt eine Straftat wegen der Statistik an, sondern deshalb, damit sie aufgeklärt wird und weil dadurch Präventionsarbeit geleistet wird. Und das geht am ehesten durch Personal. Deshalb ist unser Ansatz der letzten Jahre: weniger Personal in der Verwaltung zugunsten von mehr Personal im Vollzug. ({7}) Dort, wo Sie von den Grünen Verantwortung tragen – oder es gerne täten –, haben Sie einen ganz anderen Ansatz. In Bayern sind Sie dauernd dabei, das zu torpedieren. Und dort, wo Sie selbst Verantwortung tragen, ist das Gegenteil Realität. Ich sage nur: geringste Polizeidichte im ganzen Bundesgebiet in Baden-Württemberg. So werden Sie es nicht schaffen; da hilft Ihnen auch keine Statistik. Vielen Dank und einen schönen Abend. ({8})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist einer der stärksten Wirtschaftsstandorte der Welt und braucht eine Menge gut qualifizierter Fachkräfte, um fit für die Zukunft zu bleiben. Ganz besonders dringend brauchen wir Fachkräfte im Bereich IT, im Handwerk, auf dem Bau, in den technischen Berufen und in der Pflege. Studien zufolge gibt es in rund 400 Berufen Engpässe. Um den wachsenden Fachkräftebedarf zu decken, sind wir deshalb auch auf die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte aus aller Welt angewiesen. Gerade zur Ankurbelung der Wirtschaft nach der Coronakrise brauchen wir qualifizierte Fachkräfte mehr denn je. ({0}) Ingenieure aus Russland, Krankenschwestern von den Philippinen, Konditormeister aus Chile, Industriemechaniker aus Syrien, IT-Spezialisten aus Indien – hier kommt das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz ins Spiel, das wir 2012 als Kernstück des Anerkennungsgesetzes eingeführt haben. Es ist ein Gesetz mit einem schwierigen Namen; aber dass es ungemein erleichternd wirkt, wenn es um die Anerkennung und Gleichwertigkeit ausländischer Berufsabschlüsse in rund 600 bundesrechtlich geregelten Berufen geht, ist unbestritten. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass ausländische Fachkräfte unseren Unternehmen dabei helfen können, wettbewerbsfähig zu bleiben. Das gibt den Fachkräften auf dem deutschen Arbeitsmarkt zudem eine sichere Perspektive und eröffnet interessante Karrierechancen, und auch die Integration von qualifizierten Geflüchteten wird durch die Anerkennung erleichtert. Erst im März haben wir an dieser Stelle darüber diskutiert, dass das Anerkennungsgesetz seit 2012 eine ganz wichtige und erfolgreiche Waffe im Kampf gegen den Fachkräftemangel ist. Seit 2012 wurden allein für die bundesrechtlich geregelten Berufe rund 175 000 Anerkennungsanträge gestellt. Über die Hälfte wurden positiv beschieden, in fast allen anderen Fällen wurden die Qualifikationen als teilweise gleichwertig anerkannt oder die Auflage einer Nachqualifizierungsmaßnahme gemacht. Auch die neuen Zahlen aus dem letzten Jahr sprechen für sich: 2019 haben die Anerkennungsverfahren einen neuen Höchststand erreicht, besonders in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Hier wurden zwei Drittel der über 33 000 Anträge gestellt, und die Zahl der Anerkennungen hat sich seit 2016 fast verdreifacht. ({1}) Drei Viertel aller Anträge zu Berufen in Bundeszuständigkeit kamen außerdem aus Nicht-EU-Staaten. Mit dem Anerkennungszuschuss, der zentralen Informationsplattform „Anerkennung in Deutschland“, dem Programm IQ, „Integration durch Qualifizierung“, und anderen Initiativen haben wir zudem die Hilfen für die Antragsteller immer weiter ausgebaut. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das am 1. März in Kraft getreten ist, haben wir die Möglichkeiten des Aufenthalts zur Arbeitssuche und zur beruflichen Anerkennung erweitert. Die neue Zentrale Servicestelle Berufsanerkennung bei der BA in Bonn lotst die zuwanderungsinteressierten Fachkräfte zudem seit Februar schnell und sicher durch die komplexen Verfahren. Besonders das neue beschleunigte Fachkräfteverfahren im Rahmen des Anerkennungsgesetzes wird helfen, viele bürokratische Hürden bei der Fachkräfteeinwanderung zu umschiffen. Damit das Fachkräfteeinwanderungsgesetz optimal wirken kann, werden wir dem Anerkennungsgesetz heute noch einen weiteren Feinschliff verpassen. ({2}) Wir müssen die Anerkennung bundesweit einheitlich, verlässlich und gleichzeitig flexibel gestalten. Die Verfahren des Bundes und der Länder, die alle eigene Anerkennungsgesetze haben und die inzwischen ein Muster-Änderungsgesetz unter anderem zum beschleunigten Fachkräfteverfahren abgestimmt haben, dürfen nicht auseinanderdriften. Erstens. Wir werden deshalb die Rolle der Ausländerbehörden im neuen beschleunigten Fachkräfteverfahren als Schnittstelle zum Arbeitgeber stärken. Zweitens. Ein ganz wesentlicher Punkt ist für mich, dass wir einen neuen separaten Feststellungsbescheid zur Gleichwertigkeit der ausländischen Qualifikation bei reglementierten Berufen – also unter anderem in Gesundheitsberufen – einführen, um flexibler reagieren zu können und um die Angleichung an berufsrechtliche Fachgesetze zu fördern. Bisher wurde die Gleichwertigkeit nur im Berufszugangsverfahren geprüft, das neben dem Berufsabschluss weitere Anforderungen an die Berufserlaubnis stellt, zum Beispiel gesundheitliche Eignung, Zuverlässigkeit, Sprachkompetenzen. Künftig soll deshalb eine separate Gleichwertigkeitsprüfung beantragt werden können, bei der es nur um die Qualifizierung geht. Der neue Feststellungsbescheid wird es zum Beispiel Gesundheits- und Pflegefachkräften erleichtern, unter bestimmten Bedingungen auch hier in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten. Er ebnet den Weg in Qualifizierungsmaßnahmen zur Erlangung der vollen Gleichwertigkeit, und er erhöht die Chancen auf ähnliche, nicht reglementierte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Drittens. Wir brauchen aussagekräftige Daten, um die Wirkung der neuen Maßnahmen zu evaluieren und insbesondere unser erklärtes Ziel zu erreichen, die Fachkräftezuwanderung weiter zu optimieren und zu beschleunigen. Deshalb werden wir die statistische Erhebung zu den Anerkennungsverfahren noch konkreter gestalten. Deshalb werden wir als neue Merkmale das Datum der Empfangsbestätigung, das Datum und die Vollständigkeit der vorzulegenden Unterlagen sowie Besonderheiten im Verfahren erfassen. Diese Änderungen sind wichtig, auch wenn wir leider feststellen müssen, dass durch die coronabedingten weltweiten Lockdowns viele Maßnahmen, die die Anerkennung der ausländischen Qualifikationen und die Fachkräftezuwanderung erleichtern sollen, zurzeit nicht ihre volle Wirkung entfalten können; auch das beschleunigte Fachkräfteverfahren nicht, denn in den Visastellen stauen sich die Anträge. Umso dringender ist es deshalb, nicht nur die Gesetze weiter zu optimieren, sondern auch die Visaverfahren schnell weiter zu digitalisieren. ({3}) Umso dringender wird es, dass die Bundesregierung ihren umfassenden Plan für eine Digitaloffensive zur Integration so schnell wie möglich umsetzt, die auch bei der schnellen Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse greifen muss. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Nicole Höchst. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Selten kommt es in diesem Hause vor, dass sich alle Fraktionen einig sind. Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist dies offenbar der Fall – nicht dass Frau Bundeskanzlerin hierin ein Problem sieht, das analog zur demokratischen Ministerpräsidentenwahl Anfang des Jahres in Thüringen wieder rückgängig gemacht werden muss. Die Modernisierung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und des Fernunterrichtsschutzgesetzes räumt endlich mit überflüssigen und überholten Regelungen auf. Geradezu widersinnig war die bisherige Gesetzeslage im Fernunterrichtsschutzgesetz. So konnte Fernunterricht, beispielsweise ein Onlinevorbereitungskurs oder eine Fortbildung nach Handwerksordnung, nicht online gebucht oder gekündigt werden. Es bedurfte hierzu bis dato eines schriftlichen, eigenhändig unterschriebenen Vertrags oder einer ebensolchen Kündigung. Diese musste auf dem Postweg versandt werden. Dass man dies erst jetzt, im Jahr 2020, endlich auch online durchführen können soll, zeigt, wie schlecht es um die Digitalisierung in Deutschland bestellt ist. Ist das das Ergebnis jahrelangen Schnarchens auf der Regierungsbank, oder haben Sie vielleicht einfach die falschen Prioritäten gesetzt? Beispielsweise spielen Sie zurzeit das letzte Bollwerk zwischen den Menschen und der herbeihysterisierten PCR-Test-Pandemie. Sie jagen dabei mit großem Halali nach einer kleinen Spinne im Geschirrschrank, zerschlagen das gesamte Porzellan und zerlegen den Schrank gleich mit. Absicht oder einfach Lebensferne? So mancher Vertreter dieser und vergangener Regierungen war in seinem Leben noch nie etwas anderes als Berufspolitiker und/oder Lobbyist. Dabei hätte es sicher einigen gutgetan, etwas anderes vor dem Eintritt in den Mikrokosmos Bundestag gesehen zu haben. Stimmt nicht? Ich bitte Sie. ({0}) Hier im Bundestag muss bis heute vieles noch gefaxt werden. In der Schlüsselstelle werden Karteikarten sogar noch nostalgisch mit einer Schreibmaschine beschrieben. Bei den vorgeschlagenen Änderungen im BQFG handelt es sich also um nichts weniger als ein kleines Wunder, das wir gerne bestaunen und mittragen. Die Regelungen auf Bundesebene zur Berufsanerkennung werden an die Regelungen der Länder angeglichen; dies schafft Transparenz für den Bürger. Die erweiterte statistische Aufarbeitung bezüglich der Anerkennungsverfahren ist zur Auswertung und gegebenenfalls Verbesserung der Verwaltungsverfahren unbedingt sinnvoll. Die Ermöglichung der gesonderten Gleichwertigkeitsprüfung ausländischer Abschlüsse bei auf Bundesebene reglementierten Berufen wie Ärzte, Apotheker, Notare, Pflegeberufe etc. ist überfällig. Das wichtigste Argument aber, warum es sich hier um einen sinnvollen Gesetzentwurf handelt, ist, dass er dem Bürger und der Wirtschaft Geld spart. Das ist das Topargument in Zeiten, in denen die Regierung durch ihre unverhältnismäßigen Coronamaßnahmen das Geld der Bürger nicht nur verbrennt, sondern auch noch dafür sorgt, dass sich geschredderte Wirtschaftszweige zukünftig gar nicht mehr am Steueraufkommen beteiligen können und viele Familien in staatliche Abhängigkeit geraten. Werte Bundesregierung, kümmern Sie sich doch zukünftig häufiger um solche Art nutzbringende Dinge. Es gibt so vieles, was Sie zum Wohle des deutschen Volkes beherrschen könnten, wenn Sie nur wollten. Die AfD-Fraktion stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu und fordert Sie zusätzlich unmissverständlich auf, die widersprüchlichen, rechtswidrigen und unverhältnismäßigen Coronamaßnahmen sofort zu beenden. ({1}) Bitte gehen Sie den Weg der Angstmache und der Zerstörung nicht weiter. Bitte kehren Sie um. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Bahr, SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Koalition hat im Bildungsbereich bereits viel auf die Schiene gebracht, um dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken. Wir haben das Berufsbildungsgesetz novelliert und mit der Reform unter anderem eine Mindestausbildungsvergütung erstmals gesetzlich verankert. Der SPD-Bundestagsfraktion war dies besonders wichtig; denn die Mindestvergütung für Auszubildende ist für uns nicht einfach nur die Bezahlung von Arbeit, sondern auch ein Ausdruck von Respekt gegenüber der Leistung, die Auszubildende jeden Tag erbringen. ({0}) Eine Ausbildungsvergütung ist ein wichtiger Anreiz für junge Menschen, sich überhaupt für eine berufliche Ausbildung zu entscheiden. Das neue Berufsbildungsgesetz ist seit dem 1. Januar dieses Jahres in Kraft. Neben der Stärkung der beruflichen Ausbildung haben wir mit der Reform des Aufstiegs-BAföG ein staatliches Förderinstrument neu aufgestellt, das massiv bei den anfallenden Kosten für eine berufliche Fort- und Weiterbildung unterstützt. Die Botschaft des neuen Aufstiegs-BAföG ist klar: Für Beschäftigte lohnt es sich in jedem Fall, sich beruflich weiterzuentwickeln. Der Staat unterstützt sie bei ihrem Vorhaben. Auch das wirkt sich auf das Fachkräfteangebot positiv aus. ({1}) Das neue Aufstiegs-BAföG ist seit dem 1. August dieses Jahres in Kraft. ({2}) Angehende Akademiker schließlich hat die Koalition mit der BAföG-Novelle im Blick: Höhere Zuschüsse zu Wohn- und Lebenshaltungskosten wirken Finanzierungsängsten entgegen und erleichtern so die Entscheidung für ein Studium. Auch wenn die versprochene Trendwende noch nicht erreicht wurde, so bleibt das BAföG das zentrale Förderangebot für Studierende. ({3}) In Zeiten sinkender Antragszahlen kann man das nicht oft genug in Richtung der Bildungsministerin sagen; das muss sie im Blick haben. Die angepassten BAföG-Regelungen sind seit dem 1. September 2019 in Kraft. Kurz skizziert, sind das drei ganz konkrete und bereits beschlossene Gesetze, welche die Aus- und Weiterbildung stärken und das Fachkräfteniveau steigern. Aber nicht nur wir Bildungspolitikerinnen und ‑politiker arbeiten daran, dem Mangel an gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entgegenzutreten, sondern auch SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil hat mit seinem Qualifizierungschancengesetz und dem Arbeit-von-morgen-Gesetz zentrale Schritte unternommen, um Betriebe sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu unterstützen, sofern sie in das berufliche Fortkommen investieren. So rücken wir alle die Aus- und Weiterbildung zentral in unser gemeinsames Handeln, und trotzdem reichen diese Anstrengungen nicht immer vollumfänglich aus. Deutschland benötigt zusätzliche Fachkräfte; das ist eine gesicherte Erkenntnis. Das wissen wir alle. Und deswegen müssen wir den Arbeitsstandort Deutschland attraktiv auch für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestalten und ausbauen. Mit dem im März dieses Jahres in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist uns ein zentraler Schritt dafür gelungen. Mit einem einheitlichen Fachkräftebegriff stellen wir klare Regeln auf, wer zu Erwerbszwecken zu uns einwandern darf. Gleichzeitig wurde der Arbeitsmarkt geöffnet, damit auch ausländische Fachkräfte mit einer Berufsausbildung die Möglichkeit haben, sich bei uns eine Existenz aufzubauen, ohne den Zugang auf Mangelberufe zu beschränken. Das ist ein Novum, das unterstreicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und, ganz nebenbei gesagt, schon lange war – ob es der AfD gefällt oder nicht. Auch das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz steht seit 2012 für eine gelebte Anerkennungskultur in Deutschland. Im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes muss es nun marginal geändert werden, wofür ich heute um Ihre Zustimmung bitte. Verfahrensvereinfachungen senken bürokratische Hürden. Weitere Änderungen ermöglichen den Antragstellern eine Qualifizierungsmaßnahme zur Erlangung einer Berufserlaubnis. Das Gesetz ist somit zentral, damit Menschen die Möglichkeit bekommen, entsprechend ihrer Qualifikation bei uns zu arbeiten. Viel zu oft sind Beschäftigte aus dem Ausland noch unterhalb ihres Qualifikationsniveaus angestellt. Mit dem Anerkennungsgesetz bekommen sie echte Zukunftschancen und werden bei ihrer beruflichen Weiterentwicklung nachhaltig unterstützt. ({4}) Auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Anerkennung der Schlüssel zu deutlichen Einkommenszuwächsen und zu Beschäftigung ist. So steht es im Anerkennungsbericht der Bundesregierung, und das unterstütze ich ausdrücklich. Was gut ist, kann aber noch besser werden. Meine Fraktion ist nach wie vor der Meinung, dass es einen Rechtsanspruch auf eine unabhängige Beratung für alle Anerkennungssuchenden braucht; denn damit steht und fällt ein erfolgversprechendes Anerkennungsverfahren. Sobald ein solcher Rechtsanspruch verankert ist, könnte es unserer Meinung nach auch mehr Anerkennungsverfahren geben und das Gesetz seine volle Wirkung entfalten. Damit könnten wir dem Fachkräftemangel noch besser begegnen. Weiterhin setzen wir uns auch für eine finanzielle Entlastung bei den Lebenshaltungskosten ein, wenn eine Nachqualifizierung nötig wird. Denn viele Anerkennungssuchende befürchten, sich diese nicht leisten zu können und nehmen stattdessen lieber weniger gut bezahlte Jobs an; darauf hat mein Kollege Karamba Diaby im Ausschuss schon hingewiesen. Und das ist mehr als ärgerlich; denn an solchen Kosten sollte kein Verfahren scheitern. Somit wäre hier eine Investition sinnvoll, um Anerkennungssuchenden Planungs- und Rechtssicherheit zu gewähren. Zum Schluss aber noch etwas Erfreuliches. Letzten Montag war ich virtuell mit dem Bundesverband der Fernstudienanbieter verbunden. Man hat mich ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass es längst überfällig gewesen sei, was wir heute noch beschließen möchten, nämlich den Austausch eines einzigen Wortes im Fernunterrichtsschutzgesetz. Mit der Text- statt der Schriftform machen wir das Gesetz ein klein wenig moderner. Und es stimmt: Man soll für einen Onlinekurs einen Printvertrag unterschreiben und analog verschicken, damit er beim Anbieter am Ende wieder digital eingescannt wird? Das ist Unsinn, und das braucht kein Mensch. Da stimmt mir vielleicht sogar der Kollege Brandenburg zu. Was in anderen Branchen längst Standard ist, machen wir nun also auch für den Fernunterricht möglich. Damit haben Interessierte ab dem 1. Januar 2021 die Möglichkeit, rechtssicher und schnell ein digitales Weiterbildungsangebot wahrzunehmen und den entsprechenden Vertrag dafür online abzuschließen oder zu kündigen. Das ist nicht nur während der andauernden Pandemie zu begrüßen, sondern unterstützt eine ganz wichtige Branche in unserem Land. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jens Brandenburg, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Ministerin! Wir entscheiden heute über das Gesetz zur Modernisierung des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes und des Fernunterrichtsschutzgesetzes. Das ist ein langer Titel für ein Gesetz mit relativ wenig Inhalt; im Kern geht es nur um ein paar technische und statistische Anpassungen. Und ja, dem stimmen wir als FDP-Fraktion natürlich gerne zu. Künftig soll es beim Abschluss von Fernunterrichtsverträgen – Frau Bahr, da stimme ich Ihnen auch sehr gerne zu – möglich sein, Belehrungen über Kündigungs- und Rücktrittsrechte sogar per E-Mail zu verschicken. ({0}) Wahnsinn! Dass die Bundesregierung in diesem Kontext gar von Modernisierung und im Ausschuss von einem Digitalisierungsschub sprach, das ist schon ein bisschen übertrieben. Frau Karliczek, ich begrüße wirklich Ihren neuen Digitalisierungseifer, ich würde mich allerdings freuen, wenn Sie damit nicht schon bei der Legalisierung einer Technologie aus den 80er-Jahren Schluss machten. ({1}) Das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz hilft deutschen Unternehmen, im Ausland erworbene Qualifikationen ihrer Bewerber und Bewerberinnen transparent einzuschätzen und vergleichbar zu machen. Das ist also ein großer, wichtiger Beitrag für die internationale berufliche Mobilität und auch zur Minderung des deutschen Fachkräftemangels. Es ist ein gutes Gesetz, aber es hakt an vielen Stellen an der praktischen Umsetzung. Die Verfahren dauern zu lange, sie sind oft intransparent und mit unklaren Zuständigkeiten. Je nach Bundesland und zuständiger Stelle gibt es unterschiedliche Anforderungen an Sprachnachweise und weitere vorzulegende Dokumente. Allein 317 verschiedene Stellen sind bundesweit für die Anerkennung von Fahrlehrerabschlüssen zuständig. Solche Kompetenzen müssen wir stärker bündeln. ({2}) Schaffen wir doch eine einzige zuständige Stelle bundesweit für jeden Beruf. Die IHKen machen es mit der FOSA bereits vor und das Handwerk mit den Leitkammern. Sorgen wir für online zugängliche, transparente Bewertungsparameter. Setzen wir auch Legal Tech ein zur Bewertung von häufig vorkommenden Berufsabschlüssen. Sorgen wir für eine bessere Pflege der internationalen ANABIN-Datenbank, und schaffen wir endlich ein liberales Einwanderungsrecht aus einem Guss mit einem echten Spurwechsel für gut integrierte Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge. ({3}) Ein paar E-Mails und statistische Kennzahlen sind ja ganz nett. Und solche Kleinigkeiten können wir hier heute auch sehr gerne beschließen. Lassen Sie uns dabei aber die großen Aufgaben bitte nicht aus den Augen verlieren: die Anerkennungspraxis deutlich zu vereinfachen und ein echtes liberales Einwanderungsrecht zu schaffen. Das wäre eine wirkliche Modernisierung der beruflichen internationalen Mobilität. Sie hätte es verdient. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Zeiten ist mir zunächst eine grundsätzliche Bemerkung sehr wichtig: Menschen, die nach Deutschland kommen, haben in ihrer allergrößten Mehrheit den Wunsch, sich hier in unsere Gesellschaft einzubringen; sie bringen berufliche Erfahrungen mit, und sie wollen ihr Einkommen selbst finanzieren, im Idealfall mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. ({0}) Und deshalb werden wir jeden Schritt unterstützen, der dazu beiträgt, durch die Anerkennung beruflicher Erfahrungen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern. ({1}) Mir ist aber auch ein Blick über den Tellerrand des Gesetzes wichtig. Zum Ersten: Die Anerkennung ist gewissermaßen ein Werkzeug auf dem Weg in eine angemessene Beschäftigung von Menschen, die zu uns kommen wollen. Sie schafft Rechtssicherheit, Orientierung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Unternehmen, und sie sichert fachliche Augenhöhe innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Aber das alles ist nur für diejenigen möglich, die hier erwünscht sind, die kommen dürfen, wohlgemerkt. Und es ist kein Geheimnis, dass wir den Kreis derer, die hier ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt suchen, öffnen möchten. Immerhin, wir sind mitten in der zweiten Welle. ({2}) Die Frage ist nicht mehr vordergründig, ob wir ausreichende, genügende intensivmedizinische Betreuung haben, sondern die Frage ist mittlerweile: Haben wir genügend Fachkräfte, um intensivmedizinisch zu betreuen? Das Anerkennungsverfahren selbst muss verbessert werden. Einheitlichkeit und Transparenz sind auch hier ein Thema. Die Übernahme der Kosten für diejenigen, die beantragen, und für diejenigen, die zusätzliche Qualifikationsmaßnahmen vorlegen müssen, muss weiter verbessert werden. Zum Zweiten ist noch etwas wichtig. Das ist die Kultur der Vielfalt in den Unternehmen. Fachlich ist eine gewisse Augenhöhe durch die Gleichstellung der Berufsabschlüsse hergestellt; aber auf personeller und auf zwischenmenschlicher Ebene ist da noch einiges zu tun. Ein produktiver Umgang mit Unterschiedlichkeit, mit Diversität ist, denke ich, eine ganz wichtige Aufgabe im Personalmanagement von Unternehmen. Gestatten Sie mir aber noch eine Bemerkung zum zweiten Teil des vorliegenden Artikelgesetzes, der sich mit dem Fernunterricht beschäftigt. Genauer gesagt, möchte ich zu dem sprechen, womit er sich leider nicht beschäftigt. Lernen im digitalen Zeitalter, organisiertes und institutionelles Lernen im digitalen Zeitalter wirft neue Fragen auf: Was ist eigentlich Unterricht, wenn Teilnehmende selbstorganisierend lernen? Wann gilt was als Teilnahme? Welche Standards für digitalen Unterricht müssen geregelt werden? Dazu gehören Interoperabilität – das heißt, die Systeme müssen miteinander funktionieren, müssen vereinbar sein –, die Offenheit der Systeme für die Nutzung von Open Educational Resources, die Plattformunabhängigkeit, sodass Lernmaterialien nicht nur an eine Plattform gebunden sind. Wer sichert die Qualität? ({3}) Im Übrigen sind dies alles Fragen, die sich auch an Schulen richten, nicht nur in Coronazeiten. Und hier, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, fehlt ein größerer Wurf, um eben auch dort Rechtssicherheit und Orientierung zu schaffen. Ich denke, da haben Sie noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Deutschland braucht Fachkräfte, auch aus dem Ausland. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr. Der Mangel an Fachkräften darf nicht zu einer Wachstumsbremse werden. Deshalb müssen wir klar gegensteuern. Es braucht gute Konzepte, um Fachkräfte erstens auszubilden und zweitens zu gewinnen. Chancengerechtigkeit und Teilhabe sind hier die wichtigsten Stichworte. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Jahr für Jahr junge Menschen abgehängt werden, nicht in Ausbildung kommen und deshalb nicht am qualifizierten Berufsleben teilnehmen. Das können wir uns schlicht und einfach nicht mehr leisten. ({0}) Darüber hinaus wissen wir bereits seit Langem, dass die Fachkräfte hier in Deutschland allein nicht ausreichen, um den Fachkräftebedarf zu decken. Wir brauchen also zusätzlich zur besseren Berufsqualifizierung junger Menschen auch die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften aus anderen Ländern. Und da haben Sie ja jetzt die ersten Schritte auf jeden Fall schon gemacht, Frau Karliczek. Mit dem Anerkennungsgesetz haben Fachkräfte aus anderen Ländern das Recht auf ein zügiges Anerkennungsverfahren, und damit wurde ein überfälliger Schritt auf dem Weg in eine offene und moderne Einwanderungsgesellschaft vollzogen. Das begrüßen wir auch ganz klar. Das allerdings sollte Sie, die Regierung, jetzt nicht, so finde ich, zum Eigenlob verleiten. Die Anerkennungspraxis bei uns reicht nämlich bei Weitem nicht aus, um den Fachkräftebedarf zu decken. Das sollten wir schleunigst ändern. ({1}) Schauen wir doch noch mal auf die Anerkennungsquote; wir haben es heute schon gehört. Wir können es ja auch andersherum sehen: Über die Hälfte der Anträge wird abgelehnt. Das ist ein sehr hoher Prozentsatz, ich finde, ein zu hoher Prozentsatz. ({2}) Und woran liegt das? Das Anerkennungsgesetz ist heute immer noch zu stark vom prüfungs- und abschlussbezogenen Denken in Deutschland geprägt; wir haben das auch gerade schon gehört. Mit Blick auf alternative Bildungsmodelle muss endlich auch die Anerkennung nonformaler und informeller Kompetenzen in Angriff genommen werden. ({3}) Es ist also jetzt an der Zeit, die richtigen Schlüsse aus den Erfahrungen der letzten Jahre zu ziehen; denn bei der Umsetzung des Einwanderungsgesetzes ist definitiv noch Luft nach oben. Die Bundesregierung hat es hier eben nicht geschafft, das größte Hindernis bei der Fachkräfteeinwanderung aus dem Weg zu räumen, nämlich das komplexe Verfahren zur Anerkennung der Berufsabschlüsse. Das haben Sie gar nicht angetastet. ({4}) Dazu kommt: Jedes Anerkennungsverfahren kostet Geld. Das Nachholen erforderlicher Qualifizierungen kostet noch mehr Geld. Das wollen wir in Zukunft fördern. Damit kein Talent verloren geht, wollen wir das Aufstiegs-BAföG auch für Anpassungs- und Nachqualifizierungen öffnen und die Unterstützung für die Kosten des Anerkennungsverfahrens verbessern. ({5}) Wege vereinfachen, Hürden abbauen, Qualität sichern, Anstrengungen belohnen: Das kann ein guter Weg für mehr Fachkräfte in unserem Land sein. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich immer schneller. Automatisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz führen dazu, dass das Wissen, das man in der Berufsausbildung oder auch im Studium erworben hat, nicht mehr durch das gesamte Berufsleben trägt. Wer den sich ständig ändernden technisch-digitalen Anforderungen und dem Wandel an seinem Arbeitsplatz gewachsen sein will, der wird sich immer wieder fortbilden müssen. Nur durch zielgerichtete Qualifizierungsmaßnahmen kann die langfristige Beschäftigungsfähigkeit gesichert werden. Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode daher auch einen großen Schwerpunkt auf die Weiterbildung gesetzt und hat unter anderem zusammen mit den Sozialpartnern und den Ländern eine große nationale Weiterbildungsstrategie erarbeitet. Bund, Länder, Wirtschaftsverbände und auch die Gewerkschaften arbeiten sehr effektiv und eng in der Allianz für Aus- und Weiterbildung zusammen. Aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch wir Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion treten für eine Kultur der Weiterbildung ein. Weiterbildung muss etwas Selbstverständliches sein, und sie darf nicht als Muss empfunden werden. Lebenslanges Lernen soll nicht als etwas empfunden werden, das zwangsweise über einen verhängt wird. Lebensbegleitendes Lernen soll etwas sein, dem man sich gerne stellt, was Freude bereitet, weil Wissen ein Reichtum ist und weil Weiterbildung als Chance empfunden wird – zu Recht, denn Weiterbildung ist der Schlüssel zu Aufstieg und Erfolg. ({0}) Wenn wir die Weiterbildung stärken wollen und uns wünschen, dass die Menschen sich mit großer Begeisterung weiterbilden, dann darf Weiterbildung keine Hemmschwellen haben. Sie muss attraktiv und modern sein, und sie muss die Menschen ansprechen. Mit dem Gesetzentwurf, mit dem wir das Fernunterrichtsschutzgesetz modernisieren, soll Bürokratie beim Abschluss eines Fernunterrichtsvertrages abgebaut und damit der Zugang zu digitalen Bildungsangeboten erleichtert werden. Künftig soll – wir haben das jetzt schon mehrfach gehört – das Schriftformerfordernis bei Vertragsabschluss oder bei Kündigung eines solchen Vertrages entfallen und durch die Textform, die auch die Kommunikation per E-Mail ermöglicht, ersetzt werden. Damit wird es nicht mehr erforderlich sein, den Vertrag auszudrucken, zu unterschreiben und dann zur Post zu bringen oder in den Briefkasten zu werfen. Dies wird künftig digital möglich sein, so wie wir heutzutage selbstverständlich auch andere Produkte online oder digital erwerben. Wieso soll ein Teilnehmer eines Fernunterrichts nicht mittels Fernkommunikationsmittel verbindlich buchen dürfen, während er bei der Deutschen Bahn seine BahnCard für ein Jahr online buchen kann oder einen Stromliefervertrag abschließen darf? Wir nutzen die Chancen der elektronischen Kommunikation, um den Zugang zu Bildungsangeboten zu vereinfachen. Damit wollen wir vor allem die junge Generation ansprechen. Schließlich wollen wir alle Altersgruppen für Bildungsangebote begeistern. Gerade die derzeitige Situation mit ihren Herausforderungen auch für die Wirtschaft führt uns vor Augen, wie wichtig gut qualifizierte Fachkräfte für unser Land und wie wichtig digitale Lernangebote sind. Die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen kann nur ein effizientes Weiterbildungsangebot sein, das die Menschen gerne annehmen, um ihre Möglichkeiten, Fähigkeiten und Begabungen im Einklang mit dem technischen Fortschritt weiterzuentwickeln. Die Änderung des Fernunterrichtsschutzgesetzes stärkt Verbraucherrechte, baut Bürokratie ab und baut digitale Bildungsangebote aus. Ich habe herausgehört, dass wir uns hier einstimmig für eine Zustimmung begeistern können. Es freut mich sehr, dass wir das jetzt auf den Weg bringen. Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss als Erstes sagen: Ich bin ein bisschen irritiert, dass die Ministerin genau jetzt geht. Ich finde, das Thema könnte sie interessieren. Ich finde, ehrlich gesagt, das ist eine unmögliche Geste. – Das musste ich jetzt einfach loswerden. ({0}) Ich fange noch einmal an. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zweite Lockdown, seit Beginn dieser Woche, fällt wie schon der Lockdown im Frühjahr fast genau auf den Semesterstart an den Hochschulen. Das Wintersemester hat gerade vor drei Tagen begonnen. Das heißt, für die Studierenden wird das wieder ein Digitalsemester: vor dem PC zu Hause anstatt mit Vorlesungen im Hörsaal. Viele werden wieder ihre Nebenjobs in Cafés oder bei Veranstaltungen verlieren und geraten damit, wie schon im Frühjahr, wieder in finanzielle Schwierigkeiten. Das sind teilweise recht düstere Aussichten. Aber überraschend kommt das alles nicht; denn dass uns eine zweite Pandemiewelle ziemlich genau zu Beginn des Winters erwischen könnte, das war ja wirklich seit dem Frühjahr klar. Trotzdem stehen wir jetzt, im November, quasi vor derselben Situation wie im Frühjahr. Wie im März wissen wieder viele Studierende nicht, wie sie die Miete oder den Internetanschluss bezahlen sollen, sparen vielleicht am Essen und haben am Ende sogar Angst, ihr Studium vielleicht abbrechen zu müssen. Und wie im März lassen diese Ministerin, die jetzt leider gerade den Platz verlassen hat, und diese Regierung die jungen Menschen mit ihren Sorgen und Nöten alleine. Ich finde, das ist unglaublich, das ist Arbeitsverweigerung, und das ist ausgesprochen empathielos. ({1}) Und wie schon im Frühjahr kommt die Große Koalition auch jetzt wieder mit Lösungen daher, die einfach keine sind; zum Beispiel die Bildungskredite, die die Studierenden einfach nur in die Verschuldung treiben, oder die sogenannten Überbrückungshilfen, die vorne und hinten nicht zum Leben reichen und die am Ende nicht mal diejenigen, die sie wirklich brauchen, erreichen. Mehr als ein Drittel der Anträge ist abgelehnt worden. Der Grund für die Ablehnungen war nicht etwa, dass die Studierenden nicht bedürftig gewesen wären, sondern der Grund lag in über der Hälfte der Ablehnungen darin, dass die Notlage der Studierenden schon vor der Pandemie bestanden hat. So lautete die Begründung. Das heißt im Klartext also: Wenn man schon länger und schon vor der Pandemie existenzielle Nöte hatte, dann kann das ruhig so bleiben. – Ja, wie zynisch ist das denn, Kolleginnen und Kollegen? ({2}) Ich finde, das ist keine Hilfe mehr, sondern das ist, ehrlich gesagt, unterlassene Hilfeleistung. ({3}) Und dann kommt noch dazu, dass Sie das BAföG in den letzten Jahren so richtig heruntergewirtschaftet haben. Gerade mal 11 Prozent der Studierenden bekommen noch BAföG, obwohl ja die Große Koalition groß getönt hat, jetzt die Mittelschicht mal so richtig erreichen und entlasten zu wollen. Das ist doch wirklich nur noch ein schlechter Scherz. Man muss ganz klar sagen: Wegen Ihrer Politik haben wir es auch an den Hochschulen mit einer massiven sozialen Spaltung zu tun. Ein Teil der Studierenden lebt schon seit Jahren in sogenannter struktureller Armut. 28 Prozent der Studierenden leben von weniger als 700 Euro im Monat, 14 Prozent von weniger als 600 Euro. Ich finde, das sind alarmierende Zahlen, insbesondere weil die Mieten beständig weiter steigen. Und nichts, wirklich nichts hat diese Bundesregierung dagegen gemacht. Ich finde, das ist ein Versagen sondergleichen. ({4}) Eine anständige Bildungspolitik wäre, dafür zu sorgen, dass die soziale Herkunft nicht immer weiter vererbt wird. ({5}) Darum muss es doch heutzutage gehen. Wir müssen die Hochschulen für diejenigen öffnen, die bisher keinen oder nur schweren Zugang dazu haben, und dafür sorgen, dass eine Pandemie nicht dazu führt, dass genau diejenigen die Hochschulen wieder verlassen müssen. Das wäre eigentlich Ihre Aufgabe! ({6}) Die Linke beantragt heute eine krisensichere soziale Unterstützung für Studierende. Es braucht öffentlich finanzierte Wohnheimplätze, damit die Studierenden nicht in einen Verdrängungswettbewerb mit anderen geraten, die auch über nur wenig Einkommen verfügen. ({7}) Und machen Sie sich endlich daran, das BAföG zu reformieren. Es muss die echten Kosten für Miete, für Krankenversicherung und für Essen decken und nicht die vom Ministerium imaginierten Kosten, die nichts mit der Realität zu tun haben. ({8}) Und die Freibeträge vom Einkommen der Eltern müssen so spürbar angehoben werden, dass die Mittelschicht tatsächlich mal erreicht wird. Es droht sonst eine verlorene Generation von Studierenden zu entstehen, die Sie zu verantworten haben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Stefan Kaufmann ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Beste Bildungschancen für alle zu schaffen und dafür zu sorgen, dass jeder junge Mensch in diesem Land studieren kann, unabhängig vom Einkommen der Eltern, ist ein zentrales Versprechen unserer sozialen Marktwirtschaft. Und dieses Versprechen werden wir als Union und werden wir als Regierungskoalition auch zukünftig halten. ({0}) Das maßgebliche Instrument hierfür ist das BAföG. Es war die Union, meine Damen und Herren, die stets Treiber der Weiterentwicklung des BAföG war ({1}) und in unterschiedlichsten Koalitionen mehrere – zuletzt auch immer größere – Reformen auf den Weg gebracht hat. Wenn jemand etwas für die Ausbildungsförderung und das BAföG in diesem Land getan hat, meine Damen und Herren, dann war es die Union. ({2}) Ich finde, es würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, wenn Sie das auch endlich einmal anerkennen, liebe Opposition. ({3}) Wir, liebe Frau Gohlke, lassen niemanden allein, um das hier mal deutlich zu sagen. ({4}) Mit der aktuellen, 1,3 Milliarden Euro schweren BAföG-Reform haben wir die Unterstützungsangebote für Studierende deutlich verbessert. Die Maßnahmen hierzu werden in drei Etappen umgesetzt. Wir befinden uns gerade erst am Anfang der zweiten Etappe. Wir haben beschlossen, die Einkommensfreibeträge in den Jahren 2020 und 2021 um insgesamt weitere 9 Prozent zu erhöhen. Wir werden auch die Freibeträge für anzurechnendes Vermögen deutlich anheben. Wir haben den Onlineantragsassistenten „BAföG Digital“ in der letzten Woche auf den Weg gebracht, der erhebliche Erleichterungen bei der Antragstellung mit sich bringt. ({5}) Das sind richtige und wichtige Maßnahmen, um die Zahl der Geförderten zu erhöhen, meine Damen und Herren. Aber sie brauchen auch Zeit, um Wirkung zu zeigen. Jetzt, noch vor Ende der Legislatur und obwohl die BAföG-Reform gerade erst im letzten Sommer in Kraft getreten ist, eine neue, umfassende BAföG-Reform zu fordern, wie Sie das tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ist schlicht und einfach nicht zielführend. ({6}) Lassen Sie uns doch bitte erst einmal die Wirkungen der aktuellen BAföG-Novelle abwarten und dann entscheiden, welche weiteren Änderungen beim BAföG vorzunehmen sind. ({7}) Denn entscheidend, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch, dass wir den Studierenden zielgerichtete Lösungen für ihre Finanzierungsprobleme anbieten, statt einfach nur, wie Sie es fordern, Fördersätze nach Bauchgefühl zu erhöhen. ({8}) Meine Damen und Herren, Deutschland hatte im Übrigen vor dem Ausbruch der Coronapandemie eine sehr gute wirtschaftliche Ausgangslage. Sie wissen ganz genau, dass das der Hauptgrund dafür ist, dass die Zahl der Geförderten derzeit nicht steigt oder sogar gesunken ist. Wir erwarten, dass die derzeitige angespannte wirtschaftliche Lage eine erhöhte BAföG-Nachfrage mit sich bringen wird. Diese werden wir aber dank unserer BAföG-Reform vom letzten Jahr gut meistern, und wir werden den Studierenden hier eine krisensichere Unterstützung anbieten können. Wir haben frühzeitig an mehreren Stellen nachjustiert, als die Coronapandemie begann, damit die BAföG-Leistungen eben auch während der Pandemie verlässliche und schnelle Unterstützung für Studierende bieten. Wir haben den BAföG-Vollzug erleichtert. Wir haben BAföG-Berechtigten und vor allem denen, die wegen veränderter eigener oder elterlicher Einkommensverhältnisse kurzfristig BAföG beantragen müssen, möglichst schnell finanzielle Unterstützung gewährt. Und wir haben dafür gesorgt, dass BAföG-Leistungen während der Coronakrise ungekürzt weiter ausgezahlt werden, wenn sich der BAföG-Empfänger in dieser Zeit für die Gesellschaft engagiert hat. Und all das in einem Rekordtempo! Das sollten Sie wirklich auch mal anerkennen, liebe Opposition. ({9}) Uns ist es ein besonderes Anliegen gewesen, auch denjenigen zu helfen, die keinen BAföG-Anspruch haben, die zur Finanzierung eines Studiums jobben müssen und ihren Job in der Krise verloren haben. Für diese Studierenden in einer nachweislich akuten Notlage haben wir als Regierungskoalition sehr rasch ein umfangreiches Unterstützungshilfepaket auf den Weg gebracht. ({10}) – Liebe Frau Kollegin Gohlke, Sie wissen genau: 135 000 Anträge wurden seit Juni bewilligt. 60 Millionen Euro sind hierfür in Rekordzeit geflossen. ({11}) Das können Sie nicht einfach wegdiskutieren. ({12}) Ich bin Ministerin Anja Karliczek dankbar dafür, ({13}) dass sie aufgrund des neuerlichen Lockdowns entschieden hat, die Überbrückungshilfe für Studierende in pandemiebedingter Notlage für den Monat November wieder einzuführen. Die Gespräche zwischen dem Haus, dem DSW und auch den Studentenwerken vor Ort laufen bereits auf Hochtouren. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier sehr schnell zu einer Einigung kommen und dass Studierende auch in dieser aktuellen Lockdown-Situation bald ihre Anträge stellen können. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie sehen, haben wir als Regierungskoalition umfangreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die soziale Lage der Studierenden in Deutschland zu verbessern. Wir stehen weiterhin an der Seite der Studierenden, um sie auch in diesen Krisenzeiten zu unterstützen. Dazu – das möchte ich heute betonen – könnte auch beitragen, die Antragsverfahren für Tatbestände, die eine BAföG-Förderung über die Regelstudienzeit hinaus ermöglichen, über Pauschalisierungen zu vereinfachen. Vielleicht können wir darüber nachdenken. Abschließend möchte ich sagen: Unser Ziel als Koalition und als Union ist es – darin sollten wir uns jedenfalls in diesem Hause einig sein –, künftig immer mehr jungen Menschen zu ermöglichen, ein Studium aufzunehmen oder eine Ausbildung zu beginnen und dabei die Zahl der BAföG-Empfänger zu steigern. Lassen Sie uns daran gemeinsam sachlich arbeiten – aber bitte ohne Aktionismus und ohne Vorwahlkampfgetöse. Danke sehr. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin Gohlke, Sie haben beklagt, dass die Ministerin vor der Debatte den Plenarsaal verlassen hat. Ich muss sagen, ich kann sie ein Stück weit verstehen; denn in Ihrem Antrag steht nun wirklich nichts Neues. Es ist die gleiche Platte, die Sie hier schon mehrfach aufgelegt haben. ({0}) Sie predigen erneut Umverteilung, Gleichmacherei und stellen eine sozialistische Vollkasko-Mentalität in den Raum, die wir als AfD nicht mittragen. ({1}) Meine Damen und Herren, nicht nur das: Ihr Antrag ist auch in sich widersprüchlich. Sie beklagen sich, den Studenten würde es so schlecht gehen, sie hätten kaum was zu essen, sie wüssten nicht, wo sie wohnen sollen – kurzum: Sie wären in einer „prekären Lage“, heißt es in Ihrem Antrag. ({2}) Wie passt das denn damit zusammen, dass wir derzeit eine Rekordzahl an Studenten haben – 3 Millionen junge Menschen studieren –, und es werden immer mehr. Derzeit sind es 500 000 Erstsemester, bis 2030 ist ein Anstieg um 100 000 auf 600 000 Erstsemester prognostiziert; die Zahl nennen Sie selbst in Ihrem Antrag. Ja, wie kann es denn sein, wenn es so schlimm ist, zu studieren und an der Uni zu sein, dass immer mehr Menschen dort hinstreben? Ganz so schlimm kann es dann ja nicht sein. Was fordert nun die Linke konkret? Sie wollen mehr Wohnheimplätze schaffen. So weit, so gut. Sie berücksichtigen aber nicht, dass in den letzten zwölf Jahren die Kapazität der Wohnheimplätze ausgebaut worden ist, und zwar um immerhin 16 000 Plätze; derzeit haben wir 240 000 Wohnheimplätze bundesweit. Interessanterweise sind alle neuen Wohnheimplätze nicht im Osten unseres Landes entstanden, also in den Ländern, wo die Linke Regierungsverantwortung hatte oder hat, sondern im Westen unseres Landes. ({3}) Wenn wir uns das genau angucken, stellen wir fest, dass es noch interessanter wird. In Berlin regieren Sie ja mit. Dort liegt die Unterbringungsquote bei bescheidenen 5,8 Prozent. Ähnlich auch in Bremen: 6,6 Prozent; Linke an der Regierung. In Sachsen, meine Damen und Herren, haben wir 15,4 Prozent Unterbringungsquote, in Baden-Württemberg immerhin 13 Prozent. Was haben diese beiden Länder gemeinsam? Richtig: Sie sind dort nicht an der Regierung. Ist ja interessant. Des Weiteren fordern Sie mal wieder das BAföG für alle, sozusagen ein Grundeinkommen für Studenten. Elternunabhängig soll es natürlich sein; ({4}) da hat sich die FDP inzwischen ja auch angehängt. ({5}) Wo ist das denn bitte schön sozial gerecht? Elternunabhängiges BAföG heißt nichts anderes, als dass auch die Tochter, der Sohn des wohlhabenden Zahnarztes oder des wohlhabenden Linken-Abgeordneten BAföG beantragen kann. Meine Damen und Herren, das ist nicht sozial gerecht, das ist sozial höchst ungerecht. ({6}) Natürlich kommt hinzu, dass Sie die Altersgrenze abschaffen wollen, sozusagen Studieren bis zur Rente. Und natürlich sollen auch sämtliche Ausländer BAföG beziehen können. Sogar für Geduldete, also Menschen, die unser Land eigentlich verlassen müssen, bei denen die Abschiebung nur ausgesetzt ist, fordern Sie das BAföG. Sie verkennen aber, dass das im BAföG längst geregelt ist: § 8 Absatz 2a. Das kann man natürlich kritisieren; aber da steht das längst drin. Lesen Sie es bitte nach. Sie sehen auch an dieser Stelle: Ihr Antrag ist handwerklich höchst schlecht gemacht. Fazit, meine Damen und Herren: Studium ist kein Beruf. Schulen und Universitäten sind keine Fabriken, aber auch kein Sozialamt. Sie sind Ausbildungsstätten, und das ist auch gut so. Ganz kurz zum Abschluss noch etwas dazu, was wir eigentlich in den Mittelpunkt stellen müssten: Wir müssen den Leistungsgedanken ausbauen. Wir brauchen mehr Leistungsstipendien. Wir sollten auch das duale Studium ausbauen; das ist eine sinnvolle Einrichtung. Und wir sollten endlich die Inflation der Hochschulzugangsberechtigung beenden. Das Abitur, meine Damen und Herren, muss wieder zu einem echten Leistungsnachweis werden. Ich danke Ihnen. ({7})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war gut, dass wir in den letzten Tagen über Gastronomen, Schausteller, Kulturschaffende, Veranstalter gesprochen haben. Das alles sind Branchen, die in der Krise berechtigte Interessen an uns formulieren und Unterstützungsbedarf artikulieren, was auch richtig ist. Jetzt ist es aber auch richtig, darüber zu sprechen, wie die berechtigten Interessen der jungen Generation in der Krise berücksichtigt werden. ({0}) Es geht darum, wie diejenigen berücksichtigt werden, die in der Schule sind, die sich in der betrieblichen Ausbildung befinden oder die eben ein Studium absolvieren; denn die Herausforderung, vor der wir stehen, ist: Die Pandemie darf für die junge Generation nicht zum Chancenrisiko werden. Wir müssen in den nächsten Tagen und Wochen alles dafür tun, damit es keine Coronageneration gibt. ({1}) Es ist gut, dass wir feststellen können: Der größte Teil der Studierenden kommt durch die Krise. Die meisten werden von ihren Eltern unterstützt, sie verbrauchen ihr Vermögen, sie leihen sich Geld bei Freunden. Das alles sind aber Ressourcen, die endlich sind. Über zwei Drittel aller Studierenden haben einen Nebenjob, und wir müssen feststellen, dass gerade in den Branchen, in denen sie tätig sind, im November keine Möglichkeit besteht, Einkünfte zu erzielen. Was es jetzt braucht, sind Hilfen für Notlagen, um das Studium beenden zu können. Wer dabei allein auf individuelle Verschuldung als Nothilfe setzt – das war ja der Ursprungsvorschlag der Ministerin, und die FDP ist ja auch auf diesem Weg –, der riskiert, dass genau die besonders hart getroffen werden, die ohnehin am wenigsten haben. Das ist weder besonders mitfühlend noch besonders schlau; denn die Folgen wären Ausbildungsabbrüche und Fachkräftemangel, und genau dagegen müssen wir präventiv vorgehen. ({2}) Zur Erinnerung: Die SPD war und ist für Nothilfen im BAföG; sie ist nicht für eine Verteilung mit der Gießkanne an Betroffene und auch nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das BAföG ist der richtige Ort für diese Hilfen für diejenigen, die Unterstützung brauchen, um ihre Ausbildung zu Ende führen zu können. ({3}) Deshalb hat es für diese Forderung ja auch große Unterstützung gegeben, vom Deutschen Studentenwerk bis hin zur Hochschulrektorenkonferenz. Diese Lösung bleibt richtig. Wir, die SPD, sind für eine Lösung im BAföG. Es gibt aber eben Situationen, in denen man als politisch Verantwortlicher entscheiden muss: Kapituliert man vor ideologischen Festlegungen – einer Ministerin beispielsweise –, ({4}) oder versucht man, unter den gegebenen politischen Verhältnissen das Beste für die Betroffenen herauszuholen? Wir haben uns fürs Helfen entschieden. Deshalb bin ich auch sehr selbstbewusst und sage: Ohne die SPD, ohne Olaf Scholz – wir wissen ja, wie die Gespräche gelaufen sind – hätte es diese Überbrückungshilfe nicht gegeben, hätte es keine Alternative zum KfW-Studienkredit gegeben. Jetzt gibt es eine Hilfe als Vollzuschuss mit Zugang für viele, die sonst gar keine Hilfe bekommen hätten. Es war gut, dass wir das noch riskiert haben. ({5}) Ich will an dieser Stelle auch ein Dankeschön an die Studentenwerke sagen, die das zusätzlich zu ihrer Arbeit abgewickelt haben, die sie ohnehin zu erledigen haben, und jetzt, da wir im Wintersemester damit starten und die ganzen BAföG-Anträge dort eingehen, an ihre Belastungsgrenze kommen. Es war großartig, dass sich die Studentenwerke daran beteiligt haben. Sie haben ihre Studenten nicht hängen lassen. Herzlichen Dank dafür! ({6}) Wer will, der kann aus der ersten Phase der Überbrückungshilfen auch etwas lernen. Es besteht nämlich überhaupt kein Zwang, alles genau so zu machen wie beim ersten Mal. Man kann zum Beispiel lernen, dass es viel zu viele Nachweise gebraucht hat, um einen Antrag bewilligt zu bekommen. Man kann zum Beispiel lernen, dass der Antrag zu oft gestellt werden musste, nämlich monatlich, was viel Arbeit bei den Studentenwerken verursacht hat. Wer ein Betätigungsfeld für Bürokratieabbau sucht, der findet hier eines. Wir können die Überbrückungshilfen bürokratieärmer gestalten und damit auch einfacher zugänglich machen. Vor allem aber müssen wir erkennen – das ist hier schon genannt worden –: Fast die Hälfte aller abgelehnten Anträge ist abgelehnt worden, obwohl eine Notlage nachgewiesen werden konnte, ({7}) die aber nicht pandemiebedingt eingesetzt hat. Mit anderen Worten: Die Lehre aus der Überbrückungshilfe ist, dass es viel zu viele Studierende in Not gibt, und zwar unabhängig von der Pandemie. ({8}) Das ist eine Erkenntnis, die wir nicht einfach schulterzuckend zur Kenntnis nehmen dürfen. Wir dürfen diese Studierenden jetzt nicht hängen lassen. Wir müssen ihnen helfen, damit sie ihre Ausbildung erfolgreich beenden können; denn wir brauchen sie als Fachkräfte, wenn wir gut aus dieser Krise rauskommen wollen. Die SPD fordert daher nach wie vor einen dauerhaften Notfallmechanismus im BAföG. Wie gesagt: Es geht nicht um eine Verteilung mit der Gießkanne, sondern um gezielte Hilfen für diejenigen, die in einer Notlage sind und ihre Ausbildung an der Universität ansonsten nicht beenden können. Auch dafür haben wir prominente Unterstützer, beispielsweise das Deutsche Studentenwerk. Und wieder muss man sich entscheiden, wenn man politisch in Verantwortung ist: Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, vor ideologischen Vorbehalten zu kapitulieren? Ist es der Zeitpunkt, wegzurennen, wie andere das machen? Oder will man vielleicht doch noch was für die Betroffenen bewegen? Die SPD hat sich immer für Verantwortung entschieden. Sie hat sich immer dafür entschieden, unter den gegebenen politischen Umständen so viel wie möglich für die Betroffenen – gerade für die, die sozial schwach sind – rauszuholen. Meine Bitte an die Ministerin, auch wenn sie jetzt nicht hier ist – Herr Rachel, Sie können es vielleicht an sie weitergeben –, ist, das jetzt nicht stur durchzuziehen. Das klappt sowieso nicht; das wissen wir. Wenn wir die Übergangshilfen wieder in Gang setzen, brauchen wir eine bessere Lösung, eine unbürokratischere Lösung, vielleicht auch eine Ausweitung der bisherigen Hilfen, und das schnell; denn die Betroffenen haben keine Zeit. Sie müssen die richtigen Lehren aus der Überbrückungshilfe I ziehen. Die SPD ist bereit dazu. Wir müssen jetzt nur schnell sein und dürfen vor allen Dingen keinen Zweifel daran lassen: Wir kämpfen dafür, dass es keine Coronageneration geben wird. Das werden wir jetzt auch dokumentieren. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich vermute, Sie sind gerade am Bildschirm, um diesen Koalitionskrach nicht hier vor Ort erleben zu müssen; aber hoffentlich hören Sie zumindest zu. Mit dem zweiten Shutdown in der Coronazeit verlieren viele Studierende ihre Nebenjobs, auf die sie dringend angewiesen sind, um ihr Studium zu finanzieren. Immerhin die Wiederauflage der Überbrückungshilfe hat Frau Karliczek ja angekündigt. Im Frühjahr hat sie mehrere Monate vertrödelt, bis ihre Viel-zu-spät-Hilfe irgendwann geflossen ist. Jetzt ist sie wieder in Gesprächen mit offenem Ausgang. Es rächt sich, dass sie bis heute keine krisenfeste Studienfinanzierung geschaffen hat. Frau Karliczek, Sie verweisen ja so gerne auf die Bildungshoheit der Länder. Die Studienfinanzierung ist ganz allein Ihre Aufgabe. ({0}) Es war absehbar, dass wir jetzt, im November, wieder in genau dieser Lage sein würden. Die Zeit drängt. Lieber Kollege Stefan Kaufmann, Abwarten ist in der Krise gerade keine Lösung. ({1}) Die Nothilfe ist ausgelaufen, die Zinsen für den KfW-Studienkredit werden schon im April wieder auf über 4 Prozent ansteigen, und schon heute stehen wieder etliche Studierende im Regen. Warum öffnen Sie, liebe Unionsfraktion und auch lieber Koalitionspartner SPD, denn nicht zumindest das BAföG-Volldarlehen für alle Studierende, die in der Krise ihre Nebenjobs verloren haben? Das könnten wir schnell beschließen, die Gelder wären kurzfristig bereit, und die Rückzahlung ist zinsfrei und erst nach dem Studium fällig. Warum stellen Sie auch den Studierendenwerken vor Ort nicht endlich eine unbürokratische Nothilfe zur Verfügung? Warum versperren Sie sich bis heute einer strukturellen Reform des BAföG zu einer elternunabhängigen Förderung? Der Zugang zum Studium darf nicht länger vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Es ist Ihre Verantwortung, das zu gewährleisten. Also handeln Sie endlich! ({2}) Diese Krise hat nur offenbart, was vorher eigentlich längst allen klar war: Trotz finanzieller Nöte fallen beim BAföG weiterhin wahnsinnig viele Studierende durch das Raster. Die größten finanziellen Sorgen haben ja gerade die, deren Eltern für das BAföG zu viel, aber für die volle Studienfinanzierung zu wenig verdienen, und es sind ausgerechnet die Nicht-BAföG-Empfänger und -Empfängerinnen, die am meisten auf umfangreiche Nebenjobs angewiesen sind. Deshalb auch liebe Grüne, liebe Linke: Erste Priorität sollte gerade nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen für bisherige BAföG-Vollempfänger haben, ({3}) sondern eine elternunabhängige, faire Unterstützung und Chance für alle. ({4}) Der Zugang zum Studium darf nicht länger von der Unterstützungskraft und auch nicht von der Unterstützungsbereitschaft der Eltern abhängen. Ein gegenfinanziertes Konzept für eine strukturelle Reform haben wir Freie Demokraten schon vor Monaten vorgelegt; das können Sie auch gerne mal lesen. ({5}) – Sorry, aber ich höre hier nur Gebabbel. Wir können uns gerne gleich genauer austauschen, aber akustisch kommt hier gerade nicht mehr an. – Es ist höchste Zeit, das endlich zu beschließen. ({6}) Ein letzter Punkt zu unserem Antrag heute. Bezahlbare Ausbildung setzt auch bezahlbaren Wohnraum voraus. Mehr Wohnungen und niedrige Mieten wird es erst geben, wenn Bauen wieder attraktiver wird. ({7}) Dabei sollten wir auch Auszubildende aus der beruflichen Bildung nicht vergessen. Die Voraussetzungen für gemeinsame Wohnheime für Studierende und Auszubildende wollen wir Freien Demokraten schaffen. ({8}) Dann kommen Theorie und Praxis in der Etagenküche zusammen. Ich werbe heute um Unterstützung unseres Antrags. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Studierende sind vom Lockdown besonders betroffen. Sie leben häufiger allein, durch Onlinesemester haben sie weniger Austausch, studentische Nebenjobs brechen wieder reihenweise weg. Darum müssen wir uns als Parlament doch kümmern. Wir können uns keine perspektivlose Generation Corona erlauben. ({0}) Dass die Hochschulen mit ihren 3 Millionen Studierenden und über 400 000 Beschäftigten bei den Wellenbrecherbeschlüssen mit keiner Silbe auftauchen, ist für mich unerträglich ignorant. Einmal mehr hat Ministerin Karliczek geschlafen. Wenn die Ministerin einmal so flott handeln würde, wie sie vorhin den Plenarsaal verlassen hat, dann wäre so viel für Bildungsaufstiege im Land erreicht. ({1}) Die Überbrückungshilfe für Studierende hat die Ministerin kurz vor Semesterbeginn, mitten in der Pandemie ersatzlos auslaufen lassen, Ja wie geizig und wie instinktlos ist das eigentlich? ({2}) Dieses Provisorium Überbrückungshilfe und ihre Studienkredite mit Schuldenberg, von denen eigentlich nur die FDP ein Fan ist, müssen durch eine wirksame Unterstützung für alle Studierenden in finanzieller Not ersetzt werden. ({3}) Frau Karliczek scheint aber jede Empathie zu fehlen, um sich in die Situation von Studierenden hineinzuversetzen. Den Eindruck teilen die demokratischen Oppositionsfraktionen im Bundestag und sogar ihr Koalitionspartner SPD, bei dem man schon dachte: Was für eine tolle Oppositionsrede! – Ja, machen Sie doch endlich! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen Sie los! Wieso öffnen Sie für Studis in Coronanöten nicht zeitweise das BAföG? ({4}) Wachen Sie endlich auf! Sorgen Sie dafür, dass aus der Coronakrise keine Bildungskrise wird! Die Pandemie macht die Defizite der Studienfinanzierung doch brutal sichtbar. Die Regierung muss endlich aufhören, das kleinzureden. 16 Jahre CDU, zig Novellen, und das BAföG hat in den letzten Jahren weiter massiv an Bedeutung verloren. 89 Prozent der Studierenden kriegen keins mehr. Das ist doch bildungs- und sozialpolitisch fatal. ({5}) Nach den letzten Zahlen des Statistischen Bundesamtes bekommen nur noch 11 Prozent der Studierenden BAföG. Ja, da müssen Sie doch mal handeln und zumindest die Statistiken, die es gibt, wahrnehmen. ({6}) Den BAföG-Bericht verzögern Sie bis heute. Der Neustart beim BAföG ist wirklich überfällig. ({7}) Wenn selbst die ärmsten Studis häufig auf die Eltern und den Nebenjob zurückgreifen, dann ist da doch wirklich was faul. Eine mutige Weiterentwicklung des BAföG wäre eine Grundsicherung für Studierende und Auszubildende, wie wir sie konzipiert haben. Wir schlagen vor, allen einen Garantiebetrag zu zahlen. Dazu käme ein Bedarfszuschuss, den Studierende bedarfsabhängig erhalten. Mit beiden Zuschüssen zusammen erhielten Studierende mehr als die heutigen BAföG-Sätze und müssten hinterher keine Hypothek abstottern. Das wäre Existenzsicherung für alle. Denn ob Krise oder nicht: Alle jungen Menschen sollen sorgenfrei ihr Studium oder ihre Ausbildung absolvieren können. ({8}) Niemand weiß zurzeit, wie viele im Onlinesemester aus finanziellen oder psychosozialen Gründen ihr Studium abbrechen werden oder schon aufgegeben haben. Wir müssen Studierenden jetzt Halt und Sicherheit geben; denn sie sind die Fachkräfte von morgen. Deshalb ist ein Neustart beim BAföG so überfällig. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehring, ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie nur dann zufrieden sind, wenn wir regelmäßig eine Quote von, sagen wir mal, 50 Prozent BAföG-Empfängern haben. ({0}) Sie ignorieren dabei, warum diese Quote sinkt. Sie sinkt, weil die Eltern im Laufe der Jahre immer höhere Einkünfte haben und leistungsfähiger sind. ({1}) Das ist der eigentliche Grund, und es ist ein guter Grund dafür, dass die Quote sinkt. ({2}) Herr Dr. Brandenburg, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie am Ende Ihrer Rede tatsächlich noch zwei Sätze auf den Antrag der FDP verwendet haben. Ich hatte nämlich schon befürchtet, dass ich bei diesem Tagesordnungspunkt als Vertreter des Ausschusses für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen fehl am Platz bin. Aber immerhin haben Sie mich noch daran erinnert, dass es tatsächlich einen FDP-Antrag gibt. Dabei ist das Thema Wohnen für Studenten in der Tat wichtig und auch nicht unproblematisch. Wir haben schon öfter darüber gesprochen, und wir haben auch über Lösungsansätze gesprochen. Aber was ist Ihr Lösungsansatz für das Problem, dass es zu wenige Plätze in Wohnheimen für Studierende gibt? Sie möchten die Azubis auch noch da reinbringen. Das hat mich jetzt wirklich überrascht. Und überrascht hat mich dann auch die Begründung, dass Sie in der Etagenküche die Theorie und die Praxis, die Wissenschaft und die Praxis, zusammenbringen und einen Austausch ermöglichen wollen. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, ob die sich dann wirklich immer in der Etagenküche unterhalten würden – vielleicht doch eher abends beim Bier, wenn überhaupt –, ({3}) bleibt das Problem, dass Sie auf diese Weise die eine Not nicht mit einer anderen vertreiben können. Im Übrigen – auch das ist richtig – ist die Situation nicht überall so. ({4}) Ich las vor zwei, drei Tagen in der Zeitung, dass das Studierendenwerk Mainz beklagte, dass es mehrere Hundert Wohnheimplätze nicht vermieten kann – warum, weiß ich nicht. Offensichtlich muss es neben den Heimen eine Wohnraumversorgung geben, die funktioniert. Azubis und Studierende gemeinsam unterzubringen, ist vielleicht nicht die ideale Lösung. Vor allen Dingen – Sie sind ja sonst eigentlich immer sehr marktorientiert – ist es heutzutage ein Problem, Azubis zu bekommen. Warum? ({5}) Unter anderem, weil man tatsächlich mit der Unterbringung Probleme hat. Aber deswegen gibt es bei den Krankenhäusern schon seit Dutzenden von Jahren Schwesternwohnheime, und darum haben großen Firmen Wohnheime für ihre Auszubildenden. Und wenn Sie mal auf die Seite der IHK Köln gehen und gucken, was es dort für Angebote gibt, dann werden sie da Jugendwohnheime für Auszubildende von verschiedenen Trägern und einiges mehr finden. Das ist nicht nur in Köln so; das gibt es auch in anderen Städten ({6}) in größerem Umfang. Es gibt diese Angebotssituation, weil die Firmen Auszubildende haben wollen – und möglichst anschließend auch Fachkräfte. Was bieten Sie angesichts Ihrer Problembeschreibung für ein Instrumentarium an? Die Öffnung von Wohnheimen für Auszubildende habe ich schon genannt. Da sollen dann zwei Gruppen miteinander konkurrieren. Und dann kommen Sie auf die geniale Idee, Belegungsrechte anzukaufen. Ich wusste gar nicht, dass Sie für die Bewirtschaftung von Wohnraum sind. Die Belegungsrechte, die wir haben, sind jene, die die Kommunen kaufen, damit sie Personen unterbringen können, die sie unterbringen müssen. Dazu gehören bisher sozial Schwache, aber nicht unbedingt Studenten und Auszubildende. Wen wollen Sie denn auf diese Weise noch begünstigen? Es geht noch weiter. Dann haben Sie die tolle Idee, die Mittel für den sozialen Wohnungsbau langfristig abzuschmelzen. Das sind Mittel der Länder, mit denen man auch Wohnheime bauen kann. Sie wollen diese Mittel abschmelzen, sagen aber gleichzeitig: Ja, aber bis das passiert, sollten diese Mittel bitte genommen werden, um mehr Wohnheime zu bauen. – Konsistente Politik stelle ich mir anders vor. ({7}) Und dann haben Sie noch Ideen wie diese: Man sollte eine Begünstigung des Wohnheimbaus bei der Grunderwerbsteuer vorsehen. – Abgesehen davon, dass auch dies eine Empfehlung an die Länder ist, bitte ich Sie: Fragen Sie mal Ihren Generalsekretär in Rheinland-Pfalz, was er davon hält, ob er bereit ist, das zu tun, und wie man das abgrenzen könnte. – Lassen wir mal die Details weg. Dann zum Thema Baukostensenkung. Soll man denn für Studentenwohnheime oder Auszubildendenwohnheime weniger Dämmung vorsehen, ({8}) keinen Fahrstuhl im Hochbau, oder was soll man da eigentlich weglassen, um die Baukosten zu senken? ({9}) – Ich glaube, Studenten brauchen auch Keller. Wenn sie ein kleines Zimmer haben, brauchen sie Platz zum Beispiel für ihre Koffer. Jetzt zu den Stellplätzen. Nordrhein-Westfalen hat die Stellplatzregelungen den Kommunen überlassen. In Münster gibt es pro fünf Wohneinheiten einen Stellplatz, Köln hat pro vier Einheiten einen. Das ist woanders Luxus. Alles, was Sie sonst zur Digitalisierung und Ähnlichem sagen, ist wunderbar und richtig, hat aber nichts mit dem Thema zu tun. Das Ganze gipfelt dann in der Forderung nach einem elternunabhängigen Baukasten-BAföG. Baukasten-BAföG! Da habe ich gedacht: Ein solcher Baukastenantrag, wie Sie ihn hier gestellt haben, mit einer so schlechten Begründung ist etwas für den Spielplatz, aber nicht fürs Parlament. Das lehnen wir ab. ({10})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Schutz unseres Landes vor terroristischen und anderen schwerwiegenden Gefahren. Dabei haben wir als CDU/CSU-Fraktion mit der SPD darum gerungen, wie die immer wieder zu prüfende Grundfrage von Sicherheit und Freiheit in bester Art und Weise austariert werden kann. Das ist uns mit dem heutigen Gesetz, das bekanntlich von SPD und Grünen im Jahr 2002 auf den Weg gebracht worden war, gelungen, weil wir uns 20 Jahre später die richtigen, die notwendigen Fragen gestellt und sie auch richtig beantwortet haben. ({0}) Wir wissen heute – das ist ein Beispiel von mehreren –: Ohne dieses Gesetz hätte es vor wenigen Jahren in Köln wahrscheinlich einen schrecklichen Giftgasanschlag mit vielen Toten gegeben. Allein mit polizeilichen Mitteln hätte die Aufklärung nicht funktioniert; das hat das BKA in der Anhörung am Montag im Bundestag deutlich gemacht. Erst durch die Möglichkeiten der Überwachung und Übermittlung von Daten aus dem Bereich Telekommunikation und anderen Bereichen konnten die Täter noch rechtzeitig überführt und konnte ein brutaler Anschlag verhindert werden. Man muss nicht erst nach Österreich oder Frankreich schauen, um zu erkennen: Die terroristische Bedrohung ist eine nach wie vor sehr hohe und eine sehr akute – auch in unserem Land. Die jetzt festgeschriebene Befristung von Befugnissen im Bundesverfassungsschutzgesetz, im MAD- und im BND-Gesetz soll nun aufgehoben werden, weil es dafür schwerwiegende Gründe gibt. Es handelt sich insbesondere um Auskunftsregelungen für Luftfahrtunternehmen, Banken, Telekommunikationsanbieter, Ausschreibungen im Schengener Informationssystem, Übermittlungsregelungen beim BAMF oder Sicherheitsüberprüfungen von Personen bei kritischer Infrastruktur. Wir haben als Deutscher Bundestag einer Evaluierung durch eines der renommiertesten Institute in unserem Land zugestimmt. Wir haben sie danach bewusst als Drucksache des Parlaments der ganzen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wir haben hier im Deutschen Bundestag mehrfach debattiert: Anhörung am Montag, viermal Evaluation. Mehr Transparenz geht kaum, lieber Kollege Herr von Notz. Wer da noch behauptet, Befugnisse würden „aus dem Bauch“ oder „mit einem Federstrich“ entfristet, der spricht wider besseres Wissen. ({1}) Vor diesem Hintergrund finde ich, dass auch die Grünen einem Gesetz, das einst von ihnen selbst mitbeschlossen wurde, ({2}) gerade unter den aktuellen Sicherheitsbedingungen heute durchaus zustimmen könnten. Das betrifft im Übrigen auch die Frage, ob man als derzeit zweitstärkste politische Kraft in unserem Land Regierungsverantwortung auch in solchen Bereichen mit übernehmen will, die nicht sofort Beifallsstürme bei allen auslösen, die aber geregelt sein müssen. Lieber Herr Strasser, an die FDP gerichtet: Herr Lindner ist ja jemand, der auch gerne mal die Backen aufbläst und meint, es müsse dort ganz hart regiert werden. Das kann man auf der einen Seite natürlich fordern. Aber sich bei einer maßvollen Regelung wie der heute in die Büsche zu schlagen, das ist wirklich ein Armutszeugnis. ({3}) Als CDU/CSU verstehen wir uns aus gutem Grund als Partei von Recht und Ordnung; denn wir wollen, dass die innere Sicherheit und die freiheitliche Grundordnung verteidigt werden und das Leben von Menschen effektiv geschützt wird. Recht und Ordnung sind ein Zwillingspaar; das ist zentral für uns als Rechtsstaatspartei. Innere Sicherheit und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Innere Sicherheit schützt die Freiheit. Deshalb sorgen wir für die Ausstattung unserer demokratisch legitimierten Institutionen im Bereich der inneren Sicherheit – von der Bundespolizei über BKA, BND bis zum Verfassungsschutz – mit allen notwendigen Mitteln, damit sie diese Aufgabe gut erfüllen. Ich danke allen, die diesen Dienst tun. ({4}) Wir tragen dazu bei, dass schwerste Gefahren für die innere Sicherheit in unserem Land frühzeitig identifiziert und mögliche Risiken frühzeitig entschärft werden können. Dabei wird nicht übertrieben, wie die Statistik zeigt, sondern sehr zielgenau und im Übrigen auch sehr restriktiv und über allem rechtsstaatlich gehandelt. Unsere Polizei und unsere Sicherheitsbehörden haben bewiesen, dass sie unser Vertrauen in vollem Umfang verdienen. Dies möchte ich hier für die CDU/CSU ausdrücklich feststellen. ({5}) Keine Pauschaldiffamierung, sondern Rückendeckung! Auch die notwendigen Kompetenzen und Arbeitsmittel für diejenigen, die jeden Tag den Kopf hinhalten für unsere Freiheit und Sicherheit! ({6}) So, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich Sie abschließend dazu einladen, dieser Entfristung zuzustimmen und die Grundlage dafür zu schaffen, dass wir auch in Zukunft darauf vertrauen, dass unsere Sicherheitsinstitutionen die Gefahrenabwehr und die neuen Herausforderungen und, besonders fordernd, auch die Gleichzeitigkeit von Bedrohung – islamistischer Terror, Rechtsextremismus, Linksextremismus – bewältigen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Christian Wirth. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Dem hier vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition stimmen wir zu. Die unglaublichen Bilder vom Montagabend aus der Wiener Innenstadt machen einmal mehr deutlich, dass wir ohne Nachrichtendienste und die technischen Überwachungsmittel leider nicht mehr auskommen. Aber nicht dass wir nicht mehr ohne diese Überwachungsmittel auskommen, ist die Frage, sondern warum wir nicht mehr ohne sie auskommen. Zur Bekämpfung des Terrorismus ist erforderlich, dass man das Problem ehrlich betrachtet. Es macht aber nachdenklich, wenn ein Gesetz, das eindeutig auf die Bekämpfung des islamistischen Terrors ausgerichtet war, ausweislich der nun vorliegenden Begründung entfristet werden soll, um aktuellen Herausforderungen des internationalen und des Rechtsterrorismus zu begegnen. Erstens berührt es eigenartig, wenn statt von „internationalem islamistischen“ beschönigend nur noch vom „internationalen“ Terror die Rede ist. Zweitens ist es irreal, den Rechtsterrorismus, den wir alle verurteilen, als eine ernsthafte Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland hinzustellen. ({0}) Nein, meine Damen und Herren, die verwerflichen Einzeltaten – warten Sie! – der Desperados von Kassel, Halle und Hanau können unseren Staat nicht gefährden. Dazu fehlt diesen Leuten Gott sei Dank der gesellschaftliche Rückhalt. ({1}) Auch zahlenmäßig spielt der Rechtsterrorismus nach Auskunft von Europol eine untergeordnete Rolle. Während der Jahresbericht für 2019  26 linksterroristische und 21 dschihadistische Anschläge aufführt, werden 6 rechtsterroristische Anschläge gezählt – natürlich zu viel. Wer diesen Staat tatsächlich gefährdet, das ist der Linksterrorismus, das sind die Anschläge der Antifa, das ist deren Straßenkampf in Berlin, Hamburg, Leipzig und anderswo. ({2}) Bezeichnend, dass die linken Terroristen „Aktivisten“ genannt werden. Bezeichnend auch, dass der Antrag der AfD, Indymedia zu verbieten, auf deren Seite zu schwersten Straften aufgerufen wird und Straftaten gefeiert werden, gestern von allen Parteien, auch der CDU/CSU, im Innenausschuss abgelehnt wurde. ({3}) „Der Staat soll destabilisiert werden“, sagt Hans-Georg Maaßen, der gehen musste, weil die linke Fraktion dieses Hauses seinen Kopf forderte. ({4}) Es ist der reichlich mit sogenannter Staatsknete bewässerte Sumpf einer linksradikalen Gesellschaft, aus dem die hässliche Pflanze des linken Terrorismus emporwächst. Die Verantwortlichen dafür sitzen auch in diesem Haus. ({5}) Zum Problem gehört auch, dass die mediale Empörungsmaschine eben nicht anläuft, wenn Linksterroristen sengend und brennend durch unsere Städte ziehen. Und was diesen Staat tatsächlich gefährdet, das ist der islamistische Terror, der regelrecht herangezüchtet worden ist. Denn so ernst wie wir diese Bedrohung jetzt nehmen müssen: Diese barbarischen Menschen könnten uns nicht gefährlich werden, wenn wir ihnen nicht in jeder erdenklichen Hinsicht den Weg geebnet hätten, wenn die Bundesregierung sie nicht förmlich zu uns eingeladen hätte. Die Unterstützung radikaler Islamverbände durch Bundesregierung und Bundesländer hat dazu geführt, dass nach den Anschlägen in Nizza, Dresden und Wien radikale Islamisten diese Anschläge auf unseren Straßen und in den sozialen Medien feiern konnten. Wo waren die Demonstrationen gemäßigter Muslime? Richtig, die verstummen schon lange in diesem Land, in dem längst radikale Muslime den Ton angeben und wirkliche Flüchtlinge ihre Folterknechte und Vergewaltiger in Auffanglagern und auf den Straßen Deutschlands treffen. ({6}) Es ist menschlich ja sogar verständlich, dass die Union in der Großen Koalition dem linken Meinungs- und Medienmonopol nach dem Mund redet. Da wird man dann von den Medien plötzlich viel nachsichtiger behandelt. Und diese unselige Kollaboration erstreckt sich heute in diesem Haus bis zur Linkspartei. Die Union muss sich aus der babylonischen Gefangenschaft der Linken befreien. ({7}) Sonst hat unser Staat keine Zukunft oder nur eine sehr düstere. Die Gefahr droht von links und vom Islamismus. Der Bürger wird das begreifen, hoffentlich nicht erst, wenn es zu spät ist. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Es macht sich bereit der Kollege Uli Grötsch von der SPD-Fraktion. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wirth, zu dem in Rede stehenden Punkt haben Sie in Ihrer Rede nichts gesagt. Ich habe schon überlegt, ob ich etwas dazu sagen soll, dass Sie hier Rechtsterrorismus verharmlosen. ({0}) Ich dachte mir dann aber: In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit und der Tatsache, dass Sie es immer wieder versuchen, mache ich es vielleicht beim nächsten Mal. Ich bleibe beim Thema, um das es hier geht. ({1}) Wir wollen hier heute beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir wichtige Befugnisse, insbesondere Befugnisse für das Bundesamt für Verfassungsschutz, verstetigen, die wir nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA eingeführt haben, Regelungen also, die sich seit fast 20 Jahren in Deutschland bewährt haben, Regelungen, die für unsere Sicherheitsbehörden und die Nachrichtendienste unverzichtbar geworden sind, Regelungen, die heutzutage so etwas wie Standards sind, wenn es um die Arbeit im Bereich der Terrorismusbekämpfung geht. Wichtig ist: Es geht heute nicht um neue Befugnisse in der Terrorbekämpfung, sondern nur um die Frage: Müssen wir die Regularien, über die wir heute reden, nach fast 20 Jahren weiterhin befristen und dann immer wieder aufs Neue beschließen, oder können wir davon ausgehen, dass wir diese Befugnisse für unsere Sicherheitsbehörden dauerhaft brauchen? Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Gerade nach den jüngsten Terroranschlägen von Dresden, von Nizza und jetzt in Wien fehlt mir schlichtweg der Glaube, dass wir auch nur eine Minute auf diese Regelungen, auf diese Befugnisse verzichten können. ({2}) Der islamistische Terrorismus, aufgrund dessen wir damals diese Vorschriften eingeführt hatten, ist heute komplexer und unberechenbarer denn je. Damals galt die ganze Aufmerksamkeit al-Qaida mit Osama Bin Laden. Wir haben in Wien wieder schmerzhaft erfahren müssen, wie vielfältig – im schlechtesten Wortsinn – Terrorismus im Jahr 2020 geworden ist. Am Montag bei der öffentlichen Anhörung haben uns die Sachverständigen bestätigt: Nicht nur alleine wegen, aber auch dank der Befugnisse für die Nachrichtendienste ist es uns in der Vergangenheit gelungen, zahlreiche Terroranschläge zu verhindern. Wenn es diese Befugnisse nicht mehr gäbe, hätten wir sie spätestens nach dem ersten Terroranschlag eingeführt. Eine Verstetigung sei daher – so haben es uns die Sachverständigen übereinstimmend gesagt – aus heutiger Sicht folgerichtig. ({3}) Ich möchte kurz darauf eingehen, um welche Vorschriften es sich handelt. Es geht zum Beispiel darum, dass unsere Nachrichtendienste jederzeit Auskünfte über Personen bei Luftfahrtunternehmen, Banken, Telekommunikations- und Telemedienanbietern verlangen können, wenn es für die Aufklärung extremistischer und terroristischer Netzwerke von zentraler Bedeutung ist. Ich glaube, dass es uns allen, egal welcher Couleur wir hier angehören, in den letzten Jahren klar geworden ist, wie wichtig es ist, dass die Sicherheitsbehörden solche Befugnisse haben. Wenn man darüber hinaus bedenkt, über welche technischen Möglichkeiten wir heute diskutieren – Mitlesen von verschlüsselten Messenger-Chats, Stichwort „Quellen-TKÜ“, das heimliche Durchsuchen und Überwachen von Computern oder die aktive Abwehr von Cyberangriffen –, dann merkt man, dass wir im Gegensatz dazu bei dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung über nicht sehr grundrechtsintensive Eingriffe reden. Bei der einen oder anderen Regelung – das haben wir am Montag in der Anhörung auch besprochen – gibt es womöglich aufgrund von gerichtlichen Urteilen noch Anpassungsbedarf. Dazu sage ich: Eine Entfristung der Vorschriften bedeutet nicht, dass wir die Gesetze nie wieder außer Kraft setzen können. Sollte es in Deutschland einmal eine Bundesregierung und eine Koalition geben, die tatsächlich der Meinung sind, dass man diese Vorschriften nicht mehr braucht, dann kann man sie jederzeit mit Mehrheit abschaffen. Auch das ist bestimmt kein Argument gegen die Entfristung dieser Vorschriften. Allerdings ist es definitiv eine Mammutaufgabe, all die Antiterrorgesetze, die wir im Bundestag in den letzten Jahren gemacht haben, auf die Probe zu stellen. Realistischerweise können wir das in dem fortgeschrittenen Stadium, in dem sich unsere Koalition befindet, nicht mehr leisten. Ich glaube, wir sind uns einig, dass eine so große Aufgabe am Anfang einer neuen Wahlperiode in Angriff genommen werden muss. Ich möchte noch sagen, dass es ein großes Kompliment an unsere Nachrichtendienste ist, wenn wir feststellen, dass die Befugnisse da, wo sie erforderlich und verhältnismäßig waren – das ist das Ergebnis, zu dem wir durch die unabhängigen Evaluierungen gekommen sind; sie waren unabhängig, auch wenn man noch zehnmal etwas anderes behauptet –, immer mit Augenmaß angewendet wurden. Bestimmte Befugnisse unterliegen ja auch der Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium oder durch die G 10-Kommission. Diese hat bekanntlich auch schon einmal Anträge abgelehnt. Also unterliegt auch das einer eingehenden Prüfung. Man kann deshalb sagen: Unsere Sicherheitsbehörden beweisen einen sehr sensiblen Umgang mit den ihnen eingeräumten Befugnissen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Entfristung bzw. Verstetigung der vor 20 Jahren in Kraft getretenen Befugnisse, über den wir heute in zweiter und dritter Lesung abschließend beraten, soll zeigen: Wir haben auch nach der Entfristung vollstes Vertrauen, dass der sensible Umgang, von dem ich eben gesprochen hatte, auch in Zukunft fortbestehen wird. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute Nachmittag in der Aktuellen Stunde über die gegenwärtige Bedrohung aus dem islamistischen Bereich in Europa gesprochen. Genauso wenig wie der Rechtsterrorismus lässt uns der islamistische Terrorismus zur Ruhe kommen. Wir sind mitten in den Haushaltsberatungen, und ich bin froh, dass diese terroristische Herausforderung im Haushaltsbereich „innere Sicherheit“ abgebildet ist. Ich zähle jetzt nicht mehr alles auf, was wir gemacht haben. 7,5 Milliarden Euro – das ist 1 Milliarde Euro mehr für den Bereich „innere Sicherheit“ – soll die einzige Zahl sein, die ich noch nenne. Zum Ende. Hundertprozentige Sicherheit gibt es trotzdem nicht. Dessen müssen wir uns alle immer klar sein. Aber es gibt noch unsere Leute in den Sicherheitsbehörden. Das sind die bestmöglichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die man in Sicherheitsbehörden haben kann. Deshalb lassen wir uns auch nicht einschüchtern oder auseinanderdividieren, von welchen Terroristen auch immer. Das würde den Demokratiefeinden in die Hände spielen. Angst müssen in diesem Land vor allem Terroristen und Demokratiefeinde haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist einmal mehr der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer am Montag die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf verfolgt hat, der reibt sich etwas verwundert die Augen, warum die Große Koalition diesen Tagesordnungspunkt heute nicht abgesetzt oder die Entscheidung zumindest verschoben hat. Herr Grötsch war offensichtlich in einer ganz anderen Anhörung als der Rest dieses Hauses. ({0}) Bis auf den Vertreter des BKA, der im Übrigen mit einer Befristung sehr gut weiterarbeiten könnte, hat keiner der anderen Sachverständigen ein gutes Haar am Vorhaben der Regierungsfraktionen gelassen. Alle anderen Sachverständigen waren sich in zwei Punkten völlig einig: Warum jetzt entfristen? Warum überhaupt entfristen? ({1}) Das ist keinem zu erklären, gerade wenn man weiß, dass das Bundesverfassungsgericht einzelne Maßnahmen, die Sie jetzt entfristen, für verfassungswidrig erklärt hat. ({2}) Diese Koalition erzählt uns in den letzten Monaten der Pandemie immer: Wir fahren auf Sicht. – Ich wäre froh, Sie würden das hier auch beherzigen. Aber mit diesem Gesetzentwurf fahren Sie sehenden Auges voll gegen die Wand. Das ist keine kluge Sicherheitspolitik und schon gar keine Sicherheitspolitik, die auch die Bürgerrechte im Blick hat. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, reflexartig wird die Union jetzt kommen – neuerdings auch die SPD – und sagen, dass all das, was wir entfristen, das ist, was die Behörden wollen, und dass die Maßnahmen nicht übermäßig genutzt wurden. Das habe die Evaluation deutlich gemacht. Wo ist denn die unabhängige Evaluation? Das, was Sie uns vorgelegt haben, war ein Wunschzettel von Nachrichtendiensten, der das Wort „Evaluation“ nicht verdient. ({4}) Solange Sie die Evaluation hier nicht vorlegen, werden wir gar nichts entfristen. ({5}) Ich bin der Überzeugung, dass die Befristung der Maßnahmen auch dazu beigetragen hat, dass man sie nicht exzessiv nutzt. Gerade diese Sicherheitsbremse lockern Sie jetzt, und das ist unverantwortlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte macht die ganze Misere Ihrer Sicherheitspolitik deutlich: immer neue Maßnahmen und Gesetze obendrauf. Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit, endlich einmal auf das Bundesverfassungsgericht zu hören. Das fordert genauso wie wir Freie Demokraten eine Überwachungsgesamtrechnung. Das heißt, bevor es neue Überwachungsbefugnisse gibt, müssen wir eine Bilanz ziehen: Welche Wirksamkeit haben die bestehenden Überwachungsbefugnisse? Wie wirken sie auf die Bürgerrechte von Menschen in diesem Land? ({6}) Lassen Sie es sich gesagt sein: Wahre Sicherheit in einer freien Gesellschaft schafft nur, wer auch die Rechte der Bürgerinnen und Bürger sichert. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition will Regelungen aus dem Terrorismusbekämpfungsgesetz entfristen lassen. Konkret geht es etwa um die Geheimdienstüberwachung von Telekommunikation, Bank- und Postverkehr. Wir sehen hier Grundrechte, wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, verletzt. Außerdem wird das als Lehre aus dem Faschismus geltende Gebot der Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten unterlaufen. Das Massaker eines Faschisten in Hanau und jetzt die islamistischen Morde in Frankreich, Wien und Dresden haben die Gefahr des Terrorismus erneut verdeutlicht. Doch diese Anschläge, werte Kollegen Brand und Grötsch, können gerade nicht als Beleg für die Notwendigkeit der Antiterrorgesetze herhalten. Tatsächlich gibt es keinerlei Nachweis für die Wirksamkeit dieser Gesetze. Als diese Gesetze nach dem Jahr 2001 verabschiedet wurden, hieß es von Regierungsseite, dass sie nur befristet gelten sollten. Jede Verlängerung war an eine Evaluationspflicht geknüpft. Doch bis heute hat die Bundesregierung keine umfassende, unabhängige, wissenschaftliche Auswertung veranlasst. Bisherige Evaluationen waren von der Logik der Geheimdienste geprägt und beinhalteten keine verfassungsrechtliche Bewertung. ({0}) Ich weiß nicht, auf welcher Anhörung der Kollege Grötsch am Montag war, ({1}) ich habe jedenfalls genau wie der Kollege Strasser festgestellt, dass die Sachverständigen und auch Ihr Sachverständiger, der Vizepräsident des BKA, keine Nachweise über den Nutzen der Gesetze bringen konnten, die hier vorliegen. Kritisiert wurde stattdessen von den Sachverständigen – von vielen, nicht von allen –, dass die Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste an zu geringe Bedingungen geknüpft und sogar verfassungswidrig sind. Statt einer Ewigkeitsgarantie für die Grundrechtseingriffe brauchen wir einen Rückbau des Überwachungspotenzials. ({2}) Die unkontrollierbaren Geheimdienste, die selbst mit ihren V-Leuten tief im faschistischen und dschihadistischen Sumpf stecken, sind ungeeignet zur Terrorismusbekämpfung. ({3}) Stattdessen müssen wir viel stärker auf Präventionsarbeit setzen, auf Deradikalisierungsprojekte, auf Opferberatungsstellen und auf antifaschistische Rechercheprojekte. ({4}) Noch eines möchte ich den Regierungsfraktionen mit auf den Weg geben. Erst kürzlich hat der Regierungsberater Guido Steinberg im „Tagesspiegel“ öffentlich erklärt, dass der türkische Präsident Erdogan die Dschihadisten in Europa zu entsprechenden Anschlägen antreibt. Das wäre beispielsweise ein Punkt, den man mit in die Evaluierung einbeziehen müsste. Man muss sich ernsthaft fragen: Warum bekommen solche Schergen wie Erdogan Waffen, die sie an Dschihadisten weitergeben? Das wäre ein wichtiger Punkt in der Terrorismusbekämpfung. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Konstantin von Notz spricht erneut für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen zu fortgeschrittener Stunde und sprachen vor wenigen Tagen über das Thema. Es gibt nichts zu beschönigen – das haben wir damals festgehalten – bezüglich der sicherheitspolitischen Lage. Damals Paris, Dresden, Nizza, inzwischen ist Wien dazugekommen. Wir hatten heute hier im Hohen Hause eine Aktuelle Stunde dazu und haben der Opfer und deren Angehörigen gedacht. Wir haben das schnelle und entschlossene Handeln der Polizei gemeinsam begrüßt. Ich kann nur sagen: Das Ziel der effektiven Terrorismusbekämpfung eint alle demokratischen Fraktionen hier im Haus, meine Damen und Herren. ({0}) Der Kollege Strasser ist auf das Verfahren eingegangen. Herr Kollege Brand, 30 Minuten Debatte letzte Woche, 30 Minuten Debatte diese Woche. Wenn ich höre, wie bedeutungsschwanger Sie diese rot-grüne Gesetzgebung finden, dann hätte es mehr Debattenplatz verlangt. ({1}) Das ist schon erstaunlich. Natürlich haben Sie nach der Anhörung, die gut war – die war gut! – und auf die wir bestanden haben, keinen Änderungsantrag gestellt, keinerlei Anpassung gemacht, nichts, wie es ein Sachverständiger so schön gesagt hat, aus dem Sack herausgenommen. Gar nichts kam. Bei Ihnen wird immer nur draufgesattelt. Das ist nicht gut. ({2}) Seit bald 20 Jahren gibt es diese rot-grünen Antiterrorpakete, die Otto-Kataloge. Sie haben sie nicht einmal unabhängig evaluieren lassen. Ich frage Sie: Warum eigentlich nicht? ({3}) Wovor hat das BMI Angst, wenn alles so schnieke ist? Es ist vollkommen unverständlich. Um mit einer Sache aufzuräumen, weil es mehrfach gesagt wurde: Niemand, den ich kenne, der hier ernsthaft in der Debatte unterwegs ist, möchte, dass das ganze Ding vom Tisch kommt, sondern es geht um eine maßvolle Gesetzgebung, und der verweigern Sie sich. Das ist schlecht. ({4}) Herr Kollege Brand, die Otto-Kataloge – das eint uns, glaube ich – haben die Anschläge vom Breitscheidplatz, in Hanau und Halle nicht verhindern können. Ich glaube, wir sind einig, dass es bei den Regelungen zur Terrorismusbekämpfung rechts wie links tatsächlich Probleme gibt, die bis heute nicht behoben sind. Da hätte eine unabhängige wissenschaftliche Evaluierung, was wir haben, was wir können und wo vielleicht noch Raum ist, geholfen. Der haben Sie sich verweigert, ({5}) zumal – der Kollege Strasser hat es erklärt – das Fenster immer schmaler wird: Je mehr sie draufsatteln, desto mehr verbauen sie sich aufgrund der Überwachungsgesamtrechnung, den Spielraum anzupassen. ({6}) Das ist eine kurzsichtige Politik, die wir so nicht mitmachen, meine Damen und Herren. ({7}) Es gibt viele gute Vorschläge. Ich nenne mal ein schwarz-gelbes Projekt, nämlich die Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung aus dem Jahre 2013: Die Professores Bäcker, Harms, Hirsch und Wolff haben gute Sachen aufgeschrieben. Sie haben nichts daraus gemacht, den Bericht mit spitzesten Fingern in die Schublade gepackt. – So geht es nicht, meine Damen und Herren. ({8}) Zum Schluss haben Sie auch noch ein gutes Instrument für Koalitionsverhandlungen und Koalitionen diskreditiert. Wer soll denn jetzt bitte noch einmal evaluationsbefangen und befristet etwas miteinander vereinbaren, wenn es mal schwierig wird? Also, auch unter dem Gesichtspunkt ist das, was Sie hier machen, sehr, sehr kurzfristig. Das ist schade. Vielen Dank. ({9})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute in zweiter und dritter Lesung über die Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung. Herr von Notz, Sie haben es selbst gesagt: 2001 ist dieses Gesetz unter der Ägide von Rot-Grün in Kraft getreten. Seitdem haben wir es dreimal verlängert und ganze vier Mal evaluiert. Die Vorschriften haben dazu beigetragen, dass seit 2016 insgesamt neun Anschläge verhindert werden konnten. Jeder einzelne dieser Anschläge war es schon wert, dieses Gesetz weiter in Kraft zu halten; das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen, lieber Herr von Notz. ({0}) Was ich nicht verstehen kann oder, viel besser, was sich an dieser Debatte zeigt, ist doch diese Zwiespältigkeit, manch einer würde auch sagen: diese Doppelzüngigkeit von FDP und von Grünen – es tut mir leid, dass ich es so deutlich sagen muss –: Immer wenn ein Anschlag passiert ist, dann sind Sie die Ersten, die nach mehr Maßnahmen schreien. Lieber Kollege Strasser ({1}) – hören Sie mir zu! –, Sie haben sich heute in der „FAZ“ zusammen mit Ihrem Kollegen Kuhle explizit dazu geäußert, dass die Sicherheitsbehörden viel mehr tun könnten, um solche Anschläge, wie wir sie kürzlich erlebt haben, zu verhindern. ({2}) Herr von Notz, Sie loben hier in Ihrer vorherigen Rede Ihr eigenes Gesetz, und eine Minute später sagen Sie, dass man das Gesetz nicht einfach verlängern kann etc., etc. Das passt einfach nicht zusammen. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis. ({3}) Im Übrigen ist in diesem Gesetz nichts neu. Es ist seit 2001 genau dasselbe Gesetz. Was wir jetzt machen, ist: Wir entfristen es einfach, wir entschlanken das Verfahren etwas. Es kommt überhaupt nichts Neues dazu. Im Übrigen kann das Parlament hier jederzeit das Gesetz wieder ändern, wenn Sie die dazu nötigen Mehrheiten haben. Aber das ist eben der Unterschied zwischen Opposition und Regierung, meine Damen und Herren. Aber eines möchte ich noch sagen: Wenn es wirklich um Prävention geht, dann geht es nicht nur darum, dieses Gesetz zu verlängern, sondern wir brauchen noch ein paar Befugnisse mehr. Und ja – dazu stehe ich auch selbstbewusst –: Dazu gehört die Vorratsdatenspeicherung, und dazu gehört auch die Onlinedurchsuchung; ({4}) denn das bezieht sich auf die Medien, mit denen Terroristen heutzutage ihre Straftaten vorbereiten. Wenn Sie zu Recht sagen, der Anschlag von Halle konnte nicht verhindert werden, und auch beim Anschlag in Dresden haben die Regelungen vielleicht nicht richtig gegriffen, dann heißt das: Das sind genau die Instrumente, die fehlen. Herr Strasser, Herr von Notz, Sie waren diese Woche im Innenausschuss. Herr Münch hat ganz klar gesagt, dass die Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, nicht ausreichen, um den Terrorismus im Internet und auch abseits des Internets effektiv bekämpfen zu können. Deshalb müssen wir darüber ernsthaft reden. Ich glaube, dieses Thema ist bei uns in der Union in guten Händen. ({5}) Meine Damen und Herren, man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Das ist ein gutes Gesetz. Die Entfristung ist längst überfällig; Sie können bedenkenlos zustimmen. Deshalb werbe ich dafür, diese Entfristung heute auch durch das Parlament zu bringen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Benjamin Strasser.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Union freut sich schon. Es freut mich, dass Sie offensichtlich meine Gastbeiträge lesen. Sie sollten sie nur korrekt zitieren oder zumindest verstehen. Ich hatte den Eindruck, dass Sie ihn nicht verstanden haben. Der Kollege Kuhle und ich haben nämlich in diesem Gastbeitrag mitnichten nach mehr Überwachung gerufen, sondern angemahnt, dass wir uns dem Grundproblem des Islamismus aus verschiedenen Perspektiven nähern sollten und unter anderem auch die Union sich mal einem echten Einwanderungsgesetz stellen sollte, was sie bis heute verweigert. ({0}) Das sind so Maßnahmen, die wir vorschlagen. Gehen wir mal in den Sicherheitsbereich. Das, was Sie machen, ist so ein Reflex, ein Bullshit-Bingo an Maßnahmen nach jedem Anschlag, ohne mal zu schauen: Was war wirklich das Problem? Ich empfehle Ihnen: Setzen Sie sich einfach eine Stunde in den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. Die Behörden hatten vor diesem Anschlag alle Informationen. Die Behörden hatten Telegram-Chats des Attentäters, die, oh Wunder, nach dem Anschlag ausgewertet worden sind. Ihre Antwort auf solche Anschläge ist mehr Überwachung? Ist das wirklich Ihre Antwort? Kümmern Sie sich mal um die Sicherheitsarchitektur in Deutschland. Schaffen Sie weniger Behörden, die mehr verantwortlich sind. Schauen Sie, dass Sie endlich ein europäisches FBI bekommen, wenn wir ein Problem mit einem europaweit bis international vernetzten Terrorismus haben. Wo ist da die Initiative der Union? Ich sehe nichts. Sie müssen sich hinterfragen, ob die Maßnahmen, die Sie in den 90er-Jahren schon vorgeschlagen haben, wirklich noch die Maßnahmen sind, die wir heute brauchen, oder ob wir uns nicht dem Grundproblem der Sicherheitsarchitektur in Deutschland widmen sollen, wie es unter anderem Armin Schuster als Vorkämpfer gemacht hat. Schade, dass er nicht mehr hier ist. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie darauf antworten? – Bitte schön.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Strasser, ich schätze Ihre Beiträge mehr oder weniger häufig schon sehr. ({0}) Aber ich muss Ihnen wirklich sagen: Diese Doppelzüngigkeit ist unglaublich. Wenn Sie hier von einem „Bullshit-Bingo“ sprechen und ich Ihnen zwei Sekunden vorher noch gesagt habe, dass diese Gesetze dazu beigetragen haben, neun Anschläge zu verhindern, dann ist das nicht verhältnismäßig. Dann ist das sogar eine Frechheit und eine Beleidigung gegenüber unseren Sicherheitsbehörden, die genau diese Anschläge verhindert haben und damit konkret Menschenleben gerettet haben. Das können Sie hier in diesem Hause nicht so einfach sagen; das muss ich Ihnen wirklich mitteilen. Das Nächste ist: Wissen Sie, Sie stellen sich hierhin und sprechen von mehr Integration, Sie sagen, wir müssen unsere Sicherheitsbehörden mit mehr muslimischem Sachverstand aufrüsten; ich habe Ihren Artikel gelesen. Aber wissen Sie: Sprechen Sie doch mal mit den Opfern, mit den Hinterbliebenen von Terroranschlägen. ({1}) Die sagen Ihnen, das Wichtigste für sie wäre, dass diese Menschen noch am Leben wären. Dazu brauchen wir eben die Prävention. Wir müssen nicht nur dafür sorgen, diese Anschläge im Nachhinein aufzuklären, sondern dafür, dass sie erst gar nicht stattfinden. Dafür brauchen wir genau diese gesetzlichen Befugnisse, für die die Union schon seit Jahren kämpft. Ihre Partei stellt sich immer wieder hin und sagt: „Nein, das gibt es nicht“, und hält den Datenschutz hoch. Wissen Sie, was Sie hochhalten sollten? Das Leben deutscher Bürgerinnen und Bürger. Das sollte Ihre erste Priorität sein. Wenn es darum geht, Kriminalität zu verhindern, dann brauchen wir diese Gesetze. Danke schön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Also, Herr von Notz zu einer kurzen Kurzintervention.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Es ist sehr freundlich und kollegial, dass Sie diese Kurzintervention zulassen. Ich nenne nur einen Gedanken, um zu schlichten. ({0}) – Ich moderiere Schwarz-Gelb. Das Problem ist, Herr Bernstiel: Sie wissen nicht, was in diesem Gesetz neun Anschläge in Deutschland verhindert hat. Sie wissen nicht, welches Instrument von den vielen Instrumenten, die darin enthalten sind, es war. Und genau das ist das Problem. Sie wissen nicht, was funktioniert und was nicht funktioniert. Deswegen brauchen wir eine Evaluation. Wir müssen als Gesetzgeber grundrechtsschonend und maßvoll sein. Deswegen: Lassen Sie uns das Gesetz evaluieren und auch Sachen aus dem Sack wieder rausnehmen. Dieser Gedanke sollte uns hier verbinden. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

War das versöhnlich, oder wollen Sie antworten? ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege von Notz, vielen Dank für Ihren Schlichtungsversuch. Ich glaube, er war durchaus sachdienlich. Aber Sie unterstellen mir, dass ich nicht weiß, was in dem Gesetz steht. ({0}) – Gut. Jetzt lassen Sie mich doch mal darüber reden. Selbst wenn ich Ihrer Annahme folgen würde, dass wir nicht wissen, welche Maßnahmen von den vielen Maßnahmen, die darin enthalten sind, konkret dazu beigetragen haben, einen Anschlag zu verhindern, dann muss ich doch sagen: Wieso ist das relevant? Wenn es dazu beigetragen hat, einen einzigen Anschlag zu verhindern, dann hat das Gesetz doch Wirksamkeit. Es hat dazu beigetragen, Menschenleben zu retten. Darum geht es, und um nicht weniger. ({1}) Im Übrigen teile ich – die FDP sollte jetzt vielleicht auch zuhören, wenn ich rede – nicht die Auffassung, dass unsere Sicherheitsbehörden dieses Gesetz in irgendeiner Form benutzen, um unbescholtene Bürger zu kontrollieren oder auszuspionieren. Das ist nicht deren Interesse. Es geht darum, Terroranschläge und schwerste Straftaten zu verhindern. Dafür ist dieses Gesetz da. Deshalb entfristen wir es heute. Wenn Sie irgendwann in der Bundesregierung sein sollten, dann können Sie das Gesetz wieder abschaffen, wenn es Ihnen nicht gefällt. Herzlichen Dank. ({2})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende der Debatte ({0}) beschäftigen mich drei Worte: aktuell, angemessen und bezeichnend. ({1}) Das Wort „aktuell“ betrifft den tragischen Teil. Nach Dresden, nach Nizza und nach Wien: Schauen wir zurück bis ins Jahr 2001, und uns wird auf tragische Art und Weise vor Augen geführt, dass wir uns bedauerlicherweise bis heute mit solchen Instrumenten beschäftigen müssen, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf zum Gegenstand hat. Ich komme zum Wort „angemessen“. Gerade bei der Frage, welche Instrumente wir einsetzen wollen und zur Verfügung haben wollen – darum geht es nämlich auch –, um internationalen Terrorismus zu bekämpfen, wollen wir es uns gerade nicht leicht machen. Man muss sich das vor Augen führen: Wir haben dieses Gesetz dreimal verlängert, wir haben es viermal evaluiert, und trotzdem führen wir hier in diesem Haus eine wahnsinnig ideologische Diskussion. ({2}) Bei der Frage, ob es angemessen ist, geht es letztendlich rein juristisch darum, ob wir ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Grundrechten der Betroffenen, in die eingegriffen wird, und dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und der Allgemeinheit herstellen können. Und da haben wir aus der Evaluation sehr wohl die Bestätigung, dass das eben kein Instrument der Massenüberwachung ist, sondern dass wirklich nur in Einzelfällen sehr gut begründet davon Gebrauch gemacht wird. Jetzt bin ich beim dritten Punkt. Das ist das Wort „bezeichnend“, man könnte auch sagen „entlarvend“, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nach diesen Fällen, beginnend 2001, wo wir merken, dass sich internationaler Terrorismus, Rechtsterrorismus, islamistischer Terror weiter ausbreiten, immer wieder neue Mittel und Wege finden, führen wir hier – Entschuldigung – ideologische Debatten. ({3}) Da ist dann von einer wissenschaftlichen Auswertung die Rede, von Präventionskonzepten. ({4}) Es mag sein, dass das alles Bausteine sind; aber dass Sie das tatsächlich als Argument verwenden, um solche Instrumente abzulehnen, lassen wir als Union Ihnen nicht durchgehen. ({5}) Und dann kommt am Ende die Behauptung: Es wird aufgesattelt. – Ich habe es schon gesagt: Es wird nicht aufgesattelt, es wird entfristet. – Vielleicht hilft es an dieser Stelle, einfach mal den Titel des heutigen Tagesordnungspunktes zu lesen. Ich sage Ihnen – auch wenn es der Opposition nicht gefällt –: Sie müssen lernen, dass wir internationalen Terrorismus, islamistischen Terror, Rechtsterrorismus nur mit betroffenen Mienen und Stuhlkreisen nicht bekämpfen können, ({6}) sondern wir brauchen dafür wirksame Instrumente. Dazu dient diese Entfristung. Deswegen bitte ich um Zustimmung. Danke. ({7})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben wir in der Tat den Antrag schon beraten und festgestellt, dass seine Analyse eigentlich sehr korrekt ist. ({0}) Die Analyse! Wenn es um die Umsetzung und um Lösungen geht, dann gibt es in diesem Antrag allerdings massive Defizite. ({1}) Die Analyse ist richtig. Die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie für die Menschen in ärmeren Ländern werden dramatisch sein; das kann man auch heute schon feststellen. Absatzmärkte brechen weg, Lieferketten kollabieren: Die Wirtschaft schrumpft. Ich befürchte, das wird sogar noch schlimmer. Es wird zu einer Desinvestition kommen, wie das auch nach der Finanzkrise 2008/2009 der Fall gewesen ist, wie man beispielsweise in den Monatsberichten der Bundesbank aus den Jahren 2010/2011 nachlesen kann. Denn Banken müssen Abschreibungen vornehmen, verlieren Eigenkapital, stehen unter Konsolidierungsdruck, werden risikoaverser und werden weniger grenzüberschreitende Kredite geben. Darunter werden die Schwellenländer und Entwicklungsländer leiden. Die Analyse, dass die Staatshaushalte der Entwicklungsländer in Mitleidenschaft geraten, ist ebenso richtig. Viele Länder brauchen akut Hilfe. Sie brauchen aber vor allen Dingen dauerhafte finanzielle Stabilität. Das ist, glaube ich, wichtig für die gesamte Staatengemeinschaft. Das ist aber gerade für uns als Deutschland, als exportorientiertes Land besonders wichtig. Stabilität in aller Welt ist am Ende gut für alle. Das ist der Staatengemeinschaft auch bewusst. Deswegen wurde auch schon eine ganze Menge unternommen. Der Internationale Währungsfonds hat 81 Länder mit Krediten unterstützt. Die Weltbank hat als Initiative ein Schuldenmoratorium gestartet; sie hat 77 der ärmsten Länder identifiziert, die berechtigt gewesen wären, an dieser Stundung von Schuldendienstleistungen teilzunehmen. Die Idee ist, Zeit zu kaufen, um Lösungen zu finden. In der Zwischenzeit wurde dieses Moratorium bis Mitte 2021 verlängert. Allerdings haben von diesen 77 Ländern nur 46 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Aus guten Gründen: Denn wie vor 20 Jahren bei der HIPC-Initiative – einer Entschuldungsinitiative, die auch sehr kontrovers diskutiert wurde – wird um die Bonität gefürchtet. Ich will drei Probleme nennen: Erstens: die Bonität. Die Länder machen sich Sorgen, dass sie, wenn sie bei dem Moratorium mitmachen, anschließend keine Kredite mehr auf dem internationalen Markt bekommen werden, die sie aber unbedingt brauchen, um Investitionen zu finanzieren. Das Argument, das oft zu hören ist, dass ein Schuldenerlass am Ende die Bonität größer mache, ist eigentlich ein Scheinargument. ({2}) Denn hier geht es um die Zukunft und nicht um eine Momentaufnahme. Und wenn in der Vergangenheit das Versprechen auf Rückzahlung gebrochen wurde, wie ist es dann in Zukunft? Wer ist denn in Zukunft noch bereit, diesen Ländern Kredit zu geben? Das ist schwierig. Das zweite Problem: private Gläubiger. Sie sind in diesem Moratorium der Weltbank noch nicht einmal vorgesehen. Trotzdem sind die Länder sehr zurückhaltend, daran teilzunehmen, weil sie um die Bonität fürchten. Ich glaube, dass wir für eine komplette Lösung eigentlich die privaten Gläubiger miteinbeziehen müssten; denn es ist kaum zu vermitteln, dass die öffentlichen Kreditgeber und Steuerzahler Ausfälle haben, private Gläubiger aber nicht. Nur, diesen Wunsch einfach zu beschreiben, reicht nicht. Leider ist es schwierig, eine entsprechende Lösung zu finden. Das dritte Problem – auch an dieser Stelle sage ich es noch mal deutlich – ist die Einbeziehung Chinas. Die Kooperationsbereitschaft ist fraglich. Das sieht man schon am Moratorium. Es verpflichtet diejenigen, die teilnehmen, ihre Zahlen offenzulegen, und es schafft somit zumindest einmal Transparenz darüber, wie hoch die chinesischen Kredite an die jeweiligen Länder überhaupt sind. Das ist entscheidend, um eine Lösung zu finden. Aber China zeigt sich nicht besonders kooperativ. Das zeigt sich zum einen daran, dass Staatspräsident Xi beim jüngsten Gipfel mit den europäischen Partnern das Angebot ausgeschlagen hat, an einem gemeinsamen Umgang mit den verschuldeten Staaten zu arbeiten. Und jetzt beim Moratorium sind die Chinesen beispielsweise der Meinung, dass sämtliche chinesischen Kredite der China Development Bank private Kredite seien und deshalb nicht unter das Moratorium fallen; das können wir eigentlich nicht akzeptieren. Wir beobachten gleichzeitig, dass die Chinesen gegenwärtig dabei sind, das Problem noch viel größer zu machen; denn die Seidenstraßen-Initiative sorgt ja dafür, dass immer mehr Geld in Länder fließt, die anschließend nicht in der Lage sein werden, alles zurückzuzahlen. Die Probleme sind groß. Entscheidend ist aber, glaube ich, dass ein Schuldenerlass ohnehin ja nur ein Kurieren an Symptomen wäre; dadurch wird das eigentliche Problem längst nicht gelöst. Die verschuldeten Länder brauchen funktionierende Wirtschaftssysteme und Wertschöpfung. Die Menschen brauchen Jobs, Chancen und Perspektiven, damit sie dann als Steuerzahler in der Lage sind, ihre Länder zu finanzieren; darüber müssen wir reden. Das heißt, wenn Gespräche über Schulden geführt werden, dann müssen gleichzeitig auch Reformgespräche stattfinden, damit es eben nicht beim Herumkurieren an Symptomen bleibt, sondern die eigentlichen Probleme wirklich gelöst werden. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Klein. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD-Fraktion. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 218 Milliarden Euro Neuverschuldung, 600 000 Arbeitsplätze, die vernichtet werden, drei muslimische Terroranschläge in vier Wochen in Europa: Man könnte meinen, wir haben genug eigene Probleme vor unserer Haustür. Aber was legen uns die Grünen heute wieder vor? Sie möchten der halben Welt die Schulden erlassen. Bereits im April wurde ein Zahlungsaufschub für 73 Staaten beschlossen. Ihnen ist das nicht genug. Die Grünen wollen es jetzt richtig krachen lassen. Sie wollen für klamme Staaten, die bei uns in der Kreide stehen, jetzt ein Insolvenzverfahren einführen. Der Fokus der Grünen ist mal wieder antideutsch: antideutsch, weil sie sich nicht um unsere Wirte und Gastronomen sorgen, antideutsch, weil sie sich nicht um die alleinerziehende Mutter in Kurzarbeit kümmern, und antideutsch, weil sie unsere Landwirte ablehnen. ({0}) Stattdessen konzentrieren sich die Grünen darauf, jetzt Schuldenschnitte für korrupte Diktaturen und afrikanische Familienclans zu erzwingen. Sie werden die Haltung der AfD gleich wieder als Sozialpopulismus beschimpfen. Dabei ist doch eines ganz klar: Sich um sein eigenes Volk zu kümmern, ist kein Sozialpopulismus; das ist unsere Pflicht, dafür wurden wir gewählt. Deshalb steht an unserem Parlament „Dem deutschen Volke“ und nicht „Dem globalen Süden“. ({1}) Deutschland hat selbst über 2 Billionen Euro Staatsschulden. Über uns kreist der Pleitegeier, und Sie wollen ernsthaft anderen Staaten Schulden erlassen? ({2}) Das werden unsere Kinder bezahlen müssen. Selbst wenn wir uns das leisten könnten, wäre das überhaupt nicht zielführend. Warum sind denn viele afrikanische Staaten verschuldet? Sicher nicht, weil wir sie dazu gezwungen haben, sich Geld zu leihen. Die Schuldenspirale der Entwicklungsländer hat strukturelle Ursachen: Abhängigkeit von Rohstoffexporten, keine funktionierende Infrastruktur, keine Rechtssicherheit, schlechte Regierungsführung, Korruption und Gewalt. Unter solchen Bedingungen kann gar keine Wertschöpfung stattfinden. Übrigens hat man diesen Ländern in der Vergangenheit mehrfach Schulden erlassen. Erst im Jahr 2005 gab es einen Schuldenschnitt in Höhe von 55 Milliarden US-Dollar. Und hat es geholfen? Natürlich nicht. Wenn ein Schuldner weiß, dass ihm die Bank alle zehn Jahre die Schulden erlässt, warum soll er sich dann anstrengen, sein Haus in Ordnung zu bringen? Sie zementieren Verantwortungslosigkeit und eben nicht die viel beschworene Eigenverantwortung. ({3}) Besonders perfide am Antrag der Grünen ist, dass sie europäische Gläubiger über den ESM entschädigen wollen, wenn die Afrikaner nicht zahlen. Heißt also: Der grüne Schuldenschnitt wird mit dem Geld der deutschen Steuerzahler finanziert. ({4}) Wer profitiert eigentlich von ihrer antideutschen Politik? China. Ich bin froh, dass die Union lernfähig ist; denn dieses Argument habe ich im Ausschuss von der Union nicht einmal gehört; das kam nur von uns, das kann man nachlesen. China ist einer der größten Kreditgeber des globalen Südens. China wird einem Schuldenschnitt unter keinen Umständen zustimmen. Wenn die Grünen also die Spendierhosen anziehen, werden deutsche und europäische Gläubiger für ihre antideutsche Politik büßen. Die Chinesen hingegen werden lächeln und kassieren. Warum lernen die Grünen eigentlich nicht von China? Haben die Grünen in ihren maoistischen K-Gruppen nicht aufgepasst? China hasst nicht Chinesen. China verprasst nicht das Geld der eigenen Bürger. China vertritt nationale Interessen. Davon können wir lernen, meine Damen und Herren. ({5})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beobachten seit Jahren eine stetige Zunahme der Verschuldung von Entwicklungsländern mit gravierenden Folgen. Bereits Ende 2019, also vor der Coronapandemie, galten laut IWF und Weltbank mehr als die Hälfte der Niedrigeinkommensländer als hoch verschuldet. Es geht hier nicht nur um Zahlen, sondern, lieber Herr Frohnmaier, um Lebensbedingungen von Menschen. Zahlungsausfälle aufgrund von Überschuldung ziehen gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen nach sich. Die Entwicklungserfolge der vergangenen Jahre sind wirklich bedroht. Diese Situation hat sich durch Corona nachhaltig verschärft. Durch Lockdowns und Reisebeschränkungen sind globale Liefer- und Wirtschaftsketten zusammengebrochen. Das ist gerade in Entwicklungsländern heftig zu spüren. Die Finanzminister der G-20-Staaten haben sich zu Recht zu einem Schuldenmoratorium für die 77 am höchsten verschuldeten und ärmsten Entwicklungsländer durchgerungen und dies im letzten Monat sogar bis ins nächste Jahr hinein verlängert. Das ist ein erster wichtiger Schritt, um Entwicklungsländern Liquidität und Handlungsspielraum zu sichern. Gleichzeitig wird dieser Schritt – das wissen wir alle – aber nicht ausreichen. Auch wenn wir die Pandemie überstanden haben, werden unzählige Entwicklungsländer massiv verschuldet, viele sogar überschuldet sein. Wir wissen also schon heute, dass das derzeitige Schuldenmoratorium nicht ausreichen wird. Gerade die Bedeutung privater Kreditgeber oder scheinprivater Kreditgeber wie chinesische Staatsbanken hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Diese werden jedoch nicht vom Schuldenmoratorium erfasst. Was bringt uns denn ein Schuldenmoratorium der G-20-Staaten, wenn sich beispielsweise China nicht daran hält, weil die meisten chinesischen Kredite über Staatsbanken vergeben werden und diese als private Gläubiger gelten und damit nicht unter das Moratorium fallen? Nichts. Das ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, unbefriedigend. ({0}) Das wissen wir, und deshalb begrüßen wir die Initiative der Grünen im Grundsatz. Das Thema Staateninsolvenzverfahren muss wieder auf die Tagesordnung der internationalen Gemeinschaft. ({1}) Angesichts der Zunahme privater Kreditgeber aber Schuldenerlasse zu fordern, während die Privaten gar nicht mit am Tisch sitzen, bedeutet faktisch – da hat der Kollege Volkmar Klein recht – Enteignung. Das machen wir nicht mit. ({2}) Damit würden wir Entwicklungsländern einen Bärendienst erweisen, weil private Investitionen ausbleiben würden. Ohne diese stehen aber gleichzeitig die Chancen zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele ebenfalls bei null. Wir brauchen ernsthafte internationale Verhandlungen mit allen beteiligten Akteuren. Wir brauchen Entlastung für Entwicklungsländer und gleichzeitig Rechtssicherheit für alle beteiligten Akteure. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Jetzt geht die Technik wieder, wunderbar. Deutschland 4.0. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva-Maria Schreiber, Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Viele Entwicklungsländer sind im Würgegriff der Schulden bei Staaten und privaten Gläubigern, und das führt zu Armut, Hunger und Ausbreitung von Krankheiten. Das ist verheerend. In Sambia hungern mehr als 2 Millionen Menschen. Die Schulden verschlingen 70 Prozent des Haushalts, doch für die Förderung der Landwirtschaft bleiben nur gut 2 Prozent. Ghana gibt fünfmal mehr Geld für die Tilgung von Zinsen aus als für die Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung, und das mitten in der Coronakrise. Die Folgen dieser Schieflage sind dramatisch: Wenn wir keinen Ausweg aus der Schuldenkrise finden, könnte die Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern um 45 Prozent steigen, sagt der IWF. Jetzt schon sterben weltweit pro Minute elf Kinder an Hunger. Das ist eine Katastrophe. ({0}) Es gibt nur einen Ausweg: dass die Gläubiger einen Teil der Schulden erlassen, zumal sie das wirtschaftlich fast nicht merken. Aber die Ärmsten wären dann weniger arm. Deshalb ist dem Antrag der Grünen in allen zentralen Punkten zuzustimmen. Wir brauchen dringend eine neue, nachhaltige Entschuldungsinitiative. Wir benötigen ein Staateninsolvenzverfahren, das regelt, wie Staaten ihre Schuldenlast auf ein verträgliches Maß reduzieren können. Und ja, wir müssen auch private Gläubiger dazu verpflichten, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten. ({1}) Zum letzten Punkt ein paar Anmerkungen. Private Gläubiger weigerten sich bisher, bei der Entschuldung mitzuwirken. Staatliche Gläubiger sollen auf ihre Ansprüche verzichten, während private Kredite weiter bedient werden. Denn private Gläubiger profitieren von der Schuldenkrise vieler Entwicklungsländer. Ganz vorne mit dabei: der Vermögensverwalter BlackRock, ({2}) in vielen afrikanischen Ländern der größte private Gläubiger. Bei den Schuldentiteln dieser Länder wirken Zinsen von 7 bis 10 Prozent – eine Traumrendite. Ein Supergeschäft, möchte man meinen, oder? ({3}) Nein, sagen wir, es ist eine schamlose Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit. ({4}) Solange diese Geschäftspraktiken von BlackRock & Co nicht unterbunden werden, ja solange diese Akteure sogar auf Rückendeckung von Spitzenpolitikern in Deutschland zählen können, solange werden die Entwicklungsländer in der Schuldenfalle bleiben. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich weiter so auseinandergeht, wenn wir es nicht schaffen, die Ungleichheit zwischen den Staaten zu verringern – das SDG 10 –, werden wir die Ziele der Agenda 2030 nicht erreichen. Ändern wir das! Wir stimmen dem Antrag zu. Liebe Koalition und FDP, im Ausschuss fanden Sie den Antrag eigentlich gut – das habe ich auch den Reden jetzt entnommen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– auch wenn Sie dagegengestimmt haben. Geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie zu! Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eva Schreiber, ich kann da gut ansetzen; ich fahre fort. Aber vorher möchte ich noch sagen, Volkmar Klein: Das sind doch wirklich abenteuerliche Ausführungen zum Thema Bonität. Stellen Sie sich mal vor, Sie haben zwei Akteure mit zu 100 Prozent identischen Bedingungen, und der eine hat 50 irgendwas Schulden, und der andere hat 500 irgendwas Schulden. Jetzt lassen Sie sich mal von Herrn Klein erklären, warum der mit 500 besser bewertet sein sollte! Mit Volkswirtschaft hat das wirklich nichts mehr zu tun. ({0}) Die Situation ist beschrieben worden. Es gibt aber Einrichtungen, die reagiert haben. Die G 20 hat sogar schnell reagiert – das loben wir ausdrücklich – und ein Moratorium erwirkt; das war fantastisch. Aber es muss uns klar sein: Es war nur eine Notoperation. Diese half den Ländern zwar kurzfristig, Liquidität zu verbessern, sie bringt aber nichts in Bezug auf ihre Schuldentragfähigkeit. Und da die wirtschaftliche Talfahrt zunimmt, wird sich diese in Zukunft natürlich verschlechtern. Deshalb kommen wir wieder einmal nicht um einen Schuldenschnitt herum; das ist nicht meine Theorie, das ist auch die Theorie von Weltbank und IWF. Die ganz große, zentrale Frage ist doch: Kann ein Schuldenerlass im Rahmen eines geordneten Insolvenzverfahrens – Herr Frohnmaier, da sollten Sie sich mal schlaumachen, was das ist – langfristig die Schuldenfrage verbessern? ({1}) Die Gegner argumentieren ganz primitiv: Das Streichen der Schulden motiviert doch nur, noch mehr Schulden zu machen. Da könnte was Wahres dran sein; aber das ist immer nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit heißt doch: Zur Überschuldung gehören zwei, nämlich der Schuldner und der Gläubiger. Und solange die Gläubiger bei der Vergabe von Krediten nicht das geringste Risiko haben, gibt es auch keinen Marktmechanismus, der die Kreditvergabe steuert. ({2}) Genau diesen Mechanismus müssen wir einführen. Sobald der Finanzsektor einen fairen Anteil am Risiko der Kreditvergabe trägt, wird sich das Überschuldungsproblem mittelfristig erheblich reduzieren. Also ist doch ein regelbasiertes, völkerrechtlich verankertes Staateninsolvenzverfahren die Antwort. Das ist nicht neu: FDP und CDU/CSU hatten das schon einmal im Koalitionsvertrag, China hat es – Herr Frohnmaier, zuhören! – gefordert, die G 77 hat es vorgeschlagen – und diese Regierung hat von Anfang an blockiert, vor zehn Jahren, vor fünfzehn Jahren und auch heute. Die zentrale Frage – es ist nicht leicht – heißt doch: Wie bekommen wir alle ins Boot, Weltbank, China – nachdem wir sie frustriert haben –, USA und Private? Natürlich ist das ein dickes Brett, das wir bohren müssen, liebe SPD. Aber nach 40 Jahren wiederkehrenden Finanzkrisen müssen wir das Problem endlich angehen ({3}) und dürfen nicht auf Kosten der Entwicklungsländer kapitulieren. Kapitulieren auf Kosten anderer ist eine feine Sache. Fakt ist doch: Im Falle einer Überschuldung zahlen wir alle, und der Preis wird immer höher. Vor allem zahlen wir die Renditen der privaten Kredithändler, und auch das muss geändert werden. ({4}) Es liegt in unserem Interesse: Je schneller ein insolventer Staat wieder auf die Beine kommt, desto besser für alle. Aber es geht uns vor allem um die Menschen vor Ort, deren sozial-ökonomische Perspektive durch Überschuldung zerstört wird. Diese Verschuldung vernichtet Entwicklungserfolge. Überschuldung führt zu Hunger und auch dazu, dass Staaten instabil werden können; sie kann sogar zu Fragilität führen. Wir alle hier wissen, welche dramatischen Konsequenzen das für die Menschen vor Ort hat. Aber wir wissen inzwischen auch, dass die Fragilität auch auf uns zurückschlägt; die Folgen treffen uns immer härter.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin am Ende.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja, Sie sind am Ende.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unser Antrag zeigt den Weg aus der Misere, die wir zum großen Teil durch unsere Strukturen mit zu verantworten haben. Deswegen stehen wir auch in der Verantwortung, zu handeln. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Letzter Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die Coronapandemie Auswirkungen auf die ganze Welt und natürlich auch auf den globalen Süden hat, ist uns allen bewusst. Zwar sagen uns die Zahlen aktuell, dass insbesondere die afrikanischen Staaten, was die gesundheitlichen Herausforderungen betrifft, relativ gut durch die Krise kommen – sofern die Zahlen stimmen –, aber wirtschaftlich haben diese Länder extreme Schwierigkeiten. ({0}) Es gibt einen Zusammenbruch bei den Lieferketten, es gibt einen Zusammenbruch des Tourismus – allein 20 Millionen Jobs sind hiervon betroffen –, aber auch durch die strikten Lockdowns in einzelnen Ländern, ({1}) die mit Militär durchgesetzt wurden, konnten Bauern ihre Felder nicht bestellen, was wiederum Hungersnöte auslöst. Um diese Probleme zu lindern, haben wir, hat diese Große Koalition, ein Corona-Sofortprogramm auf den Weg gebracht. Mein herzliches Dankeschön an das Entwicklungsministerium für die schnelle Umsetzung! ({2}) Die wirtschaftlichen Probleme führen auch zu finanziellen Problemen. Deshalb müssen wir weiterdenken: Was ist nach Corona? Deswegen greift der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ein wichtiges Anliegen auf. Allerdings ist die Forderung nach einem Staateninsolvenzverfahren nicht ganz unproblematisch. Es ist schon angesprochen worden: Dieses Verfahren gibt es international noch nicht – es wäre ein völlig neues Konstrukt –, und es ist auch nicht so einfach umsetzbar, wie auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages ausgearbeitet hat. Warum? So ein Insolvenzverfahren hat grundsätzlich – wenn wir es mal rein wirtschaftlich betrachten – das Ziel, noch Geld für die Gläubiger zu beschaffen. In der Wirtschaft wird häufig ein Insolvenzverwalter dafür eingesetzt. Wir müssen uns auch mit der Souveränität der Staaten beschäftigen. Die Staaten müssen zustimmen. Viele Staaten sehen aber ein solches Verfahren kritisch. Warum? Es ist schon angesprochen worden: weil es Auswirkungen auf die Bonität hat und ein schlechtes Rating nach sich zieht. ({3}) Das ist so. Deshalb sehen viele Staatschefs ein Staateninsolvenzverfahren kritisch. Die Schuldenerlasse in der Vergangenheit – das gehört zur Wahrheit dazu – hatten einen Jo-Jo-Effekt. Deshalb müssen wir an der Ursachenbekämpfung arbeiten. Dazu möchte ich sagen: Das Wichtigste für die afrikanischen Staaten ist Wirtschaftswachstum. Hier setzt unser Marshallplan mit Afrika an. Hier setzten auch unsere Initiativen der Wirtschaftsförderung an, damit wir diese Staaten wirtschaftlich entsprechend unterstützen. Es gehören natürlich aber auch Good Governance, Korruptionsbekämpfung und strukturelle Reformen dazu. ({4}) Das alles sind Themen, die hier mit diskutiert werden müssen. Insgesamt bleibt festzuhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Ihr Antrag einige gute Ansätze enthält. Wir müssen die Verschuldung aber ganzheitlich anpacken. Wir müssen sie nachhaltig anpacken und bekämpfen. Ein Zeitfenster bis Januar vorzugeben, ist dann doch etwas knapp. Ihr Antrag springt meines Erachtens insgesamt zu kurz, und deshalb lehnen wir ihn ab. ({5})

Petra Nicolaisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004841, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verschiebung des Zensus in das Jahr 2022 ist aufgrund der Coronapandemie einfach notwendig. In seiner Rede wird mein Kollege Alexander Throm gleich unseren Standpunkt zu den im Gesetzentwurf ebenfalls enthaltenen Änderungen des Aufenthaltsgesetzes darlegen. Ich konzentriere mich jetzt auf den Zensus. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verschieben wir den Stichtag des Zensus um ein Jahr, nämlich auf den 15. Mai 2022. Ursprünglich war die Volkszählung für das nächste Jahr vorgesehen. So war es geplant und beschlossen, nämlich im Zensusgesetz 2021, welches wir als Deutscher Bundestag bereits am 6. Juni 2019 verabschieden haben. So sieht es das Europarecht vor: Im Abstand von zehn Jahren sollen Daten über die Bevölkerung und die Wohnungssituation bereitgestellt werden. Trotz der Verschiebung werden wir alle Bemühungen ergreifen, um auf eine Einhaltung der EU-Zeitvorgaben hinzuwirken. Die Pandemie hat die Verwaltung und deren Aufgaben verändert. Die Statistischen Ämter von Bund und Ländern müssen ihr Personal für andere Aufgaben einsetzen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen unter anderem unsere Gesundheitsämter. Viele notwendige Vorbereitungsmaßnahmen können nicht mehr wie geplant durchgeführt werden. Die Kommunikation mit anderen Verwaltungen zur Nutzung vorhandener Verwaltungsregister gestaltet sich einfach schwierig. Vollerhebungen an Sonderbereichen wie Altenpflegeheimen sind unter Pandemiebedingungen nicht möglich. Die Recherche der Auskunftspflichtigen sowie der Aufbau des notwendigen Anschriftenbestandes sind erschwert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statistischen Ämter von Bund und Ländern leisten wertvolle Arbeit, nicht nur im Gesundheitswesen. Hinter den Zahlen und den Daten steckt ein enormes Wissen; das sind Informationen, die auch noch nach der Pandemie wichtig für uns bleiben werden. Die erhobenen Daten bilden die Grundlage für faktenbasierte Entscheidungen in vielen wichtigen Fragen und Themenbereichen. Die Daten versorgen uns und unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten, in den Kommunalparlamenten und in den Verwaltungen mit wertvollen Informationen. Das sind zum Beispiel wichtige Gesundheitsdaten auf Landes- und Bundesebene über Pflege, Personal sowie Patienten und Krankenhäuser. Es sind aber auch Informationen, die unsere Wirtschaftslage beschreiben: wichtige Konjunkturindikatoren von der Exportquote bis hin zur Zahl der Übernachtungen in Hotels. Es geht auch um finanzielle Handlungsfähigkeit und Liquidität von Kommunen, weil amtliche Statistiken für die Berechnung der kommunalen Finanzausgleiche benötigt werden. Sie sehen: Amtliche Daten und Statistiken sind zuverlässig, und sie sind unentbehrlich. Auch deshalb ist der Zensus so bedeutsam. Als Volkszählung ist der Zensus mehr als nur eine umfangreiche soziodemografische Erhebung. Der Zensus bietet die Datengrundlage für die Zukunftsentwicklung in Deutschland. Die Einwohnerzahlen und deren demografische Entwicklung sind ein entscheidender Baustein bei der Planung unserer gesamten Infrastruktur sowie bei der Verteilung öffentlicher Gelder. Die Zensusergebnisse geben Aufschluss über die Bevölkerungsstruktur und ermöglichen eine genauere und auf den tatsächlichen Bedarf abgestimmte Politik. Auch für die Bestimmung von Wahlkreisen für Bundes- und Landtagswahlen, für die Sitzverteilung in Gemeinde-, Kreis- und Landräten und unter Umständen auch für die Sitzverteilung im Bundesrat sind die Zensusdaten von hoher Relevanz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die Frage, wie wir mit dem wichtigen Instrument des Zensus umgehen. Die Entscheidungsträger aller Ebenen profitieren von einer hohen Datengüte. Um diese zu erreichen, brauchen wir mehr Zeit und die entsprechenden Finanzmittel. Dabei wird der Bund einen Teil der Zusatzkosten übernehmen, die jetzt für die Länder in Höhe von circa 32 Millionen Euro entstehen. Eine Verschiebung des Zensus ist deshalb unumgänglich. Er bildet die Grundlage für die weiteren zehn Jahre kommender Politik. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung für den anstehenden Gesetzentwurf und damit für die Zukunft des Zensus. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist schade, dass wir zwei Gesetze lesen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben – seiʼs drum. Ob wir aber den Zensus überhaupt jemals durchführen können? Ob wir nach der Coronakrise zur Normalität zurückkehren, liegt nicht nur an den Bürgern, die eine bemerkenswerte Disziplin an den Tag gelegt haben, sondern es liegt vor allem daran, ob die Bundesregierung noch einmal in Panik verfällt und ohne Sinn und Verstand und ohne Faktengrundlage nachweislich sichere Orte schließt und Existenzen ruiniert. Schon berechtigter ist die Frage, ob es unter den gegebenen Bedingungen notwendig ist, einen Zensus im Jahre 2021 wie geplant durchzuführen. Vor allem im Hinblick auf die Haushaltsbelastung aufgrund der Krise sowie die allgemeinen Ausgaben der öffentlichen Verwaltung ist das eine Belastung, die man sich einfach ersparen kann. ({0}) Im Antrag sorgen Sie sich um die von der EU gesetzten Fristen. Dazu sage ich ganz klar im Namen meiner Fraktion: Es sind genau diese Momente, in denen sich zeigt, welches Korsett uns dieser undemokratische Verwaltungsapparat der EU aufzwängt, zumal die EU in der Coronakrise völlig versagt hat. Aber ich will nicht nur kritisieren. Wenn ein blindes Huhn mal ein Korn findet, muss man das Huhn auch belohnen, egal wie klein das Korn ist. Die ergänzende Vorbereitungshaft im Aufenthaltsgesetz, das haben Sie, wenn auch nicht ganz vollständig, gut aus den Forderungen der AfD abgeschrieben. Das freut uns wirklich. ({1}) Die einzige Konstanz dieser Bundesregierung war und ist, dass man die Anträge der AfD ungelesen ablehnt und sie dann gelegentlich den eigenen Referenten zur Inspiration vorlegt. ({2}) Hoffen wir also, dass diese neue Regelung nicht wieder ein Seehoferʼscher Papiertiger bleibt wie die Schleierfahndung, die Rückführungsabkommen oder so ziemlich jede „Jetzt greifen wir endlich durch“-Ankündigung des Innenministers. Es ist eigentlich unverständlich, dass wir uns überhaupt darüber unterhalten müssen, dass diese Lücke noch nicht geschlossen ist. Wer nach Deutschland weder einreisen noch sich dort aufhalten darf, wer schon einmal ausgewiesen und abgeschoben wurde, hat kein Recht darauf, auch nur einen Tag in Freiheit in Deutschland zu sein. Das gilt natürlich besonders für all jene, die eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, nämlich Verbrecher, Terroristen und Extremisten. ({3}) Das muss aber eigentlich für alle Fälle gelten. Wer weiß, dass er sich in Deutschland nicht aufhalten darf und deutsche Gesetze bereits bei der Einreise wissentlich missachtet, ist allein dadurch schon eine erwiesene Gefahr für unser Land. Die Missachtung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots garantiert, dass der Einreisende willens ist, vorsätzlich deutsches Recht zu brechen. Noch sinnvoller wäre es natürlich, wenn man endlich den illegalen Grenzübertritt von vornherein verhindern würde. Das ist möglich, wie wir in der Coronakrise, beim G-7-Gipfel in Bayern oder beim G-20-Gipfel in Hamburg mit jeweils erheblichen Fahndungserfolgen gesehen haben. Das ist auch im Interesse Deutschlands. Das scheint jedoch weiterhin unmöglich und nicht im Interesse der Bundesregierung und offensichtlich auch nicht im Interesse der EU zu sein. Beide setzen nicht auf den Schutz der EU-Außengrenzen, sondern auf die Legalisierung illegaler Armutsmigration – mit verheerenden Folgen. Dies wird die AfD nicht hinnehmen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank Herr Kollege Dr. Wirth. ({0}) – Frau von Storch, vielleicht können Sie Ihren pädagogischen Einfluss geltend machen, damit das demnächst beachtet wird. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({2})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht allen hat sich der Zusammenhang dieser beiden Gesetze unmittelbar erschlossen. Das einende Band aber ist so etwas wie das Vetorecht der Realität. Das trifft zu beim Zensus. Ich glaube, allen sollte klar sein, dass man unter den Bedingungen von Corona – mit Verwaltungen, die am Anschlag arbeiten, mit Mitarbeitern aus der Statistik, die in Gesundheitsämtern ganz notwendige und sehr löbliche, Applaus verdienende Arbeit geleistet haben – und in diesem Zusammenhang mit allen anderen Belastungen, die aufgrund der Unmöglichkeit öffentlicher Veranstaltungen und der Schwierigkeit von Hausbesuchen vorliegen, nicht verlässlich einen Zensus realisieren kann. Das ist wohl allen deutlich. Deshalb ist die einzig richtige und sinnvolle Entscheidung die Verschiebung des Stichtages um ein Jahr – alles andere wäre nicht vernünftig und fahrlässig – und gleichzeitig eine Verordnungsermächtigung, damit, falls wir es noch mit Corona zu tun haben oder andere besondere Ereignisse eintreten sollten, dann die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat entsprechende Anpassungen vornehmen kann. Das ist eine notwendige, wichtige, dringliche Gesetzgebung. ({0}) Kommen wir zum Schwerpunkt, dem wahrscheinlich heißer diskutierten Thema, nämlich der aufenthaltsrechtlichen Frage. Auch hier gilt das Vetorecht der Realität. Es geht um eine zielgenaue Regelung, die nicht einfach vom Himmel fiel, sondern die einen klaren Ausgangspunkt hatte: die Entdeckung einer Regelungslücke. Sie wurde deutlich im Fall Miri. Das werden alle hier im Raum erlebt haben. Der Umstand, dass in dem Fall der Straftäter, der abgeschobene Miri, wieder in Haft kam, lag nicht daran, dass es wirklich hinreichende gesetzliche Möglichkeiten gegeben hätte, sondern das war eine spezifische Konstellation aufgrund eines Asylfolgeantrages. Wir können uns aber nicht auf solche spezifischen Situationen verlassen, und deshalb ist die Schließung dieser Regelungslücke notwendig. ({1}) Worin besteht sie? Es ist der Umstand, dass es Fälle gibt, bei denen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vorliegt, bei denen keine Betretenserlaubnis gegeben ist, bei denen auch Fluchtgefahr besteht, aber folgende Situation eintreten kann: Die betreffende Person ist nicht in Haft und stellt einen Asylantrag. Genau in dem Moment ist eine – in dem konkreten Fall wirklich sinnvolle und gebotene – Abschiebungshaft nach gegebener Rechtslage nicht möglich. Das ist genau die Regelungslücke. Aufgrund dessen, dass die Person nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann sie nicht in Haft genommen werden. Dieses Gesetz regelt nichts anderes, und das ist uns als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen besonders wichtig gewesen. Es ging uns gerade nicht – da waren wir durchaus erfolgreich in den Verhandlungen – um ein großes neues Migrationspaket, um die weiter gehende Verschärfung von Abschiebung und Abschiebungshaft, sondern um genau diese Fallkonstellation. Genau deswegen kommt es jetzt zum § 62c Aufenthaltsgesetz. Damit soll eine ergänzende Vorbereitungshaft eingeführt werden; zur Vorbereitung einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Asylgesetz ist dann eine solche Abschiebungshaft im Sinne einer Vorbereitungshaft möglich. Um noch mal etwas zu sagen zu den Aufregungen, die gar nicht so sehr aus der Zivilgesellschaft, sondern aus einzelnen Teilen des Parlaments deutlich wurden: Nicht allein die Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, ist Grund für die Abschiebungshaft; das wäre auch absolut inakzeptabel, und es wäre verfassungs- sowie europarechtlich überhaupt nicht vertretbar. Auch ist dafür nicht die Tatsache ausreichend, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vorliegt, sondern es müssen besondere Haftgründe vorliegen, und sie sind auch explizit benannt. Da steht – ich sage das, auch wenn ich jetzt hier womöglich Lachen aus einzelnen Reihen höre – ausdrücklich: „ … wenn von ihm eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht oder er auf Grund eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses … ausgewiesen worden ist.“ Wir reden hier nicht über redliche Leute, die sich nie was haben zuschulden kommen lassen, sondern wir sprechen hier über Gefährder oder zutiefst kriminell aktiv gewordene Personen der organisierten Kriminalität. Ich glaube, das sind nicht die Personen, die im Zentrum unserer humanitären Asylpolitik stehen, sondern bei denen wir den Rechtsstaat zur Geltung bringen müssen, und das ist die Aufgabe dieser Regelungsvorschrift. ({2}) Deshalb – Frau Polat, Sie echauffieren sich wieder so – habe ich doch mit großer Verwunderung wahrgenommen, wie Sie auch im Ausschuss besonders die SPD adressiert haben. Von zivilgesellschaftlichen Organisationen – ich weiß nicht, wie es Ihnen allen geht – haben mich keine Briefe erreicht, keine großen Klagen, keine Beschwerden. Da frage ich Sie schon: Warum diese Aufregung, übrigens auch an uns gerichtet? Richten Sie sie an die CDU! ({3}) In Nordrhein-Westfalen erlebe ich gerade, dass sich die Grünen sehr um Koalitionen bemühen. Also, das wäre dann der richtige Adressat. Aber Sie müssen schon einmal entscheiden, ob Sie grundsätzlich Abschiebungen infrage stellen, was ja eine vertretbare Position ist, die wir aber nicht teilen, oder ob Sie grundsätzlich dafür sind, wie es Frau Baerbock für Konstellationen unter bestimmten Bedingungen erklärt hat. Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass das Praxis in Bundesländern mit grüner Regierungsbeteiligung ist; ich kann es nicht ändern. ({4}) Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Wirksamkeit einer besonders liberalen Asylpolitik sich unter grüner Beteiligung in europäischen Ländern bisher nicht wirksam äußert. ({5}) Daher ist meine Kritik jetzt nicht, dass Sie eine entweder besonders liberale oder restriktive Position einnehmen. Aber die Doppelgesichtigkeit, die ist mein Kritikpunkt. Wenn man von der SPD etwas fordert und sie anklagt, sie wäre da moralisch fragwürdig und würde humanitäre Regeln verletzen, dann sollte man bitte auch auf sich selbst schauen und solche Inkonsistenzen wahrnehmen. ({6}) Das halte ich für notwendig. Deshalb geht es hier nicht um eine entgrenzte Abschiebung von Personen – nein, wir haben dafür legale Migrationswege; wir haben die Beschäftigungs- und Ausbildungsduldung –, sondern es geht hier darum, dass wir in solchen Fällen von organisierter Kriminalität und Regelungslücken einen bestimmten, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Würden Sie bitte zum Schluss kommen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– sehr eng zu umgrenzenden Personenkreis zielgenau erfassen können, und das ist vernünftige, maßvolle und verhältnismäßige Gesetzgebung. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Wir haben ja schon ein etwas eigentümliches Gebinde heute Abend hier zu bewältigen: einmal die Zensusverschiebung und dann die Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Ich habe nicht ganz verstanden, wie das zusammengehört. Sie haben versucht, es zu erklären, Herr Kollege Lindh. Aber so ganz passt es für mich immer noch nicht zusammen. Vielleicht erst mal zum ersten Punkt, der Zensusverschiebung. Ich habe das schon verstanden, Herr Lindh, dass Sie sagen: Na ja, man kann jetzt unter diesen Umständen nicht von Haustür zu Haustür wandern und die Daten erheben. – Was ich nicht verstanden habe, ist, warum man wieder alles auf den Verordnungsweg schiebt. Ich habe heute früh gegen zehn Uhr Frühschicht gehabt – ich war einer der ersten Redner heute Vormittag – und habe da schon bemängelt, dass das Parlament alles auf den Verordnungsweg schiebt. Wir sollten die Dinge wieder im Parlament behandeln, ({0}) und jetzt schieben wir der Regierung unnötigerweise wieder etwas zu, was sie im Verordnungswege regeln soll, obwohl das eigentlich nicht notwendig ist. Zwölf Stunden später muss ich genau das Gleiche in der Spätschicht bemängeln. Das ist im Laufe des heutigen Tages eigentlich kein Fortschritt gewesen, wie ich finde. ({1}) Deswegen würden wir im Grunde ganz gerne ablehnen, was Sie uns heute hier vorlegen. Wenn wir gleichwohl diesem merkwürdigen Gesetzesgebinde zustimmen werden, dann wegen des zweiten Teils, weil auch wir der Auffassung sind: Das ist nun wirklich eine sinnvolle Geschichte, was Sie hier an echter Regelungslücke schließen. Deswegen stimmen wir heute Abend diesem Gesetz auch zu. Denn normalerweise ist es ja so – Sie haben es auch schon ein bisschen erklärt –, dass während eines noch laufenden Asylverfahrens keine Abschiebehaft verhängt werden kann. Jetzt haben wir ebendiesen besonderen Fall, den Sie auch schon dargestellt haben – eine Art schwerer Fall –: Es besteht ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Es gibt eine erhebliche Gefahr für Rechtsgüter Dritter, für Leib und Leben oder eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes, und es gibt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse und dazu noch den Richtervorbehalt. In Anbetracht dessen, was wir vor ziemlich genau einem Jahr beim Fall Ibrahim Miri erlebt haben, halten wir es wirklich für eine Notwendigkeit, diese Lücke zu schließen ({2}) und hier zu sagen: In einem solchen Fall soll es wirklich eine vorbereitende Abschiebeanordnung geben können. Deswegen werden wir heute Abend zustimmen. Aber der Fall Miri zeigt auch noch etwas anderes: Wenn ein bekannter Schwerkrimineller, der in den Libanon abgeschoben worden ist und eine siebenjährige Einreisesperre hatte, schon nach vier Monaten wieder fröhlich in das BAMF in Bremen spaziert und einen neuen Asylantrag stellt, dann funktioniert unser Kontrollsystem an den Außengrenzen nicht. Da müssen wir ran. ({3}) Da würde ich wirklich empfehlen, dass Sie jetzt die Zeit nutzen, die Sie haben; ich habe extra die Maske mit der Aufschrift „parleu2020.de“ mitgenommen. Wir haben zurzeit die Ratspräsidentschaft, und da sollte man wirklich die Gelegenheit nutzen, europäisch zu regeln, wie wir die Außengrenzen Europas besser schützen. Vielen Dank. ({4})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zensusverschiebung ist richtig und notwendig; aber die unsachgemäße Verknüpfung mit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes lehnen wir ab. Dies hat auch hier im Hause schon zu Irritationen geführt. Deswegen haben Sie, glaube ich, auch keine Zuschriften bekommen, Helge Lindh, weil das, wie meine Kollegin Ulle Schauws gesagt hat, eine Vernebelungstaktik ist. Das ist anscheinend die neue Strategie innerhalb der Koalition. ({0}) Meine Damen und Herren, diese Themen sind einander in Gänze nicht nur wesensfremd – das hat im Übrigen auch der Bundesrat festgestellt –; viel schlimmer noch: Die Eilbedürftigkeit in der einen Materie auf einen massiven Grundrechtseingriff zu übertragen, ist schlicht unverantwortlich. ({1}) Vor gerade einmal drei Tagen wurde in der Sachverständigenanhörung die Regelung zu der sogenannten Vorbereitungshaft von den Sachverständigen mehrheitlich kritisiert; denn anstatt die notwendigen Anforderungen an ein solches Gesetz angesichts der Normeingriffstiefe zu würdigen – wir sprechen hier davon, dass jemand einen Asylantrag aus der Haft heraus stellen soll, obwohl er keine Straftat begangen hat –, wird das Verfahren einfach durch das Parlament gepeitscht. Dass es, wie von Ihnen behauptet – auch von der FDP; ich bin etwas irritiert –, eine Regelungslücke gebe, wurde von den eigenen Sachverständigen der Regierungskoalition, Herr Throm, verneint. Sie nehmen einen Einzelfall zum Anlass, den Fall Miri aus Bremen, der genauso – das wurde gesagt – mit den gegenwärtigen Regelungen gelöst werden könnte. Sie treffen damit aber nicht nur angebliche Clanchefs, sondern auch alle anderen Menschen, die nach Ihrem Gesetz nun ihren Asylantrag – ich habe es bereits gesagt – aus der Abschiebehaft heraus stellen müssen. Das ist absolut unverhältnismäßig, und das Problem daran wird sein, dass wir jetzt schon 50 Prozent aller Anordnungen zur Abschiebehaft als rechtswidrig feststellen müssen, und diese Zahl wird auch noch steigen. Damit wird der starke Rechtsstaat infrage gestellt. ({2}) Zudem riskieren Sie mit Ihrer Gesetzesänderung, dass bereits die erste Inhaftierung – das prophezeie ich Ihnen – vor Gericht kassiert wird. Damit verlieren sie auch das Vertrauen in den Rechtsstaat, und das ist das Problem an Ihrer vermeintlichen Kriminalitätsbekämpfung; ({3}) denn nicht umsonst stellt die Inhaftierung einen der massivsten Eingriffe des Staates dar. Wenn nun mal keine Straftat vorliegt, ist es auch schwierig, die Abschiebehaft hierfür zu missbrauchen; denn sie dient allein der Durchsetzung der Abschiebung, und die muss unmittelbar bevorstehen. Sie wissen, wenn jemand einen Asylantrag stellt, kann sozusagen diese Prognose nicht festgestellt werden. Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf dokumentiert erneut, dass das Aufenthaltsrecht nicht der richtige Ort für Ihre Kriminalitätsbekämpfung ist. Hören Sie endlich auf, das Aufenthaltsrecht mit dem scharfen Schwert des Strafrechts zu vermengen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist weder erforderlich noch rechtsstaatlich verantwortbar. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Polat. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal muss man sich schon wundern, worüber sich die Grünen so aufregen können. ({0}) Ich will mal versuchen, das ein bisschen zur Sachlichkeit zurückzuführen. Um was geht es denn eigentlich? ({1}) Wir haben einen Schwerstkriminellen, der wird nach langem Verfahren mit großen Mühen – das wissen wir – abgeschoben, er erhält dabei ein Wiedereinreiseverbot, und gegen dieses Wiedereinreiseverbot verstößt er vorsätzlich. Schon allein das wäre normalerweise eine Straftat. Er ist wieder da, frei nach dem Motto: Und täglich grüßt das Murmeltier. – Und dann stellt er einen Asylantrag. Jetzt ist die Frage, ob wir wollen, dass dieser Asylantrag per se, ohne dass er inhaltlich geprüft wird, verhindert, dass dieser unter Verstoß gegen das Einreiseverbot wiedereingereiste Schwerstkriminelle in Sicherungshaft, in Abschiebehaft genommen werden kann. Das wollen wir nicht. ({2}) In der Tat, Ausgangspunkt war der Fall Miri. Ich will ganz offen gestehen: Wir haben alle ein bisschen geschwitzt, als er da war, dass wir ihn zeitnah wieder ins Ausland, in den Libanon zurückbringen können. Das hat damals funktioniert, weil ein Richter am Amtsgericht Bremen, das BAMF und die Bundespolizei gut kooperiert und gut miteinander gearbeitet haben. Aber es war letztlich dem Zufall geschuldet; denn es hängt davon ab, ob dieser neue Asylantrag vor oder nach der Inhaftnahme gestellt wird. Ganz ehrlich gesagt: Bei einem solchen Schwerverbrecher will ich es nicht vom Zufall abhängig machen, ob wir seiner habhaft werden oder ob wir ihm erlauben, unterzutauchen. ({3}) Frau Kollegin Polat, jetzt wollen wir doch mal schauen, was in diesem kleinen, schlanken Gesetz genau drinsteht und geregelt wird: Ein Ausländer mit Einreiseverbot verstößt gegen dieses. Er kann in Haft genommen werden – mit Richtervorbehalt –, „wenn von ihm eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“. In diesem Gesetz wird ausdrücklich geregelt, dass, wenn es nicht erforderlich ist, keine Haft angeordnet werden darf. Und er kann maximal für vier Wochen – das ist der Regelungsinhalt: maximal für vier Wochen – in diese vorübergehende Sicherungshaft genommen werden, damit in dieser Zeit die Asylbehörden die Möglichkeit haben, seinen neuerlichen Asylantrag zu prüfen und im Zweifel festzustellen, ob er begründet oder offensichtlich unbegründet ist bzw. ein unzulässiger Antrag ist. ({4}) Ich frage mich wirklich, bei allem guten Willen, auch Ihre Argumente zu werten: Vor welchen Personenkreis werfen Sie sich hier schützend? ({5}) Es ist nicht mehr nachvollziehbar, was die Grünenfraktion und Die Linke im Ausschuss und auch hier betreiben. ({6}) Ich weiß nicht, warum Sie Sachverständigenanhörungen beantragen, wenn Sie die Aussagen der Sachverständigen in diesen Sachverständigenanhörungen nicht zur Kenntnis nehmen und hier schlichtweg eine Darstellung dieser Anhörung geben, die mit der tatsächlichen Anhörung nichts zu tun hat – mit Ausnahme Ihres Sachverständigen. Alle rechtskundigen Sachverständigen haben konstatiert, dass wir hier für einen kleinen Personenkreis – das ist zugestanden – eine Regelungslücke haben, und diese Regelungslücke wollen wir schließen. Das Einzige, was Sie uns als Koalition vorwerfen können, ist, dass wir das nicht schon gesehen haben, als wir das Geordnete-Rückkehr-Gesetz gemacht haben, sondern einen solchen Fall Miri brauchten, um diese Lücke zu erkennen. Diese Kritik würde ich akzeptieren; aber nicht die Kritik daran, dass wir das jetzt hier machen. ({7}) Eine letzte Bemerkung. Ich habe in einer vorangegangenen Debatte schon mal den Kollegen von Notz zitiert; er ist jetzt nicht da. Vor circa einem Jahr haben wir hier im Plenum eine Aktuelle Stunde zu ebendiesem Fall Miri gehabt. Das war, glaube ich, ein oder zwei Tage, nachdem er tatsächlich wieder in den Libanon verbracht worden war. Herr Kollege von Notz hat damals gesagt: Natürlich müssen wir wissen, wer in unser Land einreist und wer hier Asyl beantragt, und wir müssen die Einreiseverbote durchsetzen, und Verstöße müssen sanktioniert werden. Genau das ist hier geschehen. Wenn dieser Fall für Horst Seehofer ein Lackmustest für die wehrhafte Demokratie ist, dann kann man nur sagen: Der Test ist bestanden. Der Rechtsstaat ist hierfür „sehr gut gerüstet“. Recht hat er, der Kollege von Notz! Er hat dabei nur vergessen, dass diese Abschiebehaft, dass diese erneute Abschiebung des Herrn Miri nur deshalb möglich war, weil wir vier, fünf Monate vorher das Geordnete-Rückkehr-Gesetz beschlossen haben und dabei die Abschiebehaftregelung gerade bei Verstoß gegen solche Einreiseverbote verschärft haben – gegen die Stimmen der Grünen und gegen die Stimmen der Linken. Das sollten Sie sich überlegen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Throm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute Abend über ein Gesetz, das auf der einen Seite mehr Sicherheit bringen wird, aber auf der anderen Seite auch mehr Flexibilität für die Bürgerinnen und Bürger. Sicherheit und Flexibilität – ich glaube, das ist bei einem Gesetz durchaus eine gute Kombination. Worum geht es? Es geht im Grunde um das Vertrauen in die Echtheit von Ausweisen und Pässen. Das ist für unsere Sicherheitsbehörden natürlich von elementarer Bedeutung. Gerade der Personalausweis ist sozusagen die Eintrittskarte für unser Land, und er ist der Schlüssel zu vielen staatlichen Dienstleistungen. Deshalb ist das Vertrauen in die Echtheit, wie ich schon sagte, von elementarer Bedeutung. Was ist das primäre Ziel dieses Gesetzentwurfs? Es geht darum, das sogenannte Morphing zu bekämpfen und zu verhindern. Morphing, das ist die technische Möglichkeit, verschiedene Fotos zu einem verschmelzen zu lassen. Wir hatten in einer Sitzung unserer Unionsfraktion eine längere Debatte darüber, wie ein gemorphtes Foto von Laschet, Merz und Röttgen aussehen könnte, aber wir sind zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. ({0}) Nein, Spaß beiseite, es geht natürlich darum, dass diese gemorphten Fotos genutzt werden können, um illegale Grenzübertritte von verschiedenen Personen zu ermöglichen, und das dürfen wir natürlich nicht zulassen. Wir erleben, dass Kriminelle immer neue, zusätzliche technische Möglichkeiten nutzen. Da darf der Staat natürlich nicht tatenlos zusehen. Vor diesem Hintergrund ist das ein gutes und auch ein notwendiges Gesetz, meine Damen und Herren. ({1}) In Zukunft wird das Passfoto auf zwei Wegen Eingang in den Personalausweis finden. Der eine Weg ist, das Foto direkt in der Behörde zu machen. Das wird der neue Weg sein, in vielen Fällen jedenfalls. Der andere Weg wird sein, das Foto weiterhin im Fotostudio zu machen, wenn das Fotostudio den sicheren digitalen Weg des Fotos in die Meldebehörde sicherstellen kann. Das ist, wie ich finde, für die Bürgerinnen und Bürger eine optionale Möglichkeit, eine Wahlmöglichkeit. Dementsprechend bedeutet das mehr Flexibilität: Ich kann direkt in die Behörde gehen, ich kann aber auch weiterhin in mein Fotostudio gehen und dort das Foto machen. Meine Damen, meine Herren, mit dieser Option tragen wir insbesondere den berechtigten Hinweisen der Fotostudiobranche Rechnung. Ich finde, vor diesem Hintergrund ist das ein guter Kompromiss. Wir Koalitionsfraktionen haben darüber hinaus in einem Entschließungsantrag mit Blick auf den Bereich der Automatenhersteller deutlich gemacht, dass wir auch hier eine marktwirtschaftliche Option haben wollen, mit der wir sicherstellen wollen, dass unsere Gemeinden eine Auswahlmöglichkeit haben. Also auch Städte und Gemeinden haben mehr Flexibilität: Sie können sich entscheiden, das zentrale Angebot der Bundesdruckerei zu nutzen, sie können sich aber auch entscheiden, das Angebot eines privaten Automatenaufstellers zu nutzen. Ich finde, auch hier haben wir einen vernünftigen und guten Kompromiss zwischen den Interessen der Privatwirtschaft und den Sicherheitsinteressen der staatlichen Stellen gefunden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe jetzt relativ viel über die praktische Umsetzung gesprochen. Es ist wichtig, dass man auch dort Klarheit hat, welchen Weg wir gehen wollen. Aber es geht – das will ich noch mal betonen – um das Thema Sicherheit. Es geht um ein Mehr an Sicherheit, und das ist der Hauptzweck dieses Gesetzes. Es geht um die wichtigen, sicherheitsrelevanten Aspekte von Pass und Ausweis. Mit diesem Gesetz sorgen wir dafür, dass diese wichtige, sicherheitsrelevante Funktion erhalten bleibt. Wir sorgen darüber hinaus dafür – das ist ein weiterer Aspekt –, dass auch die Sicherheitsbehörden in Zukunft automatisiert auf die Lichtbilder zugreifen können. Das war zwar bisher schon rechtlich zulässig, aber technisch nicht möglich. Von daher ist auch das ein Beitrag zur sogenannten Registermodernisierung. Insgesamt gehen wir hier Wege des technischen Fortschrittes, der mehr Flexibilität, aber auch mehr Sicherheit mit sich bringt. Deshalb ist das, wie ich schon sagte, ein durchaus gutes und auch notwendiges Gesetz. Ich kann Ihnen allen guten Gewissens Zustimmung zu diesem Gesetz empfehlen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Oster. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Es sind viele kleine Details, viele kleine Änderungen, um die es in diesem Gesetzentwurf geht, und die sind in den meisten Fällen auch sinnvoll. Die weiterhin enggefasste, aber jetzt etwas erweiterte Möglichkeit zur Verwendung der Seriennummer kann man unterstützen. Ebenso sind auch die Ausweispflicht drei Monate vor Haftentlassung und das bessere Absichern des Passfotos gegen Morphing nützliche Änderungen. Gerade das Thema Morphing zeigt, wie die Sicherheitspolitik auch immer noch ein Rüstungswettstreit mit der Technologie ist. Die Möglichkeit, aus zwei Fotos einen von zwei Personen verwendbaren Pass zu schaffen, war vor wenigen Jahren noch undenkbar. Wir wären ja eigentlich froh, wenn sich Betrüger zu zweit einen Pass teilen würden. In der Realität ist es meist andersrum. Wir wären ja eigentlich froh und es wäre wünschenswert, wenn die gleiche Sorgfalt, die für Deutsche und ihre Pässe gilt, auch für Einreisende gelten würde. Die Bundesregierung führt, wie eine Kleine Anfrage unserer Fraktion ergab, keine Statistiken über Mehrfachidentitäten und den damit einhergehenden Betrug. Wohl aus gutem Grund. Der Fall des in Bayern aufgegriffenen Migranten mit 35 Identitäten vor zwei Monaten ist nur ein Beispiel von vielen, wie diese Betrüger unseren guten Willen in der Krise eiskalt ausnutzen. Ich erinnere auch an einen Fall aus den Jahren 2016/2017, als Hunderte Asylbewerber aus dem Sudan Mehrfachidentitäten zum Sozialbetrug nutzten. Dies war auch den zuständigen Beamten aufgefallen; sie schwiegen aus Angst davor, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Neben den Mehrfachidentitäten gibt es aber weiterhin das verbreitete Phänomen der Nullidentität. Der deutsche Reisepass ist das wertvollste Reisedokument der Welt. Er öffnet die Schlagbäume von 123 Ländern. Mächtiger ist nur der, der keinen Reisepass hat und damit die schlagbaumfreie deutsche Grenze überquert. ({0}) Natürlich kann es bei einer echten Flucht vor Krieg und Katastrophe dazu kommen, dass man den Pass verliert oder ihn gar nicht erst mitnehmen konnte. Wir tolerieren es aber, ja wir fördern es, wenn Identitätsdokumente bewusst vernichtet oder versteckt werden, wenn die Mitwirkung an der Identitätsfeststellung verweigert wird und wenn kein Versuch unternommen wird, zum Beispiel in Botschaften und Konsulaten neue Dokumente zu erhalten. Wie fördern wir das? Indem wir erst hinter der Grenze kontrollieren, also die Einreise ohne Papiere aus unseren sicheren Nachbarländern weder verhindern können noch wollen. Indem die Auslesung der Handys erst beim BAMF erfolgt und nicht durch die Bundespolizei an den Grenzen. Selbst wer bei der hochgelobten Schleierfahndung ohne Papiere erwischt wird, wird nicht in nennenswerter Zahl zurückgeschoben. Das gelobte Land steht sperrangelweit offen. Es helfen eben der sicherste Pass, die höchsten Ansprüche auch an fremde Pässe nichts, wenn man auch ohne diese ins Land kommt. Der Reisepass ist in Deutschland ein Schlüssel ohne das dazugehörige Schloss. ({1}) Wahrscheinlich hat die Bundesregierung einfach keine Zeit, sich um solche Probleme zu kümmern. Sie hatte andere, wichtigere Prioritäten, die auch im vorliegenden Gesetzentwurf wieder vorkommen, zum Beispiel die Einführung des „anderen Geschlechts“ auf den Dokumenten. Das hat die Bundesregierung offenbar um den Schlaf gebracht. Sie ermöglichen auch das Verbergen der neuen Geschlechtsidentität, damit man auch ohne Todesgefahr in die Länder reisen kann, aus denen wir gerade überschwemmt werden; denn da muss man ein „anderes Geschlecht“ verstecken, denn dort werden die Grenzen kontrolliert. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wirth. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Minuten war ich noch glücklich; dann kam die Rede von Herrn Wirth. ({0}) Es erstaunt mich doch immer wieder, wie es Ihnen auch bei diesem Thema gelingt, auf die Themen „Gender“, „drittes Geschlecht“ und „Migrationspolitik“ zu kommen. Die einzige Erklärung, die sich für mich logischerweise ergibt, ist der klinische Zustand der manischen Besessenheit von diesen Themen. Anders kann ich das wirklich nicht nachvollziehen. ({1}) Denn es ist absolut vernünftig und richtig, dass die gesetzgebende Instanz der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten menschenrechtlich schonend und vernünftig nachkommt. Das, finde ich, ist notwendig und nicht zu verhetzen. Ebenso ist es wahrlich kein gebotener Moment, um hier Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten zu machen. ({2}) Ich will mich aber nicht zu lange über Sie ärgern, sondern ich will mich eigentlich freuen – das tue ich auch – über diese Gesetzgebung. Deshalb trage ich heute ein Blumenhemd. ({3}) Denn es war eine sehr intensive, erfreuliche, leidenschaftliche Gesetzgebung, in der wir, wie vorhin auch bemerkt wurde, sehr viele Details, größere und kleinere, umfangreich im gesetzgeberischen Verfahren geändert haben. ({4}) Das war wirklich eine gute Stunde des Parlaments in allen Berichterstattergesprächen und Diskussionen. Und ich trage noch aus einem anderen Grund dieses Blumenhemd; denn als Koalition kann man hier wirklich sagen: Versprochen, gehalten! Man schaue bitte in das Protokoll der ersten Lesung; da stand: Wir gucken uns genau die Kritikpunkte aus der Wirtschaft und der Zivilbevölkerung an. Wir prüfen sie und versuchen, salomonische, sinnvolle Wege zu finden. – Genau das haben wir getan; denn das Struck’sche Gesetz hat zugeschlagen. Wir haben entsprechend Klärung und Veränderung vorgenommen. Das finde ich gut, und das ist richtig. ({5}) Hier geht es nämlich – das erschließt sich vielleicht nicht jedem bei diesem etwas sperrigen Titel – konkret um die Lebenswirklichkeit von Menschen. ({6}) Es sind schon Kommunalwahlen aufgrund von Diskussionen über die Situation in Einwohnermeldeämtern entschieden worden. Das ist etwas, was Menschen real beschäftigt. Und es beschäftigt Menschen real auch, wie sicher ihre Dokumente sind. Genau das ist der Ansatzpunkt: die Unsicherheit, die durch Morphing möglich geworden ist. Die noch zusätzliche Unsicherheit eines möglichen realen Morphings von Herrn Laschet und anderen können wir hiermit nicht ausräumen; das überlasse ich der CDU. Sie sind da sicher auf dem besten Wege, das im nächsten Jahr zu klären. ({7}) Hier mussten wir Wege finden, wie wir gleichzeitig Sicherheit ermöglichen und die Wahlfreiheit der Kommunen und der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Das war der Dreiklang, der zu leisten war. Die Frage des Morphings wird angegangen durch die Digitalisierung. Dabei ist entscheidend: Sicherheit bei der Produktion der Lichtbilder, bei der Übermittlung und auch bei der Herstellung der Dokumente. Es geht um biometrische Qualität und Sicherheit. Das alles sind Kriterien, die gewährleistet werden mussten. Schon früh in der Gesetzgebung, noch im Entstehen des Gesetzentwurfes, haben wir erkannt, dass es notwendig ist, auch die Interessen der Fotografinnen und Fotografen, deren Existenz zum Teil von solchen Aufnahmen abhängt, zu berücksichtigen. Genau aus dem Grunde gibt es eben die Möglichkeit, dass sich Bürgerinnen und Bürger entscheiden können, die Bilder nicht in der Behörde machen zu lassen, sondern bei privaten Anbietern – wie es im Gesetz heißt –, also bei Fotografinnen und Fotografen. Diese wiederum übermitteln das digital erzeugte Bild an die Behörde. Das Ganze geschieht mit zertifizierten Geräten, um Sicherheit zu gewährleisten, und über die Form einer Registrierung. ({8}) Auch das war uns noch mal in dem parlamentarischen Verfahren wichtig: Wie ist es für Fotografen praktisch handhabbar, erst recht in der Situation von Corona, wo sie auf jeden Cent achten müssen? – Geräte müssen sicher sein, das Verfahren muss sicher sein. Aber wir wollten keine Zertifizierung für Fotografinnen und Fotografen, die schlicht viel zu aufwendig wäre; daher die Registrierung. Trotzdem kann alles genau nachverfolgt werden, wenn Manipulation vorliegt. Das ist das Ziel: Sicherheit, aber auch Gewährung und Wahrung von Wahlfreiheit. ({9}) Kommen wir zum zweiten Thema im Zusammenhang mit der Wahlfreiheit, das viele intensive Gespräche gefordert hat. Wenn wir entsprechende Möglichkeiten hinsichtlich Fotografinnen und Fotografen einräumen, muss das auch für die Geräte in den Behörden gelten. Deshalb gibt es auch hier wieder zwei Optionen: entweder behördliche Geräte – solche, die durch die Bundesdruckerei beschafft werden – oder aber, Variante B, Beschaffung durch die Kommunen über private Anbieter; das ist weiterhin möglich, und das ist gewährleistet. Wir sind sehr zufrieden und stolz darauf, dass uns das gelungen ist; denn es ist eine vernünftige Regelung, die auch bedeutet, dass dieser Wirtschaftszweig erhalten bleiben kann. Ich glaube, wir alle sollten daran ein Interesse haben, gerade in den jetzigen Zeiten. Zumal in den Anhörungen – wie ich vorhin hörte, wird hier jetzt wieder mehr Wert auf Anhörungen gelegt – sehr deutlich wurde, dass es keinerlei Sicherheitsdefizite gibt bei den Formen, in denen private Anbieter diese Technik bieten. Nein, sie haben teilweise schon die Standards der technischen Richtlinien des BSI erfüllt. Das heißt, Sicherheit ist zwingend gegeben. Daher gibt es beide Möglichkeiten: behördlich durch die Behörden oder eben privat durch Anbieter von Fotoapparaten, von Selfservice-Terminals. Ich sprach von Lebenswirklichkeiten. Bezüglich der Änderungen im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens möchte ich noch auf zwei Punkte, die, glaube ich, nicht unbedeutend sind, hinweisen. Wir alle hier wollen, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz funktioniert. Das kann aber nur dann funktionieren, wenn wir es praktisch möglich machen. Mittlerweile wurde ja deutlich, dass Menschen, die eine Arbeitserlaubnis bekommen haben, teilweise arbeitslos bleiben mussten, weil die Dokumente nicht schnell genug durch die Bundesdruckerei vorlagen, weil gerade jetzt in Zeiten von Corona Ämter lange brauchen. Deshalb kann die Arbeitserlaubnis jetzt direkt in der Fiktionsbescheinigung berücksichtigt werden. Das ist konkrete Ermöglichung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und sinnvoll. Zweite sinnvolle Maßnahme: Der Kommunikationskanal zwischen der Ausländerbehörde und der Auslandsvertretung funktioniert jetzt über das Ausländerzentralregister. Auch da Entbürokratisierung: keine E-Mails mehr, keine aufwendigen Wege per Post, sondern direkte, einfache Digitalisierung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So funktioniert intelligente, pragmatische Gesetzgebung. So hat man einen Grund, Blumenhemden zu tragen. Ich wünschen Ihnen allen einen guten Abend. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. Die Kollegen Manuel Höferlin, FDP-Fraktion, und Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Deshalb hat als nächster Redner das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ankündigung der Bundesregierung, Passbilder zukünftig nur noch auf der Amtsstube von der Bundesdruckerei anfertigen zu lassen, hat hohe Wellen geschlagen. Unsere Anhörung am vergangenen Montag, Herr Lindh – trotz Blumenhemd –, die die GroKo nicht wollte, hat noch mal gezeigt, warum das so ist: Diese Reform hat eigentlich nur Verlierer, außer einem Staatsbetrieb; der ist Gewinner. – Dennoch oder vielleicht gerade deshalb halten die Bundesregierung, die Union und die SPD unbeirrt an diesem Vorhaben fest. Das ist schlecht, meine Damen und Herren. ({0}) Schlecht ist es; denn in der Anhörung wurden unsere maßgeblichen Kritikpunkte noch mal bestätigt. Erstens. Die sicherheitspolitische Notwendigkeit – und damit der Kern Ihres Gesetzes – konnte nicht belegt werden. Wie viele Morphing-Fälle gibt es in Deutschland pro Jahr? Niemand weiß es. Es heißt, es ist eine einstellige Zahl; aber niemand konnte es sagen, und niemand weiß es genau. Deswegen steht die Frage, warum man das überhaupt macht, weiter im Raum. Zweitens. Ein funktionierendes, sicheres System wird insofern ohne Not infrage gestellt, und es wird in die Wettbewerbsfreiheit von eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieben eingegriffen – bei vielen, vielen Beteiligten. Und das ist schlecht. Drittens. Die Bundesdruckerei wird in eine Rolle gedrängt, die sie voraussichtlich nicht wird ausfüllen können oder wollen. Aber als Monopolist ist das ja nicht so schlimm. Die Folgen dieses merkwürdigen Eifers der Großen Koalition: Die Kommunen verlieren erstens relevant Einfluss und Einnahmen. Zweitens. Die öffentliche Hand muss mindestens 171 Millionen Euro zahlen. Und drittens. Für die Bürgerinnen und Bürger wird es teurer, nämlich zusätzlich mindestens 6 Euro pro Ausweis. Der einzige Gewinner dieser Reform ist die Bundesdruckerei, bei der es – und das ist interessant, da wir über zertifizierte BSI-Geräte sprechen; Herr Lindh, da haben Sie recht – bislang keine solchen Geräte gibt; deren Geräte sind bisher nicht BSI-zertifiziert. Außerdem ist unklar, ob die Bundesdruckerei in der Fläche den Service überhaupt leisten kann, der im Augenblick von privaten Unternehmen geleistet wird. All diese Befürchtungen wurden in der Anhörung untermauert. Und was machen Sie? Die einzige Neuerung, die Sie hier halbgar zu verstecken versuchen, ist ein nochmaliger Entschließungsantrag, den Sie allein im Ausschuss gestellt haben, damit die Kritik aus den eigenen Reihen während der abschließenden heutigen Beratung nicht allzu sichtbar wird. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist eben keine gute Gesetzgebung – trotz Blumenhemd. Und dass die vielen negativ Betroffenen das zynisch finden, verstehe ich. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. Der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.

Florian Pronold (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003612

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich gewusst hätte, dass man über sein Hemd sozusagen die Wichtigkeit von Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck bringt, ({0}) dann hätte auch ich versucht, ein Blumenhemd zu finden. ({1}) Dieses aktuelle Gesetzgebungsverfahren, das zu später Stunde hier beraten wird, ist ein wichtiger Beitrag. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde, das Schöne an unserem Job als Abgeordnete ist, dass man fast jeden Tag etwas dazulernt. Mir ging es so – wie auch vielen Kolleginnen und Kollegen –, als wir uns mit dem Protokoll über Schadstofffreisetzungs- und ‑verbringungsregister nach dem Aarhus-Übereinkommen beschäftigt haben. Da habe ich gelernt, dass wir seit 2007 sowohl in Europa wie auch in Deutschland ein Register haben, durch das sich die Bürgerinnen und Bürger über die Freisetzung von Schadstoffen durch Industriebetriebe in Luft, Wasser und Boden sowie über die Verbringung von Abfällen und Schadstoffen ins Abwasser informieren können. Das kann jeder Bürger und jede Bürgerin im Internet einsehen. Auf europäischer Ebene sind nun die Berichtspflichten zu diesem Übereinkommen geändert worden. Das führt dazu, dass wir den schnelleren Zugang zu Umweltinformationen auch in Deutschland realisieren müssen, damit die Bürgerinnen und Bürger auch die europäischen Informationen schneller zur Verfügung haben. ({2}) Wir haben die Fristen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens entsprechend verkürzt. Neu ist, dass zukünftig auch sensible Betreiberinformationen an die Kommission gemeldet werden müssen. Wie bisher werden diese Daten aber nicht veröffentlicht, was in den Beratungen eine gewisse Rolle gespielt hat. Dieser Gesetzentwurf begründet keine neuen berichtspflichtigen Akteure und keine neuen Berichtspflichten, was Schadstoffe oder Umstände angeht, sondern ermöglicht es Bürgerinnen und Bürgern, schneller auf aktuelle Daten in diesem Schadstoffregister zuzugreifen. Die Beratung im Ausschuss hat ergeben, dass fast alle Fraktionen der Annahme dieses Gesetzentwurfs zugestimmt haben. Lassen Sie mich deswegen diese Gelegenheit nutzen, mich mal ganz herzlich bei allen, die sich an der Beratung beteiligt haben, zu bedanken, insbesondere bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern, auch bei denen der Großen Koalition, nämlich bei Herrn Möring und Frau Nissen, die heute nicht hier sein kann und mir deswegen den Auftrag erteilt hat, an ihrer Stelle zu reden. Und da die Frau Kollegin Nissen offensichtlich einen heimlichen Wettbewerb führt, nämlich Frankfurt zur meisterwähnten Stadt in den Protokollen des Deutschen Bundestages dieser Legislaturperiode zu machen, habe ich ihr versprochen, dass ich Frankfurt in dieser Rede extra noch mal erwähne. ({3}) Ich möchte mich noch mal ganz herzlich für die Beratungen bedanken und auf den Rest meiner Redezeit verzichten, damit die Beschäftigten des Deutschen Bundestages früher nach Hause kommen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Staatssekretär, ganz herzlichen Dank für diese innere Einstellung. – Ich kann auch nur empfehlen: Wenn man schon Blumenhemden tragen will, dann welche mit Frühlingsblumen, die man als solche erkennen kann, und nicht mit Herbstblumen. ({0}) Im Übrigen wird Frankfurt mit Sicherheit das Rennen machen, weil wir zwei Frankfurts haben; es war nicht ganz klar, welches Frankfurt Sie meinten, Frankfurt am Main oder Frankfurt (Oder). Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion. ({1})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Verehrte Gäste an den Bildschirmen! Ja, wir sprechen heute über den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Protokolls über Schadstofffreisetzungs- und ‑verbringungsregister vom 21. Mai 2003 sowie zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 166/2006. Die in diesem Gesetzentwurf geforderten Veränderungen betreffen unter anderem die Verkürzung der Berichtsfristen, die Aufbewahrungsfristen für die Daten sowie weitere kleinere Verwaltungsänderungen beim Erheben und Übermitteln dieser Daten. Wie es der Staatssekretär angekündigt hat, sind diese Verwaltungsänderungen geringfügiger Natur, und deswegen kann die AfD-Fraktion dem Ganzen zustimmen. ({0}) Aber wenn wir schon dabei sind, dann schauen wir uns doch einmal an, ob mit dem Register die Ziele der Verordnung tatsächlich erreicht werden. Ziele der Verordnung sind unter anderem, Informationen über den Zustand der Umwelt zu sammeln sowie zu einer Verringerung von Umweltverschmutzung beizutragen. Wir müssen attestieren, dass eigentlich beide Ziele wenig bis gar nicht von diesem Register berührt werden. Zum einen liegt das daran, dass alle Emissionen, die in diesem Register erfasst werden – seien es Schadstoffe im Boden, im Wasser oder in der Luft –, unterhalb der gesetzlichen Grenz- und Schwellenwerte liegen. Mithin hat der Gesetzgeber den Betrieben bereits attestiert, dass hier keine Umweltverschmutzung durch den Betrieb der Anlagen vorliegt. Des Weiteren ist es nicht unbedingt so, dass es der Information über den Zustand der Umwelt dient, wenn ich Informationen darüber zusammentrage, dass ein Betrieb ungefährliche Abfälle – auch wenn es einige Tausend Tonnen sein mögen – sammelt und sie dann innerhalb der nationalen Grenzen an einen Verwerter oder Recycler weiterreicht. Das ist nichts, was der Information über den Zustand der Umwelt dient. Fragen wir doch auch gleich einmal, ob es tatsächlich sinnvoll ist, diese erhobenen Daten zentralistisch in einem Brüsseler Elfenbeinturm von hochdotierten EU-Beamten zu veröffentlichen. Welches gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit liegt denn de facto dafür vor, dass ein Bürger, sagen wir, aus Irland oder Portugal wirklich wissen muss, dass in einem bestimmten Betrieb – meinetwegen in Litauen, Rumänien oder Griechenland – 1 000 Tonnen ungefährlichen Abfalls anfallen, die dann zu einem Verwerter oder Recycler gebracht werden? Das ist doch ein etwas übersteigertes Informationsbedürfnis, und ich glaube, diese Informationen sollten besser auf nationaler, vielleicht sogar auf regionaler Ebene erhoben werden. ({1}) Womit wir beim letzten und wahrscheinlich wichtigsten Punkt wären, ({2}) nämlich der sorglosen und manchmal sogar fahrlässigen Veröffentlichung dieser Daten. Die Veröffentlichung dieser Daten führt nämlich dazu, dass fachkundige Ingenieure oder fachkundige Wissenschaftler aus diesen veröffentlichten Abfalldaten Rückschlüsse auf die Zustände der Betriebe ziehen können, denen diese Daten zugeordnet werden. Das führt so weit, dass man daraus sogar einzelne Prozessparameter ablesen kann, die in diesen Fabriken und Betrieben verwendet werden, und sogar Rückschlüsse auf die Quellen ziehen kann, aus denen diese Betriebe ihre Rohstoffe beziehen. Wenn ich das Ganze mit den modernen Methoden der KI kombiniere, wie sie heute Morgen im Abschlussbericht der Enquete-Kommission erwähnt worden sind, dann stelle ich fest, dass gut ausgebildete Ingenieure mittlerweile per Mausklick ein wahrscheinliches Lagebild von den Betriebszuständen, von den Prozessparametern und von den betrieblichen Kennziffern wie Stückkosten und Energieeffizienz europäischer Betriebe erstellen können. Darüber freut sich selbstverständlich die außereuropäische Konkurrenz. ({3}) Ich fasse zusammen: Die AfD stimmt diesem Gesetzentwurf mit den Verwaltungsänderungen zu. Wir sind aber nicht der Meinung, dass damit die Ziele der Verordnung weitestgehend erreicht werden; er erweist sich daher als nicht förderlich. Wir sind nicht der Meinung, dass diese Daten zentralistisch in Brüssel erhoben und veröffentlicht werden sollten, und wir sind dezidiert der Meinung, dass es fahrlässig und sorglos ist, diese betrieblichen Daten – auch diejenigen, die nicht als Geheim klassifiziert werden – international komplett unkontrolliert der außereuropäischen Konkurrenz zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen bin ich dafür, dass die esoterische Maskenpflicht in Deutschland wegen fehlender Wirksamkeit sofort beendet wird. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie sollten sie trotzdem aufsetzen, solange die Anordnung gilt. – Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kraft. Da der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion, die Kollegin Judith Skudelny, FDP-Fraktion, und der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke, ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, ({0}) ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Schadstoffregister ist entgegen der Äußerung von Herrn Kraft ein wichtiger Baustein für den besseren Zugang zu Umweltinformationen. Dieses wichtige Instrument wird jetzt noch weiter gestärkt. Zukünftig werden den Bürgerinnen und Bürgern aktuellere Daten als bisher zur Verfügung gestellt. Das ist eine Weiterentwicklung im Sinne der Aarhus-Konvention und ein Wert an sich. Der Zugang zu Umweltinformationen ist ein zentrales Beteiligungsrecht der Bürgerinnen und Bürger, aber es nützt natürlich nur wenig, wenn es nicht bekannt ist und niemand davon weiß oder die Daten schon veraltet sind. Es muss also einiges passieren. Das Register funktioniert längst noch nicht so gut, wie es müsste. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, es bekannter zu machen. Das Beste nützt nichts, wenn niemand davon weiß. Wenn selbst Sie noch nicht davon erfahren haben, dann, glaube ich, ist das ziemlich nötig. Ich erwarte auch, dass sich die Bundesregierung in der EU für eine inhaltliche Überarbeitung einsetzt. Bislang bleiben die Berichtspflichten für die Industrie auf zu wenige Schadstoffe begrenzt, und sie greifen erst ab bestimmten Schwellenwerten. So werden viele Schadstoffemissionen gar nicht erst erfasst. Häufig werden die Daten auch ohne Kontext berichtet. Eine Einordnung in Bezug auf Umweltverschmutzung und Gesundheitsrisiken kann dann gar nicht erfolgen. Viele Industriezweige sind ganz von den Berichtspflichten ausgenommen. So bleibt das Register ein stumpfes Schwert. Diese Baustellen müssen behoben werden. Dann kann das Schadstoffregister dazu beitragen, das Nullschadstoffziel in der EU und in Deutschland zu erreichen. Die EU-Kommission hat eine Überarbeitung des Registers bereits angekündigt. Die Bundesregierung muss das mit aller Kraft unterstützen. Unsere Unterstützung haben Sie dafür. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum Schulprogrammgesetz hat meine Kollegin ihre Rede zu Protokoll gegeben; deshalb kann ich mich um den schönen Teil kümmern, nämlich um das Omnibusgesetz, das wir als Änderungsgesetz eingebracht haben. Da geht es um die Nachhaltigkeitsprämie für unseren deutschen Wald. Ja, unser Wald braucht Hilfe. Drei katastrophal trockene Jahre, verbunden mit Stürmen, haben viele Kalamitäten ausgelöst. Es liegen 185 Millionen Kubikmeter Schadholz in unseren Wäldern, die rausmüssen, es ist ein katastrophaler Preisverfall bei Holz zu beobachten, und 285 000 Hektar müssen wiederbewaldet werden. Das sind immense Herausforderungen. Meine Damen und Herren, unsere Bundesregierung zögert nicht, sie handelt. Sie hat im vergangenen Jahr bereits 800 Millionen Euro als Dürrehilfe auf den Weg gebracht und im Konjunkturpaket 2020 erneut 700 Millionen Euro beschlossen. Das ist wichtiges Geld, das unsere 2 Millionen Waldbesitzer dringend brauchen, damit sie eine Motivation haben, ihre Wälder weiter zu bewirtschaften. ({0}) 500 Millionen Euro davon sollen jetzt möglichst kurzfristig in der Fläche verteilt werden. Das ist extrem wichtig. Es muss schnell gehen, es muss unkompliziert, aber trotzdem rechtssicher sein. Deswegen hätten wir mit einem eigenen Gesetz viel zu lange gebraucht. Dieses jetzt aufgelegte Omnibusgesetz ist genau der richtige Weg dafür. Ich möchte unser Ernährungsministerium und die Ministerin explizit loben, und ich will auch das Bundesfinanzministerium und das Umweltministerium, die beteiligt waren, für diesen Schritt loben. Das ist eine einmalige Sache. Es mussten Förderrichtlinien auf den Weg gebracht werden; ebenso mussten die Ressortabstimmung und die administrative Umsetzung erfolgen. Jetzt stehen alle bereit. Die FNR hat den Auftrag, die Mittel auszuzahlen. Mit der Zustimmung zu dem heutigen Gesetzentwurf hat die FNR die Möglichkeit, die Daten der SVLFG von den 2 Millionen Waldbesitzern zu nutzen, damit diese ihren Antrag online stellen können. Und ja, es gibt Bedingungen für die Auszahlung: Die Betriebe müssen zertifiziert sein oder sich zertifizieren lassen, und sie müssen Mitglieder einer Berufsgenossenschaft sein. Damit ist Missbrauch ausgeschlossen. Die Kritik, die schon wieder kommt, nämlich dass man mit der Gießkanne verteilt, ist vollkommen unberechtigt und unnötig, weil die Alternative so schlimm wäre. Warum ist das so wichtig? Unsere Wälder, insbesondere junge Mischwälder, sind der Klimaretter Nummer eins. ({1}) Wir müssen aufforsten; ({2}) denn wir alle wissen: Das Sinnbild für Nachhaltigkeit ist Schützen durch Nutzen. Und das Gegenteil sind stillgelegte Wälder. Das sind Bannwälder, die mehr CO2 emittieren, ({3}) als sie einlagern. Das wollen wir nicht; das brauchen wir nicht. Unbewirtschaftete Wälder sind darüber hinaus auch noch gefährlich. ({4}) Sie sind Käferschleudern und sorgen für den Befall gesunder Nachbarkulturen, und die Waldbesitzer können ihrer Verkehrssicherungspflicht nicht mehr nachkommen. Das beste Negativbeispiel ist der Nationalpark Harz, wo große Probleme vorherrschen – ich bekomme diesbezüglich jeden Tag Anrufe –, wo die Besucher nicht mehr frei in den Wäldern spazieren gehen können. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die Wälder gepflegt sind und dass sie genutzt werden. Wir brauchen Multifunktionalität in unseren Wäldern. Der Wald ist die CO2-Senke schlechthin: 8 Tonnen je Hektar und Jahr, haben Experten ausgerechnet. Wir müssen für die Zukunft überlegen, wie wir die Ökosystemleistungen unserer Wälder honorieren. Wir müssen daran arbeiten, dass die Motivation auch für die Zukunft erhalten bleibt. Der Wald ist Wirtschaftsfaktor. Man beachte: 1,2 Millionen Menschen leben direkt oder indirekt von der Wertschöpfungskette „Wald und Holz“, und 170 Milliarden Euro werden dort im Durchschnitt umgesetzt. Das ist extrem wichtig. ({5}) Die Menschen müssen sich im Wald frei bewegen können – Erholungsfaktor Wald. Man stelle sich vor, die Menschen könnten sich in der Coronapandemie nicht frei in unseren Wäldern bewegen. Da muss jeder nur mal rausgehen, wenn das Wetter schön ist. Dann erlebt man, wie die Menschen aufblühen, wenn sie bei all der Last, die sie aktuell tragen, die gute Luft in unseren Wäldern genießen können. ({6}) Die Nachhaltigkeitsprämie hilft, die Waldbesitzer – auch die Kleinwaldbesitzer – zu motivieren, ihre Wälder weiter zu bewirtschaften und wieder aufzuforsten. Sonst, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssten wir zukünftig unser Holz importieren. Wir hätten keine Chance, die Klimaziele zu erreichen, und die Menschen müssten vielleicht auf der Straße spazieren gehen. ({7}) Deswegen empfehle ich Ihnen dringend die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gerig. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD-Fraktion. ({1})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen! Esst mehr Obst und Gemüse, trinkt täglich einen großen Schluck Milch dazu: So heißt es frei im Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz. – Aber darum geht es heute ja gar nicht. Sie haben in dieses Gesetz die Belange des Waldes hineingepackt. Herr Kollege Gerig, es versteht keiner da draußen, warum sie den wichtigen Bereich „Forst und Wald“ in diese Kiste packen. Das gehört eigentlich in ein eigenes Gesetz. ({0}) – Sie haben es erklärt; es ist aber nicht logisch. Und außerdem: Sie erzählen hier was vom Spazierengehen und vom Aufblühen. Die Waldbesitzer da draußen blühen zurzeit gar nicht auf – das wissen Sie –; sie haben Tränen in den Augen, ({1}) wenn sie sich anschauen, wie kaputt und wie stark von Käfern befallen die Wälder sind. Kommen wir nun also zum Wald. Ich bin den Kollegen von der FDP dankbar, dass sie ihren Antrag dazugestellt haben. Darüber kann man wirklich inhaltlich reden. Ich habe die Bundesregierung kürzlich nach dem Stand der Auszahlung der Mittel zur Waldhilfe gefragt; auch im Ausschuss habe ich wieder gefragt. Die Antwort war, wie nicht anders zu erwarten, völlig nichtssagend, so nach dem Motto: Wir haben alles im Griff. Es ist ja schön, dass für knapp 70 Prozent der Mittel bereits Anträge vorliegen, aber es geht jetzt doch darum, dass die Mittel auch ausgezahlt werden. Es geht doch darum, dass diese Mittel jetzt im Wald auch ankommen. Noch gibt es gar keine Richtlinie für die Förderungsvoraussetzungen. Es gibt gar kein Regelwerk, wer überhaupt antragsberechtigt ist. Sie sprechen von einer Zertifizierung. Da bin ich mal gespannt, wann sie kommt. In welcher Form sie kommt, ist noch nicht sicher. – So retten wir den Wald sicherlich nicht. ({2}) Aber nicht nur die Bürokratie – die bürokratischen Hürden im Antragswesen – belastet die Waldbesitzer. Nach den ganzen Kalamitäten – Borkenkäferbefall, Trockenheit, Sturm – wissen die Waldbesitzer doch gar nicht mehr, wie sie ihr Schadholz momentan aus dem Wald rausbekommen, wie sie es abtransportieren, wo sie es lagern können und ob sie überhaupt noch einen Käufer finden können. Da kommen Lagerungs- und andere Betriebskosten hinzu. Das sind die Probleme, die die Waldbesitzer jetzt haben. Die Antwort der Bundesregierung: Sie öffnen ziellos einen Fördertopf nach dem anderen. – Ich bin auch für Hilfe; aber so ziellos, wie Sie es jetzt machen, kommen wir sicherlich nicht weiter. ({3}) Sie wollen ein „Investitionsprogramm Wald“ mit weiteren 50 Millionen Euro für Digitalisierung und Technik, für Maschinen, für Geräte und Rückepferde, für Anlagen und Bauten aufsetzen. ({4}) Dafür gibt es dann einen Zuschuss von 40 Prozent. Der Restbetrag kann dann noch durch einen zinsgünstigen Programmkredit der Landwirtschaftlichen Rentenbank finanziert werden; so ist zumindest der Plan. Die forstlichen Lohnunternehmer beispielsweise zahlen aber doch jetzt gerade noch die Kreditlasten aus vergangenen Förderperioden ab. Das sehen wir doch auch jetzt in der Lockdown-Krise: Ein angeschlagenes oder auch überschuldetes Unternehmen kann doch nicht mit noch mehr Schulden gerettet werden. Das will auch gar nicht noch mehr Schulden und Kredite aufnehmen. ({5}) Liebe Kollegen, bei alldem werden dann dank grandioser Ideen auch noch große Waldflächen aus der Bewirtschaftung rausgenommen. Schauen wir nach Niedersachsen: Dort wird ein sogenannter Niedersächsischer Weg eingeschlagen. Man folgt dort einer grünen Klimaideologie und lässt das Holz verrotten. ({6}) – Ja, Herr Kollege Spiering, man lässt es dort verrotten. Schauen Sie es sich dort doch an! Das ist ein Vorgeschmack auf Schwarz-Grün: Die forstlichen Lohnunternehmer müssen ihre Arbeit von März bis September unterbrechen. ({7}) – Ich weiß, aber das ist ein „Vorgeschmack auf Schwarz-Grün“. Hören Sie mir bitte genau zu! ({8}) Die Lohnunternehmer dort müssen ihre Harvester von März bis Oktober stilllegen. Die Maschinenführer gehen dann in andere Bereiche, etwa in Gartenbaubetriebe; die sind weg. Der Niedersächsische Weg ist ein Holzweg, liebe Kollegen. ({9}) Unser Vorschlag entspricht dem, was die FDP heute fordert: Das Schadholz muss jetzt aus dem Wald raus. Wir brauchen auch die Plätze der Bundeswehr; die sollten für das Holz genutzt werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Felser, kommen Sie zum Schluss.

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vor einem Jahr haben wir gefordert, im Rahmen der Amtshilfe auch Bundeswehrsoldaten einzusetzen, damit das Holz aus den Wäldern rauskommt. – Vielen Dank, Herr Präsident. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Felser. – Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Rainer Spiering, SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrtes Haus! Heute hier zu sprechen, ist mir eine Herzensangelegenheit. Deswegen gebe ich die Rede auch nicht zu Protokoll. Ich bin in einem Elternhaus mit einem selbstständigen Handwerksmeister aufgewachsen. Der Geruch von Holz begleitet mich seit meiner frühesten Kindheit. Holz ist ein unglaublich toller Werkstoff. Alois Gerig hat das Verfahren angesprochen, das wir gewählt haben; das haben wir gut gemacht. Mein Dank gilt dem Trio Mackensen, Wiese und Gerig, die es als Koalitionäre zusammen hinbekommen haben, das ordentlich niederzuschreiben. Mein besonderer Dank gilt dem Finanzminister, der auf uns gehört hat. Insofern können wir jetzt 500 Millionen Euro in Bewegung setzen. ({0}) Kollege Felser, wenn Sie aufgepasst hätten, dann hätten Sie auch verstanden, was dahintersteckt. Hinter dem Begriff „Digitalisierung“ steckt nicht mehr und nicht weniger, als dass wir das, was uns an digitaler Technik – das heißt Satellitentechnik, Drohnentechnik usw. – zur Verfügung steht, nutzen, um Biomasse im Sinne des Fortbestands der Forstwirtschaft zu beobachten. Damit haben wir erst die Daten, um agieren zu können. Insofern ist die Digitalisierung ein sehr richtiger Schritt. – Das sage ich auch dem Kollegen Protschka, der da eben etwas eingeworfen hat. Nächster Punkt. Wir haben mit dem Holz einen Werkstoff, der universell einsetzbar ist. Es ist übrigens ein tradierter Werkstoff, mit dem weit über tausend Jahre Erfahrungen gesammelt wurden. Der nachwachsende Rohstoff Holz ist eine der größten CO2-Senken, die wir überhaupt haben. Wir nutzen sie, wenn wir diesen Rohstoff im Bau verwenden, weil dann kein CO2 freigesetzt wird. So können wir nachhaltig bestimmte Mengen Holz für 50 bis 100 Jahre als CO2-Speicher nutzen, anstatt es in die Umwelt zu emittieren. Damit schützen wir also die Umwelt vor CO2-Emissionen. – Ihr könnt ruhig applaudieren. ({1}) Der entscheidende Punkt: Hier ist ein Ansatz, um einen nachhaltigen, nachwachsenden Rohstoff mit einem der wirklich stärksten Wirtschaftszweige, die wir in Deutschland haben, nämlich dem Handwerk – seriös, zuverlässig, gut ausgebildet, zukunftsorientiert –, zu kombinieren. Ich nenne Ihnen Beispiele, wo wir Holzbau anwenden können: Turnhallenbau, Schulbau, Brückenbau, Bau moderner Krankenhäuser, Innenausbau. All das sind Einrichtungen, die mit Holz wunderschön zu konstruieren sind. Wir nehmen 70 Millionen Euro in die Hand, Herr Kollege Felser, um deutsches Handwerk und deutsche Architektur nachhaltig zu unterstützen. ({2}) Das ist unser Ansatz: ({3}) die Kombination eines nachwachsenden Rohstoffes mit einem Wirtschaftszweig, der, anders als andere Wirtschaftszweige, ordentlich bezahlt, gut ausbildet, seriös und zukunftsfest ist. Diese Bedingungen wünschen wir uns für alle Arbeitskräfte in Deutschland, und deswegen sind wir diesen Weg gegangen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. – Herr Kollege Spiering, bei dem ganzen Herzblut, das Sie gerade verströmt haben, haben Sie vergessen, Ihre Maske aufzusetzen. Sie waren so von sich ergriffen – ich verstehe das. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Karlheinz Busen, FDP-Fraktion. ({1})

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Überschrift des Gesetzentwurfs liest, dann kommt man niemals auf die Idee, dass hier auf fragwürdige Art und Weise Geld an die Waldbauern verteilt werden soll. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD, heimlich, still und leise sollen hier die Grundlagen für eine flächendeckende Waldprämie geschaffen werden. Eine Debatte im Ausschuss haben Sie ganz bewusst nicht gewollt, und Sie sind ihr aus dem Weg gegangen. Aber das lassen wir so nicht durchgehen. ({1}) Es steht vollkommen außer Frage, dass es dem Wald schlecht geht. Durch die Trockenheit und durch den Borkenkäfer ist der Wald krank. Diese Situation gibt es schon seit drei Jahren, und Sie hätten schon drei Jahre die Möglichkeit gehabt, hier was zu machen. ({2}) Ihre Flächenprämie – als einmaliges Helikoptergeld – wird, was ihre Wirkung draußen angeht, einfach nur verpuffen. Zwei Dinge werden gebraucht: Erstens. Die Waldbesitzer brauchen dringend Liquidität, ({3}) aber doch nur da, wo der Wald auch tatsächlich Schaden genommen hat. Zweitens. Wir brauchen eine langfristige Strategie zur Waldbewirtschaftung. ({4}) Union und SPD betreiben aber eine ideenlose Politik auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, und der ist: Geld ins Schaufenster stellen, statt zeitgemäße Hilfen auf den Weg zu bringen. ({5}) Die Grünen helfen mit ihren Vorschlägen zu Urwäldern und Stilllegungen nur einem Einzigen, und das ist der Borkenkäfer. ({6}) Statt Geld aus dem Fenster zu werfen, brauchen wir, wie gesagt, eine langfristige Strategie über das Jahr 2021 hinaus. ({7}) Die Liquidität der Forstbetriebe muss wiederhergestellt werden, und die Klimaschutzleistung des Waldes muss honoriert werden. Dazu haben wir als FDP-Fraktion mehrere Vorschläge gemacht. Erstens müssen wir ein staatliches Aufkaufprogramm für das Schadholz haben, das unbedingt aus dem Wald heraus muss. ({8}) Zweitens brauchen wir eine Vergütung für die CO2-Bindung, die der Wald leistet, und da lautet das Stichwort: Emissionshandel. ({9}) Drittens brauchen wir Wettbewerb und Innovationen in der Holzwirtschaft. Wir brauchen Holz eben nicht nur für das Bauen, sondern auch die Industrie muss Holz nutzen. Auch im Fahrzeugbau kann man Holz gebrauchen und verarbeiten, ebenso im Bereich des Schienenverkehrs. Da müssen wir innovativ werden und Holz verarbeiten. ({10}) Nur bei Umsetzung dieser Vorschläge können die Waldbesitzer wieder investieren, und das ist die Grundlage für eine schnelle Wiederbewaldung der deutschen Wälder.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muss Ihnen auch sagen: Der Wirtschaftswald ist ein CO2-Speicher –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Busen, bitte.

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und nicht der Urwald, der CO2 freisetzt –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Busen!

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und das Klima schädigt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Hören Sie mich nicht?

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Es ist sehr spät, Herr Kollege Busen, und die Uhrzeit zu beachten, ist nicht jedermanns Sache. Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Leidig, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich rede jetzt erst mal zu dem Tagesordnungspunkt, der hier an der Tafel steht. ({0}) Die Europäische Union fördert seit 2009 ein Programm, über das Schulkinder mit Obst, Gemüse und Milch versorgt werden sollen, und das finden wir völlig richtig. Wir kritisieren aber die Umsetzung in Deutschland. Die Koalition hat die Verantwortlichkeit und damit auch die Finanzierung an die Bundesländer abgeschoben. Dabei ist das Hauptziel der EU, dass mehr heimisches Obst und Gemüse gekauft werden. Damit könnte die Bundesregierung gezielt die regionale Landwirtschaft und eine gesunde Ernährung gleichzeitig unterstützen, und genau das fordern wir als Linke. ({1}) Lebensmittel sollen für die Versorgung produziert werden und nicht für den Weltmarkt. Mit dem Gesetzentwurf, um den es heute an erster Stelle geht, wird lediglich deutsches Recht an europäische Vorgaben angepasst. Dagegen haben wir gar nichts einzuwenden. In der Sache ist das aber trotzdem sehr unbefriedigend, weil der bürokratische Kontroll- und Abrechnungsaufwand, den die Länder leisten müssen, um den Kindern so etwas zu gewähren, in keinem angemessenen Verhältnis zum Nutzen steht. ({2}) – Ich finde es extrem laut hier und extrem unhöflich, und ich möchte Sie bitten, leiser zu sein. Die Linke fordert seit Jahren, dass der Bund ein Programm in Höhe von 2 Milliarden Euro auflegt, damit allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland eine beitragsfreie und qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung zukommen kann. ({3}) Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz hat unsere Forderungen in seinem Gutachten bestätigt. Gerade in dieser Woche hat der Hauptverantwortliche für dieses Gutachten im Ausschuss gesagt – ich zitiere –: Eine beitragsfreie und qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung schrittweise in ganz Deutschland zu etablieren, ist die wichtigste und drängendste Maßnahme, um eine nachhaltige Ernährung zu erreichen. – Und so ist es: Gesunde Ernährung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. ({4}) Nun noch zum notleidenden Wald: Auch ein gesunder Wald ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mit dem Thema standen wir schon im Mai 2019 auf der Matte. Die Linksfraktion hatte damals aufgrund der aktuell sehr dramatischen Situation durch die Trockenheit ein Soforthilfeprogramm beantragt. ({5}) Das haben Sie vor einem Jahr leider abgelehnt. Dadurch haben Sie wirklich Zeit vergeudet. Dass jetzt relativ viel Geld kommt, ist gut, aber es eilt; denn ohne schnelle Hilfe werden vor allem viele Kleinwaldbesitzerinnen und ‑besitzer möglicherweise verkaufen müssen, und das wäre schlecht. Allerdings ist es auch so, dass der Wald ohne gute Forstleute nicht gerettet wird. Der Personalabbau über viele Jahre ist ein riesiges Problem. Wir brauchen mehr Menschen für diese wichtige Arbeit, und die müssen anständig bezahlt werden. ({6}) Zum Schluss noch ein Punkt für die, die sich gerade für den deutschen Wald so begeistert haben: Ich finde, wir müssen vor allem gesunde Wälder schützen. Es ist ein Frevel, dass dieser Tage hektarweise alter gewachsener Mischwald abgeholzt wird, um noch mehr Autobahnen zu bauen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das findet gerade für die A 49 in Hessen statt. Wir unterstützen das Anliegen der Klimaaktivistinnen und ‑aktivisten, und ich kann Ihnen nur empfehlen, das auch zu tun und sich dem Verkehrsminister entgegenzustellen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Losung lautet: Wald statt Asphalt! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetz, alias Schulobstprogramm: ein an sich völlig unstrittiger TOP am Ende des Tages. Was Sie aber unter dieser Überschrift hier schnell noch hineingepackt haben, hat mit Schulobst überhaupt nicht das Geringste zu tun. Immerhin hat der Kollege Gerig das jetzt ja angesprochen. Sie hätten das heute aber am liebsten gar nicht debattiert. Wir mussten Sie erst dazu zwingen. ({0}) Sie mogeln uns hier ganz nebenbei eine Waldbesitzprämie in Höhe von einer halben Milliarde Euro unter, die Sie quasi mit dem Feuerwehrschlauch verteilen wollen. Schon allein das ist ein Unding. ({1}) Doch damit nicht genug. Damit Sie das viele Geld auch möglichst schnell hinausblasen können, jubeln Sie uns heute ein Konstrukt unter, das regelrecht ein Organisationsversagen des Ministeriums offenbart. Weil nämlich keine ministerielle Behörde in der Lage ist, so viel Geld möglichst schnell zu verteilen, wollen Sie jetzt eine externe Agentur, die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe, mit dieser hoheitlichen Aufgabe beleihen, und Sie ermächtigen sie auch gleich noch dazu, auf Versicherungsdaten der Berufsgenossenschaften zuzugreifen. So was nachts um 23 Uhr unter der Überschrift „Schulobst“ abzuhandeln, ist mindestens schnodderig – ich würde eher „dreist“ sagen – und der Sensibilität solcher Vorgänge nicht angemessen. ({2}) Obwohl wir das hier und heute noch nicht mal beschlossen haben, berichtet die FNR auf ihrer Internetseite schon seit gestern von ihren neuen Aufgaben. Ich finde, das ist respektlos diesem Haus gegenüber. ({3}) Ja, unser Wald braucht Hilfe, aber Sie versemmeln dieses wichtige Thema nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Ihre Geldbazooka zielt allein auf Flächenbesitz. Sie schaffen eine neue Flächenprämie – „Waldprämie“ genannt –, als hätten wir nichts aus der GAP, der Gemeinsamen Agrarpolitik, gelernt. Die einzige Bedingung ist eine Zertifizierung, wie zum Beispiel PEFC. Damit ist ein Pestizideinsatz im Wald nicht ausgeschlossen, Kahlschläge sind damit nicht ausgeschlossen, und auch Monokulturen aus exotischen Baumarten sind damit nicht ausgeschlossen. Das bringt ökologisch nichts. 70 Prozent der Fläche sind schon so zertifiziert. Sie produzieren ausschließlich Mitnahmeeffekte ohne Zugewinn fürs Gemeinwohl. Profiteure sind die Großwaldbesitzer. ({4}) Das ist nicht unsere Vorstellung von einer zukunftsfähigen Waldpolitik. Statt einer Flächenprämie brauchen wir eine wirksame Beschleunigung des Waldumbaus hin zu vielfältigen, biodiversen und stabilen Wäldern und einer naturnäheren Waldbewirtschaftung, lieber Alois Gerig. ({5}) Daran müssen wir doch unsere Hilfen binden. Wir müssen mehr Holz im Wald lassen, auch um Humus aufzubauen und CO2 zu speichern. Ich empfehle, da mal auf die Wissenschaft zu horchen. Sie holen sich jetzt aber – ich bin sofort fertig, Herr Präsident – zu später Stunde ({6}) die Prokura, dieses viele Geld ohne Gegenleistung herzuschenken. Das ist eine vertane Chance für den Zukunftswald; das machen wir nicht mit. Gute Nacht. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ebner. – Weil die Kollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU-Fraktion, ihre Rede zu Protokoll gegeben hat ({0})

Isabel Mackensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004949, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch dieses Wochenende war ich in meinem Wahlkreis im Pfälzer Wald unterwegs: von Höningen bis zum Naturfreundehaus Rahnenhof in Hertlingshausen. Die Lage ist erschreckend. Das dritte Trockenjahr in Folge, Stürme und der Borkenkäferbefall sind auch hier deutlich sichtbar. In den Forstgebieten Ganerben und Jerusalemsberg sind hauptsächlich Fichtenbestände betroffen, doch es zeichnet sich ab, dass auch immer mehr Laubbäume gravierende Schäden aufweisen. Ahorne und Eichen schwächeln, aber auch die Buchen. Diese wichtigen heimischen Bäume werden immer anfälliger für Krankheiten und Schädlinge. Aufgrund der Coronapandemie verstärken sich die negativen Folgen noch einmal. So spitzt sich die Situation auf den Holzmärkten weiter zu, und die Lagerplätze platzen aus allen Nähten. Die kommunalen und privaten Forstbetriebe sind mit enormen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Daher hat der Deutsche Bundestag schnell reagiert und das Coronakonjunkturpaket auf die Beine gestellt. Im zweiten Nachtrag zum Bundeshaushaltsplan 2020 haben wir als Parlament 700 Millionen Euro für den Wald als direkte Unterstützung bereitgestellt, darunter auch 500 Millionen Euro für Maßnahmen zum Erhalt und zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder. ({0}) Für uns als SPD-Fraktion ist wichtig, dass Voraussetzung für die Waldprämie die nachhaltig zertifizierte Waldbewirtschaftung ist und dass ökologisch besonders hochwertige Zertifizierungssysteme bessergestellt werden. Die Waldzertifizierung verfolgt das Ziel, die Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit von Produkten aus dem Wald zu kontrollieren und für die Käuferinnen und Käufer erkennbar zu machen. Hier gibt es den PEFC-Standard sowie den FSC-Standard und den vergleichbaren Naturland-Standard, welche noch einmal deutlich konkretere, ökologischere Anforderungen, was die nicht bewirtschaftete Fläche und die Kontrollhäufigkeit angeht, haben. Formal geht es heute aber um die Änderung des Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammgesetzes, mit der die Umsetzung des EU-Schulprogramms verbessert und es an das EU-Recht angepasst wird. Dieses ermöglicht die Abgabe von Obst, Gemüse und Milchprodukten an Kinder in Bildungseinrichtungen. Das ist ein großartiges Programm, um Kinder an gesunde Lebensmittel heranzuführen. Der Änderungsantrag zum Wald schafft die rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Waldprämie. Die schnelle Abwicklung der finanziellen Zuwendungen übernimmt hierbei die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe. Was ist die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe? Die FNR ist ein Verein, der als Projektträger fungiert und das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft bei angewandter Forschung und Entwicklung im Bereich der nachhaltigen Erzeugung und der Nutzung nachwachsender Rohstoffe unterstützt. Die Waldprämie als Coronasoforthilfe ist als schnelle Unterstützung für die Jahre 2020 und 2021 gedacht. Langfristig braucht es aber neue Konzepte, um die nachhaltige Bewirtschaftung unserer Wälder sicherzustellen. Die in der Forstwirtschaft aktuell erzielbaren Holzpreise reichen nicht mehr aus, um den Wald nachhaltig zu bewirtschaften. Dies ist aber notwendig, damit der Wald auch weiterhin der größte CO2-Speicher, ein Naherholungsort und Lebensraum für Wildtiere und Insekten bleibt. Als waldpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion setze ich mich aktiv dafür ein, dass diese Ökosystemleistungen honoriert werden. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die Aussprache.