Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/30/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt wohl kaum Verbrechen, die so widerlich sind und die uns alle so erschüttern, wenn über sie berichtet wird, wie sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Sie trifft uns ins Mark, und sie fordert uns zu Recht auf, zu handeln – mit allen Möglichkeiten, die wir haben. Deswegen bin ich froh, Ihnen heute einen Gesetzentwurf vorstellen zu können, der genau diesen Ansatz in einem Dreiklang verfolgt: nämlich dass das Unrecht in den Strafen abgebildet wird, dass wir dafür sorgen, dass Ermittlerinnen und Ermittler jede Möglichkeit bekommen, um solche schrecklichen Straftaten verhindern zu können, und dass wir uns auch als Gesellschaft stärken, dass wir, wenn Kinder entsprechende Signale senden, diese Signale auch wahrnehmen, nicht darüber hinweghören und die Kinder in ihrem unermesslichen Leid dann alleine lassen. Genau dieser Dreiklang ist wichtig. Es reicht nicht, alleine mit Strafrecht zu reagieren, sondern wir brauchen diesen Dreiklang, meine Damen und Herren. ({0}) In diesem Gesetzentwurf, über den wir jetzt in erster Lesung beraten, haben wir einen anderen Begriff gewählt. Mir war es wichtig, dass das in Zukunft so benannt wird, was es auch ist. Es geht nämlich nicht um den sexuellen Missbrauch von Kindern, sondern es geht um sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Der Begriff „Missbrauch“, meine Damen und Herren, suggeriert immer, es gebe auch einen „Gebrauch“ von Kindern. Aber Kinder sind Menschen, und die kann man nicht gebrauchen. ({1}) Es ist wichtig, dass das auch in der Sprache deutlich wird. Hier geht es um nichts anderes als um ganz klare Gewalt gegen Kinder. Deswegen muss das auch genauso benannt werden. ({2}) Meine Damen und Herren, zu den drei Punkten, die ich schon angesprochen habe: Erstens: schärfere Strafen. Zu der Zeit, als ganz aufgeregt und auch in einer sehr aufgeheizten Stimmung über diese Taten berichtet wurde, ging es alleine ums Strafrecht, ging es alleine um höhere Strafen. Manchmal hatte ich so das Gefühl, es sei so ein bisschen ein Überbietungswettbewerb. Aber mir ist es wichtig, dass in den Strafen, die jetzt möglich sein werden, das Unrecht der Tat deutlich wird. Deswegen werden in Zukunft alle Taten sexualisierter Gewalt gegen Kinder als Verbrechen eingestuft. Das bedeutet, die Verfahren können nicht mehr eingestellt werden. Das ist extrem wichtig, weil es ein völlig falsches Signal ist, wenn solche Taten betreffende Verfahren wegen Geringfügigkeit der Schuld oder mangelndem öffentlichen Interesse eingestellt werden, meine Damen und Herren. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Jeder der Täter muss sich dessen auch bewusst sein. ({3}) Das Gleiche gilt auch, wenn mit dem Verkauf von Bildern, die von sexualisierter Gewalt gemacht werden und die vertrieben werden, auch noch Geld gemacht wird. Ebenfalls wird in Zukunft auch der Besitz solcher Bilder ohne Wenn und Aber als Verbrechen eingestuft. Da wird nichts mehr eingestellt, meine Damen und Herren. Ganz wichtig ist mir bei dieser Veränderung im Strafrecht Folgendes: Es gab bei sexualisierter Gewalt – früher hieß es ja „sexueller Missbrauch“ – einen minderschweren Fall. Bei einem schweren „sexuellen Missbrauch“ gab es einen minderschweren Fall! Ich muss sagen, darüber bin ich lange gestolpert. Diese Einstufungsmöglichkeit haben wir gestrichen, und das ist richtig so. Das wird in Zukunft dazu führen, dass eine Absurdität, wie sie bei der Beschäftigung mit diesem Thema aufgefallen ist, in Zukunft nicht mehr möglich sein wird. Es gab bisher nämlich die Möglichkeit, bei schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern Geldstrafen zu verhängen. Meine Damen und Herren, damit ist in Zukunft Schluss! Das Unrecht muss sich in der Strafe widerspiegeln. ({4}) Ich wurde die Tage in einer Ausschusssitzung gefragt, ob ich denn glauben würde, dass eine Verschärfung des Strafrechts dazu führen wird, dass es weniger solcher Straftaten geben werde. Das kann ich nicht sagen. Ich vermute: eher nicht, weil diese Täter sehr perfide, sehr planmäßig vorgehen und sich nicht an den Strafen orientieren. Deswegen ist es mir wichtig, dass wir nicht beim Strafrecht stehen bleiben, sondern dass wir weitergehen, dass wir den Ermittlerinnen und Ermittlern helfen, dass sie ihre Arbeit machen können, dass sie den Druck erhöhen können. Wir haben ihnen schon die Möglichkeit gegeben, computergenerierte Bilder zu nutzen, damit sie in entsprechenden Chatrooms im Darknet Eintritt bekommen. Das war ganz wichtig. Aber wir gehen weiter. In Zukunft wird es bei solchen Straftaten von daher möglich sein, Telekommunikationsüberwachung anzuwenden – ja, das ist in Zukunft möglich –, die Onlinedurchsuchung anzuwenden – ja, das ist in Zukunft möglich – ({5}) und auch Zugriff auf gespeicherte Verkehrsdaten zu bekommen. Meine Damen und Herren, wir müssen den Ermittlern die Mittel in die Hand geben, um solche widerlichen Täter aufzuspüren. Das muss möglich sein. ({6}) Wir müssen darüber hinaus dafür sorgen, dass die Opfer gestärkt werden. Sie müssen deshalb gestärkt werden, weil sie manchmal in einer ganz schwierigen Situation sind. Es geht dabei nämlich darum, was nach diesen Taten passiert: Müssen sie aussagen, oder können sie in Therapie? Das ist manchmal eine Zwickmühle. Zuweilen dauern Verfahren sehr lange, und Opfer können nicht in Therapie gehen, damit die Aussage nicht verfälscht wird. Deswegen wird es in Zukunft ein Beschleunigungsgebot für die Verfahren bei solchen Taten geben. Solche Verfahren sollen also bevorzugt behandelt und beschleunigt werden, damit dann die Opfer entsprechend die Therapien bekommen können, die sie dringend brauchen. Deswegen gilt in Zukunft ein Beschleunigungsgebot, meine Damen und Herren. ({7}) Darüber hinaus müssen wir sensibler werden, die gesamte Gesellschaft, aber auch all diejenigen, die in der Justiz mit Kindern zu tun haben, denen solches Leid widerfahren ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der Qualifikation, bei den Anforderungen ganz klare Ziele setzen. Wir werden dafür sorgen, dass Jugendstaatsanwältinnen und ‑anwälte, Familienrichterinnen und ‑richter, Verfahrensbeistände die entsprechende Qualifikation haben; denn diese haben wir als Juristinnen und Juristen nicht, wenn wir aus dem Studium kommen. Es ist notwendig, dass wir in Kinderpsychologie geschult werden, damit wir wissen, wie wir mit solch einem Opfer umzugehen haben, wie wir Aussagen zu verstehen und einzuordnen haben. All das ist wichtig. Dafür will ich eine feste gesetzliche Grundlage geben. Meine Damen und Herren, das ist notwendig, damit Opfer sich öffnen können, ihre Sicht der Dinge vortragen können und Gehör finden. Meine Damen und Herren, darüber hinaus wird in Zukunft – auch das ist wichtig – das Familiengericht alle Kinder in solchen Situationen regelmäßig anhören müssen, unabhängig vom Alter. Hier drehen wir die Situation um. In Zukunft müssen alle Kinder angehört werden, auch die unter 14-Jährigen, und wenn es nicht gemacht wird, muss das begründet werden. Das ist eine völlige Umkehrung. Sie ist aber wichtig, damit Kinder ihre Sicht der Dinge beschreiben können. Meine Damen und Herren, es ist ein breiter Strauß an Maßnahmen. Es geht eben nicht allein um Strafverschärfungen – die sind wichtig, um das Unrecht abzubilden –, sondern wir alle als Gesellschaft müssen sensibler werden, müssen auf diese Signale reagieren. Ich will zum Schluss den Unabhängigen Beauftragten, Herrn Rörig, zitieren, der uns allen ins Stammbuch geschrieben hat, dass es nicht sein kann, dass ein Kind, dem so schreckliches Leid widerfahren ist, in der Regel sieben Stellen anlaufen muss, bevor ihm geglaubt wird. Das muss sich ändern. Wir alle müssen sensibler werden im Interesse unserer Kinder. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Tobias Peterka, AfD. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Das Thema ist derart unappetitlich, dass man sich wünschte, es weniger oft angehen zu müssen. Kinder sind die schwächsten, schutzbedürftigsten Mitglieder unserer Gesellschaft – wobei auf diesen Schild ja regelmäßig ganz andere Gruppen gehoben werden. Kinder sind in letzter Konsequenz aber auch das Entscheidende, das wir haben. Denn ohne sie gibt es keine Zukunft, und die beste, nachhaltige, gleichgestellte und sprachkorrekte Gesellschaft würde auch aufhören zu existieren. ({0}) Ja, Frau Lambrecht, endlich sind Sie tätig geworden. Viel zu lange haben Sie aber gezögert und sogar noch verteidigt, dass sexueller Missbrauch von Kindern ein Vergehen bleibt, statt als ein Verbrechen gewertet zu werden. Jetzt dann hektischer Aktionismus; denn die Kritik, auch von der AfD, wurde einfach viel zu laut. ({1}) – Dann schauen Sie mal im Internet nach, was dort im Juni geschrieben wurde. ({2}) Als ganzheitlichen Ansatz verkaufen Sie hier den Gesetzentwurf. Na ja, die Jugendämter zum Beispiel hätten mal mehr Mittel an die Hand bekommen müssen. Denn natürlich können die schlimmsten Tatbestände auch im in Pastellfarben angestrichenen Professorenviertel stattfinden, aber gerade in Problemvierteln muss der Zugang zu Familien erst recht eingefordert werden können. ({3}) Kooperationsverpflichtungen der Kinder- und Jugendhilfe für Behörden und öffentliche Stellen, wie sie die Grünen in ihrem Antrag fordern, sind schön und gut; aber dies hilft nicht, wenn bei der kleinsten Kulturkonfliktkrise die Segel in der Praxis gestrichen werden. Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist in jeder Richtung, in jedem Milieu gleich offensiv aufzuklären und anzugehen. ({4}) Der Regierungsentwurf konzentriert sich auf die richtige Hochstufung der Tatbestände. Auch die Klarstellung, dass es keinen zulässigen sexuellen Gebrauch von Kindern gibt, indem der Begriff „Missbrauch“ abgeschafft wird, ist natürlich vollkommen korrekt. Da gab es aber politisch bei der Grünenbewegung auch mal andere Ansichten. Reform der gerichtlichen Verfahren, Ausbildung der Jugend- und Familienrichter, Qualifikation von Verfahrensbeiständen – das alles hört sich gut an, ganz klar. Weshalb aber sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt, also wenn das Kind nur zusehen muss, ohne jede Rückqualifikation milder bestraft wird, tut mir leid, das erschließt sich mir nicht. Die psychische Schädigung gehört hier ganz klar als entscheidendes Element herausgestellt. ({5}) Warum nur ein Jahr Mindeststrafe für diese Tauschbörsenbetreiber? Die heutigen digitalen Möglichkeiten rufen nun mal bei den Tätern erst recht das Schlimmste hervor. Wir kennen die Fälle aus Lügde oder Münster, wo das mitprägend war. Ein Extratatbestand mit bedeutend höherer Mindeststrafe wäre hier sinnvoll gewesen. Die CSU ging schon mal in die richtige Richtung. Frau Lambrecht, erneut wirken Sie einfach getrieben. Ich hätte mir da – Sie hören gar nicht zu – mehr Schwung gewünscht, zum Beispiel die Untersagung von Kettenbewährungen. Dazu gibt es einen Gesetzentwurf der AfD. Diesen fassen Sie weiter nicht mal mit der Zange an. ({6}) Er hätte hier wunderbar flankieren können. Sie gehen – so schreiben Sie es im Gesetzentwurf – nun selbst davon aus, dass durch die härteren Strafen mehr Bewährungen entstehen. Gratulation dazu! Mit unserem Gesetzentwurf wäre das nicht so gewesen. ({7}) Wir fordern zum Beispiel auch ein Register von Sex Offendern, das öffentlich einsehbar ist. So etwas gibt es seit Langem in den USA. Das wäre ein mutiger Vorstoß gewesen; das geht nämlich auch bei uns. Wir brauchen auch mehr IT-Fachleute bei der Polizei. Wenn wir es dann noch schaffen, dass Polizei, Jugendbehörden und Richter in unserem Land weniger gegängelt und nicht mehr unter Generalverdacht gestellt werden, dann können solche Gesetzesinitiativen auch mal Wirkung entfalten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Thorsten Frei, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es ist schon schwer erträglich“ – so hat es ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Köln formuliert, als er über den Missbrauchsskandal in Bergisch Gladbach gesprochen hat, wo ein Vater seine Tochter, die 2017 geboren wurde, dutzendfach missbraucht hat bzw. Gewalt angewendet hat. Was mir auch sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben ist, ist ein Satz einer Ermittlungsbeamtin, die gesagt hat: Man muss sich auf das konzentrieren, was man tun kann, sonst erträgt man es nicht. – Ich finde, das könnte auch eine gute Überschrift für unsere Debatte sein: Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir tun können, ({0}) weil man es sonst nicht ertragen kann. Von Ihnen, Frau Ministerin, ist sehr bildhaft und ernsthaft beschrieben worden, um was für ein schlimmes und widerliches Thema es heute in dieser Debatte geht. Ich bin froh und dankbar, dass wir – anders als in der Vergangenheit – nicht bei öffentlicher Empörung stehen bleiben, sondern ganz konkret ins Gesetz gehen und es mit zahlreichen Maßnahmen schaffen, effektiv etwas für mehr Kinderschutz zu tun. Das war auch der Grund, warum die Koalitionsfraktionen entschieden haben: Wir bringen diesen Gesetzentwurf gemeinsam ein, um das Verfahren zu beschleunigen. Denn jeder Tag, den dieser Gesetzentwurf früher im Gesetzblatt steht, ist ein guter Tag für den Kinderschutz in unserem Land. ({1}) Ich finde es völlig unangebracht, sich hierhinzustellen und in der Rede zu sagen: Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf nicht vorwärts. Wir schaffen nicht mehr Kinderschutz. Wir schützen unsere Kinder nicht. – Das ist völlig unangebracht, weil das Gegenteil richtig ist. ({2}) Es ist doch tatsächlich so: Wenn ich den Strafrahmen erhöhe, hat das Konsequenzen, und zwar nicht nur generalpräventive Konsequenzen. Vielmehr hat das auch Auswirkungen auf die Fragen: Welche Ermittlungsbefugnisse stehen zur Verfügung? Wie verjähren diese Straftaten? Welche Möglichkeiten habe ich, Untersuchungshaft anzuordnen? Und anderes mehr. Es hat konkrete Konsequenzen. Das machen wir beim sexuellen Kindesmissbrauch, und wir machen es genauso im Bereich der Kinderpornografie, wo es darum geht, dass man eben auch Führungsaufsicht anordnen kann und zusätzliche Instrumente hat. Die Tatsache, dass wir in der Strafprozessordnung zwar nicht für alles, was wir uns gewünscht hätten, aber in vielen Bereichen die Möglichkeiten der Quellentelekommunikationsüberwachung und der Onlinedurchsuchung einführen, ist ein echter Vorteil für die Ermittlungsbeamtinnen und Ermittlungsbeamten, weil sie Instrumente bekommen, um Opfer zu identifizieren und andererseits auch Täter zu überführen. Genau darum geht es, und dafür schaffen wir die Instrumente. ({3}) Auch dass wir Strafbarkeitslücken im Bereich des Missbrauchs von Abhängigen schließen, ist unglaublich wichtig. Dass wir uns dieses widerlichen Phänomens der Sexpuppen annehmen und auch für den Besitz, das Inverkehrbringen und den Erwerb die Strafbarkeit statuieren, ist vollkommen richtig, ({4}) weil wir aus der Praxis wissen, dass das in der Regel die Vorstufe für den echten sexuellen Missbrauch ist, der dann häufig folgt. Deswegen ist es konsequent, das zu tun. ({5}) Meine Kolleginnen und Kollegen werden nachher auch noch auf all die Punkte eingehen, die im Familiengerichtsverfahren zusätzlichen Kinderschutz bedeuten. Dass wir das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Anhörung von Kindern umdrehen, ist ein wichtiger Schritt, damit wir an der Stelle weiter- bzw. vorwärtskommen. Denn eines darf uns nicht ruhen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gibt immer noch viel zu viele Fälle unerkannten Missbrauchs in unserer Gesellschaft. Kinderschutzorganisationen gehen davon aus, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sind, die sexuell missbraucht werden. Das ist etwas, das uns nicht ruhen lassen darf, wo wir weiter arbeiten müssen. Das ist für uns auch der Grund, warum wir im parlamentarischen Verfahren gerne die Diskussion mit Ihnen, dem Bundesjustizministerium, aber auch mit unserem Koalitionspartner, der SPD-Fraktion, fortsetzen möchten, um zu schauen: Wo gibt es Möglichkeiten, wo können wir noch mehr tun? Wir haben bisher eine wirklich sehr konstruktive Atmosphäre erlebt und gesehen, dass es eine große Bereitschaft gibt, diese offensichtlichen Themen auch gemeinsam anzugehen. Ich will deswegen darauf hinweisen: Wenn wir beispielsweise im Bereich des präventiven Kinderschutzes sagen: „So etwas wie eine einschlägige Verurteilung muss auch im polizeilichen Führungszeugnis eingetragen sein“, dann ist das wichtig und entscheidend. Es ist ein Hohn, dass so etwas heute nach drei Jahren gestrichen wird. Im Sinne des Kinderschutzes hätten wir das gerne lebenslänglich. ({6}) Aber in jedem Fall ist es ein gewaltiger Schritt nach vorne, wenn man aus 3 Jahren Speicherzeit 20 Jahre plus Haftzeit macht. Deswegen gehen wir jeden Schritt mit, der mehr Kinderschutz bedeutet. Deswegen sind wir auch sehr dafür, dass wir in diesem wie auch in anschließenden Gesetzesverfahren schauen: Wo können wir noch etwas tun? Um zum Beispiel den Betrieb von Kinderpornografieforen strafbar zu machen, brauchen wir Straftatbestände. Das können wir in Angriff nehmen, wenn wir uns generell mit der Strafbarkeit von Darknetforen beschäftigen. Das müssen wir in den Blick nehmen. Das ist effektiver Schutz von Betroffenen. ({7}) Auch das Thema der Kettenbewährungen – damit komme ich zum Schluss – wollen wir in Angriff nehmen. Das ist nicht nur hier ein Thema, sondern generell: Wenn jemand in der Bewährungszeit erneut einschlägig strafbar wird, ist es nicht einzusehen, warum man darauf mit einer erneuten Bewährungsstrafe reagiert. Es ist ein super Gesetzentwurf. Wir können ihn noch besser machen. Gemeinsam sollten wir alles versuchen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Pult ist bereit für den Kollegen Dr. Jürgen Martens, FDP. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin, Sie haben in Ihrer Rede dankenswerterweise klargemacht, warum die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf hier einbringt. Der Kollege Frei hat auch noch mal dargestellt, warum es uns alle etwas angeht, warum wir uns darum kümmern müssen, dass wir uns mit damit – früher hieß es „Kindesmissbrauch“; jetzt heißt es „sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ – beschäftigen. Allein der Wechsel der Bezeichnung ist richtig und notwendig. Meine Damen und Herren, viel zu lange ist von einem Missbrauch gesprochen worden, als gäbe es irgendeinen zulässigen Gebrauch von Kindern. Nein, das ist sexualisierte Gewalt, und Kinderpornografie ist die Dokumentation solcher Taten. In der Tat müssen wir dagegen vorgehen, auch mit den Mitteln des Strafrechts, meine Damen und Herren. ({0}) Wir sind uns einig in der Notwendigkeit, zu handeln, um solche Taten zu bestrafen, zu verfolgen und – nach meiner Auffassung wo immer es geht – zu verhindern. Wir müssen uns dabei die Fragen stellen: Tun wir immer das Richtige, auch mit diesem Gesetzentwurf? Antworten wir tatsächlich auf Strafbarkeitslücken, die es unabdingbar machen, dass wir handeln? Herr Peterka, wenn Sie davon sprechen, dass wir den Mindeststrafrahmen bei Kindesmissbrauch anheben mussten und in diesem Zusammenhang zur Rechtfertigung die Taten von Lügde oder Bergisch Gladbach anführen, dann ist das leider völlig verfehlt. Bei diesen Taten geht es mitnichten um irgendwelche Mindeststrafen. Diese Taten waren sämtlich im obersten Bereich, im schwersten Bereich dieser Kriminalität angesiedelt. Sie sind auch entsprechend geahndet worden. Die Täter sind zu Freiheitsstrafen von bis zu 14,5 Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Es soll also keiner sagen, dass es nicht heute bereits möglich wäre, auf solche schwersten Taten schuld- und tatangemessen zu reagieren. ({1}) Nebenbei: Den Nachweis der Erforderlichkeit, den Besitz von Kindersexpuppen unter Strafe zu stellen, Herr Kollege Frei, sind Sie uns schuldig geblieben. Im Gegenteil: Die Sanktionsforschung belegt, dass der Besitz solcher Puppen nicht die Hemmschwelle für solche Taten senkt. ({2}) Auch hier müssten wir wirklich gucken, wie wir uns verhalten, wenn wir eine evidenzbasierte Strafrechtspolitik machen. Aber das sind Diskussionen, die wir im Ausschuss führen, meine Damen und Herren. Richtig ist es, den Strafrahmen etwa beim banden- und gewerbsmäßigen Handel mit Kinderpornografie zu erhöhen. Da sollten wir in der Tat strenger vorgehen. Wenn wir die Grundtatbestände der §§ 184b und 176 Strafgesetzbuch zu Verbrechen hochstufen, müssen wir aber auch wissen, dass wir uns damit Folgeprobleme einhandeln. Das ist dann die Rückseite der von Ihnen geschilderten Medaille: Verfahrenseinstellungen sind nicht mehr möglich, es ist kein Strafbefehlsverfahren mehr möglich; auch das wird es nicht mehr geben. Aber damit ist nicht die Frage beantwortet, ob wir tatsächlich schuld- und strafangemessen auch in Bagatellfällen vorgehen. Es besteht hier die Gefahr der sogenannten Überstrafe. Vor allen Dingen gilt eins: Sie werden gezwungen, in jedem Fall eine Hauptverhandlung durchzuführen, mit dem gesamten organisatorischen Arbeitsaufwand, den so etwas bei Gerichten und Staatsanwaltschaften erfordert. Wenn Sie dann nicht dafür sorgen, dass dafür auch mehr Richter und Staatsanwälte zur Verfügung stehen, werden Sie erreichen, dass die Anzahl der behandelten Verfahren sinkt und damit die Effizienz der Strafverfolgung abnimmt. Das wäre ein Bärendienst an unserem gemeinsamen Interesse, Kindesmissbrauch und sexualisierte Gewalt einzudämmen, meine Damen und Herren. ({3}) Das Schreiben und Verschärfen von Gesetzen ist wohl wohlfeil und billig. ({4}) Das Notwendige ist dagegen nicht, zum Beispiel auch im Bereich der Ermittlungsbehörden, neue Kompetenzen und Befugnisse zu schaffen, sondern überhaupt dafür zu sorgen, dass diese Behörden im Rahmen der bestehenden Befugnisse personell und sachlich ausreichend ausgestattet sind, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Neue Befugnisse alleine nützen nichts, wenn keine Beamten da sind, die sie ausüben, ({5}) und keine Computerprogramme zur Verfügung stehen, mit denen diese Taten aufgeklärt werden könnten. In den jüngsten Fällen wurde davon gesprochen, dass Datenbestände im Terabyte-Bereich zu sichten wären. Wenn das ein Beamter händisch machen müsste, wäre dieser mehr als zehn Jahre damit beschäftigt, meine Damen und Herren. Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass das so nicht geht. Ich habe schon gesagt: Das Strafrecht alleine wird nicht reichen. Und es reicht nicht. Wir sind verpflichtet – und das ist im Gesetzentwurf ja auch vorgesehen –, Qualifikationsanforderungen zu benennen. Das ist der richtige Weg. Aber die FDP hat in einem Papier noch weiter gehende Vorschläge. Wir verlangen nicht nur die Qualifikation von Mitarbeitern, sondern auch eine engere Zusammenarbeit von Jugendgerichten mit den Jugendhilfebehörden, der Ermittlungsbehörden mit den Jugendhilfebehörden. Wir wollen eine andere Ausstattung der Ermittlungsbehörden und der Jugendhilfe. Wir wollen, kurz gesagt, nicht den Schwerpunkt auf die strafrechtliche Verfolgung und Zurückdrängung dieser Taten legen, sondern auf die Prävention. Aus unserer Sicht ist das Wertvollste, was wir leisten können, dass wir solche Taten verhindern. Denn wenn etwas verurteilungswürdig ist, dann ist es vor allem verhinderungswürdig. Das sollten wir auch in der kommenden Diskussion im Ausschuss immer im Kopf behalten, wenn wir sagen: Wir wollen Strafrecht verschärfen oder verändern. Wir sind zugleich in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Ermittelnden und dass die, die Prävention betreiben, auch sachgerecht personell ausgestattet werden. Es wäre schön gewesen, wenn ich im Haushalt des Bundesjustizministeriums dazu wenigstens ansatzweise Mittel entdeckt hätte, etwa für Präventionsprogramme wie das Programm „Kein Täter werden“ und andere Programme, die sich der Prävention verschrieben haben. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Die Kollegin Pantel, CDU/CSU, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann haben Sie das Wort, Frau Kollegin.

Sylvia Pantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004370, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Sie sprechen gerade von Prävention. Da frage ich Sie, ob Sie wissen, dass überall bei den Tätern bei uns in Nordrhein-Westfalen, die sich an Kindern vergangen haben, Kindersexpuppen gefunden wurden, und auch, ob Sie wissen, dass es dazu sehr wohl psychologische Empfehlungen und Briefe und Schreiben gibt, die besagen, dass die Täter dort die Tat einüben, die sie dann an Kindern vollbringen wollen. Sie sprechen gerade von Prävention. Für meine Begriffe ist das Verbot von Kindersexpuppen die erste Präventionsmaßnahme, die man hier vornehmen müsste. Wieso stehen Sie dem so entgegen? Kennen Sie die ganzen Fälle und Analysen nicht? ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, es ist sicherlich so, dass in diesen Fällen auch solche Gegenstände vor Ort gefunden werden, aber daraus kann man noch keine Kausalzusammenhänge herstellen, dass derjenige, der so etwas hat, automatisch dann auch zum Täter solcher Taten wird. Das ist nicht belegt. Genauso wenig war es früher belegt, dass derjenige – – ({0}) – Nein, es findet statt. Aber der automatische Rückschluss auf eine Kausalbeziehung ist falsch. Nicht jeder wird deswegen – deswegen! – zum Täter. Das ist Ausdruck einer Tatgeneigtheit, ja, aber es ist nicht die Ursache. ({1}) Wie gesagt, die Einzelheiten, ob wir uns in dieser Weise als Gesetzgeber verhalten oder nicht, werden wir im Gesetzgebungsverfahren noch deutlich zu erörtern haben. Mir geht es jedenfalls darum, dass wir alles tun, um Taten der sexualisierten Gewalt gegen Kinder in Zukunft zu verhindern. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. André Hahn, Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema „sexualisierte Gewalt“ lässt in diesem Hause sicher niemanden kalt, und wir sind uns hoffentlich alle darin einig: Bei sexueller Gewalt gegen Kinder darf es nur null Toleranz geben. ({0}) Die davon Betroffenen tragen ihre traumatischen Erfahrungen oft durch das ganze Leben. Studien belegen, dass diese Opfer deutlich suizidgefährdeter sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. In den 60 Minuten, in denen wir heute hier debattieren, werden laut der Polizeilichen Kriminalstatistik zwei weitere Kinder in Deutschland Opfer von sexueller Gewalt. Das Ziel der Koalition, mit dem Gesetz den Schutz von Kindern zu verbessern, unterstützt Die Linke ganz ausdrücklich. Allerdings haben wir Zweifel, ob dieses richtige Ziel mit dem vorliegenden Entwurf tatsächlich erreicht werden kann. Bereits zum Referentenentwurf erhielt das Justizministerium 35 Stellungnahmen mit zahlreichen kritischen Hinweisen und schwerwiegenden Einwänden. Vergleicht man den ursprünglichen Entwurf mit dem nun vorliegenden Gesetzestext, stellt sich schon die Frage, was diese Stellungnahmen bewirkt haben. Besser ist der Gesetzentwurf leider nicht geworden; an manchen Stellen eher schlechter. Wir als Linke meinen: Mit Symbolpolitik lässt sich ein solch komplexes gesellschaftliches Problem nicht bekämpfen. ({1}) Wir müssen uns schon die Frage stellen, warum wir hier so langsam vorankommen. Warum haben all die Aktivitäten der vergangenen Jahre nicht verhindert, dass die Zahl der Kinder, die Opfer sexueller Gewalt wurden, weiter steigt? Ist nur die Dunkelziffer kleiner geworden, also werden mehr Straftaten entdeckt und verfolgt? Oder greifen die derzeitigen Gesetze und Maßnahmen zu kurz? Immer wieder wird nach grausamen Straftaten über härtere Strafen für Täter gesprochen; viel zu selten aber über einen wirksamen Opferschutz. ({2}) Dabei belegen fast alle Studien, dass Strafverschärfung allein nicht das geeignete Instrument ist. Selbst die Koalition schreibt in der Begründung ihres Gesetzentwurfes – ich zitiere –: Die in den letzten Jahren … bekanntgewordenen Missbrauchsfälle von Staufen, Bergisch-Gladbach, Lügde und Münster zeigen in aller Deutlichkeit auf, dass das Strafrecht, das an sich bereits heute empfindliche Strafen für sexualisierte Gewalt gegen Kinder und die Delikte der Kinderpornographie vorsieht, nicht die erhoffte Abschreckungswirkung entfaltet. O-Ton aus der Koalition selbst. Darüber müssen wir dann auch im Ausschuss reden. ({3}) Noch einmal: Wir brauchen keine Symbolpolitik, sondern vor allem wirkungsvolle Maßnahmen zur intensiven Prävention gegen sexualisierte Gewalt, damit derartige Straftaten möglichst gar nicht mehr begangen werden. Und natürlich brauchen wir ausreichend Personalausstattung bei den Gerichten. Meine Damen und Herren, auch im Sport ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder leider ein lang bekanntes Phänomen. Vertrauens- und Machtpositionen von Trainern und Funktionären begünstigen den Missbrauch von minderjährigen Sportlerinnen und Sportlern. Am 13. Oktober dieses Jahres, also vor wenigen Tagen, fand ein sehr beeindruckendes öffentliches Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs mit dem Schwerpunkt Sport statt. Laut einer Studie von 2016 haben über ein Drittel der Kaderathleten sexuelle Gewalt in verschiedenen Formen erfahren. Auch hier wurde deutlich, dass Kinder eben nicht ausreichend geschützt wurden. Während die Geschädigten infolge sexualisierter Gewalt oftmals ihre Sportkarriere beenden mussten, konnten viele Täter weiter in den Sportverbänden tätig bleiben. Die Vizepräsidentin für Frauen und Gleichstellung des Deutschen Olympischen Sportbundes, Petra Tzschoppe, hat sich auf dem Hearing im Namen des DOSB bei allen Betroffenen entschuldigt. Das war ein wichtiges und notwendiges Zeichen. ({4}) Ich füge aber hinzu: Entschuldigungen allein reichen nicht. Die Opfer brauchen auch konkrete Hilfe durch psychologische Betreuung, aber auch in Form einer angemessenen finanziellen Entschädigung durch den Staat bei aktiver Beteiligung der Sportverbände. Hier muss endlich etwas geschehen. Präventionsmaßnahmen spielen die wichtigste Rolle, um sexuelle Straftaten zu verhindern. Im Gesetzentwurf, aber vor allem im vorliegenden Antrag der Grünen, gibt es hierzu eine Reihe von guten Vorschlägen, die wir als Linke gern unterstützen. Es muss darüber hinaus aber noch deutlich mehr Aktivitäten geben. Dazu zähle ich ein ausreichendes sowie dauerhaft ausfinanziertes Netz von Beratungsstellen, gut ausgestattete Jugend- und Sozialämter sowie bessere Fort- und Weiterbildungskonzepte für Trainerinnen und Trainer, Pädagoginnen und Pädagogen, Beschäftigte in der Kinder- und Jugendhilfe. Für die Opfer brauchen wir überall einen Zugang zu therapeutischen Angeboten und psychosozialer Hilfe mit qualifizierter Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung. Für Menschen mit pädophilen Neigungen brauchen wir anonymisierte Therapieangebote, damit sie möglichst gar nicht erst zu Tätern werden. Wir als Linke hoffen sehr, dass es uns gelingt, den Gesetzentwurf der Koalition in den Ausschussberatungen noch deutlich zu verbessern, gerade auch mit Blick auf die zahlreichen Anregungen und Vorschläge, die der Deutsche Anwaltverein dem Parlament übermittelt hat, unter anderem zum Wegfall der sogenannten minderschweren Fälle. Meine Damen und Herren, für einen wirksamen Schutz der Kinder vor sexualisierter Gewalt brauchen wir einen Kulturwandel im Sport, in Kinder- und Jugendeinrichtungen, in der Kirche, in der Familie, letztlich in der ganzen Gesellschaft. Schweigen schützt die Falschen. Lediglich ein Drittel der sexualisierten Gewalterfahrungen wird überhaupt mitgeteilt und nur 1 Prozent von Ermittlungsbehörden oder Jugendämtern verfolgt. Das muss sich dringend ändern. ({5}) Letzte Bemerkung: Kinder brauchen und verdienen unseren Schutz vor sexueller Gewalt, und sie haben darauf auch ein aus der UN-Kinderrechtskonvention hergeleitetes Recht. Der von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf muss hier noch nachgebessert werden. Und wir brauchen endlich die Kinderrechte im Grundgesetz. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Münster, Bergisch Gladbach, Lügde, Staufen – jeder einzelne Fall steht für ein zerstörtes Kinderleben. Daher ist es absolut wichtig und richtig, dass Sie heute diesen Gesetzentwurf hier einbringen und dass die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt an Kindern eben ganzheitlich angegangen wird. ({0}) Gut, dass Sie als Union nun endlich auch dazu bereit sind, eben nicht nur auf das Strafrecht zu schauen. ({1}) Frau Lambrecht, ich danke Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass viele Regelungen zur Verbesserung der familiengerichtlichen Verfahren, die auch gerade meine Kollegin Katja Keul hier in der Vergangenheit immer eingefordert hat, in diesem Gesetz ({2}) – können Sie doch stolz drauf sein – jetzt mit verankert sind. ({3}) Denn insbesondere die Anhörung jedes einzelnen Kindes ist essenziell. Ich verstehe gar nicht, warum Sie da von der CDU den Kopf schütteln. ({4}) Nehmen wir das Beispiel aus Staufen. Schauen wir uns an, was da passiert ist. Es war klar: Es wird zu einem Missbrauch des Kindes kommen. Das Jugendamt selber hat deswegen ein Kontaktverbot mit dem Täter beantragt. Dann hat die Mutter dagegen geklagt. Das hätte schon alle Alarmglocken läuten lassen müssen. Und trotzdem hat das Gericht in zwei Instanzen entschieden, dieses Kontaktverbot, welches das Jugendamt beantragt hat, aufzuheben, weil das Kind nicht angehört wurde. Es ist essenziell, dass dies geändert wird! ({5}) Die Verschärfung des Strafrechts – dies jetzt bitte nicht falsch verstehen –, so richtig sie ist, ist für sich allein keine Lösung. Kinderschutz im umfassenden Sinne gelingt durch einen Perspektivwechsel in Bezug auf Kinder als Rechtssubjekte auch in juristischen Verfahren und nicht nur als Objekte. ({6}) Kinderschutz braucht Prävention. Es braucht diesen Dreiklang. Ich halte es wirklich für fatal, dass jetzt wieder versucht wird, das Ganze parteipolitisch gegeneinanderzustellen. Das ist nicht im Interesse der Kinder. ({7}) Daher kann dieser Gesetzentwurf – wir unterstützen ihn ja; ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen – nur der Anfang dieser Debatte sein. Ich möchte gern auf einzelne Details eingehen. Herr Frei, die Anhörung wird entscheidend sein, und das gilt nicht nur für die Koalitionspartner – was ist das denn für ein parlamentarisches Verständnis! –, sondern auch für die Opposition, also für alle, die in der Anhörung ihre Stellungnahmen vorbringen. Zu Beginn möchte ich gern auf den strafrechtlichen Teil eingehen. Die Anhebung von Verjährungsfristen ist wichtig und richtig. Die Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse ist absolut notwendig, ebenso der Einbezug der Tatbestände, die die Handlungen mit oder von Dritten betreffen. Danke, Frau Lambrecht, dass Sie da genau hingeschaut haben. Das ist wichtig, liebe Kollegen von der Union; denn im finalen Gesetzentwurf ist nun die Möglichkeit des Absehens von einer Strafe bei Jugendlichen vorgesehen. Diese Details sind essenziell. Wir wollen doch nicht Teeniepärchen in den Blick nehmen, sondern die Täter, die sich an Kindern vergehen. ({8}) Ich möchte darum bitten, dass wir die Anhörung ernst nehmen. Warum Sie aber die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei jugendtypischem Verhalten im Zusammenhang mit dem Besitz eines Bildes in den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches nicht mit aufgenommen haben, Frau Lambrecht, das verwundert mich. Ich glaube, es ist ernsthaft notwendig, dass wir das gemeinsam diskutieren. Zu einem zweiten Punkt im Strafrechtsbereich. Über die Begriffsänderung kann man sich natürlich streiten. Ich habe da ein bisschen Sorge, dass durch die Einführung des Begriffs „sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ suggeriert wird, dass kein sexueller Missbrauch vorliegt, wenn es keine körperliche Gewalt durch Schläge gibt. Es darf aber nicht der Hauptfokus sein, jetzt um Begrifflichkeiten zu streiten. Wenn man schon etwas ändert, dann muss man auch den verharmlosenden Begriff der Kinderpornografie – eben wurde abgekürzt von „Kinderpornos“ gesprochen – mit ändern. Das halte ich für wichtiger. ({9}) Besser muss es heißen „pornografische Gewalt gegen Kinder“ oder „Abbildung von sexualisierter Gewalt“. Da müssen wir ran. Jetzt zu den familiengerichtlichen Verfahren. Sie sind richtig und gut, aber auch hier stellen sich Fragen: Warum gibt es eine Weiterbildungspflicht für Verfahrensbeistände, aber nicht für Richterinnen und Richter? Schauen Sie sich die Fälle noch einmal genau an: In Staufen waren es Richterinnen, die in dem Strafrechtsverfahren den Straftäter verurteilt haben. Eine Fortbildungspflicht auch für Richterinnen und Richter gehört in dieses Gesetz ebenso hinein. ({10}) Schauen Sie sich die Leitlinien des Europarates zu einer kindergerechten Justiz an, die von Deutschland mitgetragen wurden. Da steht das genauso drin. Ein weiterer Punkt ist für mich – das ist sicherlich ein nächstes Gesetzespaket –, dass wir eine eigenständige Familiengerichtsbarkeit für diesen Bereich brauchen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum man bei einem Streit über die Höhe einer Mietminderung immer bis zum BGH hochgehen kann, aber gegen die existenzielle Entscheidung über das Schicksal eines einzelnen Kindes keinerlei Nichtzulassungsbeschwerden möglich sind. Das erschließt sich mir nicht. ({11}) Was mich umtreibt, sind all die Fälle, bei denen es zu keiner Strafe kommt, bei denen die Täter nicht verurteilt wurden, weil wir sie nicht sehen. Daher kann dieser Gesetzesentwurf nur ein Anfang sein. Wir brauchen endlich eine SGB-VIII-Reform. Wir brauchen einen gemeinsamen Pakt zwischen Bund und Ländern; denn die Länder sind hier in einer entscheidenden Rolle. Die Ressourcen der Jugendämter müssen aufgestockt werden. Präventionsarbeit muss geleistet werden, Ombudsstellen müssen geschaffen werden. Wichtig sind auch Traumatherapien; denn das Leben dieser Kinder endet nicht, und wir müssen ihnen helfen, es weiterzuführen. Daher verstehe ich, ehrlich gesagt, auch nicht, dass Sie als Bundesgesetzgeber bei der Reform des sozialen Entschädigungsrechts zwar eine flächendeckende Traumaambulanz für Erwachsene einführen, aber nicht für Kinder. Wir lassen sie an dieser Stelle erneut im Stich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann heute nur der Anfang sein. Wir sind den Kindern gegenüber in der Pflicht, dass wir gemeinsam beraten. Wir sind es diesen Kindern schuldig, weil solche Taten jeden Tag, mitten in diesem Land, weiterhin passieren, auch mit dieser Gesetzesreform. Wir kennen diese Kinder; ein bis zwei davon gibt es in jeder Schulklasse. Wir sind ihnen gegenüber verpflichtet, gemeinsam zu handeln, erst recht mit weiteren Gesetzen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dirk Wiese, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dirk Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004444, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lügde, Bergisch Gladbach, Staufen – diese drei Orte haben uns in menschliche Abgründe blicken lassen. Sie haben uns vor Augen geführt, was Menschen Kindern für Gräueltaten antun können, was Menschen Menschen antun können. Es ist richtig, dass wir zukünftig das, was dort geschehen ist, auch ganz klar benennen: Es ist sexualisierte Gewalt an Kindern. Es ist Vergewaltigung von Kindern. Die Beschönigung durch den Begriff „Missbrauch“, der immer auch den Begriff „Gebrauch“ auf der anderen Seite zumindest sprachlich nach sich ziehen würde, beenden wir, und das ist richtig. Das ist ein richtiger Entwurf des Bundesjustizministeriums. ({0}) Die Antwort, die wir als Koalition mit diesem Gesetzentwurf von Christine Lambrecht geben, ist ein Dreiklang. Erstens: Strafrecht schärfen. Zweitens: Prävention ausbauen. Drittens: Kinder stärken. Die Strafrechtsverschärfungen – und das sage ich eindeutig – sind richtig. Sie sind richtig, sie sind notwendig, und sie sind keine reine Symbolpolitik. Da, wo es notwendig ist, stufen wir die Strafen zu einem Verbrechen hoch, was Auswirkungen auf die Praxis haben wird. Ich sage es ganz deutlich: Die zukünftige Strafbarkeit des Besitzes von Kindersexpuppen ist richtig. Es ist gut, dass wir als Koalitionsfraktionen so handeln. ({1}) Immer dann jedoch, wenn das Strafrecht zur Anwendung kommt – das wissen wir –, ist die Tat bereits passiert. Darum ist es wichtig, dass wir in dem Dreiklang zugleich einen sehr starken Fokus auf die Prävention legen, auf die Qualifizierung der Justiz, letztlich auch auf die Stärkung des Kindes – auch bei Anhörungen. Das ist elementar, weil das dazu beiträgt, dass Taten verhindert werden, dass Taten erst gar nicht geschehen können. Darum ist es wichtig, dass wir als Koalitionsfraktionen einen Schwerpunkt auf diesen Bereich der Prävention legen und hier auch gemeinsam vorangehen werden. Weiterhin ist es auch richtig, die Kinderrechte generell in den Blick zu nehmen und zu stärken. Es ist gut, dass es in der vergangenen Woche eine grundsätzliche Verständigung dahin gehend gegeben hat, dass wir den Kinderschutz stärken wollen. Es soll eine Neuregelung geben, dass Kindeswohlprinzipien – gerade im Zusammenhang mit der Ahndung von Gewalt – auch bei Beteiligungsfragen in rechtlichen Verfahren vermehrt aufgegriffen und gestärkt werden sollen. Das ist ein wichtiger Punkt, der im Grundgesetz verankert werden soll. Es hat dazu eine Verständigung gegeben, und die ist wichtig in diesem Dreiklang, um den Kinderschutz in den Fokus zu rücken. Wir werden das gemeinsam als Koalitionsfraktionen in den Blick nehmen. Lassen Sie mich zum Schluss meinen Respekt und meine Anerkennung aussprechen für die Polizistinnen und Polizisten und die Ermittler, die diese Fälle auswerten müssen. Das, was sie sehen müssen, das, was sie täglich dort an Arbeit leisten, das braucht unsere Unterstützung. Wir alle – also auch die, die in den Bundesländern Verantwortung tragen – müssen darauf hinwirken, dass diese Ermittlerinnen und Ermittler entsprechende Unterstützung, auch Traumaunterstützung, bei ihrer Arbeit bekommen. Für die Arbeit, die sie dort leisten, muss man ihnen Respekt und Anerkennung zollen und ihnen auch mal Dank sagen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mariana Harder-Kühnel, AfD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor vier Monaten habe ich hier den Rücktritt von Ihnen, Frau Lambrecht, gefordert. Ich habe Ihren Rücktritt gefordert, weil Sie den sexuellen Missbrauch von Kindern damals weiterhin als bloßes Vergehen und nur in besonders schweren Fällen als Verbrechen einstufen wollten, und das unmittelbar nach dem Missbrauchsskandal von Münster. Frau Lambrecht, auch wenn Sie sich hier heute feiern lassen: Wir haben das nicht vergessen. Es war der Druck der AfD, der Sie und andere zum Umdenken veranlasst hat. ({0}) Es war die Tatsache, dass wir eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Kinderschändern, die konsequente Einstufung als Verbrechen, höhere Mindeststrafen und eine Fokussierung auf den Opferschutz statt den Täterschutz gefordert haben. ({1}) Dafür wurden wir kritisiert, dafür wurden wir diffamiert. Nun hat man klammheimlich das umgesetzt, was wir gefordert haben. ({2}) Zum Wohle der Kinder soll uns das recht sein. ({3}) Man sieht: AfD wirkt. Man sieht: Es ist gut und wichtig, dass es uns als größte Oppositionsfraktion und als Stimme der Vernunft in diesem Parlament gibt. Auch wenn Sie gerade jetzt lachen: Sie haben sich bei diesem Thema nie mit Ruhm bekleckert. So schrieb Volker Beck, der langjährige rechtspolitische Sprecher der Grünen einmal, eine Entkriminalisierung der Pädosexualität sei dringend erforderlich. Das ist krank. Es schockiert, dass solche Leute jahrelang als politische Autoritäten in Deutschland galten. Sexueller Missbrauch ist Mord an der Kinderseele. Punkt. ({4}) Pädophilie-Verharmlosung, Kuscheljustiz, Frühsexualisierung sind der Nährboden für derartige Verbrechen an Kindern. Sie sind der Nährboden für fast 14 000 registrierte Missbrauchsfälle allein in 2019; von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Kindesmissbrauch lässt sich eben effektiv nur mit einer Nulltoleranzpolitik bekämpfen. Kinderschänder sind zu lange und zu oft mit Bewährungsstrafen davongekommen, obwohl sie unter den Sexualstraftätern die höchste Rückfallquote haben. Das ist eine Schande für unser Land. ({5}) Nun besteht Hoffnung, dass dies endlich der Vergangenheit angehört. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder gilt künftig als Verbrechen. Das Gleiche gilt für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie, vor allem wenn sie bandenmäßig erfolgt. Damit sind deutlich höhere Freiheitsstrafen möglich. Wir haben das schon immer gefordert. Es wurde allerhöchste Zeit. Aber man hätte hier schon viel früher etwas tun können und müssen. Dieser Vorwurf geht übrigens insbesondere an die hier seit Jahrzehnten regierende CDU. Traurig ist, dass es offenbar erst immer so richtig knallen muss, bevor etwas passiert. Allerdings können diese Maßnahmen nur ein erster Schritt sein. Wir brauchen darüber hinaus eine bessere Ausstattung der Ermittlungsbehörden. Internetprovider müssen verpflichtet werden, sexuellen Kindesmissbrauch sofort zu melden. Auch einer effektiveren Bekämpfung von Kinderehen müssen wir uns künftig intensiv widmen. Auch hier muss es eine Nulltoleranzpolitik geben. ({6}) Von Ihnen würde ich mir künftig wünschen, dass Sie unsere Positionen sachlicher diskutieren. Ihr Geschrei, Ihr Gelächter sind völlig deplatziert, immer, aber vor allem dann, wenn es um so sensible Themen wie das Wohl von Kindern geht. ({7}) Kinder dürfen niemals zum Spielball von Parteipolitik werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/CSU. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Ausmaß, die Brutalität, ja die Monstrosität der zuletzt aufgedeckten Straftaten – der sexuelle Missbrauch und die Orte sind hier genannt worden – machen uns alle fassungslos. Es geht um die Schwächsten in unserer Gesellschaft, unsere Kinder, deren Seelen durch diese Taten auf das Schwerste verletzt wurden. Viele von ihnen werden ihr Leben lang traumatisiert bleiben. Das Schlimme ist, dass diese Taten nicht irgendwo passiert sind, sondern sie sind oft in den Familien passiert, beim Sport, in der Freizeit, gerade dort, wo es ein Vertrauensverhältnis gab, das in besonderer Weise geschützt werden muss. Ich glaube, deswegen ist es so wichtig, dass die Gesellschaft, aber auch wir als Gesetzgeber genau hinschauen und dass wir handeln. Und genau das machen wir mit diesem Gesetzentwurf heute Morgen, meine Damen und Herren. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist wirklich ein Meilenstein im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch. Viele Forderungen, die wir als Union seit vielen Jahren erhoben haben, sind in diesem Gesetzentwurf enthalten. Für mich ist das Wichtigste, das wir in diesem Gesetzentwurf verankert haben, dass wir sexuellen Missbrauch von Kindern endlich als das bestrafen, was es ist, nämlich als Verbrechen, meine Damen und Herren. ({0}) Für uns als Union war es eigentlich nie nachvollziehbar, dass beispielsweise Diebstahl oder Körperverletzung mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden konnte, dass aber der Besitz von kinderpornografischen Schriften, wo die Vergewaltigung von Kleinkindern gezeigt wurde, nur mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren bestraft werden konnte. Hier hatte sich eine wirkliche Unwucht im Strafrahmengefüge ergeben. Das Unrecht des sexuellen Missbrauchs in solchen kinderpornografischen Schriften wiegt ungleich schwerer als das von Diebstahl und von Körperverletzung. Deswegen ist es richtig, dass wir hier kein Pardon erlauben, sondern dass wir den Strafrahmen an dieser Stelle verschärfen, meine Damen und Herren. ({1}) Wir erleben ja auch, dass die Nachfrage im Darknet nach wirklich aggressivsten Formen kinderpornografischer Darstellungen, wo es um Vergewaltigungen von Klein- und Kleinstkindern geht, zunimmt. Im Darknet gibt es unzählige Foren, die allein dem Austausch von diesem kinderpornografischen Material dienen. Es ist die Nachfrage nach diesen Bildern von Missbrauch, die oftmals Anlass und Auslöser für den realen Missbrauch ist. Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier auch sagen: Dieser Besitz ist kein Kavaliersdelikt, sondern – im Gegenteil – der Auslöser für den realen Missbrauch. Auch deswegen ist das ein Verbrechen, und als solches wollen wir das auch bestrafen, meine Damen und Herren. ({2}) Wir wollen als Union an dieser Stelle noch einen Schritt weitergehen. Wir sagen: Das Zurverfügungstellen dieser Infrastruktur, das Betreiben von solchen Plattformen im Darknet, auf denen dieser Tausch vorgenommen wird, ist nicht nur die Teilnahme an fremdem Unrecht. Das können wir nicht nur als Beihilfe bestrafen, sondern das ist ein eigenes Unrecht, was hier verwirklicht wird von denjenigen, die diese Tauschbörsen betreiben. Deswegen brauchen wir auch einen eigenständigen Straftatbestand für diese Plattformen, meine Damen und Herren. ({3}) Nun sagen ja manche – das ist auch hier gesagt worden, sowohl von den Linken als auch von den Grünen, Frau Baerbock –, dass diese Erhöhung des Strafrahmens ja eigentlich nur Symbolpolitik sei. ({4}) Jetzt will ich mal sagen: Natürlich ist das auch ein Signal. Aber ich finde, das Signal, das wir als Gesetzgeber aussenden, dass wir den sexuellen Missbrauch von Kindern nicht tolerieren, sondern dass wir das aufs Schärfste bestrafen, ist ein gutes und ein richtiges Signal, meine Damen und Herren. Das wollen wir vornehmen als Union. ({5}) An dieses Signal der höheren Strafrahmen – das ist hier auch gesagt worden –, an die Hochstufung zum Verbrechen knüpfen sich auch ganz konkrete Rechtsfolgen. ({6}) Es geht darum, unseren Ermittlern bessere strafprozessuale Ermittlungsmöglichkeiten zu geben. ({7}) Natürlich ist es richtig, wenn hier gesagt wird, dass erhöhte Strafrahmen allein nicht zur Abschreckung führen. Aber was geht denn mit höheren Strafrahmen einher? Wenn etwas als Verbrechen eingestuft wird, dann haben die Polizeien, die Staatsanwaltschaften bessere Ermittlungsmethoden. ({8}) Dadurch wird der Verfolgungsdruck erhöht. Die Täter müssen wissen: Auch wenn sie im Internet vorgehen, werden wir sie kriegen und bestrafen. Deswegen ist es richtig, dass wir den Strafrahmen erhöhen. Ich will zum Schluss noch etwas zum Thema Kindersexpuppen sagen, weil hier der Kollege Martens von der FDP gesagt hat, es gebe dafür keine Evidenz. Nun mag das sein; es gibt unterschiedliche Tätertypen. Aber ich will Ihnen mal sagen: Wenn man bei Amazon Kindersexpuppen bestellen kann, diese nach den eigenen Vorlieben designen kann, indem man sich die Größe, das Alter, die Art und Weise der Körperöffnungen genau aussuchen kann, dann finde ich das unerträglich. Das finde ich unerträglich! ({9}) Es gibt Täter, die an diesen Puppen den realen Missbrauch einüben, was zu einer Desensibilisierung führt. Wenn wir eine solche Desensibilisierung haben, dann ist der nächste Schritt, dass in der realen Welt ein Kind missbraucht wird. Das wollen wir verhindern, und deswegen werden wir den Besitz und den Handel mit diesen Kindersexpuppen unter Strafe stellen, meine Damen und Herren. ({10}) Es gibt noch viele Dinge, die wir in diesem Gesetzentwurf verbessern wollen: Wir wollen Bewährungsstrafen verhindern; wir wollen die U-Haft dahin gehend verändern, dass die Täter, die gefasst werden, dann auch tatsächlich in U-Haft bleiben müssen. Das werden wir im parlamentarischen Verfahren noch vornehmen. Dafür bitte ich Sie um Unterstützung. Es geht um die Schwächsten in unserer Gesellschaft, um unsere Kinder. Lassen Sie sie uns gemeinsam schützen, meine Damen und Herren! ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Susann Rüthrich, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir einen umfangreichen Gesetzentwurf zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt. Unsere Justizministerin und wir als Gesetzgebende gehen damit einen wichtigen Schritt. Das ist allerdings erst ein Schritt auf einem langen Weg; denn mit dem Gesetz, wenn es dann beschlossen wird, fängt die Arbeit erst an, nämlich die Umsetzung im täglichen Leben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darin sind wir uns ja einig: Am besten ist es für die Kinder, wenn sie gar nicht erst zu Opfern werden. Daher bleibt es auf allen Ebenen wichtig, Prävention zu leisten. Kinder müssen an allen Orten, ob in der Familie, Kita oder Schule, im Verein wie in ihrem Gotteshaus analog wie digital sicher sein. Dazu braucht es in Kommunen und Ländern, in den Einrichtungen, in den Institutionen engagierte und aufmerksame Erwachsene. Es braucht verbindliche und mit Leben gefüllte Schutzkonzepte, überall da, wo Kinder ihren Alltag verbringen. Und dafür bedarf es Ressourcen. Jede Kürzungsdebatte im Bereich von Kinder- und Jugendhilfe im Umfeld der Kinder und Familien verbietet sich; auch wenn kommunale und Landeshaushalte stark unter Druck sind, das wissen wir. Beim Schutz von Kindern, bei der Gewährleistung ihrer Rechte braucht es mehr, nicht weniger Ressourcen. Wir müssen jetzt für morgen investieren. Was wir auf Bundesebene beitragen können, das wollen wir auch tun. Doch die beste Prävention wird leider nicht jede Straftat verhindern können; denn die Täter gehen mit hoher krimineller Energie, perfide und sehr zielgerichtet vor. Diese Täter dürfen sich niemals in Sicherheit wiegen. Dafür sind wir auf allen Ebenen verantwortlich. Daher bitte ich auch die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, in deren Hoheit Ermittlungsbehörden, Gerichte, Jugendämter liegen, für eine bestmögliche Ausstattung zu sorgen. Ermittelnde und Richterinnen und Richter dürfen angesichts der Menge zu bearbeitender Straftaten nicht verzweifeln. Nicht das Gesetz allein, sondern erst das hohe Risiko, entdeckt und dann auch verurteilt zu werden, schreckt ab. ({0}) Die juristischen Verfahren müssen dann aber auch kindgerecht sein, damit das Kind nicht unter dem Verfahren selbst leidet. So sollte es zum Beispiel Orte wie das Childhood-Haus überall geben, wo das minderjährige Opfer in einer kindgerechten Umgebung an einem Termin gerichtsfest befragt, wenn nötig, untersucht wird und danach alle Kräfte freimachen kann für die hoffentlich gelingende Bewältigung. ({1}) Das Kind und seine Familie können sich mit diesem Gesetz dann auch sicher sein, dass die Richterin in ihrem Verfahren nicht nur eine gute Juristin ist, sondern auch kinderrechtliche und psychologische Kenntnisse hat. Wir wissen, dass wir in den Ländern Mitstreitende haben, die das auch engagiert umsetzen werden. Darum bitte ich auch. Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hause, in den Ländern, in den Kommunen, in allen Institutionen, in den Familien, lassen Sie uns gemeinsam unterhaken und jeden Ort in diesem Land zu einem guten Ort für die Kinder werden lassen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorliegen haben, gehen wir – Frau Ministerin, ich glaube, man kann es so sagen – einen gewaltigen Schritt nach vorne. Und ich will ausdrücklich Danke sagen, dass wir jetzt auch das Verbot von Kindersexpuppen in diesen Entwurf aufgenommen haben. Danke, dass Sie sich haben überzeugen lassen – vor einigen Wochen waren wir an dieser Stelle ja noch unterschiedlicher Auffassung – und dass auch Ihre Fraktion sich hat überzeugen lassen. Kollege Martens, ich war über Ihre Ausführungen zu diesem Thema vorhin durchaus irritiert. Sie sagen: Es gibt keine Studie, die das belegt. – Ich empfehle Ihnen ganz, ganz dringend, sich mit Ermittlern und denjenigen, die in diesem Bereich tätig sind, mal zu unterhalten. Bei den Tätern von Münster, bei den Tätern von Bergisch Gladbach, Kollege Martens, sind mehrere dieser Puppen gefunden worden. Und ganz ehrlich, das hat nichts mehr mit einem freiheitlichen Politikansatz zu tun. Wir tun an dieser Stelle das, was nötig ist, und verbieten diese Kindersexpuppen. ({0}) Wir haben aber – nach Auffassung der Union – bislang maximal die Hälfte des Weges zurückgelegt. Und da bin ich bei dem ersten der drei Punkte, die ich ansprechen möchte: Erster Punkt. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist heute ein Massenphänomen, das vor allem durch die Möglichkeiten der digitalen Welt erleichtert wird und explosionsartig ansteigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört eben auch, dass wir Ermittlungsbehörden brauchen, denen auch in der digitalen Welt wirksame Instrumente zur Verfügung stehen, die eben nicht blind sind. Deswegen ist es richtig – es wurde vorhin schon angesprochen –, dass in diesem Gesetzentwurf die Ermittlungsbefugnisse im Bereich der Telekommunikationsüberwachung, der Onlineüberwachung erweitert werden. Aber, meine Damen, meine Herren, wir müssen uns ehrlich machen; das gilt auch für die Opposition. Wir sollten auch über den weißen Elefanten im Raum reden, nämlich die Vorratsdatenspeicherung. ({1}) Denn zur Wahrheit gehört eben auch, dass uns Ermittler sagen, dass sie diesbezüglich dringend ein Instrument brauchen. Frau Ministerin, auch dafür müssen wir das anstehende parlamentarische Verfahren nutzen. Ich nenne die Zahl noch einmal: Im Jahr 2016 sind über 8 000 Hinweise auf Fälle von Kinderpornografie nicht weiter verfolgt worden, weil Verbindungsdaten gefehlt haben. ({2}) Wir als Union stehen dafür, dass sich kein Täter sicher fühlen darf; wir wollen in diesem Bereich alle Register ziehen, und wir stellen Opferschutz vor Täterschutz. ({3}) Frau Baerbock, ich will Sie an dieser Stelle einmal persönlich ansprechen, nicht nur, weil ich Ihre parteipolitischen Ausführungen vorhin als völlig deplatziert empfunden habe, sondern auch, weil Sie bei der Rede des Kollegen Frei tatsächlich die Zwischenbemerkung gemacht haben: Wir tun in diesem Bereich das, was wir tun müssen. – Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bereich der Bekämpfung von Kinderpornografie und Kindesmissbrauch tun wir nicht das, was wir tun müssen; vielmehr müssen wir alles tun, was wir tun können, Frau Kollegin! ({4}) Ich komme zu einem zweiten Punkt. Wir als CSU fordern für Täter im Bereich Kindesmissbrauch, Kinderpornografie den lebenslangen Eintrag ins Bundeszentralregister. Und ich will Ihnen ganz deutlich sagen, dass das für uns keine Stammtischparole ist; denn dafür gibt es Argumente. Wenn Sie sich in diesem Täterspektrum die Rückfallquote anschauen, dann sehen Sie: Die Zahlen sind erschreckend. Ein Sexualstraftäter hat eine einschlägige Rückfallquote von 20 Prozent, und das ist schon hoch. Ein pädophiler Sexualstraftäter hat eine Rückfallquote von 50 Prozent, meine Damen, meine Herren. 50 Prozent! Und deswegen reden wir hier nicht über eine Stigmatisierung, sondern über eine Maßnahme, die notwendig ist; ({5}) denn jeder von uns – Großeltern, Eltern – will sicherstellen, dass ein solcher Täter sein ganzes Leben lang nicht mehr mit Kindern zu tun hat, egal ob als Übungsleiter oder als Trainer. ({6}) Am Ende noch der dritte Punkt. Meine Damen, meine Herren, die Straftaten von Bergisch Gladbach und Münster haben es deutlich gemacht: Wir müssen auch über die Möglichkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe in extremen Fällen reden. Sie haben es selbst in Ihrer Rede vorhin und im Ausschuss gesagt: Die Strafe muss das Unrecht einer Tat abbilden. – Die Strafrahmen, die das StGB im Moment im vorsieht, bilden den Unrechtsgehalt von Kinderpornografie und Kindesmissbrauch in der analogen Welt ab. In der digitalen Welt haben wir es mit einer ganz anderen Größenordnung zu tun: massenhafte Verbreitung ohne Rückholbarkeit. Deswegen brauchen wir auch dort entsprechende Möglichkeiten; auch darüber wollen wir als Union im parlamentarischen Verfahren reden. Darauf freuen wir uns. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie rufen jetzt schon dazwischen: Austeilen und nicht einstecken können. ({0}) – Ja, dann frage ich mich, ob Sie hier richtig zuhören. Ich frage mich wirklich, was der Sinn von parlamentarischen Debatten und parlamentarischen Beratungsverfahren ist, wenn hier reflexhaft zweimal hintereinander mit Unterstellungen gearbeitet wird. Und keine Sorge: Ich kann gut einstecken. ({1}) – Ja, aber mir ist es wichtig, dass wir bei Themen, wo es um Kinderrechte, um den Schutz von Kindern geht, ernsthaft diskutieren. Ehrlich gesagt, mit dem Kollegen Frei haben wir gut diskutiert. Aber ist das, was danach kam, dessen würdig, was ein Parlament tun sollte? So ein Verfahren ist dazu da, dass man sich Gesetze genau anschaut und darüber spricht: Was können wir gemeinsam verbessern? Und wenn Sie hier zweimal – da geht es überhaupt nicht nur um mich, da geht es genauso um andere Kollegen – mit Unterstellungen arbeiten, wenn Sie, wenn man einen Kritikpunkt anbringt, weil man vielleicht etwas anders sieht – Sie können ja wiederum sagen, warum Sie es anders sehen –, dann unterstellen, die anderen demokratischen Parteien würden dieses Gesetzesvorhaben nicht unterstützen wollen, obwohl sowohl die Liberalen – bei den Linken war es offen – als auch wir dezidiert gesagt haben: „Es ist richtig, dass wir über Strafrechtsverschärfung reden“, dann frage ich mich wirklich, wie Sie diesen Gesetzentwurf an dieser Stelle verbessern wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Und dann kommen Sie damit: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. ({3}) Wenn Sie über Ermittlungsbefugnisse reden, wenn Sie darüber reden, die Ermittlungsbefugnisse von Strafverfolgungsbehörden auszuweiten: Ich meine, wer hat es denn nicht geschafft, ein Gesetz vorzulegen, das vor dem Europäischen Gerichtshof und vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zu Fall gebracht worden ist? ({4}) Wir haben gemahnt, wie es besser funktionieren kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben hier vor einem Jahr auch gemeinsam – denn die Opposition unterstützt gute Gesetzesvorhaben der Regierung – das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vorgelegt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Baerbock!

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist nach wie vor nicht – – ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Einen Moment. – Zwischenbemerkungen sollen kurz sein, ({0}) und Sie haben die Zeit jetzt überschritten. Wenn Sie mit Ihrer Zwischenbemerkung bitte zum Ende kommen.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. – Wir haben das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vorgelegt, das gerade für den Schutz von Kindern essenziell gewesen wäre. Es ist bis heute nicht in Kraft. Also: Wenn Sie was tun wollen, sorgen Sie dafür, dass es endlich in Kraft tritt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hoffmann, wenn Sie mögen, können Sie antworten – wenn die Frau Kollegin Baerbock stehen bleibt.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. – Frau Kollegin, zwei Punkte. ({0}) Punkt eins. Ich habe Sie gemessen an einer Aussage, die Sie selbst getätigt haben, und zwar unter Zeugen; der Kollege Müller hat es genauso wahrgenommen wie ich. ({1}) Ich glaube, es ist bei einem solchen Thema unseriös, wenn Sie sich dann hinstellen und sagen: Nein, das habe ich so nie gesagt. Die zweite Bemerkung – auch das ist mir bei dem Thema wichtig –: Sie haben völlig recht. Es ist völlig deplatziert, das Thema für parteipolitisches Geplänkel zu missbrauchen. Gerade deshalb waren wir aber alle, wie wir hier sitzen, vorhin bass erstaunt über Ihre Rede, weil Sie genau das gemacht haben. ({2}) Die Rollenverteilung der letzten Jahre sieht doch so aus, dass wir in diesem Bereich ernsthaft mit großen Schritten vorankommen wollen. Nehmen wir doch mal den Bereich der Verbindungsdatenspeicherung. Da kommt doch aus Ihren Reihen eigentlich immer nur, was alles nicht geht. Aber es kommt nie ein Vorschlag, wie wir es denn machen können. ({3}) Wenn Sie das dann gesagt bekommen – und noch mal: das Thema ist wichtig –, dann glaube ich schon, dass Sie das aushalten können müssen. Danke. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU. ({0}) – Moment! Jetzt hat das Wort die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ende dieser doch sehr emotionalen Debatte möchte ich mich erst mal bedanken: bei meinen Kolleginnen und Kollegen in den Arbeitsgruppen Recht und Familie aus unserer Fraktion und auch der SPD-Fraktion, die sich in den letzten Monaten und eigentlich auch in den letzten Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. ({0}) Wir haben unglaublich viele Gespräche geführt: mit Polizei, mit Staatsanwaltschaft, mit Opferschutzgruppen, mit Hilfsorganisationen, mit Psychotherapeuten – mit allen, die in diesem Bereich tätig sind. Liebe Kollegen, bei manchem Redner, der heute hier gesprochen hat, hat man gemerkt, dass Sie das nicht getan haben. ({1}) Da hätte ich mir gewünscht, dass das eine oder andere Gespräch mal geführt worden wäre. Dann wären viele dieser Aussagen heute so nicht gefallen. ({2}) Herr Dr. Hahn, von Symbolpolitik bei diesem Gesetz zu sprechen, das uns in vielen Bereichen voranbringt, wofür wir lange gekämpft haben, das ist wirklich infam. Und es stimmt: Politisiert und auf die parteipolitische Schiene gehoben hat das Frau Baerbock. Darüber haben wir uns zu Recht geärgert; denn wir kämpfen seit Jahren dafür, dass es bei diesem Thema vorangeht, und zwar längst nicht nur beim Thema Strafen, sondern auch beim Thema Hilfe, beim Thema Prävention und beim richtigen Umgang mit den betroffenen Kindern. Dafür haben wir uns eingesetzt, und das werden wir weiterhin machen. Vieles, was in den letzten Jahren bewegt worden ist, ist auf unser Engagement zurückzuführen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Schön, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Schön, wenn Sie mit dem, was Sie hier sagen, meine Fraktion meinen, weise ich das wirklich zurück. Ich möchte Sie darauf hinweisen – und das wissen Sie sehr genau –, dass ich mich für unsere Fraktion sehr intensiv mit diesem Thema befasst habe, sehr viele Gespräche geführt habe, auch sehr viele Gespräche mit Opfern an der Stelle geführt habe. Und mich trifft das persönlich, wenn Sie diesen Vorwurf an meine Fraktion richten. Das weise ich unbedingt zurück. Das trifft nicht zu. Ganz im Gegenteil: Wenn es eine Fraktion in diesem Parlament gibt, die sich intensiv mit dem Thema befasst und in der Konsequenz auch die Rechte der Kinder einfordert, dann ist das meine Fraktion. ({0}) Deshalb weise ich das zurück. Das stimmt so nicht, und ich bitte Sie, das in Ihrer weiteren Rede auch zu berücksichtigen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, es gehört zu unseren Gewohnheiten, dass man zur Antwort stehen bleibt. – Danke.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ich weiß das. Ich weiß, dass Sie sich selbst ganz engagiert um dieses Thema kümmern, so wie viele Kolleginnen und Kollegen der Grünen das in den unterschiedlichsten Bereichen machen. Das will ich Ihnen nicht absprechen, und so wollte ich meine Aussage nicht verstanden wissen. Es gehört aber auch zur Wahrheit dazu, dass uns Ermittler, mit denen wir uns unterhalten haben, gesagt haben: Es ist gut, dass wir endlich in diese Foren, diese Chatforen reinkommen, wo das Material getauscht wird und man sich darüber unterhält, wie man sich einem Kind am besten nähern kann. – Die Ermittler haben durch unsere Gesetzesänderung vom letzten Jahr endlich den Zugang dazu. Wir erlauben ihnen heute, mit computergeneriertem Material selbst in diese Foren reinzukommen, damit sie dort ermitteln können. Das ist ein Riesenfortschritt, sagen die Ermittler. Das Problem ist nur, was dann passiert: Die Ermittler sehen, dass sich zum Kindesmissbrauch verabredet wird. Die sehen, dass Täter ankündigen, dass sie bald ein Kind missbrauchen werden. Und die sagen: Wir kommen nicht an die Daten. Wir wissen nicht, wo das ist und wer das ist, weil die Verbindungsdaten nicht da sind. – Deshalb brauchen wir die Vorratsdatenspeicherung. ({0}) Die ist im Übrigen nicht vom EuGH gekippt worden, sondern vom OVG Münster. Deshalb müssen wir uns an der Stelle ehrlich machen: Die Vorratsdatenspeicherung ist ein ganz wichtiges Instrument, ({1}) das Ermittler brauchen, damit sie rechtzeitig – rechtzeitig! – an die Täter rankommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Schön, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jemand sagte: Wir können schon Fehler eingestehen. – Als Fraktion, die hier angibt, sie hätte sich immer darum gekümmert, würde ich die Füße stillhalten. ({0}) Ich komme jetzt zum Punkt, Frau Kollegin. Sie sagten hier gerade, was schon alles in Kraft getreten sei. Wenn ich das richtig sehe, sind die Dinge, von denen Sie reden, bisher gar nicht in Kraft getreten; denn sie befinden sich in dem hier beschlossenen Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Wir als Grüne haben bei der zweiten Lesung und schon vorher immer gesagt: Lassen Sie uns ein zweistufiges Datenübermittlungsverfahren machen. Das haben Sie abgelehnt mit dem trostlosen Ergebnis, dass dieses Gesetz, das bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder auch Datenübermittlung ans BKA vorschreibt und das auch das von Ihnen genannte Ermittlungsinstrument beinhaltet, bis heute nicht in Kraft getreten ist. Können Sie mir an der Stelle vielleicht sagen – statt sich selber für etwas zu loben, was verfassungswidrig ist und vom Herrn Bundespräsidenten deshalb nicht unterzeichnet wurde –, wann das Bundesinnenministerium endlich so weit ist, zu diesem zweistufigen System der Datenübermittlung eine rechtliche Vorlage zu machen, damit wir das im Bundestag endlich nachbessern können und die Meldepflichten und die Ermittlungstools, die Sie hier nennen, endlich auch wirksam sind? ({1}) Wir warten seit weit über einem Jahr darauf. ({2}) Dabei könnten Sie Tempo machen. Wir wären bestimmt zu einem Fristverzicht bereit, wenn Sie eine verfassungsgemäße Lösung vorschlagen. ({3}) – Es geht um alles, wenn es um Kinder geht. ({4})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, die Regelungen zu den Ermittlungsmöglichkeiten, von denen ich gesprochen habe, sind in Kraft. Man kann computergeneriertes Material erzeugen, und dadurch kommen die Ermittler heute in die Foren, die ihnen vor einigen Jahren noch versperrt gewesen waren. Das zum einen. ({0}) Zum anderen. Ja, in dem Gesetz sind wichtige Punkte enthalten, die wir umsetzen wollen, so steht etwa die Providerhaftung in diesem Gesetz. Jetzt müssen wir einen neuen Anlauf unternehmen ({1}) und schauen, wie wir mit dem Gesetz umgehen und die wichtigen Punkte, die wir dort vereinbart haben, in ein neues Gesetzgebungsverfahren einbringen. ({2}) Da haben wir inhaltlich gar keinen Dissens. Es gibt viele wichtige Punkte, die wir umsetzen wollen und in diesen Gesetzen noch verankert werden. Daran sieht man, dass der Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch mit diesem Gesetz auch nicht erledigt ist. ({3}) Es gibt unglaublich viele Facetten. Wir haben viel Wichtiges erreicht, das in diesem Gesetz steht. Das höhere Strafmaß drückt den erhöhten Unrechtsgehalt aus. Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Verbrechen und muss auch als solches bestraft werden. Die Regelungen zum Führungszeugnis sind total wichtig; denn es kann doch nicht sein, dass jemand mit 22 Jahren ein Kind missbraucht und mit 37 Jahren in eine Jugendfreizeit fahren oder sich als Erzieher im Kindergarten bewerben darf. ({4}) Wir verbieten Kindersexpuppen; dazu ist ja einiges gesagt worden. Der Besitz einer Kindersexpuppe hat einen eigenen Unrechtsgehalt; das hat Jan-Marco Luczak wirklich gut auf den Punkt gebracht. Außerdem hat der Umgang mit ihnen einen enthemmenden Charakter. Er ist der Einstieg in echten Missbrauch. Das müssen wir anerkennen, dagegen müssen wir etwas tun. ({5}) Und im ganzen Bereich des Verfahrens – bei den Verfahrensbeiständen, den Familienrichtern – brauchen wir wirkliche Experten, die wissen, wie sie bei einer Vernehmung mit den Kindern sprechen können, die psychologische Kenntnisse und Kenntnisse über die Verfahren haben, über all das, was in diesem hochkomplexen Bereich dahintersteht. Deshalb ist auch das ein sehr wichtiger Schritt in diesem Gesetz und eben nicht nur Symbolpolitik. Frau Baerbock und Frau Harder-Kühnel, wenn man sich mit Experten unterhält, ({6}) mit denjenigen, die mit den Betroffenen arbeiten, hört man, dass diese sagen: Man sollte nicht – wie Sie das gemacht haben, Frau Baerbock – von einem „zerstörten Leben“ oder von einem „Mord an Kinderseelen“ sprechen. ({7}) – Doch, Sie haben gesagt: „zerstörtes Leben“; ich habe es mir aufgeschrieben. Wir können im Protokoll gerne nachschauen. ({8}) Es gibt auch nach diesen abscheulichen Taten immer noch die Chance auf ein gelingendes Leben. ({9}) Und unsere Aufgabe ist doch, dieses gelingende Leben zu ermöglichen und ihnen zu helfen. Deshalb arbeiten wir nicht nur mit Strafbarkeit. Sie haben wichtige Punkte angesprochen. Das Thema Traumaambulanzen haben wir im Sozialen Entschädigungsrecht verankert. Wenn die Länder im nächsten Jahr flächendeckend Traumaambulanzen auf den Weg bringen, dann erwarte auch ich, dass dort speziell auf die Bedürfnisse von Kindern geachtet wird, dass dort Kinderpsychologen zum Einsatz kommen. Das erwarte auch ich, da sind wir einer Meinung. Deshalb ist auch das ein wichtiger Punkt, den wir ins Gesetz geschrieben haben, den wir im vergangenen Jahr bereits umgesetzt haben. Wir haben vieles auf den Weg gebracht, zum Beispiel die Kinderschutzhotline. Heute können sich Kinderärzte, wenn sie einen solchen Fall haben, sich aber nicht ganz sicher sind, an die Hotline wenden und sich beraten lassen. Sie bekommen dort eine ganz qualifizierte Auskunft. Diese Kinderschutzhotline für die Ärzte haben wir als Union auf den Weg gebracht. So viel zum Thema, wir wollen nur die Strafen erhöhen. Wir haben diese Hotline auf den Weg gebracht. Sie ist mittlerweile ausgezeichnet worden von der OECD als weltweites Leuchtturmprojekt. Wir planen nicht nur, die Laufzeit dieser Hotline von Professor Fegert zu verlängern, sondern das Projekt zu erweitern, damit auch Mitarbeiter in den Jugendämtern dort anrufen können und qualifizierte, gute Beratung bekommen, wie sie einen solchen Fall bewerten und damit umgehen können. Ich könnte noch ganz viele weitere Punkte nennen. Leider ist meine Redezeit jetzt vorbei. Aber ich empfehle Ihnen einen Blick in unsere zwei Positionspapiere: das eine vom letzten Jahr, das andere von diesem Jahr. Da kommen die Themen Prävention und Hilfe genauso vor wie das Thema Strafbarkeit. Ich kann Ihnen sagen: Etliche Punkte, die wir letztes Jahr gefordert haben, haben wir bis heute schon umgesetzt, in allen Bereichen. – Deshalb sind zahlreiche Unterstellungen des heutigen Tages wirklich infam. Das weise ich von mir. Wir sind die Fraktion, die sich diesem Thema ganzheitlich widmet – mit Erfolg und mit konkreten Ergebnissen. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben einen Antrag der AfD auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, die Coronapandemie betreffend, vorliegen. Dieser Antrag ist abzulehnen, weil er unzulässig, unzumutbar und widersprüchlich ist. ({0}) Er ist unzulässig, weil er in einer Art und Weise gestellt ist, dass er aus verfassungsrechtlichen Gründen hier nicht beraten werden kann. Warum ist das so? Es ist ein Grundsatz, dass wir als Deutscher Bundestag eine Untersuchungskompetenz nur für abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit haben. Die Unzulässigkeit ist diesem Antrag schon auf die Stirn geschrieben; denn wenn man sich umschaut, dann ist weder in Deutschland noch in Europa noch weltweit die Coronapandemie abgeschlossen. Wir sind gerade in einer neuen Phase der Instrumente zur Bekämpfung dieser Pandemie, und deshalb können wir diesem Antrag schon vom Grund her nicht zustimmen. Er genügt nicht grundlegenden juristischen Anforderungen. Das betrifft aber nicht nur den Antrag in seiner Gänze, sondern es gibt eine Reihe von Fragen, die gegen diesen Grundsatz verstoßen. Dieser Antrag ist zudem auch unzumutbar. ({1}) Er ist deshalb unzumutbar – das wissen wir von Untersuchungsausschüssen –, weil wir eine Fülle von Akten herbeiziehen müssen, weil wir viele Behörden, viele Mitarbeiter sehr intensiv mit diesen Sachverhalten beschäftigen müssen. Es wären genau die Mitarbeiter, die gerade im Kampf gegen diese Pandemie gebraucht werden, die damit beschäftigt wären. Ich halte das nicht nur für unzumutbar, sondern sogar für gefährlich. ({2}) Deshalb sage ich: Wir müssen die Gesundheitsämter vor der AfD schützen. ({3}) Aber, meine sehr geehrten Damen, meine Herren, dieser Antrag ist auch widersprüchlich. ({4}) Dieser Antrag ist auch widersprüchlich, und das ist eine sehr vorsichtige und vielleicht vornehme Bewertung. Sie rekurrieren in Ihrem Antrag in vielen Fragen angeblich darauf, dass das wissenschaftsbasiert sei, dass das an sachlichen Erwägungen ausgerichtet sei, dass Sie sich um Fakten bemühten. Gleichzeitig formulieren Sie eine Frage 50, ({5}) in der Sie nach Kontakten der Bundesregierung zu Bill Gates und Inhalten dieser Gespräche fragen, und Sie bedienen damit platteste Verschwörungstheorien. Ich sage nur: Pfui, schämen Sie sich dafür! ({6}) Wenn wir über Verschwörungstheorien reden – und Sie sind ja Experten für Verschwörungstheorien –, dann sollten Sie vielleicht mal über das nachdenken, was Ihr ehemaliger Pressesprecher Lüth gesagt hat, ein enger Vertrauter Ihres Fraktionsvorsitzenden: Wenn es Deutschland schlecht geht, geht es der AfD gut. – Das ist Stoff für Verschwörungstheorien, sage ich an die Experten auf dieser Seite einmal gerichtet. ({7}) – Ich bin noch nicht ganz fertig mit diesem Thema. Ja, sie werden noch viel aufgeregter sein. ({8}) Heute Morgen hat der Fraktionsvorsitzende Gauland dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben, und er ist gegen Ende des Interviews mit einem Interview des Kollegen der AfD Müller konfrontiert worden, der im Mai diesen Verschwörungstheorien von Bill Gates im ZDF ja breiten Raum gegeben hat. ({9}) Der Fraktionsvorsitzende Gauland hat sich geweigert, die Frage zu beantworten, weil er gesagt hat: allenfalls eine Einzelmeinung. – Herr Gauland, schauen Sie sich das Rubrum Ihres Antrags an, zu dem Frage 50 gehört! Über 30 Abgeordnete Ihrer Fraktion haben das gezeichnet, und es steht darunter: Fraktion der AfD. Das, was Sie hier betreiben, ist unehrlich, ist unseriös. Sie haben heute Morgen im Interview nicht die Wahrheit gesagt. Sie sind hier Verbreiter von Verschwörungstheorien. ({10}) Deshalb, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diesen Antrag können wir nicht mittragen, diesen Antrag werden wir nicht mittragen. ({11}) Gleichwohl gibt es natürlich Fragen, die wir im Zusammenhang mit der Coronapandemie angehen müssen. Natürlich gibt es die Fragen: Waren wir richtig vorbereitet? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Gesundheitspolitik haben wir gewonnen? Wir werden die Frage beleuchten müssen, ob wir auch verfassungsrechtlich auf einen solchen Notstand vorbereitet waren, die Frage der dauerhaften Funktionsfähigkeit des Bundestages und, und, und … Das ist eine breite Palette von Fragen, denen wir uns in der Tat widmen müssen. Aber die Frage ist doch: Mit welchem Instrument tun wir das, und zu welchem Zeitpunkt tun wir das? Und da kann ich nur sagen: Das kann man nur in einer Gesamtbetrachtung machen. Dazu müssen wir die großen Wellen, die diese Pandemie noch schlägt, überwunden haben; dafür brauchen wir Zeit, und wir brauchen ein anderes Instrument, nicht das Instrument eines Untersuchungsausschusses, sondern viel eher das Instrument einer Enquete-Kommission, in der es wirklich um Aufklärungsinteresse geht. Sie, meine Damen, meine Herren von der AfD-Fraktion, haben überhaupt kein Aufklärungsinteresse. Ihnen liegt gar nichts daran, das zu beleuchten. Sie bedienen hier platteste Verschwörungstheorien, nicht mehr und nicht weniger, und deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Seitz, AfD. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Meinung der Kanzlerin bedroht Corona unser aller Leben; aber der Ausnahmezustand hat noch Zeit bis Montag. – Dieser offensichtliche Widerspruch ist symptomatisch für das schlimmste Regierungsversagen in der Geschichte der Bundesrepublik. ({0}) Als Ende 2019 die ersten Coronafälle bekannt wurden, blieb die Bundesregierung untätig, ({1}) anstatt das Gesundheitssystem auf eine mögliche Pandemie vorzubereiten. ({2}) Schutzmittel, die später in Deutschland nicht mehr verfügbar waren, gingen ins Ausland. Als im Januar 2020 die ersten Fälle in Deutschland auftauchten, verneinte die Bundesregierung eine Gefahrenlage. Minister Spahn wiegelte ab: Corona ist nicht schlimmer als eine Grippe. – Wir als AfD wurden im Bundestag für die Forderung nach Einreisebeschränkungen ausgelacht. In der zweiten Phase, Mitte März, machte die Bundesregierung eine panische 180-Grad-Wende. Frau Merkel sprach plötzlich von der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Statt Untätigkeit gab es nun hektischen und panischen Aktionismus. Verspätet und vor allem nicht zielgenau im Hinblick auf Risikogruppen wurde der Ausnahmezustand über das Land verhängt. Große Teile der Wirtschaft und Gesellschaft wurden abgeschaltet, eine Absurdität folgte der nächsten. Während es plötzlich innerdeutsche Grenzen wie zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein gab, durften Flugzeuge aus Risikogebieten wie China und dem Iran weiterhin unkontrolliert in Deutschland landen. Kurioserweise wurden die deutschen Außengrenzen geschlossen, obwohl das seit 2015 angeblich nicht möglich war. ({3}) Die Berufs- und Gewerbefreiheit litt unter massiven Eingriffen, und an Ostern blieben die Kirchen zwangsweise leer. In der dritten Phase wurden trotz Kurzarbeit in unzähligen Krankenhäusern die politischen Maßnahmen verschärft. Das Recht auf Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt, Abstandsregeln galten nur dann, wenn gegen und nicht für die Regierung demonstriert wurde. Und um zu verschleiern, dass der überwiegende Teil der wirtschaftlichen Schäden auf Versäumnisse der ersten Monate und den in Panik verhängten Lockdown, nicht aber auf das Virus zurückzuführen ist, wurde den Bürgern weiter Angst eingejagt und eine Maske verordnet, eine Maske als Symbol des Gehorsams vor der Regierung. ({4}) Jetzt ist der zweite Lockdown da, der Lockdown light oder der Wellenbrecher-Shutdown. – Ach, nennen Sie es doch, wie Sie wollen. Ich sage lieber Ausnahmezustand, damit die Bürger wissen, worum es geht. Die Grundrechte werden teilweise außer Kraft gesetzt, und keiner weiß, wie lange es dauert. Bisher ist es nur eine Diktatur light, mit der ganze Wirtschaftszweige ins Aus oder in die Verstaatlichung getrieben werden. Wer hat nicht alles vor dem neuerlichen Kahlschlag gewarnt? Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der Deutsche Hotel- und Gastronomieverband, der Handelsverband Deutschland und jetzt sogar die WHO. Aber vielleicht sind das auch alles nur Rechtspopulisten wie die AfD. ({5}) Umso wichtiger ist es, dass heute der Untersuchungsausschuss „Corona“ beschlossen wird, heute, am Tag 25 der Maskendiktatur im Bundestag; denn es wird auch eine dritte, vierte und fünfte Welle geben, und bis dahin muss das Regierungsversagen der ersten Welle geklärt sein. ({6}) Das ist eben der abgeschlossene Sachverhalt, den Sie wollten. Wir fordern, dass Maßnahmen evaluiert und differenziert betrachtet werden. Aber genau das wollte und will die Regierung nicht und ignoriert lieber Gerichtsurteile, die unverhältnismäßige Verbote einkassierten. Gerade Hotellerie und Gastronomie haben die vorangegangenen Maßnahmen unter großem materiellen und persönlichen Einsatz mitgetragen und werden jetzt von Frau Merkel zum Sündenbock gemacht, wofür nicht einmal das RKI Anhaltspunkte sieht. Ich habe vorher gewettet, dass zur Ablehnung unseres Antrags natürlich das Stichwort „Verschwörungstheorie“ fällt. Richtig: eine Frage von 57. Und ja, die Frage nach Bill Gates mag Gegenstand solcher Theorien sein. Aber wo ist denn Ihr Problem? Gibt es nichts zu verbergen, dann kann man das doch klären. ({7}) Wäre es denn nicht viel schlimmer, wenn wir unterstellten, dass die Altparteien den Einsatz bewaffneter Hilfssheriffs oder die – zumindest zeitweilige – Aussetzung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung planen? Meine Damen und Herren, Vertreter nahezu aller Fraktionen haben darüber geklagt, dass das Parlament übergangen wird. Lassen Sie uns dem Parlament wieder Gehör verschaffen. Unser Antrag gibt Ihnen heute vielleicht die letzte Chance dazu, bevor in Deutschland die Lichter ausgehen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Amalie Steffen, SPD. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Seitz, ich spare mir an dieser Stelle jetzt ein Eingehen auf Ihre Rede; vielleicht mache ich das später. ({0}) Ich möchte nämlich da ansetzen, wo Herr Schnieder vorhin aufgehört hat. Denn es ist ja völlig richtig: Wir Mitglieder des Bundestages müssen uns in der Tat die Frage stellen, wie wir zukünftig mit notwendigen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Coronapandemie umgehen wollen, vor allem, wer innerhalb unserer Staatsgewalt die Entscheidungskompetenz haben muss: Bundestag, Bundesregierung, Bundesminister/Bundesministerinnen, Ministerpräsidenten/Ministerpräsidentinnen, Länderparlamente? Dass wir in der Vergangenheit Entscheidungen der Bundesregierung und den Landesregierungen überlassen haben, war richtig. Denn es mussten in kürzester Zeit erhebliche, wichtige und schnelle Regelungen erfolgen. Aber inzwischen beschweren sich viele Bürgerinnen und Bürger völlig zu Recht über die Uneinheitlichkeit der Regelungen, wie zuletzt bei den Beherbergungsverboten. Außerdem verlangen die Menschen völlig zu Recht, dass die Schutzmaßnahmen nachvollziehbar, schlüssig und verhältnismäßig sind. Es ist schlichtweg unerfreulich, dass Verwaltungsgerichte überall im Bund Coronamaßnahmen kippen müssen, weil sie nicht nachvollziehbar begründet waren, weil sie zu unbestimmt waren und weil sie unverhältnismäßig waren. Wir brauchen also klarere und einheitlichere Regelungen, und wir brauchen jetzt eine stärkere Beteiligung des Deutschen Bundestages. ({1}) Entscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, über wesentliche Grundrechtseingriffe und über die großen Linien der Coronapolitik müssen dem Parlament vorbehalten bleiben. Es bedarf also zukünftig konkreter rechtlicher Rahmenbedingungen, Bedingungen, die der Bundesregierung und den Landesregierungen vorgeben, welche Schutzmaßnahmen unter welchen Voraussetzungen ergriffen werden können und wo die Grenzen erreicht sind und der Bundestag entscheiden muss. Ja, darüber müssen wir in der Tat reden. Liebe Kollegen, ich freue mich, dass die SPD-Bundestagsfraktion mehr Parlamentsbefugnisse, mehr Einheitlichkeit und mehr Rechtssicherheit im Krisenmanagement fordert. ({2}) Aber jetzt zu Ihrem Antrag. Sie von der AfD zeigen mit Ihren Anträgen, dass Sie das parlamentarische Geschäft nicht verstehen oder – noch schlimmer – für Ihre Zwecke missbrauchen. Herr Seitz, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie Wetten abgeschlossen haben. Das lässt ja an der Stelle schon tief blicken. ({3}) Die AfD-Fraktion will, dass der Bundestag mehrheitlich feststellt, dass er das Infektionsschutzgesetz für verfassungswidrig hält. Man muss sich noch einmal genau verinnerlichen, was das bedeuten soll: Ein Parlament, das sein eigenes Gesetz für verfassungswidrig hält, müsste doch dieses Gesetz ändern oder aufheben ({4}) und dürfte nicht zum Bundesverfassungsgericht laufen. Das müssten Sie wissen; es sitzen auch Juristen bei Ihnen. Die müssten zumindest im ersten Semester Staatsrecht irgendwie mal ein bisschen aufgepasst haben. Außerdem soll der Bundestag – und jetzt wird es völlig verquarzt – laut AfD-Antrag mehrheitlich begrüßen, wenn genügend Abgeordnete eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht anstoßen würden. ({5}) Das ist wirklich schon ziemlich verquarzt, was Sie da fordern. Für eine Normenkontrolle braucht man ein Viertel der Mitglieder des Bundestages – das wissen wir alle –, und das sind 178 Abgeordnete; das haben Sie ganz richtig gerechnet. Daran fehlt es Ihnen aber. Deshalb brauchen Sie Unterstützung aus anderen Fraktionen. Wenn Sie die finden sollten – was ich übrigens nicht glaube –, dann können Sie ja Ihren Antrag beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Wenn Sie die aber nicht finden sollten – was ich wiederum glaube –, dann können Sie dieses Verfahren eben nicht in Gang setzen. So ist das, wenn man in der Opposition ist und halt nicht ein Viertel der Abgeordneten des Bundestages stellt. ({6}) Das mag Ihnen bitter erscheinen; aber das müssen Sie so hinnehmen. Da hilft kein Antrag im Plenum. Da hilft es übrigens auch nicht, Herr Brandner, wenn Sie E-Mails an alle verschicken und für den Antrag werben. Nein, der Bundestag ist schließlich kein Klinkenputzerverein. Also: Missbrauchen Sie uns nicht dafür. Zum Schluss noch ein paar Worte zum Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, aber ganz kurz.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– ja –: falsches Instrument zum falschen Zeitpunkt. Ich bin überzeugt davon, dass Sie keine Mehrheit hier in diesem Bundestag für den Untersuchungsausschussantrag finden werden. Er ist unseriös, und – Herr Seitz, jetzt hören Sie es noch mal – er bietet eine Plattform für die Verbreitung von finsteren Verschwörungstheorien. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katrin Helling-Plahr, FDP, ist die nächste Rednerin. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, eine breite Mehrheit des Hauses diskutiert darüber, wie wir am besten durch die Krise und aus der Krise kommen und die Gesundheit der Menschen wie auch wirtschaftliche Existenzen sichern. Einige der Maßnahmen, die am Montag in Kraft treten werden, finde ich, finden wir Freie Demokraten falsch; denn sie sind nicht zielgenau und unverhältnismäßig. Branchen, die schon im Frühjahr massiv gelitten haben, gemacht, getan, geplant und investiert haben, um Hygiene und Abstände sicherzustellen, die nachweislich keine Superspreader sind, schauen in die Röhre. Aber: Die Mehrheit des Hauses ringt ehrlich um die richtigen Maßnahmen. Sie, meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, stellen hier Schaufensteranträge zur Debatte, um kruden Verschwörungstheorien weiteren Aufwind zu verschaffen, die Akzeptanz der sinnvollen Maßnahmen wie der „AHA+L+C“-Regeln – Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmaske tragen, Lüften, Corona-App nutzen – zu unterminieren und vielleicht ein, zwei Pünktchen in Umfragewerten zuzulegen. Ihnen geht es nicht um Aufklärung. ({0}) Der Preis: Menschenleben und mit der durch Sie beförderten weiteren Zirkulation des Virus auch noch mehr Belastung der Wirtschaft. ({1}) Meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, die meisten von Ihnen sind ja nicht dumm, ({2}) sondern skrupellos und berechnend. ({3}) Sie wissen, was ein Untersuchungsausschuss leisten kann und was nicht. Sie wissen, dass ein Untersuchungsausschuss nur tragfähig sein kann, wenn er einen abgeschlossenen Lebenssachverhalt zum Gegenstand hat. Wir befinden uns derzeit aber bekanntlich leider noch mitten in der Pandemie. Es geht Ihnen aber ja auch gar nicht darum, herauszufinden, was man hätte besser machen können, um daraus für die Zukunft zu lernen. Nein, Sie wollen Futter bieten für die Aluhüte in Ihren Reihen. Ihnen geht es um die Schlagzeile, mehr nicht. Das ist unverantwortlich! ({4}) Es gilt jetzt erst einmal, um die bestmögliche Bewältigung der Pandemie zu ringen und der Bundesregierung aufzuzeigen, was so nicht geht – mit aller Energie, und zwar hier im Parlament in breiten öffentlichen Debatten. ({5}) Die Zeit für eine Nachlese wird kommen, und die Aufarbeitung wird Zeit in Anspruch nehmen. Auch deshalb wäre ein Untersuchungsausschuss zum jetzigen Zeitpunkt blanker Unfug. Denn Sie wissen genauso gut wie ich, dass er mit der Bundestagswahl im kommenden Jahr der Diskontinuität zum Opfer fallen würde. Ein Untersuchungsausschuss gilt als das schärfste Schwert der Opposition, wird bisweilen als „Kampfinstrument“ betitelt. Sehr geehrte Damen und Herren von der AfD-Fraktion, Sie wollen nur Messer wetzen. ({6}) Darum geht es nicht. Wir brauchen konstruktive Oppositionsarbeit. Wir Freie Demokraten möchten, dass wir das Thema verantwortlich aufarbeiten und Lehren daraus ziehen, um uns auf künftige Pandemien bestmöglich vorzubereiten. Dass Fehler passiert sind, dass einiges nicht gut gelaufen ist in der bisherigen Bekämpfung der Pandemie, ist offenkundig, wenn man an das Bestellchaos bei den Masken oder Beatmungsgeräten denkt oder an den konfusen Umgang mit den Reiserückkehrern im Sommer oder an die sinnlosen Beherbergungsverbote oder, oder, oder … Das sollten wir aufarbeiten, um in der Zukunft besser vorbereitet zu sein. Das richtige Instrument, wenn man tatsächlich konstruktiv arbeiten und Erkenntnisse gewinnen will, wäre eine Enquete-Kommission, die es zu Beginn der nächsten Wahlperiode einzusetzen gilt. Dafür werden wir uns einsetzen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat, Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD hat zwei Anträge vorgelegt: Sie wollen einen Untersuchungsausschuss zur Coronapandemie, außerdem haben Sie einen Normenkontrollantrag vorgelegt. ({0}) Ich bin der Auffassung, dass Parteien wie die AfD, die die Gefahren des Coronavirus leugnen, Verschwörungstheorien verbreiten und einen auf Donald Trump machen, überhaupt nicht mehr ernst genommen werden können. Wir sollten über den Unsinn, den Sie fordern, nicht mehr reden. ({1}) Ich habe mich dennoch durch Ihre 57 Fragen gequält, deren Beantwortung Sie als Untersuchungsauftrag wollen; wobei man eigentlich nicht davon reden kann, dass Sie einen Untersuchungsauftrag formulieren. Wenn Sie etwa in Frage 1 wissen wollen, wann die Bundesregierung über die Ausbreitung des Coronavirus informiert war, dann kann ich nur sagen: Fragen Sie sie doch! Dafür brauchen wir keinen Untersuchungsausschuss. ({2}) Dann fragen Sie, warum die Bundesregierung auf Professor Drosten hört und nicht auf die kleine Minderheit der Wissenschaftler, die das Coronavirus für weniger gefährlich halten. ({3}) Ich mache mal den Erklärbär für die AfD: Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss hat die Funktion, Beweise zu erheben. Der Job des Untersuchungsausschusses ist es nicht, zu prüfen, welche naturwissenschaftliche Auffassung die richtige ist. Zum Glück leben wir nicht in einem Land, in der Parlament oder Regierung Wissenschaft bewerten. ({4}) Bei Ihren Fragen darf natürlich auch Bill Gates nicht fehlen. Vergessen Sie bitte nicht, den Aluhut aufzusetzen. ({5}) Zu Ihrem Normenkontrollantrag. Vorweg: Wir als Linke kritisieren, dass die Coronamaßnahmen fast im Alleingang von der Exekutive beschlossen werden. Wir wollen, dass die Coronamaßnahmen hier im Parlament diskutiert und entschieden werden. ({6}) Wenn es der AfD wirklich um die Sache gehen würde, dann könnten Sie doch direkt gegen die Landesverordnungen vorgehen. In fast allen Bundesländern kann man per Normenkontrollantrag vor den Oberverwaltungsgerichten die jeweiligen Landesverordnungen – und die sind ja das besonders Streitige – überprüfen lassen. Meine Damen und Herren, die AfD stellt sich hier als Bewahrer der Grundrechte in der Coronakrise hin. ({7}) Das ist schon deshalb unglaubwürdig, weil Sie etwa Migranten nicht einmal Menschenwürde zubilligen. Nein, Sie wollen sie sogar vergasen, wie Ihr ehemaliger Pressesprecher sagte. Zudem geht es Ihnen heute auch gar nicht um Grundrechte. Sie wollen die Coronaleugner als neue Wählerschicht gewinnen, Leute, die versucht haben, dieses Hohe Haus zu stürmen. Sie sind deren verlängerter parlamentarischer Arm. Schämen Sie sich dafür! ({8}) Aber nicht einmal den Coronaleugnern gegenüber sind Sie ehrlich. Am Anfang der Pandemie forderten AfD-Chef Meuthen und Ihre Fraktionschefin Weidel die Bundesregierung auf, ordentlich durchzugreifen. ({9}) Frau Weidel warf Herrn Spahn unverantwortliche Verharmlosung vor. Und jetzt, wo die Coronaleugner etwas Zulauf haben, sind Sie plötzlich gegen die Coronamaßnahmen. Ja, das ist an Peinlichkeit und Unglaubwürdigkeit wirklich nicht mehr zu überbieten. ({10}) Danke schön. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gefahr durch Covid-19 ist ernst. Wir müssen und wir können jetzt verhindern, dass unser Gesundheitssystem kollabiert. Wir müssen und wir können solidarisch durch diese Krise kommen, und wir brauchen jeden konstruktiven Beitrag zur Lösung dieser Krise. ({0}) Wir Grüne sind konstruktiv. Wir regieren in vielen Bundesländern mit. Wir tragen die Verantwortung auch mit. Wir haben die harten Entscheidungen im Frühjahr mitgetragen, und wir sind auch jetzt der Auffassung, dass es eine deutliche und schnelle Verringerung der Kontakte braucht. Wir drücken uns nicht, wenn es darum geht, einschneidende Maßnahmen zu erklären und auch zu verteidigen. Dass anders als im Frühjahr jetzt die Sicherung der Beschulung und Kinderbetreuung im Mittelpunkt steht, dafür haben wir Grüne von Anfang an gekämpft. ({1}) Aber wir sind in einer Frage ganz klar: Wir brauchen dringend die Beteiligung der Parlamente und eine hinreichende parlamentarische Grundlage für derart einschneidende Grundrechtseingriffe. ({2}) Das ist im achten Monat der Pandemie eben keine kleinliche Förmelei mehr. Die Verordnungsermächtigungen im Infektionsschutzgesetz sind nicht hinreichend bestimmt, um erneute wochenlange Beschränkungen zu rechtfertigen. Wenn wieder Einschränkungen verhängt werden müssen – und das ist hart genug –, dann werden auch wir uns als Gesetzgeber mit der Frage der Entschädigung befassen müssen. Auch das kann man nicht einfach im Haushalt regeln. ({3}) Gerade wer zu bundeseinheitlichen, für Bürgerinnen und Bürger berechenbaren Regelungen kommen will, der braucht eine parlamentarische Grundlage. Ein Weiter-so allein über den Verordnungsweg wird die Gerichte zwingen, Maßnahmen wegen mangelnder Gesetzesgrundlage von Fall zu Fall wieder aufzuheben, und das wollen wir alle nicht. ({4}) Infektionseindämmung und Wahrnehmung des Parlamentsvorbehalts sind keine Gegensätze; sie gehören zusammen. Frau Helling-Plahr, ich finde, es ist ein Fortschritt, dass die FDP in dieser Woche einen Antrag dazu eingebracht hat, der diskussionswürdig ist; denn noch vor Kurzem wollte die FDP das Problem der parlamentarischen Legitimation mit der Axt lösen. Der Bundestag sollte feststellen, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite erledigt ist. Sie haben es eben selber gesagt – und ich gebe Ihnen recht –: Das war falsch. Wir sind mitten in der Pandemie. Die Einschätzung ist leider widerlegt. ({5}) Ihr Vorschlag damals hatte auch einen fundamentalen Denkfehler. Auch die FDP hat damals die Wahrung der Grundsätze der Gewaltenteilung faktisch unter den Vorbehalt eines Endes der Krise gestellt. Das ist ein äußerst gefährlicher Gedanke. ({6}) Das Grundgesetz gilt nicht nur bei schönem Wetter, es bewährt sich gerade in der Krise. ({7}) Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat in der vergangenen Woche die Mahnungen von Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtlern und unsere Impulse aus der Opposition für ein schnelles und dennoch legitimierendes Entscheidungsverfahren in den Parlamenten aufgegriffen; vielen Dank dafür. Ich hatte die Hoffnung, dass sich der exekutive Profilierungsrausch der Koalition vom Frühjahr, der bei der Union wohl genauso viel mit Corona wie mit der offenen Führungsfrage zu tun hat, gelegt hat.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Helling-Plahr?

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, gerne. – Frau Kollegin.

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, stimmen Sie mit mir überein, dass ich nicht gesagt habe, wir hätten uns in der Vergangenheit falsch verhalten, hätten etwas Falsches beantragt, und dass wir auch zu keinem Zeitpunkt in der Vergangenheit gesagt haben, die Pandemie oder eine pandemische Lage wäre vorbei, sondern dass es etwas diametral anderes ist, auf der einen Seite die pandemische Lage von nationaler Tragweite, wie wir sie als Rechtskonstrukt geschaffen haben, abzuschaffen und auf der anderen Seite über die pandemische Lage in unserem Land zu reden?

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich stimme Ihnen zu, dass Sie nicht gesagt haben, dass Sie in der Vergangenheit etwas Falsches beantragt haben. Das habe ich gesagt, ich habe das aufgeklärt. ({0}) Es ist so, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite in § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes, die zu viel zu weitgehenden Verordnungsermächtigungen des Bundesgesundheitsministers führt, gerade nicht diesen Teil betrifft, über den wir mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutieren. Da geht es um Fragen wie „Haben wir ein nationales Intensivbettenregister?“, um all diese Fragen, die jetzt wieder virulent sind, da es um unsere Krankenhauskapazitäten geht. An der Stelle muss ich sagen: Sie finden das, was Sie da beantragt haben, nicht falsch; ich glaube, es war ein großer Fehler. ({1}) – Nein. Frau Helling-Plahr würde ich nie was Falsches unterstellen. ({2}) Frau Helling-Plahr hat richtigerweise gesagt, dass wir jetzt noch mitten in der Pandemie sind. Sie hat damit gezeigt, dass sie und, wie ich denke, die ganze FDP-Fraktion in den letzten Wochen gelernt haben, was ich sehr lobe; das finde ich gut. ({3}) Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat Vorschläge vorgelegt. Ich habe es schon gesagt: Ich danke ihm sehr dafür. Ich hatte die Hoffnung, dass sich bei der Koalition der Profilierungsrausch vom Frühjahr gelegt hat. Ich habe auch gehofft, dass die Vorschläge von Wolfgang Schäuble auf offene Ohren stoßen, auch in seiner eigenen Fraktion. In der Rede von Herrn Schnieder eben hörte sich das ein bisschen so an. Aber gestern habe ich Ihren Fraktionsvorsitzenden hier gehört. Im Monat acht der Pandemie stellte sich Ihr Fraktionsvorsitzender hierhin und machte sich letztlich über dieses Ansinnen, über diese Kritik an den brüchigen rechtlichen Grundlagen lustig. ({4}) Ich finde, diese Mischung aus Hochmut und Borniertheit ist eines Parlamentariers in Fragen der Gewaltenteilung nicht würdig. ({5}) Sie schädigt das Vertrauen der Bevölkerung in politische Entscheidungen, und sie schadet damit dem Ziel, gemeinsam durch die schweren Wochen zu kommen, die noch vor uns liegen. Ich appelliere deshalb dringend an Sie, an die Koalition: Kommen Sie herunter von Ihrem hohen Ross! Nutzen Sie die parlamentarische Entscheidung als Chance, besser zu werden! Da ist auch bei Ihnen noch Luft nach oben. Dass eine zweite Infektionswelle wahrscheinlich ist, haben viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frühzeitig gesagt. Sie haben auch gesagt, dass wenige Wochen später die Krankenhauskapazitäten knapp werden. Die Abgeordneten der AfD haben monatelang das Risiko einer zweiten Welle geleugnet, Wissenschaftler auf inakzeptable Weise angegriffen und ihre Warnungen verhöhnt. Genau diese Warnungen haben sich jetzt als richtig erwiesen. Das wäre der Moment, in dem einem ein Licht aufgehen könnte, ({6}) in dem man sich vielleicht sogar entschuldigen könnte. Bei normalen Leuten könnte man das erwarten. Dass Ihr Untersuchungsausschuss über Verschwörungstheorien das Letzte ist, was uns jetzt weiterhilft, haben die Kollegen ausführlich gewürdigt. Sie wollen einen Untersuchungsausschuss einrichten, der nachweisen soll, dass Vorkehrungen gegen die Pandemie jede Grundrechtseinschränkung hätten verhindern können. Und gleichzeitig leugnen Mitglieder Ihrer Partei und Ihrer Fraktion zuhauf, dass es diese Pandemie überhaupt gibt. Es tut mir leid, aus diesem Irrsinn kann Ihnen kein Untersuchungsausschuss heraushelfen. Ein Untersuchungsausschuss ist nämlich keine therapeutische Sitzgruppe. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Professor Dr. Patrick Sensburg hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März dieses Jahres haben Bundestag und Bundesrat nach breiter Diskussion das Infektionsschutzgesetz geändert. In den vergangenen Monaten – nach März – waren das Thema Corona und natürlich auch die Rolle des Parlaments Gegenstand von rund 70 Debatten hier im Deutschen Bundestag. Man kann erkennen: Wir sind arbeitsfähig. Wir haben uns so organisiert und aufgestellt, dass Ausschusssitzungen, Plenarsitzungen, Abstimmungen und auch Wahlen und die Diskussionen in den Fraktionen hier stattfinden können. Auch das ist ein Zeichen dafür: Trotz der schweren Lage ist das Parlament arbeitsfähig. Und das ist gut so. Wir haben auch in der öffentlichen Debatte im Diskurs natürlich ganz unterschiedliche Meinungen zum Infektionsschutzgesetz vernommen. Wer den Rechner anwirft oder juristische Debatten nachvollzieht, sieht, wie viele unterschiedliche Meinungen es zum Infektionsschutzgesetz gibt. Nicht nur der Bundestag, sondern auch der Bundesrat müsse die epidemische Lage beschließen, wird einerseits vertreten. Demgegenüber wird angeführt, dass gerade das von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz die Beschlussfassung durch den Bundestag vorsieht. Andere Meinungen besagen, dass die Mehrzahl der in § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes aufgezählten Punkte eine eher geringe Intensität haben, was den Grundrechtseingriff betrifft, zum Beispiel, wenn Reisende, wie es unter Nummer 1 Buchstabe a heißt, ihre Identität, ihre Reiseroute und ihre Kontaktdaten angeben müssen oder – Nummer 1 Buchstabe b – Bescheinigungen vorlegen müssen. Das ist übrigens in vielen Ländern seit Jahren ganz normale Praxis. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, sich dagegen wenden, dass Kontaktdaten, Reisedaten und die Identität bei Einreise angegeben werden sollen, verstehe ich nun gar nicht; aber Ihre Anträge muss man auch nicht verstehen. Einige führen an, die unter § 5 Absatz 2 Nummer 3 und 4 Infektionsschutzgesetz aufgeführten Punkte seien nicht hinreichend konkret. Das veranlasst andere, zu sagen: Nein, mit den Regelungen werden Kompetenzen in genau dem Maße an die Exekutive delegiert, wie das in diesem Bereich notwendig ist. Sie sehen also: Es gibt eine ganz, ganz rege Diskussion. Dass auch wir hier im Parlament intensiv hinschauen, wenn es um wesentliche Entscheidungen geht, die vom Bundestag zu treffen sind, das hat, glaube ich, die Debatte in dieser Woche ganz deutlich gezeigt. Das zeigt auch das Schreiben des Bundestagspräsidenten Dr. Schäuble, und das hat auch die Kollegin Steffen eben deutlich angeführt. Deswegen kann ich, Frau Kollegin Rottmann, die Kritik am Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion so wirklich nicht nachvollziehen; ich muss sie zurückweisen. ({0}) Wir in der Fraktion diskutieren intensiv, natürlich auch über Schreiben und Meinungen unseres Bundestagspräsidenten. ({1}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, um diese ganze Diskussion geht es in Ihren Anträgen nicht. Zum Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses haben meine Vorredner schon sehr viel gesagt. Er ist überhaupt nicht zulässig, weil er gar keinen abgeschlossenen Lebenssachverhalt betrifft. Zu vielen anderen Punkten könnte man auch noch etwas sagen. Ich möchte aber auf Ihren zweiten Antrag eingehen. Der Antrag zielt eigentlich darauf, etwas zu begrüßen. Das ist ein Begrüßungsantrag, wenn man Ihren Antrag wörtlich nimmt. Er geht vielleicht als zulässig durch, hat aber in der Sache keine Aussicht auf Erfolg, und er ist auch unsinnig. Meinen Sie, dass die Mehrheit im Bundestag Ihrem Antrag zustimmt, wenn noch nicht mal 25 Prozent des Hauses diesen Antrag unterstützen? Das ist wirklich illusorisch. ({2}) Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages – das sollten Sie wissen; das steht in Artikel 93 Grundgesetz – können diesen Antrag stellen. Warum tun Sie das nicht? Warum stellen Sie stattdessen einen Antrag zu etwas, was Sie begrüßen wollen, und das auch noch mit einer namentlichen Abstimmung? Das ist nach meiner Meinung Missbrauch. ({3}) Das schwächt die Rechte des Parlaments. Man kann nicht nachvollziehen, was Sie hier machen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger draußen werden nicht verstehen, warum Sie einen Antrag stellen. Sie erwarten, dass die Mehrheit des Bundestages einen Normenkontrollantrag begrüßt, den Sie beim Bundesverfassungsgericht stellen könnten, wenn denn 25 Prozent ihn unterstützen würden. ({4}) Ihr Problem ist: Sie kriegen keine 25 Prozent zusammen, die Ihren Antrag unterstützen, weil er nämlich in der Sache falsch ist. Sie sollten das einfach akzeptieren und nicht Anträge stellen, die nur fürs Schaufenster sind und draußen den Eindruck erwecken sollen, dieser Bundestag würde den Quatsch mitmachen, den Sie verzapfen. Diesem Antrag werden sicherlich alle anderen Fraktionen in diesem Deutschen Bundestag nicht zustimmen. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, vielen Dank, Kollege Sensburg. – Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Stephan Brandner. ({0}) – Herr Brandner, nehmen Sie bitte den Mundschutz da weg. Sonst müssen wir das alles desinfizieren. Machen Sie das mal weg! Legen Sie ihn mal schön hin, oder stecken Sie ihn ein. Wir hängen hier keine Fahnen auf! ({1})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich wollte sie nur nicht vergessen beim Zurückgehen. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Freiheit, Grundrechte, Demokratie, Gewaltenteilung – das waren einst die Säulen unseres Zusammenlebens. Freiheit, Grundrechte, Demokratie – das ist nun das, was Sie von den Altparteien inzwischen seit über einem halben Jahr hemmungslos und schamlos mit den Füßen treten. ({1}) Meine Damen und Herren, Freiheit, Grundrechte, Demokratie – das ist das, was Frau Merkel, vor der Sie kuschen und krauchen, inzwischen verachtet. Und Sie von den Altparteien machen da alle mit. Das ist erbärmlich. ({2}) Freiheit, Grundrechte, Demokratie, damit ist spätestens Schluss seit dem 27. März 2020, als § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes zum allumfassenden Instrument wurde, um nahezu sämtliche unserer Freiheitsrechte durch die Exekutive zu exekutieren. ({3}) Seitdem verging kein einziger Tag, an dem nicht unsere Grundrechte massiv eingeschränkt wurden und unser Volk von den Regierenden in Bund und Ländern schikaniert, drangsaliert, bespitzelt und unterdrückt wurde, meine Damen und Herren. Menschenwürde, Freiheit der Person, allgemeine Handlungsfreiheit, die informationelle Selbstbestimmung, die Glaubensfreiheit, die Freiheit von Lehre und Kunst, Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Berufsausübungsfreiheit, die Eigentumsgarantie – kein Stein blieb auf dem anderen. 70 Jahre freiheitliche Verfassungsgeschichte, alles vergessen bei Ihnen! ({4}) Die Zeit der Freiheitsrechte, liebe Kollegen von den Altparteien, blieb nicht nur stehen, sie wurde um Jahrzehnte zurückgedreht. Es blieb komischerweise nur ein einziges Recht oder Übel bestehen: das Recht auf unbeschränkte Zuwanderung. Nach wie vor darf jeder rein nach Deutschland, aber wir nicht mal mehr raus aus unseren Wohnungen. Bundespolizisten sollen nun gegen die eigenen friedlichen Bürger eingesetzt werden, Bundespolizisten, die die Grenze schützen sollten und nicht in Wohnungen herumspionieren, in denen friedliche Bürger sitzen. ({5}) Hoffen wir, dass wir uns in der Endphase der bunt-sozialistischen Öko-Merkelatur befinden, dass diese millionenfache Verfassungsbrecherin samt ihren Helfershelfern – einige sitzen hier vor mir, einige sitzen hier neben mir – ihre letzten Tage im Amt und, wenn es nach mir geht, auch ihre letzten Tage in Freiheit verbringt. ({6}) So wie Merkel uns einsperrt, muss auch sie eingesperrt werden. Einen kleinen Beitrag zur Wiederdemokratisierung unseres Landes soll die Ihnen vorliegende Normenkontrollklage bieten. ({7}) Ich appelliere an Sie, Herr Sensburg, und an Sie, Frau Rottmann – Sie haben ja fast dafür gesprochen –, an die Vernünftigen in diesem Hause: Hören Sie auf, sich zu Merkels Marionette zu machen! Stehen Sie auf gegen die Rechtsbrüche dieser Regierung, und unterstützen Sie unsere Normenkontrollklage!

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Brandner?

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber immer wieder gerne.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brandner, habe ich Sie gerade richtig verstanden, dass Sie politisch andersdenkende, politisch anders handelnde, andere politische Meinungen vertretende Menschen einsperren wollen? ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, ({0}) – nein –; denn wenn ich so argumentieren würde – – ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Lassen Sie bitte den Kollegen Brandner antworten.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein, wenn ich so argumentieren würde, wäre ich nicht in der AfD, sondern in irgendeiner Altpartei. Ich habe gesagt – ich kann Ihnen das noch mal wörtlich vorlesen –, dass die millionenfache Verfassungsbrecherin samt ihrer Helfershelfer nun ihre letzten Tage im Amt – jetzt hören Sie genau zu; ich rede bewusst deutlich – und, wenn es nach mir geht, ihre letzten Tage in Freiheit verbringt. Jetzt kommt aber der nächste Satz: So wie Merkel uns einsperrt, nämlich zu Hause in unsere Wohnungen, muss auch sie eingesperrt werden. Das ist der Kerngehalt meiner Aussage gewesen. Ich hoffe, dass die Frage damit beantwortet ist. ({0}) Eine Rede beendet man ja immer gerne mit einem Appell. Liebe Kollegen von den Altparteien, zeigen Sie, dass Sie verfassungs- und grundgesetzliebende und nicht nur darüber labernde Abgeordnete sind. Zeigen Sie, dass Sie den Rechtsstaat schätzen und selbstbewusst Ihre Rechte als Parlamentarier leben. ({1}) Tun Sie also genau das, wofür Sie gewählt worden sind, und helfen Sie bei einer wirkungsvollen Einhegung dieser völlig enthemmten Regierung mit. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Brandner, es gibt auch in diesem Hause Meinungsfreiheit. Aber Sie sollten sich wirklich mäßigen in Ihren Ausführungen. Das geht manchmal wirklich zu weit, was Sie hier machen. Entschuldigung, es geht wirklich zu weit, wenn Sie Kollegen wünschen, dass sie eingesperrt werden. Das kann so nicht sein. Ich bitte Sie, sich zu mäßigen. ({0}) Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Edgar Franke. ({1})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie ist eine echte Belastungsprobe für die Menschen in Deutschland und weltweit, aber vor allem auch eine Herausforderung für unsere Demokratie. Wir haben das im Frühjahr beim ersten Lockdown gesehen und sehen es gerade wieder. Vor drei Wochen waren noch 300 Intensivbetten belegt. Heute sind es über 1 500. Wir müssen jetzt handeln. Wenn die Intensivstationen erst voll sind, ist es zu spät. Insofern hat unser Gesundheitsminister Spahn in dieser Sache vollkommen recht. Die Anträge der AfD lehnen wir ab. Es sind Schaufensteranträge. Sie sollen vermeintliches Regierungsversagen dokumentieren. Auf dem Höhepunkt der Pandemie, wo wir alle Kräfte brauchen, so eine Rede wie Herr Brandner zu halten, das finde ich unglaublich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Statt mit anzupacken, geht es der AfD nur um den Streit, nicht um die Sache, sondern nur um eigene kleine politische Vorteile. Das ist ärmlich, das ist armselig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Natürlich gibt es auch Kritik an den Coronamaßnahmen. ({2}) Ein Grund besteht sicherlich auch darin, wie die Maßnahmen beschlossen werden. Wenn gefühlt nur die Kanzlerin und die Regierungschefs der Länder zusammen entscheiden, fühlen sich viele Menschen nicht mitgenommen. Das muss man schon sagen. Statt in Hinterzimmern Beschlüsse zu fassen, müssen wir die Beweggründe für die Maßnahmen in den Parlamenten öffentlich beraten. ({3}) Nur das schafft Vertrauen. Mein Kollege Thomas Oppermann hat kurz vor seinem Tod zu Recht angemahnt, dass auch der Bundestag stärker politisch beteiligt werden soll, und zwar aus politischen Gründen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Im Frühjahr war schnelles Handeln notwendig. Wir haben die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Deswegen haben wir, die Regierungen in den Ländern und der Bund, auch schnell auf die beginnende Pandemie reagieren können. Das war richtig. Wir wissen aber jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, viel mehr über die Pandemie. Wir wussten auch, dass die zweite Welle kommt, und das nicht erst seit letztem Dienstag. Auch hier hätten die Parlamente früher eingebunden werden müssen. Ich sage auch ausdrücklich: Ermächtigungen und Verordnungen können eben die Diskussion hier im Bundestag nicht ersetzen. ({5}) Wir müssen alle wichtigen Entscheidungen hier in diesem Parlament treffen. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir alle einer Meinung sein. ({6}) Wir müssen aus meiner Sicht, lieber Kollege Grosse-Brömer, auch beim Infektionsschutzgesetz und bei der Verordnungsermächtigung weitere rechtliche Leitplanken für das Regierungshandeln einziehen, gerade weil wir Grundrechte einschränken. Das muss bestimmt sein; sonst werden die Grundrechte weitgehend leerlaufen. Die Grundrechte in unserem Grundgesetz sind die höchsten Rechte der Menschen in unserem Staat, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Die nächsten Monate werden uns viel abverlangen. Aber es gibt Licht am Ende des Tunnels. Spätestens im Frühjahr sehr wahrscheinlich – so hoffen wir – kommt der Impfstoff, und die Lage wird sich langsam normalisieren. Bis dahin müssen wir alle durchhalten und vor allen Dingen auch als Gesellschaft zusammenhalten. Wir Abgeordnete haben die Aufgabe, die Grundrechte zu schützen, gerade in der Pandemie. Der Fußballfan darf nicht ins Stadion, die Musiker dürfen nicht auftreten, und wir müssen unsere privaten Kontakte massiv zurückfahren. Diese harten Einschnitte, die nur so lange bestehen dürfen, wie es unbedingt notwendig ist – auch das muss man sagen –, haben allerdings einen guten Grund: Wir schützen die Risikogruppen und damit deren Grundrecht auf Leben. Das dürfen wir auch nicht vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die einzelnen Grundrechte müssen wir immer gegeneinander abwägen, und zwar, wie ich finde, in einem transparenten politischen Prozess, um die Leute mitzunehmen, um die Diskussion öffentlich zu führen. Der Schutz der Grundrechte muss stets unser staatliches Handeln bestimmen, weil wir damit nicht nur unsere Demokratie schützen, sondern auch stärken. Danke schön. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brandner, Sie sind offenbar der Autor dieses Normenkontrollantrages. Ich wünsche Ihren Mandanten, dass Sie sie wesentlich sorgfältiger beraten, als Sie bei der Abfassung dieses Antrags vorgegangen sind. ({0}) Denn der Text dieses Antrages lässt sogar Zweifel, ob Sie die Grundfertigkeiten beherrschen. Erstens. Sie können nicht zählen. In Ihrem Antrag steht, das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch hätte 339 Paragrafen. Ich habe einmal nachgezählt: Es sind rund 600 Paragrafen. Sie können nicht zählen. Zweitens. Sie können offenbar auch nicht lesen. Wenn Sie in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch geguckt hätten, hätten Sie festgestellt, dass der letzte Paragraf der § 417 ist. Allein daran hätten Sie schon erkennen können, dass Ihre Aussage, dass es 339 Paragrafen gibt, einfach unsinnig ist. Auf 600 Paragrafen komme ich durch die vielen nachträglich eingefügten Paragrafen. ({1}) Drittens. Sie können offenbar auch nicht zitieren. Sie ereifern sich darüber, dass ein Verstoß gegen Artikel 83 Grundgesetz vorliegen würde, da sich die Bundesregierung Befugnisse hinsichtlich des Erlasses von Anordnungen anmaßen würde, die eigentlich den Ländern zustehen. In § 5 Absatz 2 Infektionsschutzgesetz steht der Satz – so wäre das Zitat richtig gewesen –, das gelte „unbeschadet der Befugnisse der Länder“. Man kann über diesen Satz ja streiten, aber Sie haben ihn nicht erwähnt, wahrscheinlich nicht einmal gelesen. Kurz gesagt, Sie haben falsch zitiert. ({2}) Viertens. Sie kennen offenbar auch nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. In einer ganz simplen Art und Weise definieren Sie, welche Anforderungen an Verordnungsbefugnisse gestellt werden, nämlich es müsse sehr bestimmt sein. Hätten Sie nur ab und zu einmal Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gelesen, dann hätten Sie festgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht – ich erlaube mir die Bemerkung – intellektuell anspruchsvoller ist, als Sie das sind. ({3}) Es differenziert durchaus bei den Anforderungen an solche Verordnungsbefugnisse. Wenn Sie zum Beispiel in der amtlichen Sammlung in Band 58 Seite 257 nachgelesen hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass dort differenziert wird: Wenn es sich um vielgestaltige und sich schnell ändernde Sachverhalte handelt, dann sind die Anforderungen an Verordnungsbefugnisse deutlich geringer. Das haben Sie natürlich nicht erwähnt. Das haben Sie offenbar nicht gelesen. Auch das können Sie offenbar nicht. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sollte man erst einmal lesen, bevor man es anrufen will. ({4}) Fünftens. Der juristische Standardbegriff der Verhältnismäßigkeit taucht in Ihrem Antrag überhaupt nicht auf. Dabei ist er von ganz großer Bedeutung. Im März, als dieser Paragraf und dieser Absatz beschlossen wurden, hatten wir eine möglicherweise sehr große und undefinierbare Gefahrenlage. In solchen Fällen ist natürlich die Verhältnismäßigkeit eher gegeben als jetzt. Wegen der bestehenden Gefahren haben wir als FDP damals übrigens auch zugestimmt und die weiteren Gesetzentwürfe abgelehnt. Der Begriff der Verhältnismäßigkeit taucht bei Ihnen nicht auf. Das ist eigentlich bereits in der zweiten Woche des Jurastudiums ein Standardthema, bei Ihnen offenbar nicht. ({5}) Ich fasse zusammen. Es gibt fünf kapitale Fehler. Was sagt man dazu in der Schule? Schulnote sechs. Setzen! Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Schinnenburg. – Der nächste Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von Herrn Brandner zwingt mich, von meinem Manuskript etwas abzuweichen. Ich möchte hier eines klarstellen: Für uns als Fraktion – ich glaube, dass das auch Zustimmung bei den anderen demokratischen Fraktionen findet – verbitte ich mir den Begriff „Altpartei“. Das ist Nazisprech. Ich appelliere an das Präsidium, sich mit dieser Sprachverwendung hier zu beschäftigen. ({0}) Wir wollen uns nun einem ernsten Thema angemessen nähern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner? ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, ich will das im Zusammenhang vortragen. Er mag gerne eine Kurzintervention machen. ({0}) Wir Linken kritisieren seit Beginn der Pandemie die Schieflagen und Fehler in der Gesetzgebung zur Bekämpfung der Pandemie. Soloselbstständige wurden im Stich gelassen. Für Kultur-, Veranstaltungs- und Reisebranche gibt es keine tragfähigen Lösungen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen über Monate mit erheblich weniger Geld auskommen. Arbeitslose werden mit den Mehrausgaben für Hygieneartikel und Gesundheitsvorsorge alleingelassen. Und jetzt schlagen auch noch erste sogenannte Wirtschaftsexperten Rentenkürzungen vor. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Probleme der Menschen da draußen, um die wir uns hier kümmern müssten. ({1}) Stattdessen sorgen Sie sich zum Beispiel ganz besonders um die Fleischindustrie und stellen in Ihrem Antrag in den Raum, dass diese Branche besser von einem Lockdown hätte ausgenommen werden sollen. Unternehmen, die durch fahrlässiges Verhalten und daraus resultierende Großausbrüche enorme Folgekosten für die Allgemeinheit verursacht haben und nebenbei Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schamlos Risiken ausgesetzt haben, sind diejenigen, die Ihre Unterstützung genießen. Damit zeigen Sie mal wieder, wessen Interessen Sie hier vertreten, nämlich die des Kapitals. ({2}) Werfen wir doch mal einen kurzen Blick auf jene Länder, in denen Ihre Brüder im Geiste regieren. Trump führt wie Sie einen Kampf der Gerechten gegen ein Stück Stoff und gegen zu starke Einschränkungen für den freien Markt. Seine Bilanz: über 220 000 Tote und eine völlig am Boden liegende Wirtschaft. Oder Bolsonaro in Brasilien: über 150 000 Tote, ganz besonders aus den ärmeren Schichten und bei der indigenen Bevölkerung. Viktor Orbán entmachtet per Notverordnungsrecht das ungarische Parlament, untersagt die Einreise von Touristinnen und Touristen mit erheblichen Konsequenzen für die Tourismusbranche und führt – oh Wunder! – eine Maskenpflicht ein. Trotzdem sind die Infektionszahlen dort in die Höhe geschnellt. Wir können konstatieren: Wo Rechtspopulisten regieren, herrscht das Chaos, und die Leidtragenden sind stets die Schwächsten der Gesellschaft. Das ist Ihre Politik! ({3}) Nicht fehlen darf in Ihrem Antrag verschwörungsideologisches Geraune um Bill Gates und eine bewusste Herbeiführung der Pandemie. Als parlamentarischer Arm der Trollarmeen im Netz wollen Sie wieder einmal Ihr unverantwortliches Spiel der gesellschaftlichen Spaltung spielen. Aber eine Pandemie ist kein Spiel. Wie ja Ihr Fraktionsvorsitzender gesagt haben soll: Der AfD geht es gut, wenn es Deutschland schlecht geht. – Und daran setzen Sie alles. Ich komme zum Schluss. Wir Linken sagen Ja zu einer kritischen Überprüfung der Coronamaßnahmen, aber ganz klar Nein zu Ihrem völlig unbrauchbaren Antrag. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wollen Sie von den Linken demokratisch gewählten Abgeordneten hier das Wort verbieten? Wir sind nicht in der Volkskammer, wir sind im Deutschen Bundestag. Deshalb lassen Sie mich einfach meine Kurzintervention beginnen. ({0}) In der Volkskammer mag das so gewesen sein. Hier im Deutschen Bundestag ist es Gott sei Dank unter der souveränen Leitung unseres Vizepräsidenten Friedrich möglich, als frei gewählter Abgeordneter seine Meinung zu sagen. Herr Straetmanns, Sie haben sich gerade an dem Begriff „Altparteien“ hochgezogen. Dazu stelle ich zunächst zwei Dinge fest, bevor ich dann eine Frage stelle. Erstens. Das Wort „Altparteien“ besteht aus zwei Teilen, aus „alt“ und aus „Parteien“. Das ist objektiv richtig, wenn ich in Ihre Reihen schaue. „Alt“ und „Partei“, das stimmt schon mal. ({1}) Zweitens. Der Begriff „Altparteien“ wird nicht nur von mir gelegentlich benutzt, auch bei den Grünen findet man Vertreterinnen, Frau Roth beispielsweise. Ich will nicht sagen, dass Vizepräsidentin Roth damit inflationär umgeht, aber sie hat den Begriff schon mehrfach benutzt. Da habe ich Ihren Einwand, dass das eine Sprache aus dunkler Vergangenheit sei, nicht gehört. Jetzt meine Frage. Der dem Linksextremismus sehr affine Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Herr Ramelow, ({2}) hat damals bei der WASG – das war sozusagen der Westableger der SED, wenn Sie so wollen; jedenfalls haben die sich irgendwann vereinigt – ({3}) in seiner Funktion als Integrationsbeauftragter oder als Wahlkampfmanager bei einer Rede exakt den Begriff „Altparteien“ benutzt. Das war irgendwann in den 2000er-Jahren. ({4}) Jetzt glauben Sie mir, Herr Staetmanns, dass Herr Ramelow den Begriff „Altparteien“ benutzt hat. Wie würden Sie es in Ihren Duktus einordnen, wenn Herr Ramelow den Begriff „Altparteien“ benutzt?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Straetmanns.

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Erstens. Herr Ramelow war meiner Kenntnis nach niemals in der WASG. Ich war sehr wohl Mitglied der WASG. Zweitens. Welche Worte Frau Roth oder Herr Ramelow verwendet haben, weiß ich nicht. Drittens. Ich kenne Sie als jemanden, der eher juristisch oberflächlich und nicht an Fakten orientiert argumentiert und arbeitet. Das lehne ich schon aus tiefster Grundüberzeugung ab. ({0}) Viertens. In der Tat, Herr Goebbels hat diesen Begriff verwendet. Mich stört er. Er stört nicht nur mich; ich habe an dem Applaus eben gemerkt, dass er die Kolleginnen und Kollegen quer durch alle Parteien stört. Ich sage Ihnen auch, warum er mich und andere stört, nämlich weil er einen Blick auf die parlamentarische Demokratie offenbart. Sie sind im Grunde Mitglied des Hauses nicht aus Überzeugung, dass Sie hier an einem großen Ganzen und Guten mitarbeiten, sondern aus der Überzeugung heraus, hier Obstruktionspolitik betreiben zu wollen. Das hat Ihr heutiger Antrag am besten offengelegt und entlarvt Sie als obstruierende Partei. Das bekämpfen wir. Ich denke, da sind wir nicht allein. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Maag, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir zum Antrag zurück. Die formalen Punkte, die es zu kritisieren gibt, haben meine Kollegen schon beleuchtet. Ein Gesamtbild kann ich derzeit nicht liefern – wir sind mitten in der Pandemie; vielleicht ist es einigen entgangen –, aber ich kann gerne erläutern, wie wir Corona in der Gesundheitspolitik behandeln und aufarbeiten. Uns geht es um die Menschen. Wir wollen, dass wir für die Menschen Politik machen. Uns geht es nicht um das schnelle Video im Netz, womöglich als Ersatz-Trump. Konkret sind die ersten Erkrankungsfälle in Deutschland im Januar 2020 aufgetreten. Da gab es übrigens keine Blaupause für Maßnahmen, sondern es ging um vorsichtiges Agieren, ein Fahren auf Sicht. Das Robert-Koch-Institut hat den für die Influenza entwickelten Nationalen Pandemieplan bereits Anfang März für die Bekämpfung des neuen Coronavirus angepasst. Die wichtigsten Unterschiede: Es gibt bislang weder eine Impfung noch Therapeutika gegen das Virus. Deswegen haben wir auch immer betont: Wir sind Teil eines lernenden Systems. Die sogenannten Lessons learned, all das, was wir bisher mehr wissen als zu Beginn der Pandemie, setzen wir seit Sommer um. Das Infektionsgeschehen konnten wir dank breiter wissenschaftlicher Unterstützung und Beratung, vor allem durch das RKI, unsere Bundesseuchenbehörde, um die man uns in Europa und in der Welt übrigens beneidet, durch die Nationale Akademie der Wissenschaften, unsere Leopoldina, und viele weitere Expertisen, je nach Fachrichtung, mit Kontaktverbot, Schulschließung und Absagen von Veranstaltungen so, wie wir uns das vorgestellt haben, verlangsamen. Wir haben damals eine Überlastung der Krankenhäuser verhindert. Wir haben uns zu Beginn der Pandemie um die Intensivversorgung in den Krankenhäusern gekümmert und diese sichergestellt, ebenso wie übrigens die Finanzierung mit einem Bevölkerungsschutzgesetz. Dafür wurden planbare Eingriffe verschoben und personelle Ressourcen aktiviert. Über den Stand der Belegung von Intensivbetten und die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Patienten gibt heute – Stichwort „Lessons learned“ – zentral ein Intensivregister tagesaktuell Auskunft. Das Krankenhauszukunftsgesetz – sie merken etwas – ermöglicht es den Ländern, insgesamt 4,2 Milliarden Euro in eine bessere digitale Ausstattung und modernere Notfallkapazitäten zu investieren. Hilfreich waren vor allem niedergelassene Ärzte in der Pandemie. Sieben von acht Patienten haben sich dort behandeln lassen können. Diese Patienten mussten nicht in unsere Krankenhäuser, haben dort nicht das Pflegepersonal und die Ärzte angesteckt. Umgekehrt: Das Personal in den Krankenhäusern war weniger überlastet, und die Patienten haben sich dort auch nicht angesteckt. Im Mai kam das Zweite Bevölkerungsschutzgesetz. Antworten auf Fragen wie: „Wie gehen wir mit Lockerungen um?“ und: „Wie können wir Menschen schützen und gleichzeitig regionale Infektionsherde schnell nachverfolgen und bekämpfen?“, wurden gesucht. Kurz: Wie werden wir zielgenauer? Der zentrale Schlüssel dafür war der Öffentliche Gesundheitsdienst. Um diesen für weitere Pandemieansprüche oder ‑herausforderungen fit zu machen – Stichwort „Lessons learned“ –, steht jetzt mit dem Pakt für den ÖGD ein Finanzvolumen von 4 Milliarden Euro für Personal, Digitalisierung und moderne Strukturen zur Verfügung, übrigens wiederum mit Gesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die letzten Monate genutzt, um weitere wichtige Weichenstellungen vorzunehmen. Gab es am Anfang der Pandemie aufgrund der weltweiten Nachfrage noch einen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung und eine starke Abhängigkeit von ausländischen Zulieferern, haben wir zwischenzeitlich Investitionsprogramme für nationale Produktionslinien und können so den Bedarf zumindest teilweise abdecken. Die Teststrategie haben wir mehrfach angepasst. Mit den neuen Schnelltests können wir sicherstellen, dass zum Beispiel Bewohner, Besucher und Personal von Pflegeheimen regelmäßig getestet werden. Wir können den Besucherverkehr jetzt aufrechterhalten. Die Digitalisierung hat einen Riesenschub und hohe Akzeptanz in Zeiten von Corona erfahren. 25 000 Arztpraxen haben Videosprechstunden angeboten, und die Erfolgsgeschichte der Corona-Warn-App ist offensichtlich; die europäische Verbindung hat mittlerweile begonnen. Jetzt stehen wir vor einem harten November. Wir wissen aber heute, dass und wie wir die Neuinfektionen eindämmen können und dass nach einiger Zeit auch Lockerungen wieder möglich sind. Nächste Woche bringen wir den Entwurf für ein Drittes Bevölkerungsschutzgesetz ein, weil Corona nicht vorbei ist. Corona wird uns noch lange beschäftigen. Ein Untersuchungsausschuss zum jetzigen Zeitpunkt, so wie Sie es beantragt haben, ist schlicht blanker Unsinn. Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt noch zwei Redner und anschließend eine Abstimmung, und dann erst gibt es die namentliche Abstimmung. Nehmen Sie bitte Platz. Soweit Sie keinen Platz finden und stehen, müssen Sie die Abstände einhalten. Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kollegin Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Ihren Verfassungsfeinden beschäftigt die AfD in vielen Ländern den Verfassungsschutz. Auf Bundesebene will sie nun das Verfassungsgericht mit einer Normenkontrollklage beschäftigen; na ja. Während hier im Haus in mehr als 70 Debatten und mit vielen Gesetzen um den richtigen Weg in der schwersten Gesundheitskrise in den letzten 100 Jahren gerungen wird, führt die sogenannte AfD Klage gegen den Präsidenten Schäuble wegen der Maskenpflicht in den Gebäuden des Deutschen Bundestages. Während Ärzte und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern Alarm schlagen und Tag für Tag um das Leben von Menschen ringen, kommen von rechter Seite keinerlei konstruktiven Vorschläge zur Bewältigung der Krise. Stattdessen diffamieren Sie das, was uns in der Krise bisher gut gelungen ist, und benutzen das Parlament wie eine Bühne für Lausbubenstreiche. ({0}) „Ritzeratze! voller Tücke“ suchen Sie die Lücke, nur um Aufmerksamkeit zu erheischen. Voller Tücke, so sägt die AfD am gesellschaftlichen Zusammenhalt, an unserer Demokratie. Nur, heimlich, wie bei Max und Moritz, ist das bei Ihnen schon lange nicht mehr. ({1}) Sie versuchen, Ihre bösartige Zerstörungslust in Böse-Buben-Charme zu kleiden. Gut, dass sich immer weniger Menschen davon blenden lassen; denn dieses Haus ist keine Bühne für vorpubertäre Lausbubenstreiche. Ihr Verhalten ist besonders in Krisenzeiten völlig fehl am Platz. Was wir jetzt brauchen, ist Verantwortungsbewusstsein. ({2}) Dazu gehört selbstverständlich Kritik, dazu gehören regelmäßige Kurskorrekturen, wo sie nötig sind, dazu gehört aber kein tückisches Verdrehen von Tatsachen. Als Sie, Herr Gauland, gestern über den Wert von Menschenleben philosophierten, da haben Sie sich auf Friedrich Schiller bezogen. „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, haben Sie gesagt. Weiter sagten Sie: „Der Güter höchstes ist die Freiheit.“ ({3}) Nein, auf Schiller können Sie sich nicht berufen, wenn Sie den Wert menschlichen Lebens relativieren. Schiller lässt nämlich die Braut von Messina sagen: Das Leben ist der Güter höchstes nicht; Der Übel größtes aber ist die Schuld. ({4}) Ja, Sie machen sich schuldig, wenn Sie das Leid vieler billigend in Kauf nehmen, die schwer an Covid-19 erkranken oder gar daran sterben. Sich hier im Bundestag als Hüter des Rechts zu gerieren, ist blanker Hohn, wo AfD-Politiker doch ständig anderen Menschen ihre Grundrechte absprechen. Damit sägen Sie am Fundament unserer parlamentarischen Demokratie, dem Grundgesetz. ({5}) Die große Mehrheit dieses Parlaments wird weiterhin die Grundrechte aller Menschen verteidigen, auch gegen Ihre Angriffe, und alle, denen ehrlich das Wohl der Menschen am Herzen liegt, werden weiterhin konstruktiv politisch um den richtigen Weg streiten und in sorgfältiger Abwägung schwierige Entscheidungen treffen, um unser aller Gesundheit, unsere Freiheit und unsere Wirtschaft in dieser schwierigen Lage so gut es geht zu schützen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir kommen zum letzten Redner zu TOP 27. Das ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn, Kollege Straetmanns, die Anmerkung, dass ich mich schon ewig über den Nazisprech gegenüber Altparteien aufrege. Ich kann Sie da nur unterstützen, dafür zu sensibilisieren. Ich will nur sagen: Nicht nur die CSU feiert in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag. Wir sind alle ehrwürdige, alte Parteien. Aber so alt in Denke, Rückwärtsgewandtheit und Verknöchertheit können wir nie werden wie das, was da drüben sitzt. ({0}) Formal könnte die Debatte nach 30 Sekunden aufhören: Ein Antrag zu einem Zeitraum, der nicht abgeschlossen ist, ist gegen die Geschäftsordnung – Punkt! ({1}) Das reicht vollkommen aus, um diesen unfähigen Untersuchungsausschussantrag abzulehnen. Aber es geht natürlich wieder darum, die Geschäftsordnung mit Füßen zu treten. Es geht wieder darum, in diesem Parlament den Versuch zu unternehmen, es vorzuführen. Es geht wieder darum, die Regeln, mit denen wir versuchen, im Augenblick, am Gipfel dieser zweiten Welle der Pandemie, für die Menschen zu arbeiten, mit Füßen zu treten. Schon deshalb kann man an dieser Stelle bei all diesen Anträgen nicht mitmachen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Aber einen Satz will ich schon noch zu dem großen Thema der Parlamentsbeteiligung sagen. Sie haben alle recht: Maßnahmen wie die, die wir im Augenblick den Menschen zumuten, die Corona uns zumutet, der Demokratie zumutet, sind erklärungsbedürftig, um Vertrauen zu stärken und zu bekommen. Deshalb ist eine große, breite Debatte richtig. Aber – Entschuldigung – ich weiß ja nicht, was Sie alle getan haben, aber ich habe die letzten sieben Monate nichts anderes gemacht, als mich auch an dieser Stelle, auch im Wahlkreis als Parlamentarier genau mit dieser Frage zu beschäftigen. 70 Debatten! Nicht ein einziger Antrag dazu aus diesem Haus wurde nicht diskutiert. ({3}) Trotzdem muss man staatstheoretisch sagen: Die Exekutive beim Bekämpfen dieser Pandemie sitzt in den Ländern. Die müssen das umsetzen, oder wir setzen den Föderalismus außer Kraft. Ich glaube, das will in diesem Haus – na ja, ich bin mir nicht ganz sicher – aber keiner. Deshalb: Vertrauen stärken: ja; aber das Parlament ist tatsächlich beteiligt, und wir sollten nicht schlechterreden, was wir in den letzten paar Monaten gut organisiert und gemanagt haben, sehr verehrte Damen und Herren. ({4}) Aber das, was die AfD an dieser Stelle macht, muss man schon auf ein grundsätzliches Maß herunterrütteln. Wer Fakten in dieser Art verdreht, wer der Unwahrheit die Plattform bietet, der vergeht sich an den Opfern dieser Pandemie. ({5}) Unser höchstes Schutzgut ist das Leben. Wir ergreifen doch diese Maßnahmen, die wir unterstützen, für die wir den Rahmen setzen, für die wir tatsächlich mit Leidenschaft draußen werben, nicht, weil uns nichts Besseres einfällt, sondern weil wir am Ende des Tages Leben schützen wollen und müssen. Das ist unser höchster Auftrag. Dazu kann ich nur zur Unterstützung aufrufen. Sie vergehen sich ja nicht nur an den vulnerablen Gruppen – ich habe das immer wieder gesagt: das, was die AfD macht, ist fast vorsätzliche Körperverletzung bei dem, was sie den Menschen draußen zuruft –, nein, auch an einer jungen Generation. Wenn wir nichts tun in diesem Land, dann berauben wir sie der sozialen Grundlage, der wirtschaftlichen Grundlage, auch ihrer Zukunft. Deshalb sind diese Maßnahmen, die wir anstreben und die wir den Menschen zu erklären versuchen, auch tatsächlich notwendig. Alles, was Sie tun, ist das genaue Gegenteil. Da stellt man sich natürlich die Frage: Warum eigentlich? Worum geht es denn gerade in einer Stunde, in der wir den Zusammenhalt bräuchten? Sie wollen diesen Zusammenhalt überhaupt nicht; Sie wollen den Spaltpilz in dieser Gesellschaft. ({6}) Das ist etwas, was man Ihnen nicht durchgehen lassen kann. Das ist das moralisch Verwerfliche. Dann kann ich am Ende nur sagen: Wenn Sie schon nicht bereit sind, Leben zu schützen, wenn Sie schon nicht bereit sind, konstruktiv gegen diese Pandemie mitzuarbeiten und den Leuten nicht auch noch die Zeit zu stehlen, dann stehlen Sie bitte diesem Haus nicht die Zeit, und stellen Sie nicht solche Anträge, die uns letztendlich genau davon abhalten: nämlich den Bürgerinnen und Bürgern den Schutz zukommen zu lassen, den sie eigentlich von diesem Haus verdienen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Frieser. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 1. September 1939 um 4.47 Uhr wurde der erste Schuss im Zweiten Weltkrieg abgegeben – das war der Beginn des Zweiten Weltkrieges –, von dem Schulschiff „Schleswig-Holstein“ an der Westerplatte, das sich auf einem Freundschaftsbesuch vor Danzig befand. Was in der deutschen Propaganda damals als „Polenfeldzug“ deklariert wurde, war in Wirklichkeit der Beginn eines verbrecherischen Rassenkrieges. Adolf Hitler hatte vor der Führung der Wehrmacht bereits am 22. August 1939 die totale Zerstörung und Vernichtung Polens ausgerufen. Dieser Rassenkrieg war ein Zivilisationsbruch, und polnische Erde ist bis heute getränkt mit dem Blut der Opfer dieses Rassenwahns. Deutsche errichteten auf polnischem Boden Konzentrationslager; Auschwitz-Birkenau ist ein Synonym für diese Verbrechen. Ein polnischer Literat hat es auf den Punkt gebracht. Er hat beschrieben, was zwischen 1939 und 1945 war: Polen wurde zum Friedhof der europäischen Zivilisation. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir einen Ort des Erinnerns, des Gedenkens, aber auch der Begegnung schaffen, dann erinnern wir an das Leid des polnischen Volkes und auch daran, wozu der Mensch fähig ist. Wir erinnern aber auch daran, was in diesen Jahren möglich war an Widerstand, an Mut der polnischen Heimatarmee, der Widerstandskämpfer in Warschau. Wir erinnern an Menschen wie Witold Pilecki, einen polnischen Offizier, der übrigens als einzig bekannter Mensch freiwillig als Häftling nach Auschwitz ging. Ihm gelang die Flucht, und er informierte die Westalliierten über die Geschehnisse dort. Auch an solche Menschen erinnern wir. Wir erinnern an Polen, die ihren jüdischen Mitbürgern Schutz vor dem sicheren Tod gaben und dafür mit ihrem eigenen Leben eintraten und mit dem Leben ihrer Familien. Wir erinnern daran, dass durch Menschen wie Witold Pilecki und viele andere in den dunkelsten Stunden der europäischen Geschichte das Licht der Humanität vor dem kompletten Erlöschen bewahrt wurde; das wollen wir tun. Einige haben gesagt: Wir tun es ja für die Polen, so einen Ort zu schaffen in Deutschland. – Nein, wir tun es auch für die Polen, wir tun es auch für uns, aber tun es vor allem für die jungen Menschen in Europa und in der Welt, um daran zu erinnern. ({0}) Wir haben mit Polen nicht nur eine gemeinsame Grenze, sondern wir haben mit Polen eine gemeinsame Geschichte. Die Geschichte unserer beiden Länder kann nicht gedacht und beschrieben werden, ohne dass die Geschichte des jeweils anderen Landes mitbeschrieben wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Johannes Paul II. 1996 mit Helmut Kohl durch das Brandenburger Tor schritt, soll er zu seinen Begleitern gesagt haben: Jetzt ist der Zweite Weltkrieg wirklich zu Ende. – Denn von deutschem Boden ging der Krieg aus, und Deutschland zahlte einen Preis für diesen verbrecherischen Krieg. Aber Deutschland war damit nicht das einzige Land. Für Polen kam danach nicht die Freiheit, sondern eine neue Unfreiheit, die erst 1989 wirklich endete. Wir wollen diesen Ort schaffen, weil wir der jungen Generation etwas mitgeben wollen. Heute mag vieles selbstverständlich sein, gerade für uns Jüngere. Meine beiden Großväter waren Soldaten, polnische Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie sind gestorben, bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages wurde. Aber ich glaube, wenn sie sehen würden – ich bin gläubiger Christ, deswegen glaube ich daran, dass sie es tun –, dass heute Deutschland und Polen Freundschaft und gute Nachbarschaft verbindet und ihr Enkel als deutscher Abgeordneter, als Repräsentant eines freien und demokratischen Deutschlands hier in diesem Reichstag als Abgeordneter arbeiten und reden darf, dann wären sie glücklich. ({1}) Dass das nicht selbstverständlich ist, das will ich auch meinen Kindern mit ihrer Identität, die immer auch diesen Bezug zu beiden Ländern hat, mitgeben. Das sind wir der jungen Generation einfach schuldig, weil wir verantwortlich sind für das, was aus der Geschichte wird, meine Damen und Herren. Deswegen bitte ich Sie im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem Antrag zuzustimmen. Danke schön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Paul Ziemiak. – Für die Fraktion der AfD hat das Wort als Nächstes der Kollege Dr. Marc Jongen. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition will zusammen mit FDP und Grünen – ich zitiere – „an prominenter Stelle in Berlin einen Ort“ schaffen, der „den polnischen Opfern des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Besatzung Polens gewidmet ist“. Dieser Ort „soll Polen und Deutsche zusammenbringen“. Vorurteile abbauen helfen, Verständigung und Freundschaft fördern usw. Lauter begrüßenswerte Ziele. Vorab nur am Rande: Die Forderung der AfD nach einer Gedenkstätte für die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges haben Sie damals alle abgelehnt unter anderem mit dem Argument, das würde andere Opfergruppen ausschließen, man könne nur allen zugleich gedenken. Dieses Argument gilt für die polnischen Opfer jetzt offenbar nicht – seltsamer Widerspruch. Aber kommen wir zum Positiven. Natürlich ist es für jede Nation, auch für Deutschland, eminent wichtig, mit ihren unmittelbaren Nachbarn ein gutes Verhältnis zu pflegen, gegründet auf gegenseitigem Respekt, Verständnis, wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. Insbesondere wenn die Geschichte, wie die deutsch-polnische, derart starke Belastungen aufweist, dann kann auch eine derartige Gedenkstätte dabei sehr hilfreich sein. Ich möchte aber die These wagen, dass dann, wenn das bilaterale Verhältnis aufgrund der aktuellen Politik stark eingetrübt ist – ich spreche hier von der deutschen Politik –, es durch eine kompensatorische Erinnerungspolitik bestimmt nicht repariert werden kann. ({0}) Sagen wir es frei heraus: Besser, als Hitlers Überfall auf Polen nachträglich verhindern zu wollen, sollten Sie dem heutigen Polen mit weniger Arroganz begegnen und namentlich die patriotische Regierung dort nicht ständig als rechtspopulistisch diffamieren und den Polen nicht das Recht auf Wahrung ihrer kulturellen Identität absprechen. ({1}) Was sollen die Polen von der deutschen Kritik an ihrer Justizreform halten – diese würde angeblich den Rechtsstaat beschädigen –, wenn zugleich in Deutschland ein Parteipolitiker quasi direkt vom Bundestag weg zum Verfassungsgericht berufen werden kann oder eine bekennende Linksradikale Verfassungsrichterin wird? ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nastic?

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. Ich möchte zu Ende reden. – Wie kommen die Polen dazu, die Suppe der Migrationskatastrophe mit auslöffeln zu wollen, die Frau Merkel und die deutsche Regierung zu verantworten haben, unter Begehung von Rechtsbrüchen? ({0}) Kommen Sie von Ihrem hohen moralischen Ross ({1}) gegenüber Polen herunter, und Sie werden sehen, wie die Beziehungen sich wie von Zauberhand verbessern – ganz ohne Nazigedenken! ({2}) Dass ausgerechnet dieses Vorurteile abbauen kann, ist ohnehin fraglich, wenn man daran denkt, dass in polnischen Medien und auch von Politikern immer wieder antideutsche Ressentiments mit Verweis auf die Nazizeit geschürt wurden. So wurden in der „Gazeta Polska“ 2016 beispielsweise die Köpfe von Angela Merkel, Martin Schulz und Günther Oettinger auf Wehrmachtssoldaten montiert mit der Schlagzeile: „Die Deutschen greifen wieder Polen an.“ Das sollte Ihnen übrigens zu denken geben. Was ich aber damit meine: Hier könnte die deutsche Schuld- und Büßerhaltung mit der in Polen gepflegten Opfermentalität, mit diesem Opfermythos auf ungünstige Weise ineinandergreifen und beiderseitige Vorurteile eher bestätigen als beseitigen. Da lobe ich mir – und das kommt selten genug vor – den Antrag der Linken, deren deutsch-polnisches Doppelmuseum die Verflechtungen beider Völker bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen will und damit den Horizont immerhin erfreulich erweitert. Es gibt aber in dieser ganzen Debatte einen Elefanten im Raum, und das ist der schnöde Mammon. Wir wissen alle, dass es seit Kurzem mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg wieder Reparationsforderungen seitens der polnischen Regierung an Deutschland gibt, in Höhe von über 800 Milliarden Euro. Zu Recht hat Deutschland diese Forderungen zurückgewiesen, weil sie allein durch die beträchtlichen Gebietsabtretungen – Pommern, Schlesien, südliches Ostpreußen – abgegolten sein dürften. ({3}) Dazu passt aber schlecht die vorliegende Schuldrhetorik, die moralischen Druck auf sich selbst aufbaut und zugleich alle rechtlichen Zahlungsverpflichtungen von sich weist, frei nach dem Motto „Wir wollen büßen, aber es darf nichts kosten“. Rücken Sie ab von diesem verkorksten Gratisbüßertum, und nehmen Sie die Umfrage des Deutsch-Polnischen Barometers ernst und sich zu Herzen –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– ich komme zum Schluss –, ({0}) die nämlich klar ergeben hat: Eine Mehrheit der Deutschen und der Polen will sich auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Bundesaußenminister Heiko Maas. Herr Minister, bitte schön. ({0})

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss erst das Pult etwas absenken; denn die Höhe des Pultes ist umgekehrt proportional zu der Rede, die daran gerade gehalten worden ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Mittelpunkt des Gedenkens an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten steht der Holocaust. Der fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden verbietet jegliche Form der Relativierung. Und es war nicht das einzige Verbrechen, das die Nationalsozialisten in Europa begingen. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 begann der Terror gegen unschuldige Zivilisten: Massenerschießungen, Verschleppungen, die gezielte Ermordung der polnischen Intelligenz. In Polen zeigte sich erstmals der ganze Wahnsinn des rassenideologischen Vernichtungskrieges, dem in den folgenden Jahren Millionen jüdischer und slawischer Menschen auch aus der Ukraine, Belarus, Russland und anderen Ländern Europas zum Opfer fielen. Deshalb bin ich froh über die Entscheidung des Bundestages vor zwei Wochen, die Schicksale aller Opfer und der betroffenen Länder dieses Vernichtungskrieges zu dokumentieren und einen würdigen Erinnerungsort zu schaffen als Teil einer bestehenden Gedenkkultur, die die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt rückt. Ihr sichtbarster Ausdruck sind die Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust, aber auch für die weiteren Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen. Diese Orte sind keine Mahnmale der Schande, sondern Mahnmale der Würde; denn sie geben den Opfern Namen, Gesichter und damit ihre Würde zurück. Und nicht nur das: Sie geben auch uns, denen, die sie errichten, ihre Würde. ({1}) Meine Damen und Herren, mit diesem Erinnern ziehen wir keinen Schlussstrich. Zu schwer wiegen dafür die nationalsozialistischen Verbrechen, zu gegenwärtig bleiben ihre Folgen für unsere Nachbarn in Europa bis heute. Das erlebe ich auch immer wieder bei meinen Begegnungen in Polen und zuletzt auch mit meinem polnischen Kollegen hier in Berlin. Ich will nur ein Beispiel nennen, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Im vergangenen Jahr durfte ich in Warschau bei der Gedenkfeier für den Warschauer Aufstand zu Gast sein. Wir alle wissen um den Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau 1943. Doch der Warschauer Aufstand 1944, bei dessen Niederschlagung deutsche Besatzer über 100 000 polnische Zivilisten massakrierten, ist weit weniger bekannt. Einen Tag nach meinem Besuch in Warschau stand in einer deutschen Zeitung, ich hätte die Gedenkfeier für den Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau besucht. Das sagt einiges aus über das, was noch zu tun ist. Wie präsent die Erinnerung an diese Grausamkeiten noch heute bei allen Generationen ist – das ist wirklich bei allen Generationen in Polen der Fall –, das konnte man bei dieser Gedenkfeier spüren. Schülerinnen und Schüler von deutschen und polnischen Schulen hatten im Vorfeld gemeinsam die Schicksale von Opfern aufgearbeitet. Genau diese gemeinsame Erinnerungsarbeit brauchen wir angesichts des wiedererstarkenden Nationalismus mehr denn je. ({2}) Meine Damen und Herren, der deutsch-polnischen Geschichte gerecht zu werden, das ist ein hohes Ziel – ein Ziel, das wir nur gemeinsam erreichen: Deutsche und Polen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wie es in dem Antrag steht, von Anfang an die Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Expertinnen und Experten ermöglichen. Es geht darum, die Vergangenheit auch durch die Augen des anderen zu betrachten, um so gemeinsame Perspektiven zu schaffen. Es sind nämlich nichts anderes als diese gemeinsamen Perspektiven, auf denen die Vertiefung unserer bilateralen Beziehungen, unserer Freundschaft zu Polen und unsere europäische Zukunft fußen. Ein Ort, der diese Perspektiven schafft, gäbe dem Zusammenwachsen Europas eine neue Dimension; denn er wäre deutsch, polnisch und europäisch, historisch und zukunftsgewandt zugleich. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Thomas Hacker. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war der frühe Morgen des 1. September 1939: Die deutsche Wehrmacht begann den Überfall auf Polen mit dem Beschuss der Westerplatte und dem Angriff auf Wielun. Mit diesen Angriffen begann der Vernichtungskrieg der Nazis, begann der Zweite Weltkrieg. Dem Angriff lag nach Erkenntnissen der Geschichtswissenschaftler ein – Zitat – rassistisch fundiertes negatives Slawenbild zugrunde. Ziel ist – so drückte es Hitler am 22. August 1939 selber aus – die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie … Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. Er wollte die Lebenskraft, die Zukunft Polens zerstören. Sechs Jahre hielt Deutschland sein Nachbarland besetzt, so lange wie kein anderes Land. Auf polnischem Grund wurde die Tötungsmaschinerie der Nazis zur perfiden Perfektion getrieben. Menschen aus ganz Europa wurden nach Polen deportiert, dort von Deutschen misshandelt, gequält, getötet, vergast, verbrannt, vernichtet, ausgelöscht. Der Aufstand im Ghetto von Warschau 1943 wurde blutig niedergeschlagen. Nach dem Warschauer Aufstand 1944 wurde fast die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht. 5,7 Millionen Polinnen und Polen wurden in dieser Zeit ermordet oder wurden Opfer des Krieges, darunter 3 Millionen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Jeder fünfte Bürger Polens starb. All das Leid kann nicht wiedergutgemacht werden, und es verpflichtet uns, auch heute und in der Zukunft an das Geschehene zu erinnern und aus dem Erinnern heraus die gemeinsame Zukunft in einem gemeinsamen Europa zu gestalten. Die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen waren über die Jahrhunderte nicht immer leicht, und doch haben sich beide Länder gegenseitig befruchtet und vorangebracht. Wäre die Mauer in Berlin gefallen, wenn nicht Jahre zuvor die Solidarnosc in Danzig gegründet worden wäre? Ja, das besondere Verhältnis von Polen und Deutschland rechtfertigt einen besonderen Erinnerungsort. Was Polen angetan wurde, braucht ein eigenes Gedenken, eine eigene Wahrnehmung im Herzen Berlins. ({0}) Dieser Erinnerungsort bedeutet keine Hierarchisierung der NS-Opfer. Das Leid unterschiedlicher Länder, Regionen und Opfergruppen kann nicht gewichtet oder gewertet werden; jedes einzelne durch die Nazis gequälte und ausgelöschte Menschenleben muss erinnert werden. Deshalb darf der Ort des Erinnerns auch nicht nur ein Erinnern an die deutsche Aggression vergangener Tage sein, sondern muss ein emotionaler Ort werden, der die Menschen aus Polen und Deutschland zusammenführt und offen ist für alle – ein Ort, der uns an unsere Verpflichtung zum Einstehen für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit mahnt; ein lebendiger Ort, der die Werte eines modernen, geeinten Europas nicht nur postuliert, sondern auch zu einer aktiven Teilnahme und Gestaltung einlädt. Manche mögen vielleicht fragen, warum in der aktuellen politischen Lage in Polen ein solches Zentrum zur Erinnerung und Begegnung geschaffen werden soll. Gerade in dieser besonderen Zeit ist es die richtige Antwort und das richtige Zeichen, um uns zu versichern, dass nach zwei totalitären Regimen in Europa der gemeinsame Weg von Polen und Deutschen in einem vereinten Europa der richtige Weg ist – in einem Europa des Rechtsstaats, der Bürgerrechte, der Demokratie und der Freiheit. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Thomas Hacker. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Brigitte Freihold. ({0})

Brigitte Freihold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004717, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorweg: Die Linke begrüßt den Vorschlag der Koalitionsfraktionen, einen Erinnerungsort für die Opfer des deutschen Überfalls auf Polen und des beispiellosen Terrorregimes deutscher Besatzung in Polen während des Zweiten Weltkrieges zu errichten. Was die Ausgestaltung betrifft, bleibt der Antrag jedoch vage. Zudem ist es angesichts der Bedrohungen für unsere Demokratie schäbig, dass die Antragsteller erneut erinnerungspolitische Themen instrumentalisieren und mit der Linken nicht zusammenarbeiten. ({0}) Wir legen deshalb einen eigenen konkreten Vorschlag für einen solchen Erinnerungsort vor, der politische Bildung, Gedenken, Aufklärung und Verantwortung in einem Museum verbindet. Die deutsch-polnischen Beziehungen stecken in einer politischen Sackgasse. Es hilft nicht, die Probleme schönzureden oder zu glauben, Versöhnung wäre zum Spartarif möglich, ohne Widerspruch und gelebte Verantwortungsübernahme. Das Desinteresse der Bundesregierung an der Umsetzung der Verpflichtungen aus dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag spricht Bände. Die Verantwortung für den Erhalt der Gedenkorte für die deutschen Verbrechen in Polen wird noch immer nicht in vollem Maße übernommen, obwohl insbesondere die Gedenkstätten der deutschen Vernichtungslager Treblinka und Belzec dringend Unterstützung benötigen. Deutsch-polnische Forschungsprojekte zum Schicksal der polnischen Roma in der „Aktion Reinhardt“ oder die Identifizierung jüdischer Massengräber werden nicht unterstützt. Diese Asymmetrie bei der Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen ist nicht hinnehmbar. ({1}) Mit einem Polen-Denkmal wollte sich die Bundesregierung billig aus der Affäre ziehen, vor allem um Reparationen abzulehnen. Trotz Unterstützung durch namhafte Persönlichkeiten wurde das Projekt durch unprofessionelle Kommunikation, die innenpolitisch bestimmt, aber außenpolitisch Wirkung entfalten sollte, vor die Wand gefahren. Einen Gedenkort macht man für und mit jemandem. Man redet mit den Betroffenen, vor allem den polnischen Opferverbänden und der Zivilgesellschaft unter Berücksichtigung der politischen, kulturellen sowie sprachlichen Identität. Bei der Gelegenheit: Polnische Frauen zeigen gerade das diverse, progressive und freiheitliche Gesicht Polens bei ihren Protesten gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts, für die Trennung von Staat und Kirche und gegen Nationalismus und Antisemitismus. ({2}) Die hochbetagten Opfer der deutschen NS-Politik in Polen sind noch am Leben, wie zum Beispiel die Opfer der Zwangsgermanisierung oder die als Kinder in Ghettos ausgebeuteten Juden und Roma. Sie brauchen Anerkennung und Würde, auch durch Renten und Entschädigungen, die ihnen bisher verweigert werden. ({3}) Die Beziehungen zu unserem östlichen Nachbarn haben großes Potenzial für den Erhalt europäischer Werte und die Stärkung des Vertrauens in Europa, und sie dürfen nicht länger stiefmütterlich behandelt werden. ({4}) Wir brauchen deshalb ein deutsch-polnisches Doppelmuseum, partnerschaftlich gebaut, aber von Deutschland finanziert, jeweils die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen der anderen Seite erläuternd und näherbringend. Das wäre die längst überfällige Wertschätzung auf Augenhöhe. ({5}) Aber das kostet natürlich Geld, das Sie offensichtlich für Polen nicht ausgeben möchten. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte daran erinnern, dass wir demnächst die namentliche Abstimmung schließen. Ich bitte Sie, wenn Sie noch nicht abgestimmt haben, aber abstimmen wollen, das jetzt zu machen. Ich rufe den nächsten Redner auf. Das ist der Kollege Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Krieg und Besatzung auf dem Gebiet der vormaligen Zweiten Polnischen Republik waren einzigartig, nicht nach dem Maßstab von Ausmaß oder Grausamkeit, die ich hier nicht in einem vergleichenden Maßstab heranziehen möchte, aber in vielen Aspekten, die auch in anderen Besatzungsregimes zu finden waren, aber wohl in keinem anderen Vorkriegsland in dieser Komplettheit: die Nähe zwischen Deutschen und Polen vor dem Krieg, die Besetzung und der Krieg aufgrund einer deutsch-sowjetischen Vereinbarung, die Vielfalt der Grausamkeit in den zwei Besatzungszonen mit Germanisierung und Vernichtung, die Radikalität des Vorgehens mit dem absoluten Auslöschungswillen und die Auswahl von Vorkriegspolen als Ort des Holocausts. Auch die Versöhnungsgeschichte zwischen Deutschland und Polen ist einzigartig. Zur Versöhnung gehört, am Bewusstsein zu arbeiten, weiße Flecken aufzuarbeiten und ungesühnte Verbrechen anzugehen. Das haben Generationen vor uns begonnen; aber diese Arbeit ist immer noch nicht erledigt. ({0}) Die junge Generation in Polen wie auch bei uns erinnert sich schon nicht mehr an die Versöhnungsgeschichte.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, klar. Gerne.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lieber Kollege Sarrazin, Sie sprechen von Versöhnung zwischen den Polen und uns Deutschen. Sie als Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe hätten die besten Voraussetzungen dafür, auch im Sinne der Versöhnung zu wirken. Dabei haben Sie gerade bei der Erarbeitung dieses Antrags, wo es um dieses Denkmal ging, die AfD von Anfang an absichtlich ausgeschlossen. ({0}) Sie haben uns sogar in Gesprächen mit polnischen Vertretern als Nazis bezeichnet. Sie haben gesagt: Die AfD brauchen wir gar nicht zu fragen. – Das können Sie natürlich als Grüner, als gewählter Abgeordneter gerne machen. Aber als Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe sind Sie dafür völlig ungeeignet. Möchten Sie nicht zurücktreten? ({1})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Bystron, mein ehemaliger Professor an der Universität Bremen ist der ehemalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments und ein enger Freund von Herrn Kaczynski. Der hat vor ein paar Jahren in einem „Welt“-Interview über den Charakter Ihrer Partei gesagt, sie sei zutiefst revisionistisch, antisemitisch und deswegen antipolnisch eingestellt. Ich glaube, das reicht als Antwort auf Ihren Beitrag. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich gerade sagen wollte: Die junge Generation in Polen, wie zum Teil auch bei uns, erinnert sich schon nicht mehr an diese Versöhnungsgeschichte. Umso wichtiger ist es, dass wir, wenn wir auch die jungen Menschen erreichen wollen, Orte schaffen, Gelegenheiten schaffen, aufzuarbeiten, zu lernen, aber auch ritualisiert zu gedenken. Ich denke, dass wir wirklich auch in der bilateralen Zusammenarbeit mit unserem Nachbarn Polen staatliche Rituale in Deutschland brauchen, anstatt immer nur auf Einladung der polnischen Freunde in Polen zu gedenken, und dass wir so auch eine neue Bezugsgruppe schaffen können, einen neuen Bezug zu der Versöhnungsgeschichte, der in die Zukunft reicht. ({1}) Dafür die Gedenklandschaft in Berlin weiterzuentwickeln, mit einem Denkmal für die Opfer in Polen, mit dem Dokumentationszentrum, das vor zwei Wochen auf den Weg gebracht wurde, und meiner Ansicht nach auch mit einem Doppelmuseum, das ist der richtige Weg. ({2}) Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa scheitern wird, wenn die deutsch-polnische Freundschaft nicht gelingt, ({3}) so wie Europa ohne die Ukraine, Belarus, Russland oder Griechenland nicht vollkommen sein kann. Ich bin aber auch der Meinung, dass wir Deutschen in unserer deutsch-polnischen Geschichte und unserer deutsch-polnischen Freundschaft uns selber erkennen können. Zu einem selbstbewussten Deutschland gehört ein Platz für Polen, ein eigener Platz für Polen in unserem Gedenken. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Thomas Erndl. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 25 Jahren, im April 1995, gedachte der Deutsche Bundestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Die Festrede an jenem 50. Jahrestag hielt ein Pole. Das war ein wichtiges Signal, weil Polen das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs war und weil Nazideutschland auf polnischem Boden entsetzliche Verbrechen begangen hat. Wladyslaw Bartoszewski, meine Damen und Herren, der 1995 hier als polnischer Außenminister sprach, hat wie so viele Polen unter dem deutschen Krieg und der nationalsozialistischen Besatzung gelitten. Und trotzdem schloss er seine beeindruckende Rede vor dem Deutschen Bundestag damals mit versöhnlichen, in die Zukunft gerichteten Worten, die ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere: Das Gedenken und die historische Reflexion müssen unsere Beziehungen begleiten. Sie sollten dafür jedoch nicht Hauptmotivation sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen. Meine Damen und Herren, genau darum geht es hier heute: um einen Blick in die Zukunft, um die Stärkung unserer Beziehungen – beides aber im vollen Bewusstsein um die schwierige, leidvolle Vergangenheit. Uns muss bewusst sein, dass ein Großteil der Polen heute noch empfindet, dass sich Deutschland zu wenig erkenntlich zeigt über das Leid, das Nazideutschland Polen zugefügt hat, während umgekehrt ein Großteil der Deutschen nicht weiß, dass praktisch jede polnische Familie von diesem unbeschreiblichen Grauen betroffen war. Diese Leerstelle in der Erinnerung wollen wir jetzt schließen. Warum braucht es dafür nun einen eigenen Ort der Erinnerung und Begegnung? Weil von diesem Boden über Jahrhunderte eine antipolnische Politik betrieben wurde, weil von diesem Boden über Jahrhunderte die Existenz eines polnischen Staates verhindert werden sollte und weil das über Jahrhunderte auf Kosten der polnischen Bevölkerung ging. Und genau deshalb brauchen wir jetzt einen Ort, um unsere Erinnerung daran zu stärken und die für uns und Europa so wichtige Partnerschaft weiter zu festigen. Meine Damen und Herren, dieser Ort der Erinnerung und Begegnung ist keine Pflichterfüllung. Dieser Ort ist eine wichtige Geste. Er ist eine Einladung an Deutsche und Polen, über die Wunden der Vergangenheit hinweg Brücken in die Zukunft zu schlagen. Ich möchte unterstreichen: Dieser Ort ist wichtiger als aktuelle politische Debatten. ({0}) Und er ist notwendig, gerade weil wir in Zeiten leben, in denen Nationalismus und Abgrenzung in Europa wieder aufbrechen. ({1}) Ich freue mich, wenn möglichst viele in diesem Hause dem Antrag der Koalition zustimmen können. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Thomas Erndl. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit für die namentliche Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 27 b ist jetzt gleich vorbei. Ich darf fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Alle Kolleginnen und Kollegen haben ihre Stimme abgegeben, die abstimmen wollten. Dann schließe ich die namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis gebe ich Ihnen später bekannt. Wir fahren fort in der Aussprache. Der nächste Redner ist der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der letzten Funksprüche der Armia Krajowa, die kurz vor der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes aufgefangen wurden, endete mit folgenden Worten: Ein Volk, in dem solche Tapferkeit lebt, ist unsterblich. Denn jene, die starben, haben gesiegt, und jene, die leben, werden weiterkämpfen … Am 3. Oktober 1990, auf den Tag genau 46 Jahre nachdem der Warschauer Aufstand zu Ende gegangen war, konnten wir die deutsche Einheit feiern. Dass ausgerechnet die polnische Nation, welche so unermesslich unter den unvorstellbaren Verbrechen der Deutschen gelitten hat, einen so großen Anteil daran haben würde, dass ebendiese Deutschen ihre Einheit wiedererlangen konnten, ist mehr als ein großartiger Umstand der Weltgeschichte. ({0}) Und in der Tat, die Polen haben weitergekämpft: für ihre Freiheit und für unsere Freiheit. Damit bereiteten Lech Walesa und die Solidarnosc den Weg für die Friedliche Revolution in der DDR. Und ebenso sollten wir niemals vergessen, wie uns die Polen die Hand zur Versöhnung reichten. „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, schrieben bereits 1965 die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder. Muss es uns nicht mit Scham erfüllen, dass erst fünf Jahre später mit der Ostpolitik von Willy Brandt eine deutsche Bundesregierung ihrer historischen Verantwortung gegenüber unseren östlichen Nachbarn gerecht wurde? Heute geht es in diesem Haus darum, eine Leerstelle auf dem Weg zu einem angemessenen Gedenken an die deutschen Verbrechen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Zweiten Polnischen Republik zu füllen. Natürlich gehört das Gedenken auch an die polnischen Opfer der deutschen NS-Verbrechen mittlerweile zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland; aber es gibt diese Leerstelle. Hat es uns jemals aufgeregt, dass außerhalb der Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem präzedenzlosen Menschheitsverbrechen Holocaust so gut wie kein deutscher Polizist, SS-Angehöriger oder Wehrmachtssoldat von einem bundesdeutschen Gericht für Kriegsverbrechen in Polen verurteilt wurde? Wo haben wir in deutschen Schulbüchern oder im öffentlichen Gedenken den Raum dafür geschaffen, jene Ungeheuerlichkeit zu erfassen, dass wir das Gebiet des Vorkriegspolens zum Ort gemacht haben, an dem die deutschen Vernichtungslager den fabrikmäßigen Massenmord an den europäischen Juden durchgeführt haben? Ist uns eigentlich klar, dass etwas Vergleichbares keiner anderen europäischen Nation widerfahren ist? Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es hier keine Missverständnisse gibt: Es gibt keine Opfer erster und zweiter Klasse. Daran sollte auch ein polnischer Botschafter denken, wenn er seinem ukrainischen Amtskollegen Briefe schreibt. ({1}) Aber, liebe Genossinnen und Genossen, es gibt selbst in dem ungeheuerlichen Grauen, welches das faschistische Deutschland in die Welt trug, Unterschiede. ({2}) Diese Unterschiede herauszuarbeiten, hat nichts mit Renationalisierung zu tun, sondern mit der Verpflichtung zur Differenzierung, die uns ein verantwortungsvoller Umgang mit den begangenen unfassbaren Verbrechen auferlegt. Sehr geehrte Damen und Herren ({3}) – ja, wovon das Herz voll ist, liebe Kolleginnen und Kollegen –, wir wollen uns heute vor den Opfern der deutschen Gewaltherrschaft in Polen verneigen. Wir wollen an ihr Leid erinnern, und wir wollen sie um Verzeihung bitten. Ihnen wollen wir mitten in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, über das noch viele Generationen nach uns stolpern mögen, damit das, was geschah, niemals vergessen wird. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Nietan.

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige erinnerungspolitische Debatte um das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzungsherrschaft ist in der Tat längst überfällig; denn die Zeitzeugen verlassen uns – und damit die Möglichkeit, noch zu ihren Lebzeiten eine Versöhnung zu erreichen. In der jahrelangen Debatte haben manche Akteure bemerkenswerte Kehrtwenden vollzogen. So wies der wissenschaftliche Beirat der Bundesstiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ noch im November 2019 auf die Gefahren eines Polen-Denkmals hin und regte an, stattdessen ein Dokumentationszentrum über die deutsche Besatzungsherrschaft zu gründen. Gleichzeitig regte der Beirat eine dauerhafte Freiluftausstellung am bestehenden Polen-Denkmal in Berlin-Friedrichshain an. Im Juni dieses Jahres schlugen die Bundesstiftung und das Deutsche Polen-Institut nun gemeinsam vor, das Polen-Denkmal und das Dokumentationszentrum in einem Gedenkensemble zusammenzuführen. Meine Damen und Herren, die Koalition hat anders diskutiert und entschieden. Dieser Beschluss wird von den Vertriebenenpolitikern unserer Fraktion mitgetragen und findet die große Mehrheit des Deutschen Bundestages. Ein eigener Gedenkort für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges in Berlin stellt einen außergewöhnlichen Meilenstein für die deutsch-polnische Aussöhnung dar. Die Zustimmung unserer Fraktion zu diesem Antrag ist zum einen geleitet von den besonderen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Polen war 1939 das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs. Kein Land hat so lange unter der deutschen Besatzung gelitten wie Polen. Das Martyrium der dortigen Bevölkerung mit 1 Million Toten betraf fast jede Familie. Zu den Folgen der deutschen Aggression im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes gehören auch die Deportationen und die Massenmorde im sowjetisch besetzten früheren Ostpolen und schließlich die von Moskau erzwungene Westverschiebung des Landes 1945. Dies wiederum führte zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Auch daher ist die Frage des Gedenkens und Erinnerns in den deutsch-polnischen Beziehungen von besonderer Bedeutung. Meine Damen und Herren, unser Beschluss ist von der Hoffnung getragen, dass sich auch in Warschau zivilgesellschaftliche Initiativen dafür einsetzen, an das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen zu erinnern. Der Antrag würdigt daher die Rolle der deutschen Minderheiten in Polen sowie der Aussiedler und Vertriebenen als wichtige Brückenbauer zwischen den beiden Ländern. Wir haben dafür Sorge getragen, dass der neue Erinnerungsort keine Konkurrenz zu bestehenden Gedenkeinrichtungen erzeugt, etwa zu dem zentralen Gedenkvorhaben der Bundesregierung zu Flucht und Vertreibung im Berliner Deutschlandhaus. Um es aber noch mal deutlich zu sagen: Der ausschließlich von einer Seite ins Spiel gebrachte Askanische Platz gegenüber dem Deutschlandhaus würde leicht zum Vorwurf der Aufrechnerei führen. Dies lehnen wir strikt ab. Lassen Sie mich zum Schluss Professor Andreas Rödder zitieren, der sagte: „… daher wäre es eine große Geste, die polnischen Opfer in das öffentliche Bewusstsein Deutschlands zu stellen.“ Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Großer Bruch jetzt in der Debatte. – Unser Antrag „Bundestagsabgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen“ soll ein Angebot sein – ein Angebot an Sie, an uns alle, vor allen Dingen ein Angebot für mehr Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet; der kann, der soll gerne veredelt werden. Aber das Grundziel ist: Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl sollen alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages in die gesetzliche Rente einzahlen. Das ist unser Ziel. ({0}) Das würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land, gerade in der Krise, wesentlich stärken. Meine Damen und Herren, wir Abgeordneten haben nach zwei Wahlperioden einen deutlich höheren Versorgungsanspruch als Arbeitnehmer, die 45 Jahre zum Durchschnittslohn gearbeitet haben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Arbeitnehmer bezahlen mit ihren Steuern, vielleicht auch mit den Steuern auf die Rente, dann auch unsere Altersentschädigung mit. Das ist nicht gerecht, das ist nicht vermittelbar, und das schadet dem Ansehen der Politik insgesamt. Meine Damen und Herren, das, was wir in unserem Antrag vorschlagen, hat unser Nachbar Österreich in der Substanz bereits umgesetzt. Dort gibt es eine Rentenkasse, in die alle Bürgerinnen und Bürger einzahlen, auch Abgeordnete. Das ist dort selbstverständlich. ({2}) Ich meine, wir sollten uns das Rentensystem in Österreich einmal ganz genau anschauen; denn Österreich hat eine funktionierende Erwerbstätigenversicherung, ({3}) hat keinen Riester-Irrsinn, eine Rente ab 65 und nicht erst ab 67, ({4}) die im Durchschnitt 800 Euro höher ist, ({5}) und dazu eine armutsfeste Grundrente. Das, meine Damen und Herren, wird auch dadurch ermöglicht, dass alle einzahlen. ({6}) Ja, ich weiß, unser Antrag hat vor allen Dingen eine tiefe Symbolwirkung. Allein das Einbeziehen der Abgeordneten – –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Bartsch, gestatten Sie eine Wortmeldung?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie bitte?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, immer gern. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Bartsch, es ist normalerweise nicht meine Art, eine Zwischenfrage vor dem Beitrag der eigenen Rednerin zu stellen; aber mir geht dann doch die Hutschnur hoch, wenn ich höre, was Sie hier sagen. Wenn Sie sagen, dass die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung Ihr Ziel ist, warum stellen Sie dann nicht einen entsprechenden Antrag? ({0}) Es ist auch das Ziel von Bündnis 90/Die Grünen, Abgeordnete – und zwar angemessen – in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzubeziehen. Warum stellen Sie einen Antrag, der sich ausschließlich auf Abgeordnete bezieht, und täuschen vor, dass das ein Vertrauensangebot ist? Was Sie de facto tun, ist, auf das Erregungspotenzial draußen zu setzen, ({1}) wo es dann heißt: Die da oben, die werden ja viel besser versorgt. ({2}) Unter dieser falschen Flagge erreichen Sie aber de facto eine Beschädigung dieses Parlaments, und das in einer Zeit, wo die Demokratie ohnehin unter Druck steht. ({3}) Das finde ich aus grundsätzlichen Erwägungen nicht in Ordnung. ({4})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kurth, man merkt, dass Sie offensichtlich von dem, was wir hier vorschlagen, getroffen sind. Ich will ausdrücklich sagen – das ist auch nicht neu bei der Linken –: Selbstverständlich wollen wir, dass alle einbezahlen, selbstverständlich auch Beamte, auch Freiberufler. Das haben wir mehrfach beantragt. Selbstverständlich! ({0}) Ich habe es eben gerade gesagt – Sie haben sich ja schon gemeldet, da hatten Sie noch gar nicht bis zum Ende zugehört –: Natürlich geht es hier um ein Symbol. Das weiß ich doch auch. Dieser Antrag löst nicht das millionenfache Problem der Altersarmut. Das weiß ich sehr wohl. Aber jetzt zu sagen: „Na ja, das wollen wir nicht“? Nein, es ist das ausdrückliche Angebot: Tun Sie mit, dass wir diesen Schritt gehen! Wir haben hier im Deutschen Bundestag leider aktuell keine Mehrheiten, die es möglich machen, dass auch Beamtinnen und Beamte einzahlen, dass Selbstständige und auch Abgeordnete aller Ebenen einzahlen. Die haben wir leider nicht. Aber dass Sie, wenn es darum geht, diesen Schritt zu vollziehen und Vertrauen zurückzugewinnen, mit der Populismuskeule kommen, ({1}) zeigt, dass Sie offensichtlich ein bisschen traurig sind, dass Sie diesen Antrag nicht gestellt haben. Aber dafür kann ich nun leider nichts. ({2}) Ich will es wiederholen: Ja, natürlich, der Antrag löst nicht die Grundprobleme. Das ist doch unbestritten; das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe gesagt und wiederhole das noch mal für Sie: ein Antrag mit Symbolwirkung. Aber es geht um das Signal an die Bürgerinnen und Bürger, das Signal an die Gesellschaft, dass wir alle uns darüber Gedanken machen. Es muss am Ende nicht unser Antrag umgesetzt werden. Bringen Sie Ihre ganze Kompetenz ein. Wir sind bereit, dort mitzumachen. Aber eine Rentenkasse für alle, dieses Ziel haben wir als Linke, und das seit Langem. ({3}) Dafür sind wir schon im letzten Bundestagswahlkampf eingetreten. Tun Sie ruhig daran mit; das würde uns zumindest freuen. Wir müssen aufhören und Schluss machen mit dem Extrasystem für Abgeordnete. Das ist unser Ziel. ({4}) Das ist eine vertrauensbildende Maßnahme. Ansonsten, wenn wir es nicht tun, ist das ein Einfallstor für den Populismus, lieber Herr Kurth. Das ist das große Problem. Dass wir darüber hinaus eine große Rentenreform brauchen, ist unbestritten. Vielleicht können wir die ja in der nächsten Legislatur gemeinsam in Angriff nehmen. ({5}) Ich würde mich darüber freuen. Aber diesen einen Schritt können wir jetzt schon gehen. Darüber lassen Sie uns wirklich seriös debattieren, damit wir das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung wieder erhöhen. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Fraktionsvorsitzender Dr. Bartsch.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den Antrag der Linken führen wir, weil einige hier im Hause schon den Wahlkampf kommen sehen. ({0}) Immerhin sind Sie, Herr Dr. Bartsch, in diesem Punkt transparent. In dem Antrag schreiben Sie ja selbst, es handelt sich um einen symbolischen Schritt, also reine Symbolpolitik. ({1}) Die Diäten oder die Altersversorgung eigenen sich hervorragend für solche Symbolpolitik. ({2}) Die Zwischenfrage des Kollegen Kurth hat das, wie ich finde, sehr deutlich gemacht. Jedenfalls eignet sich das dann hervorragend, wenn einem die gesellschaftlichen Folgen dieser populistischen Politik gleichgültig sind und man ja eh weiß, dass der Antrag abgelehnt werden wird. Immerhin bietet die Debatte auch Anlass, noch einmal öffentlich unser sehr gutes System der Abgeordnetenentschädigung zu erklären und öffentlich dazu zu stehen, statt hier Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Denn wenn wir nicht öffentlich dazu stehen könnten, dann müssten wir es tatsächlich ändern. Das Grundgesetz sagt – ich zitiere –: „Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.“ Das betrifft nicht nur die aktive Zeit, sondern eben auch die Zeit der Versorgung. Was sichert die Unabhängigkeit eines Abgeordneten? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Immer wieder haben wir dazu auch Sachverständige befragt. Zuletzt haben wir vor einigen Jahren, im Jahre 2011, eine Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts eingesetzt. In dieser Kommission haben elf Sachverständige über etwa zwei Jahre viele Fragen rund um das Abgeordnetenrecht beraten, unter anderem auch die infrage stehende Problematik. Die elf Sachverständigen haben längst nicht alle Fragen alleine beantwortet und beraten. Sie haben beispielsweise 13 weitere Sachverständige zur Frage der richtigen Altersversorgung für Abgeordnete angehört. Die Sachverständigen haben sich dafür das gesamte aktuelle Spektrum der Alterssicherung in Deutschland angeschaut. Es wäre gut gewesen, wenn der Antrag der Linken sich zumindest mit einem Satz mit diesen ausführlichen Beratungen auseinandergesetzt hätte. ({3}) Dann wäre das, was Sie hier vorgelegt haben, auch sehr viel fundierter gewesen. Weil Sie das nicht getan haben, muss ich noch einmal an die Beratung dieser Unabhängigen Kommission erinnern. Die Expertenkommission war sich einig, dass es zur Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten ein finanziell hinreichend ausgestattetes Altersversorgungssystem geben muss. ({4}) Fünf Kommissionsmitglieder – fast die Hälfe – haben sich für den bisherigen Ansatz ausgesprochen, ({5}) fünf Mitglieder haben für ein Modell votiert, das aus einem schon vorhandenen Alterssicherungssystem, einer parlamentsgewährten Zusatzversorgung und eventuell einer Eigenversorgung besteht – das sogenannte Bausteinmodell –, und ein Mitglied favorisierte ein Modell, das auf eine reine Eigenvorsorge setzt. ({6}) Das Problem bei einem anderen als dem jetzigen Modell beschreibt die Kommission allerdings einmütig sehr klar. Hier darf ich aus dem Bericht zitieren: Um den Abgeordneten einen finanziellen Spielraum für die Eigenvorsorge zu lassen, könnte eine zumutbare Erhöhung der Grundentschädigung erforderlich sein. Eine Diätenerhöhung halten wir jedenfalls nicht für den richtigen Weg, um dieses Problem zu lösen. Das verschweigen Sie von den Linken in Ihrem Antrag. ({7}) Unser jetziges System der Altersentschädigung stellt durch die Verknüpfung mit der jeweiligen Diätenhöhe sicher, dass die Anforderungen an die Sicherung der Unabhängigkeit gewährleistet sind, und wir müssen durch eine eventuelle Umstellung des Systems die Diäten nicht erhöhen. Der Weg der Linken würde dagegen eine Diätenerhöhung im vierstelligen Bereich erforderlich machen. ({8}) Wir stehen ein Jahr vor der Bundestagswahl. Überall in Deutschland überlegen Bürgerinnen und Bürger, ob sie aus ihrem Beruf für eine Zeit aussteigen und für den Bundestag kandidieren wollen. Eine Entscheidung für eine Kandidatur, eine Übernahme oder Aufgabe eines Mandats muss für möglichste viele Bürgerinnen und Bürger ohne finanzielle Nachteile und unabhängig von finanziellen Sorgen und Erwägungen getroffen werden können. Das alleine haben wir hier sicherzustellen. Deshalb glaube ich auch, dass das System, das wir jetzt haben, sachgerecht, richtig und gut ist. ({9}) Zum Schluss in Kürze noch zum Gesetzentwurf der FDP. Die FDP will mit ihrem Gesetzentwurf unter anderem die Rückabwicklung einer erst durch die Große Koalition 2008 verschärften gesetzlichen Regelung. Bis dahin gab es für Minister Ruhegehaltsansprüche nach zwei Jahren. Wir haben diesen Mindestzeitraum damals auf vier Jahre erhöht. Weil wir diese Mindestzeit erhöht haben, mussten wir einen Ausgleich für Ausnahmefälle einführen, wenn beispielsweise durch eine vorzeitige Auflösung des Bundestages ein Minister unverschuldet keine volle Wahlperiode im Amt bleiben konnte. ({10}) Wir halten das Entstehen von Ansprüchen nach zwei Jahren nicht für vertretbar und unsere Regelung für die Ausnahmefälle weiter für sachgerecht. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Danke schön. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Der Antrag der Linken, über den wir heute debattieren müssen, ist ein Kuckucksei; denn es geht Ihnen hier eben nicht nur um die Bundestagsabgeordneten, sondern um einen Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Idee der Einbeziehung der Bundestagsabgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung ist zwar nicht neu, aber durchaus richtig. Denn die Rentenversicherung – und damit die Altersversorgung der Mehrheit der Bevölkerung – hängt wesentlich von der Politik derer ab, die eben nicht von den Auswirkungen der eigenen Beschlüsse betroffen sind. Millionen von Rentnern müssen aber mit unseren Entscheidungen leben. Die Abgeordneten sind vielmehr über ein eigenes, sehr gut ausgestattetes Pensionssystem abgesichert. Mit absinkendem Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung verliert der Bundestag, verlieren die Abgeordneten zunehmend an Glaubwürdigkeit. Vor diesem Hintergrund hätte ich mir geradezu gewünscht, dass viele, die seit Jahrzehnten mitgeholfen haben, die Rentenkasse kaputtzusparen, auch am Ergebnis beteiligt werden. Das sehen laut einer Umfrage übrigens 86 Prozent der Betroffenen genauso. Das heißt, auch wenn die finanzielle Größenordnung einer solchen Regelung überschaubar wäre: Die Einbeziehung der Bundestagsabgeordneten wäre durchaus ein Akt der Solidarität und ein Bekenntnis zur gesetzlichen Rentenversicherung. Deshalb frage ich mich: Wenn Sie das wirklich wollen, warum haben Sie es dann nicht bei dieser Forderung belassen? Denn mit Ihren weiteren Forderungen ruinieren Sie doch jede Chance auf Erfolg. Das wirklich Perfide dabei ist: Sie wissen das, und Sie machen es trotzdem. In Ihren Anträgen geht es zu wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau: Sie wollen immer mehr, so lange, bis nichts mehr übrig ist. Ich rede jetzt nicht einmal davon, dass Sie zeitlich versetzt zu den Abgeordneten auch sämtliche anderen Mandatsträger einbeziehen wollen, danach auch die Richter, die Beamten, die Landwirte, Selbstständige und Freiberufler, also eigentlich alle. Über eine solche Erwerbstätigenversicherung kann man natürlich diskutieren; aber dann sollte man das auch so kennzeichnen. ({0}) Liebe Kollegen von der Linksfraktion, es ärgert mich wirklich, dass Sie bewusst und wiederholt Forderungen aufstellen, von denen Sie ganz genau wissen, dass sie nicht nur im Parlament nicht zustimmungsfähig, sondern auch verfassungsrechtlich nicht umsetzbar sind. ({1}) Ich rede von der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, die Sie mal eben verdoppeln möchten, und von einer Deckelung der Rentenhöhe, die Sie daran koppeln wollen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, keine Deckelung! Sie nennen das in Ihrem Antrag so schön: degressiv abflachen. ({2}) Jeder hier in diesem Hause weiß: In unserer Sozialversicherung gilt das Äquivalenzprinzip. Der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und der Deckelung von Renten sind daher aus guten Gründen Grenzen gesetzt. Schauen Sie ins Grundgesetz, Artikel 3 und Artikel 14. Diese Grenzen wollen Sie niederreißen, indem Sie das Rentensystem auf gut Deutsch zu einer zweiten Einkommensteuer umwandeln – mit einer erheblichen Mehrbelastung der Beitragszahler, nichts anderes. Indem Sie so tun, als gäbe es diese verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht, veräppeln Sie nicht nur uns alle hier, sondern und vor allem auch Ihre Wählerschaft. ({3}) Denn was bleibt dann noch von Ihrem Antrag? Nichts. Der Sinn besteht einzig und allein darin, auch wieder etwas gesagt zu haben. Oder liegt es daran, dass Sie hier wieder einmal versuchen, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe stärker zu drangsalieren? Nach den Diskussionen ums Erschießen oder Ins-Arbeitslager-Stecken zu urteilen, haben Gutverdiener in linker Vorstellung sowieso keine Rechte mehr. Zum Wohle unseres deutschen Volkes sollten bei den Gesetzentwürfen aber Gesetzbücher und nicht Ideologiemanuskripte eine Rolle spielen. ({4}) Auf diese Weise wird das Vertrauen der Bürger sowohl in die gesetzliche Rentenversicherung als auch in den Staat erhalten bleiben. Für solche Anträge aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns allen unsere Zeit zu schade sein. Danke. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf noch einmal daran erinnern, dass wir demnächst die namentliche Abstimmung schließen. Wenn Sie also teilnehmen wollen, nutzen Sie jetzt die Zeit. Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Ralf Kapschack. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns finden es ziemlich blöd, dass wir als Abgeordnete selber über unser Einkommen entscheiden müssen. Aber das hat das Bundesverfassungsgericht vor langer Zeit festgelegt: Die Entscheidung über die Abgeordnetenentschädigung fällt hier. – Das kann man bedauern, aber es ist so. Das Gleiche gilt für die Altersversorgung von Abgeordneten. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, da verdruckst rumzueiern. Wer meint, der öffentlichen Diskussion ausweichen zu können, indem man am besten gar nicht darüber redet, der hat aus meiner Sicht schon verloren. Angst vor Populismus ist auch in dieser Situation ein schlechter Ratgeber. ({0}) Ich finde, wir sollten diese Diskussion offen, selbstbewusst und verantwortungsvoll führen; denn es geht auch um Vertrauen – davon war in den vergangenen Tagen viel die Rede –, und Vertrauen schafft und erhält man dadurch, dass man Entscheidungen transparent macht, nachvollziehbar, und dass man sich den gleichen Regeln unterwirft wie alle anderen auch. Um es vorweg zu sagen: Ich finde es gut, dass die Linke diesen Antrag vorgelegt hat. Es gibt in der Tat noch ein paar Fragen zu klären – Beitragsbemessungsgrenze, Finanzierung des Abgeordnetenbeitrags –, ja, stimmt. Aber davon abgesehen finde ich es richtig und wichtig, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Denn gerade die aktuelle Situation zeigt, dass wir solidarische Sicherungssysteme brauchen, in die alle einbezogen werden, ({1}) unabhängig von sozialen Lagen, Erwerbsbiografien und Einkommen. Auch für die Altersversorgung ist schwer vermittelbar, warum sich einem Pflichtsystem – und das ist die gesetzliche Rentenversicherung ja letztendlich – einige Gruppen entziehen können. Wenn wir über eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige reden, warum reden wir dann nicht auch über eine Altersvorsorgepflicht für Abgeordnete? Das versteht doch kein Mensch. ({2}) „Solidarität in der Alterssicherung“ heißt, dass alle Menschen im Alter eine angemessene, am erreichten Lebensstandard orientierte Rente erhalten. „Solidarität“ heißt auch, dass sich alle an der Finanzierung beteiligen. Und da reicht ein Hinweis auf einen steuerfinanzierten Zuschuss aus dem Bundeshaushalt nicht. Außer vielen Selbstständigen sind auch Beamtinnen und Beamte, Angehörige freier Berufe und eben auch politische Mandatsträger nicht Teil der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ist an der Zeit, alle Erwerbstätigen in die Rentenversicherung aufzunehmen und Sondersysteme zu überwinden. ({3}) Es ist eine Frage der Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes, wenn sich alle solidarisch an der Beitragsfinanzierung beteiligen, und es stärkt die gesetzliche Rentenversicherung insgesamt. Dass eine solche Erwerbstätigenversicherung Sinn macht, ist ökonomisch eigentlich unbestritten. Aber ich weiß ja, dass der Begriff „Erwerbstätigenversicherung“ für einige in der Union ein rotes Tuch ist. Aber lassen Sie uns doch deshalb nicht reflexartig die Debatte über die Altersversorgung von Abgeordneten vermeiden oder abwürgen. Lassen Sie uns doch einfach mal darüber nachdenken, wie wir der Öffentlichkeit, der Bevölkerung, also quasi unserem Arbeitgeber, klarmachen, dass wir uns als Gewählte und nicht als Erwählte verstehen. ({4}) Eine grundsätzliche Einbeziehung von Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung wäre gut für unsere Glaubwürdigkeit, das wäre gerecht, und es würde Transparenz schaffen. Mit der Altersvorsorgepflicht für Selbstständige packt die Koalition ein wichtiges Problem an. Das ist aus unserer Sicht der richtige Zeitpunkt, auch über die Alterssicherung von Abgeordneten zu reden. Ich bin fest davon überzeugt, dass es unsere Glaubwürdigkeit stärkt, wenn politische Mandatsträger vorangehen und sich künftig den gleichen Regeln unterwerfen, die für abhängig Beschäftigte und demnächst auch für Selbstständige gelten – Regeln, die schließlich hier festgelegt werden. ({5}) Im Übrigen: Viele unserer Nachbarländer sind da schon weiter als wir. Sie kennen ein Sonderversorgungssystem für ihre Abgeordneten schon lange nicht mehr. Meine Bitte an die Union: Nicht Reflex, sondern Reflexion! ({6}) Lassen Sie uns gemeinsam verabreden, dass wir grundsätzlich über die Altersversorgung von Abgeordneten reden und nach neuen Lösungen suchen. Es stimmt, im Koalitionsvertrag steht dazu nichts; zugegeben. Das ist allerdings aus meiner Sicht ein schwaches Argument. ({7}) Es geht um das parlamentarische Selbstverständnis, um nichts anderes. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Kapschack. – Für die Fraktion der FDP macht sich der Kollege Johannes Vogel bereit. ({0}) Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich weiß nicht, wie Sie es halten. Ich habe natürlich vor meiner Zeit als Abgeordneter als Angestellter in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt, und ich tue das übrigens jetzt als Abgeordneter als Teil meiner Altersvorsorge freiwillig weiter. ({0}) Ich bin persönlich auch der Meinung, dass man seriös diskutieren kann, ob das Altersvorsorgesystem der Abgeordneten, wie wir es heute haben, nicht noch besser geht. Ich finde zum Beispiel spannend, was in vielen Landtagen passiert ist. Schleswig-Holstein beispielsweise hat unter Mitwirkung unseres Vizepräsidenten Wolfgang Kubicki ein System erarbeitet, ganz ähnlich wie bei Selbstständigen, dass die Abgeordneten verpflichtet sind, fürs Alter vorzusorgen, aber selber entscheiden können, wie. Ich finde, Selbstständigkeit ist auch vergleichbar mit Abgeordnetentätigkeit. Das könnte ein modernes System sein, dem wir näher kommen sollen, was ja auch zu der Lebensrealität passt, die wir uns doch wünschen, dass nämlich Abgeordnete stärker zwischen Politik, Privatwirtschaft, vielleicht Wissenschaft und auch zurück in die Politik wechseln. Über eine solche Reform können wir gerne seriös diskutieren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, man kann auch seriös fordern, dass es bei der Rente eine Einheitskasse für alle Bürgerinnen und Bürger geben soll. Ich halte das nur für rentenpolitisch komplett verfehlt ({2}) und sage gleich mehr dazu. Aber man kann das seriös diskutieren. Mein Problem mit Ihrem Antrag ist: Ihr Antrag ist nichts davon. Ihr Antrag ist kein Beitrag zu einer seriösen Debatte, sondern Ihr Antrag ist schlichter Populismus. Lieber Kollege Bartsch, Sie haben eben so gesagt: Das ist doch nichts Neues bei den Linken. – Ja, das ist genau das Problem. Legen Sie uns seriöse Anträge vor und keinen durchschaubaren Populismus. Das ist leider das, was Sie hier heute gemacht haben, ({3}) und das gleich aus zwei Gründen. Ich will ausführen, warum ich das sage: Erstens. Ja, politische Verantwortungsträger müssen angemessen bezahlt werden. Privilegien nach dem Mandat darf es nicht geben. Wie ernst uns das ist, wird gleich mein geschätzter Kollege Konstantin Kuhle mit dem Gesetzentwurf begründen, den wir hier an die Debatte angehängt haben. Aber zur Seriosität gehört: Wenn Sie ein Altersvorsorgesystem für Abgeordnete abschaffen, was bisher auf der Abgeordnetenentschädigung draufliegt, jedoch nicht zugeben, dass anschließend natürlich die Abgeordnetenentschädigung erhöht werden muss, wie in allen Landtagen in diesem Land, die diese Reform gemacht haben, geschehen, dann ist das schlicht die Angst vor der Schlagzeile in der „Bild“-Zeitung. Das ist aber unehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dies ist ein Merkmal von Populismus. Deshalb können wir das hier nicht ernst nehmen. ({4}) Zweiter Punkt, und das macht es vielleicht sogar noch schlimmer. Reden wir mal kurz über Ihren Vorschlag einer Einheitskasse für alle Bürger. ({5}) Sie suggerieren ja, lieber Kollege Bartsch – nicht in Ihrer Rede, aber in dem Antrag –, das sei ein Beitrag zur Finanzierung des Rentensystems, eines Rentensystems, das als Umlagesystem mit Blick auf die Demografie unter Druck steht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht Quatsch. Wir alle wissen: Mehr Einzahler heißt auch: mehr Auszahler. Das nennt man Äquivalenzprinzip. Das heißt, nur dadurch, dass in einer alternden Gesellschaft mehr Menschen einzahlen, ist für die Stabilität des Rentensystems nichts gewonnen. ({6}) Dass das so sein muss, weil Einzahlungen in die Rente, die eine Versicherung ist, eben eigentumsgleiche Rechte sind, das hat unser Verfassungsgericht mehrfach festgestellt. Also, entweder es bringt nichts für die Rente, was Sie tun, oder es ist verfassungswidrig, und darauf wollen Sie leider hinaus. Ich zitiere mal aus Ihrem Antrag. Sie haben sich das Instrument einer „Beitragsäquivalenzgrenze“ ausgedacht. Ja, lieber Kollege Birkwald, ich weiß schon, dass das von dir kommt. „Enteignungshebel“ wäre ehrlicher gewesen; das ist nämlich das, worum es da geht. ({7}) Das ist schlicht unvereinbar mit den Grundlagen unseres Rentensystems, mit dem Äquivalenzprinzip. Das schreiben Sie auch selbst. Ich zitiere mal aus Ihrem Antrag: Wenn man das sofort umsetzen würde, dann sei zu erwarten, dass „das Bundesverfassungsgericht das entsprechende Gesetz als verfassungswidrig beurteilen könnte“. An anderer Stelle schreiben Sie: Ihr Vorschlag zielt auf etwas, das gerade noch so im „verfassungsmäßig zulässigen Maße“ liegen soll. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde davon ausgehen, dass wir hier Gesetze beschließen, die im höchsten Maße verfassungsgemäß sein sollen. ({9}) Sie wollen die Verfassung so weit biegen, wie es gerade noch möglich ist. Das wird entweder vor Gericht scheitern, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– oder es ist kein Beitrag zu stabilen Rentenfinanzen. Das nenne ich Populismus, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke fordert in ihrem Antrag die Einsetzung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe im Bundestag, um ab Beginn der 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages die zukünftige Altersversorgung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages in die gesetzliche Rentenversicherung zu überführen. So weit, so gut. Wäre der Antrag damit zu Ende, würden wir sagen: Wir stimmen sofort zu. Denn in der Sache ist es, glaube ich, richtig und notwendig, sich dieser Frage wirklich zu widmen. Wir haben im Jahr 2011, als die damalige Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechtes eingesetzt wurde, um die Frage der Höhe der Abgeordnetenentschädigung usw. festzulegen und uns Empfehlungen zu geben für die Festlegungsentscheidung im Parlament, leider die Chance vertan, uns vertieft der Frage der Altersversorgung der Abgeordneten und deren strukturellen Änderung zu widmen. Das ist aus meiner Sicht, im Jahr 2020 betrachtet, eigentlich eine vertane Chance gewesen, die wir damals haben liegen lassen. Ich fände es sehr gut – deshalb habe ich den ersten Teil Ihres Antrags zitiert –, wenn wir in aller Ernsthaftigkeit die Komplexität der Fragen und auch die Überführung eines lange zementierten Systems in ein neues System mit all seinen Fragen grundsätzlich diskutieren würden. ({0}) Es ist wichtig und notwendig, das zu tun. Vorschläge der Unabhängigen Kommission sind seinerzeit in Form eines Bausteinmodells gemacht worden. Es wurde zum Beispiel vorgeschlagen, dass als ersten Teil die Abgeordneten ihre bisherigen Versorgungsansprüche und Anwartschaften mitbringen. Als zweite Komponente könnten diese in die gesetzliche Rentenversicherung und eine Zusatzversorgungskasse eingegliedert werden. Als dritter Baustein käme eine gewisse Eigenvorsorge hinzu. Das waren alles interessante und wichtige Fragen, denen wir uns hätten widmen können. Ich fände es gut, wenn wir aus der Mitte des Hauses heraus in einer interfraktionellen Zusammenkunft dies auch wirklich tun würden. Aber warum sind Sie eigentlich nicht bei diesem Beitrag geblieben, sondern schwenken dann noch um auf das Mittel: „Wir stellen erst mal eine klare Forderung in den Raum, unterlegen die aber keinesfalls“? Sie suggerieren mit dem zweiten Teil Ihres Antrags doch: Das wäre alles ganz einfach, und die von mir angesprochenen Fragen ließen sich mal gerade so eben lösen. – Das ist doch nicht der Fall, meine Damen und Herren, und das wissen wir alle. Das führt am Ende dazu, dass es wieder uns alle trifft, indem sich dann natürlich jede und jeder daran abarbeitet. Ich sage Ihnen: Gerade die Abgeordnetenentschädigung und auch die Altersversorgung von Abgeordneten gehören auf andere Füße gestellt, aber nicht durch die Methode: Wir fordern mal was politisch – und das ist ein bisschen populistisch –; aber wir haben es nicht zu Ende gedacht. ({1}) – Herr Birkwald, Sie wissen es doch ganz genau: Das, was Sie da in Ihrem Antrag andeuten, ist nicht bis zu Ende gedacht. Sie machen am Ende keinen Vorschlag. Davor drücken Sie sich, und das wissen Sie auch ganz genau. Alle, die mit dem Thema zu tun haben, wissen das und sehen das. Deshalb sage ich: Das greift zu kurz, und es greift nicht nur zu kurz, sondern es hat die Methode „Populismus“: Ich fordere mal was, das nach außen gut klingt; ich löse aber kein einziges Problem, ({2}) und schon gar nicht interfraktionell mit dem gesamten Haus. Sie wissen, dass das so ist. Deshalb frage ich: Warum sind wir nicht beim ersten Teil Ihres Antrags geblieben und sagen: „Wir widmen uns einfach der Idee des Bausteinmodells, das die Unabhängige Kommission seinerzeit entwickelt hat, setzen darauf auf und überlegen in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe, wie wir denn dem Ziel näher kommen, die Abgeordnetenentschädigung anders aufzustellen, und zwar im Sinne einer Einbeziehung aller in die gesetzliche Rentenversicherung“? ({3}) Das ist nichts, was man mal so holzschnittartig wie in Ihrem Antrag vorlegt, sondern da muss man sich gründlich Gedanken machen: über die Frage, wie Überführung aussehen kann, wie Zusatzansprüche, wie all die Sachen dann geregelt werden können, und das liefern Sie nicht ansatzweise. Deshalb kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie an der Stelle gerne eine schöne Überschrift wollen, aber leider in der Substanz mit uns nicht daran arbeiten wollen. Das ist, finde ich, eine vertane Chance. Ich fände es wirklich gut, wenn aus der Debatte hervorgeht: Wir kümmern uns jetzt mal um dieses Thema, und wir sagen nicht, es ist einfach alles gut. – Denn es ist nicht alles gut. Wir haben hier die Pflicht, bei vielen Fragen darüber nachzudenken, was wir grundsätzlich in der Rentenversicherung ändern wollen. Wir brauchen eine Garantierente. Wir wollen den Einstieg in die Bürgerversicherung für Angestellte, Selbstständige, Minijobberinnen, Minijobber und auch für Abgeordnete. Wir wollen als Grüne auch eine Reform anstreben für ausgeschiedene Bundespräsidenten und für die Kanzlerin und die Kanzler. Denn auch hier hat uns der Bundesrechnungshof ganz klare Hausaufgaben gegeben im Hinblick auf das Ruhegehalt und die Anrechnung privater Einkünfte. Auch die Einbeziehung von Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung – mit allen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind – sollten wir angehen. Das ist die Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen. Aber das darf dann bitte nicht geschehen mit so einem kleinen Vorschlag en passant, der das Problem am Ende eigentlich nicht löst, sondern befassen wir uns damit wirklich in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe. Wir sind bereit und fänden es toll, wenn wir da was zusammen hinkriegen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In Artikel 38 Absatz 1 Grundgesetz steht – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident –: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Weiter heißt es dann in Artikel 48 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz: Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Warum stelle ich diese Sätze des Grundgesetzes der Beratung des Antrags der Linken voran? Damit wird verdeutlicht, werte Kolleginnen und Kollegen, dass ein Abgeordneter kein Arbeitnehmer, also nicht weisungsgebunden, sondern unabhängig ist und damit eine Sonderstellung einnimmt und somit nicht mit Arbeitnehmern verglichen werden kann. Das wird auch im Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975 zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere nochmals: Die Tätigkeit des Abgeordneten ist im Bund zu einem den vollen Einsatz der Arbeitskraft fordernden Beruf geworden; der Abgeordnete kann daher unter diesem Aspekt heute legitimerweise ein Entgelt beanspruchen, mit dem er seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu bestreiten vermag … Später heißt es dann: Noch deutlicher tritt der veränderte Charakter der Entschädigung bei der Einführung der Altersversorgung in Erscheinung. Mag man sie auch als einen „zusätzlichen, auf die nachparlamentarische Zeit projektierten Unabhängigkeitsschutz“ … etikettieren …, in Wirklichkeit ist der Ruhegeldanspruch des Abgeordneten heute ein Annex seiner Besoldung … Werte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, diesen Ansprüchen aus dem Grundgesetz und aus der Rechtsprechung wird ihr Antrag nicht gerecht. Ihre Forderungen sind mit der Stellung von Abgeordneten nicht vereinbar. Als symbolischer Akt taugt die Einbeziehung der Abgeordneten durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf die Höhe der Abgeordnetendiät auch nicht, da durch die Beiträge der Abgeordneten in der Rentenversicherung eine Mehreinnahme von knapp 16 Millionen Euro zu verzeichnen wäre. ({0}) – Nein, das ist schon mitgerechnet, Herr Kollege Birkwald. – Bei einem Haushalt von derzeit 242 Milliarden Euro ist das wohl eher ein Placebo, sage ich jetzt mal, statt eines wirkmächtigen Beitrags zur Finanzierung der Rentenversicherung. Also, Sie machen in hohem Maße Symbolpolitik – die Ausführungen des Kollegen Dietmar Bartsch haben es gezeigt –; es steckt aber nichts dahinter. ({1}) Das zeigt sich auch im Verhalten der Abgeordneten der Linken. Wir haben es miterlebt: Sie waren die Ersten, die gesagt haben: Die Bundestagsabgeordneten sollen heuer auf die Erhöhung ihrer Entschädigung verzichten. Das haben wir auch gemacht. ({2}) Das Tollste ist: Ich habe nachgeschaut, was der Thüringer Landtag gemacht hat – Ministerpräsident links, linke Regierung –: Dort hat man die Diätenerhöhung durchgesetzt. Man hat aber gesagt, die Abgeordneten sollen die Summe der Erhöhung spenden. – Gut, das können sie tun. Aber wissen Sie: Dadurch entsteht ein Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern; denn im nächsten Jahr nehmen sie die Erhöhung der Diäten natürlich ganz einfach mit. Genauso werden sie es auch in den Folgejahren tun. ({3}) – Natürlich nehmen sie sie dann mit. Im nächsten Jahr spenden sie nicht mehr; davon bin ich überzeugt. – Sie nehmen letztendlich nur ein Jahr später die Diätenerhöhung mit. Das ist Symbolpolitik der Linken in unserem Lande. ({4}) Ich habe mich gewundert: Ich dachte, es wird im thüringischen Landtag einen Andrang vonseiten der Landesregierung oder der Linkenfraktion geben, die Abgeordneten in die Rentenversicherung mit einzubeziehen. ({5}) Ich habe gesucht, gesucht, gesucht – mir sind die Augen übergegangen –; aber ich habe dazu nichts gefunden. ({6}) Also, hier bestimmte Ansprüche hereinzutragen, aber selbst nicht zu handeln, wo man handeln könnte, das ist in höchstem Maße unglaubwürdig und wird letztendlich der Thematik auch nicht gerecht. ({7}) Dazu kommt noch die Glorifizierung des österreichischen Systems.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Ich komme gleich zum letzten Satz. – Sie, Herr Kollege Birkwald, haben initiiert, dass wir uns mit dem österreichischen System auseinandersetzen. Dann kam heraus: Der Beitragssatz für die Rentenversicherung liegt in Österreich bei 22,8 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Einkünfte; bei uns liegt er bei 18,6 Prozent. Die Anwartschaft beträgt dort 15 Jahre, bei uns 5 Jahre. Die Beamten, die dort einzahlen, haben derzeit keinerlei Anspruch, weil sie erst mal 15 Jahre lang einzahlen müssen, bis sie überhaupt einen Anspruch haben. Das ist eine Veräppelung der Bürgerinnen und Bürger draußen. Sie wollen hier nur Polemik betreiben, aber keinen sachgerechten Beitrag leisten, wie es die Kollegin Haßelmann zu Recht gefordert hat. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der FDP verbessert das bestehende System der Altersversorgung von Ministern. Er macht aus einer Extrawurst eine bessere Extrawurst. ({0}) Unser Ziel aber sollte sein, die Extrawurst abzuschaffen. Abgeordnete und Minister müssen dieselbe soziale Absicherung haben wie die große Mehrheit der Bürger. Volksvertreter kann man nur sein, wenn man erlebt, was die Menschen tagtäglich erleben. Wenn unsere Mitbürger Angst um ihre Altersversorgung haben, weil die Rente eben nicht sicher ist, dann müssen auch wir das spüren. ({1}) Wie kann es sein, dass Minister und Abgeordnete nach wenigen Jahren ausgesorgt haben, während unsere Mitbürger teils nach über 40 Jahren auf Grundsicherung angewiesen sind? Regierung und Abgeordnete entscheiden über die Sozialsysteme. Unsere Entscheidungen haben oft weitreichende Folgen für die Mitbürger; daher müssen wir deren Probleme kennen. Wir müssen Folgen und Auswirkungen selbst erleben. Es sollte für uns eine Ehre sein, das gleiche Sicherungssystem zu haben wie der Großteil unserer Arbeitgeber; und unsere Arbeitgeber – das ist heute schon erwähnt worden –, das sind die deutschen Bürger. Das gilt übrigens nicht nur für die Rente, sondern auch für andere soziale Sicherungssysteme. Ich höre Abgeordnete und Minister häufig von Solidarität reden. Aber die Solidarität endet meistens dort, wo es den eigenen Geldbeutel und den eigenen Luxus betrifft. Knapp 90 Prozent unserer Mitbürger müssen mehrere Monate, teils über ein halbes Jahr auf Termine bei Fachärzten warten, weil sie gesetzlich versichert sind. Das kann schlimme Folgen haben, wenn Diagnosen oder Therapien erst nach Monaten erfolgen: ein lebensbedrohliches Problem, das viele Abgeordnete aber nur aus Erzählungen kennen, weil sie privat versichert sind. ({2}) Ich bin mir sicher, dass so manches in unseren sozialen Sicherungssystemen anders wäre, wenn Abgeordnete genauso abgesichert wären wie die Mehrheit der Mitbürger. Das sehen wir ja auch in anderen politischen Bereichen. Die katastrophale Verkehrspolitik in Großstädten gäbe es nicht, wenn Grüne und Linke vor ihrer politischen Karriere etwas Anständiges gearbeitet hätten und die Probleme eines Pendlers selbst kennen würden. ({3}) Die Bundeswehr wäre auch keine solche Lachnummer, wenn Wehrbeauftragte und Verteidigungsminister wenigstens einen Grundwehrdienst abgeleistet hätten. ({4}) Kurzum: Abgeordnete und Minister müssen aus dem Elfenbeinturm heraus. Wenn unsere Mitbürger sich von Wasser und Brot ernähren müssen, dann dürfen wir nicht Wein saufen und Kuchen essen. Wir müssen ganz normale Mitbürger ohne Privilegien sein. Das wäre ein erster wichtiger Schritt hin zu einer besseren Politik. Vielen Dank. ({5})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordnetenversorgung ist immer ein Aufregerthema. Dass das Thema das Potenzial hat, populistisch ausgenutzt zu werden, ist völlig klar. Und das haben wir hier ja schon häufig genug erlebt. Mit dem System der Abgeordnetenvergütung hat sich zuletzt 2014 eine Expertenkommission beschäftigt. Sie hat sich damals auch mit der Frage der Altersversorgung befasst. Eine Empfehlung gab es damals nicht. Die eine Hälfte der Experten wollte eine Einbeziehung der Abgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung. Die andere war dafür, es so zu lassen, wie es ist. Das zeigt schon: Das Thema ist sperrig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zentrale Säule unserer Altersversorgung ist die gesetzliche Rentenversicherung. Sie garantiert ein gutes Sicherungsnetz. Wir alle wissen aber, dass die Rentenversicherung vor allem in den nächsten 20 Jahren ein Finanzierungsproblem haben wird. Eine der Ursachen dafür ist, dass zu wenig Menschen einzahlen. Und es sind vor allem die Gutverdiener, die häufig nicht einzahlen, sondern separate Versorgungskassen nutzen. ({0}) Zu nennen sind hier die Selbstständigen mit berufsständischen Altersversorgungssystemen und die Beamten und natürlich auch die Bundestagsabgeordneten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Rentenversicherung zukunftsfest machen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass ihre Basis breiter wird, dass es möglichst wenige Ausnahmen gibt. Die SPD fordert deshalb schon lange eine Erwerbstätigenversicherung. ({1}) Noch in dieser Wahlperiode wollen wir es anpacken, dass die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Perspektivisch muss das auch für Neuverbeamtungen gelten und für alle weiteren Berufsgruppen, die jetzt noch in Sondersystemen Altersvorsorge betreiben. Es ist klar: Der Umbau unserer Alterssicherung wird eine Mammutaufgabe. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir wollen, dass unsere Rentenversicherung zukunftsfest wird, dann müssen wir uns dieser Aufgabe stellen. ({2}) Die kleinste Gruppe, die am unproblematischsten einbezogen werden könnte, das sind die Abgeordneten. ({3}) Mit einer Einbeziehung der Abgeordneten würden wir deutlich artikulieren: Uns ist es ernst mit dem Umbau der Alterssicherungssysteme. Wir Abgeordnete könnten als Vorbilder voranschreiten und unseren Teil zum Aufbau einer Erwerbstätigenversicherung leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie merken, ich habe eine gewisse Grundsympathie für die Einbeziehung der Abgeordneten in die Rentenversicherung. ({4}) Nach dem Grundgesetz ist eine wesentliche Aufgabe der Altersvorsorge, unsere Unabhängigkeit auch über das Mandat hinaus zu sichern; Herr Schnieder hat darauf hingewiesen. Eine zentrale Frage ist daher: Passt das in das klassische System der Rentenversicherung? Beißt sich das nicht mit dem der Rentenversicherung zugrundeliegenden Äquivalenzprinzip? Und wo wir vom Äquivalenzprinzip reden: Das wollen Sie, wenn nicht abschaffen, so doch einschränken. – Das Äquivalenzprinzip beinhaltet, dass die Höhe der Rente abhängig ist von der Höhe der vorher gezahlten Beiträge. Das Grundprinzip der Deutschen Rentenversicherung lautet daher: Wer viel einzahlt, bekommt am Ende auch viel heraus. Sie wollen jetzt aber eine neue „Beitragsäquivalenzgrenze“ einführen, wie Sie das nennen, wohl mit Betonung auf „Grenze“. Damit soll das neue Prinzip der Rentenversicherung offenbar lauten: Wer viel einzahlt, bekommt nicht mehr viel heraus. Sie wollen damit eine Umverteilung von oben nach unten betreiben. Ich sage Ihnen ganz offen: Einer solchen Umverteilung stehe ich persönlich immer aufgeschlossen gegenüber. Ob aber die Rentenversicherung für Umverteilungspolitik das geeignete Instrument ist, das möchte ich hier ganz vorsichtig bezweifeln. ({5}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Ihr Antrag wirft viele grundsätzliche Fragen auf, die es allemal wert sind, diskutiert zu werden. Ich freue mich daher auf die Debatte im Ausschuss. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartke. – Allgemeine Freude, höre ich gerade. – Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Konstantin Kuhle. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Altersvorsorge und die Altersversorgung von Politikerinnen und Politikern. Das ist immer ein heikles Thema. Dabei sollte uns zweierlei besonders am Herzen liegen: Zum einen muss das Verhältnis zwischen den übrigen Tarifstrukturen im öffentlichen Dienst und der Altersversorgung von Politikern angemessen sein, und zum anderen sollte die Bewertung der Höhe der Altersvorsorge immer vor dem Hintergrund der Tatsache erfolgen, dass wir hier über Steuergelder sprechen. Hier wird ja versucht – das ist gerade schon angesprochen worden –, das Thema Umverteilung auf die Rentenkasse zu verlagern. Der entscheidende Punkt ist doch: Wir reden hier über Steuergelder, und deswegen sind Zurückhaltung und Angemessenheit angesagt und nicht wegen des Versuchs der Umverteilung über die Rentenkasse. Meine Damen und Herren, es ist hier schon gesagt worden, warum eine Einbeziehung von Bundestagsabgeordneten in die gesetzliche Rentenversicherung ein Fehler wäre: Sie lösen damit nichts hinsichtlich des demografischen Wandels, und Sie schaffen neue Belastungen für die gesetzliche Rentenversicherung, indem neue Anwartschaften mit einbezogen werden. Ihr Vorschlag ist auch völlig unsystematisch, weil nach Ihrem Antrag der übrige öffentliche Dienst in die gesetzliche Rentenversicherung nicht einbezogen werden soll. ({0}) Wenn das der erste Schritt sein soll, dann müssen Sie sich als Nächstes – das sollte hier gesagt werden – die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten vornehmen. Davon kann ich aber vor dem Hintergrund des Personalmangels im öffentlichen Dienst nur abraten. Das ist der falsche Weg. Sie sind da auf dem Holzweg. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({1}) Gleichwohl, meine Damen und Herren, sind wir als Freie Demokraten aber bereit, über Strukturveränderungen im Bereich der Altersversorgung von Bundestagsabgeordneten, aber auch von Bundesministern zu sprechen; denn da liegt einiges im Argen. Da müssen bestimmte Dinge verändert werden. Deswegen lehnen wir heute nicht nur Ihren Antrag ab, sondern legen gleich noch selber einen Vorschlag zur Altersversorgung von Bundesministern vor. Es ist nämlich bisher so – lieber Kollege Schnieder, Sie haben es beschrieben –: Wer als Bundesminister mehr als zwei, aber weniger als vier Jahre tätig war, der wird bei der Berechnung des Ruhegehalts so behandelt, als wäre er gleich vier Jahre im Amt gewesen. Die zweite Regelung: Wer mit 60 Jahren zum Empfänger eines Ruhegehalts wird, der wird bei der Berechnung so gestellt, als sei er 63 Jahre alt. – Das ist eine unangemessene Überversorgung. Das muss abgeschafft werden. Wir brauchen hier eine Rückkehr zum strikten Grundsatz der Proportionalität zwischen der Dauer der Amtszeit und der Höhe des Ruhegehalts. Das können wir heute hier beschließen, meine Damen und Herren. ({2}) Jetzt werden die Kolleginnen und Kollegen von der Union sagen – das ist ja am Anfang der Debatte auch schon geschehen –: Es gibt Konstellationen, in denen ein Minister schutzwürdig ist; denn wenn die politischen Umstände dazu führen, dass ein Minister oder eine Ministerin sein oder ihr Amt verliert, dann muss man ihn oder sie schützen. Wenn diese Regelung aber zum Schutze Ihrer Minister geeignet und dafür da ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dann sorgen Sie doch mal dafür, dass Andi Scheuer, der absolut unter diese Regel fällt, endlich von ihr Gebrauch machen kann, damit er nicht mehr im Amt ist, ({3}) damit er angemessen versorgt ist und damit diese Regelung, die wir heute abschaffen wollen, endlich mal zum Einsatz kommt. Also: Entweder stimmen Sie für unseren Antrag, oder Sie entlassen Herrn Scheuer. Beides sind Möglichkeiten, damit wir bei der Frage der Altersvorsorge vorankommen. ({4}) In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Ich möchte nur darauf hinweisen, dass der Deutsche Bundestag einen Minister nicht entlassen kann. Der nächste Redner ist der Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewerkschaften, Sozialverbände und sehr viele Bürgerinnen und Bürger wollen eine Rente für alle Menschen mit Erwerbseinkommen. Deshalb fordern wir Linken als ersten Schritt hin zu einer echten Erwerbstätigenversicherung, dass Bundestagsabgeordnete ab 2021 endlich Beiträge von ihrer Abgeordnetenentschädigung in die gesetzliche Rente einzahlen, und das nicht nur für einen Teil unserer Diäten, sondern für die volle Abgeordnetenentschädigung. Wir wollen Privilegien abschaffen; das heißt für uns soziale Gerechtigkeit. ({0}) Konkret braucht es vier Schritte: Erstens. Ab der kommenden Legislaturperiode müssen Bundestagsabgeordnete von ihrer Diät 9,3 Prozent in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Zweitens. Weitere 9,3 Prozent der Abgeordnetenentschädigung zahlt der Bundestag als Arbeitgeberanteil in die Rentenkasse ein. ({1}) Im Ergebnis werden die Altersbezüge von uns Abgeordneten so zunächst um bis zu 73 Prozent gekürzt. Ja, das ist viel, aber nach unserem Konzept wird es Bundestagsabgeordneten möglich sein, zu den gleichen Konditionen wie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusätzlich Beiträge in eine betriebliche Altersversorgung des Bundestages einzuzahlen. Wir möchten ein weiteres Privileg abräumen: Wir schlagen drittens vor, die Beitragsbemessungsgrenze in drei Schritten zu verdoppeln und sie langfristig ganz aufzuheben. Dann würden nämlich alle Menschen mit sehr hohen Erwerbseinkommen auch Rentenversicherungsbeiträge zahlen und nicht mehr nur für bis zu 6 900 Euro. Ich sage: Wer 10 000 Euro Monatseinkommen hat, soll auch für 10 000 Euro Beiträge in die Rentenkasse zahlen. ({2}) Dann würden auch die Diäten der Bundestagsabgeordneten voll in der gesetzlichen Rente verbeitragt werden. Wir Abgeordneten entscheiden über die Renten von 76 Millionen Menschen, also von all jenen, die künftig mal eine Rente erhalten werden, und von den heutigen 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern. Darum ist es sozial gerecht, wenn auch wir von unseren eigenen rentenpolitischen Entscheidungen selbst betroffen sein werden. Zudem: Wenn langfristig alle Menschen mit Erwerbseinkommen, also auch Selbstständige, Freiberuflerinnen, Beamte, Unternehmerinnen, Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften und Abgeordnete, Beiträge in die Rentenversicherung zahlen, dann mögen diese zusätzlichen Einnahmen langfristig auch zur Anhebung des Rentenniveaus eingesetzt werden können. Deshalb müssen viertens sehr hohe Renten dann im höchsten verfassungsgemäß zulässigen Maße abgeflacht werden. Ein Beispiel: Künftig könnte es Menschen geben, denen aufgrund jahrzehntelanger Beiträge aus sehr hohen Erwerbseinkommen eine gesetzliche Rente von mehreren Tausend Euro zustünde. In der Schweiz gibt es darum eine Höchstrente und übrigens auch eine Mindestrente. Ich fände das gut: 1 200 Euro Mindestrente und zum Beispiel 4 800 Euro Höchstrente. Hier in Deutschland ginge das nicht, weil Sozialversicherungsbeiträge durch Artikel 14 unseres Grundgesetzes eigentumsrechtlich geschützt sind. Und darum sollen sehr hohe Renten abgeflacht werden. Das wäre meines Erachtens nach Artikel 20 unserer Verfassung, dem Sozialstaatsprinzip, in Verbindung mit Artikel 14 Absatz 2 – ich zitiere: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ – auch verfassungskonform. ({3}) So geht soziale Gerechtigkeit. Ich freue mich, Frau Haßelmann und liebe SPD, dass Sie mit uns darüber diskutieren wollen. Wir sind bereit, auch unseren Antrag zu verbessern. Ich freue mich auf alle Ihre Vorschläge. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Birkwald, Sie waren wahrscheinlich von Ihren Worten so ergriffen, dass Sie vergessen haben, die Maske aufzusetzen. ({0}) Das fassen Sie bitte als Ermahnung auf und nicht als Ordnungsruf. ({1}) – Ich darf das nicht weiter kommentieren, Frau Haßelmann. Mir fiel da gerade noch etwas anderes ein. Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor sich jetzt gleich alle wieder aufregen, muss ich noch eines loswerden. Ich habe den Eindruck: Sie haben den Anspruch, den wir hier im Parlament an unsere Aufgabe haben, nicht verstanden. Wenn Sie die Rentenversicherungspflicht von Abgeordneten in den Zusammenhang bringen mit Bürgernähe, dann haben Sie Ihre Aufgabe nicht verstanden. ({0}) Wir sind privilegiert, ohne Frage. Wir beziehen ein hohes monatliches Einkommen. Wir sind im Alter gut abgesichert. Aber die Frage, wie wir uns den Menschen, wie wir uns den Wählern jeden Tag in unseren Wahlkreisen stellen, darf und sollte doch damit nicht im Zusammenhang stehen, meine Damen und Herren. ({1}) Ich erkläre Ihnen gern noch einmal, was eigentlich unsere Aufgabe hier ist und warum wir hier sitzen und wie wir das würdigen. Ein Abgeordneter ist kein Erwerbstätiger im herkömmlichen Sinne. Das, was wir hier tun, ist kein gewöhnlicher Job. ({2}) Es ist eine besondere Aufgabe, es ist eine besondere Verantwortung gegenüber unserem Land, gegenüber unserem Staat. Und die Entscheidungen, die wir hier treffen, haben eine erhebliche Tragweite für die Zukunft und das Wohlbefinden in unserem Land. Wir definieren mit unseren täglichen Entscheidungen das Wohlergehen der Menschen in Deutschland ({3}) und auch die Rolle Deutschlands in dieser Welt. Und auf nichts anderes zielen unsere Versorgung und unsere Absicherung heute und morgen ab. Ich halte das für gerechtfertigt, meine Damen und Herren. Und wenn Sie das nicht verstanden haben, dann dürfen Sie gerne noch mal ins Abgeordnetengesetz schauen. Es gibt aber weitere Gründe, meine Damen und Herren, warum wir hier eine Sonderstellung genießen dürfen. Sie wissen es alle: Die hohen Diäten sind darauf zurückzuführen, damit wir nicht bestechlich sind. ({4}) Wir alle kennen Länder – selbst in Europa –, wo wir ein hohes Maß an Bestechlichkeit in den Parlamenten haben. Ich bin stolz darauf, dass wir in einem Land leben und in einem Parlament arbeiten, in dem das nicht der Fall ist, in dem wir frei sind in unserem Mandat, in dem wir frei sind in unserer politischen Entscheidung. ({5}) Das nennt sich freies Mandat, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wir üben diese besondere Verantwortung gegenüber den Menschen in unserem Land und gegenüber unserem Heimatland auch aus. ({7}) Aber es geht noch um einen weiteren Punkt, und der ist sehr, sehr wichtig; das darf ich an dieser Stelle mal sagen. Es geht natürlich bei der guten Versorgung auch darum, einen sogenannten Risikoausgleich zu schaffen und nicht nur politische Unabhängigkeit, sondern auch wirtschaftliche Unabhängigkeit herzustellen. Ich weiß ja nicht, wie Ihre Biografie vorher aussah. Aber viele von uns hatten ein Leben auch vor der Politik. ({8}) Sie waren abhängig beschäftigt, sie waren erwerbstätig. Das geben sie natürlich mit dem Einzug in den Deutschen Bundestag auf. Und nicht jeder von uns weiß, wie es danach weitergeht. ({9}) Nicht jeder ist Beamter, nicht jeder ist Rechtsanwalt und hat eine Anwaltskanzlei. Für viele ist die Frage „Wie geht es danach weiter?“ eine offene Frage. Sie verlassen berufliche Pfade. Sie verlassen ihr bisheriges Leben. Sie sind keine Privatperson mehr, sie sind eine Person des öffentlichen Lebens. Und ihre Meinung ist öffentlich, manchmal ist auch ihr Privatleben öffentlich. Und das ist der Grund, warum wir hier in besonderer Weise finanziell – auch was die Altersvorsorge anbelangt – abgesichert sind. ({10}) Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst aus der Fraktion Die Linke?

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, im Moment nicht. Vielen Dank. ({0}) Denken Sie mal an die Kommunalwahlen, wenn es darum geht, Bürgermeister aufzustellen für sehr interessante Kommunen, wie ich finde, auch mit einer sehr interessanten Entschädigung, also durchaus attraktive politische Positionen. Sie finden niemanden mehr dafür, weil viele Menschen sagen: Nein, das ist für mich eine Abwägungssache; das lohnt sich nicht. Ich verdiene in meinem bisherigen Job mehr Geld. – Oder was man auch oft hört: Nein, ich will das nicht. Ich möchte gerne anonym zum Bäcker gehen. Ich möchte nicht auf der Straße angesprochen werden von morgens bis abends. Man muss schon ein Menschenfreund sein, wenn man diesen Beruf ausübt, ohne Frage. ({1}) Aber nicht jeder in diesem Land ist dazu bereit. Und deswegen leisten wir uns das. Deswegen haben wir diese Privilegien. Und ich finde, dazu sollte man auch stehen können und stehen dürfen und dies auch wirklich mit Selbstbewusstsein nach draußen tragen. Das entbindet uns natürlich nicht davon, hier gute Entscheidungen zu treffen. Und wenn wir ein Problem in der gesetzlichen Rentenversicherung haben, dann sollten wir das in der Rentenversicherung selbst lösen, vielleicht mal über die Frage von versicherungsfremden Leistungen etc. sprechen. Da kann man über viele Dinge reden. Aber, Herr Birkwald, ganz ehrlich: Wir ändern doch nichts an unserem Rentensystem, an der Versorgung der Rentnerinnen und Rentner in unserem Land, wenn plötzlich alle Berufsgruppen darin einzahlen. Das ändert nichts. Das System bleibt das Gleiche. ({2}) Und noch einmal: Sie legen wieder einmal mehr die Axt an die Vielfalt in unserem Land. Rente, Absicherung, Altersvorsorge sind in Deutschland hochgradig vielfältig organisiert: durch Versorgungswerke, durch betriebliche Altersvorsorge, durch private Vorsorge und natürlich auch durch die gesetzliche Rentenversicherung. Ich möchte, dass wir diese Vielfalt bewahren und den Menschen auch in Zukunft eine Wahlmöglichkeit lassen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Während der Hygienemaßnahmen hat die Fraktion Die Linke eine Kurzintervention für den Kollegen Ernst beantragt. Herr Ernst, Sie haben das Wort.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Schimke, ich habe Ihnen ausführlich zugehört und auch gelernt, dass man ins Abgeordnetengesetz gucken muss. Da haben Sie ja vollkommen recht. Das haben wir schon gemacht, da waren Sie noch gar nicht im Bundestag. ({0}) Ich wollte nur darauf hinweisen. Und jetzt möchte ich Ihnen doch mal eine Frage stellen aufgrund Ihrer Ausführungen, die ich sehr spannend fand. Sie haben gesagt: Das Wichtigste ist die Unabhängigkeit des Abgeordneten, die sich auch durch sein Einkommen manifestiert. Jetzt gibt es ja auch gerade in Ihren Reihen und auch bei anderen Fraktionen eine ganze Menge von Abgeordneten, die zusätzlich Einkommen haben. ({1}) Ich möchte das jetzt gar nicht bewerten. Aber möchten Sie damit zum Ausdruck bringen, dass diese dann unabhängiger sind als die anderen, weil sie ja noch mehr Einkommen haben als das durch das Bundestagsmandat? Oder würden Sie dann sagen: „Weil diese ja schon so unabhängig sind, brauchen sie gar kein Einkommen mehr durch den Bundestag“? Wenn das Ziel die Unabhängigkeit ist, das wir durch die Einkommen und durch die Altersversorgung erreichen wollen, sich das aber unterschiedlich darstellt, könnte man dann auch zu dem Schluss kommen: Die Abgeordnetengehälter müssen so hoch sein wie bei dem, der die meisten Nebeneinkünfte hat. – Auch das wäre doch eine Lösung. Wenn man solche Vorstellungen hat, dann würde ich sagen, dass man irgendetwas falsch verstanden hat. Es geht natürlich darum, dass man unabhängig sein soll vom Einkommen her. Aber das rechtfertigt nicht automatisch eine Besserstellung in der Altersversorgung gegenüber allen anderen Bürgern dieses Landes. Und genau darum geht es uns mit diesem Antrag. Das wollen wir nämlich ändern. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie dürfen antworten, wenn Sie das verstanden haben.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne, Herr Präsident. – Lieber Kollege Ernst, die Unabhängigkeit gilt doch in beide Richtungen: Die gilt nach unten wie nach oben. Die gilt sowohl bei den Kolleginnen und Kollegen, die keine Nebentätigkeit ausüben, als auch bei denen, die eine ausüben, weil wir eben keine Erwerbstätigkeit ausüben. Wir haben ein freies Mandat. Das können Sie mit keiner anderen Erwerbsform in diesem Land gleichsetzen. ({0}) Deswegen ist es den Kollegen auch freigestellt, was sie in ihrer Freizeit tun. Ich finde es sogar gut und richtig, wenn wir neben dem Mandat, neben unserer politischen Tätigkeit vielleicht auch noch andere Lebenswirklichkeiten haben, vielleicht auch noch andere Möglichkeiten der, wenn Sie es so nennen wollen, Erwerbstätigkeit. Das ist doch gut und richtig. Wir wollen doch nicht abhängig sein vom Parlament. Wir wollen doch ein freies Leben führen. Wir wollen doch auch eine Zukunft haben nach dem Mandat. Deswegen halte ich es für gut und richtig, wenn wir unsere Augen öffnen, wenn wir unseren Blick schärfen und wenn wir auch noch andere Dinge tun, außer hier mit Ihnen im Deutschen Bundestag zu diskutieren. ({1}) Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es ja sehr schön, wenn bei der Vorbereitung auf eine Rede so ein bisschen eine ähnliche Stimmung aufkommt wie bei der Vorbereitung auf einen SPD-Parteitag. Mir ging das zumindest am Anfang der Beschäftigung mit dem Antrag der Linken ein wenig so. Insofern: Danke für einige Aspekte des Antrags! ({0}) Ich halte insbesondere die Idee einer interfraktionellen Arbeitsgruppe zum Austausch über die Altersversorgung von Abgeordneten für eine sehr diskutable Idee. ({1}) Die SPD hat auf Parteitagen schon ziemlich oft eine Erwerbstätigenversicherung beschlossen. Wenn man eine Erwerbstätigenversicherung will – die SPD will das; der Koalitionspartner eher nicht –, dann ist es aus meiner Sicht sehr logisch, dass man in einem ersten Schritt tatsächlich über die Abgeordneten spricht. Das wäre recht einfach. Man hat es zumindest nicht mit Lobbygruppen von außen zu tun; es ist auch eine sehr kleine Gruppe, und wir könnten eine Vorbildfunktion ausüben. ({2}) Bei manchen Reden habe ich hier ein bisschen den Eindruck gewonnen, dass man davon ausgeht, dass wir nicht Vorbilder sind, sondern dass wir etwas Besseres sind. Das würde ich mit einem ganz klaren Nein beantworten. Wir sind gewählt, aber wir sind nicht erwählt. ({3}) Ich finde aber, wenn man sich mit der Altersversorgung von Abgeordneten beschäftigt und deren Einbeziehung in die Rentenversicherung fordert, dann sollte man sich auch mit den Problemen befassen. ({4}) – Sorry, da ist totale Stille. ({5}) Wenn man das wirklich will, dann muss man auch die öffentliche Debatte aushalten wollen, die natürlich entbrennt, wenn – wir haben es in den Landtagen gesehen – die Diäten steigen ({6}) oder wenn Zuschüsse gezahlt werden, um die Alterssicherung von Abgeordneten sicherzustellen. Da ist bei Ihnen totale Stille. ({7}) Da müssen Sie wirklich noch mal nacharbeiten, wenn Sie sich nicht dem Vorwurf des Populismus ausgesetzt fühlen wollen. ({8}) Ich will aber sagen, dass aus meiner persönlichen Sicht die Einbeziehung von Abgeordneten auch fachpolitisch sinnvoll ist. Die gesetzliche Rentenversicherung basiert auf einem Generationenvertrag. Menschen, die erwerbstätig sind, zahlen ein. Später, im Alter, als Rentnerinnen und Rentner können sie sich auf die Solidarität der dann Jungen verlassen. Im Moment beschließen wir als Gesetzgeber aber über diese gesetzliche Rente, die das Haupteinkommen von ganz vielen Menschen in diesem Land ist, in erster Linie aus der Perspektive des Steuerzahlers, der ja in etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr in die gesetzliche Rente gibt. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir echter Teil, auch aktueller Teil dieses Generationenvertrages wären, wenn wir auch Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und zukünftige Rentnerinnen und Rentner wären. ({9}) Dieser ganz persönliche Perspektivwechsel des Gesetzgebers wäre gut für eine noch bessere Rentengesetzgebung. Es würde aber auch die Perspektive auf Betriebsrenten und auch auf die private Altersvorsorge verändern und verbessern. Insofern: Den ersten Teil des Antrags finden wir gut. Insbesondere über den dritten Punkt könnten wir uns trefflich streiten. Ich finde, da wird es manchmal auch abenteuerlich. Lieber Matthias, du redest von 4 800 Euro maximaler Rente. Die Erwerbsbiografie, mit der das funktionieren soll, musst du mir mal zeigen. ({10}) – Bei einer Beitragsbemessungshöhe von fünf Entgeltpunkten müsste man 30 Jahre lang ein Einkommen an der vorgesehenen Beitragsbemessungsgrenze verbeitragen. Eine solche Erwerbsbiografie zeigst du mir bitte mal, so ganz in echt. Ich kenne da keine. ({11}) Aber noch mal: Die ersten Punkte sind sehr diskutabel, und ich würde mich freuen, wenn wir Raum hier im Parlament finden würden, um das wirklich gut zu diskutieren. Vielen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Als ich die Überschrift zu diesem Antrag gelesen habe – „Bundestagsabgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen“ –, da hatte ich ja wirklich geglaubt und gehofft, dass wir über die Rolle der Abgeordneten sprechen: was für eine Stellung wir in der Gesellschaft haben, welche Leistungen wir erbringen und was uns deshalb auch als Vergütung zugemessen werden sollte. Aber davon haben Sie weder in Ihrem Antrag noch hier in der Debatte Gebrauch gemacht, liebe Linke. ({0}) Viele Kollegen haben ja schon gesagt, das sei Populismus. Ich bin mir da gar nicht so sicher. Ich habe eher den Eindruck, dass der Autor dieses Antrags leicht überfordert war. ({1}) Er schreibt nämlich am Anfang diesen schönen Satz: „Die gesetzliche Rentenversicherung … bietet … erhebliche Vorteile“. ({2}) Aber dann scheinen Ihnen keine einzufallen; denn der gesamte Antrag bezieht sich nur darauf, darzulegen, wie viel besser die Abgeordnetenversorgung ist, und zählt keinen einzigen Vorteil auf. Entweder hätten Sie Ihren Antrag anders begründen müssen, oder Sie hätten konsequenterweise als Linke eigentlich fordern müssen, dass die Rentenversicherung so gut ausgestattet sein sollte wie die Abgeordnetenversicherung. Also insofern: Völlig inkonsequent! Erschütternd eigentlich für die Linke! ({3}) Sie sind auch ein bisschen schlampig bei den Fakten. Im Antrag steht drin, dass es von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum noch Leute gibt, die nicht versichert sind. Sie tun da so, als ob es da nur noch eine kleine Elite gibt. Ich habe mir das mal angeguckt: Tatsächlich zahlen 15 Prozent der Erwerbspersonen in Deutschland nicht in die Rentenversicherung ein. Für alle, die das gerne in Zahlen haben: Das sind 7 Millionen Menschen. ({4}) Wenn Sie von den Linken also sagen, dass 15 Prozent wenige Menschen sind, dann sind Sie mit Ihren 7 Prozent in den Umfragen eine Splittergruppe; das sage ich Ihnen, gar keine Frage. ({5}) Dann stützen Sie sich ja auf einen Wochenbericht des DIW. Da zitieren Sie auch korrekt, dass sich die gesetzliche Rentenversicherung auf mittlere Sicht deutlich stabilisiert, wenn man die Freiberufler etc. in die Rentenversicherung einbezieht. Sie haben aber den zweiten Satz vergessen, der gleich dahinter kommt, und den will ich gerne hier noch mal anfügen. Der lautet: „In der längeren Frist reduzieren sich diese Entlastungseffekte …“. Sie haben keine Auswirkung. Das heißt auf gut Deutsch: Das Rentenniveau sinkt, und die Beiträge steigen. ({6}) Dolle Reform, kann ich da nur sagen, ganz dolle Reform! ({7}) Und was Sie am Schluss dann in Ihren Antrag auch noch reinschreiben, zeigt, dass Sie eigentlich die Studie des DIW gar nicht verstanden haben. Sie wollen ja die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen. Das bedeutet aber, dass Sie nicht neue Leute in die Rentenversicherung reinholen, sondern nur von denen mehr abkassieren, die schon drin sind. Das zeigt ja, dass Sie die Studie nicht verstanden haben. Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze auf 13 800 Euro anheben. Da habe ich mir gedacht: Donnerwetter! Warum sind Sie da eigentlich so zaghaft? Die, die knapp über dem Durchschnitt verdienen, wollen Sie stärker zur Kasse bitten, aber die richtig Reichen wollen Sie laufen lassen, die sollen nicht in die Rentenversicherung einbezahlen. ({8}) Da muss ich ehrlich sagen: Wenn Karl Marx das gewusst hätte, dann würde er sich im Grabe umdrehen, wie schlampig Sie den Sozialismus hier in Deutschland umsetzen, meine Damen und Herren. Es ist wirklich unfassbar! ({9}) Und dann erfinden Sie auch noch diese Beitragsäquivalenzgrenze. Das heißt auf gut Deutsch: Man bezahlt zwar mehr ein, aber man kriegt nicht mehr raus. Wir halten das für grob verfassungswidrig; das muss man ganz klar sagen. ({10}) Das haben auch schon Kollegen dargelegt. Aber auch da waren Sie schon mal mutiger, liebe Linke. Sie haben uns doch hier immer mit der Reichensteuer traktiert. Wo bleibt die denn? Die fehlt hier in diesem Antrag. ({11}) Deshalb kann ich nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir lehnen diesen Antrag definitiv ab, nicht nur, weil er nicht auf unserer Linie liegt, sondern auch, weil er noch nicht mal auf Ihrer Linie liegt. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Damit schließe ich die Aussprache.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute Morgen um 10 Uhr wurden 71 750 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Energien produziert und nur 31 526 Gigawatt aus konventionellen Energien, Kernkraft und Kohle. Das bedeutet: Es gab einen Anteil von über 50 Prozent der Erneuerbaren in der Stromversorgung. ({0}) Allen Voraussagen nach werden wir in diesem Jahr erleben, dass 50 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien stammt, im Vergleich zu nur 23 Prozent im Jahre 2012. Damals, Herr Krischer, das weiß ich noch, übernahm ich das Amt des Bundesumweltministers; ich habe mir die Zahl gemerkt. Das heißt, wir haben in weniger als einem Jahrzehnt den Anteil der erneuerbaren Energien beim Stromverbrauch mehr als verdoppelt. ({1}) Das ist ein großer Erfolg für die Energiebranche, für die Branche der Erneuerbaren, für alle Beteiligten, und ich denke, wir sollten ein bisschen mehr über die Erfolge reden und nicht immer nur beklagen, wie schlecht alles ist, und unser Licht unter den Scheffel stellen. Das versteht außerhalb niemand. ({2}) Meine Damen und Herren, wie Sie unseren Vorlagen sowohl zur EEG-Novelle als auch zum Bundesbedarfsplangesetz entnehmen können, machen wir unsere Energie- und Stromversorgung fit für die Herausforderungen der Zukunft: Klimaneutralität spätestens im Jahre 2050 und außerdem ein ehrgeiziges Klima- und Erneuerbarenziel im Jahre 2030. Da werden Sie im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch einiges diskutieren. Wir haben als Ausgangspunkt das 65-Prozent-Ziel des Koalitionsvertrages genommen. Aber richtig ist, dass seither auch Zeit vergangen ist und dass wir uns überlegen müssen, was möglich und was sinnvoll ist. ({3}) Trotzdem, meine Damen und Herren, müssen wir die Fakten – das, was realistisch und machbar ist – im Auge behalten. Wir haben in unserem Gesetzentwurf ein ehrgeiziges Ziel vorgesehen: die Steigerung der Windenergie auf bis hin zu 71 Gigawatt im Jahre 2030 ({4}) und praktisch die Verdopplung der Photovoltaik, was die installierten Kapazitäten angeht, auf 100 Gigawatt in rund zehn Jahren. Das sind ehrgeizige Vorhaben. Ich bin aber überzeugt, dass sie gelingen können. ({5}) Wir müssen viele Hausaufgaben machen. Die Akzeptanz von Windkraftanlagen an Land, also sie nicht mehr als störenden Faktor zu betrachten, ist eine notwendige Voraussetzung. Wir beteiligen die Kommunen. Wir werden eine Lösung finden für ausgeförderte Anlagen, die an Standorten stehen, die sich für eine Direktvermarktung nicht unbedingt eignen. ({6}) Aber, meine Damen und Herren, die Energiewende hin zu erneuerbaren Energien als Hauptträger der Stromversorgung in Deutschland wird nur gelingen, wenn wir marktwirtschaftliche Verfahren stärker zur Anwendung bringen. ({7}) Das hat mit der Direktvermarktung begonnen, das wurde mit den Ausschreibungen fortgeführt. Diesen Prozess werden wir fortsetzen. Wir werden durch viel Geld, was wir im Bundeshaushalt in die Hand nehmen, sicherstellen, dass die EEG-Umlage durch die Coronapandemie nicht deutlich steigt. Wir werden sogar erreichen, dass sie sinkt: auf 6,5 Cent im nächsten Jahr und auf maximal 6 Cent im Jahr darauf. Mein Ziel ist es, dass die EEG-Umlage durch kluge und gute Reformen in Zukunft regelmäßig sinkt, bis sie am Ende nicht mehr notwendig ist und die erneuerbaren Energien dann mit ihren Kostenvorteilen imstande sind, aus eigener Kraft und wettbewerbsfähig ihre Geschäftsmodelle zu erlösen. ({8}) Weil die erneuerbaren Energien dezentral in den ländlichen Regionen ausgebaut werden, wo viel Platz für Windräder und Photovoltaikanlagen ist, wird das nur gelingen, wenn wir insgesamt über 10 000 Kilometer Stromleitungen neu bauen. Das ist für die Betroffenen nicht einfach; denn niemand möchte gerne eine Stromleitung vor der Haustür oder über seinem Acker haben. Aber nachdem wir uns gemeinsam für diese Energiewende entschieden haben – ich sehe Peter Bleser und viele andere mehr, die das von Anfang an unterstützt haben, weil es auch für die ländlichen Räume eine Einkommensperspektive eröffnet hat –, müssen wir nicht nur dafür sorgen, dass die Windräder, die Biogasanlagen und die Solardächer gebaut werden, sondern insgesamt auch erreichen, dass der Strom dorthin transportiert werden kann, wo er benötigt wird. ({9}) Uns gehen die Herausforderungen, meine Damen und Herren, nicht aus. Wir haben uns mit der Nationalen Wasserstoffstrategie dafür entschieden, Grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien zu erzeugen, den wir vielfältig einsetzen können, nicht nur im Verkehrsbereich, sondern auch im Wärmebereich und in vielen anderen Bereichen der Energiewende, zum Beispiel bei der Sektorkopplung. Wir wissen, dass wir besser werden müssen, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Erzeugungs- und Verbrauchsarten miteinander zu verbinden. Ich glaube, dass es richtig und notwendig ist, dass wir über diese Fragen im Einzelnen streiten. Deshalb freue ich mich auch über jeden Tweet von Oliver Krischer, indem er wieder mal sagt, dass dieser Minister das Letzte sei und alles ruiniere, obwohl der Anteil der Erneuerbaren im Stromverbrauch jedes Jahr astronomisch steigt. ({10}) Das ist nun schon eine alte Tradition. Die Menschen würden sich fragen: „Stimmt was nicht?“, wenn Sie mich plötzlich loben würden. ({11}) Aber ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, in der Frage des Klimaschutzes und auch in der Frage der Erneuerbaren noch vor der nächsten Bundestagswahl einen Konsens hinzubekommen. So wie wir uns vor vielen, vielen Jahrzehnten darüber verständigt haben, dass die soziale Marktwirtschaft unser Wirtschaftsmodell ist, wie wir uns nach langen Diskussionen, die auch mir und meinen Kollegen nicht leichtgefallen sind, über den Ausstieg aus der Kernenergie verständigt haben, so ist es, glaube ich, jetzt an der Zeit für einen großen Kompromiss, mit dem wir uns zur Klimaneutralität spätestens 2050 bekennen. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Wirtschaft, dass die Industrie diesem Prozess nicht zum Opfer fällt, und ihr dabei helfen, diese Transformation marktwirtschaftlich zu bestehen. ({12}) Dann haben wir etwas Großes erreicht, und dann wird diese Energiewende in vielen Ländern Nachahmer finden. Herzlichen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder eine Nachfrage aus der SPD-Fraktion, die ich noch zulassen würde?

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Ja, gerne. – Wer möchte denn? ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Altmaier, die Zielsetzungen, die Sie in Ihrer Rede untergebracht haben, sind, glaube ich, keine, die einem Kompromiss unterworfen werden müssten. Es ist allerdings sehr erstaunlich, dass sich von all diesen Zielvorgaben nur sehr wenige in dem aus Ihrem Haus kommenden Gesetzentwurf wiederfinden. Ich möchte nur auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen – ich könnte noch viele weitere Punkte nennen, aber es steht mir, glaube ich, in dieser Zwischenbemerkung nicht zu, diese jetzt aufzugreifen –: Sie behaupten, dass man für die Maßnahmen der fortgesetzten Energiewende und für einen weiteren Ausbau der Windenergie auf Netze angewiesen sei und diese Netze noch nicht existierten. Sie müssten doch eigentlich wissen, dass das einfach nicht stimmt. Sie haben an anderen Stellen schon häufig konstatiert – da gebe ich Ihnen völlig recht –, dass wir die Sektorenkopplung brauchen, dass wir in Wasserstoff gehen müssen. All diese Dinge wären möglich. Wenn man Überschussstrom unmittelbar in die Wärmeverwendung überführt und in die Sektorenkopplung in Richtung Verkehrswende transferiert, ist der von Ihnen gerade wieder angeführte Netzausbau unnötig; und das wissen Sie. Trotzdem wird immer wieder, auch von Ihnen, das Bild skizziert, dass wir von weiteren Infrastrukturschritten abhängig seien, die sehr viel Planungsvorlauf haben. Damit wird nichts anderes suggeriert, als dass wir es nicht schaffen, dass wir eigentlich viel mehr Zeit für die Energiewende bräuchten. Ich glaube, dass wir bei der Energiewende nicht von Kompromissen abhängig sind, sondern dass wir bei den Fehlmeldungen auch dieser Art drastisch zurückschalten müssen, um endlich diese Hemmnisse zu überwinden, die teilweise wirklich hausgemacht sind, gesetzlich implementiert sind. Genau um deren Beseitigung muss es gehen, also um die Beseitigung von Hemmnissen. Ich bin auch, ehrlich gesagt, ein bisschen enttäuscht, dass Sie das mit Ihrem Gesetzentwurf nicht schon ein Stück weit geleistet haben. ({0})

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie meine Redezeit verlängert haben. Zunächst einmal: Dass Sie sagen, der Entwurf sei enttäuschend, ist Ihr gutes Recht. Aber ich darf nur darauf hinweisen, dass beispielsweise der Herr Untersteller, der grüne Umweltminister in Baden-Württemberg, ihn sehr positiv kommentiert hat, als ich ihn vorgelegt habe, ({0}) und dass er in vielen Stellungnahmen auch von Sozialdemokraten positiv kommentiert worden ist. Wenn Sie hier die These aufstellen, dass die Energiewende auch ohne den Netzausbau gelingt, dann ist das Ihr gutes Recht; aber Sie stehen damit ziemlich alleine da. ({1}) Ich habe mich in der Vergangenheit sehr dafür eingesetzt, dass wir die bisherigen Ausbauziele und auch die Ausbauziele für 2030, den Anteil von 65 Prozent, im EEG abbilden. Der Vizekanzler und Bundesfinanzminister, der Ihnen vielleicht bekannt ist, weil er einer Partei angehört, der Sie auch angehören, hat mehrfach öffentlich gesagt, wir müssten beim Netzausbau viel ambitionierter sein und noch viel mehr die wachsenden Mengen der erneuerbaren Energien antizipieren, damit die Netze in zehn Jahren fertig sind. Sie sehen, es gibt auch in Ihrer Partei pluralistische Auffassungen, und das ist gut so. ({2}) Lassen Sie uns doch darüber konstruktiv diskutieren. Ich weiß zum Beispiel, dass es in den Social Media eine Debatte über die Frage der künftigen Förderung der Photovoltaik im Hinblick auf den Eigenverbrauch gibt. Dann wird so getan, als ob sich die Situation für die kleinen Häuslebauer verschlechtern würde. Dabei wird sie verbessert. Die hatten bisher nämlich nur eine Befreiung von den geltenden Regelungen bis 10 kW. Das wird jetzt auf 20 kW erhöht. Das ist für jeden kleinen Häuslebauer eine Riesenerleichterung. ({3}) Aber wenn ein großes Unternehmen sich entscheidet, auf seinen Dächern eine Anlage zu bauen, die so groß ist wie eine Freiflächen-PV-Anlage, und wenn es damit gutes Geld verdient, dann bin ich der Meinung, dass dem auch zuzumuten ist, dass es dann den gleichen Beitrag zur Finanzierung des EEG leisten muss wie jede Witwe in Wanne-Eickel, irgendwo im Schwarzwald oder anderswo, ({4}) der wir für jedes Kilowatt Solarstrom, das sie verbraucht, abverlangen, dass sie die EEG-Umlage zahlt. Denken Sie bitte mal darüber nach! Dann werden wir zu guten Kompromissen gelangen können. Vielen Dank. ({5})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Minister Altmaier, 58 Prozent erneuerbarer Strom sind nicht gut, sondern schlecht. Denn dieser Anteil bedeutet einfach, dass wir weiter Deindustrialisierung haben, dass wir steigende Strompreise – eben deshalb Deindustrialisierung – haben und dass wir sinkende Versorgungssicherheit haben. ({0}) Das ist auch nur ein Zeitfenster. Wir können an Kapazität zubauen, wie wir wollen; da kommt ja nicht anschließend mehr Strom raus, weil der Strom eben nicht dann produziert wird, wenn er gebraucht wird, sondern einfach so. ({1}) Die EEG-Umlage sinkt nicht einfach nur so, nein, sondern weil der Steuerzahler jetzt bemüht wird. Im nächsten Haushalt stehen ja diese 10,8 Milliarden Euro drin. Sie wissen ganz genau: Die Strompreise würden durch die Decke gehen, wenn man das nicht verschleiern würde, wenn man dafür nicht Steuergelder nehmen würde. Deswegen ist diese Aussage einfach falsch. ({2}) Aber was uns noch mal hat aufhorchen lassen, ist, dass Sie sagen, mit Erneuerbare-Energien-Anlagen würde man den ländlichen Raum unterstützen können. Herr Altmaier, den ländlichen Raum unterstützen wir mit gezielten Subventionen, aber doch nicht mit Subventionen für Erneuerbare, um dann daraus indirekt die Subventionen für den ländlichen Raum zu machen. Das ist doch völliger Quatsch, meine Damen und Herren. ({3}) Man sieht an all diesen ganzen Dingen, dass die Energiewende so nicht funktioniert. Das geht ja auch nicht, weil sie eben planwirtschaftlich ist. Nun sollen Windindustrieanlagen zur nationalen Sicherheit gehören und im öffentlichen Interesse sein. Das ist völlig absurd. ({4}) Die erneuerbaren Energien senken die Versorgungssicherheit. ({5}) Jeder Zubau senkt die Versorgungssicherheit, der Grenznutzen wird geringer. Wenn die Zahl der konventionellen Stromversorgungsanlagen sinkt, dann sinkt eben die Versorgungssicherheit. Nun sollen also Rechtswege und die Rechtsstaatlichkeit weiter beschnitten werden, da die Energiewende nicht funktioniert. Erst letztens wurde der Rechtsweg verhindert, um die Möglichkeit der Aufstellung umweltschädlicher Windindustrieanlagen durch das Investitionsbeschleunigungsgesetz zu erweitern. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen ein Windrad vor der Haustür haben keine aufschiebende Wirkung mehr. Davon träumt jeder Mittelständler, der seinen Betrieb etwas ausweiten will. Der träumt von solchen Möglichkeiten, meine Damen und Herren. Die Energiewende ist gescheitert, und jetzt müssen eben die gesetzlichen Grundlagen weiter verändert werden. Die Errichtung von Windindustrieanlagen und Solarmonokulturen soll nun diesen herausragenden Status erhalten. ({6}) Sie werden als im öffentlichen Interesse stehend und für die nationale Sicherheit notwendig erklärt, pauschal und ohne Berücksichtigung des Einzelfalles. Das sind staatliche Fake News, das sind regierungsamtliche Falschbehauptungen, meine Damen und Herren. ({7}) Dieser Abbau der Rechtsstaatlichkeit zeigt sich eben auch im Begründungstext: Die Existenz des Staates, ja selbst das Überleben der Bevölkerung ist von einer sicheren Energieversorgung abhängig. – Das ist soweit richtig. Doch die Bundesregierung handelt genau entgegengesetzt, und das eben vorsätzlich. Denn der Kohle- und Kernenergieausstieg verringert ja gerade die Versorgungssicherheit. Der Zubau von Windindustrieanlagen verringert die Versorgungssicherheit. Also: Willkommen, meine Damen und Herren, in Absurdistan. Absurder kann es eigentlich nicht sein. ({8}) Diese Gefährdung der Energieversorgung als Element der nationalen Sicherheit zu verkaufen, hätte dem Politbüro des ZK der SED alle Ehre gemacht. So wurde damals zum Beispiel der antifaschistische Schutzwall – in Anführungszeichen – „zur Sicherheit der Menschen“ errichtet. Aber es war natürlich klar, dass er die Freiheit einschränkt, genauso wie das hier den Umweltschutz und die Versorgungssicherheit einschränkt, meine Damen und Herren. Deswegen lehnen wir diese gesetzlichen Regelungen ab und verweisen auf unsere Forderung, dass wir das EEG in Zukunft abschaffen. Das genau ist der richtige und zukunftsweisende Weg. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kotré. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass von Klimawandelleugnern nicht viel zu erwarten ist, ist klar. Deswegen will ich meine Redezeit nicht darauf verwenden, auf Ihre Rede einzugehen, Herr Kollege Kotré. Aber was mich enttäuscht hat, lieber Minister Altmaier, war Ihre Rede. Noch vor wenigen Wochen haben Sie die große Klimacharta eingefordert. ({0}) Das ist die Metaebene, die ist so schrecklich einfach. Aber wenn es konkret wird, dann kann man doch großen Worten wirkliche Taten folgen lassen, ({1}) und das vermisse ich leider, lieber Kollege Altmaier. Ich habe noch mal extra nachgeguckt: Sie sind ja nicht nur Minister, sondern Sie sind auch Abgeordneter. Deswegen lade ich Sie herzlich ein, uns als selbstbewusste Parlamentarier jetzt dabei zu unterstützen, dieses kleine Reförmchen wirklich zu einem großen Wurf zu machen. Wir wollen einen großen Wurf bei diesem EEG, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es ist doch so: Ich weiß nicht, was Ihnen Herr Untersteller als sozusagen schwarz-grüner Minister mit auf den Weg gegeben hat. Aber alle um uns herum fragen doch relativ kopfschüttelnd: Was machen wir hier eigentlich? Wir können nicht – und das ist der Schlüssel für alles – aus Kohle und Atom aussteigen, wenn wir nicht parallel dazu die Alternativen aufbauen. Die Erneuerbaren sind der einzige Schlüssel, um hier eine gute Zukunft zu organisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Industrie wartet darauf, dass wir ein Go geben. Aber das, was sich in diesem Entwurf an vielen Stellen weiter verfestigt, ist ein bürokratisches Monster, das jeden abschreckt, der in Erneuerbare investieren will. Wir wollen hier eine Entbürokratisierung, und da die CDU/CSU-Kollegen das auch wollen, bin ich guten Mutes, dass wir jetzt im parlamentarischen Verfahren weiterkommen. ({4}) Zum Thema Altanlagen, zu dem uns Menschen wirklich landauf, landab schreiben: „Seit 20 Jahren wisst ihr: Das Problem kommt auf uns zu“, ({5}) geben wir keine Antworten – nichts. Im Gegenteil: Wir vertagen es wieder. Sie haben mit der Windbranche ein großes Gespräch geführt, ohne einen konkreten Vorschlag zu machen. Herr Minister Altmaier, das reicht nicht; das müssen wir jetzt hier, in diesem Parlament, nachbessern. ({6}) Wir haben in dieser Großen Koalition, finde ich, einiges geschafft. Ich sage auch: Wir haben einiges geschafft, weil es die SPD-Bundestagsfraktion gegeben hat. ({7}) Wir haben lange um die Abschaffung des Solardeckels mit Ihnen gerungen. Wir haben über Mindestabstände für Windräder geredet, die dann nicht gekommen sind, und wir haben auch Sonderausschreibungen im Bereich der Wind- bzw. der Solarenergie durchgesetzt, die jetzt wirken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Das zeigt doch, dass eigentlich ein Riesenpotenzial darin liegt, den nächsten großen Schritt zu gehen. Deswegen wollen wir einen Zukunftspakt. Die SPD-Bundestagsfraktion will einen Zukunftspakt zwischen Bund, Bundesländern und Kommunen, wo wir verpflichtend tatsächlich alle Hand in Hand an diesem großen Projekt arbeiten. Dann müssen sich auch diejenigen Grünen bekennen, die in den Landesregierungen sehr wohl Abstandsregeln für Windräder mitverantworten. ({9}) Diesen Zukunftspakt, lieber Oli Krischer, wollen wir auch hier im Parlament so fraktionsübergreifend wie irgend möglich schmieden. Deswegen lade ich alle herzlich ein, zu überlegen, wie wir nicht erst in einem Jahr, sondern jetzt, in diesem Jahr, unseren Herausforderungen gerecht werden und den Erneuerbaren zum Durchbruch verhelfen können. Anders werden wir diese Energiewende nicht schaffen. Es muss ein Riesen-Mitmachprojekt sein, nicht nur für Leute, die Häuser besitzen, sondern auch für Mieterinnen und Mieter. Für sie fehlen Anreize. Deswegen: Lassen Sie uns diese Zeit nutzen! Lassen Sie uns den November nutzen, um hier etwas Großes zu machen! Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich massiv dafür einsetzen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Miersch. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sandra Weeser, FDP-Fraktion. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Altmaier, erinnern Sie sich noch? Schon bald werden erneuerbare Energien in Deutschland ohne weitere Subventionen finanziert. – Das waren Ihre Worte vor zweieinhalb Jahren. Nun, zweieinhalb Jahre später, legen Sie mit diesem Gesetzentwurf eine 180-Grad-Wende hin. Marktwirtschaftliche Elemente – Fehlanzeige! Sie wollen erst 2027 mit einem Konzept zum Ausstieg aus der EEG-Förderung beginnen. Wo ist eigentlich Ihr Gestaltungswille? ({0}) Sie haben in Ihrer Amtszeit nichts für den Klimaschutz getan. ({1}) Sie haben in Ihrer Amtszeit nichts dagegen getan, dass Deutschland die höchsten Strompreise in Europa hat. Ihre Untätigkeit müssen die Menschen in diesem Land bezahlen. Ich bin überzeugt: Die Energiewende wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht jährlich mit Milliarden an Steuergeldern subventioniert wird. Doch dagegen tun Sie nichts. So belasten Sie auch weiterhin die Menschen und die zahlreichen Unternehmen in Deutschland; Chancen vertan. ({2}) Sie tun nichts für Solarenergie. Der Mittelstand ist enttäuscht. Sie sorgen für immer mehr Bürokratie. Und Sie legen weiter nationale und planwirtschaftliche Ausbauziele für einzelne Technologien fest. Das hat noch nie funktioniert. Ihr nationaler Ansatz ist auch nicht geeignet, weltweit das Klima zu retten. Viel besser ist doch, die Energie- und Klimapolitik direkt darauf auszurichten, Treibhausgase zu reduzieren; darum sollte sich alles drehen. Mit dem Emissionshandel auf der europäischen Ebene steht das richtige Instrument ja schon zur Verfügung. Setzen Sie sich endlich dafür ein, den Zertifikatehandel zu erweitern! ({3}) Zum Thema Akzeptanz will ich Ihnen noch sagen: Die Energiewende wird vor allen Dingen im ländlichen Raum umgesetzt. Windkraftanlagen an windschwachen Standorten zu fördern oder eine Ausbauquote für den Süden Deutschlands einzuführen, ist mit Sicherheit der falsche Weg. So machen Sie den Ausbau vor Ort noch unbeliebter. ({4}) Wir Freien Demokraten fordern Sie auf: Machen Sie endlich eine wirksame Energie- und Klimapolitik gemeinsam mit unseren europäischen Partnern statt im nationalen Alleingang! ({5}) Entlasten Sie die Menschen! Entlasten Sie die Unternehmen und Betriebe, und stellen Sie die Energiewende endlich auf ein starkes Fundament! Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Weeser. – Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Altmaier, meine Damen und Herren der Union, Sie bringen mit den Entwürfen zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und des Bundesbedarfsplangesetzes mal wieder etwas ein, das mehr Fragen aufwirft, als Antworten gibt. Damit Sie verstehen, was ich meine, stelle ich hier erst einmal 18 Fragen: Wie wollen Sie sicherstellen, dass funktionierende Solaranlagen, die älter als 20 Jahre sind, weiter Strom erzeugen? Warum sollen kleine Solaranlagen Stromzähler erhalten, die mehr kosten, als die Anlage Einnahmen bringt? Weshalb zahlen Sie keine 0,7 Cent Abgabe für jede Kilowattstunde Windstrom an die Standortkommunen, und welche Idee haben Sie, um die Akzeptanz für Windstrom zu erhöhen? Warum verhindern Sie Bürgerenergiegenossenschaften, die Windparks mit bis zu 18 Megawatt Leistung ohne Ausschreibung errichten wollen? ({0}) Außerdem: Woher soll 2050 in einer windstillen Winternacht, also bei kalter Dunkelflaute, von Norwegen bis Italien, von Polen bis Frankreich Strom aus erneuerbaren Energien kommen? Wann wollen Sie endlich den notwendigen Energiespeicherausbau voranbringen? Weshalb behindern Sie die Stadtwerke darin, Strom und Wärme in KWK-Anlagen dezentral zu erzeugen? ({1}) Weshalb nutzen Sie Biogasanlagen nicht als Kapazitätsreserve für die Dunkelflauten? ({2}) Wieso müssen Handwerker, Bürgerinnen und Bürger und mittlere Unternehmen den Netzausbau allein bezahlen? Warum sind Stromspekulanten, Großkonzerne und Stromerzeuger von den Netzkosten befreit? Ist es gerecht, dass Großkonzerne pro Kilowattstunde Strom 4 Cent zahlen, der Bäckermeister aber 25 Cent und Bürgerinnen und Bürger 30 Cent? ({3}) Warum sollen 95 Milliarden Euro für Stromtrassen wie SuedLink, Ultranet, SuedOstLink, P53, P44 usw. bezahlt werden? Weshalb sichern Sie damit den Konzernen TenneT, 50Hertz, Amprion und Transnet pro Jahr 2,8 Milliarden Euro zusätzliche Profite? Warum prüft die Koalition nicht einmal preiswerte Alternativen zum milliardenteuren Netzausbau? ({4}) Wann setzen Sie endlich den Rahmen für flexiblen Stromverbrauch passend zu fluktuierender Erzeugung? Außerdem: Glauben Sie ernsthaft, dass 0,25 Cent Entlastung für die niedrigere EEG-Umlage die 4 Cent Mehrkosten für Netzentgelte durch das Bundesbedarfsplangesetz kompensiert? Warum denken Sie nicht Strom-, Gas-, Fernwärmenetze zusammen und in Abstimmung mit dem Bedarf für die Industrie? Ich hoffe, Sie konnten sich das merken. Bei Bedarf kann der Herr Minister oder die Union meine Rede gern nachlesen. Aber im Ernst: Wie kann man den Betroffenen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern oder dem Bundestag solche Vorlagen zumuten? Eine letzte Zusatzfrage an die Union: Haben Sie sich für oder gegen die Energiewende entschieden? Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lenkert. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Erneuerbare-Energien-Gesetz – es war mal ein kraftvoller Motor der Energiewende. Rot-Grün hatte dieses Gesetz vor über 20 Jahren auf den Weg gebracht und damit die Erfolgsgeschichte der Erneuerbaren gestartet. ({0}) Doch seit die Kolleginnen und Kollegen von der Union am Ruder sind, geht es immer langsamer voran mit dem Ausbau von Wind- und Sonnenenergie. ({1}) Auch mit dieser Gesetzesnovelle bleiben Sie auf der Seite der Bremser und Blockierer; denn so sind weder die Klimaziele zu schaffen, noch werden Sie damit Deutschland im internationalen Wettbewerb in die Poleposition bringen. ({2}) Im Vergleich zu dem, was eigentlich nötig wäre, wollen Sie die Erneuerbaren nur im Schneckentempo ausbauen. Unverantwortlich ist das! Sie ignorieren mit diesem Gesetzentwurf die Vorgaben der Europäischen Union. Parlament und Kommission haben bereits klargemacht, dass die europäischen Klimaziele angepasst, dass sie angehoben werden müssen. Das bedeutet auch für Deutschland eine schnellere Energiewende. Und dann sagte mir Minister Altmaier am Mittwoch: Wenn wir jetzt in Deutschland mehr machen, dann lehnen sich die anderen Mitgliedstaaten vielleicht zurück. – Verdammt noch mal! Was haben Sie an der Klimakrise, bitte schön, immer noch nicht verstanden, Herr Altmaier? ({3}) Auch den Hunderttausenden Beschäftigten in der Erneuerbaren-Branche muss das vorkommen wie Hohn. Wenn Sie ernsthaft das Ziel verfolgen, den Energiesektor auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen, was würde es dann, bitte schön, schaden, dieses Ziel schneller zu erreichen? Was würde es schaden? Im Gegenteil: Jedes Zehntelgrad Erderhitzung zu verhindern, macht einen gewaltigen Unterschied für die Ökosysteme und für die Gesellschaft. ({4}) Aber stattdessen stehen Sie weiter auf der Bremse und wollen deutlich langsamer vorankommen als die Menschen, die in den Zukunftsstandort Deutschland investieren wollen. Sie verhindern die Beteiligung der Menschen. Viele wollen ihre Dächer zu Kraftwerken machen und den Solarstrom direkt nutzen. Sie aber setzen mit Ihrem Entwurf nicht einmal die Minimalanforderungen der EU um. All das, was die EU-Richtlinie enthält, damit Menschen unbürokratisch selbst Strom erzeugen und verbrauchen können: Das ist keine nette Empfehlung der Europäischen Union, sondern das ist rechtsverbindlich umzusetzen, und zwar allerspätestens bis Juni nächsten Jahres. Es wäre also angesagt, es jetzt zu tun und nicht irgendwann später. ({5}) Stattdessen blockieren Sie viele Projekte und verärgern die Menschen, die im Denken und Handeln viel weiter sind als die Bundesregierung selbst. Genauso ist es beim Mieterstrom. Viele Unternehmen und Gewerbetreibende haben auf ihren Dächern Platz für Solaranlagen, mit denen sie die Nachbarschaft mit sauberer Energie versorgen könnten. Aber Sie schließen diese Gruppe weiterhin vom Mieterstrom aus, als hätten wir auch nur einen Quadratmeter Dachfläche in unseren Städten zu verschenken. Lassen Sie uns endlich die Dächer vollstellen mit Solaranlagen! ({6}) Mit diesem Gesetzentwurf verlieren wir wertvolle Zeit auf dem Weg zu einem klimagerechten und nachhaltigen Deutschland. Hören Sie auf, zu bremsen, und packen Sie es endlich an! Denn, Herr Altmaier, wenn Sie eben gesagt haben, Sie hätten ambitionierte Ziele, dann stimmt das nicht. In den letzten zehn Jahren wurden 25 Prozent erneuerbarer Energien zusätzlich gebaut, aber in den nächsten zehn Jahren wollen Sie nur 15 Prozent zusätzlich bauen. Was, bitte schön, ist daran ehrgeizig? Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Verlinden. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich noch einmal betonen, dass wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien große Fortschritte gemacht haben. Von Bremsen kann also keine Rede sein. Gerade der Minister ist kein Bremser, sondern er ist ein Beschleuniger, und dafür meinen ganz herzlichen Dank. ({0}) Wir stehen bei annähernd 50 Prozent Erneuerbarer im Strombereich, und das ist immens. Das ist eine große Leistung; es ist aber auch eine große Herausforderung. Wir haben viele Menschen in unserem Land vom Stromkonsumenten zum Stromproduzenten gemacht. Diesen Weg wollen wir begleiten und auch forcieren. Ebenso werden wir allen Unkenrufen zum Trotz die Klimaschutzziele 2020 erreichen, und zwar nicht nur wegen Corona und den dadurch bedingten Rückgängen beim CO2-Ausstoß. Frau Weeser, das wissen Sie auch, dass wir die Ziele wahrscheinlich erreichen werden. Wir haben es geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch abzukoppeln, und dazu haben auch die Erneuerbaren beigetragen. Wir brauchen die Erneuerbaren auch in Zukunft.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Lenz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nestle aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. – Meine Frage ist auch ganz kurz. Sie haben gerade gesagt, der Minister und Sie seien Beschleuniger der Energiewende. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass der geringste Zubau von Windanlagen an Land – und zwar bei Weitem in der letzten Zeit – im vergangenen Jahr stattgefunden hat? ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Nestle, danke für die Frage. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass der Ausbau gerade in den von Ihnen mitregierten Ländern mit am geringsten vonstattengeht? ({0}) Ist Ihnen eigentlich auch bewusst, dass gerade die von Ihnen forcierten planungsrechtlichen Hürden im Artenschutz dazu beitragen, dass die Windkraft teilweise nicht mehr stattfinden kann? ({1}) Frau Nestle, Sie können sich jetzt für die Erneuerbaren verwenden. Aber wenn wir die Gesamtzahlen betrachten, dann sehen wir: Wir sind von unter 5 Prozent Erneuerbaren im Jahr 2000 auf jetzt 50 Prozent gekommen. Und auch Sie müssen doch anerkennen, dass das eine extrem gute gesellschaftspolitische, aber auch wirtschaftspolitische Leistung ist. ({2}) Es gibt natürlich keine Blaupause bei der Energiewende; das gehört auch zur Wahrheit dazu. Es bedarf eines ständigen Nachjustierens, und deshalb werden wir in diesem Jahr das EEG erneut novellieren, ja, wir werden es reformieren. Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Unser Ziel ist es, dass wir das EEG irgendwann überhaupt nicht mehr brauchen und dass Erneuerbare-Energien-Anlagen auch ohne Einspeisevergütung am Markt wettbewerbsfähig sind. Gerade um Marktfähigkeit, um Innovation, um Technologie muss es uns auch bei dieser Novelle gehen. Der Gesetzentwurf enthält wichtige Punkte, und wir werden im parlamentarischen Verfahren noch weitere Punkte anbringen. Wir werden die Dinge konkret machen. Wir wollen generell bei der Photovoltaik die Eigenversorgung stärken, möglichst ausnahmslos auf die europäische Vorgabe von 30 Kilowatt-Peak. ({3}) Natürlich wollen wir, dass die ausfinanzierten Anlagen nach 20 Jahren dazu beitragen, das System insgesamt günstiger zu machen. Dazu müssen diese Anlagen zunächst einmal am Netz bleiben können, und dafür werden wir uns einsetzen. Wir wollen die Photovoltaik generell mit weniger Bürokratie belasten. Uns schwebt ein One-Stop-Shop vor, also nur eine Anlaufstelle, wenn jemand eine Photovoltaikanlage aufs Dach platziert. Und wir wollen die Photovoltaik in der Tat lieber auf dem Dach als auf dem Feld, um das auch ganz klar zu sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Wir wollen die grundlastfähigen erneuerbaren Energien stärken. Dazu zählt in erster Linie die Biomasse. Die Biomasse stellt momentan circa 45 Terrawattstunden für die Energie-, für die Stromversorgung bereit. Das sind fast 10 Prozent des Strombedarfs, und zwar erneuerbar und steuerbar. Diesen Vorteil möchten wir nutzen im Sinne von mehr Flexibilisierung dieser Anlagen. Wir wollen, dass die Anlagen, die jetzt am Markt sind, auch zukünftig wettbewerblich am Markt bestehen können. Wir wollen eine Stärkung auch beispielsweise bei der Wasserkraft, ebenso in anderen Bereichen wie der Geothermie, die sehr innovativ ist. Hier wollen wir eine Aussetzung der Degression, aber wir wollen auch die kleinen Anlagen, insbesondere bei der Wasserkraft, zusätzlich fördern. Zudem wollen wir, dass Wasserstoff, vor allem Grüner Wasserstoff – Power-to-X insgesamt –, eine Erfolgsgeschichte wird. Deshalb müssen wir bei den Abgaben und Umlagen ansetzen. Schließlich wollen wir, dass Speicher zu einem normalen, integrativ genutzten Bestandteil der Energiewende werden. Auch hier müssen wir nachjustieren, wie es im Klimaschutzpaket bereits beschlossen wurde. ({5}) Insgesamt müssen wir, wie gesagt, das EEG weiterentwickeln. Wir brauchen eine Abgaben- und Umlagenreform. Ein erster Schritt war die Stabilisierung der EEG-Umlage; dafür auch noch mal herzlichen Dank. Wir sollten aber auch darüber nachdenken, ob wir die EEG-Umlage insgesamt nicht ganz durch Einnahmen aus einer CO2-Bepreisung und einer anteiligen Stromsteuer finanzieren. Das hätte auch den Vorteil, dass wir sozusagen den Fängen des EU-Beihilferechts entfliehen könnten. Es ist ja aberwitzig, wenn wir auf der einen Seite dazu beitragen, dass wir europäische Ziele erreichen, und auf der anderen Seite hier Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. Das muss sich ändern, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir stehen letztlich zum 65-Prozent-Ziel. Übrigens: Bisher haben wir die Ziele im Bereich der Erneuerbaren und gerade auch im Bereich des Stroms immer übererfüllt. ({6}) Wir werden die Ausbaupfade genau beobachten und unter Umständen entsprechend nachsteuern. Wir wollen ein gutes Gesetz machen. Aus unserer Sicht sind schon viele gute Punkte im Entwurf vorhanden. Aber Gutes kann man natürlich auch noch besser machen, und dazu lade ich alle ganz herzlich ein. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Lenz. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt lauschen wir dem Kollegen Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen das Erneuerbare-Energien-Gesetz verändern. Warum wollen wir das eigentlich? Um im Stromsektor eine Antwort zu geben auf den menschengemachten Klimawandel, um Zukunft zu schaffen für unsere Kinder und Enkelkinder, um vertragstreu zu sein hinsichtlich des Pariser Klimaschutzabkommens, um ein Signal in andere Länder der Erde zu senden, dass wir dieses Klimaschutzabkommen ernst nehmen, dass wir wissen, welche Folgen es hätte, wenn wir es nicht ernst nehmen würden, und wie enorm wichtig dieses Klimaschutzabkommen für die Zukunft unserer Menschen ist. ({0}) Das ist sehr wichtig; denn es schmelzen Gletscher. Die Erntezeiten verändern sich, oder die Ernten fallen aus. Wir haben Probleme mit Flusshochwasser. Wir haben Probleme mit Flussniedrigwasser, und wir haben Probleme mit steigenden Meeresspiegeln. Wir müssen Deiche erhöhen, und wir haben schwere Sturmflut- und schwere Unwetterschäden in Deutschland. Das heißt, wenn man es nicht aus einer ökologischen Überzeugung heraus macht, dann sollte man es wenigstens aus einer wirtschaftspolitischen Überzeugung heraus machen. „Nooit an fummeln, wenn wat löppt“, sagt man in Ostfriesland, also: Möglichst nichts verändern, wenn es läuft. – Aber wir müssen jetzt dringend verändern. Zum Ende dieser Legislaturperiode ist es nun Zeit, notwendige Weichen zu stellen. Zum Beispiel wollen wir sicherstellen, dass Kommunen beteiligt werden an den Erfolgen bei der Nutzung der erneuerbaren Energien in ihren Gemeinden, ({1}) damit die Energiewende in ländlichen Räumen nicht nur einfach stattfindet, sondern ländliche Räume an der Energiewende auch tatsächlich Geld verdienen können. ({2}) Was wollen wir noch? Wir wollen sicherstellen, dass die Anlagen, die über 20 Jahre alt sind und immer noch laufen, auch am Markt bleiben dürfen, wenn sie nicht repowert werden können. Repowerfähige Anlagen müssen natürlich auch so schnell wie möglich repowert werden. Aber für Tausende andere Anlagen müssen wir eine Lösung finden. Auf diese Idee ist ja auch Herr Wirtschaftsminister Altmaier gekommen; herzlichen Glückwunsch dazu. Leider finden wir nichts im Gesetzentwurf dazu. Es wäre schön gewesen, wenn diese Idee Eingang in den Gesetzentwurf gefunden hätte. Was wollen wir noch? Wir wollen den Mieterstrom reformieren. Auch darüber haben wir im letzten Jahr lange gesprochen; Herr Altmaier, Sie erinnern sich. Sie haben uns damals noch geschrieben: Hier wollen wir gerne den Quartiersansatz miteinbeziehen. – Was wollen wir? Wir wollen die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Energiewende möglich machen, und das geht über das Mieterstromgesetz ({3}) und indem man Abgaben und Umlagen neu verteilt. Auch das ist für uns ein ganz wichtiger Ansatz. Meine Damen und Herren, Grundlage dieses Gesetzentwurfs ist, dass das Wirtschaftsministerium schätzt, dass der Bruttostromverbrauch, den wir in zehn Jahren haben werden, so groß ist, wie der, den wir heute haben. Daran glaubt eigentlich keiner, der sich mit der Sache auskennt, und das kann man eigentlich auch nicht erklären. Wir brauchen einen realistischen Bruttostromverbrauchansatz, auf dessen Grundlage realistische Ausbaupfade festgelegt werden. Denn wenn die Union zu dem 65-Prozent-Ziel stehen will, dann muss man ja fragen: 65 Prozent wovon? – Nämlich von einem realistischen Ausbauziel in der Zukunft. Deswegen brauchen wir vernünftige Ausbaupfade. ({4}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Strom macht nur ein Viertel des Energieverbrauchs der Menschen aus – nur ein Viertel –, und um das kümmern wir uns heute. Ein zweites Viertel entfällt auf den Transportsektor und die Hälfte auf den Wärmesektor. Wir haben riesige Herausforderungen vor uns liegen. Also müssen wir jetzt an diesem Gesetzentwurf arbeiten, damit letzten Endes für die nachfolgenden Generationen etwas daraus wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Damit schließe ich die Aussprache.

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Unternehmen stehen nicht nur seit der Coronakrise, sondern auch wegen der Coronakrise unter enormem Druck, und die Entscheidungen vom letzten Mittwoch haben diesen Druck sicherlich noch einmal verschärft. Auch wenn man heute auf den ersten Blick erfreuliche Zahlen lesen konnte – 8,2 Prozent Wachstum im dritten Quartal –, wissen wir natürlich, dass es schlecht um die Wirtschaft steht. 5,4 Prozent – so lautete die letzte Konjunkturprognose. Dementsprechend wird es sehr, sehr schwierig. Es gibt eine KfW-Studie, die besagt, dass momentan 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Gefahr sind. Daher ist es wichtig, den Unternehmen jetzt und richtig zu helfen. Ein Punkt wäre, dass wir den Verlustrücktrag deutlich ausweiten. ({0}) Ich mag nicht verhehlen, dass sich nach vielen Diskussionen im Finanzausschuss die GroKo mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz ein Stück weit bewegt hat. Wir haben den Verlustrücktrag ausgeweitet; aber es reicht nicht. Wir müssen ihn zeitlich und betragsmäßig ausweiten. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Eigenmittel der Unternehmen. Das ist eben genau der andere Ansatz: Wir sammeln nicht die Steuergelder ein, damit wir anschließend großartig Hilfen verteilen können, sondern wir geben den Unternehmen jetzt in der Krise ihr Eigenkapital wieder zurück. Das ist ein wichtiger und richtiger Schritt. ({1}) Das ist eine Forderung, der sich hier eigentlich schon ganz, ganz viele angeschlossen haben. Die Forderung gibt es in der Union, die Forderung gibt es bei den Grünen, die Forderung gibt es natürlich in der Industrie, bei allen Handels- und Wirtschaftsverbänden, aber auch bei den Gewerkschaften. Alle fordern eine deutliche Ausweitung des Verlustrücktrages, damit man mit diesem Eigenkapital Arbeitsplätze in der Krise retten kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Entscheidungen vom letzten Mittwoch ist die Krise noch einmal deutlich verschärft worden. Der Bundesminister Altmaier hat am Mittwochabend wie von der Beerdigung für die deutsche Wirtschaft getwittert. Er schrieb: Meine Gedanken und mein Mitgefühl liegen bei den Unternehmen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, so werden Trauerreden eingeleitet. Das kann doch nicht das Signal des Wirtschaftsministers sein. ({3}) Wir fordern, wie gesagt, eine deutliche Ausweitung des Verlustrücktrages, und zwar von einem Jahr auf drei Jahre. Wir fordern zudem eine deutliche Erhöhung, nämlich von momentan 5 Millionen auf 30 Millionen Euro, bei Zusammenveranlagung dann auf 60 Millionen Euro. Das klingt im ersten Moment, als träfe es nur die Großen. Aber durch die zeitliche Ausweitung des Verlustrücktrages trifft es eben auch die Kleinen. Es gibt ihnen Eigenkapital. Wenn man das Ganze so, wie das unser Antrag fordert, mit der negativen Gewinnsteuer koppelt, dann ist das nämlich auch eine Maßnahme, die jetzt schon wirkt, weil es jetzt von den Finanzämtern angeregt werden kann. Es handelt sich um das Eigenkapital der Unternehmen. Wir müssen hier keine Hilfen ausschütten. Wir brauchen keine komplizierten Antragsverfahren, und das ist doch genau das Thema. Wir diskutieren jetzt schon wieder über ein Hilfsprogramm – wir wissen ja noch nicht, wie es aussieht – in Höhe von 75 Prozent der Umsätze für die, die jetzt von den Schließungen betroffen sind. Das klingt im ersten Moment schön, ist aber vollkommene Willkür. Für die einen sind 75 Prozent des Umsatzes ein fetter Gewinn; für die anderen wird es nicht einmal reichen, die Betriebskosten zu decken. Es ist nämlich in jeder Branche unterschiedlich; es hängt von den Kosten, den Fixkosten ab. Das zeigt mir wieder ganz deutlich, wie bei den ganzen Coronamaßnahmen: Wir haben eine Bundesregierung, die viel spricht, viel verspricht, wenig handelt und dann auch noch nicht überlegt, was sie tut. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hessel. – Nächster Redner ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher, sofern noch vorhanden! Wir sind uns, Frau Hessel, in der Analyse ja ziemlich einig: Die Coronapandemie hat die deutsche Wirtschaft in eine sehr schwierige Lage gebracht, in eine schwere Krise gestürzt. Wir hatten im Sommer ein wenig Hoffnung, die Konjunktur hatte sich ein wenig erholt; aber wir wissen, dass es jetzt wieder anders aussieht. Sie haben auch schon darauf hingewiesen, dass wir als Bundesrepublik Deutschland, als Bund, dass aber auch die Länder viel Geld mobilisiert haben, um diese Konjunktur zu stützen, und wir tun das auch weiterhin. Sie haben auch auf das hingewiesen, was jetzt ansteht: Wir stellen 25 Milliarden Euro für Überbrückungsprogramme bereit und suchen jetzt neue, pragmatische Wege, damit die Gelder auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Aber auch im steuerlichen Bereich haben wir eine ganze Menge gemacht. Wenn Sie sich zurückerinnern: Wir haben im März schon Stundungserleichterungen und die Herabsetzung der Vorauszahlungen beschlossen; das alles sind Maßnahmen, um die Liquidität in den Unternehmen zu erhöhen. Wir haben ein erstes Corona-Steuerhilfegesetz und insbesondere auch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz gemacht. Weil Sie sagen: „Die Regierung handelt nicht“, möchte ich noch mal in Erinnerung rufen, was wir alles gemacht haben: Wir haben die Mehrwertsteuer auf 16 bzw. 5 Prozent abgesenkt. Wir haben die Fälligkeit der Einfuhrumsatzsteuer – das klingt sehr technisch, hat aber große Wirkung – verschoben. Wir haben die degressive AfA wieder eingeführt. Wir haben in § 6b EStG die Fristen bei den Reinvestitionsrücklagen und in § 7g EStG den Investitionszeitraum für den Investitionsabzugsbetrag verlängert. Wir haben die gewerbesteuerliche Anrechnung bei der Einkommensteuer auf das Vierfache erhöht. Wir haben den Freibetrag bei der Hinzurechnung der Gewerbesteuer auf 200 000 Euro erhöht. Und wir haben auch einen ersten Schritt beim Verlustrücktrag gemacht: Wir haben die Höchstbeträge für die Jahre 2020 und 2021 von 5 auf 10 Millionen Euro erhöht. Sie sehen also: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen handeln. ({0}) Aber, Frau Hessel, das Entscheidende ist, finde ich – und das ist schon ein wenig komisch –, dass Sie hier im Deutschen Bundestag gegen all diese Dinge gestimmt haben. Denn die FDP hat dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz nicht zugestimmt, ({1}) anscheinend haben Sie diesen Maßnahmen nicht vertraut. Das ist ja Ihr gutes Recht als Opposition. Sie schreiben aber jetzt in Ihrem Antrag, diese Maßnahmen hätten eine große Zahl von Insolvenzen zum jetzigen Zeitpunkt verhindert und trotz dieser wirtschaftlichen Situation, der tiefen Rezession, seien Arbeitsplätze erhalten geblieben und sei die Arbeitslosigkeit nicht in dem Umfang eingetreten, wie es zu erwarten war. Unser Programm ist also ein voller Erfolg gewesen. Und Sie behaupten hier, die Bundesregierung hätte nicht reagiert; das ist schon etwas komisch, Frau Kollegin. ({2}) Dennoch ist es natürlich richtig – und wir müssen vorsichtig sein mit dieser Geschichtsklitterung; also da passen wir bei der Serviceopposition schon auf, dass das wirklich alles der Wahrheit entspricht –, dass wir schauen müssen, ob es nicht noch besser geht; das ist ja unbestritten. Und Sie wissen auch – Sie haben es ja auch angeführt –, dass gerade die Verlustverrechnung, übrigens nicht nur der Verlustrücktrag, den Sie hier angesprochen haben, sondern auch der Verlustvortrag – den haben Sie in dem Antrag leider nicht erwähnt –, Instrumente sind, die dafür genutzt werden können, Liquidität im Unternehmen zu halten. Und wir sind uns auch mit allen Volkswirten einig – und ich glaube, im Wesentlichen auch mit den Sozialdemokraten –, dass das ein Instrument ist, das sehr zielgenau wirken kann. Die Bedingung dafür, dass ich Verluste, die ich jetzt mache, mit Verlusten aus der Vergangenheit verrechnen kann, ist ja, dass ich in der Vergangenheit Gewinne gemacht haben muss. Das bedeutet, dass ich in der Vergangenheit schon ein erfolgreiches Geschäftsmodell gehabt haben muss, es also kein notleidendes Unternehmen war, das jetzt aufgrund der besonderen Situation in eine Verlustsituation gekommen ist. Daher macht es natürlich Sinn, dort auch zu einer Verrechnung zu kommen. Und der zweite Punkt ist – das mutet vielleicht für manche etwas überraschend an –: Das Ganze kostet gar nicht viel Geld. Es geht letztlich um einen Steuerstundungseffekt. Wenn Sie in die Gesetzesbegründung zum Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz schauen, sehen Sie, dass die Bundesregierung mit Mindereinnahmen in Höhe von circa 4,2 Milliarden Euro rechnet, aber mit Steuermehreinnahmen in Höhe von 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2021/22. Das heißt, selbst in dieser Krise fließen ungefähr 90 Prozent der Gelder, die wir jetzt zur Verfügung stellen und den Unternehmen jetzt nicht wegnehmen, wieder zurück. Von daher ist das eine gute Maßnahme, die zielgenau ist und wenig Geld kostet. Deshalb sollten wir das Thema – auch in der Koalition – noch mal gemeinsam aufnehmen und diskutieren. Wir diskutieren ja intensiv über das Jahressteuergesetz 2020; das wäre eine gute Möglichkeit, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Und es wäre unser Wunsch, dass das auch unser Koalitionspartner tut. Er beschäftigt sich ja schon damit, aber dann auch in die richtige Richtung, lieber Lothar Binding, sodass wir vielleicht auch da zu etwas höheren Beträgen kommen. Der Antrag ist nicht falsch. Ich vermisse, wie gesagt, den Verlustvortrag. Dort haben wir ja noch die Mindestbesteuerung, über die wir auch nachdenken sollten. Aber vielleicht ist es eine gute Möglichkeit, diese Dinge im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2020 noch einmal aufzugreifen. Aber ich werde auch nicht müde, daran zu erinnern, dass wir insgesamt, nachdem wir diese Maßnahmen ergriffen haben, um jetzt Liquidität in den Unternehmen zu halten, auch dringend die Modernisierung unseres Unternehmensteuerrechts voranbringen müssen. ({3}) Denn wenn es wieder losgeht, müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wiederherstellen. Da haben wir noch ein bisschen Überzeugungsarbeit bei unserem jetzigen Koalitionspartner zu leisten; aber wer weiß, mit wem wir in Zukunft regieren werden; ob dann alle mitmachen oder doch wieder vom Tisch gehen, werden wir dann sehen. Aber vielleicht haben wir dann bessere Möglichkeiten, vieles für die Wirtschaft zu erreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP meldet sich zu später Zeit im Nachgang zu zwei Corona-Steuergesetzen vom April und vom Juni. Um den Unternehmen jenseits von staatlichen Darlehensangeboten wirkungsvoll zu helfen, soll die Verlustverrechnung verbessert werden. Ich zitiere aus dem Antrag: Ein breites Bündnis gesellschaftlich relevanter Akteure fordert daher eine weitere, zeitliche und/oder betragsmäßige Ausweitung der steuerlichen Verlustverrechnung … Zu diesem Bündnis der 28 Akteure – man staunt also wirklich, wie groß die Einigkeit ist – gehörten, wird behauptet, viele Verbände, kluge professorale Köpfe – aus den Sachverständigenanhörungen kann ich das Letztere auf alle Fälle bestätigen – und, man höre, vier Parteien: Die CDU, die CSU, die Grünen und die FDP sind alle einer Meinung, also so eine Art Jamaika-Connection. Das ist bemerkenswert. Denn wenn das so wäre, verehrte Damen und Herren der FDP, müsste es eigentlich eine Mehrheit für das naheliegende, zielgenaue und effektive Instrument einer deutlich ausgeweiteten Verlustverrechnung, und zwar nach rückwärts und nach vorne, geben. Das ist aber nicht so. ({0}) Und es wird auch heute nicht beschlossen werden. Herr Güntzler hat viel warme Luft verströmt und große Programme bis zur Unternehmensteuerreform – lieber Herr Güntzler, ich freue mich darauf; davon verstehe ich ein bisschen was – angekündigt. Es wäre ganz toll, wenn aus dieser Dunstblase irgendwann auch mal konkrete Gesetzgebung würde. Noch bemerkenswerter ist jedoch, dass die AfD in ihrem Steuerantrag bereits zum ersten Corona-Steuerhilfegesetz im April – da haben Sie uns noch zugezwinkert, weil Sie gemerkt haben, dass es richtig ist, aber Sie von Amtswegen natürlich nicht zustimmen dürfen; das habe ich ja verstanden – neben weiteren 15 Vorschlägen allein 3 Vorschläge zu dem Thema „Verlustrücktrag und ‑vortrag“ ausgearbeitet hat, mit ganz präzisen Angaben. Dies war zu einem Zeitpunkt, als dazu noch nichts von der Koalition vorgelegt worden war. Und auch schon damals haben prominente Sachverständige genau dieses Instrument prioritär gefordert. Und naturgemäß haben die parteipolitischen Akteure, welche die FDP jetzt benennt, und auch die FDP selbst reflexartig gegen diese Vorschläge gestimmt, sowohl im Finanzausschuss als auch im Plenum. Sie haben vor sechs Monaten, im April, den Unternehmen in Deutschland die nächstliegende, zielgenaueste, schnellste und unbürokratischste Hilfe – Herr Güntzler hat für die Qualität dieses Instruments eine Werberede gehalten; ich stimme dem vorbehaltlos zu – verweigert – das ist die Realität –, und dies, obwohl es, wie Sie auch richtig gesagt haben, Herr Güntzler – wie immer ist ja fast alles richtig, was Sie sagen; Sie machen es nur nicht, aber theoretisch sind Sie gut –, nur einen Steuerstundungseffekt hat. Jawohl, das ist so: keine Staatsknete, sondern nur Steuerstundung. Man könnte es machen, man müsste es machen, man ist sittlich gehalten, es zu machen – es wird aber nicht gemacht. Was sagt uns das alles? Es sagt uns, dass das, was die FDP heute hier macht, dann doch mehr Schaufensterpolitik ist. ({1}) Apropos Schaufenster: ({2}) Die Steuergesetzgebung der Regierungskoalition hatte ihren Schwerpunkt in der zeitweisen Absenkung der Umsatzsteuer um 3 bzw. 2 Prozentpunkte. Wir haben dies seinerzeit abgelehnt und, wie ich gerade gehört habe, die FDP wohl auch. Wir haben das abgelehnt und prognostiziert, dass die Mehrwertsteuersenkung zur Wirtschaftsbelebung wirkungslos sei. ({3}) Wir haben kein Nachfrageproblem wegen überhöhter Umsatzsteuer in Deutschland, sondern wir haben ein Überlebensproblem bei vielen Unternehmen. Das hat mit dem Lockdown und mit vielen unternehmensfeindlichen steuergesetzlichen Regelungen zu tun, meine Damen und Herren. Inzwischen wissen wir, dass die Umsatzsteuersenkung nicht hilfreich gewesen ist; das ist einigermaßen gesichert und wissenschaftlich anerkannt. Es ging nur darum, gute Stimmung beim Wahlvolk zu erzeugen. Deshalb hat man sich die Mehrwertsteuer ausgesucht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist Stimmenkauf, und Stimmenkauf mit Staatsknete ist eine der unangenehmsten Formen von Populismus. Nur so viel zu den Populismussachverständigen in Ihren Reihen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Glaser. – Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich zitiere – denn der Anfang des Antrags hat mir nämlich sehr gut gefallen –: ({0}) „… seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie … ist es durch eine Reihe liquiditäts- und beschäftigungssichernder Maßnahmen gelungen, eine große Zahl von Insolvenzen … zu verhindern.“ So fängt der Antrag an. Der Antrag endet mit: „Bloßes Reden genügt nicht mehr. Handeln wir endlich. Jetzt.“ Darin würde ich einen Widerspruch sehen; ich weiß nicht, ob Sie den auch sehen. ({1}) Das wäre jedenfalls eine Sache, die man beobachten muss. Aber es gibt noch einen Satz, den ich hundertprozentig unterstütze: Wir müssen alles tun, „um eine Welle von Insolvenzen im Kern gesunder Unternehmen zu verhindern“. Da bin ich hundert Prozent d’accord. Jetzt zur Begründung; die ist schon etwas wackliger. Sie lautet nämlich: Es könnte die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen steigen – das kann aber immer passieren; es könnte immer alles sein –, es könnte eine Abwärtsspirale geben – was auch immer sein könnte –, und Sie befürchten eine Insolvenzwelle. Nun ist Angst ein ganz schlechter Ratgeber. Also ich glaube, wir sollten uns auf andere Grundlagen stellen. Jetzt sagen Sie, viele Unternehmen stellen sich die Frage, wie sie die staatlich gewährten Hilfen zurückzahlen können. Die Antwort ist eigentlich schon gegeben durch die Hilfen selbst; denn die Hilfen selbst dienen ja dazu, auf einen Wachstumspfad zurückzukommen, in einer Finanzierungsform, die auf lange Sicht projektiert ist. Zeit und Hilfen selber schaffen die Voraussetzungen zur Zurückzahlung der Kredite, die man gewährt. Ist das nicht eine tolle Sache? Ein sich selbst bestätigender Mechanismus! ({2}) Und wenn man da mit Optimismus, mit dem Optimismus des Wirtschaftsministers, herangeht, dann, meine ich, müsste es auch laufen. ({3}) Jetzt sagen Sie, weil Sie diese Befürchtung haben: „Umso dringender brauchen wir … eine echte steuerliche Entlastung von den coronabedingten Unternehmensverlusten, um Überschuldungssituationen zu verhindern.“ Das wollen wir in der Zielsetzung auch alles. Sie machen zwei Vorschläge. Der erste ist die Einführung einer negativen Gewinnsteuer, der zweite die Verbesserung des Verlustrücktrags. Was ist eigentlich eine negative Gewinnsteuer? Negative Gewinnsteuer bedeutet, dass statt fälliger steuerlicher Vorauszahlungen das Finanzamt Geld zurücküberweist, ({4}) aber sozusagen orientiert an Umsätzen, die man zuvor hatte. Es ist also eine echte Auszahlung. Deshalb ist der Begriff „negative Steuer“ ein bisschen irreführend; denn es ist eigentlich keine Steuer, sondern das Gegenteil einer Steuer. Es ist ein echter zinsloser, verlorener Zuschuss. Dann sollte man es auch so nennen. ({5}) Wir sollten Zuschuss auch „Zuschuss“ nennen. Das Interessante ist: Zuschüsse gibt es ja schon in dem Programm. Der zweite Vorschlag: Ausweitung des Verlustrücktrags. Das ist die kleine Schwester des Vorschlags des ifo-Präsidenten. Der hat gesagt, er will eine Obergrenze bis 100 Millionen Euro – das ist ein richtig großer Schluck aus der Pulle –, ({6}) er will den Rücktragszeitraum auf 2018 erweitern, und er will eine Ausweitung auf die Gewerbesteuer. Ob er sich das alles klug überlegt hat, muss man sich angucken. Denn man muss ja sehen, wem das hilft: Das hilft nur denen, die in der Vergangenheit in gleicher Höhe Steuern bezahlt haben. Das heißt, junge Unternehmen haben davon nichts. ({7}) Es ist auch nicht möglich, den Verlustrücktrag branchenspezifisch zu justieren; er gilt pauschal. Er ist auch nicht auf die Coronaverluste zu konzentrieren, weil er zu unspezifisch ist. Und es ergibt sich auch ein Problem, wenn man ihn zeitlich weiter ausdehnt, insbesondere bezogen auf die von Bund, Ländern und Kommunen schon vereinnahmten Steuern. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Aufwand ist, wenn Bund, Länder und Kommunen ihre Steuereinnahmen in der Form rückabwickeln müssen? Das würde mich mal genauer interessieren. ({8}) Man muss ja noch etwas sagen. Wem würde die betragsmäßige Ausweitung eigentlich helfen? Ich will es mal so sagen: nur Betrieben, die jetzt einen Verlust von über 5 Millionen Euro haben und die gleichzeitig im letzten Jahr einen Gewinn von 5 Millionen Euro hatten. Jetzt sagen Sie: Das erreicht die kleinen Betriebe, die letztes Jahr einmal plus und dieses Jahr einmal minus 5 Millionen Euro hatten. – Offen gestanden: Das ist ein sehr schmaler Grat. Wissen Sie, dass 99 Prozent aller Unternehmen davon gar nichts hätten? Also: Ihr Vorschlag ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit; deshalb ist er auch nicht klug. Was wir gemacht haben, ist, dass wir den Verlustrücktrag schon ausgeweitet haben; das war klug. Es gibt eine Anrechnung auf die Steuervorauszahlung; das war klug. Und es gibt auch – Fritz Güntzler hat darauf hingewiesen – den Verlustvortrag, natürlich anhand des Mindestgewinns justiert; das ist völlig klar. ({9}) Er ist unbefristet; das ist klug. Es gibt eine Coronarücklage; auch das ist klug. Man kann also eines sehen: Den Satz, der auf Seite 4 Ihres Antrags kommt: „Bloßes Reden genügt nicht mehr“, würde ich jetzt gerne in einen Appell an die FDP umwandeln: Bloßes Reden darüber, was nicht passiert ist – was aber falsch ist –, genügt nicht. Man muss sich noch mal vergegenwärtigen, was wir alles gemacht haben – ich will es noch mal aufzählen –: Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge – Volumen: 5 Milliarden Euro; da war Handeln angesagt –, Erhöhung des steuerlichen Verlustrücktrags in einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro, Verschiebung fälliger Einfuhrumsatzsteuer in einer Größenordnung – man glaubt es kaum – von 5 Milliarden Euro, degressive AfA-Verschiebungseffekte von 6 Milliarden Euro, Sofortüberbrückungshilfen in einer Dimension von 25 Milliarden Euro, die Mehrwertsteuersenkung mit 20 Milliarden Euro, Programme im Kulturbereich und zur Unterstützung der Holzwirtschaft – auch ganz spezielle Sachen – mit fast 1 Milliarde Euro. Wir haben ein gigantisches Programm mit Zuschüssen und Krediten. Da kann man nicht sagen, es sei nicht gehandelt worden. ({10}) Ich glaube, das, was Sie vortragen, ist eine Anwendung in der leeren Menge, und das hilft überhaupt niemandem. Deshalb ist es gut, dass wir so gehandelt haben. Aber es ist noch Luft nach oben. Die Programme waren zwar mächtig, aber so, dass noch Luft da ist; das ist sehr gut. Wir haben gestern in einem Gespräch mit einem Kollegen vom IWF gelernt, dass wir einen sogenannten Fiscal Space haben, fiskalpolitische Möglichkeiten nach oben, nämlich dadurch, dass die Zinsänderungsrisiken gering sind, und dadurch, dass wir die Schuldentragfähigkeit gut gesichert haben. Mit diesen beiden Parametern können wir eine sehr gute Basis für unsere zukünftige Politik auch nach der Krise schaffen. Das hilft den Unternehmen mehr als Ihr Antrag. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Liebich, Fraktion Die Linke. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! So eine Pandemie ist ja eine gute Gelegenheit für alle Parteien – ich nehme da unsere gar nicht aus –, das zur Diskussion und zur Abstimmung zu stellen, was man sowieso richtig findet. Das ist bei der FDP eben die Idee, dass Unternehmen weniger Steuern bezahlen sollen – am besten gar keine. Sie haben Ihren Vorschlag einer negativen Gewinnsteuer ja bereits im März zur Abstimmung gestellt. Inhaltlich hat Lothar Binding dazu alles Notwendige gesagt. Jetzt versuchen Sie es noch mal, neben anderen Vorschlägen. Ich habe mir den Antrag vom März noch mal angeschaut. Da sind Sie sogar ganz offen. Sie sagen: … da Deutschland das Land mit der höchsten Unternehmensteuerbelastung im OECD-Raum ist, ({0}) wäre eine nachträgliche Steuersenkung auch gerechtfertigt. Im Ergebnis erhalten Unternehmen einen Teil ihrer bereits gezahlten Steuern zurück. Also: Es überrascht nicht, dass das von der FDP kommt. Aber dabei machen wir natürlich nicht mit. ({1}) Was allerdings überrascht, ist ein Kronzeuge, den Sie für Ihren Ladenhüter aufgeboten haben. Das sind nicht die Unternehmerverbände oder der Bund der Steuerzahler, bei dem mir auffällt, dass er entweder anscheinend nur männliche Steuerzahler vertritt oder mal seinen Namen ändern könnte. Nein, gestaunt habe ich über den Deutschen Gewerkschaftsbund. Ich habe dann angerufen und gefragt, was da los ist. Der zuständige Sachverständige, der auch im Frühjahr im Finanzausschuss zu Gast war, hat gesagt: Die Verlustrechnung war wohl Thema im DGB-Bundesvorstand in verschiedenen Austauschrunden. Aber von einer förmlichen Einlassung in irgendeiner Form ist uns nichts bekannt. – Den DGB können Sie also von Ihrer Liste wieder streichen, und es bleiben die üblichen Verdächtigen, die immer für Steuersenkungen sind. Frau Hessel hat gesagt, man soll jetzt und richtig helfen. Das finden wir auch. Aber statt allgemeiner Steuererleichterungen braucht es Direkthilfen für die Unternehmen, die sie jetzt wirklich benötigen: die kleinen Kneipen, die kleinen Gaststätten. Damit kann man gezielter unterstützen, und sie erreichen die Richtigen. ({2}) Eines fand ich allerdings gut, nämlich dass Sie in Ihrem Antrag Bezug auf das Kommunistische Manifest genommen haben. ({3}) Sie schreiben in Ihrem Antrag: Oder frei nach Karl Marx und Friedrich Engels: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst – dann wird es leider schief – der Insolvenzwelle. Verscheuchen wir es, bevor es zu spät ist! Ich habe für Sie von der FDP etwas Besseres von Karl Marx in seinem Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ gefunden, das auch Ihr Antrag schön zum Ausdruck bringt: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. ({4}) Und da Sie in Ihrem Antrag den Beginn des Kommunistischen Manifests in verhunzter Form zitiert haben, lassen Sie mich mit dessen Ende im Original schließen: Die Proletarier haben nichts … zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Liebich. – Schönen Nachmittag von mir an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Danyal Bayaz. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, guten Tag! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhinderung einer Insolvenzwelle, die ja auch gesunde Unternehmen in den Abgrund reißt, ist jetzt das oberste Gebot, und zwar wirtschaftspolitisch genauso wie sozialpolitisch. Da geht der Antrag der FDP durchaus in die richtige Richtung. Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben ja bereits im Frühjahr die Ausweitung der steuerlichen Verlustrückträge vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat das aufgegriffen und ist damals leider zu kurz gesprungen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man eine gesunde Balance zwischen Höchstbetrag und Veranlagungszeitraum findet. Für uns war es immer vor allem zentral, den Veranlagungszeitraum zu erweitern. Die FDP schlägt drei Jahre vor; wir können uns auch mehr vorstellen. Das würde besonders kleinen und mittleren Unternehmen helfen, die auch vor der Pandemie wirtschaftlich erfolgreich unterwegs waren. Diese Unternehmen müssen wir auch deswegen unterstützen, weil sie es uns ja zurückzahlen, und zwar mit Arbeitsplätzen und mit Steuern in der Zukunft, meine Damen und Herren. ({0}) Was wir in dieser zweiten Coronawelle jetzt brauchen, wenn ich das so sagen darf, sind wirklich kluge Instrumente. ({1}) Ich glaube, die Senkung der Mehrwertsteuer war nicht so klug. ({2}) Sie war teuer, und sie war ineffektiv. Die Ausweitung des Verlustrücktrages ist klug; denn er ist günstig, er ist effektiv, er ist zielgerichtet. Ich würde mich freuen, wenn die Regierung hier endlich einen ordentlichen Gesetzentwurf vorlegen würde. Unsere Unterstützung hätten Sie. ({3}) Der Verlustrücktrag ist ein Netz für Unternehmen; aber manche Unternehmen fallen eben auch durch dieses Netz. Wir werden nicht alle retten können. Wir werden jetzt auch vermehrt Insolvenzen sehen. Wir reden hier von Selbstständigen, wir reden von Start-ups, wir reden von Vereinen, wir reden von kulturellen Einrichtungen. Die haben doch auch Unterstützung verdient. Die Bundesregierung hat jetzt angekündigt, diese für die Schließungen im November zu entschädigen. Aber wir erwarten, dass diese Hilfe eben auch schnell dort ankommt, wo sie benötigt wird: bei der Gründerin, beim Gastronomen, bei der Yogalehrerin, beim Tontechniker, bei der Künstlerin genauso wie beim Selbstständigen. Hier geht es nicht nur um Wirtschaft, meine Damen und Herren, hier geht es um kulturelle Vielfalt, hier geht es um soziale Infrastruktur. Das, was gerade wegzubrechen droht, kommt auch nicht mehr so schnell wieder. Wir reden hier von Menschen, die arbeiten könnten, aber de facto nicht arbeiten dürfen. Die kann man jetzt nicht einfach auf die Grundsicherung verweisen. Deswegen braucht es jetzt endlich den Unternehmerlohn und sehr konkrete Hilfen für die Veranstaltungsbranche, meine Damen und Herren. ({4}) Auch mich hat das Zitat von Marx und Engels am Ende des Antrags zunächst überrascht, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es eigentlich nicht so überraschend: Engels war ja erfolgreicher Unternehmer. Es ist interessant, dass auch Sie Marx und Engels als zwei große Vordenker der Freiheit erkannt haben. ({5}) Ich möchte – anders als der Kollege Liebich – mit einem Zitat von Engels enden; denn auch er hat etwas Kluges gesagt, was auch für diese aktuelle Krise Bestand hat: Alles, was diese Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab. In diesem Sinne hoffe ich, dass die Bundesregierung die Umstände, in denen sich viele Menschen und Unternehmen dort draußen gerade befinden, auch wirklich versteht und die richtigen Schlüsse daraus zieht. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Danyal Bayaz. – Jetzt brummelt es sicher in einigen Köpfen? ({0}) Der letzte Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Keine Angst, ich bringe kein Marx- oder Engels-Zitat. ({0}) Aber ich bin der FDP dankbar für diesen Antrag; denn das Thema des notwendigen erweiterten Verlustrücktrags hat gerade im Hinblick auf die aktuell für November getroffenen Maßnahmen und die zweite Coronawelle noch mal erheblich an Bedeutung gewonnen. Deshalb haben wir im Rahmen der Verhandlungen zum Jahressteuergesetz 2020 dieses Thema selbstverständlich noch mal eingebracht. Es gab ja im Rahmen der Beratungen zum Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz ergänzend zu unseren Bemühungen einen weiteren guten Antrag der FDP, übrigens auch einen guten Antrag der Grünen. Wenn man sich den heutigen Antrag von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ansieht, dann stellt man fest, dass aus der Auflistung die Befürworter für einen erweiterten Verlustrücktrag deutlich hervorgehen. Das sind eigentlich alle wirtschaftlich relevanten Akteure, das sind alle politisch relevanten Akteure. Es fehlen lediglich die SPD und die Linken, die sich diesem Thema leider weiterhin verweigern. Beim Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz konnten wir zwar gemeinsam über kleine Verbesserungen reden und diese auch umsetzen – der Verlustrücktrag von 1 Million Euro wurde auf 5 Millionen Euro erhöht, bei Zusammenveranlagung wurde er von 2 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro erhöht –; aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das reicht nicht aus. Vielleicht muss man noch mal erklären – es ist vorhin ein bisschen missverständlich dargestellt worden –, wie der steuerliche Verlustrücktrag eigentlich funktioniert. Nach dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sollen Gewinne und Verluste miteinander verrechnet werden können. Da wir eine Abschnittsbesteuerung haben, also eine jährliche Besteuerung, muss man ein gesetzliches Instrument finden, mit dem man Verluste in einem Veranlagungszeitraum mit Verlusten und Gewinnen anderer Zeiträume verrechnen kann. Diese Möglichkeit bietet der § 10d im Einkommensteuergesetz. Hier ist geregelt, dass man Verluste bis zu 5 Millionen Euro ein Jahr zurücktragen kann. Die überschießenden Verluste können bis zu einem Betrag in Höhe von 1 Million Euro für weitere zehn Jahre vorgetragen werden. Der Rest wird nur noch zu 60 Prozent angesetzt. Also, wir haben schon jetzt eine Durchbrechung bei der Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Das wollen wir ändern. Wir brauchen diesbezüglich keine Mindestbesteuerung, sondern wir brauchen eine Änderung des Verlustvortrages. Deswegen können wir Ihrem Antrag heute auch nicht zustimmen. Wir werden es ja noch mal diskutieren; denn der wesentliche Teil des Verlustvortrages fehlt, den wir aber gerne haben würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist der Kern? Der Kern ist, dass wir den Unternehmerinnen und Unternehmern – der Kollege Bayaz hat es richtig gesagt – helfen, notwendige Liquidität aus eigener Kraft zu bekommen. Aus eigener Kraft! Was würde das bedeuten? Wir müssten weniger Hilfen zahlen. Wir müssten auch weniger Geld in die Hand nehmen und in die Welt geben. Vielmehr könnten wir die eigene Kraft der Unternehmen stärken. Das ist doch der richtige Ansatz. Die Ausdehnung des Verlustrücktrages, die Sie ablehnen, gilt ja nur für diejenigen, die auch in Deutschland Steuern zahlen. Alle anderen, die in Deutschland keine Steuern zahlen, würden ja auch keinen Verlustrücktrag machen können. ({1}) Insofern besteht vielleicht ja auch eine Möglichkeit, dass Sie zustimmen können. Ich sage Ihnen: Das ist eine reine Verschiebung – der Kollege Fritz Güntzler hat es ja auch in seiner Rede erwähnt –: Wir geben den Unternehmen jetzt die Steuer zurück, indem sie einen größeren Verlustrücktrag bekommen; aber sie zahlen dann wesentlich schneller wieder Steuern, wenn Gewinne entstehen, und wir hoffen, dass die Gewinne schon im nächsten Jahr wieder entstehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe Ihre Blockade dort wirklich nicht. Es geht doch nicht um eine Privilegierung von Unternehmen oder vom Mittelstand, sondern es geht wirklich um die Erhaltung der Leistungsfähigkeit unserer Unternehmen. Wenn wir das nicht machen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, dann wir es zu mehr Hilfen kommen müssen, und es wird auch zu mehr Arbeitsplatzabbau in Deutschland führen. Deswegen ist es jetzt dringend geboten, dass wir dieses Thema anpacken. Wann sollten wir es denn anpacken, wenn nicht jetzt? Wir müssen es doch in das Jahressteuergesetz 2020 hineinpacken. Jetzt ist die Krise da. Wenn wir das in ein oder zwei Jahren machen, ist das Ganze verpufft. Deswegen wollen wir es jetzt tun, und deswegen werben wir darum, dass wir gemeinsam eine Lösung finden. Natürlich können wir darüber reden: Welchen Zeitraum nehmen wir? Nehmen wir zwei Jahre, drei Jahre, fünf Jahre Verlustrücktrag? Welchen Zeitraum nehmen wir für den Verlustvortrag? Welche Höhe nehmen wir? – Das alles sind Themen, die wir diskutieren können. Aber wir müssen es anpacken, und wir müssen hier endlich ein Umdenken hineinkriegen, dass wir den Unternehmen zu ihrer eigenen Kraft verhelfen. Wir sind stolz auf diejenigen Unternehmen – das muss man auch noch einmal sagen –, die in der Vergangenheit viele Steuern in Deutschland bezahlt haben. Das sind nämlich unsere Industrie und unser Mittelstand, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Um in der Bildsprache von Olaf Scholz zu bleiben, will ich Ihnen als Kollegen der SPD ausdrücklich sagen, und zwar nur für den Bereich der Unternehmensbesteuerung: Wir müssen wirklich aufpassen, dass aus dem Wumms keim Wümmschen wird und dass aus der Bazooka in der Unternehmensbesteuerung keine einfach harmlose Wasserpistole wird. Also: Anpacken jetzt und den Verlustrücktrag mit uns gemeinsam durchsetzen! Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mauer hat Deutschland geteilt. Sie hat Familien getrennt, getrennt zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Bundesrepublik und DDR, zwischen Recht und Unrecht. Ja, meine Damen und Herren, die DDR war ein Unrechtsstaat. 111 Kilometer Stasiakten sind dafür der beste Beleg. Geschichte aber ist unteilbar. Wer nur die halbe Wahrheit gelten lässt, lebt schon in der ganzen Unwahrheit. Geschichte ist kein Selbstbedienungsladen, aus dem man sich heraussucht, was einem gerade passt. Das dunkle Kapitel der DDR-Diktatur darf niemals vergessen, verdrängt, verharmlost werden. Wir haben das Glück, dass durch die mutige Bürgerrechtsbewegung die Stasiakten 1989 vor der Vernichtung gerettet worden sind. Sie geben Zeugnis von Angst, Überwachung, Verhaftung, Zersetzung, Ermordung. Diese Akten gehören zu unserem nationalen Gedächtnis. Wir bringen heute den Entwurf eines Gesetzes in den Bundestag ein, das diese Akten für die nachfolgenden Generationen sichert. Sie werden rechtlich in das Bundesarchiv überführt. Sie werden damit dauerhaft geschützt und zugänglich gemacht. Wir haben in den letzten Jahren einen langen Diskussions- und Entscheidungsprozess erlebt. Viele wurden in diesen Prozess eingebunden, allen voran die Opferverbände. Aber ich danke auch meinen Kollegen Gitta Connemann, Johannes Selle, Nikolas Löbel, auch Katrin Budde, Roland Jahn, Michael Hollmann als Präsident des Bundesarchivs und natürlich ganz besonders unserer Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Es war ein mühsamer Prozess. ({0}) Im Ergebnis wird der heutige Gesetzentwurf von einem breiten Konsens getragen. Uns eint, dass wir damit die gesamtdeutsche Aufarbeitung stärken. Wir sind ein Volk, und die Geschichte unserer Teilung ist unsere gemeinsame Geschichte. Aufklärung statt Verklärung, das muss uns leiten. Mit über 280 000 Mitarbeitern war die Staatssicherheit der DDR, gemessen an der Bevölkerungszahl, der größte Geheimdienst der Welt. 3,2 Millionen Anträge auf Akteneinsicht wurden bisher insgesamt gestellt. Noch immer gibt es monatlich über 4 000 Anträge. Auch weiterhin ist eine Antragstellung möglich, und auch weiterhin gilt dabei das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Darauf haben wir großen Wert gelegt. Alle Außenstellen bleiben erhalten. Die Möglichkeit der Einsicht in die eigene Akte ist eine weltweit einmalige Errungenschaft und hat enorme Vorbildfunktion für viele andere Staaten. Für uns als Union standen und stehen dabei immer die Opfer im Mittelpunkt. Jede Akte ist ein Schicksal. Jede Akte ist eine Familiengeschichte. Jede Akte hinterlässt Wunden und Narben. Viele Menschen leiden heute noch unter den Folgen der Willkür und der Repression. Sie werden aber oft nicht mehr gehört. Daher wollen wir das Amt einer oder eines Opferbeauftragten im Deutschen Bundestag schaffen. Sie oder er soll den vielen Menschen eine öffentliche Stimme geben. Sie soll uns aufzeigen, wo wir noch nachsteuern müssen, zum Beispiel beim Thema Zwangsadoption. Die Überleitung der Stasiunterlagenbehörde unter das Dach des Bundesarchivs ist ein Versprechen der Koalition, das wir heute einlösen, und die oder der Opferbeauftragte ist das auch. Ich finde, wir haben ein tolles Ergebnis erzielt, alle miteinander. Dafür noch mal vielen Dank. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming. – Ich will gleich sagen: Wenn Herr Frömming sehr schnell den Raum verlässt, dann tut er das entschuldigt. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 41 Millionen Karteikarten, 111 Kilometer Akten, diese Hinterlassenschaft der Stasi, dieser riesige Papierberg bezeugt, wie dieser Staat die eigenen Bürger ausspionierte und drangsalierte. Er bezeugt: Die DDR war ein Unrechtsstaat. Meine Vorrednerin hat es dankenswerterweise schon gesagt. Kein Wunder, dass nach dem Mauerfall Mielkes Schergen versuchten, die Akten zu vernichten. Nur dem beherzten Eingreifen mutiger Bürger ist es zu verdanken, dass es ihnen nicht oder nur zu einem kleinen Teil gelungen ist. Diese Akten, meine Damen und Herren, sind aber nicht irgendwelche Akten. Sie sind auch ein Mahnmal, und wie jedes andere Mahnmal auch müssen sie deshalb sichtbar und zugänglich bleiben. Wir haben, sehr geehrte Frau Motschmann, trotz aller gegenteiligen Versicherungen unsere Zweifel, dass dies nach der Abschaffung des Beauftragten für die Stasiunterlagen und der Überführung in das Bundesarchiv auch für die weitere Zukunft noch ausreichend gegeben sein wird. Diese Akten dürfen nicht in finsteren Archiven versenkt werden, meine Damen und Herren. ({0}) Eine Entsorgung der deutschen Vergangenheit darf es nicht geben. Das gilt für die erste und auch für die zweite deutsche Diktatur. ({1}) Wir müssen deshalb den Themen Stasi und DDR – richtig – deutlich mehr Aufmerksamkeit im Schulunterricht und in der Bildungsarbeit schenken. Es gibt allerdings, meine Damen und Herren, starke Kräfte, die genau dies verhindern wollen; denn die Täter, sie sind ja noch unter uns. Sie sitzen in Aufsichtsräten, in Stiftungen, in den Schulen und auch in den Parlamenten. SPD und Grüne haben längst ihren Frieden mit ihnen geschlossen. Das erinnert mich an Ralph Giordano, der in Bezug auf die unterbliebene Auseinandersetzung mit den NS-Tätern von der „zweiten Schuld“ sprach. Das erleben wir gerade in Bezug auf die SED und die Stasi, und spätere Generationen werden es uns attestieren. ({2}) Auch die Union, meine Damen und Herren, hat allen Lippenbekenntnissen zum Trotz längst ihren Frieden mit den Tätern gemacht. ({3}) Heute flirten Sie mit den Grünen, morgen gehen Sie mit ihnen ins Bett, und übermorgen wachen Sie neben den Linken auf. Schöne Grüße auch an Herrn Söder in Bayern! ({4}) Deshalb verwundert es auch nicht, meine Damen und Herren, dass die CDU – von einigen Ausnahmen abgesehen – kaum einen Finger mehr gerührt hat, als einer der profiliertesten Aufklärer über das DDR-Unrecht, der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, auf Betreiben des linken Berliner Kultursenators aus dem Amt entfernt wurde. Gleichzeitig fließen mit Billigung der CDU Millionenbeträge in linke und linkeste Projekte, an deren demokratischer Ausrichtung erhebliche Zweifel bestehen. ({5}) Ich nenne als ein Beispiel von vielen nur die Amadeu-Antonio-Stiftung, die von einer früheren Stasiinformantin geleitet wird. Der vorliegende Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, sieht als zweite wichtige Regelung vor, dass es statt eines Beauftragten für die Stasiunterlagen nun einen Beauftragten für die Opfer der SED-Diktatur geben soll. Das klingt zunächst einmal gut. Schaut man aber genauer in den Gesetzentwurf, sieht man schnell: Es handelt sich um einen zahnlosen Tiger. Sie täuschen hier die Öffentlichkeit, meine Damen und Herren. ({6}) Besser wäre es, wir hätten vielleicht einen Täterbeauftragten. Denn was soll dieser Opferbeauftragte machen? Er soll in der Öffentlichkeit wirken, er soll würdigen, und er soll beraten. – Na ja, wenn er beraten soll, dann könnte er vielleicht gleich mal bei der Bundesregierung und bei der Beauftragten für Kultur und Medien anfangen. Denn dieses Parlament hat ja auch ein Mahnmal für die Opfer des Kommunismus beschlossen. Das Projekt wird interessanterweise verschleppt; es kommt überhaupt nicht voran. Meine Damen und Herren, lassen Sie diesen Beschlüssen endlich Taten folgen. Die Opfer würden es uns danken. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Ich möchte übrigens anlässlich dieser Debatte herzlich Roland Jahn, den Leiter der Stasiunterlagenbehörde, hier in unserem Haus begrüßen. Herzlich willkommen, Roland Jahn! ({0}) Nächste Rednerin: Katrin Budde für die SPD-Fraktion. ({1})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich diesen Themenkomplex mit Beginn dieser Legislatur übernommen habe, habe ich schon einige Beschlüsse aus der letzten Legislatur vorgefunden. Sie waren die Basis für unsere gemeinsame Arbeit: Der Erste war: „Die Aufarbeitung der SED-Diktatur konsequent fortführen“ vom Juni 2016, in dem beschlossen wurde, dass der BStU in das Bundesarchiv überführt wird, und in dem BStU und Bundesarchiv den Auftrag bekommen haben, ein Konzept für diesen Integrationsprozess vorzulegen. Dem voraus ging eine Expertenkommission, die zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR folgende Empfehlungen an den Bundestag abgegeben hat, die dann sozusagen die Blaupause für die Opferbeauftragte oder den Opferbeauftragten sind: Nach Ende der Amtszeit von Roland Jahn sei das Amt weiterhin erforderlich, da die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihren Folgen nach wie vor eine gesellschaftliche Bedeutung besitze und von diesem Amt zudem eine symbolische Wirkung für die Weiterführung der Aufarbeitung ausgehe. Man solle dem Amt ein neues Profil geben. Unter anderem solle das neue Amt eine Art Ombudsperson für die Opfer der kommunistischen Diktatur und Betroffene im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sein und in grundsätzlicher Form ihre Anliegen gegenüber Bundestag, Bundesregierung und Bundesbehörden zur Geltung bringen. Die Person solle eine beratende Funktion gegenüber dem Deutschen Bundestag, seinen Ausschüssen, gegenüber der Bundesregierung und den Bundesbehörden ausüben und gegenüber dem Deutschen Bundestag berichtspflichtig sein. Die Amtszeit solle fünf Jahre dauern. Die Person solle vom Bundestag gewählt werden; eine einmalige Wiederwahl solle zulässig sein. Der Mitarbeiterinnenstab solle aus 8 bis 12 Mitarbeiterinnen bestehen, darunter 4 bis 6 mit wissenschaftlichem und 4 bis 6 mit verwaltungstechnischem Profil plus jemand für Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit. Das ist eine sehr konkrete Vorstellung, die die Expertenkommission da formuliert hat. Das alles finden Sie im Gesetzentwurf zur Einrichtung der oder des SED-Opferbeauftragten wieder. Daran haben wir uns strikt gehalten. Ich habe aber auch ganz schnell begriffen, dass die Beschlüsse der letzten Legislatur deshalb so gefasst worden sind, weil es in der letzten Legislatur keine Chance auf eine weiter gehende Einigung gab. Nach jedem Gespräch, das ich dazu geführt habe, wurde mir klarer, dass es sich um ein Thema mit sehr, sehr unterschiedlichen Auffassungen handelt – bildlich gesprochen: Es war ziemlich vermintes Gelände. Es ging von „Es soll alles so bleiben, wie es ist“ über „Das ist aber unsere Aufgabe, und wir wollen den Aufgabenzuwachs haben“ über „Macht doch ein ganz normales Archiv daraus! Warum immer diese Sonderbehandlung?“ zu „Da wird eine Errungenschaft der Revolution zerstört!“, man wolle bewusst alles auflösen und man verliere die Möglichkeit, weiter international zu arbeiten – und noch viel mehr. Ich habe mir das alles angehört, unendlich viele Gespräche geführt, ganz viel gelesen und versucht, aus diesen diametralen und unterschiedlichen Positionen einen vernünftigen Vorschlag zu machen – ich glaube, das ist gelungen –: zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, zum Bundesarchivgesetz und zur Einrichtung der Funktion einer oder eines SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag. Allen, die mich auf dem Weg begleitet, ganz viel Zeit investiert und Geduld für die Gespräche aufgebracht haben, möchte ich danken. ({0}) Das Gesetzespaket wird heute in den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen. Es ist zwischen den unterschiedlichen Interessen abgewogen, und ich glaube, es ist schon eine ganz gut geeinte Beratungsvorlage. Es sichert die Überführung der sensiblen Akten in die guten Hände des Bundesarchivs, trägt aber der Besonderheit dieser noch jungen Akten, in denen es um noch lebende Opfer oder deren Angehörige geht, und den notwendigen besonderen Personenschutzrechten durchaus Rechnung. Ja, es stimmt: Die DDR war nicht nur Stasi. Mich haben viele Argumente erreicht, die sich genau darauf beziehen und sagen, dass mit dem jetzigen Schritt das Thema Stasi überhöht würde und die Rolle der Stasi überbewertet würde. Dem will ich deutlich widersprechen. Auch wenn die DDR ganz sicher nicht nur Stasi war, war die Bespitzelung in alle Lebensbereiche unzähliger Menschen hinein – für mich ungeahnt, bevor ich es gesehen hatte – doch sehr bedeutend und für viele auch sehr schlimm. ({1}) Wer einmal durch die „begehbare Akte“, die Ausstellung in der Stasiunterlagenbehörde, gegangen ist, dem wird die Dimension klarer. Der Arm dieser Krake reichte eben weit in die Bundesrepublik und in die Länder des Ostblocks hinein. Deshalb ist es notwendig, auch diesen Teil der jüngeren deutschen Erinnerungskultur wachzuhalten und ihn an die nächsten Generationen mahnend weiterzugeben. Deshalb ist es gut, dass an den zukünftigen Außenstellen des Bundesarchivs und dann ehemaligen Außenstellen des BStU, also in den Regionen, auch weiterhin Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsarbeit in vertretbarem Umfang angeboten wird. Das sollte möglicherweise auch eine Überlegung für andere Archivbereiche sein; denn Archive haben einen riesigen Fundus an Fakten und Wissen, der gut geeignet ist, zu verstehen und für die Zukunft zu lernen. Zukünftig wird es in den ostdeutschen Bundesländern je einen Archivstandort geben und zusätzlich an unterschiedlichen Standorten Außenstellen; auch das ist mit den Ländern so geeint. Ich will ausdrücklich den Beauftragten der Länder und dem Bundesverband der Opferverbände dafür danken, dass es eine sehr intensive Zusammenarbeit und eine offene Beratung gab; denn sie sind in den Ländern die natürlichen Ansprechpartner und Kollegen in der zukünftigen Zusammenarbeit sowohl mit dem Bundesarchiv als auch mit dem oder der Opferbeauftragten. Ich bin davon überzeugt, dass wir nach der Verabschiedung des Gesetzespaketes eine gute Grundlage für die gemeinsame Arbeit haben. Der letzte Bundestag, meine Damen und Herren, hatte die Auflösung des BStU und die Überführung in das Bundesarchiv beschlossen und den beiden Behörden den Auftrag erteilt, ein gemeines Konzept zu erarbeiten. Das haben beide Behörden und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie ich finde, sehr professionell und mit sehr qualitativen Vorschlägen getan; dafür will ich ihnen auch danken. Denn dies ist eine ganz besondere Fusion, sowohl wegen des Themas, wegen der besonderen Sensibilität der Akten als auch wegen des Umstandes, dass das Stasiarchiv größer ist als das jetzige Bundesarchiv und der Personalkörper des BStU größer ist als der der aufnehmenden Behörde. Deshalb war es mir wichtig, mit den Personalräten zu einer guten Lösung für die Übergangszeit und danach zu kommen und diese auch im Gesetz zu verankern; das ist uns gelungen. Und wenn es hier noch Klärungs- oder Nachschärfungsbedarf gibt, dann werden wir das in der Anhörung hören und möglicherweise auch noch umsetzen. Ich danke auch Ihnen für die vielen Gespräche und natürlich auch den Mitarbeiterinnen der BKM, die uns für die rechtlich korrekten Formulierungen immer zur Seite gestanden haben. Ich glaube, die haben ein paar graue Haare gekriegt in den Beratungen mit mir. ({2}) Jetzt komme ich noch kurz zum Opferbeauftragtengesetz. Es ist ja verrückt, wie heiß das diskutiert wurde. Die Expertenkommission – ich habe es am Anfang gesagt – hat ja ganz klare Vorstellungen aufgeschrieben. Wir haben das genau umgesetzt. Mit dem Koalitionspartner war es sowieso eine super Zusammenarbeit, aber auch mit der FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Ich habe mein Bestes gegeben und versucht, sie auf den Weg, so gut es ging, mitzunehmen. Ich will ihnen danken, dass sie Miteinbringer des Gesetzentwurfs sind. Ich will aber auch der Linken danken – das will ich wirklich explizit sagen –, weil Sie mit Ihrem Verzicht, Miteinbringer zu sein, den Weg für diesen gemeinsamen interfraktionellen Gesetzentwurf geebnet haben. Ich weiß, das ist für Sie kein einfaches Thema. Deshalb will ich auch dafür Danke sagen; denn das war eine gute Geste. ({3}) Ich freue mich auf die Anhörung, bin gespannt, welche Hinweise es noch geben wird, und bedanke mich für die heutige Überweisung. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Budde. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Thomas Hacker. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 30 Jahre Deutsche Einheit: Seit 30 Jahren können wir als Abgeordnete aus allen Bundesländern, aus Sachsen und Schleswig-Holstein, aus dem Saarland und Brandenburg, aus Bayern und Hamburg hier im Deutschen Bundestag gemeinsam diskutieren und arbeiten, in einem frei gewählten Parlament, in einem freien und demokratischem Land. Dass dies so kam, war keine Selbstverständlichkeit. Es waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR, die ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit auf die Straße gingen – von Woche zu Woche mehr – und damit die Mauer von innen heraus zum Einsturz brachten. Sie sind die Helden der Friedlichen Revolution. Und es waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR, die die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit und deren Bezirksstellen eroberten und die fein ausgearbeiteten und archivierten Zeugnisse ihrer Unterdrückung und Bespitzelung durch den eigenen Staat sicherten. Der Umgang mit den gesicherten Akten, die ja das ganze Ausmaß der Unterdrückung und der Zersetzung von Familien und Freundeskreisen anhand unzähliger Fälle erst offenbarten, war wohl die größte Herausforderung für die Menschen im vereinten Deutschland. Diese Aufarbeitung ist nicht abgeschlossen und kann vielleicht niemals abgeschlossen werden. Darum ist es gut, dass wir heute die Transformation des Stasi-Unterlagen-Archivs auf den Weg bringen, um diese so sensiblen wie persönlichen Unterlagen für die Betroffenen dauerhaft zu sichern, zugänglich zu halten und auch für die Forschung verstärkt zu öffnen. Es ist gut, dass wir die Neuaufstellung gemeinsam auf den Weg bringen, aus der breiten demokratischen Mitte des Hauses heraus. Mein ausdrücklicher Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss, allen voran aber Ihnen, Frau Budde, für die gute und offene Zusammenarbeit, genauso wie Ihnen, Herr Jahn, Herr Dombrowski und Herr Hollweg, für die vielen Impulse und konstruktiven Gespräche der letzten Jahre. Es ist ja kein Geheimnis, dass für uns Freie Demokraten die umfassende Gewährung von Freiheits- und Persönlichkeitsrechten für den Einzelnen höchste Priorität hat und wir trotzdem die Digitalisierung und die sich daraus bietenden Möglichkeiten der Einsichtnahme und Forschung voll ausschöpfen wollen. ({0}) Genauso ist es uns wichtig, dass die Standortfragen in den Ländern geklärt sind und die Akten leicht zugänglich bleiben, zusätzlich auch an den Standorten des Bundesarchivs. Die internationale Zusammenarbeit nimmt Fahrt auf. Schon jetzt kommt ein Viertel der Forschungsanfragen aus dem Ausland. Der BStU war und ist ein internationaler Leuchtturm der Aufarbeitung und zugleich kompetenter Ansprechpartner für Länder wie Serbien, Albanien, Tunesien, Südkorea oder Taiwan. Diese Funktionen und ihr hoher Symbolwert müssen erhalten bleiben und in Zukunft auch vom SED-Opferbeauftragten mit wahrgenommen werden. Dessen Aufgabe endet weder an den Grenzen Ostdeutschlands noch an denen der Bundesrepublik. Opfer des SED-Regimes, ihre Kinder und Enkel leben heute auf der ganzen Welt. Wir Freie Demokraten sind sehr froh, dass all diese uns wichtigen Aspekte im Gesetzentwurf Niederschlag gefunden haben. Es ist ein gelungener Entwurf, der Opferbelange, Aufarbeitung und Forschung dauerhaft sicherstellen kann und damit einen Beitrag leistet, der jungen Generation zu zeigen, warum die Menschen vor 30 Jahren auf die Straße gegangen sind, für ihre Freiheit gekämpft und die Mauer eingerissen haben. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Hacker. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Simone Barrientos. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Eingliederung der Stasiunterlagen ins Bundesarchiv kam spät, aber das Warten hat sich gelohnt. Er ist wirklich besser, als ich erwartet habe. Mögliche Tücken liegen wie so oft im Detail; wir werden darüber im Ausschuss diskutieren. Was sind die Aufgaben eines Archivs, also auch des Bundesarchivs? Ein Archiv soll sichern, erschließen und zugänglich machen. Besonders wichtig ist die Sicherung der Unterlagen; denn wir werden sie brauchen, um die Geschichte erzählen zu können. Ein Archiv ist aber auch ein neutraler Ort, an dem – ich sagte es schon – Daten und Akten gesichert, erschlossen und zugänglich gemacht werden sollen. Der Aufgabenkatalog aber, der im Gesetzentwurf enthalten ist, geht weit darüber hinaus. Insofern werden wir darauf achten müssen, dass dem Bundesarchiv nicht Aufgaben, die dort nicht hingehören, zugewiesen werden, was nicht heißen soll, dass diese Aufgaben nicht auch erfüllt werden müssen. Um einen unverstellten Blick auf die Geschichte der DDR zu ermöglichen, braucht es eine Versachlichung im Umgang mit den Akten. Die Überführung der Unterlagen ins Bundesarchiv entspricht dieser Versachlichung. Wichtig wird sein, dass die Akten zum Beispiel auch für Forschungen zugänglich sind, die sich nicht explizit um Stasi und SED drehen; denn in den Akten steckt sehr viel mehr. Sie geben auch einen Überblick über Alltägliches, sie erlauben es, vergleichend zu forschen. Und sie können geeignet sein, den Blick zu weiten, eben über Stasi und SED hinaus; denn – wir sagten es schon – die DDR war sehr viel mehr. Ansonsten bleibt uns wichtig, dass die Belange der Beschäftigten im Blick bleiben. Hier ist man offenbar auf einem guten Weg. Auch für die Außenstellen zeichnen sich sinnvolle Lösungen ab. Ich bin sehr gespannt auf die Debatte in der öffentlichen Anhörung nächste Woche. Dort werden wir auch die Frage beleuchten, ob es wirklich einen Opferbeauftragten, eine Opferbeauftragte in der vorgeschlagenen Form braucht oder ob nicht die bestehenden Organisationen und Strukturen diese wichtige Arbeit für die Opfer schon leisten und die Opferinteressen im gebotenen Maße vertreten. Eine wichtige Frage lässt Ihr Vorschlag offen: Was ist mit den Kosten? Denn damit das Bundesarchiv seine Arbeit machen kann, wird es Geld brauchen: für Expertinnen und Experten, für Personal insgesamt, für Gebäude und Gebäudetechnik, für die angekündigte und so notwendige Digitalisierung usw. usf. Da ist noch verdammt viel zu tun, wenn man die Akten erhalten und zugänglich halten will. Der Wille wird nicht genügen, das wird Geld kosten. Ich freue mich auf den Austausch im Kulturausschuss. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Simone Barrientos. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Monika Lazar. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! Als Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen begrüßen wir den Gesetzentwurf und tragen ihn auch mit. Die Eingliederung der Stasiunterlagen in das Bundesarchiv war ja nicht ganz unumstritten. Nun kommt es darauf an, die notwendigen gesetzlichen Regelungen zu schaffen. Uns war wichtig, dass alle Außenstellen – mit und ohne Archiv – namentlich benannt wurden. Ebenso wichtig war uns, dass Brandenburg mit Cottbus einen zusätzlichen Standort bekommen hat. Froh sind wir auch, dass die historisch-politische Bildungs- und Forschungsarbeit in den Außenstellen festgeschrieben wurde. Ebenso wird der niedrigschwellige Zugang für Betroffene und für die Wissenschaft gewährleistet. Auch die Einführung des Amtes einer oder eines Opferbeauftragen unterstützen wir. Andere Aspekte des Gesetzentwurfs werfen dagegen noch Fragen auf, die sich hoffentlich in der Anhörung im Kulturausschuss in der nächsten Woche klären lassen. So wünschen wir uns, statt nur von Opfern besser von „Opfern und Verfolgten“ zu sprechen. Für die Menschen, die in der DDR Repressionen erfahren haben, sich aber nicht im erstgenannten Begriff wiederfinden, wäre das ein gutes Zeichen. ({0}) Zudem müssen wir noch über die Aufgaben und Pflichten der oder des Opferbeauftragten sprechen. Diese müssen klar definiert werden, besonders die Tätigkeiten in der historisch-politischen Bildung; auch die Ombudsaufgaben sind noch zu schwammig. Weiterhin wäre es für uns wünschenswert, die Beratung medizinischer Einrichtungen mit aufzunehmen; denn viele, die damals gelitten haben, tragen bis heute noch die gesundheitlichen Folgen. Deshalb wäre es für die speziellen Einrichtungen sinnvoll, wenn auch sie sich an die Stelle des oder der Opferbeauftragten wenden könnten. ({1}) Gut ist, dass die Transformation durch ein Beratungsgremium begleitet werden soll. Allerdings ist zu fragen, ob es ausreicht, dies auf fünf Jahre zu befristen, oder ob man ihm nicht etwas mehr Zeit geben kann. Zuletzt ist noch die ausreichende finanzielle Ausstattung des Bundesarchivs und der Außenstellen zu klären; diese ist ja gerade angesprochen worden. Da müssen konkrete Pläne nachgeliefert werden. Die Verlagerung des Etats des BStU auf das Bundesarchiv wird für die Deckung der laufenden Kosten sorgen. Es muss allerdings darüber nachgedacht und vor allen Dingen konkret geregelt werden, wie die Bildungs- und Forschungsaufgaben des Bundesarchivs angemessen finanziert werden sollen. Das wird ohne Mehraufwand nicht gehen. ({2}) Ich hoffe, dass durch die Anhörung in der nächsten Woche die für uns noch offenen Fragen beantwortet werden, und freue mich jetzt schon auf die Anhörung. Danke. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Monika Lazar. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Lieber Roland Jahn! Für den Deutschen Bundestag haben die Aufarbeitung und das Gedenken der eigenen Geschichte eine hohe Bedeutung. Wir sind damit Vorbild für viele Länder. Mit dem Überführen der Stasiunterlagen in das Bundesarchiv erreichen wir auf diesem Gebiet eine neue Etappe, indem wir klarstellen: Diese Akten gehören zu den bedeutenden Dokumenten der deutschen Geschichte, der Auftrag bleibt, die Aufarbeitung geht weiter, und die Akten bleiben zugänglich. Wenn wir von den mutigen Menschen der Friedlichen Revolution sprechen, dann verdienen die Besetzer der Stasizentralen besondere Erwähnung. Sich an die Hochburgen zu wagen, war der kritische Punkt. Mit der Herrschaft über diese Akten entstand erst das Gefühl von Sicherheit, dass das Regime verloren hat. Am 6. November 1989 befahl Erich Mielke, die Archive zu säubern. Am 4. Dezember verhinderten die Demonstranten in Erfurt, dass die Dokumente des Schreckens verschwinden. Der organisierte Zugang zu den Akten führte zu Enttäuschungen und zum Erschrecken über das Ausmaß der Skrupellosigkeit, aber er führte nicht zu Lynchjustiz und Aufruhr. Demokratisch, transparent, gleichberechtigt und anlassbezogen, zum Beispiel bei der Besetzung von Funktionen – man kann den Prozess als vorbildlich bezeichnen. ({0}) Durch diese Akten wird allerdings eindrucksvoll dokumentiert, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Urteile wurden handschriftlich auf der Akte vermerkt, wie sie dann verkündet wurden. An die unentdeckten Täter wird das Signal gesendet, dass jederzeit die Wahrheit herauskommen kann, und an die Opfer wird das Signal gesendet, dass wir dranbleiben und uns Wahrheit und Rehabilitation wichtig sind. Bei der eifrigen Vernichtung der Akten versagten die einfachen Schredder, und so zerrissen die Bediensteten die kritischen Akten mit der Hand. Von den Säcken konnten 16 000 sichergestellt werden. Die Wiederherstellung dieser Akten ist eine Mammutaufgabe. Aber innovative Technologien und moderne Software werden uns dabei helfen. Wir ziehen keinen Schlussstrich, sondern modernisieren die Verwaltung und schaffen gleiche Standards der Aktenarchive an den Außenstellen des Bundesarchivs. Die Stasiunterlagen jedes Bundeslandes werden an einem Standort konzentriert, und es werden Investitionen in die Aufbewahrung getätigt. Alle Standorte werden zur digitalen Einsichtnahme aufgerüstet. Die Standorte ohne Aktenbestand werden in Gedenkstättenkonzepte integriert. Als Ansprechpartner für die Opfer sollte es einen besonderen Beauftragten geben. Der Blick in die eigene Akte bleibt ein besonderes Erlebnis. Das Interesse ist auch nach 30 Jahren ungebrochen. An jedem Arbeitstag muss die Behörde circa 250 Anträge bearbeiten. Die Hälfte davon sind Erstanträge, weil man erst mit dem Eintritt in die Rente die Kraft und die Zeit aufbringt, einen Blick in die eigene Akte zu werfen. Das Bundesarchiv ist das Gedächtnis unserer Nation. Alle wichtigen Archivunterlagen und Dokumente unserer Geschichte werden hier gesichert und für die Öffentlichkeit nutzbar gemacht. Deshalb ist der Übergang kein erster Schritt in die Unerreichbarkeit der Akten, sondern in gewisser Weise eine Aufwertung. Wir schaffen Synergien und Einsparungen mit der einheitlichen Verwaltung und zukünftigen Digitalisierung aller Bestände. Wir wünschen uns, dass die Außenstellen noch stärker ins Bewusstsein treten, indem sie an den Standorten in die Gedenkstättenkonzepte der Länder eingebunden werden. Authentische Orte müssen erhalten bleiben; denn dort können vor allem junge Menschen am besten erfahren, wie Diktaturen entstehen können und wie sie wirken. Wir fördern diese Arbeit mit dem Programm „Jugend erinnert“. Es sollen attraktive audiovisuelle und digitale Angebote entwickelt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Konsens. Beteiligt waren die Länder, die Opfergruppen und die Mitarbeiter. Die Zusammenführung zwei so großer bedeutender Behörden braucht Zeit und die Abwägung aller Aspekte und Sorgen. Von Beginn an waren auch die Personalvertretungen von Bundesarchiv und Stasiunterlagenbehörde eingebunden; sie haben wichtige Hinweise gegeben, und man ist zu einvernehmlichen Lösungen gekommen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht eine sehr gute Vorlage für die Beratungen im Ausschuss und für die öffentliche Anhörung in der nächsten Woche. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Selle. – Damit schließe ich diese Aussprache.

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer ein Problem lösen will, der muss es zuallererst einmal verstehen. Dazu ist manchmal Zeit nötig. Wer aber als politisch Verantwortlicher quälende acht Monate ins Land ziehen lässt, ohne ernsthaft zu versuchen, sich wenigstens an die Lebenswirklichkeiten der Betroffenen heranzutasten, der hat eigentlich nach acht Monaten fertig. ({0}) Die Veranstaltungsbranche steht mit dem Rücken zur Wand. Sie sind die Ersten, die zugemacht wurden, und die Letzten, die wieder aufmachen dürfen. Ihre Überbrückungshilfen, verehrte Damen und Herren der Koalition, versagen, und sie sind auch nach Überarbeitung nicht viel besser. Acht Monate lang haben Sie, die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, die Veranstaltungsbranche und damit 1,5 Millionen Beschäftigte und Soloselbstständige im Stich gelassen. Es reicht einfach nicht mehr, wenn Ihre Vertreter und Vertreterinnen – wie vorgestern im Angesicht der Branche am Brandenburger Tor – ankündigen, in den nächsten Wochen würden sie über den Unternehmerlohn beraten. Jetzt müssen Sie handeln. ({1}) Der fiktive Unternehmerlohn wird in einem Bundesland ja schon praktiziert, seit März dieses Jahres. Ich möchte hier besonders an Sie, meine Damen und Herren von CSU und CDU appellieren. Wenn jetzt – endlich – sogar schon Ihr Kanzlerkandidat in Lauerstellung, der bayerische Ministerpräsident Söder, ankündigt, Baden-Württembergs Modell nachmachen zu wollen, dann freue ich mich über Ihre Zustimmung zu unserem heute vorliegenden Antrag; denn der greift genau das auf. ({2}) Aktuell erklärt Herr Minister Altmaier in Interviews, er wäre schon immer für den fiktiven Unternehmerlohn gewesen. Wenn das also ein Herumgeschiebe des Schwarzen Peters ist, muss ich mich wohl an die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wenden: Es war insbesondere die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die vielen Menschen – auch durch finanzielle Anreize – den Weg in die Soloselbstständigkeit schmackhaft gemacht hat. ({3}) Ganz viele davon, nicht nur in der Veranstaltungsbranche, aber besonders da, sind jetzt durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in ihrer Existenz bedroht. Wenn Sie nicht an politischer Amnesie leiden, dann übernehmen Sie, vor allem die Herren Minister Heil und Scholz, endlich Ihre Verantwortung für diese Menschen. Liebe SPD, ziehen Sie sich Ihre Bleischuhe aus, und kommen Sie endlich in die Puschen! ({4}) Wir haben mit unserem Antrag einen Plan vorgelegt, der die Handlungsempfehlungen der Veranstaltungsbranche ernst nimmt. Jetzt müssen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, hier im Parlament Stellung beziehen. Ich sage es, obwohl den Betroffenen von den wohlfeilen Solidaritätskundgebungen bestimmt schon die Ohren klingen: Ja, Kunst und kulturelle Veranstaltungen sind unverzichtbar für unsere Gesellschaft. Sie sind unverzichtbar für Deutschland. Wir alle wollen auch nach der Pandemie ins Konzert, ins Theater, in den Klub, auf Messen und auf die Volksfeste gehen. Das wird aber nur möglich sein, wenn Sie jetzt sehr schnell handeln und die Künstlerinnen und Künstler und all diejenigen, die ihre Arbeit ermöglichen – die Bühnen- und Tontechniker, die Roadies und viele mehr –, zielgenau unterstützen, um sie durch die Pandemie zu bringen. ({5}) Meine Damen und Herren der Koalition, wir haben Ihnen mit dem vorliegenden Antrag eine Setlist geschrieben. Jetzt packen Sie die Klampfe aus, und spielen Sie unsere Setlist nach! Dann wird das vielleicht doch noch etwas mit dem Neustart Kultur. Das Zeitfenster, um die Soloselbstständigen und die Veranstaltungsbranche zu retten, schließt sich nämlich sehr schnell. Lassen Sie Taten sprechen, und stimmen Sie unserem Antrag zu. Ich danke Ihnen. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Erhard Grundl. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Einigkeit in der Sache will ich auf den Vorredner durchaus eingehen. Ich finde es schon bemerkenswert, dass Ihnen vollkommen entgangen ist, dass Sie und Ihre Fraktion unter der Regierung Schröder selber daran beteiligt waren. ({0}) Ehrlich gesagt, möchte ich Ihre wohlfeilen Worte noch um Folgendes ergänzen: Als die Veranstaltungsbranche am 1. Juli dieses Jahres das erste Mal eine Großdemonstration hier in Berlin durchgeführt hat, war leider nur die CDU/CSU-Fraktion vertreten. Das hat sich mittlerweile bei Ihnen geändert. ({1}) – Sie waren eben nicht vertreten. Ich habe es mir vor Ort selber angeschaut, weil ich da war. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt ist überwiegend Herr Müller dran.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei Ihnen habe ich weder das eine noch das andere festgestellt, aber wie auch immer. Meine Damen und Herren, die Veranstaltungsbranche ist bedeutend. Rund 1,5 Millionen Beschäftigte, 130 Milliarden Euro Umsatz sprechen eine deutliche Sprache. Sie ist sehr heterogen, von vielen Soloselbstständigen bis hin zu international tätigen Champions, die weltweit Großveranstaltungen professionell ausrichten. Es ist die Branche, die sozusagen als Erste vom Netz ging und bei der im Moment überhaupt nicht absehbar ist, wann der normale Geschäftsbetrieb wieder aufgenommen werden kann. Viele Unternehmen haben Umsatzrückgänge von 75, 80, fast 100 Prozent erlitten. Es ist tatsächlich so, wie das Motto der Veranstaltung lautete: Es ist nicht fünf vor zwölf für diese Branche, sondern fünf nach zwölf. ({0}) Nach den beschlossenen Maßnahmen dieser Woche haben sowohl das Bundesfinanzministerium als auch das Bundeswirtschaftsministerium erklärt, dass unmittelbar weitere Unterstützungen folgen müssen, und haben das auch eingeleitet. Es sollen 75 Prozent des Umsatzes aus dem Referenzmonat November 2019 als einmalige Kostenpauschale in diesem Jahr erstattet werden. Meine Damen und Herren, ich sage ganz deutlich als jemand, der einer Fraktion angehört, der diese Bundesregierung mit Überzeugung stützt: Das ist leider nicht genug. Es muss mehr gehen, und es muss schneller gehen. ({1}) Die außerordentlichen Hilfen, die wir zusätzlich brauchen, erklären sich ziemlich von selbst. Wir schauen auf die Schausteller. Die Schausteller sind jetzt konfrontiert mit einem Lockdown, mit einer Verunmöglichung ihres Geschäftes im November. Viele Weihnachtsmärkte sind abgesagt. Es gehört nicht viel dazu, zu erkennen, dass nicht von einem Tag auf den anderen, nämlich nicht vom 30. November auf den 1. Dezember, entsprechende Einrichtungen aus dem Boden gestampft werden können. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass auch in diesem Jahr in der Schaustellerbranche dramatische Umsatzverluste und damit auch Arbeitsplatzverluste zu verzeichnen sind. Diesen Umsatzverlusten müssen wir entgegentreten. Es gab, wie gesagt, erste schnelle Maßnahmen. Aber wir müssen uns auch über das Thema „Brückengeld für Unternehmerinnen und Unternehmer sowie für Soloselbstständige“ unterhalten. An die Regierung gerichtet: Ich erwarte, ehrlich gesagt, ganz kurzfristig zusätzliche Maßnahmen. ({2}) Wir haben in den letzten Wochen viele Gespräche mit den Vertreterinnen und Vertretern der Veranstaltungsbranche geführt. Wir haben festgestellt, dass diese brennen, wieder tätig zu werden, aber eben auch annehmen, dass sie im Moment infolge der pandemischen Entwicklung nicht tätig werden können. Meine Damen und Herren, wir müssen bei den Hilfen, die wir bisher ins Werk gesetzt haben, dringend nachbessern. Ich will einige konkrete Vorschläge machen: Wir müssen über die monatliche Deckelung der Fixkostenzuschüsse nachdenken. Mit 50 000 Euro pro Monat ist einem Unternehmen, das 500 Beschäftigte hat – das sind internationale Champions –, tatsächlich nicht geholfen. Wir müssen aber vor allen Dingen auch darüber nachdenken, wie wir den Fixkostenbegriff praxisgerecht handhaben. Es kann nicht sein, dass Vorhaltekosten nicht erstattet werden, dass diejenigen, die solide finanziert waren, mit ihren Abschreibungen in die Röhre gucken und deswegen in allernächster Zeit in die Insolvenz gehen. Das dürfen wir nicht zulassen. Dafür ist diese Branche viel zu wichtig. ({3}) Meine Damen und Herren, wir können – das will ich zum Abschluss sagen; ich schaue Thomas Bareiß an – nicht bis zum Januar nächsten Jahres warten. Die bevorstehenden zwei Monate sind nicht nur für die Schausteller, sondern für die Branche im Allgemeinen die entscheidenden Monate, in denen die Umsätze – weit in das nächste Jahr hinein – generiert werden. Es ist mittlerweile so, dass viele Unternehmen seit acht Monaten praktisch keinen einzigen Euro Umsatz haben machen können, keinen einzigen Euro zurücklegen konnten. Deswegen muss jetzt schnell gehandelt werden. Ich habe die Erwartung, dass die Bundesregierung noch in den ersten zwei Wochen des Novembers hier nachlegt und konkrete Vorschläge macht, wie sie dieser schwer geschlagenen Branche helfen will. Meine Damen und Herren, insofern – bei aller Kritik an Ihren Einführungsworten – eint uns diese Auffassung weitgehend. Ich bitte Sie um Unterstützung und bin zuversichtlich, dass sich die Bundesregierung dieses Themas annehmen wird. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Carsten Müller. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Tino Chrupalla. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Landsleute! Werte Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern ist klar: Gastwirte, Hoteliers, Künstler und Veranstalter müssen schwere und schwerste Opfer für die Coronapolitik dieser Bundesregierung bringen. Sie schwanken zwischen Wut und Verzweiflung. Und das kann ich als Mittelständler nur zu gut verstehen, meine Damen und Herren. Vielen steht das Wasser seit dem Lockdown im Frühling sprichwörtlich bis zum Hals. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband warnt nicht ohne Grund vor Zehntausenden Pleiten. Viele Wirte, Veranstalter, Musiker und Schauspieler haben ihre Sparkonten geplündert, um über die Runden zu kommen. Und jetzt zieht ihnen die Bundesregierung noch einmal den Boden unter den Füßen weg. Herr Müller, Sie haben in der Tat dazu beigetragen. Meine Damen und Herren, vielleicht haben einige von Ihnen vorgestern die Protestrede des Jazztrompeters Till Brönner hier draußen vor dem Reichstag gehört. ({0}) Er hat Klartext gesprochen. Bei vielen Künstlern, Veranstaltern und Schaustellern, für die wir hier auch einen Antrag eingebracht haben, ist die versprochene Hilfe bis heute nämlich nicht angekommen. Sie scheitert an bürokratischen Hürden. ({1}) Bei den Gastwirten ist es im Übrigen genauso. Und vergessen Sie bitte die vielen Vereine nicht, zum Beispiel den ehrenamtlich organisierten Breitensport für Jung und Alt. Alle tragen tagtäglich zur Gesundheit bei. Und den kleinen Vereinen, die wenig oder keine Zuschauer haben, verbieten Sie sogar noch den Sport. Aber die Bundesliga läuft. Was für ein Irrsinn! ({2}) In allen genannten Bereichen, den Gaststätten, den Veranstaltungen, in Theatern, Kinos und Konzertsälen, sind die Hygieneregeln unter Einsatz beträchtlicher finanzieller Mittel eingeführt, ihre Einhaltung kontrolliert und auch umgesetzt worden. Restaurants haben die Daten ihrer Besucher erfasst, obwohl viele Gastwirte zu Recht Bauchschmerzen wegen des Datenschutzes hatten. Heute sagen Virologen nahezu übereinstimmend, dass das Ansteckungsrisiko im privaten Bereich ungleich größer ist als das in einem Restaurant oder bei einer Veranstaltung. Und dennoch wollen Sie, werte Mitglieder der Bundesregierung, diese Branche wieder für vier Wochen ins Koma versetzen, noch dazu ohne jede demokratische Legitimation. ({3}) Es wäre nämlich Aufgabe des Bundestages und der Länderparlamente, über mögliche Maßnahmen zu entscheiden. Aber das schert Sie nicht. Skrupellos gefährden Sie mit Ihrer Coronapolitik die Grundfesten unserer Demokratie. Bundesregierung und Länderchefs bilden eine Art Zentralkomitee, das eine Notverordnung nach der anderen erlässt. Frau Merkel mag das vielleicht so gelernt haben. Vielleicht will sie ja auch zurück zu solchen DDR-Verhältnissen, wer weiß. Aber wir wollen das nicht. Wir verteidigen die parlamentarische Demokratie und die im Grundgesetz festgeschriebenen Freiheiten. Und wir treten ein für eine Politik der Verhältnismäßigkeit. ({4}) Dazu gehört die Einsicht, dass wir nicht jedes Risiko im Leben ausschalten können. Das heißt, wir müssen lernen, mit dem Coronarisiko zu leben. Wir müssen alle vernünftigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor einer Ansteckung umsetzen. ({5}) Das kann aber nicht bedeuten, dass wir immer wieder ganze Teile der Wirtschaft ins Koma versetzen und auf diese Weise Unternehmen in den Bankrott treiben und Zigtausenden Menschen die Existenz nehmen. ({6}) Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, eine konkurrenzfähige und produktive Wirtschaft – dazu zählen Gastronomie, Hotellerie, Veranstaltungsgewerbe und Kultur – ist die Voraussetzung für ein hochqualifiziertes und daher teures Gesundheitssystem. Wer also die Wirtschaft beschädigt, erhöht langfristig die gesundheitlichen Risiken der Menschen erheblich. Wir, die AfD, bieten Ihnen an: Lassen Sie uns in Zukunft wieder zur gemeinsamen parlamentarischen Arbeit und zu einer Politik der Verhältnismäßigkeit zurückkehren, einer Politik, die die Grundlagen unserer Wirtschaft und Kultur erhält und so die Voraussetzungen für einen optimalen Gesundheitsschutz gewährleistet. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tino Chrupalla. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Falko Mohrs. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will eigentlich gar nicht viel auf meinen Vorredner eingehen, aber, Herr Chrupalla, vielleicht nehmen Sie einfach mal zur Kenntnis: Wozu es führt, wenn Populisten an der Macht sind und die Verantwortung in der Coronakrise tragen, können Sie an den Riesenzahlen an Toten und an Kranken sowie an der Überlastung des Gesundheitssystems sowohl in den USA als auch in Brasilien erkennen. Ich bin froh, dass Menschen wie Sie hier keine Verantwortung haben, und ich sage: Wir werden alles tun, dass das auch so bleibt. ({0}) Ja, es sind schwere Monate für das gesamte Land und, ich glaube, auch für uns alle ganz persönlich. Wir alle haben in den letzten Monaten Opfer bringen müssen, ({1}) manche ganz persönlich durch sehr schlimme Erlebnisse – wir haben das auch vorgestern in einer anderen Debatte schon mal gehört – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sekunde, bitte! – Würden Sie bitte Ihre Maske aufsetzen, wenn Sie den Raum verlassen oder telefonieren? Sagen Sie bitte Ihrem Kollegen – wir haben eine Vereinbarung –, dass er das tut. – Alles klar! – Herr Mohrs, Sie sind wieder dran.

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Chrupalla, ich erzähle Ihnen eine ganz kurze Geschichte: ({0}) Es gibt in meinem Wahlkreis in Wolfsburg das Hanns-Lilje-Heim, ein Pflegeheim, das leider das zweite Heim in Deutschland war, in dem Corona ausgebrochen ist – auf einer Demenzstation im März –, mit dem Ergebnis, dass über 40 alte Menschen gestorben sind, in völliger Isolation. Sie konnten nicht mit ihren Angehörigen zusammen sein und sich verabschieden. Die Pflegekräfte haben am Limit gearbeitet. Ich war danach mehrfach dort und habe mich mit Pflegekräften im Hanns-Lilje-Heim unterhalten. Wissen Sie, welche Geschichte mich am meisten bewegt hat? Die Geschichte von zwei Menschen, die beide dort gearbeitet haben. Beide haben – vielleicht zu ihrem Leidwesen – einen Migrationshintergrund. Sie ist als Asthmatikerin in der Risikogruppe für Corona. Beide haben gesagt, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen und die alten Menschen in diesem Heim nicht alleine lassen wollen, und sie haben über Monate in einer gemeinsamen Wohnung getrennt voneinander ihren Alltag und ihr gesamtes Leben aufgebaut, weil beide gesagt haben, sie werden ihre Kolleginnen und Kollegen und die alten Menschen in diesem Pflegeheim nicht im Stich lassen. Er hat übrigens selber Corona bekommen und sagt trotzdem, er würde diese Entscheidung, dort weiterzuarbeiten, immer wieder treffen. Herr Chrupalla, was Sie mit Ihren ekelhaften Zwischenrufen – das muss ich mal in aller Deutlichkeit sagen – hier abziehen, ({1}) ist einfach nur zynisch für diese Menschen, die wirklich ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um sich hier für kranke und alte Menschen einzusetzen und Verantwortung zu übernehmen. Die übernehmen Verantwortung. Das, was Sie machen, ist zynisch und ekelhaft. ({2}) Wir alle haben in den letzten Monaten genau diese schweren Phasen durchlebt, und – jetzt komme ich aber wirklich zu dem Antrag und zu den Themen zurück – ({3}) auch die Veranstaltungsbranche und die Schauspielerinnen und Schauspieler erleben ganz besonders harte wirtschaftliche Zeiten. Sie waren die Ersten, die ihren Geschäftsmodellen und ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten, und sie werden vermutlich mit die Letzten sein, die wieder zurück an die Arbeit gehen können, die sie lieben. Besonders – ich finde, das muss gesagt werden, und das ist schon mehrfach gesagt worden – betrifft das eben die Soloselbstständigen. Wir haben in den letzten Monaten viele Hilfsprogramme in immenser Größenordnung aufgelegt, die gut für die Wirtschaft waren. Viele Soloselbstständige – zum Beispiel viele Schauspielerinnen und Schauspieler – haben aber keine großen Betriebskosten und konnten von den Hilfsprogrammen nicht in dem Maße profitieren, wie es notwendig ist. Herr Bareiß – Entschuldigung, jetzt ist er weg, aber wir sagen es ihm noch mal –, ich glaube, hier haben wir wirklich eine Lücke, die wir füllen müssen, indem wir gerade für die Menschen, die wegen ihrer geringen Betriebskosten hiervon nicht profitieren konnten, nachlegen. Wir können das über unterschiedliche Wege tun. Wir können das zum Beispiel über eine Betriebskostenpauschale machen, die gerade für Soloselbstständige die Situation verbessert, oder über andere Modelle. Wir müssen das aber in der Tat sehr schnell machen. In einem schließe ich mich Carsten Müller ausdrücklich an: Neben der Novemberhilfe, die gestern beschlossen wurde, muss die Überbrückungshilfe III nach aller Möglichkeit zum 1. Dezember dieses Jahres wirklich auf dem Tisch liegen, um beantragt werden zu können. ({4}) Es ist notwendig, dass hier alle das Tempo an den Tag legen, das wir brauchen. Neben den notwendigen weiteren Schließungsmaßnahmen haben wir vorgestern auch beschlossen, dass wir für die besonders betroffenen Branchen – Gastronomie, Veranstaltungen, Messen, Theater, Kinos – ein Sonderprogramm für den November auflegen. Bei einer Unternehmensgröße von bis zu 50 Mitarbeitern können sie pauschaliert bis zu 75 Prozent des Umsatzes aus dem letzten November zugrunde legen und ersetzt bekommen. ({5}) Eben wurde dazwischengerufen: Na ja, was ist denn eigentlich, wenn der letzte November total schlecht war? – Deswegen wird es für die Soloselbstständigen die Wahlmöglichkeit geben – das wurde heute sehr deutlich klargestellt –, ob sie den November 2019 oder den Durchschnitt des gesamten Jahres 2019 zugrunde legen möchten. Ich glaube, das ist eine gute Maßnahme, mit der wir der besonderen Situation der Soloselbstständigen Rechnung tragen. ({6}) Das Ganze muss dann längerfristig – ich habe das gesagt – durch die Überbrückungshilfe III ergänzt werden. Dabei wird es um die Berücksichtigung von Abschreibungen und steuerliche Vorteile gehen. Ich glaube, das sind genau die Maßnahmen, die wir jetzt für alle die, die besonders lange betroffen sind, ganz branchenspezifisch – also nicht mehr in der ganzen Breite – auflegen müssen. Auch jetzt schon, bei den Novemberhilfen, müssen zum Beispiel die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihrer ganz besonderen Situation als unständig Beschäftigte berücksichtigt werden. Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Monaten wirtschaftlich eine ganze Menge richtig gemacht; davon bin ich fest überzeugt. Wir werden aber auch nachbessern, weil wir sehen, dass das nicht überall so wirkt, wie wir es brauchen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Falko Mohrs. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Reinhard Houben. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich war natürlich schon gespannt darauf, wie Union und SPD heute hier auf die verschiedenen Anträge der Oppositionsfraktionen eingehen. Große Klasse! Herr Müller, Sie fordern jetzt vehement – ähnlich wie Herr Mohrs –, dass wir jetzt im November unheimlich dringend und unheimlich schnell was machen müssen. Glauben Sie denn im Ernst, die Leute nehmen Ihnen das noch ab? Die Opposition – vor allen Dingen FDP und Grüne – hat seit ungefähr acht Monaten auf die entsprechenden Probleme hingewiesen. ({0}) In den Gesprächen mit der Union ist immer gesagt worden: Ja, dass da nichts passiert, ist die böse SPD schuld, weil sie das mit dem Unternehmerlohn nicht zulässt. – Und die SPD hat gesagt: Die Union will sich gar nicht bewegen. – Jetzt stellen Sie sich hier dreist hin und sagen: Aber im November muss es geschehen, und wir laden die Opposition ein, da mitzumachen und mitzuhelfen. – Das ist wirklich ein ziemlich starkes Stück, meine Herren. ({1}) Über die finanziellen Dinge hat der Kollege Grundl genug gesagt. Deswegen will ich in den wenigen Minuten Redezeit nicht darauf eingehen. Es geht doch darum, dass die Menschen in diesem Bereich einfach ihr Leben leben wollen. Wir arbeiten doch nicht für Geld allein, und für Künstlerinnen und Künstler und Schauspielerinnen und Schauspieler gilt das doch im Besonderen. Das ist eher Berufung und zum Teil auch Selbstausbeutung, was diese Damen und Herren da betreiben. Dann, finde ich, ist die Empathie, die dieser Gruppe hier entgegenkommt, eindeutig zu gering. Viele Aufführungen sind in der Zwischenzeit gelaufen, und die Veranstalter wussten angesichts der Vorschriften, die sie dabei einzuhalten hatten: Nein, wir machen kein Geschäft mit dieser Aufführung hier, weil viel zu wenige Leute überhaupt in den Saal, in die Veranstaltungsstätte hineinkommen können. – Sie haben es gemacht, weil ihnen ihr Thema und ihr Beruf am Herzen liegen. Und was ist die Antwort? Alles sehr widersprüchlich! Während einer Veranstaltung des Bündnisses #AlarmstufeRot angesichts der Folgen von Corona für die Veranstaltungswirtschaft musste der Kollege Bareiß für die Bundesregierung Prügel einstecken. Das gehört irgendwie zur Beschreibung seines Berufes – alles in Ordnung. Gleichzeitig wird dann aber im Kabinett etwas für vier Wochen im November beschlossen, ohne dass man irgendwie darüber nachdenkt: Wie geht es denn im Dezember weiter? ({2}) Machen wir jetzt in einer Art Salamitaktik alle vier Wochen den Laden dicht? Müssen wir uns vielleicht als Gesellschaft einmal darauf einstellen, dass wir uns mit diesem Virus noch viel länger arrangieren müssen, dass wir unser Leben anders arrangieren müssen und andere Rahmenbedingungen schaffen müssen als nur „digital“ und „entweder alles auf oder alles zu“? Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Reinhard Houben. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Simone Barrientos. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben dem Antrag der Grünen, zu dem ich gleich kommen werde, unseren Antrag „Strikte Zweckbindung für Corona-Gästelisten“ beigelegt, weil es ein Skandal ist, dass es bisher keine bundesweit einheitliche Regelung für die Anwesenheitsdokumentation gibt – keinen Datenschutz, keine Rechtssicherheit. Das brauchen wir aber. Deshalb: Stimmen Sie zu. ({0}) Zum Antrag der Grünen zur Veranstaltungswirtschaft in der Coronakrise. Um das unsägliche Bild vom Kollegen Scholz zu bemühen: Ihrer Bazooka fehlte offenbar das Zielfernrohr. Eine ganze Branche ruft unter dem Motto „Alarmstufe Rot“ verzweifelt um Hilfe. ({1}) – Hat mir gerade jemand erzählt, dass da kein Zielfernrohr draufgehört? Sie kennen sich mit Waffen aus, oder was? ({2}) Gebetsmühlenartig fordert Die Linke seit Beginn der Pandemie Lösungen, die der Wirklichkeit der Branche gerecht werden. Es ist doch überhaupt nicht einzusehen, dass zum Beispiel Reisebüros Hilfe bekommen, Künstler und Konzertagenturen aber nicht. ({3}) Betroffen von den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sind Soloselbstständige genauso wie kleine und mittlere Unternehmen, aber auch große Firmen, die zum Beispiel Messen ermöglichen. Und: Die Veranstaltungsbranche ist nicht von der Kultur- und Kreativwirtschaft zu trennen. Das Programm „Neustart Kultur“ wird gerade zum Rohrkrepierer. Dass die Wirtschaftshilfen entweder nicht reichen oder gar nicht greifen, hat inzwischen offenbar sogar Herr Altmaier begriffen. Dass die sogenannte vereinfachte Grundsicherung nicht taugt, möchte ich hier noch einmal betonen. Sie ist weder einfach noch sichernd. Das ist vielfach belegt. Wir alle kennen die emotionalen Hilferufe der Betroffenen. Der Markt für gebrauchte Musikinstrumente und Veranstaltungstechnik ist mittlerweile überschwemmt. Die Leute versilbern ihre Lebensgrundlage, um überleben zu können. Das kann doch nicht wahr sein. Wie hieß es im April? Niemand wird vergessen werden. – Und so viele wurden doch vergessen. Die Veranstaltungsbranche hat geliefert. Es liegen gute Hygienekonzepte auf dem Tisch. Trotzdem müssen Theater und Kinos schließen. Aber Shoppingmalls dürfen offen bleiben. Die Menschen dürfen am Fließband stehen, aber nicht mit Abstand im Kino sitzen. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Das spricht doch Bände. Wie wäre es denn mit Konsumverzicht statt verordnetem Kulturverzicht? Aber genau hier zeigt sich die so gern bemühte Systemrelevanz: Systemrelevant ist demnach, was schnellen Profit bringt. Die Veranstaltungsbranche, die auch ein Wirtschaftsfaktor ist, ist aber vor allen Dingen demokratierelevant. Wir brauchen auch in Zukunft Buchmessen genauso wie Mittelaltermärkte, Theater genauso wie Kongresse. Diese Branche ist in einem Ausmaß miteinander verzahnt, dass alles, was wegbricht, ganz viel mit sich reißt. Und ganz ehrlich: Die Leute sind so verzweifelt – ich könnte verstehen, wenn sie ihre Theater offen lassen und zivilen Widerstand leisten. Ich weiß nicht, ob ich es richtig fände; aber ich könnte es verstehen. Die Frage ist doch nicht nur, wie wir jetzt durch die Krise kommen. Die Frage ist doch auch: In was für einer Gesellschaft leben wir danach? In einer ohne Kultur? Da wird mir angst und bange. Auch deshalb noch einmal hier: Wir brauchen Kultur als Staatsziel im Grundgesetz, und wir müssen darüber reden, was wir uns leisten können und was nicht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich sage Ihnen: Wir können uns den Zusammenbruch dieser Branche nicht leisten. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Simone Barrientos. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Axel Knoerig für die SPD. – Ach, Entschuldigung! Ich fange noch einmal an. Der letzte Redner in dieser Debatte: Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, Irren ist menschlich. Sie haben das gerade richtig korrigiert. Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Schnelle Hilfen für Konzerne – und was wird aus dem Mittelstand?“ Solche Sätze haben mich in den letzten Monaten erreicht. Man muss letztendlich sagen: Das fragen sich einige in unserem Land. – Wir dürfen den Eindruck, dass der Mittelstand nicht ausreichend unterstützt wird, nicht stehen und auch nicht entstehen lassen. Wir müssen hinterfragen, warum es diesen Eindruck gibt. Lassen Sie mich bitte einige Punkte aufführen. 9 Milliarden Euro für die Lufthansa – dieses Hilfspaket wurde in wenigen Wochen geschnürt, damit das Unternehmen die Coronakrise überbrücken konnte. Auch große Konzerne wie Adidas bekamen sehr schnell Zusagen für Milliardenkredite. Auch wurde sehr zügig und schnell die Kurzarbeit im Kabinett beschlossen. Doch bei den Hilfen für den Mittelstand hakt es etwas – etwas mehr sogar. Viele Freiberufler und Soloselbstständige fallen durch das Raster der Förderbedingungen. Beispiel Überbrückungshilfen. Hier gibt es Zuschüsse zu betrieblichen Fixkosten; Kollege Müller hat es vorhin gesagt. Die hat ein Discjockey, der auf Veranstaltungen arbeitet, aber nicht. ({0}) Beispiel Kredite. Hier haben wir mit den Schnellkrediten nachgebessert und eine 100-prozentige Garantie durch den Bund ermöglicht. Zuvor haben viele Hausbanken Anträge von Mittelständlern abgelehnt. Das haben wir verbessert. Beispiel Ausbildungsprämie. Wenn ein Betrieb in die Krise gerät, kann ein anderer Betrieb die Auszubildenden aufnehmen und erhält eine Prämie. Das geht oft nur, wenn tatsächlich offiziell eine Insolvenz angemeldet und vollzogen wird. Hier müssen wir nachbessern. ({1}) Schon wenn ein Betrieb in wirtschaftlicher Not ist, muss diese Regelung greifen. Das ist im Sinne der jungen Menschen. ({2}) Meine Damen und Herren, die Coronapandemie hat uns vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Und wenn man Deutschland im internationalen Vergleich sieht, dann erkennt man, dass wir die Krise ganz gut gemeistert haben. Sofortmaßnahmen sind halt nicht immer auch sofort perfekt. Sie müssen fortlaufend optimiert werden. Deshalb haben wir ständig im Austausch mit der Wirtschaft und den Unternehmern die Anliegen der heimischen Unternehmen aufgegriffen und fortlaufend die Maßnahmen verbessert. Bei den Überbrückungshilfen werden die Konditionen für die Kultur- und Veranstaltungsbranche und die Soloselbstständigen in den nächsten Tagen verbessert. Bundesminister Altmaier hat bei der Regierungsbefragung am Mittwoch dieser Woche ganz klar gesagt: In den nächsten 8 bis 14 Tagen wird das konkretisiert. – Wir schauen auch nach Niedersachsen. Dort gibt es den Wirtschaftsminister Althusmann, und der hat einen Hilfsfonds für Veranstalter und Schausteller eingerichtet. Was den neuen Lockdown ab Montag betrifft, wollen wir den Umsatzausfall entsprechend ausgleichen. Es wird eine Erstattung von bis zu 75 Prozent des Umsatzes im Vorjahr erfolgen, und das bei bis zu 50 Mitarbeitern. Da müssen wir ganz klar festhalten, dass der Monat November für die Schausteller ein umsatzschwacher Monat ist. ({3}) Deshalb war der Vorschlag – der Kollege Mohrs hat vorhin das Gleiche formuliert –, dass es besser ist, den Jahresdurchschnitt als Grundlage zu nehmen. ({4}) Auch für Kleinunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten gilt jetzt: Sie können die KfW-Schnellkredite nutzen. Bei aller Kritik am neuen Lockdown muss man ganz klar sagen: Es geht angesichts der Infektionszahlen nicht anders. Wir müssen da jetzt durch, und zwar gemeinsam. Es gilt letztendlich, soziale Kontakte zu reduzieren, und das in allen Bereichen. Aber ich sage auch ganz klar: Lockdown und Hilfen gehören zusammen. Wenn man ein Unternehmen oder eine Branche vom Markt nimmt, muss man für finanzielle Entschädigung sorgen, und das angemessen und vor allem auch zeitnah. Deswegen brauchen wir jetzt schnelle Hilfen für die Branchen, die es in der Krise am härtesten getroffen hat: ({5}) für die Gaststätten, die seit acht Monaten hohe Einbußen haben. Zitat eines Betreibers einer Landgaststätte in meinem Wahlkreis Diepholz – Nienburg I: Es sieht düster aus. – Das sagen mir auch die Schausteller, die seit der Winterpause des letzten Jahres keine Einnahmen mehr haben. Auch die Veranstaltungsbranche hat nur kurzfristige Perspektiven. Deswegen ist im Grunde genommen der Begriff „Unternehmerlohn“ als solcher falsch. Das passt nicht hier hinein. Es geht um die finanzielle Überbrückung einer Krise. Elisabeth, das hast du im März dieses Jahres schon herausgestellt; auch Sie, Herr Houben. Das sollten wir auch anerkennen. ({6}) Wir können nach Baden-Württemberg schauen. Da können die Soloselbstständigen auch Kosten für den privaten Lebensunterhalt geltend machen und bekommen das gestundet: 1 180 Euro monatlich. Das ist doch ein gutes Vorbild. Wir haben hier und da sicherlich auch bei der Grundsicherung durch Hartz IV über die Jobcenter für die Unternehmer und Soloselbstständigen eine Öffnung herbeigeführt. Aber das passt doch nicht zu einem freien Unternehmertum. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier zu besseren Lösungen kommen. ({7}) Meine Damen und Herren, unsere Gaststätten und unsere Kulturbetriebe sind gerade bei uns im ländlichen Raum ein ganz wichtiger Teil unseres Lebens. Deshalb müssen wir auch in 2021 weiter Unterstützung leisten. Wir sollten hier erwägen, die Senkung der Umsatzsteuer und die Steuerstundung zu verlängern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Lehrer wird enthauptet, weil er die Meinungsfreiheit lehrt. Frankreich ist schockiert, Macron will handeln. Aber wie der neue Anschlag in Nizza auf in einer Kirche betende Christen zeigt: Er kommt zu spät, die Terroristen sind längst im Land. Dieser Mörder kam als illegaler Flüchtling in Italien an. Unter Salvini würden die Opfer noch leben. Zulassen illegaler Migration tötet. ({0}) Und doch handelt Frankreich jetzt endlich. Es gibt Razzien gegen Islamisten, Abschiebungen von Gefährdern, Schließung radikaler Moscheen. Man erkennt, dass man viel zu lang weggeschaut hat, wie Parallelgesellschaften abdriften, wie Fundamentalisten ganze Viertel übernehmen. Laut einer Studie sehen 75 Prozent der europäischen Muslime den Koran als „wörtlich zu nehmen“ an. Macron will jetzt Tausende von Soldaten im Land aufziehen lassen, vor Kirchen und Schulen – ein warnendes Beispiel. Lassen wir es nicht so weit kommen! ({1}) Und was macht Deutschland? Die Beileidschreiben der Regierung wissen nichts vom islamistischen Charakter der Taten. Mit solcher Beschwichtigung geht Deutschland genau den Irrweg, den Frankreich nun endlich beendet hat. Wir wollen hierzulande nicht noch weitere Anschläge, sondern Anschläge durch Abschiebungen verhindern. Man kann doch nicht, um Gefährder zu schützen, die eigene Bevölkerung einer tödlichen Gefahr aussetzen. ({2}) Nach Frankreich hat Deutschland die meisten Muslime in Europa. Zu sehen, was jetzt in Frankreich passiert, ist wie der Blick durch ein Zeitfenster in die nahe Zukunft Deutschlands. Wir sind auch in Deutschland durch die Migrationspolitik und die Ghettos in Duisburg, Köln, Berlin längst auf dem Weg in französische Verhältnisse. Ganz gewiss brauchen wir keine weitere Migration in Hunderttausenderstärke aus islamischen Ländern. Was es braucht, ist eine Ertüchtigung in Gesetzen, den Willen, Gefährder in Haft zu nehmen und abzuschieben, und vor allem, die Dinge einmal beim Namen zu nennen. ({3}) Gesetze und Strafregelungen verhindern nicht Taten, sondern entscheidend bleibt, mit welcher Prägung die Menschen hier ankommen und leben wollen. Warum sollten sie die aufgeben, wenn die Aufnahmegesellschaft keinen eigenen Bezugsrahmen haben will und nicht für ihre Eigenheit stehen will? Sie spüren die Feigheit, die Selbstverleumdung, das Identitätsvakuum. Der Islamismus wird nicht nur mit Gesetzen bekämpft; es ist ein Kampf um die Zivilisation. Wer diese Dimension nicht sieht, der hat schon verloren. ({4}) Eine Therme in Duisburg etwa wollte Frauen untersagen, knappe Bikinis zu tragen: Freizügigkeit werde nicht von allen toleriert. So geht es los. Es geht nicht nur um die Terrortaten, sondern auch um ihr ermöglichendes Umfeld. War der Vater der Schülerin, der den Rufmord und die Fatwa ins Rollen brachte, ein Gefährder? Waren die Schüler, die der Mörder vor der Schule nach dem Lehrer befragte, Islamisten? Aber die Fatwa wurde betrieben, aber sie lieferten ihn ans Messer. Sie waren geistig nie hier angekommen. Leugnen wir es doch nicht! ({5}) Auch an deutschen Schulen bahnt sich eine Katastrophe an. Der Deutsche Lehrerverband spricht von einem „Klima der Einschüchterung“ durch muslimische Schüler und Eltern. Lehrerinnen klagen über muslimische Schüler, die sich gegenüber Frauen als Machos aufspielen. Sie kennen ihren Koran: Züchtigungsgebot gegen die Ehefrau. 50 Lehrer berichten laut der „Welt“ von muslimischen Schülern, die Lehrern offen drohen und sie beleidigen. Eine Lehrerin wird geohrfeigt, ungläubige Schüler verprügelt. Was wir dann hier nicht brauchen, sind Kopftuchlehrerinnen, die die nächste Generation Gefährder geistig einweisen. ({6}) Das Kopftuch ist mitnichten ein Symbol des religiösen Islam, sondern des aggressiven, frauenverachtenden Islamismus. Paty starb, weil er seinen Schülern vermitteln wollte, was es heißt, frei zu sein. Aber Lehrer zu sein, ist in Zeiten der islamischen Masseneinwanderung zu einem Hochrisikoberuf geworden. Das wollen wir hier nicht! ({7}) In Deutschland laufen viele Hunderte islamistische Gefährder herum. Auch der Messermord in Dresden war so eine Tat: Ein Pseudoflüchtling, er propagierte den Kampf gegen Ungläubige. So jemand wird in Deutschland weder abgeschoben noch vollzeitüberwacht. Das Ergebnis nach fünf Tagen Freiheit: ein Toter, ein Schwerverletzter. Diese Regierung verhindert Rückführungen nach Syrien oder in Drittstaaten. Es braucht endlich Abkommen mit den Herkunftsländern, dass sie ihre Bürger zurücknehmen. Syrien hat genug befriedete Gebiete. Islamisten und Gefährder gehören ausgewiesen. Die Menschen verstehen nicht, warum das nicht geschieht. Ergreifen Sie endlich die nötigen Maßnahmen! Beim Lockdown sind Sie ja auch nicht gerade zimperlich. ({8}) Wenn aufgeklärte Moslems wie Rushdie, Seyran Ates , Hamed Abdel-Samad nur noch unter Polizeischutz leben können, heißt das, dass zu viele Muslime geistig nicht in der Moderne leben. Dann können diese auch nicht hier mit uns zusammenleben. Macron verteidigt die Freiheit, er ist ein Sohn Voltaires. Merkel aber ist keine Tochter Kants, sie ist die Tochter Honeckers. ({9}) Wir müssen Lehren aus den Attentaten ziehen, müssen die Wertevermittlung sichern, und – Frankreich macht es vor – wir müssen endlich dem Islamismus den Kampf ansagen und handeln, bevor es auch hier zu spät ist. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Throm. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir jetzt hier wieder erlebt haben – das möchte ich vor die Klammer ziehen –, ist, dass die AfD und Sie, Herr Curio, versuchen, die schrecklichen Anschläge der letzten Wochen für Ihre politischen Zwecke zu missbrauchen. ({0}) Das ist verwerflich und wird der Sache in keinster Weise gerecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der islamistische Terror hat in den letzten Wochen mehrfach grausam zugeschlagen. Die Taten von Nizza, aber auch von Paris und von Dresden erfüllen uns mit Trauer, Abscheu und auch Wut. Wir trauern um die Opfer und fühlen mit den Hinterbliebenen, insbesondere mit der Kirchengemeinde, deren Gotteshaus gestern vom islamistischen Fanatismus angegriffen wurde. Wir stehen aber vor allem fest bei unseren französischen Freunden, die in den letzten Wochen besonders schwer vom Terror getroffen wurden. ({1}) Je mehr von außen, aus anderen Ländern, Öl ins Feuer gegossen wird und Menschen aufgehetzt werden, je mehr Frankreich angegriffen wird, desto mehr schließen sich unsere Reihen. Deutschland ist uneingeschränkt solidarisch mit der französischen Nation. ({2}) Das bedeutet: Unsere gemeinsamen Werte sind unverrückbar. Wir haben Religionsfreiheit für alle. Das bedeutet aber auch den Respekt und die Anerkennung der Religion des jeweils anderen. Wir haben Meinungs- und Pressefreiheit. Diese Grundrechte und Grundwerte gelten auch gegenüber Religionsgemeinschaften. Wir haben selbstverständlich die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. All dies und vieles mehr fordern wir von jedem und jederzeit ein, der hier in Deutschland und in Europa leben will. Das ist Grundlage unseres Lebens, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Aber wir müssen auch feststellen, dass es nicht immer einfach ist und dass der islamistische Terror wieder da ist. Er war im Grunde nie weg, die Gefahr ist nicht geringer geworden; das haben gerade die letzten Tage und Wochen gezeigt. Angesichts der Lage in der Welt, angesichts der zunehmenden Radikalisierung wird uns der Kampf gegen den islamistischen Terror noch lange Zeit, vielleicht sogar dauerhaft begleiten. Deswegen ist es wichtig, dass wir nach solchen Taten nicht in Aktionismus verfallen, sondern dauerhaft wachsam und konsequent bleiben: bei unseren Polizeien, unseren Sicherheitsbehörden, den Nachrichtendiensten, aber auch in den Ausländerbehörden und in den Schulen, überall, wo staatliches Handeln geschieht. Auch wir als Gesetzgeber sind permanent gefordert, in diesem Kampf um besseren Schutz unserer Bevölkerung nach immer besseren Lösungen zu suchen. Das machen wir in der CDU und CSU. Wir bohren da teilweise auch jahrelang dicke Bretter. Beispielsweise die Quellen-TKÜ ist ein solches dickes Brett, von dem wir hoffen, es in den nächsten Wochen durchgebohrt zu haben, sodass unsere Nachrichtendienste alle miteinander besser arbeiten können und auch die rechtlichen Grundlagen haben, um in der digitalen Welt auf der Höhe unserer Zeit zu sein. ({4}) Wir müssen auch darüber reden, wie wir mit Gefährdern wie dem Täter von Dresden umgehen und wie wir eine bessere Kontrolle über Gefährder bekommen. ({5}) Er war in einem Präventionsprogramm, er wurde observiert – leider beides erfolglos. Der Täter war abgelehnt, ausreisepflichtig, ({6}) aber wegen des Abschiebestopps nach Syrien war diese Abschiebung nicht umsetzbar. ({7}) – Liebe Kollegen, jetzt warten Sie doch mal ab, und hören Sie zu! – Deswegen erwarten wir vom Auswärtigen Amt eine vorbehaltlose Prüfung der Situation in Syrien, ({8}) eine Prüfung, ob es nicht möglich ist, zumindest auch für derartige Gefährder entsprechende Rückführungen, ({9}) Abschiebungen wieder durchzuführen. Denn wer in Deutschland Schutz sucht, aber selbst erklärtermaßen ein Feind dieses Landes und eine Gefahr für unsere Bevölkerung ist, der muss sich im Klaren sein, dass das Konsequenzen hat, die er auch selbst zu verantworten hat. ({10}) Deswegen müssen wir in diesen Bereichen, beim Schutz unserer Bevölkerung und dann auch bei der Abschiebung in die Heimatländer, konsequenter werden, gerade bei Gefährdern. ({11}) Ich denke, hierüber sollten wir alle miteinander, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Tagen und Wochen nochmals nachdenken. Herzlichen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Throm. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Aktuellen Stunde aus aktuellem Anlass wegen barbarischer Morde geht es heute zuerst um Trauer um die Opfer des islamistischen Terrors in Paris, Dresden und Nizza, um Mitgefühl mit ihren Angehörigen und um Solidarität mit der französischen Nation; das gilt es zuallererst zu betonen. ({0}) Und neben diesem aktuellen Anlass und einzelnen Taten geht es um einen größeren Zusammenhang. Mit den unvorstellbaren Gräueltaten des islamistischen Staates sieht sich die Welt einer massiven Bedrohung menschlicher Freiheits- und Kulturwerte gegenüber, die lange undenkbar schien. Die Werte unserer europäischen Aufklärung, die Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen, die Vorstellung von Kant „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – all das wird infrage gestellt. Und Deutschland ist davon stärker betroffen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch war es keine Selbstverständlichkeit, sondern eher überaus glücklichen Umständen geschuldet, dass unser Land bislang von islamistisch motivierten Terrorangriffen weniger stark und häufig heimgesucht worden ist als unsere Freunde und Verbündeten in Frankreich, in den USA, in England oder Spanien. Sehr geehrte Damen und Herren, hier zeichnet sich eine strukturelle Bedrohung für den Frieden in unserem Land ab, der wir entschlossen entgegentreten müssen, umso mehr als diese Bedrohung von außen und von innen kommt. Auch in Deutschland leben Menschen, die sich dem Konsens einer friedlichen, weltoffenen Gesellschaft verweigern und diese Offenheit sogar gezielt für ihre extremistischen Ziele missbrauchen. Wir sind schlecht vorbereitet auf die Bedrohung durch den Islamismus. ({1}) Wir Deutschen haben uns daran gewöhnt, unser Land als eine Insel der Friedfertigkeit zu betrachten, an der Kriege und Gewalt schon irgendwie vorbeiziehen werden, wenn wir selbst uns nur möglichst still verhalten. Das respektvolle Miteinander der Religionen in Deutschland und der unsere Gesellschaft bereichernde Beitrag von Millionen muslimischen Mitbürgern macht es umso schwerer, die akute Bedrohung für unsere eigene Sicherheit zu erfassen, die vom Islamismus ausgeht. Wir haben in Deutschland auch darauf verzichtet, eindeutige Regelungen für Zuwanderung und gesellschaftliche Integration zu formulieren. Die naive Vorstellung, dass alle Formen des Andersseins automatisch bereichernde Vielfalt bedeuten, wird von einer Realität eingeholt, in der Islamisten unsere pluralistische Vielfalt und Offenheit verächtlich mit Füßen treten. ({2}) Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes wollten die Bundesrepublik Deutschland zu einer wehrhaften Demokratie ausgestalten, und es wird Zeit, sich dessen zu erinnern. Zugleich müssen wir verhindern, dass Rechtsradikale und ihre Schlägerbanden die Bedrohung durch den Islamismus für ihre ausländerfeindlichen, undemokratischen Ziele missbrauchen. ({3}) Der wehrhafte Rechtsstaat hat die Verpflichtung, dem ebenfalls mit aller Konsequenz entgegenzutreten. Die Auseinandersetzung mit der islamistischen Herausforderung, mit Hasspredigern und Gewalttätern ist nicht nur eine Frage von gesetzgeberischen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Es geht auch um einen Bewusstseinswandel, dass der Wertekanon unserer freiheitlichen Demokratie wieder viel offensiver vermittelt und verteidigt werden muss. ({4}) Wir müssen eine kluge, abwägende Debatte darüber führen, welche Maßnahmen da sinnvoll sind. Deutschland ist ein tolerantes, ein weltoffenes Land. Aber es wird bedroht durch Islamismus, der weder Toleranz noch Menschlichkeit kennt. Deshalb ist nicht Ruhe erste Bürgerpflicht. Auch wenn wir uns nicht von Terroristen die Agenda bestimmen lassen wollen: Die Freiheit ist aber bedroht wie seit Langem nicht mehr, und darüber müssen wir sprechen. Deutschland darf die Wahrung seiner äußeren Sicherheit nicht länger anderen, insbesondere den USA, überlassen. Wir müssen auch selbst mehr Verantwortung übernehmen in den Bündnissen, in denen wir Mitglied sind. ({5}) Dafür braucht die Bundeswehr die nötige Vorbereitung und Ausstattung. Wir brauchen klare Anforderungen an die Akzeptanz und die Einhaltung unserer Werte, sowohl beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit als auch die Anforderung, die deutsche Sprache zu erlernen. Nur so können wir die Bildung von Parallelgesellschaften verhindern. Wir müssen dafür sorgen, dass wir wissen, wer in unser Land kommt, und dass unser Asylrecht – als Lehre aus unserer Geschichte – denen zugutekommt, die unseres Schutzes bedürfen, aber nicht zum unkontrollierten Zugang wird für diejenigen, die unsere Werte mit Füßen treten. ({6}) Wir dürfen massive Integrationsprobleme nicht verschweigen, sondern müssen sie angehen. Wir müssen auch die Gefahr durch den legalistischen Islam ernst nehmen. Organisationen, die diesen vertreten, können keine Verbündeten und Partner für die Integration in unserem Land sein. ({7}) Lassen Sie uns dabei die Werte der europäischen Aufklärung konsequent gegenüber jedermann vertreten. Religionen sind zu achten, aber sie dürfen auch kritisiert werden. Nicht jede Kritik an islamischem Fundamentalismus ist islamophob – im Gegenteil, der Begriff ist schon der Versuch politischen Framings, jegliche Kritik an Fundamentalismus abzuwehren und einen Fundamentalismus dagegen zu immunisieren. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. – Sehr geehrte Damen und Herren, wir brauchen Prävention. Wir müssen aber auch infrage stellen, wie sie wirkt; denn die vielen Bundesprogramme haben nicht verhindert, dass der Verfassungsschutz inzwischen rund 12 000 Salafisten in unserem Land zählt. Die offene Gesellschaft und der freiheitliche Verfassungsstaat, sie haben Feinde, und sie wirksam zu verteidigen, erfordert, ihre Feinde als solche zu erkennen und zu benennen. Als echte Freunde der offenen Gesellschaft –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung müssen wir klarmachen: Wir sind liberal, nicht beliebig und nicht naiv. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen reden. Wir können nicht schweigen; denn Schweigen ist keine Option. Wir müssen reden über diesen unglaublichen barbarischen Zivilisationsbruch und was das mit uns allen macht, in Frankreich, aber auch hier. Wir müssen auch reden – und das werde ich tun – über den nichtsdestotrotz zutiefst unanständigen und widerwärtigen Versuch, das für eigene Zwecke zu instrumentalisieren – und nichts anderes ist das Ansetzen der heutigen Aktuellen Stunde. ({0}) Wir müssen aber auch über die Fähigkeit oder auch die Unfähigkeit zu trauern reden und über aktuelle Debatten, die wir dieser Tage im Mitte-Links-Bereich in den Feuilletons, in den Zeitungen, in den Magazinen führen. Und wir müssen über die Maßnahmen und unseren Umgang als Gesellschaft mit diesen Terrortaten reden. All das müssen wir tun. Wir können nicht schweigen über das, was in Nizza passiert ist, was in Dresden und was in einem Vorort von Paris geschehen ist. Es ist überhaupt keine Option, das in irgendeiner Weise zu relativieren, sondern wir müssen in diesem Moment unverbrüchlich an der Seite Frankreichs, der Menschen, der Angehörigen und der Opfer stehen. ({1}) Wir dürfen in keiner Weise graduieren und mutmaßen, warum wer berechtigt sein könnte, sondern Solidarität heißt da, uneingeschränkte, eindeutige, unbedingte Solidarität zu üben und auch deutlich zu machen, dass wir mit unseren Ritualen des Trauerns nicht wirklich ausdrücken können, was das für dieses zerrissene und leidende Land Frankreich bedeutet. Wir müssen aber auch darüber reden, was Sie, Herr Dr. Curio, gerade versucht haben und was diese Aktuelle Stunde bedeutet; denn es ist nichts anderes als eine erneute Verhöhnung der Opfer. ({2}) Damit machen Sie sich zum Komplizen der Täter, und Sie machen sich zum Komplizen der Salafisten, die diese Taten feiern. ({3}) Die Hassprediger im Deutschen Bundestag sind – auch wenn Sie das nicht hören wollen – die besten Komplizen der Hassprediger, die solche Taten ermöglichen und unterstützen. ({4}) Und nicht nur das: Sie sprechen im Titel der Aktuellen Stunde ernsthaft vom Zurückdrängen von Parallelgesellschaften. Wie passt das damit zusammen, dass Sie noch vor wenigen Wochen einen Antrag zu Migrationskosten gestellt haben, dass Sie keine Integrationskurse wollen, dass Sie keine Integrationspolitik wollen und dass Sie möglichst keinen Cent für Geflüchtete ausgeben wollen? Was Sie, wenn Sie das ernst meinen, als politisches Programm wollen, ist die Erzeugung von Parallelgesellschaften, nicht die Bekämpfung von Parallelgesellschaften. Und das nenne ich nichts anderes als scheinheilig und heuchlerisch. ({5}) Wir müssen aber auch über die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zu trauern reden. Kevin Kühnert hat vor kurzem im „Spiegel“ diese Debatte eröffnet, und ich glaube, man muss ernsthaft darüber reden. Ist es so, dass wir – und ich denke, in Teilen trifft das zu – schweigen oder nicht so laut sind, wenn es um islamistische Taten geht? Ich denke, das ist der Fall, und es hat sicher damit zu tun, dass wir nicht Wasser auf die Mühlen der AfD und anderer gießen wollen. Gleichwohl ist das keine Rechtfertigung, leiser zu sein und zu schweigen. ({6}) Wir müssen aber auch – das werden Sie nicht so gerne hören – über die Unfähigkeit zu trauern in Bezug auf Hanau sprechen und auf das, was viele Menschen mit Migrationshintergrund oder die sich als muslimisch empfinden, damals gefühlt haben. Denn auch da war dieses Land – anders als Neuseeland – nicht wirklich in der Lage, zu trauern und mit den Opfern zu fühlen. Das ist es, was, glaube ich, auch an den Einwürfen von Sascha Lobo und anderen zu kritisieren ist. Es kann nicht angehen – und das müssen wir begreifen, wenn wir als Land diese Herausforderung bestehen wollen –, dass sich Menschen muslimischen Glaubens rechtfertigen müssen für das, was diese Täter getan haben. Es geschah nicht in ihrem Namen. ({7}) Sie waren nicht diejenigen, die Waffen geführt haben. Nein, sie sehen sich in diesem Moment der Situation ausgesetzt – ich habe mit vielen von ihnen gesprochen –, dass sie selber zutiefst Schmerz empfinden und das verurteilen, was passiert ist, und dass sie andererseits Bedrohungen erfahren, angegriffen werden und permanent der Situation ausgesetzt sind, sich erklären und rechtfertigen zu müssen. So – und damit komme ich zu den Maßnahmen – werden wir das nicht überstehen und schaffen. Es ist eine sicherheitspolitische Frage. Es ist sicher auch eine Sache der Asylpolitik und der Aufarbeitung der Fälle und einer genauen Rekonstruktion dessen, was in Nizza passiert ist. Aber am Ende ist die Frage der Prävention eine wesentliche. Wir werden sie nur dann erfolgreich beantworten, wenn wir auf diese Tat nicht mit weniger Freiheit, sondern mit mehr Freiheit, nicht mit weniger Solidarität, sondern mit mehr Solidarität antworten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wird nur gelingen, indem wir nicht die Musliminnen und Muslime in diesem Land unter Generalverdacht stellen, sondern indem wir ihnen Gleichheit ermöglichen und gemeinsam trauern ob der Taten von Dresden, Nizza und Paris. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab erneut klar zu sagen: Die Linke lehnt Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung konsequent ab. ({0}) Folglich verurteilen wir auch die jüngsten Attentate in Frankreich, und unser Mitgefühl – der Kollege Lindh hat das zweite wichtige Wort dazu heute in die Debatte eingeführt – und unsere Solidarität gelten den Opfern, ihren Angehörigen und allen, die sich ihnen verbunden fühlen und tatsächlich Empathie aufbringen. ({1}) Noch ist die Aufklärung nicht abgeschlossen. Aktuell sprechen wir über Attentate und Taten in Nizza, Dresden, Paris. Nach dem Stand der Ermittlungen hatten sie einen dschihadistischen, islamistischen Hintergrund. Auch das verurteilen wir scharf. Wer aber dschihadistische Terroristen mit den Muslimen und dem Islam gleichsetzt, macht einen schweren Fehler, und er beschuldigt pauschal Unschuldige. ({2}) Um auch das hier gleich klarzustellen: Das Christentum in seiner Vielfalt, das Jüdische, der Islam und weitere Religionen bzw. die Gläubigen dieser Religionsgemeinschaften gehören gleichberechtigt und anerkannt zu unserem Land. Deshalb stimme ich auch Aiman Mazyek in der Sache zu, der gestern erklärte: „Wer … Terror über die Menschen bringt, der hat sich an der Menschheit vergangen, … der hat gegen Koran und den Propheten gehandelt.“ ({3}) Zudem weiß ich aus eigener Ansicht, dass es hierzulande muslimische genauso wie interreligiöse und zivilgesellschaftliche Initiativen und Zusammenschlüsse gibt, die sich für multikulturelle, multireligiöse Zusammenarbeit und vor allen Dingen auch für gesellschaftlichen Zusammenhalt in dieser Vielfalt engagieren, die sich um Prävention und im Übrigen auch um Deradikalisierung, offline wie auch online, kümmern, jeden Tag. Ich finde, diese sind wichtig für unsere Demokratie, und sie verdienen gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung. Ich sage das gerade auch im Blick auf ein kürzlich von mir besuchtes Projekt, welches in Nordrhein-Westfalen und Berlin seit vielen Jahren erfolgreich online unterwegs ist und versucht, gefährdete Jugendliche nicht nur zu erkennen, sondern anzusprechen. Solche Projekte verdienen stetige Förderung und nicht immer wieder den nächsten Projektantrag. ({4}) Damit jetzt noch mal grundsätzlich: Wer allerdings diese Attentate und Taten in Frankreich und anderswo missbraucht, um Hetze und Feindschaft gegen Muslime und den Islam zu predigen, der versündigt sich. Und wer es dennoch tut, und zwar vorsätzlich, ist auch Stichwortgeber für rechtsextrem und rassistisch motivierte Attentäter und befördert so eine Gewaltspirale. Dagegen ist Die Linke klipp und klar. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Petra Pau. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Attentat von Nizza erschüttert uns zutiefst, und wir trauern mit unseren französischen Nachbarn und den Hinterbliebenen dieser schrecklichen Tat. Ich möchte an dieser Stelle auch noch mal allen Mitgliedern dieses Hauses ganz, ganz herzlich danken, die sich gestern Abend, um 18 Uhr, vor der französischen Botschaft versammelt haben. ({0}) Dieser Anschlag und ebenso die Taten von Paris und Dresden zeigen: Die islamistische Gefahr in Europa ist höchst virulent und sehr konkret. Wir dürfen nicht darin nachlassen, dem Terror entschlossen entgegenzutreten. ({1}) Die Muster wiederholen sich doch. Die Täter nutzen einfachste Tatmittel und sind oft Kleinkriminelle. Den Sicherheitsbehörden sind sie oft als Gefährder bekannt, und doch laufen sie immer wieder knapp unter dem Radar. Ja, wie kann das eigentlich sein? Wir Grünen haben schon vor fast vier Jahren nach dem schlimmen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz gesagt: Wir wollen die Muster des Terrors besser verstehen, und wir wollen uns nicht zufriedengeben mit den üblichen Bekundungen und symbolischen Versprechungen nach solchen Anschlägen, ganz zu schweigen von dem zynischen Spiel, das die AfD und ihre rechtsextreme Parallelgesellschaft mit solchen Anschlägen betreibt. ({2}) Herr Curio, Sie versuchen, auf dem Rücken der Opfer solcher Anschläge die Gesellschaft mit Hass und Hetze zu infizieren. Dieses Spiel ist widerlich, meine Damen und Herren. ({3}) Nein, wir Grünen haben gesagt: Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss, der die Schwachstellen der Sicherheitsarchitektur schonungslos aufdeckt und vor allem abstellt. Wir haben zwar bisher jede Menge aufdecken können, aber verbessert hat sich leider nur sehr wenig. ({4}) Wenn wir uns zum Beispiel Dresden anschauen, dann müssen wir feststellen: Schon wieder ging es um einen bekannten Gefährder. Schon wieder weiß man praktisch nichts zu seinem Umfeld, zu seinen Netzwerken, zu den Strukturen, die dahinterstehen, und mit der Einschätzung hat man meilenweit danebengelegen. ({5}) Man kann sich nur wundern, wenn das Bundeskriminalamt, so wie gestern im Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz, sagt, die Aufklärung von Netzwerken habe keine Priorität. Aber wer die Netzwerke und Unterstützerstrukturen nicht konsequent ausleuchtet, entspricht genau den Strategien der Terroristen, weil sie immer wieder Handlanger finden und die Behörden nicht zu den Anstiftern, zu den Vernetzungen und zu den Anführern vordringen. So hat man auch in Dresden die konkrete Gefahr eben nicht erkannt, und das, obwohl zum Beispiel der Bundesnachrichtendienst laut Presseberichten bereits vor über einem Jahr Informationen gehabt haben soll, dass der mutmaßliche Attentäter einen Anschlag in Deutschland plant. Meine Damen und Herren, dieser Hinweis wurde wohl nicht an die zuständigen Behörden weitergegeben. Sollte sich das bewahrheiten, wäre das ein handfester Skandal, und das muss dringend auch parlamentarisch aufgeklärt werden. ({6}) Auch hier wiederholen sich die Muster. In der fragmentierten Sicherheitsarchitektur versickern immer wieder relevante Informationen, und am Ende übernimmt niemand dafür die Verantwortung. Auch der Umgang mit Gefährdern, egal welcher Couleur, lässt einen manchmal fassungslos zurück. So versteht doch niemand, wie im Mordfall Lübcke ein rechtsextremistischer, terroristischer Gefährder auf freiem Fuß ist, ({7}) obwohl er dringend verdächtigt ist, an diesem Attentat beteiligt gewesen zu sein. Solche Schwachstellen müssen endlich überwunden werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Denn Terroristen, egal mit welchem Hintergrund, richten sich in den Rückzugsräumen, die diese Schwachstellen bieten, bestens ein. Das dürfen wir nicht zulassen. Das bedeutet: Neben Maßnahmen der Prävention und der Deradikalisierung brauchen wir – erstens – eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Gefährdern, egal ob Rechtsextreme, militante Coronaleugner, Linksextreme oder Islamisten. Wir müssen die Gefahrenbewertung verbessern, Gefährder engmaschiger überwachen und alles tun, um sie so wenig wie möglich zur Entfaltung kommen zu lassen. Dazu gehört auch, dass man kleinere Delikte im Strafverfahren bündelt, um scharf und gegebenenfalls auch im beschleunigten Verfahren gegen Gefährder vorgehen zu können. Wir müssen alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten nutzen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen, meine Damen und Herren. ({9}) Zweitens. Wir müssen dringend besser darin werden, Netzwerke aufzuklären, Unterstützerstrukturen zu erkennen und daraus auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Drittens. Wir müssen endlich die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden verbessern. Hier hilft schon lange, lange, lange keine Kosmetik mehr, meine Damen und Herren. Wer es ernst meint mit der Terrorabwehr, der muss endlich die föderale Zusammenarbeit grundsätzlich reformieren. Unsere Vorschläge dazu liegen seit Langem auf dem Tisch. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht damit begnügen, Anschläge wie die in Nizza, Dresden, Paris und Berlin – diese Aufzählung ist bei Weitem unvollständig – hilflos und wortreich zu bedauern. Wir müssen endlich die notwendigen Konsequenzen ziehen und dem Terror die Zähne des Rechtsstaats zeigen. Ganz herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Mihalic. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Christoph Bernstiel. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat heute eine Aktuelle Stunde einberufen, um auf die Attentate in Frankreich zu reagieren und Lehren daraus zu ziehen. Sehr geehrter Herr Curio, was Sie hier aber dargeboten haben, haut dem Fass wirklich den Boden aus. Denn Sie haben nicht mit einer Silbe den Opfern in Frankreich oder in Dresden gedacht. ({0}) – Und jetzt beschweren Sie sich darüber, wie das ausgesprochen wird. Das ist unfassbar, auch mit welcher Rhetorik Sie hier wieder aufgetreten sind. ({1}) – Hören Sie zu! – Es geht Ihnen überhaupt gar nicht darum, Lehren daraus zu ziehen. Denn wenn es Ihnen darum gehen würde, dann hätten Sie mal ein paar Lösungen angeboten. Das haben Sie in Ihrer Rede aber nicht getan. Ich setze noch eins drauf: Wenn wir jetzt über die Attentate in Frankreich reden, dann stelle ich Ihnen eine ganz konkrete Frage: Was ist denn mit dem Attentäter in Avignon, der erschossen wurde? Das war nämlich ein Rechtsextremist, lieber Herr Curio. ({2}) Und wenn Sie sich hierhinstellen und mal wieder den Eindruck erwecken, dass alle Muslime – und das haben Sie in Ihrer Rede auch gesagt – eine potenzielle Gefahr sind, ({3}) dann ist das einfach schlichtweg falsch. ({4}) Ich möchte Ihnen sagen – vielleicht schreiben Sie sich das mit –: Jeder Islamist, der den Koran zitiert, repräsentiert genauso wenig den Islam wie ein Rechtsextremist Deutschland, wenn er die schwarz-rot-goldene Flagge schwingt. ({5}) Und wie man richtig trauert, ohne hier so eine polemische Aktuelle Stunde am Freitagnachmittag aufzusetzen, ({6}) hat gestern der Kollege Konstantin Kuhle mit seinem Aufruf zu einer spontanen Andacht an der französischen Botschaft gezeigt. Und dafür möchte ich ihm an dieser Stelle ganz herzlich danken. ({7}) Wenn wir über das Thema Islamismus reden, dann reden wir zweifelsohne über eine absolut reelle Gefahr. Ich möchte gerne zwei Zahlen aus aktuellen Berichten herausgreifen: Wir reden ungefähr von 28 020 Personen, die dem islamistischen Spektrum zuzuordnen sind, und – zum Vergleich, damit man die Zahlen einordnen kann – wir haben ungefähr 230 000 Personen, die wir dem rechtsextremen Spektrum zuordnen müssen. Das heißt, es ist mitnichten ein Randproblem und mitnichten etwas, dem wir nicht genauso viel Aufmerksamkeit widmen müssen, wenn es um den Schutz unserer Bevölkerung geht. ({8}) Jetzt möchte ich aber auf ein konkretes Problem hinweisen, weil das in der Debatte immer wieder erwähnt wird: Wenn wir tiefer in die Zahlen hineinschauen, dann können wir davon ausgehen, dass wir ungefähr 600 islamistische Gefährder in unserem Land haben. Wenn Sie diese rund um die Uhr bewachen wollen, dann brauchen Sie pro Gefährder 30 Beamte; ich hoffe, Sie können noch folgen. Dann sind wir bei ungefähr 18 000 Beamten, die wir bräuchten, um diese Gefährder rund um die Uhr zu bewachen. Dass das nicht möglich ist, ist, glaube ich, jedem hier klar. ({9}) Und genau deshalb setzen wir an der Stelle an, wo uns die moderne Technik Möglichkeiten liefert: Das ist die Telekommunikationsüberwachung. Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich auch unserem Koalitionspartner SPD danken, dass Sie endlich Ihren Widerstand überwunden haben und dieser gewichtigen Novelle des Verfassungsschutzgesetzes zustimmen, die ermöglicht, diese Quellen-TKÜ, wie sie auch genannt wird, auch bei niederschwelligen Verdachtsfällen einzusetzen. Denn nur so können wir effizient und mit den Methoden des 21. Jahrhunderts gegen Gefährder im Internet und auch real auf der Straße vorgehen. ({10}) – Ja, da kann man ruhig mal klatschen; das hat die SPD verdient. Und dann wird uns ja vorgeworfen, wir würden zu wenig gegen Islamismus unternehmen. Das ist einfach schlichtweg falsch. Das stimmt nicht. Ich hatte eben schon die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes angesprochen, die erst in der letzten Woche durch das Kabinett ging. Wir haben bereits im März das Betätigungsverbot für die Hisbollah in Deutschland durchgebracht. Wir haben das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum. Bereits seit 2007 gibt es das Gemeinsame Internetzentrum, in dem es genau um die von mir erwähnte Kriminalität und Radikalisierung im Internet geht. Und bereits seit 2012 gibt es im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Beratungsstelle, die sich mit Deradikalisierung beschäftigt, also schon weit vor Ihrer Warnmarke 2015, die Sie ja immer wieder in den Medien hoch- und runterpropagieren. Also, diese Regierung tut etwas. ({11}) Ich möchte aber noch einen Punkt anbringen, der in den Debatten immer etwas zu wenig betont wird und untergeht: Ein aktuelles Beispiel hier aus Berlin: Ein Bekannter von mir, Unternehmer, befand sich in einem Hotel in der Nähe des Breitscheidplatzes. Er wurde in der Nacht von arabischstämmigen Menschen aufgesucht, die an seine Tür pochten, sagten: „Allahu akbar“ und „Allah wird euch alle richten“. Daraufhin zeigte er diesen Vorfall bei der Berliner Polizei an. ({12}) Die rückte auch umgehend an, wollte aber nichts von Terrorverdacht hören. In der Anzeige war nur die Rede von Bedrohung. Und auf wiederholte Nachfrage, warum dem nicht nachgegangen wurde, wurde mit Datenschutz argumentiert. Diese Anzeige wurde dann letztendlich gar nicht mit einem Terrorverdacht in Verbindung gebracht. Meine Damen und Herren, solche Fälle gehen nicht. Und wenn wir in Zukunft Gefährder schneller erkennen wollen, um Taten zu verhindern, dann müssen wir solche Fälle ernst nehmen. Ich werde diesem Punkt nachgehen. Liebe AfD, Sie können sich sicher sein, dass das Thema Islamismusbekämpfung bei uns genauso gut aufgehoben ist wie das Thema Rechtsextremismus- und Linksextremismusbekämpfung. Vielen herzlichen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christoph Bernstiel. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Bernd Baumann. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frankreich brennt, vor allem das christliche: 874 Kirchen gingen in einem Jahr in Flammen auf oder wurden verwüstet, darunter fast tausend Jahre alte Kathedralen. Schlimmer noch: Hunderte Franzosen wurden massakriert. Vor zwei Wochen schnitt ein islamischer Eiferer dem Lehrer Samuel Paty den Kopf ab, auf offener Straße, am helllichten Tag, bei lebendigem Leib. Warum? Meine Damen und Herren, Samuel Paty, dieser aufrechte Mittelschullehrer aus dem Städtchen Moulins in der Auvergne, hatte ein Ziel: Er wollte seine Kinder zu freien Menschen erziehen, zu freien Bürgern der stolzen Republik Frankreich; deshalb musste er so bestialisch zugrunde gehen. Er hatte seinen Schülern Mohammed-Karikaturen gezeigt, um sie das hohe Gut der Meinungsfreiheit zu lehren. Meine Damen und Herren, Samuel Paty verkörperte das Beste unserer Kultur, den Glauben an die Erziehung freier Menschen. Er hat sein Leben dafür riskiert, und er hat sein Leben dafür gegeben. ({0}) Wir verneigen uns vor dem Mut dieses Mannes. Und die Lage verschlimmert sich täglich. Erst gestern schnitten islamische Täter einer alten Frau den Kopf ab, mitten in der Kathedrale von Nizza. Ganz Frankreich stürzt in eine Identitätskrise. Im Land geht die nackte Angst um; denn die Probleme reichen noch viel, viel tiefer. In immer mehr Städten und Regionen wachsen Gegengesellschaften, wuchern geradezu. Immer größere Teile koppeln sich von der französischen Gesellschaft ab, sie verachten den freiheitlichen Staat, sie spucken auf westliche Werte, orientieren sich an orientalischen Verhaltensweisen und Vorbildern. In Frankreich, in den Franzosen brennt die tiefe Angst vor dem Verlust ihrer Lebensweise, ihrer Tradition, ihrer Identität, ihres Zuhauses. Sie wollen ihre Heimat verteidigen als Patrioten, und dazu haben sie alles Recht. ({1}) Selbst Präsident Macron, ein Zögling des eher links-grünen Zeitgeistes, musste plötzlich Farbe bekennen und seinen Franzosen ein realistisches Gesamtbild zeigen. Er spricht jetzt von „contre-société“, von einer Gegengesellschaft, mit einem – so wörtlich – islamischen Separatismus, also einer islamischen Gegengesellschaft, die mitten in Frankreich immer weiter wächst. Sie habe, so Macron wörtlich, das Endziel, die Kontrolle zu übernehmen, und zwar vollständig. Das alte Frankreich sei geradezu zerbrochen, beherrscht von einer – hören Sie zu! – kulturellen Unsicherheit; denn Frankreich sei gelähmt durch eine Form des Selbsthasses, geschürt vor dem Hintergrund seiner kolonialen Vergangenheit. Präsident Macron fordert jetzt eine Reconquête, also eine Art Reconquista. Er fordert die Franzosen auf – wörtlich –: Wir müssen alles zurückerobern. – Und er fordert „une mobilisation de toute la nation“, die Mobilisierung der gesamten Nation. Das sagt nicht die AfD, das sagt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. ({2}) Bei uns in Deutschland jedenfalls würden solche Reden vom Verfassungsschutz beobachtet, in Talkshows von ARD und ZDF käme er niemals vor, und vom Evangelischen Kirchentag bliebe er ausgeschlossen. ({3}) Dabei sind die Probleme, die er benennt, längst gigantisch in ganz Europa. Deshalb dürfen wir nicht länger verharmlosend von Parallelgesellschaften sprechen; vielmehr sind es echte Gegengesellschaften, die hier entstehen und weiterwachsen. Sie wuchern längst in allen westlichen Ländern, ob Großbritannien, Belgien, Deutschland oder Niederlande. In Schweden und Dänemark haben das sogar die Sozialdemokraten kapiert, meine Damen und Herren. Auch in Schweden eskalieren die Konflikte. In den USA eskalieren die Konflikte noch viel schlimmer, bilden sich Gegengesellschaften zwischen Schwarzen, Weißen, Latinos. Milizen und Gangs rüsten auf mit Kriegswaffen. Ein kleiner Funke genügt, und sofort brennen ganze Stadtteile und werden geplündert. ({4}) Was Macron offen anspricht, ist nicht mehr nur ein Kampf um Frankreich oder um Deutschland oder um die USA. Meine Damen und Herren, es ist ein Kampf um das Schicksal der ganzen westlichen Zivilisation, was sich hier abspielt vor unseren Augen. ({5}) Deshalb gehört die Zukunft nicht links-grünen Ideologen, die blind sind für die Unterschiede von Kulturen, die wegsehen, die „no borders“ und „one world“ schreien. Die Zukunft gehört nicht den Globalisten. Die Zukunft gehört den Patrioten! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Daniela De Ridder. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gestern ermordete ein fanatisierter 20-jähriger Islamist drei Menschen in der größten katholischen Kirche Nizzas. Diesen barbarischen Akt in der Kirche Notre-Dame de Nice verurteilen wir aufs Schärfste. Wir trauern mit den Familien, mit den Angehörigen und Freunden der Opfer. Ihnen gilt unser tiefstes Mitgefühl. Solidarität und Unterstützung wollen wir aber auch unseren französischen Freunden und Kolleginnen und Kollegen übermitteln. Gerade weil die deutsch-französische Freundschaft und die enge politische Zusammenarbeit mit Frankreich uns so wichtig ist, ist mir dies ein wichtiges Bedürfnis als stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe. ({0}) Die Terrorakte gegen die offene französische Gesellschaft, ja, sie mehren sich. Und diese Angriffe gegen die Demokratie in unserem Nachbarland, sie sind schmerzlich, auch für uns. Es ist allerdings nicht nur Ironie der Geschichte, sondern eine posthume Beleidigung der Opfer, welche Lehren die AfD aus dieser Tragödie ziehen will und – schlimmer noch – uns aufoktroyieren möchte. Ein vom Terror bedrohtes Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, das sich durch die Erklärung des Ausnahmezustands schützen muss, benötigt sicherlich keine Ratschläge von jenen, die nicht nur hier im Plenum, sondern auch in sozialen Netzwerken nicht in der Lage sind, ohne Hass und Hetze zu kommunizieren. ({1}) Die passende Antwort, liebe Kolleginnen und Kollegen, liefert nicht der französische Präsident Emmanuel Macron, sondern der französische Philosoph der Aufklärung, Voltaire. Mit Verlaub, Frau Präsidentin, ich zitiere: Bedenkt, dass Fanatiker gefährlicher sind als Schurken. Einen Besessenen kann man niemals zur Vernunft bringen, einen Schurken wohl. Frankreich verdient unsere Solidarität, gerade in der Verteidigung seiner offenen Gesellschaft. Wir trauern um die Opfer der Redaktion von „Charlie Hebdo“, um die des Bataclan, um jene des Attentats am 14. Juli 2016; denn Nizza war schon einmal Ort eines islamistischen Anschlags – des blutigsten der französischen Nachkriegsgeschichte im Übrigen –, bei dem 86 Personen zu Tode kamen. Der Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty vor wenigen Tagen, der seinen Schülerinnen und Schülern die französischen Werte anhand von Mohammed-Karikaturen näherbringen wollte, die im Magazin „Charlie Hebdo“ publiziert und nun erneut, nämlich anlässlich der Eröffnung des Prozesses gegen die damaligen Attentäter, publiziert wurden, ist zutiefst verstörend. Ja, wir müssen reden. ({2}) Was darf Satire? War es gut oder eine Provokation, dass diese Karikaturen wieder veröffentlicht wurden? Staatspräsident Emmanuel Macron hat hier eine eindeutige Position, die ich teile: In einem freien Land, das Kirche und Staat ausdrücklich trennt, in einem laizistischen Staatssystem sei, so sagte er, auch Blasphemie legitim; zwar müsse man dies nicht schätzen, so doch aber hinnehmen. Die aktuellen Ereignisse und die schmerzlichen Erinnerungen verweisen zugleich darauf, dass nicht nur die französischen Banlieues und die Gefängnisse voll sind von jungen Muslimen, die leicht radikalisierbar sind, ({3}) leichte Beute für islamistische Hassprediger und Hetze. Es ist außerordentlich zu begrüßen, dass die französische Gesellschaft – und das ist die tatsächliche Lehre – trotz Terror, Morden und Attacken zusammensteht und keinen religiösen Separatismus duldet, auch nicht zwischen Katholiken und Muslimen, ({4}) deren Religion wiederum hier für antimuslimische Hetze herhalten muss. – Und Sie beweisen es ja wieder, Herr Baumann. Schämen Sie sich! ({5}) Es ist wertvoll für den Zusammenhalt, für unsere Wertegemeinschaft – ganz gleich, ob in Frankreich oder in Deutschland –, dass wir die Verächtlichmachung jedweder Religion nicht zulassen; denn auch dies sind die Lehren, die wir aus den Attentaten ziehen müssen. ({6}) Unser Kampf gegen Terror kann nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn wir die sozialen Verwerfungen analysieren und bewältigen. Hier helfen Bildung und Aufklärung, aber keineswegs Hass und Hetze – und schon gar nicht in den sozialen Netzwerken. Weder sollten wir uns von der Hetze Präsident Erdogans gegen Macron, der vor allem von innenpolitischen Problemen ablenken will, noch von den Aufrufen zum Boykott französischer Produkte durch die iranische Führung beeindrucken lassen. ({7}) Ich jedenfalls werde heute Abend „Charlie Hebdo“ lesen, dazu ein Glas Bordeaux trinken und ein Baguette mit Brie zu mir nehmen. ({8}) Denn mit Antoine Leiris, dessen Frau im Bataclan ermordet wurde, sage ich: Meinen Hass bekommt ihr nicht! ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Und ich sage an die Adresse des französischen Präsidenten: Monsieur le Président, je suis Charlie et je le reste! Merci beaucoup. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das einzig Gute an dieser Aktuellen Stunde, die die AfD beantragt hat, ist, dass wir zum Ende dieser Plenarwoche immerhin noch einmal gemeinsam als Parlament an die schrecklichen Ereignisse, an die Terrorereignisse in Frankreich denken können und gemeinsam unsere Solidarität zeigen können. Das Beklagenswerte ist allerdings, dass alle diese Solidarität heute bekundet haben – außer Ihnen von der AfD, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. ({0}) Ich sage Ihnen auch eines: Ihnen geht es eigentlich nicht um Frankreich, ({1}) und Ihnen geht es eigentlich auch nicht um den Lehrer Samuel Paty. Lieber Herr Baumann, Sie haben sich jetzt groß auf ihn berufen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage Ihnen auch: Dieser liberale, aufgeklärte, moderne französische Lehrer, der dem islamistischen Terror zum Opfer gefallen ist, ({2}) der würde sich schämen, von Ihnen instrumentalisiert zu werden. ({3}) Auch das ist ein Signal, das wir heute senden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Zur Wahrheit gehört auch: Ihnen geht es nur halbherzig um Terrorismusbekämpfung. Ihnen geht es um das, was Sie immer möchten, nämlich Ihr Lieblingsthema hier vorzuschieben: ({4}) den vermeintlichen Untergang des Abendlandes. Ich sage Ihnen – verstehen Sie mich richtig –: Es ist so, dass wir es mit islamistisch radikalisierten Attentätern in Frankreich zu tun hatten. ({5}) Es ist auch so, dass wir es mit dem Islamismus als akuter gegenwärtiger Gefahr in Deutschland zu tun haben. ({6}) Aber wir werden es nicht akzeptieren, dass Sie hier in diesem Parlament zwei Fehldeutungen in den Raum stellen: Erstens. Wir lassen es nicht zu, dass Sie den Eindruck erwecken, nahezu jeder Muslim sei auch ein Islamist. ({7}) Sosehr wir eine klare Haltung gegen Islamismus haben, so sehr sagen wir auch: Der Großteil der 4,5 Millionen Muslime in Deutschland lebt hier in Frieden mit uns und möchte diesen Islamismus genauso wenig wie wir als Mehrheitsgesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Zweitens. Wir werden es auch nicht zulassen – und das in aller Deutlichkeit –, dass Sie hier in Zweifel ziehen wollen, dass es nicht auch nur einen Kollegen oder eine Kollegin hier im Hause gebe, der oder die einen Funken von Toleranz und Verständnis für den Islamismus hätte. Das haben wir nicht, sondern wir bekämpfen den Islamismus. Das unterscheidet uns von Ihnen; denn Sie haben nur Ideologie und eine Scheuklappenwelt zu bieten. Das ist zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) – Sie sagen, wir tun nichts. ({10}) Sie tun nichts! Sie werden Ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht. Sie sagen: Lehren aus den Attentaten in Frankreich ziehen. ({11}) Aber was Sie hier heute präsentiert haben, waren keine Lehren, waren keine Erkenntnisse, sondern es war ein bekanntes Muster, das wir von Ihnen kennen: ({12}) Es war nur ein Polemisieren. Und wir sehen etwas sehr, sehr deutlich, wenn wir uns die Aktuellen Stunden zum Thema Extremismus in diesem Hause anschauen. ({13}) Sie haben zum Thema Linksextremismus mal eine Aktuelle Stunde beantragt. Heute reden Sie über Islamismus. ({14}) Während es uns zum Beispiel um die rechtsextremen Taten in Halle ging, um den rechtsextremen Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke, ({15}) haben Sie nichts anderes zu tun gehabt, als sich in Selbstmitleid zu suhlen. Wir sagen: Extremismus gibt es nicht à la carte. Hier gibt es keinen Rabatt, weder auf Rechts- noch auf Linksextremismus. Wir haben den 360-Grad-Blick darauf, ({16}) und nur das ist der richtige Umgang mit Extremismus, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({17}) Wir müssen auch sagen: Auch in unserem Regierungshandeln lassen wir dem Extremismus keine Luft. Wir haben gestern Nacht über die Entfristung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes diskutiert. Wir haben das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum weiterentwickelt. Wir haben das Ausländerrecht konsequent verschärft. Es ist im Übrigen auch richtig – so wie es der Kollege Throm gesagt hat –, dass wir als Lehre aus dem Fall in Dresden darüber nachdenken müssen, wie wir schwere Gefährder zum Beispiel nach Syrien wieder abschieben können. Aber wir handeln, und wir lassen uns von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir beim Thema Extremismus nicht richtig agieren, sondern wir ziehen die Lehren. ({18}) Deswegen werden wir beispielsweise die Ermittlungsmöglichkeiten unserer Sicherheitsbehörden im Bereich des Internets stärken. Man kann gegen den Extremismus nicht kämpfen, indem man ihn hier instrumentalisiert; das geht nur durch kluges Regierungshandeln, und das ist unser Anspruch. ({19}) Herzlichen Dank. ({20})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Können Sie mal ein bisschen die Lautstärke runterdrehen? Denn es ist echt anstrengend nach so einem ganzen Tag. ({0}) Einfach ein bisschen. Ich bin nicht gegen Zwischenrufe – das wissen Sie; zu den Zwischenrufern gehöre ich auch –, aber bitte, es tut echt langsam weh. ({1}) – Ja, lebhaft kann man ja sein, aber dann muss man nicht so schreien. Vielen Dank, Philipp Amthor. – Letzter Redner – Entschuldigung, es ist nicht der letzte Redner –, nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner. ({2})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Dass Sie mich als letzten Redner ankündigen wollten, hat Tradition, weil ich ja sehr oft am Freitagnachmittag die letzte Rede habe.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, aber der traditionell letzte Redner kommt noch: Herr Kuffer.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das macht doch überhaupt nichts. Aber ich will dem Kollegen Kuffer nicht vorgreifen; der möchte ja auch noch etwas dazu sagen. Meine Kolleginnen und Kollegen, es ist viel zu ernst, als dass man über das Thema, über das wir heute sprechen, lacht. Mir fällt auf, dass wir in der Argumentation, in den Gesprächen, in der politischen Auseinandersetzung zum Teil genau das machen, was diejenigen, die die Attentate begangen haben, erzielen wollten, nämlich Fanatismus in den Mittelpunkt stellen ({0}) und fanatisch unduldsames Eintreten für eine Sache als Ziel kompromisslos umsetzen. Fanatismus verstellt den Blick. Wenn wir nach Frankreich blicken, unseren engen Verbündeten und Nachbarn, dann sehen wir zwar die Solidarität, die wir dem französischen Volk nunmehr entgegenbringen, und wir sehen, dass wir gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus und des Extremismus durchführen müssen, aber es verstellt uns den Blick darauf, dass in Nizza, aber auch in Avignon Menschen in den Familien der Getöteten zurückbleiben, die Hinwendung, die Trauer, die Zuwendung, ja, vielleicht Heimat verspüren möchten. Diesen Blick drohen wir zu verlieren. ({1}) Ein Blick, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der nicht nur damit begründet ist, dass wir in unserem freiheitlichen und aufgeklärten Europa demokratische Strukturen haben, ein liberales Zusammenleben pflegen, die Freiheit des Andersdenkenden achten und weniger den Blick darauf richten, warum dies so ist. Das ist im Wesentlichen nicht deshalb so, weil wir die besseren Menschen sind, sondern weil wir uns alle miteinander versprochen haben, einen Rechtsstaat zu haben und das Recht im Mittelpunkt zu sehen. Dieses Recht gilt für alle Menschen auf einem Territorium, und unser Grundgesetz schreibt darüber ganz oben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sicher ist, dass dieser Rechtsstaat funktioniert. Eine Nulltoleranzpolitik, die ich voll unterstütze, hat auch gegenüber Hasspredigern, gegenüber Islamisten, gegenüber Islamistinnen, die es ja auch gibt ({2}) – ja, da brauchen Sie nicht zu lachen –, gegenüber Rechtsradikalen und Menschen, die in diesem Lande als Identitäre umherspringen, ({3}) im Mittelpunkt zu stehen. Denn Radikalismus und Fanatismus – egal ob von rechts, von links, vom Islam oder anderen Gruppierungen – dürfen in einem Staat nicht hingenommen werden. ({4}) Um dem entgegenzuwirken, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird uns in einem Rechtsstaat nichts anderes übrig bleiben – das haben wir konsequent durchzusetzen, und das machen die Bundesregierung und die Koalitionsmehrheit in diesem Parlament konsequent –, als Repression und Vorbeugung mit Ausstiegshilfen und Programmen zu kombinieren und zu unterlegen. Menschen aus der Gesellschaft herausnehmen, das können wir mit ganz einfachen Lösungen, indem wir sagen: Wir schieben Gefährder, die nicht deutsche Staatsangehörige sind, ab. – Aber was machen wir mit den 30 000 Rechtsradikalen, die wir bei uns haben? Die können wir nicht abschieben. Dafür haben wir keinen Raum zum Abschieben. Da müssen wir etwas tun. Deshalb ist ein Dreiklang notwendig: zum Ersten die Repression, zum Zweiten die Vorbeugung und zum Dritten das Anbieten konsequenter Ausstiegshilfen, die es ermöglichen, die Menschen wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. ({5}) Dies geht nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir da nicht mit Fanatismus, sondern mit Ruhe, mit Bedacht und mit Klugheit herangehen, unseren Gerichten die entsprechenden Instrumente geben, unserer Polizei und unseren Diensten die Instrumente zur Zusammenarbeit geben und wenn wir nicht vergessen: Hinter allem und für alles, was wir tun, stehen die Menschen in unserem Land und in unserem Nachbarland, egal welche Religion sie haben. Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes Wochenende. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Wieder als letzter Redner in dieser Debatte und in dieser Woche: Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gedanken sind in diesen Stunden natürlich bei den Opfern und bei ihren Familien, bei der Grande Nation, aber auch bei der Stadt Nizza, die zum wiederholten Male von einem so grausamen Attentat heimgesucht worden ist. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur ein Anschlag auf unsere Sicherheit, sondern es ist ein Anschlag auf unsere Werte. Ich will eines vorwegschicken und in die Welt hinaus sagen, damit in keinem einzigen Winkel der Welt auch nur irgendein Zweifel aufkommt: Wir werden an diesen unseren Werten, an den freiheitlichen, kulturellen, zivilisatorischen Wurzeln und Errungenschaften, an den Gepflogenheiten nicht das Geringste ändern. ({0}) Wir sind stolz auf unsere freiheitlichen Werte und auf diese freiheitliche Gesellschaft. Und ja, wir sind stolz auf die Freiheit von Presse und Kunst. Wenn Emmanuel Macron dies öffentlich klarstellt, ist das keine Lynchjustiz gegen Muslime, sondern es ist eine Selbstverständlichkeit – Emmanuel Macron spricht damit für uns alle –, und es ist im Zweifel ein Schutz für die übergroße Mehrheit der Muslime in Europa, die mit uns zu diesen Werten stehen. Sicher ist manchmal eine Diskussion darüber angebracht, wie weit Satire gehen darf, wie weit sie gehen sollte und welche Grenzen der Menschenwürde und, ja, auch des religiösen Empfindens sie respektieren sollte. Aber der Präsident des nordrhein-westfälischen Landtags, André Kuper, hat heute einen Satz gesagt, der es nicht besser auf den Punkt bringen könnte und den ich hier noch einmal wiederholen will: „In Europa, … in der Demokratie wird das Wort geführt und nicht die Gewalt, nicht das Messer.“ Deshalb fordere ich alle Menschen, die, egal welcher Herkunft, hier mit uns zusammenleben wollen, auf, auch diese Werte gemeinsam mit uns zu leben, und nicht nur das, sondern diese Werte gerade in diesen Stunden und in diesen Tagen mit uns zu verteidigen. Umgekehrt sage ich Ihnen: Wir werden Sie an Ihren Taten messen und nicht an Ihrer Herkunft und auch ganz bestimmt nicht an Ihrer Religion. – In diesem Zusammenhang bitte ich alle islamischen Verbände und Institutionen in Europa, Prediger, Vorbeter in den Moscheen, mit uns gemeinsam solche Taten laut und vernehmbar öffentlich zu verurteilen. ({1}) Ich bin Leuten wie Kevin Kühnert dankbar, die sich bemühen, auch innerhalb der politischen Linken eine Diskussion darüber in Gang zu bringen. Sein Diskussionsbeitrag könnte aktueller nicht sein. Denn bitte machen wir uns doch eines klar: Der Islam als Religion teilt mit uns Christen viele Gemeinsamkeiten. Die wichtigste ist das Gebet, das Gebet an den einen Gott, aber auch Werte wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Umgekehrt steht die Ideologie des politisch radikalen Islamismus genau zu alledem im Widerspruch. Diese Ideologie ist demokratiefeindlich. Sie ist frauenfeindlich, sie ist schwulenfeindlich, judenfeindlich, wissenschaftsfeindlich, lustfeindlich – ja, lebensfeindlich. Der politisch radikale Islam, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Form des Faschismus. Machen Sie sich das bitte klar! Natürlich haben wir in Frankreich in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Entwicklung von Parallelgesellschaften gesehen, die sicher auch den Boden dafür bereitet haben, dass sich aus diesen Gesellschaften junge Menschen dramatisch verführen, fehlleiten und radikalisieren lassen. Wenn wir als Union in Deutschland immer wieder davon sprechen, dass wir in der Asylfrage die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit und in der Migrationsfrage unsere Interessen und die Frage, wer zu uns passt, im Auge behalten müssen, dann genau aus diesen Gründen: um gegenüber solch fundamentalen Problemen, wie sie Frankreich erlebt, jeden Anfängen zu wehren. Aber ich will zum Schluss sagen: Wir dürfen uns trotzdem nichts vormachen. Natürlich tragen diese Anschläge in Frankreich noch eine andere, ganz markante Handschrift, nämlich die des Überlebenskampfes des IS, der seine Einflusssphäre in Syrien verloren hat und der in Europa den Beweis seiner Existenz erbringen will, der bestimmte Interessenräume in Europa gezielt verschont und umgekehrt Staaten wie Frankreich mit einer Serie von Anschlägen gezielt destabilisieren will. Darum geht es doch. Es geht um Macht, und es geht leider auch um geopolitische Interessen im Hintergrund. Deshalb sage ich zwei Dinge zum Schluss: Die Anschläge finden zurzeit in Frankreich statt; aber sie sind ein Angriff auf Europa. Wir müssen und wir werden deshalb in Europa in diesem Kampf zusammenstehen. Den türkischen Präsidenten fordere ich nachdrücklich auf, hier nicht weiter mit dem Feuer zu spielen. Mehr sage ich dazu an dieser Stelle nicht. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Kuffer. – Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.