Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen schönen guten Morgen! Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen: Das ist ein Zeichen. Der Umgang mit Covid-19 in diesem Land hat uns wirklich vor große Herausforderungen gestellt. Ich glaube, wir können mit Fug und Recht behaupten: Wir leben in einem Land, das gut organisiert und gut regiert ist. Ich glaube, dass wir bisher einen Zustand erreicht haben, der sich in Anbetracht dessen, was in der Welt derzeit los ist, durchaus sehen lassen kann.
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Unser Land ist bisher, was Einschränkungen angeht, eigentlich nur für den Verteidigungsfall, also die Bedrohung von außen, gerüstet; dafür gibt es Instrumente. Für den Fall einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe allerdings sind wir nicht gerüstet. Genau darum geht es heute: dass wir Regeln schaffen, wie diese Demokratie als lebendiger Organismus auch in Zeiten von innerer Bedrohung, durch eine Naturkatastrophe oder Pandemie, nicht nur zu ihrer eigentlichen Stärke zurückfinden kann, sondern auch deutlich macht, woraus sie lebt.
Die Stärke unserer Demokratie ist die Basis, die Organisation von unten nach oben. Wir ziehen, auch als Abgeordnete, unsere Legitimation aus einem sehr umfangreichen, sehr schwierigen Prozess, in dem die untersten Ebenen ihre Abgeordneten, ihre jeweiligen Landeslisten bestimmen können.
Für den Fall, dass Versammlungen in bestimmten Regionen nicht mehr durchführbar sind, müssen wir Vorkehrungen treffen. Es ist notwendig, dass wir uns überlegen, wie wir damit umgehen, wenn sich Menschen treffen müssen, es aber nicht mehr können. Die Frage ist: Wie organisieren wir dann die Bundestagswahl? Es sind keine zwölf Monate mehr bis dahin. Toi, toi, toi! Hoffentlich brauchen wir dieses Verfahren nicht, dass wir flexibel reagieren müssen, dass wir das Bundesinnenministerium, die Regierung mit ins Boot holen müssen, um den Wahlvorgang ordentlich zu organisieren.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir die Rolle der Parteien nach dem Grundgesetz und nach dem Parteiengesetz nicht mehr einschränken, als es unbedingt sein muss. Wir alle hier haben Macht auf Zeit. Macht auf Zeit setzt aber auch voraus, dass in bestimmten Abständen die Legitimation von unten nach oben erneuert wird. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf versuchen wir, zu erreichen, dass bei Gefahr im Verzug der Deutsche Bundestag als Ganzes oder ein Ausschuss darüber befindet, dass der Katastrophenfall, der Einschränkungsfall vorliegt und ob den Maßnahmen des BMI, des Bundeswahlleiters zugestimmt werden kann, sodass sie demokratisch legitimiert sind.
Wir beschränken uns auf das mildestmögliche Mittel des Eingriffes, um flexibel reagieren zu können, und das nicht für das ganze Land, sondern regional differenziert. Dabei öffnen wir eine Tür, und das hat uns allen ein Stück weit digital einen Booster verschafft, indem wir plötzlich, vielleicht notgedrungen, aber gerne, miteinander über andere Medien kommunizieren. Auch das soll ein Stück weit möglich sein.
Nur eins können wir nach dem Grundgesetz nicht ersetzen: Gemäß Artikel 38 Grundgesetz sind Wahlen in diesem Land allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Das muss immer möglich sein, und zwar indem tatsächlich jemand ein Kreuz auf einem Zettel macht, entweder bei einer Briefwahl oder bei einer Veranstaltung. Bis dahin soll alles möglichst so organisiert sein, dass Kandidaten aufgestellt werden können, auch wenn Versammlungen nicht stattfinden können. Das ist entscheidend. Es wäre schön gewesen, wenn es darüber Konsens gegeben hätte.
Noch ein Gedanke. Sie werden oft das Argument hören, dass eine Verordnungsermächtigung uns das Heft des Handelns aus der Hand nimmt. Das Gegenteil ist der Fall: Dieses Gesetz sorgt im Wege einer Verordnung dafür, dass regional unterschiedlich organisiert werden kann. Das ist unser Wille. Das enthebt die Parteien auch nicht ihrer Selbstorganisation. Wir werden gestärkt in der Frage, und wir werden mit unseren Satzungen in der Lage sein, auf eine solche Herausforderung zu reagieren.
Da verstehe einer Änderungsanträge wie zum Beispiel den der Grünen! Es wird der Eindruck erweckt, es wäre ein Ermächtigungsgesetz; was es definitiv nicht ist.
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Der eigentliche Auftrag des Bundeswahlleiters hingegen wird überhaupt nicht geändert, im Gegenteil: Weitere Rechte werden an den Bundeswahlleiter, der nur eine untergeordnete Behörde des Innenministeriums ist, delegiert. Ich weiß nicht, warum, aber dieser Änderungsantrag geht in seinen Forderungen weiter als das, was das Parlament beschließen sollte und müsste.
Die Regelungen zu Fristen, die wir bedingt durch die Covid-19-Pandemie für Vereine und Verbände festgelegt haben, müssen auf die Parteien erweitert werden.
So sind wir in der Lage, das, was uns stark macht, auch im Augenblick, im Falle einer Herausforderung, im Falle einer Bedrohung wirklich umzusetzen und unsere Legitimation weiterhin von den Bürgerinnen und Bürgern zu erhalten. Deshalb bitten wir um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Frieser, würden Sie auf dem Weg vom Rednerpult zu Ihrem Sitzplatz bitte die Maske tragen? – Jetzt dürfen Sie sie wieder ablegen.
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Das Wort hat der Kollege Jochen Haug, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen haben uns die Koalitionsfraktionen einen völlig missglückten Gesetzentwurf zur ersten Lesung vorgelegt. Dieser sah vor, dass durch Rechtsverordnung Regelungen getroffen werden können, die von einem bedeutsamen Prinzip unseres Wahlrechts abweichen, nämlich dem Prinzip, dass Kandidaten zur Bundestagswahl in Versammlungen bestimmt werden müssen. Der Entwurf ist den Koalitionsfraktionen hier völlig zu Recht um die Ohren gehauen worden. Er verstieß evident gegen rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien. Das scheint selbst Ihnen zu denken gegeben zu haben; denn Sie haben im Ausschuss einen Änderungsantrag zu Ihrem eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der von der Ursprungsfassung erheblich abweicht. So weit, so gut, könnte man meinen.
Weit gefehlt! Auch der Änderungsantrag wird verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Sie bleiben trotz aller Kritik dabei, dem Bundesinnenministerium durch Verordnungsermächtigung die Herrschaft über eine Neuregelung des Rechts der Kandidatenaufstellung zu überlassen. Zwar ist nunmehr eine Mitwirkung des Bundestages in Form einer Zustimmung vorgesehen – Herr Frieser hatte es gerade angesprochen –; diese wiederum soll aber in bestimmten Situationen entfallen. Dann soll der Wahlprüfungsausschuss über die Zustimmung entscheiden.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie scheinen sich im Zuge der Coronakrise an die Gesetzgebung durch ministerielle Notverordnungen zu gewöhnen.
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Deshalb sei Ihnen an dieser Stelle noch einmal ins Stammbuch geschrieben: Das Wahlrecht ist kein Feld, das der Rechtsschöpfung durch die Exekutive überlassen werden darf. Neuregelungen müssen vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst vorgenommen werden.
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– Eine Verordnungsermächtigung; das ist Ihnen hoffentlich klar. – Bereits deshalb scheidet eine Zustimmung zu Ihrem Gesetzentwurf selbstverständlich aus.
Entscheidend ist hier allerdings noch ein weiterer grundlegender Aspekt, auf den wir in unserem Gegenantrag eingehen. Das Prinzip der Präsenz gehört zum Kernbestand demokratischer Spielregeln. Für die Demokratie ist der Austausch der Argumente und Meinungen unter Anwesenden fundamental.
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Keinesfalls darf dieses wichtige Element demokratischer Willensbildung unter Hinweis auf Corona leichtfertig geopfert werden. Über eines sind wir uns alle doch hoffentlich im Klaren: Das Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit Covid-19, wie wir es bis jetzt beobachten, rechtfertigt eine Abkehr vom Präsenzprinzip jedenfalls nicht.
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Stattdessen sollte sich der Gesetzgeber primär Gedanken darüber machen, wie die Durchführung von Versammlungen auch unter schwierigen Bedingungen ermöglicht werden kann. Dies entspricht auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, von dem Sie im Übrigen selbst in Ihrem Änderungsantrag sprechen. Hierfür ist ein wichtiger Schritt, dass den Parteien, und zwar allen Parteien, für ihre Versammlungen ausreichend große Hallen zur Verfügung gestellt werden – ausreichend groß, um Mindestabstände einhalten zu können.
Wir fordern in unserem Antrag, dass ein dahin gehender Rechtsanspruch geschaffen wird. Zu denken ist hierbei natürlich zunächst an die Heranziehung von Räumlichkeiten, die sich in öffentlicher Hand befinden. Darüber hinaus muss als Ultima Ratio aber auch ein Kontrahierungszwang für Betreiber privater Hallen in Betracht kommen. Dies ist im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie auch gerechtfertigt. Bemerkenswerterweise haben nun die Grünen diesen Gedanken von uns komplett übernommen, und zwar in ihrem Änderungsantrag, der gerade angesprochen worden ist. Dies verbinde ich mit einem Aufruf an die Koalitionsfraktionen, sich ebenfalls in unsere Richtung zu bewegen. Das wäre ein wahrer Dienst an der Demokratie.
Danke.
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Jetzt erhält das Wort der Kollege Mahmut Özdemir, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entscheidungen im persönlichen Bereich sachlich zu treffen, ist schon schwierig. Aber sind eine Vielzahl von Personen aufgerufen, wie hier im Deutschen Bundestag oder in Parteien, gemeinsam zu beraten und zu entscheiden, dann müssen geeignete Verfahren gefunden werden, die das Mitwirken aller sichern. Herr Haug, bei allem Diskurs, ich glaube auch, dass es nicht stets darauf ankommt, überhaupt diese Möglichkeit unter Anwesenden zu haben oder einen Kontrahierungszwang, sondern es kommt auch ein Stück weit darauf an, dass die Menschen, die aufgerufen sind, sich an Versammlungen zu beteiligen, sich auch wohlfühlen, wenn sie dahin kommen. Wenn ich mir angucke, dass diverse Parteitage jetzt gerade abgesagt worden sind, weil Mitglieder gesagt haben: „Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, bei diesem Infektionsgeschehen mit mehreren Hundert Leuten trotz Lüftung, trotz allem in einem Raum anwesend zu sein“, dann muss man auch auf diese Parteimitglieder ein Stück weit Rücksicht nehmen, wie ich finde.
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Sogar als Bundestag haben wir althergebrachte Grundsätze infrage gestellt bzw. haben sie verändert und angepasst, etwa unsere Abstimmungen, beispielsweise namentliche Abstimmungen, und haben die Entscheidung darüber, dass eine Entscheidung überhaupt getroffen wird, auch ein Stück weit über das Verfahren gestellt.
Seit Sommer werden in den Parteien Kandidaten zur Bundestagswahl im September gekürt. Ortsverbände haben teilweise Delegierte gewählt, oder Mitgliederversammlungen wurden abgehalten, oder Vertreterversammlungen werden gerade anberaumt. Um Abstände einzuhalten und um das „Atmen“ mehrerer Hundert Leute in einem Saal zu verhindern, wurden kreative Lösungen ersonnen, zum Beispiel Stadien zu nutzen, Zelte; Freiluftveranstaltungen wurden durchgeführt. Aber so langsam kommt der Winter, und, ich glaube, keiner von uns möchte in einem Stadion eine Versammlung oder eine Vertreterversammlung abhalten. Auch gerade deshalb ist dieser Notfallmechanismus im Gesetz richtig und notwendig.
Bei einer berechenbaren Anzahl von Personen geht das auch noch. Aber es gibt ja auch Parteien, denen wir ermöglichen müssen, dass sie Mitgliederversammlungen anberaumen. Da kommt es zu einer nicht vorhersagbaren Anzahl von Menschen, die sich in einer Versammlung zusammenfinden, und gerade für diesen Fall müssen wir die Vorsorge treffen.
Wir folgen hier wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei gewissen Infektionszahlen oder Inzidenzwerten bzw. einem gewissen Infektionsgeschehen gibt es auch die Möglichkeit, dass wir solche Ansammlungen zumindest infrage stellen bzw. dass die Kommunen und die Länder eigene Regeln haben. Gerade deshalb gilt auch hier, dass wir eine bundeseinheitliche Regelung gerade für unsere demokratische Geschäftsgrundlage zu schaffen haben.
Gleichwohl müssen wir es den Parteien ermöglichen, sich angemessen auf die Bundestagswahl vorzubereiten. Ich denke, eines ist in diesem Haus unumstritten und müsste unumstritten sein: Die Bundestagswahl im September 2021 wird stattfinden. Sie muss stattfinden. Herr Kollege Frieser hat es gerade angedeutet: Wir alle haben nur eine Bevollmächtigung, eine Legitimation auf Zeit. Gerade das höchste Gut der Demokratie, diese Legitimation auf Zeit, muss auch in Ausnahmesituationen unumstößlich sein.
Wenn Parteien keine Versammlungen durchführen können, dann brauchen wir schnelle und sichere Lösungen. Am Ende geht es darum, allen Parteien die Teilnahme an der Bundestagswahl chancengleich zu ermöglichen und das Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen, dass unsere Bevollmächtigung auf Zeit stets erneuert wird, auch in den Parteien, auch bei den Kandidatinnen und Kandidaten, die sich gegenüber ihrer Partei zu rechtfertigen haben. Diese Zeit darf nicht überschritten werden.
Wie lösen wir das Ganze? Wir lösen das durch ein schnelles, technisches, detailreiches Eingreifen, durch eine Verordnungsermächtigung im Bundeswahlgesetz. Die gesamte demokratische Absicherung obliegt hier dem Deutschen Bundestag. Wir ordnen die Parteien mit dem Maßnahmengesetz zur Coronapandemie auch in ein Regelungssystem gegenüber Vereinen, Gesellschaften, Genossenschaften ein, sodass auch hier Mitgliedsrechte teilweise digital, aber auch unter Abwesenden wahrgenommen werden können.
Parteien wird in solchen Ausnahmesituationen schließlich eben erlaubt, vom Regelfall – der Regelfall ist eben, unter körperlich Anwesenden zu streiten, zu beraten, zu entscheiden – abzuweichen, und zwar auch dann, wenn das eigene Satzungsrecht entgegensteht; denn es wäre widersinnig, wenn wir ein Gesetz schaffen und eine Partei sich erst zusammenfinden müsste, ihre Satzung zu ändern, um dann das zu ermöglichen, was wir ins Gesetz schreiben. Gerade das würde einem Notfallmechanismus auch widersprechen, und ohne eine solche Regelung gäbe es nicht rechtzeitig die Möglichkeit, dass Parteien Bewerberinnen und Bewerber zur Bundestagswahl aufstellen können.
Im Einzelnen. Der Bundestag wird, muss und nur der Bundestag darf eine solche Lage höherer Gewalt feststellen. Das ist die erste Hürde. Erst dann wird nach der Verordnungsermächtigung eine Verordnung mit Detailregelungen vom Bundesinnenministerium ins Werk gesetzt.
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Schließlich sind wir hier der Souverän. Ohne unsere Zustimmung wird eine solche Verordnung am Ende des Tages auch nicht in Kraft gesetzt bzw. kann eine solche Verordnung nicht genutzt werden. Wir sind hier die letzte Instanz, die sich die Verordnung anguckt und fragt: Ist sie in Ordnung, oder ist sie nicht in Ordnung? Dann machen wir das Häkchen dran oder eben auch nicht.
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Ich denke, mehr Sicherheitsvorkehrungen demokratischer Natur einschließlich einer zusätzlichen Befristung gehen in dieser Hinsicht nicht. Das ist schon das höchste Maß.
Gerade wurde hier kritisiert, dass das Gesetz durch einen Änderungsantrag von uns als Regierungsfraktionen verändert worden ist. Ich frage mich: Wieso sollen wir ein Gesetz nicht verbessern? Das ist hier unser Auftrag. Das ist auch der Grund, warum wir hier als Parlamentarierinnen und Parlamentarier zusammenkommen. Ich wundere mich über das Verständnis von Parlamentarismus von einigen Fraktionen hier; aber überraschen tut es mich an dieser Stelle nicht.
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Schlussabstimmungen und Entscheidungen bzw. Beschlussfassungen über die Satzungen sind hiervon ausgenommen. Dafür gibt es spezielle Regelungen, die den Wahlgrundsätzen, die wir aus Artikel 38 Grundgesetz kennen, analog genügen müssen.
Wir ermöglichen mit diesem Gesetz – von Teilversammlungen an verschiedenen Orten über Schlussabstimmungen per Brief- und Urnenwahl bis hin zur Anwendung von elektronischen Instrumenten und elektronischer Kommunikation –, Entscheidungen zu treffen – ein Notfallmechanismus, der richtig und wichtig ist.
Kurzum: Das ist eine Notfallregelung, mit der wir unsere Parteiendemokratie befähigen, in jeder Lage höherer Gewalt, bei einer pandemischen Auswirkung chancengleich Bewerberinnen und Bewerber in eine Wahlkampfauseinandersetzung zu schicken. Das ist gut. Ich hoffe inständig, dass trotz der nervenaufreibenden Verhandlungen, der langwierigen Diskussionen, der vielen Gutachten und Anhörungen von dieser Regelung nicht Gebrauch gemacht werden muss. Das ist die Hoffnung, die ich damit verbinde, wenn ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf bitte.
Ich danke dem Präsidenten für die acht Sekunden on top.
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Nächster Redner ist Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Frieser, Sie haben es eingangs erwähnt: Die Covid-19-Pandemie stellt auch uns als Gesetzgeber vor besondere Herausforderungen. Die Lage überträgt uns eine besondere Verantwortung, gerade auch im Hinblick auf die Organisation der Bundestagswahlen in einem Jahr. Ich habe bereits gestern Abend das Gefühl gehabt, dass große Teile dieses Hauses sich dieser Verantwortung nur bedingt bewusst sind, wie die Diskussionen um das Wahlrecht gestern Abend gezeigt haben.
Heute diskutieren wir das fünfundzwanzigste Wahlrechtsänderungsgesetz und darin eine Regelung, mit der Abweichungen von Aufstellungsverfahren, wie sie bisher vorgesehen sind, für die Parteien möglich gemacht werden, und zwar im Wege einer Verordnung, die das Bundesinnenministerium erlässt. Es ist nicht der Gesetzgeber, der unmittelbar selbst handelt,
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sondern wir übertragen die Regelung von Abweichungen im Wahlverfahren an das Bundesinnenministerium.
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Jetzt werden Sie sagen: aber nur mit Zustimmung des Bundestages.
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– Es entscheidet der Bundestag über das, was ihm das Bundesministerium des Innern als Verordnungsentwurf vorlegt.
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Das ist ein ganz großer Unterschied. Da verkennen Sie die Bedeutung des Handelns des Gesetzgebers
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für das Wahlrecht selber oder die Übertragung solchen Handelns auf die Regierung, die Exekutive, als Verordnungsgeber.
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Wer das als gleichwertig darstellt,
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hat einige Grundprinzipien der Demokratie und des Wahlrechtes offensichtlich nicht richtig begriffen, meine Damen und Herren.
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Sie werden sagen: Hier wird eine Ausnahmeregelung geschaffen, und wir hoffen darauf, dass wir von ihr keinen Gebrauch machen müssen. – Da stimme ich Ihnen zu. Aber so einen Ausnahmecharakter hat diese Regelung nun doch nicht, dass sie alleine auf die Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie beschränkt wäre, sondern sie ist eine generelle Ausnahmeregelung für den Fall höherer Gewalt, von Naturkatastrophen oder Ähnlichem.
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Sie beschränken sie nicht auf den konkreten Anlass und die konkrete Herausforderung, sondern Sie erschaffen sich eine stets im Wahlrecht verbleibende, ich sage jetzt mal: Abweichmöglichkeit. Sie perpetuieren damit die Ausnahmeregelung; Sie machen also einen Fall des sogenannten normalen Ausnahmezustandes. Auch das können wir so nicht hinnehmen.
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Es wäre unsere Aufgabe, konkret auf die Herausforderungen einer Pandemie zu reagieren und dafür die Gesetze anzupassen. Die Schaffung einer generellen Abweichnorm wird dem ebenfalls nicht gerecht.
Es wird Sie deswegen nicht verwundern, dass meine Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen wird.
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Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Die Krise ist die Stunde der Exekutive.“ Hand hoch, wer diesen Satz nicht mehr hören kann! Er wurde in den vergangenen Monaten inflationär gesagt. Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, das Mantra der Regierungsdominanz ist wichtig und notwendig. Denn es stimmt: Die Regierung reißt in dieser Krise Kompetenzen in einer Art und Weise an sich, die unserer parlamentarischen Demokratie nicht gut zu Gesicht stehen, ja ihr sogar schaden können.
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Ich möchte damit nicht sagen, dass Rechtsverordnungen per se abzulehnen sind. Gerade in der Coronakrise haben wir es mit dynamischen Situationen zu tun, die entschlossenes Handeln erfordern. Das hier vorliegende Gesetz zur Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl ist aber ganz sicher kein solcher Fall. Es gibt schlicht und ergreifend keinerlei Gründe dafür, dass wir als Parlament Ihnen eine Verordnungsermächtigung erteilen, mit der Horst Seehofer die Regelungen zur Kandidatenaufstellung ins persönliche Belieben gelegt werden.
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Denn es ist keineswegs so, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf schreiben, dass eine Rechtsverordnung erst erlassen werden kann, wenn eine entsprechende Notlage bereits eingetreten ist, in der der Bundestag nicht mehr rechtzeitig zusammentreten könnte. Wir können auch jetzt schon darüber entscheiden, welche Möglichkeiten wir den Parteien eröffnen. Ob diese dann in einer Notlage umgesetzt werden, könnte beispielsweise der Bundeswahlleiter entscheiden, wie es der Antrag der Grünen zu Recht vorsieht.
Unsere Verfassung berechtigt den Bundestag, bestimmte Bereiche per Rechtsverordnungen durch die Bundesregierung regeln zu lassen. Für eine solche Verordnungsermächtigung setzt uns aber Artikel 80 des Grundgesetzes Grenzen, und zwar müssen deren „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ klar definiert sein. Genau diesem Bestimmtheitsgrundsatz widerspricht der vorgelegte Gesetzentwurf der Regierung eindeutig.
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Mit einer offenen Aufzählung beschreiben Sie zwar, wie die Regelungen aussehen könnten; aber ein Konjunktiv ist keine Verbform, die eine Gesetzesgrundlage bildet. Sie müssten hier klare Rahmenbedingungen schaffen. Das versäumen Sie sträflich.
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Auch ist nicht klar geregelt, in welchen Fällen die Verordnung erlassen werden kann und in welchen nicht. Auch das hätte klar formuliert werden müssen und darf nicht im Ungefähren bleiben, besonders dann nicht, wenn Sie die Möglichkeiten der Anwendung weiter fassen, als es die Überschrift suggeriert. Während es in der Überschrift heißt, es gehe um die Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Pandemie, ist der Wortlaut in Artikel 1 Nummer 3 plötzlich – Anführungszeichen –: „im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses höherer Gewalt“. Liebe Koalition, mit solchen Unschärfen geben Sie den Verschwörungsideologen völlig ohne Not Futter. Das ist fahrlässig.
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Das Sinnvollste an Ihrem Gesetzentwurf ist noch, dass Sie die alte durch die neue Rechtschreibung ersetzen. Dass das Innenministerium Gestaltungshoheit in parteiinternen Verfahren erhalten soll, ist ein grober Fehler und nicht hinnehmbar. Ganz besonders bei Ihrer unsauberen Arbeitsweise und dem Hang, mit heißer Nadel zu stricken, ist es absolut geboten, dass wir die parlamentarischen Abläufe mit erster Lesung, Behandlung im Ausschuss, Anhörung und abschließender Beratung einhalten, noch dazu, wenn so empfindliche Bereiche unserer demokratischen Willensbildung betroffen sind.
Die Grünen – ich komme zum Schlusssatz – haben das in ihrem Änderungsantrag wesentlich besser berücksichtigt, weshalb wir diesem zustimmen und den Gesetzentwurf der Regierung ablehnen werden.
Vielen Dank.
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Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Absicht, in Coronakrisenzeiten für Aufstellungsversammlungen, die nicht stattfinden können, Regelungen zu schaffen, ist ein drängendes Anliegen aller Parteien, auch unserer Partei. Deshalb fand ich es sehr richtig, dass sich die Generalsekretärinnen und Generalsekretäre der demokratischen Parteien zusammengesetzt und überlegt haben: Wie kann das eigentlich gehen? Unter welchen Voraussetzungen können Menschen überhaupt zusammenkommen, um Aufstellungsversammlungen durchzuführen? Wie kann man Parteitage organisieren? Ich hatte es auch so verstanden, dass ein Anliegen war: Wie kann man auch notwendige Schritte zur Modernisierung, die in vielen Parteien diskutiert werden, in einem Gesetz verankern? Davon ist jetzt nicht mehr die Rede.
Womit sind wir hier konfrontiert, meine Damen und Herren? Der Gesetzentwurf von Union und SPD ist ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen darf. Im Entwurf, der dem Parlament vorliegt, ist auch nach der ersten Lesung nicht besonders viel geändert worden. Wir haben jetzt zwar einen Änderungsantrag der Koalition, mit dem auf eine Schwäche reagiert wird. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen Gesetzentwurf und Änderungsantrag. Aber was die Notlagensituation angeht, hat mein Kollege Friedrich Straetmanns schon darauf hingewiesen: Es herrscht gar keine Klarheit darüber, ob die Notlagensituation nur für die Covid-19-Pandemie gilt oder für sämtliche Notlagen, andere Ereignisse und Naturkatastrophen. Was wollen Sie eigentlich ganz genau? Das bleibt doch der Öffentlichkeit durch diese Verwirrung völlig verborgen. Im Gesetz steht: für Covid-19, Naturkatastrophen und ähnliche Ereignisse. Hier wird ein viel zu breites Fenster geöffnet: Wir reden nicht nur über die Covid-Pandemie, sondern über das große Universum. Und das halten wir für falsch, meine Damen und Herren.
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Sie lassen diese Verordnungsermächtigung im Gesetzentwurf. Sie ist völlig unbestimmt. Sie lässt Abweichungen von allen Bestimmungen über die Aufstellung von Wahlbewerbern zu. Das können dem Wortlaut nach das Bundeswahlgesetz, das Parteiengesetz, das Satzungsrecht der Parteien sein. Es wird alles über die Verordnungsermächtigung geregelt. Es ist gerade nicht so, wie es Herr Özdemir der Öffentlichkeit zu erklären versucht hat. Natürlich hat dann irgendwann nicht nur der Wahlprüfungsausschuss, sondern auch der Bundestag noch ein Mitspracherecht. Aber über die Verordnungsermächtigung ermöglichen Sie dem Bundesinnenministerium, in der ganzen Breite zu handeln. Und das ist völlig falsch, meine Damen und Herren.
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Was ist das denn für ein Politikverständnis? Das Parlament hat an dieser Stelle zu entscheiden.
Dem Gesetzentwurf fehlt es an Bestimmtheit. Die Befugnisse und die Reichweite der Verordnungsermächtigung sind viel zu weitgehend. Deshalb lehnen wir ihn ab. Schade, dass Sie nicht in der Lage waren, sich mit uns auf etwas zu verständigen.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist Philipp Amthor, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade angesichts der Kritik an diesem Gesetzentwurf, die wir gehört haben, sollten wir vielleicht noch einmal den Ausgangspunkt festhalten: Wir sind in einer Sondersituation und machen mit dem wahlrechtsbezogenen Teil des Artikelgesetzes etwas, was der Gesetzgeber sonst selten tut. Wir schaffen nämlich eine Regelung, die wir eigentlich gar nicht anwenden wollen. Es ist eine Regelung für den absoluten Krisenfall, falls wir es nicht anders lösen können, unser Wahlrecht pandemiekonform auszugestalten.
Am Ende dieser Debatte und am letzten Sitzungstag dieser Sitzungswoche sage ich in diesem Zusammenhang: Ich glaube, wir alle fahren heute in unsere Wahlkreise ein Stück weit mit Sorge zurück wegen der Lage, die wir hier in Berlin erleben. Wir alle wollen einen zweiten Lockdown vermeiden;
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wir wollen eine solche Regelung überhaupt nicht bekommen. Aber das, was wir in Berlin erleben, ist ein Kontrollverlust dieses rot-rot-grünen Pannensenats.
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Es ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit, und das zwingt uns dazu, über solche Regelungsmechanismen überhaupt nachzudenken.
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Also: Es geht für uns darum, eine Regelung zu finden, die wir eigentlich nicht anwenden wollen. Wir haben ein Artikelgesetz mit zwei Regelungsteilen vorliegen – ein Teil zum Wahlrecht, ein Teil zum Parteienrecht –, und die unterscheiden sich.
Ich will zum Wahlrecht an das anknüpfen, was der Kollege Frieser gesagt hat. Die Unterstellungen, die wir hier von der Opposition gehört haben, die Kritik an unserem Gesetzentwurf, können so nicht stehen bleiben. Frau Haßelmann, es ist eben nicht so, dass wir die Entscheidungsbefugnis aus dem Parlament wegdelegieren. Wir haben einen Vorbehalt des Wahlprüfungsausschusses. Wir können das auch im Plenum entscheiden. Das BMI ist Freund und Helfer, aber die Entscheidungen treffen wir hier im Parlament. Das sollte an dieser Stelle noch einmal klar sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die AfD nimmt gleich einen ganz großen Schluck aus der Pulle; sie sagt, dies sei ein verfassungswidriges Gesetz. Das ist ja auch klar: Wenn es zum Schutz vor Corona rechtliche Regelungen gibt, müssen Sie als vertrauensbildende Maßnahme für Ihre Verschwörungstheoriefreunde natürlich alles verfassungswidrig finden. Ich sage Ihnen: Die Verfassung verbietet uns nicht, dass wir Vorsorge für die Pandemie treffen. Sie zwingt uns sogar dazu durch die Schutzpflicht gegenüber den Menschen. Und dieser Verantwortung werden wir gerecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber, wie gesagt, die wahlrechtliche Regelung wollen wir möglichst gar nicht in Anspruch nehmen. Was wir aber schon in Anspruch nehmen wollen, ist die Neuregelung für das Parteienrecht. Schon mit den ersten Anpassungsgesetzen in der Coronapandemie haben wir für die Vereine rechtliche Möglichkeiten geschaffen. Die Parteien unterfallen diesem Rechtsstatus; aber es bestand einige Unklarheit, ob diese Regelungen auf die Parteien anwendbar sind. Dass wir uns jetzt darauf einigen konnten, dies klarzustellen, finde ich richtig. Und ich sage ausdrücklich noch einmal Danke an die Runde der Generalsekretärinnen und Generalsekretäre der Parteien, die diese Digitalisierungsmöglichkeiten eingefordert haben. Das muss uns Ansporn sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es muss darum gehen, dass wir ganz klar sagen: Wir wollen aus der Not von Corona die Tugend der Digitalisierung machen. Deshalb ist es auch wichtig, Frau Kollegin Haßelmann, dass wir darauf eingehen, was Sie gesagt haben. Ich finde, wir sollten weitergehend diskutieren. Wir haben noch nicht alle Digitalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit dem Bundesinnenministerium und auch partei- und fraktionsübergreifend noch einmal über die Fragen reden: Wie können wir die Erfahrungen nutzen? Wie können wir die Parteiarbeit weiter digitalisieren? – Hier werden wir uns jedenfalls an die Spitze der Bewegung stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist so, dass wir hier in einem Spannungsfeld unterwegs sind. Einerseits wollen wir digitale Parteitage, andererseits müssen wir für die Parteien die hohen Hürden einhalten, die uns aufgegeben sind, etwa durch die Wahlcomputerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dazu muss man sagen: Heute setzt niemand mehr Wahlcomputer aus dem Jahre 2005 ein. Es gibt neue Chancen, neue Möglichkeiten. Darüber wollen wir reden; das wollen wir nutzen. Aber ich sage Ihnen: Das, was die CDU/CSU ausmacht, sich an die Spitze zu stellen – die CDU mit dem ersten Onlineparteitag in unserem Land, die CSU jetzt mit modernen Digitalformaten, die CDU jetzt mit einem, wenn verantwortbaren, Präsenzparteitag und die Junge Union Deutschlands mit einem digitalen Deutschlandtag –, ist State of the Art für digitale Parteiarbeit. Das wollen wir nutzen, und dafür werden wir arbeiten. Ich werbe um Zustimmung für unseren Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Het was een hel“, es war die Hölle, so beschrieb unsere niederländische Großmutter den niederländischen Hungerwinter 1944. Menschen aßen Tulpenzwiebeln, um zu überleben. Zehntausende schafften es nicht; sie verhungerten. Mit dem Entzug von Lebensmitteln bestraften Nationalsozialisten die Niederländer, weil sie streikten. Aber wer weiß das noch? Das Vergessen droht, und deshalb wollen wir als Große Koalition ein Dokumentations- und Bildungszentrum Zweiter Weltkrieg.
Jetzt werden manche wieder mit den Augen rollen: Zweiter Weltkrieg, nicht schon wieder. Muss das wirklich sein? Das haben wir doch in der Schule rauf- und runtergebetet. – Ja, aber das Vergessen droht trotzdem. Am Volkstrauertag stehen nur noch kleine Gruppen vor den Kriegsdenkmälern, und die Zeitzeugen sterben. Deshalb brauchen wir ein Dokumentations- und Bildungszentrum Zweiter Weltkrieg. Wir brauchen es, um zu lernen und nicht zu vergessen.
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Wie wertvoll Zeitdokumente sind, zeigt uns das Tagebuch der Anne Frank. Wer kennt es nicht? Wer hat nicht Anteil genommen an ihrem Schicksal, an ihrer ersten Liebe, an ihrer Sehnsucht nach Luft, nach Lachen, an ihrem frühen, sinnlosen Tod? Anne Frank hat ein einmaliges Zeitzeugnis geschrieben. Ihr Tagebuch ist ein erschütterndes Symbol für den Genozid an den Jüdinnen und Juden in Europa. Ihre Geschichte wirkt bis heute, so wie auch die Folgen der Shoah bis heute wirken. Es ist auch eine Geschichte für heute. Oder, um es mit Primo Levi zu sagen, einem der Überlebenden von Auschwitz: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Mit dem Tagebuch erhält das Schicksal von Millionen Menschen nicht nur eine Stimme, sondern auch ein Gesicht. Nur so lässt sich den Millionen Namenlosen, den gewaltsam ausgelöschten Jüdinnen und Juden wieder ein Gesicht geben. Nur so werden aus „Niemanden“ wieder „Jemande“.
Der Zweite Weltkrieg steht darüber hinaus für unzählige weitere namenlose Opfer. Über 60 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Sie wurden Opfer eines brutalen Vernichtungskrieges und einer rassistischen Lebensraumideologie.
Mit Beginn der deutschen Besatzung im September 1939 wurde Polen zum ideologischen Experimentierfeld. Die polnische Bevölkerung hat unvorstellbar gelitten. Hunderte von Dörfern standen in Flammen. Vergewaltigungen, öffentliche Hinrichtungen und Plünderungen waren brutaler Alltag im nationalsozialistischen Terror. Polen wurde zum „Wartezimmer für den Völkermord“.
Aber ist uns das heute noch bewusst? Wissen wir, dass der deutsche Vernichtungskrieg Zerstörung, Verwüstung, Elend auch über weitere Länder brachte, auch über Osteuropa, über die Sowjetunion, über die Bevölkerung des heutigen Belarus und der Ukraine? Ist uns das Ausmaß heute noch bewusst? Die Ukraine verlor im Zweiten Weltkrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. An 1 500 Orten wurden Opfer hingerichtet und dann anonym vor Ort verscharrt. Wissen wir das heute noch?
Wie lange werden wir uns noch an die deutsche Hungerstrategie in Griechenland erinnern? Der barbarische Entzug von Lebensmitteln kostete bis zu 360 000 Griechinnen und Griechen das Leben.
Meine Damen und Herren, Millionen Soldaten starben. Sie wurden auf den Schlachtfeldern zu Kanonenfutter. Stellvertretend nenne ich Stalingrad. Sechs Monate wütete diese unfassbare Menschen- und Materialschlacht. Bei eisigen Temperaturen fanden Hunderttausende Menschen einen sinnlosen Tod, auf beiden Seiten. Die Opferzahlen werden viele von uns noch kennen, aber die konkreten Umstände, die für das einzelne Individuum, das Opfer den Unterschied ausmachten zwischen Krepieren und Sterben?
Bombenangriffe, Deportationen, Hunger, Misshandlungen, Vertreibung, Zwangsarbeit – der Zweite Weltkrieg hat tiefste Spuren hinterlassen, familiär, politisch, landschaftlich, Spuren, die auch noch ein Dreivierteljahrhundert später sichtbar sind. Aber versteht sie noch jeder von uns?
Deshalb wollen wir in der Großen Koalition und als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Dokumentations- und Bildungszentrum Zweiter Weltkrieg. Das Konzept soll von einer Arbeitsgruppe von Fachleuten erarbeitet werden, ohne politische Beteiligung. Welche Herausforderung dies darstellt, haben die letzten sechs Monaten der Antragserarbeitung gezeigt. Es gab Versuche der Einflussnahme durch sehr unterschiedliche Kräfte.
Wir wollen Geschichten und Geschichte verstehen, die Geschichten der Opfer, aber auch die der Menschen, die zu Tätern wurden. Was veranlasste einen bis dahin vollkommen normalen Bürger, eine Pistole zu entsichern und einen Juden oder einen Balten in der freien Landschaft zu exekutieren oder aber zu entscheiden, andere Menschen auszuhungern? Welche Lehren ziehen wir daraus? Die Geschichte zeigt: Menschen tragen beides in sich, Täter und Opfer. Es ist eine Entscheidung, ob wir Täter werden. Es ist unsere Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, wie wir Gegenwart und Zukunft gestalten. Aber dafür müssen wir die Strukturen kennen. Dieses Wissen bietet uns die Möglichkeit, eine Haltung einzunehmen und danach zu handeln: Nie wieder!
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die finstere Zeit des Nationalsozialismus wirft einmal mehr ihre Schatten in unsere Gegenwart und in dieses Hohe Haus. Die Regierungskoalition will eine Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte errichten, die der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft gewidmet sein soll. Die AfD-Fraktion wird sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten, und ich will hier erklären, warum.
Mit Nein können und wollen wir nicht stimmen, weil wir genauso wie alle anderen in diesem Saal das Offenkundige sehen und anerkennen: dass in dem von den Nationalsozialisten entfesselten totalen Krieg schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit im deutschen Namen begangen worden sind. Viele Millionen Menschen in ganz Europa fielen, aus unterschiedlichen Verfolgungsgründen, einer menschenverachtenden Ideologie zum Opfer. Ihnen allen gebührt ehrendes und trauerndes Gedenken. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Ereignisse, die immer Teil der deutschen Geschichte bleiben werden – ob uns das gefällt oder nicht –, ist weiterhin notwendig. Historisch korrekte Aufklärung darüber ist wichtig.
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Dennoch können wir dieser neuen Erinnerungsstätte neben den vielen bereits bestehenden auch nicht zustimmen. Das hat zunächst mit einem Unbehagen zu tun, das aus den Untertönen dieses Antrags aufsteigt. Die minutiöse Aufzählung der deutschen Untaten mit den vielen Superlativen und Horrorbegriffen, von der „Monstrosität der NS-Verbrechen“ über den „Vernichtungskrieg“ bis hin zu der deutschen „Tätergesellschaft“ im Dritten Reich, lassen an ein Wort des Philosophen Hermann Lübbe denken, der vom „Sündenstolz“ der Deutschen sprach. Zitat:
Den Holocaust
– oder jetzt eben: den Vernichtungskrieg –
macht uns keiner nach! Er ist unser Alleinstellungsmerkmal, das wir mit niemand teilen wollen!
Doch mit Sündenstolz, der bis zum Selbsthass reicht, wäscht man sich nicht von den historischen Sünden rein, sosehr man sich auch durch hypermoralisches Büßertum vor Gott oder der Geschichte selbst zu rechtfertigen trachtet, werte Kollegen.
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Und wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie vielleicht auf den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder, der wie ein Seismograf das moralisch Unreine dieser Erinnerungspolitik ortete, sogar vom „deutschen Erinnerungswahn“ sprach
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und feststellte, dass dieselben Leute, die einander darin überbieten, Auschwitz nachträglich verhindern zu wollen, sich tags darauf mit völlig unempathischer Israel-Kritik bis hin zum Antizionismus schadlos halten.
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Übertragen auf Ihren Antrag: Sie beklagen mit hohem Pathos den fanatischen Willen der Nazis, Polen als Nation auszulöschen, und treten zugleich mit einer unglaublichen Arroganz gegenüber dem heutigen Polen auf, dem Sie sein gutes Recht absprechen, sich gegen ungezügelte Massenmigration zur Wehr zu setzen und somit seine nationale Identität zu wahren.
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Ihre eigentlichen politischen Absichten zeigen Sie auf Seite 4 des Antrags, wo steht, bis zur 18. Legislaturperiode seien sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag einig gewesen über die angeblich „verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte“. Die AfD also hat in der 19. Legislaturperiode diesen Konsens gestört. Sie wolle angeblich Geschichtsklitterung betreiben und etwa die Bombardierung Dresdens missbrauchen, um einen – ich zitiere – „Opfermythos anzufachen“.
Werte Kollegen von den Konsensparteien – der grüne Antrag ist ja fast textidentisch mit dem Regierungsantrag, das ist an Symbolik schwer zu überbieten –, vor Kurzem haben Sie in diesem Saal unsere Forderung nach einer Gedenkstätte für die deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs mit hanebüchenen Argumenten unisono abgelehnt. Solange Sie die legitime Trauer um die eigenen Opfer als Anfachen eines Opfermythos diffamieren, ist Ihre Erinnerungspolitik in einer heillosen Schieflage, die auch noch die besten Absichten verderben muss.
Vielen Dank.
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Marianne Schieder, SPD, ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschließen heute einen echten Meilenstein für die Erinnerungskultur in unserem Land. Mit der Realisierung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte, die sich mit der Geschichte und der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft auseinandersetzt, schließt der Deutsche Bundestag endlich eine große Lücke in der deutschen Erinnerungskultur.
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Es gibt keinen Zweifel daran, dass insbesondere die Ausmaße der Verbrechen der Nationalsozialisten im Osten und Südosten Europas viel zu wenig im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert sind und wir damit den Millionen Opfern in keiner Weise gerecht wurden und werden. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, diese Lücke zu schließen. Darin heißt es:
Bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus wollen wir anerkennen und ihre Geschichte aufarbeiten. Wir stärken in der Hauptstadt das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges … im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, mit dem vorliegenden Antrag setzen wir genau das um, und ich meine, wir setzen es sehr gut um.
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Mit der geplanten Einrichtung vermitteln wir die historischen Zusammenhänge, klären auf über das geschehene Leid, geben den Nachkommen der Opfer Raum für Gedenken und Erinnerung und tragen der besonderen Betroffenheit der einzelnen Opfernationen in angemessener Weise Rechnung. Unter Einbeziehung der Expertise der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas wird eine Arbeitsgruppe aus fachlich ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen Realisierungsvorschlag erarbeiten, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Gedenkstättenkonzepts des Bundes und der Arbeit der Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Geschichtsmuseen in Deutschland.
Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.
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Dieser Satz stammt von meinem guten Freund, dem Holocaustüberlebenden Max Mannheimer, der vor vier Jahren verstorben ist. Dieser Satz, den ich schon oft zitiert habe, bringt auf den Punkt, worum es geht: Die Gräueltaten, die von Nazideutschland ausgegangen sind, die Leid, Elend und Tod in unvorstellbarem Ausmaß über die Welt gebracht haben, dürfen niemals vergessen werden.
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Es ist unsere Verantwortung, dass solche Taten niemals wieder geschehen. Wie man hier von „Erinnerungswahn“ sprechen kann, erschließt sich mir nicht
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und spricht für die absolut inakzeptable Haltung der AfD zu dieser großen Thematik.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, die Tatsache, dass Millionen von Menschen, von Polen bis Russland, in Belarus, in der Ukraine, vom Baltikum bis nach Griechenland und an vielen anderen Orten, systematisch gequält, deportiert, getötet und ermordet wurden, muss uns Deutschen immer in mahnender Erinnerung bleiben. Ihnen allen wurde unermessliches Leid angetan. Jedes Leid erfüllt uns mit Scham.
Wir geben jeder Nation den notwendigen Platz in dieser neuen Einrichtung, ermöglichen es aber auch, die einzelnen, oft national geprägten Aspekte miteinander in Verbindung zu setzen und in einer europäischen Perspektive zu vermitteln. Wir schaffen mit der Einrichtung einen Ort des Dialogs und öffnen den Raum für eine transnationale Geschichtssicht. So wirken wir einer um sich greifenden populistischen Instrumentalisierung von Geschichte entgegen; ich hoffe es jedenfalls. Im Sommer dieses Jahres hat Professor Peter Loew vom Deutschen Polen-Institut zusammen mit dem Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Uwe Neumärker, einen sehr interessanten Vorschlag veröffentlicht, wie sie sich beide eine solche Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte vorstellen können. Die Ideen sind also schon da, Ideen, die – so hoffe ich von ganzem Herzen – auch die Befürworter des Polen-Antrags überzeugen können.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, hinter uns liegt ein mehr als zweijähriger Diskussionsprozess. In dieser Zeit gab es viele Gespräche mit engagierten Männern und Frauen, ebenso mit renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in denen wir die Thematik einer gemeinsamen Erinnerungsstätte miteinander entwickeln und Anregungen austauschen konnten. Bei ihnen allen möchte ich mich heute herzlich bedanken. Ebenso gilt mein Dank den Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitikern der Union, allen voran Elisabeth Motschmann und Gitta Connemann. Ich danke aber auch den Kolleginnen und Kollegen in der Kultur-AG meiner Fraktion sowie den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, zunächst Eva Högl und Gabriela Heinrich und jetzt auch Dirk Wiese.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gemeinsame Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte ist ein Meilenstein. Diesen setzen wir aber nicht nur für uns. Wir sind es den Opfern schuldig. Wir verneigen uns damit vor den Völkern und Nationen, denen wir solch ein Leid angetan haben. Ich bitte Sie deshalb eindringlich um Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Thomas Hacker, FDP, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir stehen am Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas – eine solche Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist gegenwärtig in allen unseren Ländern … Wir können aus der Vergangenheit lernen, auch, dass der Gang der Geschichte offen ist, dass er von Menschen gestaltet wird. Der Glaube an historische Zwangsläufigkeit ist ein gefährlicher Irrtum. Er verführt zur Passivität.
Mit diesen Worten erinnerte uns der Historiker Fritz Stern im Jahr 1999 an das Wesen der Erinnerungskultur. Heute, 20 Jahre später, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im 30. Jahr der deutschen Einheit, mahnen uns diese Worte und sind aktueller denn je.
Erinnern kennt keinen Schlussstrich. Erinnern ist Teil unserer Geschichte. Erinnern ist Teil unseres Schicksals. Gerade deshalb ist dieses Erinnern ein so lebendiger wie schwieriger Prozess. Wenn wir heute die Frage stellen: „Für wen baut die deutsche Demokratie 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Gedenkorte?“, wie es der „Tagesspiegel“ vor wenigen Monaten tat, dann gibt es meiner Meinung nach darauf eine klare Antwort: Für unsere Zukunft, für die Zukunft Europas!
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Erinnern geht immer weit über Orte des Gedenkens und die Vermittlung historischer Fakten hinaus. Es darf niemals nur Selbstzweck sein nach dem Motto „Seht her, was wir machen!“; denn dann wäre unsere Kultur des Erinnerns nur ein großer Ablasshandel; das darf nicht sein.
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Erinnerung ist Verpflichtung wie Verantwortung gerade in Zeiten, die nur noch den Monolog der Schwerhörigen zu kennen scheinen. Unser kulturelles Gedächtnis bezieht sein Wissen immer auf eine gegenwärtige Situation, wie es der Kulturwissenschaftler Jan Assmann so treffend beschreibt. Wenn wir heute über einen zukünftigen Ort des Erinnerns an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges sprechen, dann müssen wir uns davon leiten lassen.
Das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist immer auch ein sehr persönliches Erinnern. Jedes einzelne Opfer, jedes Kind, jede Frau, jeder Mann, hat einen festen Platz in der Erinnerung ihrer und seiner Familie, Freunde und Mitmenschen. Jedes einzelne Leid muss nachempfunden werden, jedes verlorene Menschenleben muss erinnert werden. In unserer Erinnerungskultur tendieren wir dazu, Opfer in Gruppen zusammenzufassen, nach Religion, nach sexueller Orientierung, nach Herkunft, nach Nationalität, nach politischer Überzeugung. Ja, die Nazis fanden viele Gründe, andere Menschen einzuteilen, Begründungen, warum die, die anders sind, verjagt, verfolgt, getötet und vernichtet werden mussten. Ist es überhaupt möglich, aller zu gedenken und dabei keinen einzelnen Menschen, kein einzelnes Schicksal zu vergessen? Jede Nation, jede Opfergruppe hat das Unrecht der Nazis anders erfahren. Jede Nation arbeitet ihre eigene Verantwortung und Vergangenheit anders auf.
Ich habe zu Beginn meiner Rede schon darauf hingewiesen: Der Umgang mit unserer Erinnerung ist ein lebendiger Prozess. Während wir in Deutschland, zumindest in einem Teil davon, seit 75 Jahren an der Aufarbeitung dieses unvergleichlichen Verbrechens arbeiten konnten, ist unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa erst seit 30 Jahren eine ideologiefreie Aufarbeitung möglich. Jedes einzelne Land, jede Region geht dabei ihren eigenen Weg. Verwundert es uns denn wirklich, dass die Ukraine für sich das Recht auf ein eigenes Erinnern einfordert und nicht mit Russland als Teil der ehemaligen Sowjetunion gleichgesetzt werden will, wenn Russland heute Teile der Ukraine besetzt hält und eine Konfliktpartei im Osten des Landes ist? Und ist es nicht an der Zeit, für unser besonderes Verhältnis zu unserem Nachbarn Polen den Ort zu schaffen, um an unsere gemeinsame dramatische Vergangenheit zu erinnern und an unserer gemeinsamen Zukunft in Europa zu arbeiten? In der nächsten Sitzungswoche werden wir wahrscheinlich darüber debattieren und es hoffentlich auch beschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es uns gelingen, das Erinnern an die Opfer der nationalsozialistischen Expansion und Vernichtungspolitik zu gewährleisten, ohne dabei einzelne Länder, Regionen oder Opfergruppen in ihrem besonderen Leid, ihren Erfahrungen oder Bedürfnissen zu vergessen oder nicht ausreichend einzubeziehen? Ist es wirklich möglich, das Leid der deutschen Zeugen Jehovas im gleichen Kontext zu würdigen wie die Niederschlagung des Warschauer Aufstands mit der Zerstörung Warschaus durch die Nazis oder die jahrelange Blockade und Belagerung Leningrads, Ereignisse, die sich tief in das nationale Bewusstsein Polens und Russlands eingeprägt haben?
Der Weg, den wir heute mit der Verabschiedung des Antrags der Koalition beschreiten, will das versuchen. Wir Freien Demokraten werden diesen Weg mitgehen, weil wir wissen, dass die Lehren aus der Vergangenheit immer wieder neu gezogen werden müssen. Jede Generation muss sich aufs Neue mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam aus dem Wissen um die Vergangenheit die Zukunft Europas bauen. Schaffen wir den Raum, der die Brücke schlägt aus der Vergangenheit in die Zukunft. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass sich das Vergangene nicht wiederholt. Erinnerung und Aufarbeitung sind dabei immer verbunden mit der Begegnung und dem Dialog. Auch dafür braucht es Räume. Aber diese Räume müssen klug – man möchte sogar sagen: weise – gewählt sein. Mit diesem Bewusstsein müssen wir die Möglichkeiten zu verschiedenen Gedenkstättenkonzepten angehen und diese im jeweiligen historischen Kontext betrachten.
Ein rein nationalstaatlich geprägter Raum der Begegnung birgt die Gefahr, auszugrenzen. Ein gemeinsamer Raum schafft ein verbindendes Element, das die Chance hat, allen Opfern, gleich welcher Nationalität, gleichermaßen gerecht zu werden. Und ja, das wird ein schwieriger Prozess; denn ein solches Konzept hat natürlich seine Schwächen. Trauer und Leid sind individuelle schmerzliche Erfahrungen, die eng mit der kulturellen Identität der eigenen Herkunft, der eigenen Heimat verbunden sind. Ein ausschließlich kollektives Erinnern und Trauern gibt es nicht. Deshalb muss der zukünftige Raum trotz allem Verbindenden auch die Möglichkeit zum Einzelgedenken schaffen.
Der millionenfache Mord an Menschen jüdischen Glaubens, an Kriegsgefangenen und Zivilisten, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch Verfolgten – das ist nur ein Auszug aus dem unfassbaren Leid, das auf deutschem Boden seinen Ursprung hat. Diese historische Verantwortung ist Teil unseres Schicksals und Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland.
Trotz der tiefgreifenden Lehren unserer Vergangenheit erleben wir gegenwärtig Jahr für Jahr mehr Hass und Hetze in unserer Gesellschaft. Es ist beschämend, dass im Jahr 2020 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrem eigenen Land Angst um ihr Leben haben müssen;
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der Präsident hat zu Beginn der Sitzung an den Anschlag von Halle erinnert. Es ist beschämend, dass Ausgrenzung und das Schüren von Ängsten von den Ewiggestrigen auch in diesem Hohen Haus immer wieder auf der Tagesordnung stehen.
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Umso wichtiger wäre es gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, diesen Antrag zumindest mit der demokratischen Mitte dieses Hauses gemeinsam zu entwickeln und zu stellen. Diese Chance haben Sie leider verpasst.
Darum lassen Sie uns nun gemeinsam die Konzepte weiterentwickeln, aus der Mitte des Parlaments, aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Wir Freien Demokraten stehen dafür bereit. Denn wie Jan Assmann es treffend formulierte: „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere.“
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag ist richtig, ist ein geschichtspolitischer Meilenstein, und Die Linke wird ihm heute zustimmen.
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Es ist – daran möchte ich einmal erinnern – nicht nur das Verdienst von zwei Jahren Debatte in der Koalition, sondern vor allem auch das Verdienst von 60 Jahren geschichtspolitischer Auseinandersetzung in diesem Land. Ich möchte stellvertretend für viele vor allem Peter Jahn nennen, den ehemaligen Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst, der viele Jahre für einen solchen Antrag gekämpft hat. Ihm gilt unsere Anerkennung.
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Die Frage, über die wir hier sprechen müssen, ist: Warum das Ganze erst jetzt, im Jahre 2020? Dazu müssen wir uns natürlich einer großen Lüge der Bundesrepublik stellen, nämlich dass die Aufarbeitung des NS-Faschismus eine Erfolgsgeschichte gewesen sei. Das war sie nicht. Sie musste immer wieder hart erkämpft werden.
Ich will dafür kurz zurückblicken. Ich gehe ins Jahr 1945 und erinnere an Pfarrer Martin Niemöller und das Stuttgarter Schuldbekenntnis.
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Ich erinnere an das Jahr 1952, an Fritz Bauer, der im damaligen Remer-Prozess den Nachweis geliefert hat, dass Graf von Stauffenberg kein Landes- oder Hochverräter gewesen ist, und mit seinem Plädoyer, das mit dem Ausspruch endete: „Unrecht kennt keinen Verrat!“, für Fortschritt eingetreten ist
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und der Diffamierung Graf von Stauffenbergs ein Ende gesetzt hat. Daran müssen wir erinnern.
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Es war ebenso der große hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1963 den Auschwitz-Prozess initiierte. Es war der damalige Bundeskanzler Willy Brandt, der mit dem Kniefall am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos epochale Zeitgeschichte schrieb.
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Es war 1985 Richard von Weizsäcker, der es geschafft hat, vom „Tag der Befreiung“ zu sprechen, und das erste Mal in diesem Haus den Widerstand und auch die Opfer der Arbeiterbewegung – inklusive der kommunistischen Arbeiterbewegung – und des Widerstandes thematisiert hat.
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Dass es in dieser Frage immer wieder geschichtspolitische Auseinandersetzungen gibt, erkennt man auch an der ersten Wehrmachtsausstellung im Jahr 1995. Damals ist es allen Ernstes noch so gewesen, dass Teile der CSU mit Neonazis in München gegen diese Ausstellung demonstrierten
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und der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe den Angehörigen der Bundeswehr untersagte, diese Ausstellung zu besuchen.
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Das zeigt: Es geht immer wieder um Auseinandersetzung im geschichtspolitischen Feld.
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Erst 2002 – man muss es sich vorstellen: erst 2002 – wurden die Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert, erst 2009 die sogenannten Kriegsverräter. Und schließlich erst 2015 möglichst leise und heimlich, ohne eine offizielle Geste – aber immerhin – hat der Deutsche Bundestag entschieden, dass die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine Einmalzahlung von 2 500 Euro erhalten sollen. Leider hat das viel zu wenige erreicht.
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Das zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Jeder Fortschritt, jede Entschädigung und jede Auseinandersetzung im Land der Täter – so ist es nun einmal – musste erkämpft und durchgesetzt werden.
Eine besondere Opfergruppe, eine der größten, nämlich die des Vernichtungskrieges im Osten – er zog sich von Polen bis in die Länder der ehemaligen Sowjetunion –, kam überhaupt nicht vor. Auch da müssen wir nachfragen: Warum ist das so? Das hat natürlich politische Gründe. Zunächst einmal ist dies dem Kalten Krieg und der Rückkehr der alten Eliten in Amt und Würden in der Bundesrepublik geschuldet gewesen.
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Fast kein Täter wurde verurteilt. Selbst die schlimmsten Massenmörder, die zum Teil eigenhändig das Zyklon B eingeleitet hatten, sind, wenn überhaupt, als Gehilfen verurteilt worden – wenn überhaupt! Es gab natürlich auch eine schöne Entschuldung der Gesamtgesellschaft, indem man sagte: Es gibt drei Hauptschuldige, das sind Hitler, Himmler und Göring – praktischerweise alle tot –, und ansonsten müssen wir uns gesellschaftlich nicht mit der eigenen, auch emotionalen, Verstrickung in den Faschismus auseinandersetzen. Und es war natürlich die Zeit des Antikommunismus, in der der Sozialismus und Kommunismus als viel schlimmer und verheerender angesehen wurden als der NS-Faschismus; daran muss man erinnern. Es war damals, in den 50er- und 60er-Jahren, so – ja, Kollegin Motschmann, es ist so gewesen –,
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dass der Krieg gegen die Sowjetunion in der bundesdeutschen Gesellschaft als geradezu legitim angesehen worden ist. Hinzu kam die Legende von der sauberen Wehrmacht, die angeblich mit all dem nichts zu tun hätte.
Der Krieg im Osten war ein entgrenzter Vernichtungskrieg, der alle bis dahin geltenden Rechts- und vor allem Zivilisationsregeln suspendiert hat. Hinter der Front ermordeten die Einsatzgruppen mit direkter Hilfe von Wehrmachtsverbänden 2,5 Millionen Frauen, Kinder und Männer. Es lohnt sich, in diesen Zeiten einmal wieder das epochale Werk von Raul Hilberg, „Die Vernichtung der europäischen Juden“, zur Hand zu nehmen. Gerade Sie sollten das einmal in Ruhe lesen.
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Den höchsten Blutzoll zahlte die UdSSR mit 27 Millionen Toten, davon 14 Millionen Zivilisten. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben 3,3 Millionen; das entspricht einer Sterblichkeit von 60 Prozent. Im Gegensatz dazu – um einmal einen Vergleich zu haben – lag die Sterblichkeit der westlichen alliierten Kriegsgefangenen bei 3,5 Prozent.
Deswegen ist der Antrag, der heute vorliegt, richtig. Er findet unsere Unterstützung; denn ich glaube, dass es jetzt, nach all diesen Jahrzehnten der Auseinandersetzung, Zeit ist, einen Schritt in diese Richtung zu gehen, ein Zeichen an die noch wenigen Überlebenden, vor allem an ihre Kinder und Enkelkinder, und auch in unsere Gesellschaft zu senden, nämlich für die Mahnung: Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus!
Die Linke stimmt dem Antrag zu.
Danke.
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Ich komme zurück zu Zusatzpunkt 10 a und frage noch einmal, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat. – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Jetzt erteile ich als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 7. Dezember jährt sich zum 50. Mal der Tag, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal des Warschauer Ghettos stumm auf die Knie niedersank, demütig die Schuld annehmend, die Deutsche mit dem beispiellosen Vernichtungskrieg über Europa gebracht haben.
60 Millionen Menschen wurden Opfer dieses Vernichtungskriegs. Polen, wo die rassistische nationalsozialistische Lebensraumideologie und der Holocaust unfassbares Leid verursacht haben, wurde Opfer der deutschen Massenmörder. Allein beim Warschauer Aufstand wurden 10 000 Widerstandskämpferinnen und ‑kämpfer und 100 000 polnische Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Und schließlich die Verbrechen an der russischen Bevölkerung: 1 Million Menschen starben bei der Hungerblockade von Leningrad. 6 Millionen Menschen wurden Opfer des Menschheitsverbrechens an den europäischen Juden. 60 Millionen Menschen als Opfer dieses beispiellosen Vernichtungskriegs.
Sie alle kennen diese Zahlen. Sich zu vergegenwärtigen, dass hinter jeder Zahl ein Mensch mit seinem Leid, seiner Angst, seinen Tränen stand, ist so ungeheuerlich, dass sich der Verstand eigentlich verweigert. Es ist unsere Verantwortung, heute und in Zukunft dafür zu sorgen, dass die Taten nicht vergessen und nicht zu den Akten gelegt werden,
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gerade weil der gruppenbezogene Hass sich heute in Europa und auch in Deutschland wieder breitmacht. Und nein, wir Deutsche sind nicht die Musterknaben der Erinnerungskultur, solange sich völkische Biedermänner und Brandstifter in unseren Parlamenten suhlen.
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Meine Damen und Herren, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind der real gewordene Albtraum, der bis heute wirkt – in Europa, in Deutschland, in den Familien der Nachkommen von Überlebenden. Umso dankbarer können wir sein, dass die Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn, gerade auch zur Zivilgesellschaft in Polen, so gut und eng sind, auf kultureller, wirtschaftlicher und menschlicher Ebene. Möglich wurde das auch dadurch, dass die Zivilgesellschaften, nicht zuletzt die 68er-Generation, für die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen gekämpft haben.
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Entscheidend ist – um es mit Walter Benjamin zu sagen –, ob uns der Ruf aus der Vergangenheit erreicht. Es ist unsere historische Verantwortung, die Erinnerung an diese Verbrechen wachzuhalten und sie weiter aufzuarbeiten. Einen Schlussstrich wird es mit uns Grünen nicht geben.
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Darum bin ich froh um diesen Antrag.
Dass Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD, unseren Wunsch, diesen Antrag interfraktionell einzubringen, ausgeschlagen haben, ist, gelinde gesagt, kleingeistig,
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nicht so sehr, weil große Teile des Antrags aus der Feder meines Kollegen Manuel Sarrazin stammen, sondern vor allem, weil es dem Geist der einstigen Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für Versöhnung aus Ihren Reihen nicht gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
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Eckhard Pols, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunehmend verblasst die Erinnerung an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, ohne den es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben hätte. Doch der Zweite Weltkrieg bleibt auch 75 Jahre nach Kriegsende in Deutschland immer noch ein zentraler Bezugspunkt. Warum ist das so? Weil die Dimension der im und nach dem Krieg von Deutschen und an Deutschen geübten Menschenrechtsverbrechen so gewaltig war, dass nahezu jede Familie in Europa unmittelbar betroffen war. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Union bis heute eine Fraktionsgruppe und einen im Bundesinnenministerium angesiedelten Bundesbeauftragten eingerichtet hat, die sich bis heute mit dem Kriegsfolgenschicksal beschäftigen.
Aber es sind nicht die Betroffenen, die hinter dem Vorhaben dieses Koalitionsantrages stehen. Dennoch sprechen wir von einem weiteren Meilenstein deutscher Erinnerungspolitik. Wie passt das zusammen?
Liebe Kollegin Schieder, auch ich möchte mich bei Ihnen für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Weil es in der Presse nicht so rübergekommen ist, muss eigentlich mal deutlich gemacht werden, dass wir hier in der Koalition sehr gut zusammengearbeitet haben.
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Es waren einzig und allein die beteiligten Kultur- und Vertriebenenpolitiker, die für das Gedenken an bisher weniger beachtete Opfer des Nationalsozialismus einen neuen Erinnerungsort schaffen wollen.
Meine Damen und Herren, beispielsweise die deutsch-französischen Beziehungen erscheinen durch den Zweiten Weltkrieg weniger belastet zu sein als unsere Beziehung zu Polen. Im öffentlichen Bewusstsein ist in der Tat kaum verbreitet, dass Paris den Krieg nahezu unzerstört überstanden hat, weil es 1944 entgegen einem Führerbefehl den Alliierten übergeben worden war. Hingegen wurde Warschau ebenfalls 1944 fast dem Erdboden gleichgemacht. Bei dem vergeblichen Versuch der polnischen Heimatarmee, die Hauptstadt zu befreien, kamen über 100 000 Zivilisten ums Leben. Im besetzten Polen gab es sechs NS-Vernichtungslager, von denen Auschwitz nach wie vor das bekannteste ist. Auf ukrainischem Boden, so jüngste Schätzungen, befanden sich über 2 000 Plätze von Massenerschießungen.
Unsere Fraktion hat sich seit 1949 für Versöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern und für Solidarität und Lastenausgleich in der eigenen Bevölkerung eingesetzt, die von den Kriegsfolgen unterschiedlich betroffen war. Wir halten dabei am Postulat des Bundespräsidenten und Christdemokraten Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 fest – ich zitiere –:
Wir brauchen … die Kraft, der Wahrheit … ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.
Die historische Wahrheit ist allerdings heute in Gefahr. Unsere Fraktion beobachtet mit großer Sorge – darauf wies ich schon einmal hin –, dass die Erinnerungskultur und die Deutung des Zweiten Weltkrieges widersprüchlicher, ja umstrittener sind denn je. Die Leitlinien unserer Geschichtspolitik finden sich daher im Antrag wieder.
Erstens. Der Holocaust ist aufgrund seiner Monstrosität ein singuläres Verbrechen, dem eine besondere Erinnerung gebührt. Jegliche Versuche, ihn durch Verweise auf andere NS-Verbrechen zu relativieren, lehnen wir strikt ab.
Zweitens. Es gibt kaum ein Land in Europa, das zwischen 1938 und 1945 nicht zeitweise von deutschen Truppen besetzt worden ist. Die Aufarbeitung der Besatzungsherrschaft muss daher den gesamten Kontinent umfassen, nicht nur den Osten.
Drittens. Jeglicher Geschichtsklitterung ist durch die Aufarbeitung auch schwieriger Themen wie dem Bombenkrieg oder der Zwangsarbeit deutscher Zivilisten entgegenzutreten. Die Forschung hat neue Studien zu Hunderttausenden Besatzungskindern oder zur Kollaboration mit dem Dritten Reich vorgelegt, mit denen sensibel umzugehen ist.
Viertens. Der neue Ort des Gedenkens an den Vernichtungskrieg und die Besatzungszeit darf keine Konkurrenz zu bestehenden Gedenkeinrichtungen erzeugen. Dies war uns sehr wichtig; denn lange und letztlich erfolgreich haben wir uns dafür eingesetzt, dass auch das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen anerkannt wird.
Meine Damen und Herren, besonders habe ich mich darüber gefreut, dass die Grünen in ihren Antrag einen von mir eingebrachten und später gestrichenen Satz zu den deutschen Ostgebieten wieder aufgenommen haben. Ich finde es schön, dass Sie sich endlich mit dem Thema auch angefreundet haben.
Ich darf noch einmal auf die alarmierende Geschichtsvergessenheit hinweisen, die der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland zunehmend registriert. Mit dem vorliegenden Antrag nehmen wir diese geschichtspolitische Herausforderung gemeinsam an, und die Debatte wird schon in der nächsten Sitzungswoche fortgesetzt.
Die Union steht zur deutschen Verantwortung für die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Wir lassen im Namen aller Opfer nicht zu, dass die deutsche Geschichte missbraucht wird.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, SPD, hat kürzlich verlangt, Polen und Ungarn finanziell auszuhungern,
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wenn sie sich den Brüsseler Anordnungen nicht beugen wollten.
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Die Reaktion aus Ungarn folgte postwendend. Zoltan Kovacs, Staatssekretär für Außenbeziehungen, sagte Folgendes – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Wenn Frau Barley … von „Aushungern“ spricht,
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dann möchte sie auf welches Element des deutschen Know-how zurückgreifen? Auf das von Stalingrad? Leningrad? Warschau?
Der Schriftsteller Daniil Granin – er hat vor einigen Jahren auch hier im Bundestag gesprochen – erinnert sich an die Blockade Leningrads:
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Ein Einwohner bekam erst 200 Gramm,
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dann nur noch 125 Gramm Brot, es war eine Sterbensration.
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Während der fast 900 Tage andauernden Blockade der Stadt kamen nach Schätzungen bis zu 1 Million Menschen ums Leben. Ja, meine Damen und Herren, das war ein Kriegsverbrechen, angeordnet vom Führer persönlich, ausgeführt von der deutschen Wehrmacht. Aber so richtig es ist, diese Verbrechen beim Namen zu nennen, so falsch wäre es, die einzelnen Soldaten der Wehrmacht als Verbrecher zu bezeichnen.
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Richard von Weizsäcker oder Helmut Schmidt waren Soldaten der Wehrmacht, keine Verbrecher. Beide nahmen übrigens an der Blockade Leningrads teil. Sie haben ihre Pflicht erfüllt,
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genauso wie Daniil Granin, der damals als Kriegsfreiwilliger auf der anderen Seite kämpfte.
Als letztes Jahr der 75. Jahrestag der Befreiung Leningrads oder Sankt Petersburgs, wie es heute wieder heißt, mit einer Militärparade gefeiert wurde, haben das viele Zeitungen in Deutschland kritisiert, also praktisch alle Linken. Die Kritik entzündete sich vor allem daran, dass die Russen sich partout nicht als Opfer sehen wollen, sondern eher als Helden und Sieger. Aber, meine Damen und Herren, was ist daran eigentlich so schlimm? Warum müssen wir die Russen belehren, wie sie ihre Geschichte zu deuten haben?
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Hier liegt der neuralgische Punkt des Antrags, den Sie uns heute vorgelegt haben. Es gibt eben keine postnationale, sozusagen gesamteuropäische Erinnerungskultur im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg. Denkbar wäre sie erst, wenn die Völker und Nationen Europas sich komplett aufgelöst und zu etwas Neuem verschmolzen hätten.
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Ich weiß, meine Damen und Herren, dass einige hier in diesem Hause sich das erhoffen: die Vereinigten Staaten von Europa, als Bundesstaat. Dahinter steckt auch der heimliche Wunsch nach Erlösung von der deutschen Geschichte,
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für die dann ganz Europa Verantwortung übernehmen müsste
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oder niemand mehr.
Meine Damen und Herren, wir, die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, wollen das nicht. Wir übernehmen Verantwortung für Deutschland. Wir stehen zu diesem Land, zu unserem Volk und zu unserer Geschichte
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mit all ihren Höhen und Tiefen. Und wir respektieren – anders als Frau Barley – unsere osteuropäischen Nachbarn.
Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Zuhören.
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Jetzt gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 19/20596 und 19/23197, bekannt: abgegebene Stimmkarten 622. Mit Ja haben gestimmt 353, mit Nein haben gestimmt 268, eine Enthaltung. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 622;
davon
ja: 353
nein: 268
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Dr. Michael von Abercron
Stephan Albani
Norbert Maria Altenkamp
Peter Altmaier
Philipp Amthor
Artur Auernhammer
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Melanie Bernstein
Christoph Bernstiel
Peter Beyer
Marc Biadacz
Steffen Bilger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Michael Brand (Fulda)
Dr. Reinhard Brandl
Silvia Breher
Sebastian Brehm
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Dr. Carsten Brodesser
Gitta Connemann
Astrid Damerow
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Thomas Erndl
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Thomas Heilmann
Frank Heinrich (Chemnitz)
Mark Helfrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Marc Henrichmann
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Erich Irlstorfer
Hans-Jürgen Irmer
Thomas Jarzombek
Andreas Jung
Ingmar Jung
Alois Karl
Anja Karliczek
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Michael Kießling
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Alexander Krauß
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Roy Kühne
Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Jens Lehmann
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Nikolas Löbel
Bernhard Loos
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Saskia Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Gisela Manderla
Dr. Astrid Mannes
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Axel Müller
Sepp Müller
Carsten Müller (Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Andreas Nick
Petra Nicolaisen
Michaela Noll
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Josef Oster
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Dr. Joachim Pfeiffer
Stephan Pilsinger
Dr. Christoph Ploß
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Stefan Rouenhoff
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Stefan Sauer
Anita Schäfer (Saalstadt)
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)
Dr. Claudia Schmidtke
Patrick Schnieder
Nadine Schön
Felix Schreiner
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster (Weil am Rhein)
Torsten Schweiger
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Björn Simon
Jens Spahn
Katrin Staffler
Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Andreas Steier
Peter Stein (Rostock)
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Dr. Peter Tauber
Dr. Hermann-Josef Tebroke
Hans-Jürgen Thies
Alexander Throm
Dr. Dietlind Tiemann
Antje Tillmann
Markus Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Kerstin Vieregge
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Christoph de Vries
Kees de Vries
Dr. Johann David Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Marcus Weinberg (Hamburg)
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Bettina Margarethe Wiesmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Oliver Wittke
Tobias Zech
Emmi Zeulner
Paul Ziemiak
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Bela Bach
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Nezahat Baradari
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Lothar Binding (Heidelberg)
Dr. Eberhard Brecht
Leni Breymaier
Dr. Karl-Heinz Brunner
Katrin Budde
Dr. Lars Castellucci
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Esther Dilcher
Sabine Dittmar
Dr. Wiebke Esdar
Saskia Esken
Yasmin Fahimi
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Angelika Glöckner
Timon Gremmels
Bettina Hagedorn
Metin Hakverdi
Dirk Heidenblut
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Frank Junge
Thomas Jurk
Elisabeth Kaiser
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Elvan Korkmaz-Emre
Anette Kramme
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Sylvia Lehmann
Helge Lindh
Kirsten Lühmann
Heiko Maas
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Falko Mohrs
Claudia Moll
Siemtje Möller
Bettina Müller
Detlef Müller (Chemnitz)
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Josephine Ortleb
Mahmut Özdemir (Duisburg)
Aydan Özoğuz
Christian Petry
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post (Minden)
Florian Pronold
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Axel Schäfer (Bochum)
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Nils Schmid
Ulla Schmidt (Aachen)
Dagmar Schmidt (Wetzlar)
Carsten Schneider (Erfurt)
Johannes Schraps
Michael Schrodi
Ursula Schulte
Martin Schulz
Swen Schulz (Spandau)
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Amalie Steffen
Mathias Stein
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Markus Töns
Carsten Träger
Ute Vogt
Marja-Liisa Völlers
Dirk Vöpel
Dr. Joe Weingarten
Bernd Westphal
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Fraktionslos
Dr. Frauke Petry
Nein
AfD
Dr. Bernd Baumann
Marc Bernhard
Andreas Bleck
Peter Boehringer
Stephan Brandner
Jürgen Braun
Marcus Bühl
Matthias Büttner
Petr Bystron
Tino Chrupalla
Siegbert Droese
Thomas Ehrhorn
Berengar Elsner von Gronow
Dr. Michael Espendiller
Peter Felser
Dietmar Friedhoff
Dr. Anton Friesen
Markus Frohnmaier
Dr. Götz Frömming
Dr. Alexander Gauland
Albrecht Glaser
Franziska Gminder
Wilhelm von Gottberg
Kay Gottschalk
Armin-Paulus Hampel
Mariana Iris Harder-Kühnel
Dr. Roland Hartwig
Jochen Haug
Udo Theodor Hemmelgarn
Waldemar Herdt
Dr. Heiko Heßenkemper
Karsten Hilse
Nicole Höchst
Martin Hohmann
Dr. Bruno Hollnagel
Leif-Erik Holm
Johannes Huber
Fabian Jacobi
Dr. Marc Jongen
Jens Kestner
Stefan Keuter
Norbert Kleinwächter
Enrico Komning
Steffen Kotré
Dr. Rainer Kraft
Rüdiger Lucassen
Frank Magnitz
Jens Maier
Dr. Lothar Maier
Dr. Birgit Malsack-Winkemann
Andreas Mrosek
Hansjörg Müller
Volker Münz
Sebastian Münzenmaier
Christoph Neumann
Jan Ralf Nolte
Gerold Otten
Tobias Matthias Peterka
Paul Viktor Podolay
Stephan Protschka
Martin Reichardt
Martin Erwin Renner
Roman Johannes Reusch
Ulrike Schielke-Ziesing
Jörg Schneider
Uwe Schulz
Thomas Seitz
Martin Sichert
Detlev Spangenberg
Dr. Dirk Spaniel
René Springer
Beatrix von Storch
Dr. Harald Weyel
Wolfgang Wiehle
Dr. Heiko Wildberg
Uwe Witt
FDP
Grigorios Aggelidis
Renata Alt
Christine Aschenberg-Dugnus
Nicole Bauer
Jens Beeck
Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar)
Mario Brandenburg (Südpfalz)
Sandra Bubendorfer-Licht
Karlheinz Busen
Carl-Julius Cronenberg
Britta Katharina Dassler
Bijan Djir-Sarai
Christian Dürr
Hartmut Ebbing
Dr. Marcus Faber
Daniel Föst
Otto Fricke
Thomas Hacker
Reginald Hanke
Peter Heidt
Katrin Helling-Plahr
Markus Herbrand
Torsten Herbst
Katja Hessel
Dr. Gero Clemens Hocker
Manuel Höferlin
Dr. Christoph Hoffmann
Reinhard Houben
Ulla Ihnen
Olaf In der Beek
Gyde Jensen
Karsten Klein
Dr. Marcel Klinge
Daniela Kluckert
Pascal Kober
Dr. Lukas Köhler
Wolfgang Kubicki
Konstantin Kuhle
Alexander Kulitz
Alexander Graf Lambsdorff
Ulrich Lechte
Christian Lindner
Michael Georg Link (Heilbronn)
Till Mansmann
Dr. Jürgen Martens
Christoph Meyer
Alexander Müller
Roman Müller-Böhm
Frank Müller-Rosentritt
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Matthias Nölke
Hagen Reinhold
Bernd Reuther
Dr. h. c. Thomas Sattelberger
Christian Sauter
Frank Schäffler
Dr. Wieland Schinnenburg
Matthias Seestern-Pauly
Frank Sitta
Bettina Stark-Watzinger
Benjamin Strasser
Katja Suding
Linda Teuteberg
Michael Theurer
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Dr. Andrew Ullmann
Gerald Ullrich
Johannes Vogel (Olpe)
Sandra Weeser
Nicole Westig
Katharina Willkomm
DIE LINKE
Doris Achelwilm
Gökay Akbulut
Simone Barrientos
Dr. Dietmar Bartsch
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm-Förster
Michel Brandt
Christine Buchholz
Dr. Birke Bull-Bischoff
Jörg Cezanne
Sevim Dağdelen
Fabio De Masi
Dr. Diether Dehm
Anke Domscheit-Berg
Klaus Ernst
Susanne Ferschl
Brigitte Freihold
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Matthias Höhn
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Achim Kessler
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Pascal Meiser
Amira Mohamed Ali
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Norbert Müller (Potsdam)
Zaklin Nastic
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Sören Pellmann
Victor Perli
Tobias Pflüger
Bernd Riexinger
Eva-Maria Schreiber
Helin Evrim Sommer
Friedrich Straetmanns
Dr. Kirsten Tackmann
Jessica Tatti
Kathrin Vogler
Andreas Wagner
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Lisa Badum
Annalena Baerbock
Margarete Bause
Dr. Danyal Bayaz
Canan Bayram
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Dr. Anna Christmann
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Kai Gehring
Stefan Gelbhaar
Katrin Göring-Eckardt
Erhard Grundl
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Bettina Hoffmann
Dr. Anton Hofreiter
Ottmar von Holtz
Dieter Janecek
Dr. Kirsten Kappert-Gonther
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)
Christian Kühn (Tübingen)
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Sven Lehmann
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Dr. Irene Mihalic
Claudia Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Filiz Polat
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)
Dr. Manuela Rottmann
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Stefan Schmidt
Charlotte Schneidewind-Hartnagel
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Margit Stumpp
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Gerhard Zickenheiner
Fraktionslos
Marco Bülow
Verena Hartmann
Lars Herrmann
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Wolfgang Schäuble
Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Rabanus, SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Polen, Griechenland, die ehemalige Sowjetunion – darunter russische, ukrainische, belarussische Bürgerinnen und Bürger –, Litauen, Estland, Lettland, Norwegen, Dänemark, Niederlande, Ungarn, die damalige Tschechoslowakische Republik, Jugoslawien – diese Liste ist nicht abschließend –: Die Menschen all dieser Länder waren im Zweiten Weltkrieg Opfer des Vernichtungskrieges und der Besatzungsherrschaft der Nazis. Was sich mit diesen wenigen Worten leicht aussprechen lässt, ist in Wirklichkeit die Auslöschung von ganzen Landstrichen, die massenhafte Ermordung von Millionen Menschen zwischen den Pyrenäen und dem Ural und darüber hinaus. Menschen wurden getötet, litten Hunger, wurden heimat- und obdachlos. Ich spreche hier von den Opfern in der Zivilbevölkerung; in vielen der soeben genannten Länder übertrafen sie die militärischen Verluste um Millionen.
Die meisten dieser Schauplätze des Krieges, der deutschen Verbrechen sind uns heute unbekannt und bislang namenlos geblieben. Es ist wichtig, jetzt, im 81. Jahr nach dem Überfall auf Polen, diese Erinnerungslücke endlich zu schließen.
({0})
Ich bin den Vorrednern sehr dankbar – Herr Kollege Hacker, Herr Kollege Korte, Herr Kollege Grundl –, dass Sie im Grunde und in der Sache hier verdeutlicht haben, dass die demokratischen Parteien in diesem Hause das übereinstimmend so sehen und auch übereinstimmend mit dem von der Koalition vorgelegten Antrag mitgehen werden. Dafür bin ich sehr dankbar. Deswegen finde ich es auch wenig zielführend, jetzt in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen, ob wir einen gemeinsamen Antrag gehabt haben oder hier haben oder nicht. Ich mache aus meinem Herzen da keine Mördergrube: Ich hätte das auch gut gefunden. Aber es ist anderen Mechanismen geschuldet, warum wir das nicht hinbekommen haben.
({1})
Wichtig ist – und das ist das Entscheidende –, dass wir in der Sache einig sind; denn es geht um die Etablierung eines Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungszentrums. Wir wollen eine Stätte schaffen, die der Geschichte und Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der Aufklärung über die Schrecken der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft gewidmet ist. Dort sollen den Menschen Informationen geboten werden, die historischen Zusammenhänge vermittelt werden und über das Leid in Deutschland und Europa aufgeklärt werden. Den Nachkommen der Opfer soll Raum für Gedenken und für Erinnerung gegeben werden; denn der Zweite Weltkrieg mit seinem millionenfachen Leid und Tod ist ein Sinnbild des Schreckens und der Verachtung des Lebens.
Der Antrag „fordert die Bundesregierung auf, einen Realisierungsvorschlag zur Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte vorzulegen, die fokussiert der Geschichte und Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft gewidmet ist.“
({2})
In diesem Sinne geht es um einen vernetzten Ansatz, keinen isolierten, keinen nationalen und erst recht keinen hierarchisierenden Ansatz bei der Erinnerung und dem Gedenken an die bisher eher vernachlässigten Gruppen.
({3})
Wir setzen damit einen wichtigen Auftrag aus dem Koalitionsvertrag um. Wir wollen mehr Aufklärung und Aufarbeitung. Ein Dokumentationszentrum zum Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges und bisher weniger beachteter Opfergruppen wird es ermöglichen, die einzelnen, oft national geprägten Aspekte miteinander in Verbindung zu setzen und in einer europäischen Perspektive zu vermitteln. Wir wollen Erinnern und Gedenken stärken, auch als Teil kultureller Bildung gegen Vergessen und für Demokratie.
({4})
Das knüpft im Übrigen an unseren koalitionären Antrag zum Bundesprogramm „Jugend erinnert“ an, den wir im April des letzten Jahres auf den Weg gebracht haben und womit wir ein sehr erfolgreiches Bundesprogramm haben etablieren können. Denn die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus hat auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes größte Bedeutung für unsere demokratische Gesellschaft. Wir sehen es an vielen alltäglichen Beispielen. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen zu. Die gesellschaftliche Debatte über den Umgang Deutschlands mit der Vergangenheit hält an und muss auch anhalten.
Mit dem vorliegenden Antrag bekennt sich der Deutsche Bundestag – ich freue mich, dass wir das mit breiter Mehrheit tun – zu seiner Verantwortung, die Erinnerung an und die Aufklärung von nationalsozialistischem Unrecht für alle Generationen und über die eigenen Grenzen hinaus wachzuhalten.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im letzten Jahr hat Außenminister Heiko Maas im Museum des Warschauer Aufstands eine würdevolle und sehr bewegende Rede gehalten. In den Augen der anwesenden polnischen Menschen, auch des Außenministers, sah man die Erleichterung, das Leid ihres Landes nicht mehr dem Land der Täter erläutern zu müssen – der Eindruck, dass wir uns auch des Ausmaßes der Geschehnisse bewusst sind. Das Symbol dafür war die Zusage von Heiko Maas, sich einzusetzen für einen Gedenkort im Zentrum Berlins für die Opfer auf dem Gebiet der ehemaligen Zweiten Polnischen Republik zwischen 1939 und 1945. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir mit dem Außenminister einen Fürsprecher für diese Idee gefunden haben, aber ich möchte auch sagen: Der entsprechende interfraktionelle Antrag fehlt heute hier in dieser Debatte.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als mein Großvater 1939 nach Polen einmarschierte – so erzählte er mir oft –, sang er ein Lied, ein Schmählied auf Stanislaus – Stanislaus Poniatowski. Er marschierte ein nicht als Nazi, er marschierte ein als Deutscher, er marschierte ein als Teil einer deutschen Gesellschaft, die die Nation Polen auslöschen wollte; breite Teile der deutschen Gesellschaft teilten dieses Ziel.
Deswegen ist es für viele Menschen in Polen heute schwer zu verstehen, wenn wir plötzlich vor einer Nationalisierung der Erinnerung warnen. Ich denke auch, dass wir – im Gegensatz zu dem, was die Kollegen von ganz rechts gesagt haben – nicht eine Instrumentalisierung der Nation als erinnerungspolitische Motivation benutzen sollten. Aber wir können doch nicht den Nationen in Europa einen Platz im Gedenken zuweisen, Kollegin Schieder.
Die polnische Nation hat ihren Platz bereits. Das polnische Gedenken, das ukrainische Gedenken, das belarussische Gedenken, das russische Gedenken – alle diese haben aus sich selbst heraus ihren Platz. Wenn wir es schaffen wollen, dass wir nach dem Versterben der Zeitzeugengeneration auch bilateral in die Verfassung kommen, diese gedenkpolitischen Unterschiede mit uns kommunikativ und auch in Ritualen in eine Verbindung zu setzen, dann müssen wir ihnen sagen: Ihr müsst uns nicht erklären, wie ihr gedenkt. Wir haben keine Angst davor, mit euch gemeinsam zu gedenken.
({1})
Deswegen – und ich komme zum Schluss – bin ich mir sicher, dass die Kombination aus dem heutigen Antrag und aus dem Antrag, der für die nächste Sitzungswoche auf der Tagesordnung steht, ein guter Weg sein kann, um beidem gerecht zu werden: dem Erinnern, dem Lernen und dem Gedenken, auch dem politisch ritualisierten Gedenken zwischen Staaten. Deswegen möchte ich sagen: Ich freue mich darauf, dass wir in drei Wochen darüber entscheiden. Sollte die Koalition sich wieder einmal nicht in der Lage sehen, in der nächsten Sitzungswoche hier den gemeinsamen Antrag einzubringen, werden die Grünen wie auch heute den Text auf eigene Faust einbringen und Sie nach zwei Jahren endlich zu einer Entscheidung über diese Sache zwingen.
Danke sehr.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 6. Oktober ist Ruth Klüger verstorben. Unvergesslich bleiben ihre eindringlichen Worte als Holocaustüberlebende hier im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2016. Wer hat jemals zuvor mit so großer Empathie über die Frauen gesprochen, die in den Konzentrationslagern zur Prostitution gezwungen wurden und denen dann demütigenderweise eine Entschädigung als Zwangsarbeiterinnen verwehrt blieb?
Ruth Klüger hat auch eine stärkere Erinnerungskultur an die Zwangsarbeiter im NS-Staat eingefordert. Zwangsarbeit war ein totales System der Unfreiheit und Willkür, Sklavenarbeit – um präzise zu sein –, bei der ein Menschenleben nichts galt. Dennoch haben die Opfer der Zwangsarbeit lange nicht die ihnen zustehende Berücksichtigung in unserer Gedenk- und Erinnerungskultur gefunden. – Das sind nur zwei Beispiele für Opfergruppen, die wir stärker wieder in das Blickfeld nehmen müssen.
Die Anerkennung der Shoah als singuläres Menschheitsverbrechen, die Aufarbeitung der Terrorherrschaft der NS-Zeit und die Auseinandersetzung mit dem Unrecht haben unserem Land übrigens erst ermöglicht, wieder respektiert und geachtet zu werden. Und dennoch bleibt ein Unwohlsein, wenn in unserer Erinnerungskultur Lücken bleiben: Gibt es etwa Perspektiven, die wir nicht ausreichend gesehen und gewürdigt haben? Laufen Opfergruppen Gefahr, vergessen zu werden, obwohl es kein Vergessen geben darf?
Der deutsche Vernichtungskrieg hat in vielen Staaten Europas gewütet. Für jedes besetzte Land und für alle Verbrechen des Krieges und des Rassenwahns müssen wir die Taten aus den Augen der Opfer sehen und deren Geschichte erzählen. Bislang selten benannte oder kaum bekannte Orte und ihre Gräueltaten sind stärker ins Licht zu rücken. Auch die unfassbar großen bekannten Verbrechen wie die Belagerung Leningrads oder die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto sind neu zu erzählen.
75 Jahre nach Ende des durch Deutschland entfesselten Krieges bleibt es aktuell, die Lehren aus der Geschichte nicht zu vergessen. Die heute Lebenden haben eine bleibende Verantwortung, der man sich nicht entziehen kann, so wenig, wie die Ereignisse ungeschehen gemacht werden können. Deswegen gilt – das muss eine zentrale Aussage hier im Deutschen Bundestag sein –: Wer vorzieht, zu vergessen, oder wer sich anschickt, zu relativieren, der nimmt unserem Land die Würde und stellt sich außerhalb des Bogens demokratischer Kräfte.
({0})
Die Erinnerungskultur hat in den letzten Jahren neue Akzente setzen können. Denkmäler an die verfolgten Roma und Sinti oder an die verfolgten Homosexuellen hier in Berlin ebenso wie das Entstehen vieler Initiativen für Stolpersteine in unseren Städten, eine neue Dokumentations- und Erinnerungsstätte für vergessene Opfergruppen und die Opfer des Vernichtungskrieges fügen sich hier gut ein. Ihr Entstehen ist geboten. Wir sollten das unterstützen und die Erinnerung würdevoll fortschreiben.
Herzlichen Dank.
({1})
Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Elisabeth Motschmann, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, die Erinnerung bleibt traurig. Aber die Notwendigkeit, diese Geschichte weiter aufzuarbeiten, eint dieses Hohe Haus, und das finde ich positiv.
({0})
Ich nenne noch einmal die Zahlen, weil sie mehr sind als Zahlen: 60 Millionen Menschen starben, in der Mehrzahl Zivilisten. Das entspricht übrigens der Einwohnerzahl von Italien. 6 Millionen europäische Juden wurden systematisch ermordet, ausgelöscht, Millionen von Menschen wurden Opfer von Kriegsgräueln, Gewalt, Bomben, Vertreibung, Zwangsarbeit, Haft und Hunger: unermessliches Leiden, eine blutige Wunde unserer Geschichte.
Aber wir dürfen nicht nur über Zahlen reden, sondern sollten über eine traumatisierte Generation, über einzelne Schicksale, über einzelne Familien, über eine unfassbare Dimension sprechen, die wir eben noch nicht umfassend aufgearbeitet haben. Ich denke, wir haben eine große Verpflichtung, jungen Menschen diese Geschichte nahezubringen und immer wieder neu nahezubringen, um ihnen zu vermitteln: Nie wieder Krieg! Nie wieder Antisemitismus! Nie wieder Rassismus!
({1})
Genau dafür ist dieses Dokumentationszentrum, das wir aufgrund dieses Antrags gemeinsam beschließen, gedacht, dass wir deutlich machen, dass wir schon viel in der Forschung, in den Schulen, in Ausstellungen, in Filmen und Gedenkstätten getan haben, aber dass es auch in der Zukunft noch viel zu tun gibt; denn mit der zeitlichen Distanz wächst natürlich auch das Nichtwissen, und es darf kein Nichtwissen über diese Zeit in unserem Land geben.
({2})
Genau heute ist es ein Jahr her, dass in Halle ein Anschlag auf die Synagoge verübt wurde. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist beschämend für unser Land, dass es hier wieder Antisemitismus und solche Anschläge gibt.
({3})
Auch deshalb brauchen wir eine lebendige Erzählung in einem solchen Dokumentationszentrum. Wie viele haben denn noch Kenntnis von den Untaten und Folgen der deutschen Besatzung in Polen, in der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan, aber auch in Griechenland, Belgien oder Norwegen, ja fast in ganz Europa? Wir haben es ja in vielen Reden heute gehört: Der Krieg hat den gesamten Kontinent in Mitleidenschaft gezogen und tiefe Spuren in den Familien hinterlassen. Wir wollen einen Ort, der im Dialog und im Austausch umfassend über den deutschen Vernichtungskrieg informiert, unterlegt von wissenschaftlicher Expertise.
Die Nationalsozialisten haben sehr viele Staaten besetzt. Die Besatzungsregime sahen aber jeweils anders aus. Jede Nation hat andere Erinnerungen, andere Erfahrungen, die sie damit verbindet. Die Erzählungen von den schrecklichen Kriegsverbrechen, zum Beispiel in Oradour-sur-Glane in Frankreich oder in Babi Jar in der Ukraine, könnten in eine systematische Darstellung der jeweiligen Besatzungsregime eingebettet werden.
Ich will schließen mit dem größten einzelnen Massenmord von 33 000 Juden in Babi Jar am 29. und 30. September 1941. Viele haben das gar nicht mehr im Bewusstsein. Dazu sagte eine Überlebende: „Ich nahm all meine Kraft zusammen und sprang in das Loch … Ich fiel auf Leichen, die sich dort in blutiger Masse befanden.“ So diese Frau.
Wenn man in diesem Zusammenhang, Herr Jongen, überhaupt das Wort „Erinnerungswahn“ in den Mund nimmt,
({4})
dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Das kann nicht sein.
({5})
Ich danke allen, die mitgearbeitet haben: Ihnen, Kollegin Schieder, sowie den Kolleginnen und Kollegen in allen Parteien. Ich denke, wir machen das gemeinsam; ob mit zwei Anträgen oder mit einem, das ist hier nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir im Anliegen und im Ziel alle gemeinsam weitermachen.
Vielen Dank.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Niemand vermag zur Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge zu gelangen, der nicht zuvor die Mathematik gründlich erlernt hat“ – so Kirchenvater Augustinus. Andererseits: 94 Prozent der Nobelpreisträger sind künstlerisch aktiv. Beides bedingt einander: Dichter und Denker, Ingenieure und Naturwissenschaftler – wie Zwillinge, an der Spitze wie in der Breite. Deshalb zum Linkenantrag: Thema verfehlt!
Erstens. Gute MINTler denken Kultur längst mit.
Zweitens. Ihr Antrag ist wirtschaftsfeindlich.
({0})
Gerade unsere industrielle Wertschöpfung sorgt dafür, dass Millionen Menschen für sich und ihre Familien sorgen können, viel besser als ein Staat, der die Wertschöpfung beschlagnahmt und an Kader verteilt.
({1})
Honecker konnte weder Kultur noch die vier Grundrechenarten.
({2})
MINT-Bildung ist wichtig, auch damit die Fachkräftelücke nicht weiter wächst. Deutschlands Wirtschaft fehlen bis 2023 rund 700 000 Tech-Spezialisten. Aber leider sind der Bundesregierung – danke schön, Frau Karliczek, dass Sie da sind – bei dem Thema MINT beide Arme eingeschlafen.
Kollegin Sybille Benning hat 2017 einen gar nicht so schlechten Antrag gestellt.
({3})
Als Mitgründer der nationalen Initiativen „MINT Zukunft“ und Nationales MINT Forum habe ich das damals mit angeschoben. Und was kam heraus? Ein klägliches Würmchen des Bundes: kaum Substanz, ohne Herz und ohne Wumms, mühsam nachgebessert.
Dabei ist die Lage bei MINT gefährlich: PISA auf den Stand von 2012 und 2009 eingebrochen, zu wenig beruflich und akademisch qualifizierte Absolventen, zu wenige Frauen, zu viele Studienabbrecher, zu wenig qualifizierte Einwanderung.
Wo und wie anpacken? So früh wie möglich, nicht nur von 10 bis 16, Frau Karliczek. Spielen, Erforschen, Lernen wieder zusammenbringen. Kinder lernen durch Spiel und durch Neugierde. Die Paukschule trennt dann beides: kontraproduktiv. Wir wollen das weit über das heutige „Haus der kleinen Forscher“ hinaus aufbrechen: forschendes Lernen auch in den Schulen; mit Maker Spaces, Malwerkstätten und Theaterbühnen Schulen entwickeln.
({4})
Warum ist das so wichtig, Frau Karliczek? Unsere Welt wird unberechenbarer, und wer selbstbestimmt leben will, muss ausprobieren, basteln, auch mal scheitern. Barack Obama hat das verstanden und 2014 zum ersten White House Maker Faire eingeladen.
Außerdem wichtig: MINT-Förderung junger Mädchen bereits in der frühkindlichen Bildung, inklusive der Elternbildung: Abbau von Bildungsfehlurteilen. Schlüssel, um technische wie digitale Spaltung zu überwinden. Dann das zehntausendfache außerschulische MINT-Engagement hierzulande. Es lindert die Not der Schulen; darauf ruht sich die Kultusbürokratie aus. Schluss damit! Wir brauchen ein Zukunftskonzept, in dem außerschulisches Lernen und Ehrenamtliche von Anfang an Bestandteil der Lösung sind. Und das fehlt im Aktionsplan.
({5})
Ein weiterer Punkt. Vorhandene MINT-Regionen massiv stärken: Schmelztiegel für Qualifizierung, Humus für regionale Innovationsnetzwerke. Genau das brauchen wir auch zum Wiederaufbau nach Corona. Und deshalb sind wir Freie Demokraten so hartnäckige Bildungsstreiter – Sisyphosaufgabe, oft vergebene Liebesmüh, Frau Karliczek. Aber unverdrossen rufe ich: Ran an den Speck, Frau Karliczek!
({6})
Nächste Rednerin ist die schon lobend erwähnte Kollegin Sybille Benning, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! MINT-Bildung ist elementar wichtig in einer Welt, die zunehmend digitalisiert ist und sich schnell wandelt. Darum gibt es einen Aktionsplan der Bundesregierung für MINT-Bildung, den wir, ausgehend von einem Antrag der Koalitionsfraktionen aus der letzten Legislaturperiode, mit entwickelt haben und der aktuell umgesetzt wird. Er schafft in der MINT-Bildung neue Strukturen und setzt die richtigen Schwerpunkte. Manches geschieht mir allerdings zu langsam, zum Beispiel, dass wir immer noch auf die bundesweite Vernetzungsstelle warten.
Vielleicht fordern die Kolleginnen und Kollegen von der FDP ja aus diesem Grund heute eine Menge in ihren Anträgen. Im Bereich der frühkindlichen und Primarbildung sind Ihre Forderungen allerdings im Grunde das, was das „Haus der kleinen Forscher“ zu einem Großteil leistet. Und für Ihre Forderung nach Begleitforschung gilt ebenfalls: Der „MINT-Aktionsplan“ sieht bereits explizit diese Ausweitung vor.
Bei der Einbindung in außerschulische MINT-Lernorte machen Sie eine Reihe von Vorschlägen, wie für ihre Arbeit Qualitätskriterien entwickelt werden sollen. Allerdings haben die findigen Akteure der MINT-Szene schon 2018 selbst einen Orientierungsrahmen dazu erarbeitet, der sogar in einem Onlinetool künftig flächendeckend angewendet werden kann. Die Projektpartner – Deutsche Telekom Stiftung, die Körber-Stiftung, das „Haus der kleinen Forscher“ und andere – arbeiten gerade am Roll-out. Ich finde dieses zielgerichtete Engagement wirklich beachtlich, und da brauchen wir von Politikseite auch nicht immer einzugreifen.
Für Ihre Forderung nach mehr Maker Spaces habe ich Sympathien, und ich möchte einfach darauf hinweisen, dass wir hier ja schon einige großartige Lernorte haben, wie zum Beispiel die VDI-GaraGe in Leipzig. Zum Thema „multiprofessionelle Teams“ möchte ich Ihnen nur sagen: Ich glaube, es braucht weniger die Konzepte als vielmehr den Willen der Länder, die Finanzierung zu übernehmen. Wir haben ja gerade im DigitalPakt lange Verhandlungen gehabt, und jetzt sind die Länder auch mal am Zug.
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Zum Antrag der Linksfraktion. Ich unterstütze Ihr Engagement, Ihr Argument, dass MINT-Bildung für mündige Teilhabe in unserer Gesellschaft eine Notwendigkeit ist und wir alle Bildungseinrichtungen im Hinblick auf diesen Bildungsauftrag unterstützen müssen. Dazu gibt es im Bildungsföderalismus allerdings verschiedene Zuständigkeiten. Aber dass Sie das unternehmerische Engagement in der außerschulischen Bildung derart verdammen, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie schreiben ja sogar selbst, dass – Zitat – „viele dieser Angebote didaktisch und pädagogisch gut aufbereitet sind“, finden es aber dann verwerflich, wenn Unternehmen dabei zugleich auch ihr eigenes Interesse verfolgen. Ich sage: Natürlich haben die Unternehmen ein veritables Interesse, Kinder und Jugendliche für MINT zu gewinnen; denn sie sind händeringend auf der Suche nach Fachkräften in diesem Bereich.
Wir sind doch in der bildungspolitischen Debatte längst bei der Erkenntnis angelangt, dass wir schulische und außerschulische Lernorte miteinander so vernetzen müssen, dass für die Schülerinnen und Schüler der beste Mehrwert entsteht. Das macht zum Beispiel die Körber-Stiftung über die Vernetzung der MINT-Regionen hervorragend. Gerade bildungsbenachteiligte Schüler können in einem außerschulischen Setting oft anders erreicht werden als in der Schule. Sich praktisch im Rahmen lebensnaher Einsatzmöglichkeiten von MINT-Konzepten zu erproben, das ist für diese Schüler Gold wert.
Es geht bei guter MINT-Bildung selbstverständlich nicht nur um Arbeitsmarktverwendbarkeit; vielmehr fördert MINT-Bildung gerade das kritische Denken, weil man das Hinterfragen von Phänomenen erlernt. Und vom kritischen Denken ist es zum Handeln nur noch ein Schritt. Darum geht es bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Da wird zu einem Handeln befähigt, das ein nachhaltiges Leben ermöglicht.
Die Kollegen von der FDP haben auch zu diesem Thema einen Antrag vorgelegt. Dieses Bildungskonzept, das übrigens vom „Haus der kleinen Forscher“ in überzeugender Weise mit seinem MINT-Auftrag verknüpft umgesetzt wird, wird über den „Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung“ gefördert. Als Koalitionsfraktionen haben wir im Rahmen der Plenartage zur Nachhaltigkeit in unserem eigenen Antrag bereits sehr deutlich gefordert, Bildung für nachhaltige Entwicklung, BNE, entlang der gesamten Bildungskette zügig weiterzuentwickeln.
Liebe Zuhörer, ich kenne ein paar junge Wissenschaftlerinnen, die zu Beginn dieser Woche den Sekt kalt gestellt hatten und gespannt auf die Verkündigung der Nobelpreise gewartet haben. Als dann die in Deutschland forschende Frau Charpentier gemeinsam mit Frau Doudna benannt wurde, haben diese internationalen Wissenschaftlerinnen diese Frauen gefeiert. Ich wünsche mir, dass Frauen in Zukunft noch mehr Grund zum Feiern haben. Mir ist es nämlich ein besonderes Anliegen, Mädchen und junge Frauen dabei zu unterstützen, ihre MINT-Talente zu entfalten.
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Vorbilder wie diese frisch gekürten Nobelpreisträgerinnen sind für junge Frauen so wichtig! Spezielle Angebote, wie wir sie über den Girls’ Day oder den Nationalen Pakt für Frauen in MINT-Berufen fördern, sind unentbehrlich. Das sehe ich ausdrücklich anders als die Kollegen der FDP. Das sind nicht nur – Zitat – „Modellprojekte und eventorientierte Angebote“; das ist wirkungsvolles Vernetzen junger Frauen untereinander mit potenziellen Arbeitgebern.
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Das ist echtes Matchmaking.
Außerdem ist natürlich eine konsistente Öffentlichkeitsarbeit notwendig, wie zum Beispiel mit der Initiative Klischeefrei. Gerade ab 16 Jahren, wenn die berufliche Orientierung der Schülerinnen beginnt, ist es wichtig, die MINT-Optionen für junge Frauen greifbar zu machen. Genau das leistet der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufen sehr erfolgreich.
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Daher erwarte ich, dass die neue bundesweite MINT-Vernetzungsstelle junge Frauen und Mädchen weiterhin auf so vielfältige Art und Weise erreicht, wie das heute der Fall ist. Dieses Erfolgskonzept könnte man meiner Meinung nach auch noch verstärkt auf die berufliche Bildung anwenden, damit auch hier junge Frauen in MINT ihre Zukunft sehen. Auf dass der „MINT-Aktionsplan“ weiter konsequent und gelingend umgesetzt wird!
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Michael Espendiller.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Wir debattieren heute drei Anträge der Magentasozialisten von der FDP und einen Antrag von unseren Hardcorekommunisten von ganz links.
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All diese vier Anträge verfolgen das Ziel, die MINT-Bildung zu fördern, aber ganz ehrlich: All Ihre Anträge sind furchtbar.
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Seitenweise Ahnungslosigkeit, und es tut mir um jeden Baum leid, der dafür sterben musste.
Seit Jahrzehnten schreiben sich alle Parteien die Förderung der MINT-Bildung auf die Fahne, und seit Jahrzehnten erreichen sie fast gar nichts. Deswegen will ich Sie heute endlich erlösen und Ihnen verraten, wie es geht. Für die Förderung der MINT-Bildung brauchen Sie nämlich drei Dinge: Fleiß, Disziplin und Dana Scully. Sie alle fragen sich, wie man die MINT-Fächer attraktiver machen kann. Folgender Vorschlag: Benutzen Sie dafür doch endlich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dieser soll regelmäßig berichten, dass eine berufliche oder akademische MINT-Ausbildung eine absolute Aufstiegsgarantie ist. Blenden Sie einfach Seite 43 des aktuellen „MINT-Frühjahrsreports“ des Instituts der deutschen Wirtschaft ein. Dort können Sie nachlesen, dass MINT-Akademiker einen durchschnittlichen Bruttolohn in Höhe von 5 600 Euro erhalten, Tendenz steigend.
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Die guten Verdienstaussichten gelten ebenso für die MINT-Fachkräfte.
Alles, was Kinder, Schüler und Studenten mitbringen müssen, um bei den MINT-Berufen dabei zu sein, das sind die guten alten deutschen Tugenden Fleiß und Disziplin. Denn der Kompetenzerwerb in MINT-Fächern erfordert kein reiches Elternhaus oder andere spezielle Voraussetzungen. Alles, was man braucht, sitzt im Wesentlichen zwischen den eigenen Ohren.
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Schüler brauchen mehr Lehrer – Lehrer, die möglichst kleine Klassen haben, dort einen guten Unterricht machen und nachmittags vielleicht auch mal eine Extrastunde anbieten. Sagen Sie das Ihren Länderkollegen.
Was noch? Sie alle fragen sich hier seit Jahren, wie man es schafft, dass sich mehr Mädchen für Mathe und Naturwissenschaften begeistern. Hier kommt jetzt endlich Dana Scully ins Spiel. Dana Scully ist Spezialagentin beim FBI und Forensikerin – man kennt sie aus der Serie „Akte X“ –, und sie ist Namensgeberin für den sogenannten Scully-Effekt. Eine wissenschaftliche Studie hat nämlich herausgefunden, dass die weiblichen Zuschauer der Serie „Akte X“ vermehrt MINT-Berufe ergriffen haben.
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Grund dafür ist die Figur der Dana Scully, die mit ihrer Fachkenntnis und ihrer Intelligenz die X-Akten löst. Ohne sie wäre Mulder aufgeschmissen gewesen.
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63 Prozent der Frauen, die im MINT-Bereich tätig waren, gaben an, dass Dana Scully ihr Vorbild sei.
Seitdem gab es diverse weitere Serien und Filme mit starken und brillanten Frauenrollen, die Millionen von Frauen inspiriert haben, sich in Männerdomänen zu beweisen. Eine Serie – und da muss man mal ehrlich sein, werte Kollegen – wie „The Big Bang Theory“ hat mehr für die Förderung der MINT-Bildung getan als alle Ihre staubigen Anträge und überteuerten Programme zusammen.
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Deswegen möchte ich heute auch an Sie appellieren: Lassen Sie bitte Ihre furchtbaren Verschlimmbesserungen am deutschen Bildungssystem! Geben Sie den Schülern mehr Lehrer! Geben Sie den Schülern wieder Mathebücher, die weniger bunte Bildchen, Nachhaltigkeits- oder Gendergedöns enthalten, sondern die sich auf die fachlichen Inhalte der Mathematik konzentrieren.
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Nicht zuletzt, seien Sie auch ehrlich: Wir leben in einer Leistungs- und Wissensgesellschaft. Wer sich nicht fleißig auf seinen Hosenboden setzt, der wird den Anschluss verlieren. Wer aber mit Fleiß und Disziplin in den MINT-Bereich vordringt, der wird Erfolg haben. Er wird Erfolg in der Schule, im Studium oder in der Ausbildung und letztendlich auch am Arbeitsmarkt haben. Erfolg macht Spaß.
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So werden wir die MINT-Lücke in unserem Arbeitsmarkt füllen können. Ihre Anträge sind dafür leider nicht zielführend.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für Fraktion der SPD der Kollege Dr. Karamba Diaby.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Emmanuelle Charpentier von einer Journalistin gefragt wurde, ob sie an einen Gott glaube und religiös sei, antwortete sie, sie glaube an das, was sie als Wissenschaftlerin tue, die Forschung zeige ihr, wie schön die Natur sei, und ihre Entdeckung könne für die Gesellschaft und die Humanität genutzt werden.
Das sagt viel über die exzellente Wissenschaftlerin aus, die wir vor einigen Monaten getroffen und mit der wir über die Zukunft der Forschung gesprochen haben. Wir haben unter anderem über ihre Entwicklung und über die nationale und internationale Verantwortung gesprochen, die solch ein Forschungsergebnis mit sich bringt.
Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna haben die Genschere entwickelt, mit der sich die DNA von Tieren, Pflanzen und Menschen verändern lässt. Diese Entwicklung wird unter anderem zu neuen Krebstherapien führen und Erbkrankheiten heilen können.
Emmanuelle Charpentier lebt und arbeitet in Berlin. Zusammen mit ihrer Kollegin Jennifer Doudna hat sie den Chemienobelpreis in dieser Woche erhalten. Félicitation!
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Sie sind zwei von wenigen Frauen – die sechste und siebte! –, die den Chemienobelpreis überhaupt erhalten haben. Sie sind Revolutionärinnen. Ihr Vorbild kann gerade Mädchen und junge Frauen motivieren, einen MINT-Beruf zu ergreifen. Deutschland hat diese Vorbilder dringend nötig.
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Laut dem „MINT-Frühjahrsreport“ des Instituts der deutschen Wirtschaft fehlen 2020 immer noch rund 153 000 Fachkräfte mit technisch-naturwissenschaftlicher Ausbildung in unserem Land. Qualifiziertes Personal im medizinischen oder im IT-Bereich gehört zu den am stärksten umworbenen Fachkräften, gerade zu Zeiten der Coronakrise.
Woran liegt das? Zwar sind die Zahlen sowohl der MINT-Studienanfänger als auch der Absolventen in den letzten Jahren gestiegen; jedoch sind es immer noch nicht genug. Außerdem gibt es immer noch sehr viele Studienabbrechende. Ein Grund dafür könnte in der unzureichenden Beschäftigung mit technisch-naturwissenschaftlichen Fächern in der gesamten Schullaufbahn der Kinder liegen. Das müssen und werden wir stärker angehen.
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Ich sehe hier drei wesentliche Handlungsfelder:
Erstens. Dem Fachkräftemangel müssen wir entgegenwirken, und zwar vor allem durch die Stärkung von frühkindlicher und außerschulischer MINT-Bildung, indem wir die MINT-Fächer frühzeitig attraktiv machen: zum einen bereits in Kita und Grundschule, zum anderen aber auch an außerschulischen Lernorten, und zwar für jede und jeden, unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht und Herkunft der Eltern.
Zweitens. Wir müssen auch die Infrastrukturen an Schulen verbessern und außerschulische Orte für MINT-Bildung schaffen. Bezüglich MINT und Digitalisierung ist noch viel zu tun. Es gilt zunächst, strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, die einen Lernort ermöglichen, wie die Bereitstellung digitaler Technologien, aber auch die Weiterbildung pädagogischer Lehrkräfte.
Drittens. Gerade für Mädchen und junge Frauen brauchen wir mehr Mentoring-Programme, um die Begeisterung für MINT-Fächer und -Berufe zu wecken.
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Meine Damen und Herren, Emmanuelle Charpentier hat etwas Großartiges entdeckt. Sie glaubt an die Wissenschaft. Auch wir müssen stärker an die Wissenschaft glauben – gerade in dieser Zeit der vielen alternativen Wahrheiten.
Liebe Schülerinnen und Schüler, ich bin fest davon überzeugt, dass es viele Charpentiers unter euch gibt.
Wir sind mit den Reformen aus dem MINT-Aktionsplan auf einem guten Weg, Netzwerke auszubauen. Lassen Sie uns miteinander voneinander lernen!
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – das verbirgt sich nämlich hinter dem Kürzel MINT – gehören zu moderner Bildung. Warum? Weil wir solche großen Nummern wie Klimawandel, Digitalisierung der Gesellschaft, Demokratieentwicklung, eine gerechte Weltwirtschaft und Nachhaltigkeit nicht einfach über uns ergehen lassen dürfen, sondern weil wir sie aktiv mitgestalten müssen.
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Dafür müssen kleine und große Menschen sich üben im Mitgestalten und im Mitentscheiden, eben nicht nur im Simulieren. Sie müssen naturwissenschaftliche und technische Sachen verstehen lernen und verändern können. Das braucht mehr als Anwenderqualitäten, meine Damen und Herren. Es geht immer noch um Bildung. Bücher lesen, programmieren, experimentieren, Kunst gestalten, kritisieren lernen, mit Abstand Dinge tun, hinter die Kulissen gucken, all das lernt man, wenn es gut läuft, in Kita und in Schule. Die wiederum brauchen dafür Profis verschiedener Ausbildungen: Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter, Wissenschaftlerinnen, Handwerkerinnen, Künstlerinnen,
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eigentlich so viel, wie es geht, und sie brauchen gute Lehr- und Lernmittel. Von all dem gibt es zu wenig. Das sind die Bildungsbremsen. Das muss an jeder passenden Stelle immer wieder gesagt werden.
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Ich will auf vier Punkte aufmerksam machen, für die wir uns auch mit unserem Antrag starkmachen:
Erstens. Naturwissenschaftliche Bildung darf kein Eliteprojekt bleiben. MINT-Bildung muss für alle – ich betone: für alle – Schülerinnen und Schüler zugänglich werden. Das darf eben nicht nur eine allgemeine Phrase bleiben, sondern dafür müssen sich Praktiken und Denkweisen verändern. Mit anderen Worten: MINT-Bildung muss dort initiiert werden, wo man gemeinhin eben keine Talente vermutet: in Schulen, die in Brennpunktvierteln liegen und die mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind. Es bedarf einer Ansprache, die an die Lebenswelt ebendieser Kinder anknüpft, und es bedarf der Themen, die sie in ihrem Alltag – und der unterscheidet sich gelegentlich von dem der anderen – interessieren.
Zweitens. Ich finde, naturwissenschaftliche Bildung darf kein Männerladen bleiben; hierzu ist erfreulicherweise schon einiges gesagt worden. Wir sind immer noch richtig schlecht: In den MINT-Berufen gibt es einen Frauenanteil von 16 Prozent. Noch schlechter sind wir bei der MINT-Berufswahl: Hier liegt der Frauenanteil bei 8 Prozent. Das heißt, aus der Sicht von Frauen, genau genommen aus der Sicht der Gesellschaft, geht es weiter bergab. Hier müssen wir aufmerksam sein.
Hier gilt es, früh anzufangen, schon in der Kita. Es geht darum, Vorbilder im Alltag zu erleben. Das geht im Übrigen am besten durch Ganztagsschulen. Lehrkräfte müssen sensibilisiert werden. In der Studieneingangsphase müssen die Studierenden, vor allen Dingen die jungen Frauen, begleitet werden. Wichtig ist auch, dass man mit Frauen – lassen Sie mich das so zugespitzt formulieren – nicht umgeht wie mit kranken Pferden, sondern dass man sie auf Augenhöhe unterstützt.
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Frau Bull-Bischoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?
Nein.
Drittens. MINT-Bildung hat im Osten eine lange Tradition. Sie hieß dort „polytechnische Bildung“. Daran gibt es viel zu kritisieren, aber es gibt auch sehr viel Interessantes, was man durchaus hinterfragen könnte. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Angebote, die vom Bund bereitgestellt werden, sehr viel weniger angenommen werden. Das muss uns nachdenklich machen. Lassen Sie mich das am Anteil der MINT-Regionen im Osten verdeutlichen. In Sachsen-Anhalt – das ist bei mir um die Ecke – gibt es eine einzige MINT-Region, obwohl Mitteldeutschland Chemieregion ist. In Nordrhein-Westfalen gibt es dagegen 41 MINT-Regionen. Das ist symptomatisch. Hier läuft was schief.
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Das heißt, Akteurinnen und Strukturen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Berlin müssen direkt angesprochen werden, und ihre Erfahrungen müssen auf Wertschätzung stoßen.
Viertens. Naturwissenschaftliche Bildung darf kein Einfallstor für Lobbyismus werden. Herr Sattelberger, Redundanz und Klischees langweilen.
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Was ist eigentlich gemeint? Gemeint ist: Schulen sind momentan zum Beispiel in Bezug auf die digitale Infrastruktur ausgehungert. Es wird am Limit gearbeitet. Es gibt einen Mangel an gut ausgebildeten Lehrkräften und an dem, was man für digitales Lernen braucht. Wenn jetzt die ganz großen Player ans Tor klopfen – da bin ich mir im Übrigen mit sehr vielen aufmerksamen Lehrkräften einig –, dann sollte ein gerüttelt Maß an Skepsis und an Vorsicht aufgerufen werden; denn die Konzentration auf deren Betriebssysteme und auf deren Software gefährdet digitale Mündigkeit. Dabei ist das eine ganz zentrale Kompetenz.
Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Betriebssystemen aufwachsen, dass sie hinter die Kulissen gucken und selbst programmieren und verändern können; „Open Educational Resources“ ist das Stichwort. Wir brauchen Standards offener Bildung, Software, die mit offenen Quellcodes arbeitet, und wir brauchen Rahmenbedingungen, die zur Förderung dieser Bildungsmaterialien beitragen.
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Wir brauchen Interoperabilität, das heißt, das Miteinander der Systeme muss funktionieren. Außerdem brauchen wir eine Kultur des Tauschens und des Teilens statt der Abhängigkeit von Lizenzen geschlossener Programme.
Selbstverständlich sind wirtschaftliche Interessen legitim – wir werden auch künftig Schulbücher nicht von der Kultusbehörde schreiben lassen; selbstverständlich nicht –, aber in Schulen haben Lock-in-Effekte nichts zu suchen. Hier brauchen wir Aufmerksamkeit und Standards.
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Wenn ich es auf den Punkt bringen soll: MINT-Bildung muss nicht nur sensibel für Vielfalt sein, sondern Vielfalt muss dort auch stattfinden; sonst wird es nichts mit erfolgreicher MINT-Bildung.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Margit Stumpp.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man aus den zehn Seiten MINT-Antrag den üblichen FDP-Sprech heraussiebt, dann sind doch etliche Forderungen übrig, die aus unserem Antrag zum Thema „Guter Ganztag“ entliehen sein könnten, zum Beispiel die Entlastung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams, Raum für individuelle Förderungen – was vor allem Kindern aus benachteiligten Familien zugutekommt –, die zügige Digitalisierung von Schulen durch digitale Grundausstattung, DigitalPakt Plus und die Einrichtung einer Bundeszentrale für digitale und Medienbildung.
Der wesentliche Unterschied ist: Wir denken von den Bedürfnissen der Kinder her, die FDP von den Bedürfnissen der Wirtschaft her. Im Bereich MINT wird vor allem ein Mangel beklagt. Unter anderem schreiben Sie: Sie wollen bezogen auf das fehlende Interesse insbesondere von Mädchen die Rollen der Elternhäuser untersuchen. – Dazu gibt es schon lange und viele Studien. Natürlich hat die Familie einen Einfluss, vor allem das elterliche Vorbild. Aber was soll Ihrer Meinung nach daraus folgen? Sollen in Zukunft die Mütter den Rechner aufschrauben, wenn die Festplatte kollabiert ist, damit sich das Rollenbild der Kinder weitet?
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Liebe Freie Demokraten, solange unsere Gesellschaft immer noch fest in Rollenstereotypen verhaftet ist, was Frauen und Technik angeht, so lange gibt es für Mädchen eine besondere Hürde beim Zugang zu MINT.
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Als ich im fünften Semester geheiratet habe, wurde ich von einem Professor vor versammelter Mannschaft gefragt, warum ich denn immer noch zur Vorlesung käme, ich hätte doch mein Ziel erreicht und auf dem für Frauen attraktivsten Heiratsmarkt der Region einen Mann gefunden. Noch im achten Semester musste ich mich fragen lassen, wie ich mich denn in Zukunft nennen wollte: „Ingenieuse“ oder „Ingenieurin“? Auch heute kann es mir noch passieren, dass mir ein TÜV-Prüfer ungefragt erklären will, wie die Abschaltautomatik meines Motorrades funktioniert.
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Angesichts solcher Erlebnisse verwundert es nicht, dass gerade im Westen Deutschlands der Frauenanteil, insbesondere in den harten Technikberufen, niedrig bleibt. Da wirkt das unselige Mutterverdienstkreuzdenken und das brachiale Zurückdrängen der Frauen aus Führungspositionen und Männerberufen in der Nachkriegszeit immer noch nach.
In vielen Teilen der Welt ist der Frauenanteil gerade in den harten technischen Berufen deutlich höher; es wurde gerade genannt. Wenn ein Schub im Westen bei Studienanfängerinnen zu verzeichnen war, dann war das oft ein Wiedervereinigungseffekt.
Im Übrigen setzen sich Frauen im Alltag ständig mit Technik auseinander. Aber sobald diese „weiß“ ist, wird sie verweiblicht und nicht mehr als Technik wahrgenommen. Ich habe mal in meinem früheren Kollegenkreis, alles Ingenieure, gefragt, wer seine Waschmaschine bedienen oder seinen Geschirrspüler programmieren könne. Es folgte peinliches Schweigen.
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Frau Stumpp, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?
Nein. – Rollenbilder wirken leider auch in die andere Richtung. Ein Vater, der sich um die Kinder kümmert, wird vom Vertreter an der Haustür nach der Hausfrau gefragt. Ein Junge, der beim Kochen hilft, muss sich fragen lassen, wie aus ihm ein richtiger Mann werden soll. Die Klischees reichen bis in die Politik, liebe Kolleginnen. Wie oft wurde Ihr Partner nach Ihrer Wahl ins Hohe Haus gefragt, was er denn nun mache, wenn die Frau die ganze Zeit in Berlin sei?
Diese rollenspezifische Sicht findet sich leider auch im Antrag selber wieder. Ein Maker Space ist hier vor allem Werkstatt. Liebe Kolleginnen, eine Küche ist auch ein Maker Space. Kochen ist angewandte Naturwissenschaft, Physik, Chemie, Biologie, und angesichts der massiven Probleme durch Fehlernährung – über 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig – sollte auch die Küche als Maker Space in einer Schule verankert sein.
Was ist mit dem Kreativpotenzial von analoger Kunst und Musik? Kulturelle Bildung ist prozessorientiert. Wie verhält es sich mit der Bildung über nachhaltige Entwicklung? Das ist Ihnen noch eingefallen, und Sie haben einen Antrag nachgeschoben. Diese Bildung kommt ebenfalls zu kurz, obwohl sie viel Kreativpotenzial bietet. Ich bin der Meinung: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen.
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Es ist richtig und notwendig, in den Schulen mehr Freiräume für Kreativität zu schaffen, damit den Kindern die Freude am Experimentieren und Erkunden erhalten bleibt. Dafür gibt es viele gute Beispiele, gerade in meinem Wahlkreis. Das Werkgymnasium ist als „Heidenheimer Modell“ seit 50 Jahren Modellschule und es ist immer noch Modell. Die JuniorAkademien und das Experiminte-Museum sowie das Explorhino sind als außerschulische Lernorte Erfolgsmodelle. Und natürlich leisten Institutionen wie das „Haus der kleinen Forscher“ exzellente Arbeit.
Deswegen ist uns ein rhythmisierter Ganztag mit den notwendigen zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten wichtig. Deswegen fordern wir die Entlastung der Lehrkräfte durch multiprofessionelle Teams und Medienbildung von Anfang an. Dazu gehören natürlich hohe Qualitätsstandards, aber doch nicht nur für MINT. Die alleinige Fokussierung darauf greift zu kurz. Deswegen ist die Vorgabe für spezielle Fächer und Stundenzahlen zu einseitig; denn das Experimentieren-Können und Ausprobieren-Wollen sind Elemente des ganzheitlichen Lernens und hängen nicht an einzelnen Fächern.
Wie wir eine offene Lernkultur, nicht nur mit Blick auf freies Lernen, sondern auch mit Blick auf die Freiheit der Lehre und der Pädagogik verankern wollen, ist strittig. Über diesen und andere Punkte müssen wir im Ausschuss reden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Bundesregierung die Bundesministerin Anja Karliczek.
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Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Passender hätte das doch in dieser Woche gar nicht sein können.
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Denn in dieser Woche hat die Nobelpreiskommission entschieden: Zwei Forscher, die in Deutschland forschen, bekommen den Nobelpreis.
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Und eine davon ist eine Frau. Wir wollen – ich glaube, da sind wir alle uns hier einig –, dass sich mehr junge Frauen für MINT-Berufe entscheiden. Genauso wichtig wie die diversen Förderprogramme ist es, an dieser Stelle auch inspirierende Vorbilder zu haben, Menschen, die uns faszinieren und denen wir nacheifern können. Frau Professorin Charpentier, die Entwicklerin der Genschere und Nobelpreisträgerin für Chemie, ist solch eine inspirierende Frau und Wissenschaftlerin.
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Aus Studien wissen wir, dass es ein ganz entscheidender Faktor für die spätere Berufswahl ist, dass Mädchen MINT-Vorbilder haben. Es muss nicht immer eine Nobelpreisträgerin sein, sondern genauso gut sind engagierte Physiklehrerinnen oder vielleicht auch Mütter, die als Ingenieurinnen oder Mechatronikerinnen arbeiten. Hier können wir im 30. Jahr der Wiedervereinigung noch von unseren ostdeutschen Bundesländern lernen; denn Frauen in MINT-Berufen sind dort selbstverständlich.
Genau diese gesellschaftliche Normalität bleibt Ziel und Aufgabe für unser Innovationsland Deutschland. Aber wie erreichen wir das? Wir haben das „Haus der kleinen Forscher“ – es ist schon mehrfach angesprochen worden –; das ist ein echtes Erfolgsrezept. Wir werden es jetzt auf sichere Füße stellen und institutionalisieren. Aber MINT-Begeisterung in der Kita führt eben noch nicht automatisch zu einem Medizinstudium. Ganz viele Mädchen verlieren das Interesse an MINT-Berufen oder auch an MINT generell in der Schule wieder, weil sie sich nicht angesprochen fühlen – vom Fach oder vielleicht auch von der Vorstellung, was man danach damit anfangen kann.
Diese Realität, meine Damen und Herren von der FDP, werden Sie eben nicht mit einem weiteren Ausstattungsprogramm des Bundes für die Länder ändern. Eine Virtual Reality macht eben noch keinen guten Unterricht. Nur mit einem inspirierenden MINT-Unterricht und begeisternden MINT-Lehrkräften werden sich mehr Mädchen und Frauen einen Beruf in MINT vorstellen können. Da müssen Sie ran: an den Unterricht.
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An dieser Stelle herzlichen Gruß an Ihre eigene FDP-Kultusministerin.
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Wenn wir wollen, dass diese Technik Gutes in der Bildung bewirkt, dann brauchen wir pädagogische Konzepte, und wir brauchen didaktisch gut ausgebildete Lehrkräfte in allen Ländern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Konzepte für den Einsatz digitaler Technik für einen anschaulichen und kreativen MINT-Unterricht sind keine Bürokratiemonster, wie Sie dauernd suggerieren. Sie sind notwendige Bedingung für gute digitale Bildung.
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Wir haben im vergangenen Jahr mit dem MINT-Aktionsplan ein ganzes Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht: rund 55 Millionen Euro zusätzliche Investitionen in die MINT-Bildung. Und ganz vieles von dem, was Sie hier fordern, setzen wir längst um.
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Auch bei der Zielgruppe sind wir uns einig. Wir müssen Kinder und Jugendliche erreichen, Mädchen und Frauen, MINT-Fachkräfte, MINT-Vorbilder in der ganzen Gesellschaft.
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Das erreichen wir unter anderem mit dem flächendeckenden Ausbau von MINT-Angeboten für Jugendliche außerhalb der Schule und dem Aufbau – Frau Benning hat es angesprochen – einer bundesweiten MINT-Vernetzungsstelle mit E-Plattform.
Für entscheidend halte ich aber eben auch die Bildungsforschung für MINT; denn wir wissen immer noch nicht wirklich genug darüber, welche Instrumente der MINT-Bildung am besten wirken. Deshalb intensivieren wir parallel die MINT-Bildungsforschung.
Wir machen noch mehr. Wir werden deutschlandweit um die 40 MINT-Cluster fördern; die ersten starten noch in diesem Jahr. Unter diesen Angeboten sind Maker Spaces und starke Verbünde von Schülerlaboren, Vereinen, Hochschulen und Unternehmen.
Meine Damen und Herren, natürlich – dies sage ich auch einmal an die Adresse der Linken – liegt die MINT-Förderung ganz klar auch im unternehmerischen Interesse. Ja, wir brauchen Fachkräfte. Natürlich liegt es aber noch viel mehr im gesellschaftlichen Interesse, dass MINT-Berufe für alle selbstverständlich werden. Denn: Ohne MINT entwickeln wir keinen Impfstoff gegen Corona.
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Ohne MINT werden wir die Transformation hin zum Grünen Wasserstoff nicht packen. Und ohne MINT hebt in Deutschland auch kein Flugzeug ab.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir denn? Wir haben die Girls’ Days, wir haben die Initiative Klischeefrei, wir haben das Professorinnenprogramm, über das übrigens schon über 200 neue MINT-Professorinnen gefördert worden sind. Wir haben den Nationalen Pakt für Frauen in MINT-Berufen; denn auch das sind wichtige Vorbilder: mehr Frauen in MINT-Berufen für die Chefetagen.
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Weil wir vieles an vielen Stellen tun, sehen wir eben auch Erfolge und Fortschritte. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Frauen in MINT-Studienfächern fast verdoppelt; immerhin jeder dritte MINT-Studienabschluss wird inzwischen von einer Frau erreicht. Doch wir werden weiter motivieren. Die Zahlen werden und müssen noch steigen, damit wir es schaffen, den Fachkräftebedarf zu decken.
An dieser Stelle würde ich mich freuen, wenn auch Sie alle mitmachen. Als Botschafter unseres MINT-Aktionsplans sind Sie als engagierte Unterstützer alle herzlich willkommen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Götz Frömming.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor uns liegen insgesamt vier Anträge, drei von der FDP, einer von den Linken, in denen Sie den Ländern erklären wollen, wie gute Bildungspolitik geht. Da müssen Sie sich natürlich schon mal fragen lassen, warum Sie das denn in den Ländern, in denen Sie mitregieren, nicht machen. Die FDP stellt die Ministerin für Bildung in Nordrhein-Westfalen; das wurde schon gesagt. Die Linke ist gleich in mehreren Ländern mit an der Regierung beteiligt: Thüringen, Berlin beispielsweise.
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Warum machen Sie das denn nicht in diesen Ländern? Es ist ja mithin bekannt, dass nicht Berlin oder Nordrhein-Westfalen die Leuchttürme der Bildungspolitik sind, sondern die Maßstäbe setzen hier nach wie vor Bayern und Sachsen.
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Werfen wir mal einen Blick in Ihren Antrag. Ich konzentriere mich auf den Hauptantrag der FDP. Dieser liest sich über weite Passagen so, als hätte sich eine feministische Hochschulgruppe der Jusos als Ghostwriter betätigt.
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Ich will das an ein paar Beispielen zeigen.
Sie kritisieren beispielsweise die Studie zu Corona der angesehenen Nationalen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina. Albert Einstein, Charles Darwin, Max Planck waren beispielsweise dort Mitglied. Die FDP kritisiert nun, dass an der besagten Studie der Leopoldina mehr Thomasse und Jürgens als Frauen mitgewirkt hätten; das würde die Gesellschaft nicht korrekt abbilden. Lieber Herr Sattelberger, ist das Ihr Ernst?
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Wir sagen dazu: Wenn Thomas und Jürgen mehr Ahnung von der Sache haben als Greta und Luisa, dann ist das eben so.
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Meine Damen und Herren, Leistungsprinzip statt Gender- und Quotendenken: Das war einmal eine liberale Haltung; aber die hat offenbar in der FDP keine Heimat mehr.
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Das Wort „Fachlehrer“ haben wir in Ihrem Antrag vergeblich gesucht. Zwölf Seiten ist er immerhin lang. Stattdessen setzen Sie auf die totale Digitalisierung des Lernens und Lehrens. Statt Lehrern, die ihr Fach beherrschen, braucht man in der FDP-Schule dann nur noch ein paar Lernbegleiter oder Coaches, die die Computer bedienen.
Weiter fordert die FDP die Förderung des forschend-experimentellen Lernens. So weit, so gut. Aber schon für Kinder unter drei Jahren! Meine Damen und Herren, früher nannte man das übrigens „Spielen“. Jeder, der einmal das Glück hatte, mit den eigenen Kindern in der Badewanne zu sitzen, weiß, wie das geht, nämlich ganz von selbst.
Die Kultusminister der Länder wollen Sie anleiten, curriculare Konzepte zu entwickeln. Wer soll denn das machen? Frau Karliczek? Der Bund, meine Damen und Herren, hat hier überhaupt keine Kompetenz; es gibt nun mal keine Bundeslehrer.
Dann wollen Sie Medienkompetenz in die Lehrpläne aufnehmen lassen. Das gibt es längst in den Ländern. Informieren Sie sich!
Gut finde ich: Sie fordern, laufende Programme wie „Girls’ Day“ und „Komm, mach MINT“ – „Haus der kleinen Forscher“ ergänze ich – auf ihre Wirksamkeit zu evaluieren. Das unterstützen wir.
Meine Damen und Herren, eine nachhaltige Verbesserung der eklatanten Missstände im Bildungswesen lässt sich nur durch eine massive Investition in die Lehrerausbildung erreichen und nicht durch versteckte Subventionen der Softwareindustrie.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Ulrike Bahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! MINT-Bildung ist natürlich außerordentlich wichtig. Nicht nur die steigende Nachfrage an Fachkräften im MINT-Bereich unterstreicht, dass wir diesen nicht vernachlässigen dürfen. Aber das hat auch gar keiner vor, nicht jetzt und auch nicht später; denn die MINT-Berufe sind die Berufe der Zukunft. Daher ärgert mich auch der FDP-Antrag ein wenig, weil er – wie so oft bei den Freien Demokraten – suggerieren will, dass die Koalitionsfraktionen für die Stärkung dieses Bereichs nichts unternommen hätten. Das ist schlichtweg falsch.
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Wir haben es bereits gehört: Es gibt viele tolle Initiativen, die wir auf den Weg gebracht haben. Der MINT-Aktionsplan, der genau die Felder stärkt, welche nun die FDP mit ihrem Antrag angehen will, steht exemplarisch dafür. Die MINT-Bildung für Kinder und Jugendliche wird bereits passgenau und attraktiv gestaltet. Die Fachkräfteausbildung und ‑sicherung wird gefördert. Und die Möglichkeiten für Mädchen und Frauen, die der MINT-Bereich für sie bereithält, stehen in einem besonderen Fokus. Das „Haus der kleinen Forscher“ begeistert unsere Kleinsten. Bundesweite Schüler- und Jugendwettbewerbe wie „Jugend forscht“ stärken die schulische und außerschulische Bildung und schärfen den Blick für MINT-Möglichkeiten junger Leute. Begleitet werden diese Maßnahmen von digitalen Kommunikationskanälen. Das verfängt, wenn auch nur langsam. Die Beschäftigungszahlen im MINT-Bereich entwickeln sich positiv.
Was mich aber immer umtreibt, ist die Tatsache, dass noch immer Frauen viel zu selten in die MINT-Berufe finden, trotz aller Anstrengungen. 69 Prozent der jungen Frauen wählten 2018 aus allen 369 Ausbildungsberufen nur 20 verschiedene aus – und darunter war kein einziger naturwissenschaftlich-technischer Beruf. Das muss sich ändern! Darum ist die Stärkung der beruflichen Bildung auch für den MINT-Bereich zentral.
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Darum muss sich die Allianz für Aus- und Weiterbildung kontinuierlich mit dem Thema beschäftigen. Im Hochschulbereich sieht es zwar etwas besser aus, die Aussichten bleiben aber trotzdem duster. Daher werde ich mich in den Haushaltsberatungen dafür einsetzen, dass der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufen auch 2021 fortgeführt wird. Denn dieser sorgt schon seit 2008 dafür, dass explizit junge Frauen verstärkt in die MINT-Studiengänge und -Berufe finden.
Aktionen wie den bundesweit stattfindenden Girlsʼ Day müssen wir fortführen; denn die MINT-Praxis muss entlang der gesamten Bildungskette gelebt werden. Der 15. Kinder- und Jugendbericht hat dazu noch ein paar gute Anregungen: Jugendliche kritisieren dort, dass die allgemeine Berufsorientierung an der Schule viel zu früh, in der 8. Klasse, angesetzt ist, sie zu stark auf das Verfassen von Bewerbungsschreiben fixiert ist und sich zu wenig an den Stärken und Interessen der Schülerinnen und Schüler orientiere. Da kann man ruhig in Richtung der Länder fordern, etwas zu ändern. Schülerpraktika und Praxistage sind für die Berufswahl von zentraler Bedeutung. Damit die dort gemachten Erfahrungen nachhaltig wirken können, muss auch ausreichend Raum für ihre gezielte Vor- und Nachbereitung gewährt werden. Das fordern wir schon lange.
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Meine Rolle als Familien- und Bildungspolitikerin bringt mich auch zu meinem letzten Punkt; denn auch der Ganztag kann bei der MINT-Sensibilisierung entlasten. Nicht das längere Verweilen in der Schule, sondern nur das hochwertige Angebot hat eine positive Auswirkung auf die Bildungsgerechtigkeit. Warum nicht also in MINT denken und den geplanten Rechtsanspruch mit einem entsprechenden Angebot hinterlegen? Neben musischen und sportlichen Angeboten kann MINT-Bildung von früh an erlebbar werden, mit spielerischen Aktivitäten in Technik-Workshops, bei spannenden wissenschaftlichen Experimenten oder beim Beobachten von Naturphänomenen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank!
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der FDP der Kollege Mario Brandenburg.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich eine wunderschöne Rede für Sie vorbereitet, muss jetzt aber doch noch etwas von der Redezeit opfern.
Kollege Espendiller, mir war nicht bewusst, dass sich die AfD inzwischen um Bäume sorgt und Sie inzwischen quasi auch einen Baumkuschler-Flügel haben. Aber ich kann Sie beruhigen: Für einen Antrag der FDP stirbt kein Baum, wir machen das digital. Bäume sterben erst, wenn Ihre Retrofraktion sich die Berge vor Ihnen ausdrucken lässt.
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Und an der Stelle: Sehr hoch geschätzte Kollegin Stumpp, wenn man einen FDP-Antrag von FDP-Sprech befreit, dann ist er leer. Deswegen erinnert er Sie an grüne Anträge.
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So, jetzt aber zurück zum Thema. Frau Karliczek, Sie haben im Ausschuss am Mittwoch den Satz gesagt: Deutschland ist aus einem digitalen Winterschlaf erwacht. – Das ist schön, die Feststellung ist richtig, insofern: Guten Morgen! Nur kommt Ihnen ja genau deswegen das, was die Freien Demokraten die ganze Zeit fordern, so stressig vor. Ich verstehe: Wenn man gerade aufsteht, ist das natürlich durchaus nervig. Nur reicht es gerade im MINT- und Technologiebereich eben nicht, was wir aktuell tun. Genau deswegen braucht es einen Zukunftsvertrag für moderne Bildung.
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Ich möchte die Ambitionslosigkeit auch erklären: Wenn ich in Diskussionen um digitale Bildung und das Lernen von zu Hause höre, dass wir in fünf Jahren so weit sind wie die Dänen oder wie asiatische Länder, dann ist das gut und richtig. Nur kann es doch nicht unser Anspruch sein, in fünf Jahren so weit zu sein, wie jemand anderes dann vor fünf Jahren war. Es muss doch unser Anspruch sein, in zehn Jahren wieder so weit zu sein, dass für unser Land gilt: Bildung wieder als Exportschlager und nicht als Importgut!
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Dabei ist der Umgang mit neuen Technologien nun mal elementar. Sie müssen früh in die Lebenswirklichkeit der Heranwachsenden eingeführt werden, damit man sich seine eigenen Meinungen bilden kann.
Zu den angesprochenen Forscherinnen. An der Stelle natürlich auch Gratulation für die Entdeckung der Genschere; das wird sehr, sehr vieles verändern. Nur müssen Sie die Geschichte dann auch zu Ende erzählen. Denn ist es nun mal ein Fakt, dass der Umgang mit dieser Genschere, nämlich mit sogenannten CRISPR-Kits oder CRISPR-Sets, für den Biounterricht an einem College in den USA bereits im Lehrplan steht. Er wird dort gemacht, erlebt. Es wird sich Meinung darüber durch Erleben gebildet. Hier gibt es nur Theorie, und keine Theorie der Welt wird die Praxis schlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
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Genau deswegen muss die Frage an die Regierung auch erlaubt sein: Wenn wir den jungen Menschen den Umgang mit diesen Technologien – Genschere, Nanobots, Exoskelette, alles, was auf die nächste Generation zukommen wird – nicht früh genug ermöglichen, wie sollen sie dann mehr werden als nur gute Kunden, nämlich mündige Individuen, die sich damit ihr Leben selbst bauen können?
Deswegen ist es so wichtig, dass es stattfindet. Nur so wird dieses Land endlich wieder Zukunft gestalten, anstatt Gegenwart zu verwalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Ronja Kemmer.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute insgesamt vier Anträge. Da in der Debatte von unserer Ministerin, aber auch von der Kollegin Benning schon viel zum Thema MINT gesagt wurde, will ich noch mal das Stichwort „digitale Bildung“ aufgreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, es ist wie so oft in Ihren Anträgen ja nicht alles falsch, was drinsteht. Aber es fehlen halt irgendwie auch die neuen Erkenntnisse. Ja, wir brauchen WLAN in den Schulen, und ja, wir brauchen digitale Endgeräte. Aber wie bei so vielen Debatten in den letzten Wochen und Monaten kann ich Ihnen einfach wieder nur erneut ans Herz legen: Schauen Sie sich doch einmal die Förderkriterien des DigitalPakts Schule an. Seit anderthalb Jahren fördern wir von Bundesseite genau diese Themen: WLAN-Ausleuchtung, mobile und stationäre Endgeräte.
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Deswegen glaube ich, dass Sie das an dieser Stelle auch einmal anerkennen dürfen.
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Neben den 5 Milliarden Euro, die wir als Koalition schon zu Beginn zur Verfügung gestellt haben, haben wir jüngst in den Vereinbarungen noch einmal 1,5 Milliarden Euro draufgepackt. Das sind insgesamt 6,5 Milliarden Euro. Da kann man schon einmal fragen: Was würden eigentlich unsere Bundesländer machen, wenn der Bund hier nicht entsprechend vorangegangen wäre? Wir sind der Motor an der Stelle, wir leisten wirklich den starken Schub von Bundesseite, und ich glaube, dies gilt es dann auch einmal anzuerkennen.
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Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Zukunftsvertrag, den man zwischen Bund und Ländern aushandeln soll. Na ja, am Ende ist es halt doch wieder viel alter Wein in neuen Schläuchen. Mal nennen Sie es Digitalpakt 2.0, jetzt nennen Sie es einen Vertrag, den man braucht. Am Ende geht es doch darum, dass Sie im Grunde sagen, der Bund soll bei Bildungsfragen viel mehr zahlen, er soll die Länder aus der Verantwortung nehmen. Das lehnen wir als Union zumindest an der Stelle ganz klar ab.
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Bevor Sie also jede Woche hier einen neuen Mini-DigitalPakt oder wie auch immer fordern – dieses Mal zum Thema VR-Ausstattung –, packen wir lieber einmal gemeinsam da an, wo es momentan tatsächlich auch hakt. Es hakt – das wurde schon gesagt – bei der Umsetzung in den Ländern, beim Mittelabfluss, und da gilt es jetzt, gemeinsam Druck zu machen. Vielleicht überraschen Sie uns mal bei einem der kommenden Anträge, indem Sie dazu auch konkrete Vorschläge liefern.
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Die einzige echte Überraschung, die ich in Ihrem Antrag dann doch gefunden habe, ist, dass Sie auf einmal wieder das Stichwort „bring your own device“ in den Raum stellen. Man kann da, sage ich einmal, sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Fakt ist aber: Sie haben hier in der Vergangenheit in zahlreichen Debatten immer wieder gesagt, dass das Konzept prinzipiell abzulehnen ist. – Vielleicht klären Sie erst einmal intern: Sind Sie dafür oder dagegen? Ich finde, das ist ein Widerspruch. Genauso ist es im Übrigen ein Widerspruch, dass Sie jetzt auf einmal nachdrücklich fordern, wir bräuchten Konzepte mit didaktischem und pädagogischem Mehrwert. Ich erinnere mich, dass Sie, als wir hier vor ein paar Wochen darüber debattiert haben, die Forderung mit eingebracht haben, dass wir im DigitalPakt die technisch-pädagogischen Medienentwicklungspläne aussetzen bzw. abschaffen sollen. Also – das muss ich wirklich sagen –, da fehlt der rote Faden. Das lassen wir Ihnen auch nicht so unbemerkt durchgehen.
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Abschließend noch zum Antrag der Linken, der geradezu wieder vor ideologischen Feindbildern aus der Mottenkiste nur so strotzt – Stichwort: Unternehmer und Kooperationen vor Ort. Ob es um Unterrichtsmaterialien, um gespendete Ausstattung, um Projekttage, um Wettbewerbe – gerade auch im MINT- oder im digitalen Bereich – geht: Für Sie ist das immer alles eine riesengroße Bedrohung. Was Sie aber an der Stelle verkennen – das ist, glaube ich, ganz klar –, ist, dass doch gerade hier konkrete Anwendung, praktische Beispiele, die Möglichkeit, Dinge auch zu erleben, einen riesigen Mehrwert bietet. Die konkrete Anwendung bietet übrigens auch einen riesigen Mehrwert, finde ich, für junge Mädchen, für junge Frauen, sich den Fragen einmal kreativ zu stellen, sich den Themen praxisbezogen anzunähern. Es ist eben nicht, wie es manchmal heißt, aber nicht richtig ist, alles nur verstaubt und trocken, sondern wirklich konkret in der Anwendung.
Abgesehen davon – das will ich abschließend sagen – ist es im Übrigen auch keine Schande, wenn junge Menschen in der Schule nicht nur auf das künftige Leben, sondern natürlich auch auf das künftige Berufsleben vorbereitet werden.
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Gerade Sie reden immer von Vielfalt in der Bildung, wenn es aber um außerschulische Kooperationen geht, dann haben Sie die ideologischen Scheuklappen auf.
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Auch das lehnen wir natürlich ganz klar ab.
Deswegen werden wir die Anträge in Summe natürlich auch heute nicht annehmen.
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Ich freue mich aber auf die weiteren Debatten dazu im Ausschuss.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege René Röspel.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, im grundlegenden Ziel sind wir uns heute alle einig. Wir wollen die MINT-Berufe und -Ausbildungen noch stärker fördern, als das in den letzten Jahren getan wurde. Das ist auch gut so. Ich will aber ausdrücklich sagen: Das darf auch nicht zulasten von politischer Bildung oder sozial- oder geisteswissenschaftlicher gehen, weil die genauso bedeutend sind für unser Land.
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Wir haben in den letzten Jahren wahrgenommen, dass die FDP sich redlich bemüht, den Eindruck einer innovativen Partei zu erwecken. Wenn man die Anträge liest, sieht man auch, dass eine ganze Menge toller Begriffe eingeflossen sind: Maker Spaces, Lernlabore, Virtual Reality, CRISPR/Cas in die Schulen bringen, Holografieräume.
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Allerdings reicht nicht aus, all dies zu nennen, sondern man muss sich auch wirklich anschauen, was schon in den letzten Jahren passiert ist und wie sinnvoll das tatsächlich ist.
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Wer – wie wahrscheinlich viele Kolleginnen und Kollegen – einmal den nanoTruck oder das Science Mobil im Wahlkreis hatte, hat gentechnische Experimente mit Schülern machen können. Ich will einmal ausdrücklich in Frage stellen, ob die teure CRISPR/Cas-Technologie für Schüler oder Kinder, wie Sie schreiben, wirklich einen didaktischen Wert hat, sie vom Konsumenten dieser Technologie dadurch zu Gestaltenden werden, dass sie ein paar Pipetten benutzen und Lösungen ansetzen, und sich dadurch ein Wandel ergibt. Von daher, glaube ich, ist das eine eher aufgesetzte Forderung,
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und man muss sich genau anschauen, ob man denn das Ziel erreicht, das man damit verfolgt.
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Als ich die vielen interessanten Forderungen las, habe ich irgendwann gedacht: An wen sind diese Anträge eigentlich adressiert? Das ist doch eigentlich Länder- und Kommunalaufgabe. Und was hat der Bund damit zu tun? Dann kam mir das Bild vor Augen, dass vor etwa eineinhalb Jahrzehnten die FDP bei den Diskussionen in der Föderalismuskommission der Hoheitswahrer des Bildungsföderalismus war. Da wurde ausdrücklich immer – jedenfalls für den Bildungsbereich – postuliert: Der Bund muss sich raushalten aus Bildung. Es darf auch kein Geld fließen. Die Länder sind zuständig, und das bleibt so. – Vielleicht hat es ja da schon einmal einen Erkenntnisgewinn gegeben. Das fände ich sinnvoll. Wir als SPD jedenfalls finden ausdrücklich, dass der Bund da, wo er Hilfe leisten kann und muss, Hilfe leisten sollte.
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Den Eltern ist es ziemlich egal, wer dafür verantwortlich ist, dass ihre Schule schlecht aussieht.
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Wir als SPD sind übrigens seit 1998 als verlässlicher Partner an der Seite der Eltern, Schulen und Kommunen: angefangen mit dem Ausbau der Ganztagsgrundschulen
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bis hin zu dem, was die Ministerin und viele Kolleginnen und Kollegen zum DigitalPakt Schule und zur MINT-Bildung ausgeführt haben.
Nun ist die FDP immer dabei, nachvollziehbar auch Prüfkriterien für Handeln anzulegen: Key Performance Indicators, KPI – nicht Kommunistische Partei Italiens, aber so kann ich mir das merken.
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Deswegen muss sich die FDP auch einmal einer solchen Prüfung unterziehen. Da liegt es nahe, dorthin zu schauen, wo sie in der Realität wirklich Verantwortung trägt. Nun bin ich Nordrhein-Westfale und kann das auch aus der Praxis relativ gut beurteilen, weil in den letzten 15 Schuljahren meiner Kinder 8 davon unter schwarz-gelber Regierungsführung gelaufen sind. Und ich will ausdrücklich gerade zu den letzten Jahren sagen – von Unterrichtsausfall will ich gar nicht reden –: Wenn es nicht rot-grüne Vorgängerprojekte gegeben hätte wie Talentscouting und anderes,
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wäre als Bilanz wirklich wenig zu sehen.
Herr Sattelberger hat im Ausschuss richtigerweise gesagt: Die Mittel für die Endgeräte müssten nach anderen Zahlen als nach Bevölkerungsanteilen verteilt werden, nämlich nach Bedürftigkeit. Es war die FDP-Ministerin Gebauer aus Nordrhein-Westfalen, die das abgelehnt hat. Also müssten Sie unter diesem Gesichtspunkt einmal richtig handeln.
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Jetzt kommt der zweite Prüfaspekt: Ihre Liste liest sich ganz interessant, aber sie liest sich ziemlich teuer für Länder und Kommunen. Dann ist die Frage: Wie wird das eigentlich finanziert? Erst gestern stellte die FDP ihre Forderung, Unternehmensteuern müssen sinken, die 10 Prozent der Reichsten dürfen keinen Soli zahlen. Das kostet locker 10 Milliarden Euro, 4 Milliarden Euro für die Länder, 1,5 Milliarden Euro für die Kommunen, die weniger Geld für solche Maßnahmen, die sie eigentlich durchführen müssten, zur Verfügung hätten.
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Deswegen sind Ihre Anträge nicht innovativ, sondern im ganzen Handeln scheinheilig.
Wir als SPD und als Koalition stehen weiterhin an der Seite der Kommunen und der Schülerinnen und Schüler.
Vielen Dank.
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– Abwarten!
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Katrin Staffler.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haben Sie schon mal ein Hühnerei seziert, also ganz vorsichtig ein Loch in die Schale gemacht, die beiden Häute, die Membrane, aufgeschnitten, geöffnet, die Konsistenz des Eiweiß in den verschiedenen Schichten untersucht und festgestellt, dass der Dotter gar nicht einfach nur in dem Ei schwimmt, sondern an zwei Schnüren in der Mitte des Eis aufgehängt ist, und am Schluss noch die Keimscheibe gesucht, aus der der spätere Embryo entsteht? Das ist unglaublich faszinierend, kann ich Ihnen sagen.
Wenn Sie sich jetzt fragen, was das mit unserer heutigen Debatte zu tun hat, kann ich Ihnen sagen: Sehr viel sogar, weil genau solche Experimente, die in der 8. Klasse eine unglaublich gute Biolehrerin mit uns gemacht hat, bei mir dieses Feuer für die Naturwissenschaften geweckt haben. Sie waren mehr oder weniger schuld daran, dass ich später Biochemie studiert habe.
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Dabei war mein Weg nicht durch Familie oder Freunde, durch mein Elternhaus vorgezeichnet; ganz im Gegenteil: Es war genau diese eine Bioreferendarin, die ich in der 8. Klasse hatte, die mit so spannenden Versuchen wie dem mit dem Hühnerei und vor allem durch eine unglaubliche persönliche Begeisterung für diese Themen das Interesse am Erforschen, am Entdecken geweckt hat. Plötzlich, von einem Jahr aufs nächste, gab es in meiner Klasse eine ganze Reihe junger Mädels, die unbedingt Biolehrerin, Biologin, Lebensmittelchemikerin, alles Mögliche werden wollten. Und viele von denen sind es später dann auch geworden.
Was will ich damit sagen? Freude und Begeisterung für die MINT-Fächer sind ansteckend, gerade bei jungen Frauen. Ich habe das selber erlebt, und ich bin fest davon überzeugt, dass MINT-Bildung sehr wohl Interesse an diesen Fächern hervorrufen kann und es nicht bloß stärkt, wenn ich das an die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion gerichtet sagen darf.
Um Begeisterung für MINT-Fächer und -Berufe weiterzugeben, braucht es Vorbilder. Das muss nicht unbedingt eine erfolgreiche Wissenschaftlerin sein, die jeden Tag im Fernsehen ist. Für mich sind das gerade diese Alltagspersonen, die die Begeisterung für ein MINT-Fach weitergeben können, die helfen, mögliche Berührungsängste abzubauen und zu überwinden, die vor den Schülerinnen und Schülern stehen und sagen: „Lasst euch nicht durch Vorurteile oder Hürden entmutigen, sondern überwindet die Hürden, entkräftet sie!“, die ihnen vermitteln, dass die Berufsaussichten in einem MINT-Beruf sehr gut und die Arbeitsfelder unglaublich vielfältig sind. Technologien „Made in Germany“ wären ohne MINT-Bildung gar nicht möglich.
Wie viele andere Kolleginnen und Kollegen habe natürlich auch ich mir daheim, vor Ort ein Bild davon gemacht, wie unglaublich vielfältig diese MINT-Angebote sind. Ich habe dieses Jahr mit tollen Schülerinnen und Schülern, die mit unglaublicher Begeisterung ans Werk gingen, im Schülerforschungszentrum im MINT-Campus Dachau optische Geräte gebaut; das war eine ganz spannende Erfahrung. Ich glaube, beim „Tag der kleinen Forscher“ waren wir alle schon einmal bei uns vor Ort und haben uns gefreut, wie die kleinen Kinder die Welt um sich herum erforschen. Das beste Beispiel für mich ist immer die Robotik-AG in einem Gymnasium in meinem Wahlkreis: Junge Mädels und Jungs gewinnen mit den Robotern, die sie bauen, einen Preis nach dem anderen und stellen dabei sogar Studierende von renommierten Technischen Universitäten in den Schatten. – Das sind tolle Beispiele, die zeigen, wie umfangreich, wie vielfältig, wie spannend MINT-Bildung sein kann, und vor allem – auch das möchte ich sagen –, wie wichtig und wie notwendig sie ist.
Die Kolleginnen aus der Unionsfraktion haben in ihren Beiträgen schon dargelegt, dass in den letzten Jahren im Bereich der MINT-Bildung unglaublich viel passiert ist. Als Unionsfraktion bekennen wir uns natürlich dazu, dass wir die MINT-Bildung weiter fördern wollen. Aber wir wollen sie eben nicht nur weiter fördern, ganz im Gegenteil: Wir wollen sie noch sehr viel mehr stärken. Der MINT-Aktionsplan enthält, wie ich finde, viele richtige Maßnahmen, die jetzt umgesetzt werden, die aber – das vergessen die lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition gerne immer mal wieder – auch erst ihre Wirkung entfalten müssen. Das sollte man bedenken, bevor man anfängt, über die Maßnahmen zu meckern.
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Sie merken, dass es mir als Biochemikerin unglaublich wichtig ist, dass wir gerade bei den jungen Frauen die Begeisterung für Naturwissenschaften wecken, dass wir die jungen Menschen darin bestärken, ihren Forschergeist zu entwickeln.
Deswegen möchte ich zum Schluss sagen: Es ist völlig egal, ob ihr euch eine Physikerin wie Marie Curie, die beiden aktuellen Nobelpreisträgerinnen, über die wir heute hier viel gehört haben, die Chefforscherinnen bei CureVac und BioNTech, die an Coronaimpfstoffen arbeiten, oder eben die Biolehrerin in der Schule zum Vorbild nehmt. Aber, liebe Mädchen da draußen: Es hat sie in der Vergangenheit gegeben, es gibt sie nach wie vor, und es wird sie auch in der Zukunft geben, diese faszinierenden Frauen, die unglaublich erfolgreich in ihrer Arbeit waren und sind und die mit ihrer Forschung unsere Zukunft gestalten. Das könnt ihr auch. Macht was draus!
Danke schön.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen sind nicht vorgesehen. Ich schließe die Aussprache
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ein Hauptpunkt des vorliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht ist die Regelung des Aufenthaltsrechts in Deutschland lebender britischer Staatsbürger nach dem 31. Dezember 2020.
Nach dem Austrittsabkommen haben wir zwei Möglichkeiten: Wir können verlangen, dass jeder britische Staatsbürger einen separaten Antrag zu stellen hat. Wir haben aber auch die Möglichkeit, auf einen Antrag zu verzichten und den Aufenthaltsstatus automatisch zu bewilligen. Wir verfahren nach der menschlicheren und unbürokratischeren Vorgehensweise, indem wir nämlich das Statusrecht automatisch beibehalten; denn es wäre nicht nachvollziehbar, dass Briten, die vergessen, einen Antrag zu stellen, plötzlich ihren Aufenthaltsstatus beendet sähen.
In der Sachverständigenanhörung deutete eine Sachverständige an: Na ja, ihr geht damit in einer gewissen Art und Weise in Vorleistung, weil wir ja noch gar nicht wissen, ob wir mit Großbritannien überhaupt ein Abkommen über die zukünftigen Regelungen und das zukünftige Verhältnis haben werden. – Aber, meine Damen und Herren, es handelt sich um Menschen, es handelt sich um überzeugte Europäer, die sich hier in Deutschland aufhalten. Die dürfen nicht zur Verhandlungsmasse werden, und vor allen Dingen können sie nicht in Sippenhaft genommen werden für den großen historischen Fehler ihres Landes Großbritannien, den Brexit.
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Unsere bisherige Regelung zur EU-Freizügigkeitsrichtlinie ging der Kommission nicht weit genug; es wurde ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Nun gehen wir das Problem an und setzen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die EU-Freizügigkeitsrichtlinie vollständig um. Es ist ja auch nachvollziehbar, dass nahen Angehörigen von Unionsbürgern die Einreise und der Aufenthalt erleichtert werden sollen. Das war bis jetzt noch nicht deutlich genug gesetzlich geregelt.
Dann komme ich zu einer Vorschrift – erschrecken Sie nicht –: § 11 Absatz 4 Satz 2 des ursprünglichen Gesetzentwurfs sah eine sogenannte fiktive Prüfung zur Frage des Bestehens eines Aufenthaltsrechts vor. Das hört sich trocken und rechttheoretisch an, ist aber für die betroffenen Menschen von wirklich großer und existenzieller Bedeutung. Es handelt sich nämlich um Unionsbürger, die im Einzelfall zwar keinen Aufenthaltstitel besitzen, die aber wegen besonderer Umstände – etwa wegen besonderer Härte oder wegen des Schutzes von Ehe und Familie – aufenthaltsberechtigt sind. Die Ausländerbehörden haben teilweise gesagt: Wir brauchen das gar nicht zu bescheiden, weil das ja schon so ist. – Das Problem ist nur: Dann konnten diesem Personenkreis keine Sozialleistungen nach SGB II bewilligt werden. Dann haben die Sozialgerichte eine Krücke gebildet und gesagt: Wir prüfen fiktiv, ob das Aufenthaltsrecht besteht, und bestätigen dann den Leistungsanspruch.
Nach der Anhörung sind wir als Koalitionsfraktionen einhellig der Auffassung: Diese Vorschrift ist in diesem Gesetzgebungsverfahren zu streichen.
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Da es sich bei der Frage, ob ein Aufenthaltsrecht vorliegt, aber letztlich um die Ermessensentscheidung einer Behörde handelt, die nicht von einem Gericht ersetzt werden kann, ist eine gesetzliche Präzisierung auch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit sinnvoll. Rechtssystematisch handelt es sich aber nicht um eine Frage des Freizügigkeitsrechts oder des Aufenthaltsrechts, sondern um eine des Sozialrechts.
Alles in allem: Der in der jetzigen Fassung vorliegende Gesetzentwurf ist gelungen. Berechtigte Einwendungen wurden berücksichtigt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Norbert Kleinwächter.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser Beratung über die Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU steigen wir tief ein in den Morast und die Unlogik des EU-Rechts. Das ist halt das Ergebnis, wenn links-grüne Ideologie zu Recht wird.
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Kein Wunder, dass die Briten da ausgestiegen sind. Übrigens, Herr Seif, ich hätte einen Gesetzentwurf zu deren Aufenthalt erst gemacht, wenn der Vertrag steht. Das wird noch spannend.
Deutschland ist ein Mitglied der EU und damit verpflichtet, Änderungen in EU-Richtlinien in deutsches Recht umzusetzen. Hier betrifft es die Migration, spezifischer: die Freizügigkeit. Freizügigkeit bedeutet ja, dass Bürger eines anderen EU-Mitgliedstaats sich in Deutschland aufhalten und arbeiten dürfen und kein Visum benötigen. Das gilt selbstverständlich auch für Ehepartner und Kinder, selbst wenn sie keine Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats der EU haben.
Nun hat Deutschland aber von der EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren kassiert, weil es die Neuerungen der Freizügigkeitsrichtlinie nicht umgesetzt hat. Und wie das in Brüssel immer gerne so läuft, macht man sich da Gedanken, wie man die Freizügigkeitsregeln den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen kann. Und diese gesellschaftlichen Entwicklungen entsprechen natürlich den Vorstellungen derer, die schon die Ehe und die eingetragene Partnerschaft für antiquiert halten, und folgt lieber Personen mit devianten Geschlechtsidentifikations- und Partnerschaftsmodellen statt dem Konzept, das funktioniert. Kurzum: Aufenthalt und Einreise sollen für Familienangehörige in auf- und absteigender Linie sowie für nahestehende Personen erleichtert werden.
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Jetzt kommen wir zum Kern der Sache: Wer ist denn eine nahestehende Person? Per Definition ist das eine Lebensgefährtin oder ein Lebensgefährte, mit der oder dem die Person eine ordnungsgemäß bescheinigte auf Dauer angelegte Gemeinschaft eingegangen ist, die aber eben keine eingetragene Partnerschaft oder Ehe ist oder der oder dem der Unionsbürger mindestens zwei Jahre Unterhalt gewährt oder mit der oder dem der Unionsbürger mindestens zwei Jahre zusammengelebt hat,
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ohne dass gesagt wird, in welchem Zeitraum das ist.
Da stelle ich mir schon folgende Fragen: Was ist denn eine ordnungsgemäße Bescheinigung der Beziehung, wenn es keine Ehe ist?
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Und hat jemand § 3a Absatz 1 Satz 1 a erfüllt, wenn er beispielsweise zwei Jahre lang Geld per Western Union nach Nigeria transferiert?
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Ist dann die Nigerianerin nachzugsberechtigt? All das wird im Endeffekt nicht beantwortet in dem Gesetzentwurf.
Ich sage Ihnen was: Wir brauchen eigentlich gar keine nahestehenden Personen.
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Wir brauchen ein Bekenntnis zur Ehe und für die Homosexuellen meinetwegen auch zur eingetragenen Partnerschaft.
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Denn die Ehe ist doch ein Bekenntnis zu dem erwählten exklusiven Lebenspartner – auch dem Staat gegenüber –, mit diesem Lebenspartner eine dauerhafte Gemeinschaft einzugehen.
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Ihre links-grüne Dekonstruktion der Ehe ist eine Gefahr für die Stabilität des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und auch übrigens ein Anschlag auf das Sozialsystem.
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Das kam in der Anhörung bzw. im Sachverständigengutachten durchaus vor. Da gab es tatsächlich eine Diskussion – Herr Seif hat sie aufgegriffen – darüber, ob ein Aufenthaltstitel Voraussetzung für Sozialleistungen sein soll. Und wir sagen da ganz klar: Ja, und es muss noch viel mehr Voraussetzung für den Bezug von Sozialleistungen sein.
Ich greife das Beispiel auf, das in einem Gutachten erwähnt ist. Da geht es um eine nichterwerbstätige rumänische Frau und ihren rumänischen Lebensgefährten. Die beiden sind nicht verheiratet, haben zwei Kinder, und der Mann arbeitet in einer halben Stelle, verdient 850 Euro und stockt auf. Die Frage war: Darf sie hartzen? – Die Position der Vernunft und die der AfD gleichsam
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ist natürlich: Nicht einmal der Vater hat etwas in unserem Sozialsystem verloren. Wir als AfD sagen ganz deutlich: Freizügigkeit in der EU ist eine gute Sache, aber nur bei komplettem Ausschluss von Sozialleistungen.
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Nur wer sich und seine Familie hier selbst verhalten kann, darf dauerhaft hier sein. Deswegen hätten wir nicht einmal für den rumänischen Mann die 850 Euro aufgestockt. Das müssen Sie sich merken: Das Recht des fleißigen deutschen Arbeitnehmers, etwas von seinem Lohn zu haben, wiegt schwerer als das vermeintliche Recht eines Zuwanderers, vom fleißigen deutschen Arbeitnehmer verhalten zu werden.
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Diese Abwägung treffen wir leider sehr, sehr selten noch in diesem Bundestag und in der EU an.
Der Gesetzentwurf ist völlig kontraproduktiv. Wir müssen die Freizügigkeitsrichtlinie auf EU-Ebene angreifen, und da liegt noch viel Arbeit vor uns. Dieser Gesetzentwurf ist abzulehnen.
Haben Sie vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Sylvia Lehmann.
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Der AfD wünschen wir wenig nahestehende Personen.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der Beschlussfassung zu dem uns vorliegenden Gesetzentwurf erfüllt Deutschland seine Verpflichtung, die EU-Freizügigkeitsrichtlinie vollständig in nationales Recht umsetzen.
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Darüber hinaus schaffen wir aufenthaltsrechtliche Lösungen für heute in der EU lebende Britinnen und Briten nach Ende der Brexit-Übergangsfrist. Wir helfen unseren Azubis und Studierenden, ihre bereits begonnenen Studien oder Ausbildungen im Vereinigten Königreich zu beenden – mit BAföG. Liebe Studierende, wer einen Bachelorstudiengang begonnen hat, kann ihn auch abschließen. Das Gleiche gilt für Ausbildungen und für Masterstudiengänge.
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Auf der Zielgeraden haben wir beachtliches Tempo entwickelt und in den letzten zwei Wochen geprüft, recherchiert, Änderungsvorschläge gelesen und gegengelesen. Auf Initiative der Opposition gab es eine Anhörung im Fachausschuss, die von den Fraktionen einstimmig getragen wurde. Wir haben im wahrsten Sinne des Wortes parlamentarische Kärrnerarbeit geleistet. Dass Exekutive und Legislative, Koalition und Opposition gemeinsam so konstruktiv um Verbesserung ringen können, verdeutlicht mir, welch hohes Gut die parlamentarische Demokratie ist.
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Ich freue mich, dass von nun an nicht nur die Kernfamilie von Unionsbürgern einreisen darf, sondern unter dem Begriff der „nahestehenden Personen“ auch pflegebedürftige Tanten und Onkel, Kinder in Vormundschaft und Pflege sowie Lebensgefährten zuzugsberechtigt sind.
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Ich freue mich auch, dass Lebensgefährten keine amtliche Bescheinigung als Beweis vorlegen müssen. Ein gemeinsames Konto, ein gemeinsamer Mietvertrag, die gemeinsame Anschrift oder auch gemeinsame Kinder können ausreichen, um das glaubhaft darzulegen.
Es freut mich, dass wir mit den Änderungen Anliegen unter anderem der Verbände binationaler Paare, des Paritätischen, des bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel sowie des Bundesrates entsprechen konnten. Deshalb freue ich mich besonders darüber, dass die viel kritisierte Abschaffung der fiktiven Prüfung von Aufenthaltsrechten von Unionsbürgern durch die Sozialgerichte ausbleibt. Zahlreiche Unionsbürger, die einen objektiven Aufenthaltsgrund erfüllen und zumeist an der Armutsgrenze leben, dürfen wie bisher existenzsichernde Sozialleistungen erhalten. Wir haben die Abschaffung abgeschafft, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Für den lösungsorientierten Austausch bedanke ich mich beim Parlamentarischen Staatssekretär Stephan Mayer – leider nicht da –, bei den Fachpolitikern von Union und Opposition sowie den gehörten Expertinnen und Experten. Es ist gut, dass das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission nun ad acta gelegt werden kann. Die europäisch verordnete Erleichterung wird mit diesem Gesetz eine wirkliche Erleichterung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Konstantin Kuhle.
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Mit Maske! Es ist mir auch schon passiert, dass ich sie vergessen habe.
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– Das kann jedem passieren. Aber dann kriegt man einen entsprechenden Hinweis.
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Herr Kuhle, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über eine Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU, und die Fraktion der Freien Demokraten wird diesem Gesetzentwurf zustimmen.
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Wir regeln mit Blick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zwei sinnvolle Gegenstände. Es geht zum einen darum, dass Studierende, die sich heute im Vereinigten Königreich aufhalten, auch bis zum Ende ihrer Ausbildung bzw. ihres Studiums noch BAföG erhalten. Das ist ein sinnvoller Schritt. Das unterstützen wir. Es geht zum anderen darum, dass die britischen Staatsangehörigen, die sich heute in der Europäischen Union und insbesondere in Deutschland aufhalten, ein starkes Aufenthaltsrecht bekommen, auch wenn die Übergangsphase nach dem Brexit beendet ist.
Es ist aber zu beachten – das hat Kollege Seif hier ausgeführt –, dass die Bundesrepublik mit der heute zu beschließenden Änderung eine Verpflichtung aus dem Austrittsabkommen erfüllt. Ich finde es richtig, dass wir das tun. Ich finde es aber auch richtig, dass wir darauf hinweisen, dass in der gleichen Zeit das Vereinigte Königreich mit dem Binnenmarktgesetz offen das Austrittsabkommen bricht. Man kann das, was vorliegt, heute beschließen. Es ist aber auch richtig, dass die Europäische Kommission dann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien auf den Weg bringt. So kann man nicht verhandeln. Es muss eine gegenseitige Anerkennung der Rechte geben. Sie gelten umfassend für das ganze Austrittsabkommen. Deswegen muss hier ein starkes Zeichen der Europäischen Kommission gesetzt werden.
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Meine Damen und Herren, wir haben als zweite Thematik, die in diesem Gesetz geregelt wird, ein neues Aufenthaltsrecht für nahestehende Personen. Die Bundesrepublik kommt damit einem Vertragsverletzungsverfahren nach. Das ist der richtige Schritt, und das unterstützen wir auch. Ich will aber die Gelegenheit nutzen, um hier an einen Sachverhalt zu erinnern, den ich an anderer Stelle schon einmal angesprochen habe und der auch mit dem Zuzug zu Freizügigkeitsberechtigten zu tun hat. Es geht um binationale unverheiratete Paare, die gerade in der Coronakrise besonders davon betroffen sind, dass sie von den Ausnahmen, die die Europäische Union zulässt, in Deutschland nicht Gebrauch machen können. Die Kollegin Brantner und ich sowie viele andere Kolleginnen und Kollegen haben in der Regierungsbefragung Mitte September den Minister gefragt, wann endlich eine Ausnahme für diese Personen gemacht wird.
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Dann haben Sie gesagt: Schicken Sie uns das einmal zu. – Drei Wochen später haben wir einen Brief bekommen, in dem der Schwarze Peter wieder zurück an die Europäische Union geschoben wird. Das kann nicht sein.
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Lassen Sie diese Menschen endlich füreinander da sein in Coronazeiten. Liebe ist kein Tourismus. Das sollte endlich auch beim Bundesinnenministerium ankommen.
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Der dritte und letzte Gegenstand, der auch Grund für die Anhörung war, die wir im Innenausschuss durchgeführt haben, ist die Frage, inwiefern es einen Gleichlauf von Sozialrecht auf der einen Seite und dem Aufenthaltsrecht auf der anderen Seite geben soll. Ich will das für die Fraktion der Freien Demokraten ganz deutlich sagen – auch nach Rücksprache mit den FDP-regierten Ländern –: Es ist grundsätzlich sinnvoll, wenn es einen Gleichlauf von Aufenthaltsrecht und Sozialrecht gibt. Deswegen ist eine tatsächliche Prüfung besser als eine fiktive Prüfung.
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Die grundsätzliche Intention des ursprünglich enthaltenen Satzes war also richtig. Man kann aber das ganze Problem nicht nur mit diesem einzigen Satz beseitigen. Deswegen war es richtig, dass er gestrichen wurde. Am Ende stimmt meine Fraktion diesem Ergebnis auch zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Ulla Jelpke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch Die Linke begrüßt, dass die Koalition Leistungsausschlüsse von Unionsbürgern, die in Deutschland leben und arbeiten, zurückgenommen hat.
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Es ist in der Tat ein Erfolg, dass besonders schutzbedürftige Personen, nämlich unverheiratete Paare mit Kindern, Menschen mit schweren Erkrankungen oder Betroffene von Menschenhandel, nun nicht mehr von Leistungsausschlüssen betroffen sind.
Am Montag hatten wir im Innenausschuss eine Anhörung, und dort wurde sehr anschaulich beschrieben, welche gravierenden Folgen Leistungsausschlüsse in der Praxis haben: extreme Armut, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Wohnungslosigkeit oder Familientrennung, wenn unverheiratete Partner wegen der Leistungsausschlüsse zur Ausreise gezwungen wären. Dass die Koalition diese extrem unsoziale Regelung nun in letzter Minute zurückgenommen hat, ist sicherlich ein Ergebnis dieser Anhörung. Unser Dank gilt hier insbesondere denjenigen, die daran mitgewirkt haben, dass der Gesetzentwurf geändert wird, und vor allen Dingen auch den Sachverständigen aus der Anhörung, die sich dafür eingesetzt haben.
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Meine Damen und Herren, trotzdem werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf nur enthalten. Grund dafür ist die viel zu restriktive Ausgestaltung der Ausweitung des Familiennachzugs zu Unionsbürgern auf Personen außerhalb der Kernfamilie. Zum Beispiel dürfen unverheiratete Partnerinnen und Partner von Unionsbürgern nur dann nach Deutschland kommen, wenn das Paar schon zuvor mindestens zwei Jahre in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. In der Unionsbürgerrichtlinie ist von einer zeitlichen Vorgabe überhaupt keine Rede. Es handelt sich also um eine reine Schikane gegen unverheiratete Paare. Spätestens 2006 hätte im Übrigen der Familiennachzug dieser nahestehenden Personen in Deutschland ermöglicht werden müssen. Das hat Ihnen der Europäische Gerichtshof in einem unmissverständlichen Urteil ins Buch geschrieben. Und das sollte man der AfD hier noch mal klar sagen: Ganz offensichtlich interessieren Sie sich gar nicht für die Gesetzgebung.
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Den Betroffenen wurde ihr Recht auf Familiennachzug fast anderthalb Jahrzehnte verweigert. Dazu habe ich wirklich selbstkritische Worte heute vermisst. Das Mindeste wäre eine unbürokratische, menschliche und familienfreundliche Umsetzung gewesen.
Zum Schluss möchte ich gerne noch auf Herrn Seif eingehen. Es würde mich wirklich freuen, wenn mit den britischen Staatsbürgern unbürokratisch umgegangen wird; das hatte ich ja beim letzten Mal schon angesprochen. Aber ich verstehe den Gesetzentwurf noch immer so, dass die britischen Staatsbürger dem schwächeren Ausweisungsschutz nach dem Aufenthaltsrecht unterliegen. Ich kann nur noch mal sagen: Vom Innenministerium ist diesen Menschen, insbesondere den Altbriten, unmissverständlich versprochen worden, dass sie durch den Brexit keine Nachteile haben sollen. Wir werden das genau beobachten. Nichtsdestotrotz werden wir uns enthalten.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska Brantner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über die Freizügigkeit in der Europäischen Union. Sie ist ein hohes Gut. Sie bietet uns die weltweit einzigartige Freiheit, sich überall in der EU frei zu bewegen, zu wohnen, zu studieren, eine Ausbildung zu machen, zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Dieses Gesetz macht dies auch zukünftig für die hier schon lebenden Briten möglich, und das ist richtig und wichtig; denn sie können ja nicht die Leidtragenden des Brexit sein.
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Es ist auch gut, dass Sie jetzt endlich die Freizügigkeitsrichtlinie richtig umsetzen; Sie haben das Vertragsverletzungsverfahren schon angesprochen. Es ist richtig, dass auch auf Druck der Opposition und aufgrund der Kritik der Verbände der Sozialleistungsausschluss wieder herausgeflogen ist. Es geht hier schließlich um EU-Bürgerinnen und EU-Bürger und ihre Freizügigkeit. Es ist auch besser, dass nahestehende Personen wie Pflegekinder, Lebenspartner, Geschwister, Tanten und Onkel nur noch glaubhaft darlegen müssen, dass sie zur Familie gehören. Noch besser wäre es gewesen, man würde sie einfach zu dem zählen, was sie sind: Familie.
Und an die AfD gerichtet: Es ist interessant, dass für Sie Tante und Onkel keine Familie sind, Pflegekinder nicht relevant sind.
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Es ist schon sehr bezeichnend, was für einen begrenzten Familienbegriff Sie haben, wonach selbst Pflegekinder nicht dazugehören. Das muss man mal in aller Deutlichkeit sagen.
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Wir sollten in diesem Moment auch daran erinnern, dass die Kampagne zum Brexit durch die Angst vor osteuropäischen Arbeitskräften und Attacken gegen sie geschürt wurde. Lassen Sie uns hier alle daraus lernen, gerade auch mit Blick auf das, was die AfD hier gesagt hat. Wir wissen doch, dass osteuropäische Arbeitskräfte unsere Familien in Deutschland stabilisieren. Was wären denn unsere Familien, unsere Älteren in dieser Gesellschaft ohne osteuropäische Pflegekräfte?
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Wir wissen doch, dass sie bei uns auf den Äckern die Erdbeeren pflücken. Wir wissen doch, wo sie arbeiten und wie stark sie unsere Wirtschaft voranbringen. Freizügigkeit ist eben kein Almosen,
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sondern sie liegt in unserem ureigenen Interesse und ist ein Fundament der Europäischen Union, das wir zu verteidigen haben und mit stolzer Brust verteidigen können. Das ist nichts, was wir preisgeben wollen.
Erlauben Sie mir, am Ende noch mal auf eines zu kommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kleinwächter?
Ja.
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Werte Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Zunächst einmal: Die Pflegekinder hatte ich nicht in meine Rede aufgenommen; das möchte ich an dieser Stelle korrigieren.
Aber Sie haben viel von Almosen und vom Leistungsausschluss für potenzielle EU-Bürger gesprochen, den Sie kritisiert haben. Sie haben ausgeführt, dass EU-Bürger, die in Deutschland leben, insbesondere osteuropäische Arbeitnehmer, grundsätzlich die Wirtschaft fördern, und die Frage aufgeworfen: Was wären unsere Familien ohne sie?
Sie haben sicherlich auch die Sachverständigengutachten gelesen, die in der Anhörung vorlagen. Dort gibt es mehrere Beispiele – ich möchte noch mal auf das Beispiel zurückkommen, das ich genannt hatte – von Menschen, die eben keineswegs viel arbeiten, sondern zum Beispiel ein unzureichendes Einkommen haben, um sich selbst zu unterhalten. Sind Sie der Ansicht, dass Menschen, die hier auf Sozialleistung leben, darauf angewiesen sind und auch teilweise explizit in dieses Land kommen, um Sozialleistungen zu beziehen, die Wirtschaft in unserem Land stärken?
Zu Ihrem ersten Punkt. Sie haben vorhin gesagt, dass Nahestehende keine Familie sind, und darunter fallen die Pflegekinder.
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Von daher haben Sie das explizit so gesagt. Es ist wirklich tragisch, dass Sie so eine enge Definition von „Familie“ haben. Das ist überhaupt nicht mehr der Spiegel dessen, wie wir als Gesellschaft leben und auch leben wollen.
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Zu Ihrem zweiten Punkt. Der Bürger, von dem Sie gesprochen haben, hat Arbeit. Das ist das Zentrale: Er arbeitet hier, und natürlich darf dann auch seine Familie hier sein. Das gehört in der Europäischen Union zusammen. Wir sind kein Land, das sagt: „Der Mann darf kommen, aber seine Frau nicht“;
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das gilt erst recht für europäische Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir das infrage stellen, dann ist doch genau Ihr Punkt, dass die Ehe heilig ist, überhaupt nicht abgedeckt.
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Jetzt würde ich gerne am Ende noch auf die unverheirateten internationalen Paare zu sprechen kommen.
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Herr Seehofer hat jetzt schon wieder mit dem Finger nach Brüssel gezeigt – fast einen Monat später – und nichts getan.
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In Brüssel sitzt aber niemand, der da was tun kann, sondern auch auf Innenministerebene hat die rollierende Ratspräsidentschaft die Verantwortung inne, und es ist nun mal Herr Seehofer, der als Teil der deutschen Ratspräsidentschaft dafür verantwortlich ist. Es ist unglaublich, dass Seehofer sich hier der Verantwortung entzieht und diese Menschen einfach im Stich lässt. Ich kann es nur noch mal sagen: „Love Is Not Tourism“, Liebe ist kein Tourismus. Herr Seehofer, tun Sie endlich was! Diese Menschen haben sich seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Das ist unerträglich, und das kann man mit keiner Coronaregel mehr begründen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Marian Wendt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Schicksal liegt in Europa, als Teil der europäischen Gemeinschaft: Das sagte 1988 die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. Man glaubt es kaum, wenn man diesen Satz heute hört.
Wir sehen, wie vorausschauend die konservative britische Politikerin damals war. Gerade als Teil der Kriegsgeneration war Thatcher bewusst, wie wichtig Frieden und Freiheit in Europa waren. Sie wusste, dass dies die Grundlage für Stabilität und für den Wohlstand der Menschen auf dem europäischen Kontinent war und ist.
Umso mehr würde Thatcher heute über ihre Nachfolger den Kopf schütteln, wenn sie sehen würde, wie die Stabilität und der Wohlstand Europas und des Vereinigten Königreichs durch Populisten zerbrochen wird. Denn es ist ganz klar: Das Ja zum Brexit wurde durch die Lügen der Populisten herbeigeführt.
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Drei Beispiele. Erstens wurde behauptet, dass der Nationale Gesundheitsdienst im Falle eines EU-Austritts 350 Millionen Pfund zusätzlich pro Woche erhalten würde. Das war gelogen.
Zweitens wurde den Menschen vorgegaukelt, ein Abkommen mit der EU zum Austritt wäre in elf Monaten ohne Probleme verhandelbar und umsetzbar. Mittlerweile haben wir schon für den Entwurf über zwei Jahre gebraucht, und ein Inkrafttreten ist längst nicht in Sicht.
Drittens wurde die steile These verbreitet, die innere Einheit des Vereinigten Königreichs würde durch einen Austritt gestärkt. Das Gegenteil ist der Fall: Schottland, Wales und Teile Nordirlands wollen nun in der EU bleiben und nicht im Vereinigten Königreich; denn sie haben dafür sehr gute Gründe.
Wir sehen also, wie Populisten das Vereinigte Königreich und letztlich auch die EU von innen zerstören. Der Fall Großbritannien sollte uns einmal mehr Beispiel sein, dass diese Feinde der Menschen mitten unter uns sind. Wir haben es heute auch vom Kollegen Kleinwächter gehört: Da wird nicht sachlich argumentiert. Da werden sogar die falschen Gesetzestexte zitiert, und auf die Änderungen im Gesetzgebungsverfahren wird gar nicht mehr eingegangen. „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“
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Natürlich sage ich auch: Die EU ist nicht perfekt, und es gibt oft berechtigte Kritik an ihren Institutionen. Aber wenn wir als Deutsche, Italiener, Franzosen, Spanier, Polen und auch als Serben, Norweger und Schweizer die Welt mitgestalten wollen, müssen wir uns zusammenschließen und vereinigt als Europäer auftreten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das sage ich nicht um der EU willen, sondern für die Menschen in unseren Städten und Dörfern, um deren Wohlstand willen. Das muss uns allen bewusst sein.
Dafür sind aus meiner Sicht und aus der Sicht der Unionsfraktion ein gemeinsamer Binnenraum und die Freizügigkeit die wichtigsten Grundlagen. Mit dem heutigen Gesetzentwurf reichen wir nun den Menschen in Großbritannien die Hand. Die von uns angeführte Koalition möchte, dass die Menschen im Vereinigten Königreich auch nach dem Brexit die Freizügigkeit genießen können, die wir ihnen als Europäer zusprechen wollen. Wir bestrafen die Menschen auf der Insel nicht für die Lügen der Populisten, sondern reichen ihnen die Hand im Glauben an das gemeinsame Haus Europa.
Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen allen, diesem Gesetzentwurf heute zuzustimmen, vor allem im Bewusstsein dessen, dass Europa unser gemeinsames Schicksal ist und wir nur zusammen die lokalen, europäischen und globalen Probleme lösen können.
Ich darf den Menschen in Großbritannien von hier aus zurufen: Auch wenn es mir natürlich im Herzen wehtut, euch heute gehen zu sehen, so hoffe ich auf ein Wiedersehen und sage euch: Am Tisch der Europäischen Union ist für euch immer ein Stuhl frei.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Lars Castellucci.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns ist unzweifelhaft ein gutes Gesetz gelungen. Allem voran ist wichtig, dass die britischen Staatsangehörigen Sicherheit haben, was ihren künftigen Aufenthalt – auch nach dem Brexit – hier in Deutschland angeht. Ich möchte mich bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Ich hätte jetzt auch gern Herrn Mayer gedankt. Herr Vogel, das müssen Sie unbedingt weitergeben; denn es kommt nicht so häufig vor, dass ich ihn lobe. Vielen Dank auch an Ihre Adresse!
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Wir reden heute über ein Teilgebiet von Migration. Über Migration gibt es ja unterschiedliche Auffassungen in diesem Land. Zunächst mal: Wenn man schaut, wer verhandelt hat, sieht man auf der einen Seite Herrn Seif und Herrn Kuffer, der eine groß, der andere früher blond – das war sicherlich die urgermanische Seite am Verhandlungstisch –,
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auf der anderen Seite jemanden mit meinem Namen oder – wenn ich an Frau Polat denke, die hier in der ersten Beratung gesprochen hat – Menschen, die hierher zugewandert sind, und ihre Kinder und Enkel.
Wenn wir sehen, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte hier ganz selbstverständlich das Vertrauen der Bevölkerung erhalten, Abgeordnete sind und hier mitwirken können, dann zeigt dies, glaube ich: Die übergroße Mehrheit der Menschen in diesem Land findet, dass Migration etwas ganz Normales ist.
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Gleichzeitig gibt es Verunsicherung. Und da, muss ich jetzt sagen, ist unser Job, zumal als Innenpolitiker,
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auch für Sicherheit zu sorgen. Deswegen möchte ich gerne, liebe Ulla Jelpke, auf die Kritik eingehen, wir hätten hier strenge Regeln eingeführt. Das ist eigentlich keine Kritik; das war nämlich unsere Absicht. Es gibt hier Verunsicherung, und wir müssen darauf mit Aufklärung reagieren – ja, das ist unser erster Job –; aber wir müssen auch deutlich machen, dass wir die Dinge unter Kontrolle haben, dass wir Regeln setzen und diese Regeln auch durchhalten.
Ich habe gesagt, es geht heute hier um einen Teil von Migration. Das, was uns am meisten beschäftigt, ist ja das Elend, sind ja die Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Das sind die brennenden Camps, das sind die Menschen, die jetzt wieder im Matsch leben müssen. Da geht es um was ganz anderes. Dieses Elend müssen wir verhindern, und da müssen wir helfen.
Dann gibt es den Teil der Freizügigkeit. Auch da gibt es nichts zu regeln, sondern wir sind darüber froh – das ist vorgetragen worden –: Freizügigkeit gilt; in Europa kann man von A nach B fahren, um zu arbeiten, um zu studieren, um eine Ausbildung zu machen. Das ist eine großartige Errungenschaft.
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Umso mehr, liebe Ulla Jelpke, muss es aber uns allen darum gehen, die Teile, in denen wir überhaupt Regelungsmöglichkeiten haben, auch zu regeln. Und da möchte ich für die SPD-Fraktion sagen: Unsere Politik ist eben nicht „Free Choice“ oder „No Borders“, sondern unsere Politik sagt: Wenn wir Migration so gestalten wollen, dass sie allen nützt, dann brauchen wir klare Regeln, und diese klaren Regeln müssen wir auch durchsetzen. – Das geschieht mit dem vorliegenden Gesetz. Ich bitte das Haus um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von den vier Grundfreiheiten der Europäischen Union gehört die Personenfreizügigkeit zu den vornehmsten, und zwar deswegen, weil diese Grundfreiheit es den Menschen ermöglicht hat, andere Länder der Europäischen Union zu entdecken und anderen Menschen zu begegnen.
Der Brexit droht dieses Band zwischen den Menschen zu kappen. Das betrifft Menschen aus Großbritannien, die auf Europa vertraut haben, die darauf vertraut haben, dass sie in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf Dauer bleiben können. Deswegen rufen wir heute mit dem Gesetzentwurf den Menschen zu, dass, weil sie auf Europa vertraut haben, Europa diese Menschen nicht alleinlassen wird, sondern dass wir das Freizügigkeitsrecht fortschreiben.
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Aber damit senden wir auch ein Signal nach Großbritannien,
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nämlich: Das, was für britische Staatsbürger aus einem europäischen Gedanken heraus in Deutschland und in anderen Staaten gilt, das fordern wir auch für deutsche und europäische Staatsbürger in Großbritannien ein.
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Es geht aber weiter: Wir sprechen heute auch über zusätzliche Änderungen im Freizügigkeitsrecht. Es geht um die Frage, inwieweit nahestehende Personen zu anderen bereits sich im Bundesgebiet aufhaltenden Personen nachziehen oder nachreisen können.
Lassen Sie mich festhalten: Ich meine, wir haben mit dem heutigen Gesetz nicht nur eine europarechtsfreundliche, sondern vor allen Dingen auch eine menschliche Lösung getroffen – weil es uns nicht egal ist, ob Pflegekinder oder nahe Angehörige, die Hilfe brauchen, in ihrem Heimatland alleingelassen werden. Der europäische Gedanke verwirklicht sich auch dadurch, dass die Menschen zu denen kommen können, die ihnen sehr nahestehen, meine Damen und Herren.
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Da darf man sich auch nicht mit sozialrechtlichen Fragen verwirren lassen. Die Menschen, die sich hier in Deutschland aufhalten und damit die Freizügigkeit in Anspruch nehmen, haben ja in aller Regel auch eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen und damit auch Leistungen begründet, sodass die Erzählung, es sei nur eine Einreise in die Sozialsysteme, letztlich eine nicht zutreffende und europafeindliche Erzählung ist, der wir uns entgegenstellen.
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Letzter Punkt. Wir tun auch was für Studierende und Auszubildende, die auch darauf vertraut haben, dass sie während der gesamten Dauer ihres Aufenthalts im Vereinigten Königreich, in Großbritannien, BAföG beziehen können. Auch das wird heute geregelt. Das bringt mehr Sicherheit und damit mehr Vertrauen zu Europa.
Deswegen bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die Absprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zugegeben, der Tagesordnungspunkt klingt nicht gerade spannend: „Gesetz über Änderungen im Berufskraftfahrerqualifikationsrecht“.
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– Danke. – Zudem geht es auch noch um eine umzusetzende EU-Richtlinie.
Aber dieses Gesetz – ich komme noch darauf zurück – gibt mir einen guten Grund, heute einmal Danke zu sagen. Denn in der Coronapandemie wurde Großes geleistet. Also danke allen Lkw-Fahrern, danke allen Logistikern für ihren Einsatz, danke für die Spitzenleistung, unsere Bevölkerung mit Klopapier, mit Nudeln, mit Hefe, mit allem, was nötig war, zu versorgen!
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Wenn wir auf den bisherigen Verlauf der Coronapandemie zurückblicken, dann können wir wirklich sagen: Auch wenn es manchmal ein paar leere Regale gegeben hat – wir konnten uns immer sicher sein, dass Nachschub kommt. Die Logistikketten haben funktioniert, auch für die Wirtschaft, für die Belieferung für die Produktion in der Industrie.
Nun aber zum vorliegenden Gesetz. Es dient nicht nur der Umsetzung europäischer Vorgaben in nationales Recht, sondern erfüllt zugleich Forderungen des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2016. Der Deutsche Bundestag forderte die Bundesregierung damals auf, ein einheitliches Anerkennungs- und Überwachungssystem für anerkannte Ausbildungsstätten einzuführen, ein nationales zentrales Register zur Erfassung der Aus- und Weiterbildung von Berufskraftfahrern zu schaffen und den Fahrerqualifizierungsnachweis bundesweit einzuführen. Dieser soll dann als Ersatz für die bisherige Eintragung der Schlüsselzahl 95 in den Führerschein zum Nachweis der Berufskraftfahrerqualifikation dienen.
Der vorliegende Gesetzentwurf geht aufgrund der 2018 erlassenen europäischen Vorgaben sogar über diese Forderungen hinaus, aber nicht mit zusätzlichen Belastungen, sondern mit Entlastungen für die Unternehmen und Fahrer.
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Es wird künftig möglich sein, nicht nur absolvierte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von Berufskraftfahrern nach dem Berufskraftfahrerqualifikationsrecht in dem zentralen Register zu erfassen und bei Bedarf mit den Mitgliedstaaten auszutauschen. Erfasst werden auch Personen, die zum Beispiel eine nationale Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer erfolgreich absolviert haben, sowie Lkw-Fahrer, die künftig als Busfahrer gewerbliche Beförderungen durchführen. Dieser europaweite Austausch über die Qualifikation unserer Lastwagenfahrer ist dringend notwendig in einer Branche, die zu einem großen Teil grenzüberschreitend tätig ist und eine Schlüsselbranche in unserer globalisierten Gesellschaft darstellt.
Das neue Register beim Kraftfahrt-Bundesamt treibt die Digitalisierung in Deutschland voran und ist darüber hinaus ein Beitrag zur Nachhaltigkeit; denn bislang ausgestellte papierbasierte Teilnahmebescheinigungen werden durch die Registereinträge ersetzt. Die Fahrer müssen dann nicht mehr fünf Jahre lang Papier sammeln und dieses bei der Behörde vorlegen, um den Fahrerqualifizierungsnachweis zu erhalten. Ein schneller Blick des Behördenmitarbeiters in das Register genügt künftig.
Wie ich bereits erwähnt habe, sieht der Gesetzentwurf vor, anstelle der bisherigen Schlüsselzahl 95 im Führerschein künftig bundesweit den Fahrerqualifizierungsnachweis auszustellen. Die Ausstellung erfolgt ohne das beim Führerschein geltende Wohnsitzprinzip. Das bedeutet, dass zum Beispiel auch französische Fahrer, die in Deutschland beschäftigt sind und hier ihre Weiterbildung machen, aber in Frankreich wohnen, einen deutschen Fahrerqualifizierungsnachweis erhalten können. Die bislang bestehende sogenannte Grenzgängerproblematik fällt damit weg; bislang hatten diese Fahrer ja keine Möglichkeit, den erforderlichen Weiterbildungsnachweis in ihr Führerscheindokument eintragen zu lassen.
Der Fahrerqualifizierungsnachweis gilt europaweit und kann einem französischen Fahrer wie einem deutschen Fahrer direkt nach Hause geschickt werden. Somit fallen lästige zusätzliche Behördengänge weg. Das Ausstellungsverfahren ist vergleichbar mit dem des Führerscheins und wurde mit den Ländern intensiv abgestimmt. Auf diese Weise konnten bereits bestehende Verfahren genutzt und konnte auf unnötige Bürokratie verzichtet werden.
Der dritten Forderung des Deutschen Bundestages, nach einem einheitlichen Anerkennungs- und Überwachungssystem für Ausbildungsstätten, wurde ebenfalls entsprochen. Für alle gelten nun die gleichen Regeln; diese Vereinheitlichung ist zwangsläufig notwendig.
Die europäischen Vorgaben verbieten es – aus nachvollziehbaren, datenschutzrechtlichen Gründen –, dass Private auf das europaweite Register zugreifen können. Auch die hierfür notwendigen Verfahrensanpassungen sind eng mit den Ländern abgestimmt.
Zu guter Letzt sehen die europäischen Vorgaben Klarstellungen im Anwendungsbereich vor. Die EU hat im Zuge einer Evaluierung festgestellt, dass aus Sicht der Fahrer bislang nicht ohne Weiteres erkennbar war, wer wann qualifizierungspflichtig ist. Diese Unsicherheiten spiegelten sich auch in unserer deutschen Gesetzgebung wider. Sie werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf beseitigt.
Für beispielsweise Handwerker, Fahrer in Landwirtschafts- oder Gartenbauunternehmen oder im ländlichen Raum wurden die Ausnahmetatbestände überarbeitet. Den ländlichen Raum nehmen wir ja besonders in den Blick, beispielsweise wenn es um Fragen der Digitalisierung geht oder auch bei der Versorgung mit Hausärzten. Das findet jetzt aber auch seinen Niederschlag in dem vorliegenden Gesetzentwurf. Dabei bleiben seine Lage und seine Grenzen jedoch nicht ungenau, sondern sind eindeutig für die gesamte Bundesrepublik definiert.
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Noch mal zusammengefasst: Wir beschließen heute ein Gesetz, das wichtige Forderung des Deutschen Bundestages aufgreift, das EU-Vorgaben umsetzt und das eine klare Verbesserung für die Logistikwirtschaft und die Beschäftigten darstellt. Ich bitte Sie, dieses wichtige Vorhaben zu unterstützen und dem vorliegenden Gesetz zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Andreas Mrosek.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Regelung der Anforderungen an die Berufskraftfahrerqualifizierung ist unbestritten eine sinnvolle und im Dienste der Verkehrssicherheit wichtige Sache. Sie geht ursprünglich zurück auf eine Richtlinie der EU aus dem Jahre 2003 und wurde 2006 in deutsches Recht umgesetzt. Der wesentliche Inhalt bestand darin, den Berufskraftfahrer alle fünf Jahre mit 35 Zeitstunden Theorieunterricht zu schulen. Dadurch sollte europaweit die Sicherheit im Straßenverkehr erhöht werden, und die Umweltbelastungen durch den Schwerlastverkehr sollten zurückgehen – so weit die Theorie.
Durch Ergänzungen und Änderungen des Gesetzes wurde und wird nun erneut dieser gute Ansatz von 2006 immer mehr verwässert. Durch die Zulassung von immer mehr Ausbildungsstätten und immer mehr Referenten ergeben sich für den Berufskraftfahrer vielfältige Möglichkeiten, an amtliche Bescheinigungen über die Teilnahme an den Fortbildungen zu kommen, ohne wirklich teilgenommen zu haben.
Auch werden die Lehrgangsteilnehmer häufig mit vorgefertigten PowerPoint-Präsentationen konfrontiert. Dabei ist es gerade für den Berufskraftfahrer entscheidend, in einem Unterrichtsraum zu sitzen und Lerninhalte interaktiv vermittelt zu bekommen.
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Er wird sich in der Regel keine Broschüren ansehen und nicht selbstständig im Internet informieren; er hat gar keine Zeit dafür. Insofern bewerten wir den Gesetzentwurf über Änderungen im Berufskraftfahrerqualifikationsrecht durchaus zwiespältig. Während viele der Korrekturen und Anpassungen zu unterstützen sind, entwickelt sich insbesondere der Bereich Anerkennung von Ausbildungsstätten und Referenten weiterhin in eine falsche Richtung. Es macht eben durchaus einen gravierenden Unterschied, ob ein Fahrlehrer einer Schar von jugendlichen Führerscheinaspiranten die StVO vermittelt oder im Auditorium eine Gruppe gestandener und durch die Fahrpraxis geprägter Lkw-Fahrer sitzt, die didaktisch völlig andere Anforderungen stellen. Auch die Unterrichtsinhalte von Führerscheinaspiranten und weiterzubildenden Berufskraftfahrern unterscheiden sich grundlegend.
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Diesem Umstand wird im Gesetzentwurf viel zu wenig Rechnung getragen. Stattdessen wird einer bunten Schar fragwürdig qualifizierter Anbieter der Zugang zu diesem Marktsektor eröffnet. Der besseren Sicherheit im Straßenverkehr dient dies aus unserer Sicht nicht. Da wäre mehr möglich.
Mehr als überfällig und unbedingt zu unterstützen ist dagegen die Errichtung eines Berufskraftfahrerqualifizierungsregisters beim Kraftfahrt-Bundesamt. Man kann nur hoffen, dass dies effizient installiert und gemanagt wird.
Auch die FDP-Initiative zur Onlineabfrage von Fahrerdaten ist zu begrüßen; dem werden wir zustimmen. Insgesamt lehnen wir den Gesetzentwurf aber wegen der eingangs geschilderten Mängel ab.
Apropos Schwerkraft, Herr Minister: Das Wasser wäre besser als Transportmittel.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Udo Schiefner, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Bilger, ich finde diese Diskussion heute durchaus spannend – wenn es auch ein trockenes Thema ist –; denn in letzter Zeit haben wir leider wenig über erfolgreiche Projekte des Ministeriums diskutieren können. Das tun wir heute.
Ebenso spannend ist es, finde ich, auf die Situation der Berufskraftfahrerinnen und Berufskraftfahrer einzugehen. Die Aufmerksamkeit in der Pandemie brachte ihnen kurz Respekt und Anerkennung. Das ist aber schon wieder abgeebbt, und verbessert hat sich leider für diesen Personenkreis nichts. Das Image des Fahrberufes bleibt unberechtigt schlecht. In der Folge fehlen uns immer mehr Fahrer, die unsere Wirtschaft am Laufen halten.
Heute verbessern wir Details für das Gütertransportgewerbe, und wir schließen eine jahrelange Diskussion erfolgreich ab. Insofern haben wir eigentlich heute doppelt Freude. Gut Ding will aber bekanntlich Weile haben. Während wir zwar immer erwarten, dass unsere Güter schnell, effizient und zuverlässig geliefert werden, haben wir uns mit den heutigen Gesetzesänderungen leider doch sehr viel Zeit gelassen. Bereits seit über sechs Jahren beschäftigt uns dieses Thema. Ich weiß, dass unter anderen auch meine Kollegin Lühmann und ich immer wieder mit dem Ministerium darüber diskutiert haben. Heute, nach diesen Jahren, kommt dieser Prozess zum vorläufigen Abschluss.
Transport und Logistik sind auf nachweisbar gut qualifizierte Berufskraftfahrende angewiesen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Weiterbildungspflichten nachzuweisen und zu überwachen, war bislang sehr umständlich. Deshalb forderten wir bereits bei der letzten Änderung im Herbst 2016 weitere Schritte: Überwachungssysteme, Anerkennungssysteme, ein zentrales Register der Ausbildungsstätten mit Teilnehmerdokumentation und einen bundesweiten Fahrerqualifikationsnachweis.
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Und was für uns auch wichtig ist: Dabei sollten die Systeme modern und digital sein. Ein dezentral einsehbares, zentrales Register macht vorgelegte Nachweise nachvollziehbar sowie unbürokratisch und schnell überprüfbar. Dies haben wir damals schon gefordert; dies wird hier angegangen. Wir haben noch dazu einen Entschließungsantrag, der dieses Ganze auch mit Blick auf Entscheidungen in der Zukunft ergänzt und das Thema auch noch mal ein Stück nach vorne schiebt.
Dafür herzlichen Dank und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Bernd Reuther, FDP-Fraktion.
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– Das Protokoll vermerkt „Applaus“.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Bilger hat auf die Wichtigkeit der Versorgung hingewiesen. Das kann ich alles komplett unterstreichen.
Herr Kollege Schiefner hat allerdings auch gesagt: Gut Ding will Weile haben. – Die Fristen für die Umsetzung dieser Richtlinie sind leider schon lange abgelaufen, und immer noch schafft es die Bundesregierung nicht, auf die Bedürfnisse der Berufskraftfahrer einzugehen. Stattdessen soll der Gesetzentwurf jetzt im Eilverfahren durchs Parlament gebracht werden. Wichtige Details und Anliegen der Branche bleiben dabei leider auf der Strecke, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Viele Punkte in dem Entwurf der Bundesregierung sorgen für deutlich mehr Bürokratie. Den Auszubildenden, den Ausbildungsstätten und den Fahrern leisten sie also so keinen Mehrwert. Aus diesem Grund hat die FDP-Bundestagsfraktion einen Änderungsantrag im Ausschuss eingebracht, um wenigstens die schlimmsten bürokratischen Mehrbelastungen des Gesetzentwurfes abzumildern.
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Dabei ist grundsätzlich zu begrüßen – Herr Kollege Schiefner hat es auch gesagt –, dass es endlich eine einheitliche Fahrerqualifikation und ein einheitliches Qualifikationsregister für Berufskraftfahrer geben wird. Es ist nämlich längst überfällig, dass auf unseren Straßen die Qualifikation auch von ausländischen Kraftfahrern schnell und sicher überprüft werden kann.
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Aber bei der Umsetzung haben wir im Wesentlichen zwei Kritikpunkte:
Erstens verlangt der Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass Ausbildungsstätten, die bereits nach dem Berufsbildungsgesetz als solche anerkannt wurden, nun noch mal einen Antrag stellen müssen. Erst dann werden sie als Ausbildungsstätte für Berufskraftfahrer anerkannt. Das macht keinen Sinn und bedeutet einen unnötigen bürokratischen Aufwand für die betroffenen Betriebe. Das muss aus unserer Sicht verhindert werden.
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Unser zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf das Qualifikationsregister. Wenn Fahrer ihre Daten im Register einsehen wollen, dann sollen sie jedes Mal einen neuen Antrag stellen. Das ist eine völlig unnötige Verkomplizierung. Stattdessen haben wir vorgeschlagen, den Zugriff auf das Register mittels Login-Daten zu ermöglichen. Die Fahrer sollen dafür einen einmaligen Antrag stellen können, um diese Login-Daten zu erhalten und anschließend schnell, flexibel und vor allem zeitgemäß auf ihre Daten zugreifen zu können. Das ist ein weiterer Beitrag zur Digitalisierung in diesem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Also, zum Schluss: Nehmen Sie sich unsere Vorschläge zu Herzen; denn das ist es, was die Branche fordert und braucht: keine Bürokratie und keine zusätzlichen Belastungen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Reuther. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Lutze, Fraktion Die Linke.
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Liebe Kollegen! Herr Präsident! Der Beruf des Kraftfahrers bzw. der Kraftfahrerin ist ein überaus verantwortungsvoller Job. Nicht nur, dass die zu transportierenden Waren sicher von A nach B gebracht werden müssen, vor allem die Verkehrssicherheit spielt in diesem Betätigungsfeld eine bedeutende Rolle. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir diese parlamentarische Initiative und auch die vorliegenden Änderungsanträge.
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Dass Führerscheindaten nun einfacher zu kontrollieren sind, ist ebenso positiv wie die Verbesserungen bei der Kontrolle von Sozialstandards oder des Ladungsgewichtes der Fahrzeuge. Unkenntnis und billige Ausreden bei Kontrollen werden nun schwieriger. Ich hoffe sehr, dass den wenigen schwarzen Schafen unter den Speditionsunternehmen das Handwerk gelegt wird, und dies nun europaweit.
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Bei der Detailfrage im Gesetz, was „gelegentliche Beförderungen“ genau bedeutet, habe ich immer noch ein Fragezeichen. Hier sind Transportleistungen gemeint, die nicht von Speditionsunternehmen erbracht werden, sondern zum Beispiel von landwirtschaftlichen Unternehmen. Was heißt aber „gelegentlich“? Sie definieren es als – Zitat – „häufiger als einmal, jedoch nicht regelmäßig oder dauerhaft“. Das ist ungefähr das Gleiche, wie wenn man zwischen 0 und 100 den Bereich 1 bis 99 meint. Da letztendlich Konkurrenzsituationen zwischen Speditionen und landwirtschaftlichen Betrieben nicht ganz auszuschließen sind, wäre hier eine Präzisierung sehr ratsam.
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Da es dennoch viel Einvernehmen gibt, möchten wir auf einen weiteren verkehrspolitischen Fakt hinweisen. Auch in dieser Debatte wird oft davon geredet, dass es einen Fachkräftemangel bei Berufskraftfahrerinnen und ‑kraftfahrern gibt, der gelöst werden muss. Ja, Fachkräftemangel ist in vielen Bereichen unserer Volkswirtschaft ein weit verbreitetes Phänomen. Vor allen Dingen ist es teuer. Aber in dem Bereich, der heute auf der Tagesordnung steht, muss eine andere Lösung her. Nicht das zusätzliche Werben und Ausbilden ist zielführend; wir brauchen endlich eine Wende in der Güterverkehrspolitik: weg von der Straße, hin zur Schiene.
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Ich weiß, dass derzeit weder die Infrastruktur der Bahn noch die dortige Personalsituation ausreichend sind, um auch nur einen Teil des Verkehrsaufkommens auf die Schiene zu verlagern. Gerade in den 90er-Jahren wurde die Bahninfrastruktur – Stichwort: Programm Mora C – drastisch zurückgebaut. Mitarbeitende der Bahn bekamen damals Prämien, wenn sie die Demontage von Gleisanschlüssen, von Weichen oder von Ausweichgleisen vorschlugen.
Heute fehlt dem Güterverkehr der Platz auf der Schiene, und das ist irre. Doch dieses Problem löse ich nicht mit mehr oder weniger Lkws auf Autobahnen und Landstraßen und auch nicht damit, dass wir mehr gut qualifizierte Berufskraftfahrerinnen und Berufskraftfahrer haben. Wir brauchen endlich eine Bahninfrastruktur und politische Rahmenbedingungen, um den Missbrauch von Autobahnen und Rastplätzen durch rollende Güterlager auszuschließen.
Herzlichen Dank. Glück auf!
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Präsident! Der Gesetzentwurf bringt zweifellos große Vorteile und auch Erleichterungen für Berufskraftfahrer und Berufskraftfahrerinnen, die – es ist ja schon gesagt worden – einen anstrengenden und hoch verantwortungsvollen Beruf ausüben.
Aus- und Weiterbildung werden bundes- und EU-weit vereinheitlicht. Ein allgemeines Register ermöglicht problemlos die Anerkennung der Qualifikation auch in anderen EU-Staaten; auch das finden wir gut. Dazu kommt der Entschließungsantrag der Koalition, dass die Prüfungen in verschiedenen Fremdsprachen angeboten werden können und E-Learning-Angebote ermöglicht werden sollen.
In der Ausschussberatung fand ich ganz besonders beeindruckend, dass die Herrschaften von der AfD doch tatsächlich in den Prüfungen in verschiedenen Fremdsprachen und der Möglichkeit dazu sogar einen Angriff auf unsere soziokulturelle Identität gesehen haben. Das hat für Heiterkeit gesorgt. Ich frage Sie mal: Wollen Sie eigentlich künftig auch an unseren Schulen in Deutschland den Fremdsprachenunterricht abschaffen wegen der Bedrohung unserer soziokulturellen Identität? Absurd!
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Allerdings haben Sie auch ein kompliziertes Konstrukt geschaffen, um Ausnahmen für Fahrten zu schaffen, bei denen die Fahrerinnen und Fahrer keine solche Qualifikation nachweisen müssen. Zum Beispiel in ländlichen Räumen, für Strecken mit weniger als 100 Kilometern und bei gelegentlichen Fahrten für den eigenen Betrieb ist der Nachweis verzichtbar. Wie und von wem soll das kontrolliert werden? Diese Frage konnten Sie nicht beantworten. Das fragt auch nicht ganz zu Unrecht der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und stellt fest, dass es weit unkomplizierter und realistischer ist, die Regelung einfach für alle gelten zu lassen. Besser anstatt die Ausnahme möglicherweise auch auf Städte auszudehnen gar keine Ausnahmen.
Unser Maßstab ist Vision Zero, und das ist auch Ihre Orientierung und Ihr Maßstab. Es ist dabei völlig unerheblich, ob jemand gelegentlich oder öfter fährt. Im Gegenteil: Wer gelegentlich fährt, hat möglicherweise sogar weniger Fahrpraxis; bedeutet also eher eine höhere Gefährdung für sein Umfeld. Die Unfallzahlen geben immer noch keinen Anlass, zu sagen: Hier bedarf es Ausnahmeregelungen. Es ist besser, es gelten für alle die gleichen Maßstäbe bei der Qualifikation und auch beim Nachweis der Qualifikation.
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Deswegen meinen wir, es wäre besser gewesen, von den Ausnahmen bei den Qualifikationsnachweisen abzusehen. Ansonsten finden wir die Grundlinie des Gesetzentwurfs richtig.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Florian Oßner, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Folgender Hinweis war bereits im Sommer 2018 in einigen Supermärkten in Osnabrück zu lesen – ich zitiere –:
Sehr geehrte Kunden, aufgrund von Engpässen in der Industrie und Logistik kommt es leider vereinzelt zu Warenlücken. Alle Beteiligten arbeiten mit Hochdruck daran, die volle Warenverfügbarkeit wiederherzustellen. Wir bitten um Verständnis.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lieferengpässe beschäftigen uns nicht nur in Pandemiezeiten. Einer der Hauptgründe hierfür ist dem drängendsten Problem der Logistikbranche geschuldet, und das ist der Fahrermangel. Um diesen zu beseitigen, gibt es kein Patentrezept, sondern es braucht eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eines dieser Rädchen, an denen wir drehen können, um das Problem zu beheben.
Lieber Herr Staatssekretär Steffen Bilger, vielen Dank an dich, an Herrn Bundesminister Andreas Scheuer und an das gesamte Verkehrsministerium. Es ist richtig und gut, dass wir den Fahrermangel nun so engagiert ins Visier nehmen. Ein herzliches Dankeschön dafür.
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Die Zeiten, in denen der Beruf des Lkw-Fahrers, des „Truckers“, mit einem Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden wurde, ist schon eine Weile her – kein Manfred Krug mehr „Auf Achse“ und kein „Ausgekochtes Schlitzohr“ auf dem Highway. Der Fleiß, die lange Abwesenheit vom Wohnort sowie die oft schwierigen Zustände an Lkw-Rastplätzen verlangen viel von unseren Lkw-Fahrern ab. Da hilft es wenig, dass die meisten Unternehmer inzwischen schon weit über dem Branchendurchschnitt und über den Tariflöhnen zahlen.
Die Coronapandemie hat uns in den letzten Monaten aber mehr als deutlich vor Augen geführt, wie wichtig unsere „Brummis“ tatsächlich sind. Daher mein allerherzlichster Dank an alle Lkw-Fahrer sowie die gesamte Logistikbranche für ihre Arbeit in den vergangenen Monaten. Ihr habt einen wesentlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit unseres Landes geleistet.
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Ich denke da, es ist auch wichtig, dass wir als Verkehrspolitiker nun zusammenstehen und alles dafür tun, dass es zu keinen weiteren Engpässen im Logistiksektor kommt. Insofern sind auch Scheingefechte über ein Autobahnmoratorium, also den Stopp von Straßenbau, wie Sie, liebe Kollegen von den Grünen, es neuerdings wieder einfordern, nicht sonderlich hilfreich. Nein, ganz im Gegenteil: Dies ist eine Kampfansage an all diejenigen, die jetzt schon völlig genervt vom Stau auf unseren Straßen sind.
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Sie schaden damit nicht nur unserer Industrie, unserer Logistikbranche, sondern auch den vielen Menschen vor Ort, die an vielbefahrenen Bundesstraßen wohnen und seit Jahren übrigens auf eine Entlastung durch den Bau einer Ortsumfahrung warten. Einen generellen Stopp von Straßenbau kann man in der Tat nur fordern, wenn man den ländlichen Raum nur aus dem Fernsehen kennt oder glaubt, dass Amazon-Päckchen am Ende von Kobolden geliefert werden.
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Das vorliegende Gesetz sieht unter anderem vor, Barrieren zur Fahrerlaubnis innerhalb Europas abzubauen. Wir vereinfachen in einem ersten Schritt – wie meine Vorredner schon gesagt haben; darum verkürze ich das – das Verwaltungsverfahren und senken hierdurch Kosten. Nachweise werden künftig nur bundesweit ausgestellt und damit vereinheitlicht.
Als CDU/CSU war für uns entscheidend, noch einen Schritt darüber hinauszugehen. Wir haben deshalb einen Entschließungsantrag eingebracht. Darin werden unter anderem Prüfungen auch in Fremdsprachen sowie der Einsatz von E-Learning eingefordert. Fahrer können sich so bequem von zu Hause über Sozialvorschriften, Ladungssicherungen, Fahrzeugtechnik und Gesundheitsvorsorge fortbilden.
Wir wollen damit die zeitliche, räumliche und finanzielle Entlastung von Fahrern und Unternehmen erreichen. Denn die fahrerfreundliche Ausgestaltung der Schulungsbedingungen stellt einen wichtigen Faktor im Wettbewerb um Fahrer dar. Die Niederlande und Österreich machen es uns bereits vor. Wir brauchen hier wahrlich nicht das Rad neu zu erfinden. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf auch derart wichtig.
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Aus diesem Grund möchte ich ausdrücklich um Zustimmung für diesen Gesetzentwurf werben. Wir müssen dringend das Problem des Fahrermangels angehen – die Bilder der leeren Supermarktregale in der Pandemie haben wir noch alle vor Augen. Wenn der Lkw irgendwann nicht mehr rollt, werden diese Bilder die Regel sein. Es liegt deshalb jetzt an uns, das zu vermeiden.
Herzliches „Vergelt’s Gott“ fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin eine überzeugte Europäerin, auch wenn die Bürokratie mir das manchmal nicht ganz leicht macht. Wenn Sie zum Beispiel ein französischer Lkw-Fahrer oder eine Lkw-Fahrerin sind und auf der anderen Seite im Saarland arbeiten, hat die deutsche Seite Ihre Fahrerqualifikation nicht anerkannt. Umgekehrt hat es Frankreich sehr wohl anerkannt, wenn ein deutscher Fahrer oder eine Fahrerin rübergefahren ist, die Fahrerlaubnis gezeigt hat und dort eine Schlüsselnummer eingetragen war. Das haben wir mit diesem Gesetz endlich beendet, nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich, sondern auch zwischen den anderen europäischen Ländern. Jetzt wird es so sein: Egal wo ich wohne, egal wo ich arbeite, es gelten die gleichen Bedingungen, und das ist gut so.
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Und – der Kollege Schiefner hat es angesprochen –: Wir haben endlich das Register. Warum brauchen wir das so dringend? Zunächst ist es wichtig für die Fahrenden. Alle fünf Jahre müssen sie fünf Module nachweisen. Für jedes Modul kriegen sie bis jetzt ein Papier, und nach fünf Jahren müssen sie alle zusammenpacken und zur Führerscheinstelle bringen. Wenn Sie sich einmal vergegenwärtigen, wie lange wir teilweise eine simple Einkaufsliste in unserer Wohnung suchen, die wir vor zehn Minuten geschrieben haben, dann wissen Sie, wie sinnvoll es ist, dass ich Dokumente, die ich vor fünf Jahren irgendwann mal nach einem Seminar gekriegt habe, jetzt nicht mehr suchen muss, sondern in einem Register finde, davon einen Auszug hole – und damit habe ich alles.
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Aber es geht auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, um Missbrauch. Wir haben gehört, dass es Firmen gibt, die solche Bescheinigungen verkaufen, ohne dass die Betroffenen an einer Schulung teilgenommen haben.
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Das ist gegen mein Gerechtigkeitsempfinden. Die vernünftigen Spediteure – und das ist die überwiegende Mehrheit in unserem Land –, die sich an Recht und Gesetz halten, die ihre Fahrenden zu solchen Seminaren schicken, müssen auch sicher sein, dass wir solche Regeln für alle durchsetzen. Durch dieses Register können wir die schwarzen Schafe finden. Denn wenn ein einzelner Fahrlehrer,
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der keinen Schulungsraum hat, in einem Monat 1 000 Bescheinigungen ausstellt, dann wissen wir, dass da etwas faul ist. Da können wir jetzt nachforschen, und das ist sehr gut so.
Die Kollegen haben es gesagt: Wir haben einige Punkte nicht erreicht, zum Beispiel den leichteren Zugang der Fahrenden zu ihren Bescheinigungen; der Kollege von der FDP hat es angesprochen. Da hieß es: Europarecht steht dem entgegen. – Da müssen wir noch mal nacharbeiten. Genau das Gleiche gilt aber auch für Prüfungen in Fremdsprachen. Das heißt ja nicht, dass der Unterricht in einer Fremdsprache gemacht wird. Aber wenn ich sehe, dass selbst viele Muttersprachler mit Fragen in Fahrerlaubnisprüfungen Probleme haben, dann finde ich es in Ordnung, dass wenigstens die Prüfung in der Muttersprache durchgeführt werden kann. Das werden wir genauso anpacken wie das E-Learning. Das heißt, dieses wichtige Thema bleibt uns erhalten. Heute machen wir einen ersten richtigen Schritt.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lühmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf die Frage: „Stört es Sie, als Beleg zu fungieren für die Gleichberechtigung in Deutschland?“ antwortete unsere Bundeskanzlerin mit Ja. Eine Schwalbe mache noch keinen Sommer. Aus der Tatsache, dass es sie als Kanzlerin gebe, dürfe einfach kein Alibi werden. Und sie ergänzte: Das Ziel muss Parität sein, Parität überall.
Ich möchte sagen: Dieses Ziel eint uns alle. Ein Frauenanteil im Deutschen Bundestag von 31 Prozent kann uns alle nicht zufriedenstellen. Das kann nicht unser Anspruch sein: nicht als Gesellschaft, nicht als politische Parteien und auch nicht als Deutscher Bundestag. Dazu gehört aber auch eine unbequeme Wahrheit: Quoten und Quoren sind für sich allein nicht ausreichend, um unser Ziel zu realisieren. Das Problem ist für mich zweigeteilt: Es müssen sich Frauen finden, und sie brauchen eben auch die erforderlichen Rahmenbedingungen.
Erstens. Es gibt nicht annähernd genug aktive Frauen an der Basis: in den Gemeindevertretungen, in den Kreistagen und als Landrätinnen oder auch als Bürgermeisterinnen. Dies habe ich schon in einer meiner vorherigen Reden zu diesem Thema immer wieder angesprochen. Und neben Durchsetzungsvermögen braucht es vor allem eben auch Zeit und Mut, um die Ochsentour mitzumachen. Ich sage ganz deutlich: Ich würde sie wieder mitmachen.
Zeit für Parteiarbeit, kommunale Gremien, Ämter, Gespräche und auch Ehrenämter gehören dazu. Das ist oft Zeit, die man nicht hat; insbesondere als Frau und Mutter ist man meist häufiger von der Herausforderung, Familie, Beruf und Politik unter einen Hut zu bekommen, betroffen. Und es braucht Mut; Mut, um zu netzwerken und sich für politische Ziele starkzumachen, und das in einem überwiegend männlich geprägten Umfeld.
Daneben braucht es auch Unterstützung und Mentoring: innerhalb der Parteien, innerhalb der Gesellschaft und vom sozialen Umfeld. Nicht zuletzt braucht es auch den Rückhalt in der Familie, der für meinen Weg besonders wichtig war und immer noch ist. Wenn wir Frauen also ehrlich fördern wollen, dann müssen wir an der Basis ansetzen, Kampagnen und Aktionen machen. Wir müssen auf Frauen zugehen und das persönliche Gespräch suchen und fragen: „Willst du mitmachen?“ und dazu auffordern: Engagiere dich, ich unterstütze dich dabei!
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Das ist doch genau die Einstellung, die wir mit in die Kreisverbände, in die Kommunalparlamente nehmen und an die Landtagskolleginnen und ‑kollegen herantragen müssen. Es geht darum, Frauen auf jeder politischen Ebene zu motivieren, sie mit Vorbildcharakter sichtbarer zu machen. Nur so ermöglichen wir es überhaupt, dass Frauen vorangehen und sich auch auf ein Bundestagsmandat bewerben. Wir müssen diese positive Grundhaltung von der Basis bis zur Spitze weitertragen.
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Um das zu erreichen, müssen wir gleichzeitig ein anderes Problem lösen. Das bringt mich jetzt zu meinem zweiten Punkt: die Verbesserung der Rahmenbedingungen im politischen Alltag und bei der Parlamentsarbeit. Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel nennen: Es gibt neben der Kita des Bundestages hier im Reichstagsgebäude, nur wenige Meter vom Plenarsaal entfernt, ein Spiel- und Stillzimmer. Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen das jetzt gerade zum ersten Mal hören; das ging mir bis vor Kurzem auch so. Schauen Sie dort doch einfach mal rein; dann werden Sie erkennen, dass die Veränderungen der Rahmenbedingungen bereits zum Teil passiert sind, wenn auch im Kleinen – mehr geht immer –, sie müssen nur erkannt und genutzt werden. Dies ist nur ein Beispiel.
Ich weiß: Das Kernproblem sind die strukturellen Hindernisse und Barrieren für die Frauen. Natürlich sprechen wir dabei auch von ganz praktischen und alltagsnahen Maßnahmen: einem Zimmer wie diesem, der Möglichkeit für sichere digitale Konferenzen und weniger Zeitaufwand für Bürokratie. Solche Maßnahmen sind praktikabel und haben Vorbildcharakter, der weit über politische Institutionen hinausgeht.
Gesetzliche Regelungen können aber immer nur ein Baustein sein. Die Gleichberechtigung im politischen Raum lässt sich nicht per Gesetz erreichen. Wir müssen sie Schritt für Schritt verfestigen. Diese Debatte als eine von vielen alleine in dieser Legislaturperiode zeigt: Alle diese Entwicklungen sind im Gange.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jüngstes Beispiel ist ein Beschluss des Koalitionsausschusses vom 25. August 2020. Demzufolge soll eine Reformkommission zum Wahlrecht zeitnah, also noch in dieser Legislaturperiode, eingesetzt werden.
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Diese Reformkommission wird Vorschläge zur paritätischen Vertretung von Frauen und Männern vorlegen. Zugleich wird sie die vorhandene Dynamik aufgreifen und Empfehlungen zur Modernisierung der Parlamentsarbeit geben.
Ich bin mir sicher: Das Ziel ist ganz klar und unumstößlich. Am Ende müssen verfassungsgemäße Maßnahmen erarbeitet werden, die Frauen nicht nur die gleichberechtigte Teilhabe im politischen Raum ermöglichen, sondern sie vielmehr dazu anspornen, sich parteipolitisch zu engagieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen.
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, erlaube ich mir einen wirklich letzten netten Hinweis. Es ist mir heute mehrfach aufgefallen, dass Kolleginnen und Kollegen, entweder weil sie im Plenarsaal angerufen werden oder weil sie selbst das Bedürfnis haben, zu telefonieren, mit dem Handy ihren Platz verlassen, ohne die Mund-Nase-Bedeckung anzulegen. Es gilt die grundsätzliche Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung im Plenarsaal, bis Sie Ihren Platz erreichen; dort oder wenn Sie hier vom Rednerpult aus reden, dürfen Sie diese abnehmen. Das machen wir nicht wegen der Fernsehzuschauer, sondern um uns selbst untereinander zu schützen und um die Verbreitung des Virus zu verhindern.
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Ich sage das auch deshalb, weil das Präsidium des Deutschen Bundestages einmütig der Auffassung ist, dass es ab der nächsten Sitzungswoche nicht bei Ermahnungen bleibt, sondern dann ordnungsrechtliche Konsequenzen haben wird.
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Also gewöhnen Sie sich jetzt schon mal daran, sich entsprechend zu verhalten. Das erspart dann lange Erörterungen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Der vorliegende Antrag von Linken und Grünen ist Ausguss radikalfeministischer Ideologie
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ohne jede Substanz. Das ist nicht weiter bemerkenswert. Bemerkenswert ist, dass nun auch die FDP das Hohelied des Radikalfeminismus singt.
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Linke, Grüne und FDP behaupten, 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts gebe es in Deutschland keine Gleichberechtigung. Das ist ideologisch bedingter Realitätsverlust.
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Männer und Frauen sind in Deutschland gleichberechtigt, und zwar zu 100 Prozent.
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Das Landesverfassungsgericht in Thüringen hat deswegen am 15. Juli das Paritätsgesetz höchstrichterlich beerdigt. Ich darf zitieren:
… tatsächlich sind Männer und Frauen sowohl in aktiver wie passiver Hinsicht gleichermaßen wahl- und … teilnahmeberechtigt. Männer haben … nicht mehr Rechte als Frauen und Frauen nicht mehr Rechte als Männer.
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Danke von hier an unsere AfD-Fraktion in Thüringen, die dieses Urteil erstritten hat!
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Die Thüringer AfD hat verhindert, dass der nächste Landtag nach einem verfassungswidrigen Wahlrecht gewählt wird – Sternstunde des Rechtsstaats und Grund zur Freude für alle demokratischen Parteien.
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Der Souverän in diesem Land – und das wird jetzt ganz hart, insbesondere für die Linken – ist das deutsche Volk; es sind nicht irgendwelche Gruppen. Nach der von Ihnen angestrebten Quote für Bundestagsmandate nach Geschlecht – Frauen, Männer und natürlich die Diversen – kommt doch als Nächstes die Quote für Junge, Alte, Schwule, Übergewichtige und Deutsche mit Migrationshintergrund.
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Das ist nichts anderes als die Rückkehr zu Gruppenrechten wie im mittelalterlichen Ständestaat. Kurz gesagt: Frauenquote ist Mittelalter.
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In unserer Demokratie hat jeder Staatsbürger, zu welcher Gruppe er auch immer gehört, dasselbe Recht, zu wählen und gewählt zu werden.
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Und wer gewählt wird, der repräsentiert das ganze Volk und nicht nur irgendeine Gruppe. Deswegen ist das Paritätsgesetz so vollkommen verfassungswidrig.
Und obwohl es so verfassungswidrig ist, fordern Links-Grün und FDP jetzt die Parität doch durch die Hintertür. Sie wollen eine Kommission einsetzen, die Maßnahmen prüfen soll bei der Aufstellung von Wahllisten. Lassen Sie es einfach!
Die FDP lässt sich auch vor diesen kollektivistischen Karren spannen. Das ist einfach nur noch arm. Die FDP, das war einmal die Partei von Thomas Dehler und Otto Graf Lambsdorff. Heute steuert Christian Lindner – erkennbar ohne Kompass. Liebe FDP, statt sich an Links-Grün ranzuwanzen,
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wählen Sie doch einfach mehr Frauen auf Ihre Listen – ganz freiwillig und so viele, wie Sie wollen.
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Dafür braucht es keine Kommission. Dafür braucht es keine staatlichen Maßnahmen. Niemand hindert Sie. Nur, hören Sie auf, es den anderen vorschreiben zu wollen! Aber wie ich schon sagte: Was soll man von einem Christian Lindner erwarten, der den in freier Wahl gewählten eigenen FDP-Ministerpräsidenten stürzt,
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um einen SED-Nachfolger an seine Stelle zu setzen?
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Es gibt in den Anträgen von Links-Grün und FDP keine substanziellen Unterschiede. Die Anträge sind nicht nur in Analyse und Schlussfolgerung praktisch gleich; sie sind in großen Teilen wortlautidentisch. Ihre Anträge sind ein Hoch auf den Geschlechterkollektivismus, ein Fußtritt für die bürgerliche Freiheit
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und ein Schlag ins Gesicht der Demokratie.
Die einzige Fraktion, die in diesem Hause konsequent sich dem entgegenstellt und die Demokratie verteidigt, das ist die AfD.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin von Storch. – Nächster Redner ist der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer schon immer mal wissen wollte, woher der Spruch kommt: „Ich würde mich gerne mit Ihnen geistig duellieren, aber wie ich sehe, sind Sie unbewaffnet“, der muss sich nur die Rede meiner Vorrednerin anhören.
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Viel zu wenig zitiert wird Marie Juchacz, die vor 101 Jahren sagte:
Es ist das erste Mal, daß in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, ... daß es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.
So Marie Juchacz vor über 100 Jahren, eine sehr starke Sozialdemokratin.
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Was würde sie 100 Jahre später, wenn sie heute noch leben würde, sagen, wenn sie sähe, dass der letzte Deutsche Bundestag einen Frauenanteil von 37,3 Prozent hatte und der aktuelle Deutsche Bundestag nur noch einen Frauenanteil von knapp 30 Prozent hat?
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Unsere Demokratie ist bei Wahlen blind. Sie achtet nicht auf Mann und Frau. Sie achtet nicht auf Jung und Alt. Sie schaut auch nicht, ob jemand Mahmut oder Horst heißt. Sie ist blind.
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Und das ist das Gute an unserer Demokratie: Jede und jeder darf kandidieren. Das ist Freiheit in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zu beachten ist allerdings die Frage: Wie verhält sich diese schrankenlose Freiheit der Demokratie, wenn wir uns anschauen, welche grundgesetzlichen Aufträge uns überantwortet sind von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes? In Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz ist uns die Gleichberechtigung, die wir zu schützen und zu wahren haben, als grundrechtliche Pflicht überantwortet: tatsächliche Durchsetzung fördern, bestehende Benachteiligungen beseitigen. Wer heute behauptet, dass es eine tatsächliche Gleichberechtigung gebe, und behauptet, dass keine Benachteiligungen mehr vorhanden seien, der hat schlicht und ergreifend die Realitäten verkannt und verpasst.
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Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 ist erst 1994 in unser Grundgesetz eingefügt worden. Andere Regelungen sind auch nicht viel älter. Gerade einmal seit 100 Jahren geht es um ein allgemeines Wahlrecht für Frauen. Unsere europäischen Nachbarn – Italien, Belgien, Frankreich – haben erst in den späten 1940er-Jahren diesen Schritt nachvollzogen. Es ist auch noch nicht allzu lange her, dass wir damit begonnen haben, über volle Bürgerrechte für Frauen zu reden. Erst in den 70er-, 80er-Jahren – das muss man sich einmal vorstellen! – ist in allen europäischen Ländern die Nachvollziehung der Gleichberechtigung auch im bürgerlichen Recht erfolgt.
Zwei Beispiele, die mir persönlich immer in Gedanken bleiben: Erst 1977 ist im Bürgerlichen Gesetzbuch gefallen, dass eine Frau der Genehmigung des Mannes bedarf, wenn sie eine Erwerbstätigkeit aufnimmt. 1977! Erst in den 2000er-Jahren ist die Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe gefallen.
All diese frauenverachtenden – ich betone: frauenverachtenden! – Regeln sind noch nicht lange abgeschafft. Sie sind eine Schande. Sie haben auch viel Leid und Unterdrückung für die Frauen in diesem Land gebracht.
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Wie können wir so etwas endgültig überwinden? Eine Antwort von meiner Fraktion ist ganz klar: Wir brauchen mehr Frauen im Deutschen Bundestag.
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Eine besondere Stilblüte ist: Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich gelesen: Als die Schweizer das Frauenwahlrecht eingeführt haben, musste man eine Volksabstimmung machen. Die Männer hatten darüber abzustimmen, ob die Frauen das Wahlrecht erhalten sollen, dürfen, mögen oder können. Das ist, glaube ich, eine eher humoristische Anekdote, die ich hier beifügen möchte.
Parteien wie meine vollziehen seit Jahren paritätische Listen im Reißverschlussverfahren zu Kommunalwahlen, zu Landtagswahlen und zu Bundestagswahlen und innerparteiliche Besetzungen mit Quoten – keine Frauenquote, sondern eine Quote für das unterrepräsentierte Geschlecht. In unserer Partei praktizieren wir diese Regelung. Sie ist praktikabel, sie ist geübt, wir haben Erfahrungswerte. Sie ist auch offensichtlich verfassungsfest und gesellschaftlich akzeptiert. Wenn eine Volkspartei wie die SPD, die seit über 150 Jahren für Gleichberechtigung, Emanzipation und Feminismus steht, sie praktizieren kann, dann fordern wir Sie in diesem Hause auf, es der SPD gleichzutun.
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Diesen Weg der Gleichberechtigung verbindlich und chancengleich weiterzugehen, ist unsere Forderung als SPD. Wir möchten eine Regelung für alle Parteien in diesem Land im Wahlrecht verankern. Wir haben sehr sorgfältig darauf geachtet, dass mit den Änderungen im Bundeswahlgesetz auch die Einsetzung einer Reformkommission verbindlich festgeschrieben wird, die unverzüglich ihre Arbeit aufzunehmen hat. Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber einen sehr weiten Spielraum, wie er das Wahlrecht auszugestalten hat. Mit anderen Worten: Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Es ist an uns, diese zu würdigen und ins Werk zu setzen. Ich rufe Sie alle dazu auf, dass wir endlich diesen Schritt gehen.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Özdemir. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen mehr Frauen im Deutschen Bundestag.
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Mit diesem gemeinsamen Ziel sind wir als interfraktionelle Frauengruppe aus der Mitte des Parlaments im vergangenen Jahr zusammengekommen. Wir haben uns Gedanken gemacht, Gemeinsamkeiten gesucht, aber auch Grenzen ausgelotet. Wir wollten eine sofortige Einsetzung der Kommission mit einem ganz klaren Ziel. Genau das haben Sie von der Großen Koalition ausgebremst und eben nicht, wie im Januar gesagt, entschlossen vorangetrieben. Was Sie uns gestern mit der Reformkommission untergejubelt haben, ist, ehrlich gesagt, ein Witz – genauso wie die Wahlrechtsänderung.
({1})
Die Ergebnisse der Kommission sollen bis 2023 vorliegen. Aber die Information, was genau die Kommission machen wird, bleiben Sie uns schuldig.
Wir wollen endlich vorankommen. Politische Repräsentanz und Teilhabe von Frauen ist essenziell und eben kein Selbstläufer, wie wir sehen. Schauen Sie doch in die Reihen! Schauen Sie sich um!
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Mit unserem Frauenanteil rangieren wir als Deutscher Bundestag im internationalen Vergleich auf Platz 47. Schweden, Finnland, Neuseeland liegen weit vor uns. Sie sind die Vorreiter und spielen in der Champions League, wir hingegen eher in der Kreisliga. Aber wir wollen auch in die Champions League kommen.
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Wir wollen eine bunte Mannschaft, gemischte Teams, die Politik gestalten mit ganz unterschiedlichen Perspektiven, damit das Parlament vielfältiger, agiler, innovativer und vor allem zukunftsfähiger wird. Und Barack Obama hat es so schön gesagt: Vielfalt ist kein Akt der Nächstenliebe, sondern Motor für Exzellenz.
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Schweden, Finnland und Neuseeland haben es uns vorgemacht. Sie haben es geschafft, und das ganz ohne Paritätsgesetz.
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Sie haben uns gezeigt, wie es gehen kann. Ich bin davon überzeugt, dass auch wir das schaffen können. Wir können besser werden.
Als nationales Parlament haben wir eine Vorbildfunktion. Es ist unser Anspruch und unsere Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen. Und ja, die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen in der Politik beginnt schon viel früher, auf kommunaler und Landesebene. Und ja, das ist auch Aufgabe der Parteien. Wir wissen das selbst nur zu gut und haben dazu in unserer Fraktion einiges auf den Weg gebracht.
Aber der Deutsche Bundestag hat eine besondere Verantwortung und vor allem eine besondere Strahlkraft. Also senden wir das wichtige Signal hinaus ins Land, dass der Frauenanteil höher werden muss, dass wir Lösungsansätze brauchen, um künftig mehr Frauen in der Politik zu haben. Wir Freie Demokraten wollten und wollen eine ergebnisoffene Analyse und die Entwicklung von innovativen Ideen und Maßnahmen: Welche Barrieren gibt es im Vorfeld von Kandidaturen und welche im parlamentarischen Alltag? Wie machen das andere Länder?
Also lassen Sie uns gemeinsam von Neuseeland lernen; denn dort wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Vereinbarkeit von Familie und Mandat seit vielen Jahren gelebt.
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Nutzen wir die Chancen der Digitalisierung und der Vernetzung. Corona hat uns gezeigt, dass vieles möglich ist.
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Stellen wir die Weichen für einen globalen Kulturwandel, den wir von der Wirtschaft so sehr fordern, für mehr Vielfalt und ein respektvolles Miteinander.
Mehr Frauen im Bundestag, mehr Vorbilder, mehr Exzellenz – das ist unser Ziel, damit wir künftig ganz oben mitspielen. Das wünsche ich für uns alle.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Möhring, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Beginn dieser Wahlperiode beklagen wir den gesunkenen Anteil von Frauen im Bundestag – jedenfalls der klügere Teil des Hauses tut das.
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Denn weniger als ein Drittel der Abgeordneten ist weiblich, und das ist ein nicht hinnehmbarer Tiefstand.
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Wir diskutieren nun schon lange in unterschiedlicher Intensität, wie der Frauenanteil im Bundestag erhöht werden kann; so auch in der eben von der Kollegin Bauer erwähnten interfraktionellen Arbeitsgruppe. Ein Vorschlag dieser Gruppe war, in einer offiziellen Kommission des Bundestages fachlich fundiert Wege zur Parität zu erarbeiten und dem Parlament vorzulegen. Ehrlicherweise muss man an dieser Stelle einschieben, dass die FDP diese Idee einer Kommission noch nie wirklich gut fand und eigentlich immer noch erforschen will, was Frauen daran hindert, zu kandidieren; das hat aber eigentlich ihr letzter Parteitag, ehrlich gesagt, ziemlich gut vorgeführt.
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Gescheitert ist ein gemeinsames Agieren letztlich an den Regierungsfraktionen. Für die Union war so eine mit Sachverständigen und Abgeordneten besetzte Kommission nicht drin; was bei einem Männeranteil von 79 Prozent vielleicht auch nicht so das große Wunder ist.
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Die SPD bekam ihr übliches „Dann platzt uns die GroKo“-Gebibber und änderte flugs Argumentation und Vorgehen.
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Fortan hieß es, dass eine solche Kommission eine Verzögerung bedeutet und die Parität im Wahlrecht entschieden wird.
Wer nun aber Konkretes oder ein engagiertes Ringen erwartet hat, damit Parität auch wirklich ins Wahlrecht aufgenommen wird, weiß spätestens seit gestern: Pustekuchen! Denn mit der gestern verabschiedeten Reform des Wahlrechts hat die Große Koalition das Thema Parität erst mal für Jahre verschoben. Es soll nun doch eine Kommission geben, eine Reformkommission, deren Arbeit bis zum 30. Juni 2023 abgeschlossen sein soll. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das nenne ich eine Verzögerung.
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Die Aufgabenbeschreibung der Kommission ist zudem sehr umfangreich: Sie soll sich mit dem Wahlrecht ab 16 befassen, der Dauer der Legislaturperiode, Vorschläge zur Modernisierung der Parlamentsarbeit entwickeln und dann irgendwann auch noch – Zitat – „Maßnahmen empfehlen, um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Deutschen Bundestag zu erreichen“.
Übersetzt heißt das Ganze mit Blick auf Parität: Konflikt in der Regierung, peinliches Thema für die SPD, weil sie sich mal wieder nicht durchsetzen kann; das Thema wird auf die lange Bank geschoben und in einer Arbeitsgruppe als eines von vielen anderen Themen versenkt. Aber Parität nebenbei abzufrühstücken, das ist der Bedeutung wirklich nicht angemessen.
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Sollten tatsächlich essenzielle Ergebnisse herauskommen, sind diese jedenfalls erst auf das Ende der nächsten Legislaturperiode geschoben. Für Teile der Koalition ist das lästige Thema Parität damit auch erst einmal aufgeschoben und stört aktuell nicht mehr. Dabei könnten wir noch in dieser Wahlperiode ganz konkrete Vorschläge für ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Bundestag erarbeiten, wenn Sie heute dem Gruppenantrag von linken und grünen Abgeordneten zustimmen.
({7})
Wir wollen eine zügige Einsetzung und Ergebnisse noch in dieser Wahlperiode, damit sich in der nächsten auch wirklich was bewegt und wir nicht wieder bei null anfangen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne verbindliches politisches Bekenntnis, ohne einen verbindlichen Mechanismus werden wir den Frauenanteil im Bundestag nicht erhöhen; das wissen wir doch wirklich alle. Auf freiwilliger Basis funktioniert das in der Politik genauso wenig wie in Führungsetagen. Und natürlich: Quoten reichen nicht aus, aber die Quote bei Listenaufstellungen
({9})
zwingt Parteien dazu, in ihrer politischen Arbeit Frauen aktiv zu unterstützen und ihre Parteikultur darauf auszurichten, dass Frauen an politischen Prozessen teilhaben können und wollen.
({10})
Ja, eine Verpflichtung der Parteien, bei den Kandidatenaufstellungen zu quotieren, ist rechtlich sehr herausfordernd, sie ist aber möglich,
({11})
und sie ist zwingend, wenn wir die Staatszielbestimmung der Gleichstellung von Frauen und Männern ernst nehmen.
({12})
Es gibt bereits einige gute Vorschläge, wie ein Paritätsgesetz aussehen könnte. Ich finde, wir sollten jetzt wirklich anfangen, sie inhaltlich zu diskutieren, nicht im Schlagabtausch, sondern indem wir gemeinsam ernsthaft daran arbeiten.
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Deshalb mein Appell: Lassen wir das Thema nicht in der Versenkung verschwinden. Stimmen Sie heute unserem Antrag zu. Dann können wir mit der Arbeit loslegen und haben bereits in sechs Monaten Ergebnisse. Es ist Zeit für Parität.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Parität von Frauen und Männern ist in diesem demokratisch gewählten Parlament ein Selbstverständnis. Denn so wird gewährleistet, dass die Bevölkerungshälften von Frauen und Männern gerecht abgebildet werden und der Gleichstellungsauftrag in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes bei der Partizipation erfüllt wird.
({0})
Ich hoffe, in wenigen Jahren ist dieser Satz endlich Realität. Aber da sind wir noch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es waren wir Grünen, die diesen Gruppenantrag heute auf die Tagesordnung gesetzt haben. Sonst hätten Sie alle hier heute zu Parität nichts sagen können. Denn gestern in der Debatte um die Wahlrechtsreform wurde Parität von Ihnen in der Koalition mit keiner Silbe erwähnt. Noch vor Kurzem hat die SPD groß getönt: Keine Wahlrechtsreform ohne Parität! – Gestern kein Wort dazu. Ich muss sagen: Das war entlarvend.
({2})
Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Es geht so nicht weiter. Ein Frauenanteil von 31 Prozent ist inakzeptabel. Es gibt viele Gründe, endlich eine gerechte Repräsentanz von Frauen herzustellen, aber es gibt keine, sich einem steigenden Frauenanteil zu verweigern. Der Unmut hat spürbar zugenommen, besonders bei den Frauen hier im Bundestag, in den Parteien, aber auch bei den Frauenverbänden und vielen Frauen, die sich nicht adäquat im Parlament abgebildet sehen.
Frau Kollegin Schauws, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte gerne durchsprechen. – Allen ist klar, dass für Parität jetzt dringend gehandelt werden muss, dass der Frauenanteil im Bundestag ohne Druck und ohne zügige Vorschläge womöglich weiter zurück- und nicht nach oben geht.
Liebe Kolleginnen, wir Frauen hier wussten, dass wir die Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Ein Jahr haben wir uns getroffen und gemeinsam einen Kompromiss erarbeitet. Der liegt Ihnen heute hier als Gruppenantrag vor.
({0})
Das Ziel ist, noch in dieser Legislaturperiode in einer effizient arbeitenden Fachkommission ausschließlich zum Thema Parität gute Vorschläge zu erarbeiten. Diese Kommission mit Expertinnen und Experten hätte längst eingesetzt werden und arbeiten können und, ich sage, sogar müssen.
({1})
Heute ist die allerletzte Chance, sie zu beschließen. Und wenn Sie von der Koalition den Mut gehabt hätten, sich dafür einzusetzen, wären wir schon längst dran. Haben Sie wenigstens den Mut, zuzugeben, dass Ihnen das dringende Ziel „Mehr Frauen in den Bundestag!“ nicht so wichtig ist. Wie sonst wollen Sie uns glaubhaft machen, dass Sie eine Reformkommission ausreichend finden, in der erstens Parität als letzter Punkt unter „ferner liefen“ aufgeführt wird und die zweitens erst im Jahr 2023 fertig sein soll?
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Wollen Sie, dass erst wieder in 2023 über Parität und eine Erhöhung des Frauenanteils öffentlich geredet wird? Das ist bitter, und ich sage, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das geht so nicht.
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Und es kommt eigentlich noch ein bisschen schlimmer. Sie alle wissen: Es gilt das Prinzip der Diskontinuität für die Arbeit des Deutschen Bundestages. Die Reformkommission mit Ergebnissen in die nächste Wahlperiode zu schieben, geht einfach nicht. Sie versprechen hier etwas, was Sie gar nicht halten können. Sie führen die Frauen und die Verbände hinters Licht, und Sie wissen es.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union und besonders von der SPD, Sie haben zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts große und auch gute Reden gehalten – die Kanzlerin, die Frauenministerin, etliche von Ihnen hier – mit dem Versprechen, jetzt sei die Zeit für Parität. Darum sage ich: Wer Veränderung will, braucht einen langen Atem. Wer Frauenrechte durchsetzen will, braucht vereinte Kräfte, gegen Widerstände anzukämpfen. Diese Kraft konnten Sie von SPD und Union hierbei nicht aufbringen, und das ist eine herbe Enttäuschung für Frauen. Ich muss sagen: Auch ich bin total enttäuscht. Aber wir geben nicht auf. Wir hören nicht auf, für Parität zu kämpfen, bis wir sie erreicht haben; denn die Zeit für Frauen ist jetzt.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schauws. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Yvonne Magwas, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zunächst einmal ein gutes Zeichen, dass wir heute erneut über eine Steigerung des Frauenanteils im Deutschen Bundestag debattieren; denn es eint uns doch in der demokratischen Mitte das Ziel, ein Parlament zu haben, das sich gleichermaßen aus Männern und Frauen zusammensetzt.
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Die aktuelle Lage brauche ich nicht noch mal zu vertiefen; sie wurde von meinen Vorrednerinnen schon deutlich beschrieben. Kurzum: Mit knapp 31 Prozent ist der Frauenanteil hier im Deutschen Bundestag der niedrigste seit 1998, und das kann uns alle nicht befriedigen.
Ich möchte es wiederholt betonen: Der niedrige Frauenanteil in den Parlamenten ist inzwischen auch eine Demokratiefrage. Und deshalb muss es unser aller Aufgabe sein – von Frauen und Männern, von Kolleginnen und Kollegen –, auf eine Verbesserung hinzuarbeiten. Darum – kleine Randanmerkung – hätte ich mir gewünscht, dass bei 14 Rednerinnen und Rednern in dieser Debatte nicht nur drei, sondern vielleicht ein paar mehr Männer das Wort ergreifen.
({1})
Wie wollen wir nun den Frauenanteil im Deutschen Bundestag erhöhen? Ja, eine Kommission ist der richtige Weg. Das haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch immer gesagt und immer eingefordert, liebe Conny Möhring. Wir haben nämlich einen Beschluss unserer Fraktion, eine Enquete-Kommission einzusetzen.
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Wir haben einen Beschluss dafür, dass wir mit einer Enquete-Kommission diesen Weg gehen wollen. Von daher hören Sie bitte auf mit der Mär, dass die Union diesen Weg nicht geschlossen geht.
({3})
Eine Kommission ist für uns genau der richtige Weg, weil es nämlich darum geht, die richtigen und die zielgenauen Instrumente und Maßnahmen zu entwickeln, sachlich zu diskutieren und Maßnahmen und Instrumente zu entwickeln, die sicherstellen, dass zukünftig wirklich mehr Frauen die Chance auf ein Mandat haben. Wir setzen das nun gemeinsam auch um, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner. Gestern Abend haben wir mit der Verabschiedung des 26. Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auch die Einsetzung einer Reformkommission beschlossen. Ich habe mir die Debatte genau angehört. Und auch ich hätte mir gewünscht, wenn die Rednerinnen und Redner gestern Abend diese Kommission auch ein Stück selbstbewusster vertreten und dafür eingestanden hätten, dass es diese Kommission gibt.
({4})
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Kommission werden Zukunftsfragen beraten. Dies wird unser Wahlrecht modernisieren und unser Parlament voranbringen.
Ja, die Reformkommission hat mehrere Arbeitsaufträge. Jeder ist dabei berechtigt. Es ist dabei aber besonders wichtig, dass die Frage, wie eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in unserem Parlament erreicht werden kann, ganz oben auf der Agenda steht. Schließlich betrifft dieser Punkt mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung. Daher ist es auch unerlässlich, dass die Kommission den Schwerpunkt auf diese Frage legt. Und ehrlicherweise halte ich es auch für angemessen, dass diese Kommission paritätisch besetzt sein wird.
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Alle, die das heute beklagen, und alle Vorredner, die uns heute schon vorgeworfen haben, dass die Reformkommission mehrere Arbeitsaufträge hat, können ja gern dazu beitragen, dass genau der eine Punkt mit der Steigerung des Frauenanteils vorangestellt wird, dass wir das so angehen können und dass wir vielleicht die Vorschläge gern auch vor Mitte 2023 vorliegen haben.
Die relevante Frage ist aber auch: Mit welchen Fragestellungen wird sich die Kommission befassen? Als Gruppe der Frauen in der Unionsfraktion haben wir uns dazu schon klar positioniert. Vier Leitfragen sind für uns besonders wichtig: Welche rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten stehen bei der Aufstellung von Bewerberinnen und Bewerbern zur Verfügung? Welche Bedeutung für die Zusammensetzung des Bundestages nach Geschlecht haben Mandate, die über die Erst- und Zweitstimme vergeben werden? Wie kann eine Steigerung des Frauenanteils über das Wahlrecht erreicht werden, die sowohl bei den Listenmandaten wie bei den Wahlkreismandaten ansetzt? Und welche Voraussetzungen sind dafür nötig? – Aber es geht auch um die Rahmenbedingungen im Vorfeld von Kandidaturen und im parlamentarischen Alltag.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ja. – Das sind die entscheidenden Fragen: moderne Parlamentsarbeit und gesetzliche Maßnahmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Wir werden die vorliegenden Anträge heute ablehnen, nicht weil wir ihren Inhalt gänzlich ablehnen, sondern weil sie überholt sind. Die Reformkommission kommt. Sie wird einen klaren Auftrag haben. Sie hat einen klaren Zeitplan. Arbeiten wir gemeinsam in dieser Kommission daran, für mehr Frauen im Bundestag und für mehr Gleichberechtigung!
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Magwas. Ihr berechtigter Wunsch nach mehr Männern am Mikrofon scheint von Ihrer Fraktion nicht erhört worden zu sein; denn Sie stellen nur Frauen als Rednerinnen.
({0})
Aber deshalb verzichte ich darauf, der Union jetzt eine Minute abzuziehen.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Ehrhorn, AfD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussage des Artikels 3 unseres Grundgesetzes ist so klar, so eindeutig, wie sie nur sein kann:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden.
Und wenn in Absatz 2 dieses Artikels steht: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“, dann können Sie das doch nicht ernsthaft umdeuten wollen in: Alle Menschen sind gleichzubehandeln, aber Frauen sind etwas gleicher und haben deshalb das Anrecht auf eine bevorzugende Sonderbehandlung. – Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
({0})
Es geht hier um den Grundsatz der Chancengleichheit, es geht eben nicht um Ergebnisgleichheit. Dass Frauen die gleichen Chancen haben – die haben sie –,
({1})
heißt eben nicht automatisch, dass am Ende zwangsläufig auch das gleiche Ergebnis, also eine zahlenmäßige Parität, herauskommen muss. Sie kann herauskommen, muss aber eben nicht. Wir haben ja auch nicht die gleiche Anzahl von männlichen und weiblichen Bauarbeitern. Aber Ihnen geht es hier anscheinend immer nur um Positionen im Bundestag und um sonstige Führungspositionen. Über zu wenig Teilhabe im Baugewerbe habe ich hier noch niemanden klagen hören – eigentlich merkwürdig.
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Noch einmal: Das Grundgesetz garantiert Chancengleichheit, nicht Ergebnisgleichheit. Es ist, ehrlich gesagt, einigermaßen beunruhigend, dass man das einigen Mitgliedern des Deutschen Bundestages immer wieder erklären muss. Erklärt hat Ihnen das vorher auch schon das thüringische Verfassungsgericht im Zusammenhang mit dem dort geforderten Paritätsgesetz. Es ist schlicht und einfach verfassungswidrig. Punkt!
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Anscheinend wollen Sie das aber einfach nicht verstehen. Ganz im Gegenteil: Linke und Grüne setzen immer noch eins obendrauf. Sie fordern hier ja im Grunde Zwangsmaßnahmen, um Listenaufstellungen zugunsten von Frauen zu manipulieren.
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Sie fordern Sanktionen und den Entzug von Finanzmitteln – das muss man sich mal vorstellen – für diejenigen, die sich diesem klaren Rechtsbruch widersetzen wollen. Mit anderen Worten: Sie fordern nichts weniger als die Abschaffung freier und gleicher Wahlen, der Grundlage unseres freiheitlich verfassten Rechtsstaates.
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Damit, liebe Grüne und liebe Linke, zeigen Sie einmal mehr, dass Sie vor allem eines sind: ein Fall für den Verfassungsschutz.
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Wir lehnen derartige Vorschläge selbstverständlich ab; denn wir, die AfD, sind eine Rechtsstaatspartei. Wir sind die Partei der arbeitenden Menschen.
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Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege Ehrhorn. Und achten Sie auf Ihre Maske, bitte; nur als Ermahnung.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Anträge: einen der FDP, einen von Linken und Grünen. Ganz ehrlich, in dem Zusammenhang den FDP-Antrag abzulehnen, fällt uns jetzt nicht schwer, schlichtweg deshalb, weil wir gerne sonst irgendwann, dauernd und überall darüber reden können, wie Familienpflichten und Mandate besser in Einklang zu bringen sind, aber hier geht es um Quoten, um sonst gar nichts. Dass wir im Parlament nicht mal ein Drittel Frauen haben, liegt daran, dass weder die FDP noch die Union, die AfD sowieso nicht, irgendwelche parteiinternen belastbaren Regelungen wie Quoten haben.
({0})
SPD, Linke und Grüne haben solche Regeln, und siehe da: Es funktioniert, Frau Nicolaisen.
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Dabei habe ich noch nichts gesagt über die sexistischen Scherzchen Ihres Herzchens, des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der FDP. Wenn Frauen so etwas sehen und hören, wird die Parteizentrale der FDP nicht geflutet
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von Mitgliedsbeiträgen und der Bereitschaft, aktiv dabei zu sein. Es hat auch etwas mit dem Klima in Parteien zu tun. Und dass die FDP in ihrem Antrag paritätische Regelungen en passant für verfassungswidrig erklärt, das schlägt dem Fass den Boden aus.
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Das passt zu anderen, aber doch nicht zu Ihnen. Wir haben diese Entscheidung aus Thüringen, und die bezieht sich auf das Thüringer Verfassungsrecht, sie bezieht sich nicht aufs Grundgesetz.
({4})
Herr Ehrhorn, wenn Sie hier schon das Grundgesetz zitieren, dann doch bitte vollständig; denn in Artikel 3 Absatz 2 steht auch noch der Halbsatz: „und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“,
({5})
und genau das ist es, was wir hier zu tun haben.
Die Frauen der demokratischen Parteien haben hier über ein Jahr zusammen an der Frage gearbeitet, wie wir den Frauenanteil im Bundestag erhöhen können. Ich habe die Arbeit als wertvoll empfunden und bedanke mich auch heute noch mal bei den Kolleginnen dafür. Nun war eine Kommission, die sich mit dem gemeinsamen Ziel befasst, in den Fraktionen nicht durchzusetzen. Die FDP scheute den Begriff „Parität“ wie der Teufel das Weihwasser,
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und die CDU wollte die Kommission nicht. So gibt es keine Mehrheit, schon gar keine Mehrheit der Koalition, und um die geht es letztlich immer. Egal ob im Bundestag, bei Schwarz-Grün in Hessen oder Grün-Schwarz in Baden-Württemberg: Es braucht immer eine Koalitionsmehrheit. Ich sage mal: Hätten wir Frauen das alleine gemacht, wären wir am Ende parteiübergreifend, ich behaupte: auch mit den CDU/CSU-Frauen, einig geworden. Am Ende hat die Union aber gefehlt.
Selbst wenn in einem halben Jahr eine separate Paritätskommission Ergebnisse vorlegt, dann hätte das doch keine Auswirkungen auf die Wahl 2021. Jetzt reden wir also in der Reformkommission. Die wird sich mit den Fragen befassen: mit dem Wahlalter, mit der Modernisierung der Parlamentsarbeit, mit der Dauer der Legislaturperiode, mit der gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Listen und im Parlament und vielleicht auch noch mit mehr; die Anhörung im Innenausschuss diese Woche hat hier für eine Breite im Denken geworben.
Aber seien Sie versichert: Parität und Pluralität sind Herzensthemen der Sozialdemokratie. Wir werden in der Kommission dafür werben und kämpfen, gerne mit Ihnen und nicht nebenbei. Es stimmt: Wir hätten gerne alle früher als 2023 Ergebnisse gesehen, hätten lieber schon 2021 nach einem anderen Recht gewählt. Leider ist der Fortschritt eine Schnecke, aber die Richtung stimmt.
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Denn wir wollen spätestens 2025 ein größeres Abbild der Gesellschaft hier sehen. Deutschland besteht nicht zu zwei Dritteln aus Männern, nicht zu 80 Prozent aus Akademikern. Deutschland ist auch jünger und überhaupt bunter als wir hier. Das ist die Aufgabe. Glück auf!
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Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Nächster Redner ist der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Breymaier, Sie haben völlig recht: Im Grundgesetz ist nicht nur die formelle Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben. Dort steht auch der Satz: „Der Staat … wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Da heißt es übrigens nicht: „Die Regierung wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, sondern „der Staat“. Deswegen richtet sich dieser Verfassungsauftrag auch an uns alle: an die Parteien, an die Regierung, an das Parlament, an diejenigen, die hier Verantwortung tragen. Deswegen kann ich heute für die Fraktion der Freien Demokraten sagen: Wir teilen das Ziel. Es braucht mehr Frauen im Deutschen Bundestag. Es ist schlichtweg Zeit, das hier heute miteinander zu vereinbaren.
({0})
Ich will ganz selbstkritisch bekennen, dass es hier im Haus Fraktionen und Parteien gibt, bei denen heute schon ein angemessenes, ausgeglichenes Geschlechterverhältnis besteht, und dass es andere Fraktionen gibt,
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bei denen ein solches angemessenes, ausgeglichenes Geschlechterverhältnis nicht besteht. Ich bin der Meinung, dass die Fraktionen, die Parteien, bei denen ein solch ausgewogenes Geschlechterverhältnis nicht besteht, sich an die eigene Nase fassen müssen und hier massiv an sich arbeiten müssen.
({2})
Das betrifft uns genauso wie die anderen Parteien, die davon betroffen sind.
Ich will, weil ich das immer wieder höre, hier eines ganz deutlich sagen: Wer sich heutzutage für Diversität, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, für mehr Frauen im Parlament einsetzt, der ist nicht links, sondern professionell, meine Damen und Herren, weil das heute einfach Stand der Dinge ist.
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Es ist rechtlich vorgeschrieben, und es ist schlichtweg auch von Vorteil für Frauen und Männer in allen Parteien, wenn Frauen mehr zu sagen haben. Deswegen sollten wir diesen Weg gemeinsam gehen.
Meine Damen und Herren, wir sind aber trotzdem als Fraktion der Freien Demokraten dagegen, das Thema Parität fest im Gesetz zu verankern. Wir glauben, dass das der falsche Weg ist, und das im Wesentlichen aus zwei Gründen:
Erstens ist das Ziel einer gleichberechtigten, einer angemessenen Vertretung von Frauen in Parlamenten ein politisches Ziel. Es ist ein Verfassungsauftrag, ja; aber es ist ein politisches Ziel. Wir wollen, dass dieses politische Ziel Ausdruck der freien Entscheidung von Delegierten auf einem Parteitag bleibt. Wir wollen, dass über die Zusammensetzung des Bundestages der Wähler entscheidet und nicht der Gesetzgeber, meine Damen und Herren. Und so soll es auch bleiben.
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Meine Damen und Herren, der zweite Grund, warum wir glauben, dass Parität nicht gesetzlich festgeschrieben werden darf, ist, dass Sie mit dieser Paritätsidee einzelne persönliche Merkmale zum entscheidenden Repräsentationsfaktor hochziehen. Es gibt andere Repräsentationsfaktoren, die auch wichtig sind. Ich will Ihnen das ganz deutlich sagen: Die Kollegin Nicole Bauer, die eben für die Fraktion gesprochen hat, ist für mich als Staatsbürger Konstantin Kuhle eine bessere Volksvertreterin als jeder Mann aus einer anderen Fraktion, und zwar nicht, weil sie eine Frau ist, sondern als Frau, die eine Liberale ist.
({5})
Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Gruppe, dass wir das Staatsvolk nicht künstlich aufteilen können in Gruppen, für die dann einzelne Vertreter im Parlament die Repräsentanten sind, sondern dass Frauen und Männer als Ausdruck des freien Mandats Vertreterinnen und Vertreter des ganzen Volkes sind. Und in diesem Maßstab brauchen wir mehr Frauen. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. Aber am Ende kann nicht die gesetzliche Festlegung von Parität stehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sexismus hat es im Deutschen Bundestag immer gegeben, aber mit dem Einzug der AfD treten Antifeminismus und Sexismus offener und aggressiver in Erscheinung.
({0})
Das erleben viele Frauen von uns alltäglich, und dafür darf es von Frauen und Männern null Toleranz geben, meine Damen und Herren.
({1})
Dagegen müssen Frauen und Männer in diesem Parlament zusammenstehen.
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Das hat auch diese Debatte wie viele davor wieder gezeigt.
Meine Damen und Herren, Konstantin Kuhle hat gerade etwas freihändig Artikel 3 des Grundgesetzes zitiert. Das sei ihm unbenommen. Ich will aber darauf hinweisen, dass in Artikel 3 Absatz 2 steht, dass der Staat einen ganz klaren und eindeutigen Förderauftrag im Hinblick auf die Herstellung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hat. Das ist der Förderauftrag, meine Damen und Herren.
({3})
Es ist doch völlig klar, dass Frauen dies einfordern: in Wirtschaft, in Gesellschaft und selbstverständlich auch in Parlamenten, meine Damen und Herren. Das ist dringend notwendig.
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Deshalb richtet sich mein Appell auch noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen: Warum stimmen Sie unserem Antrag heute nicht zu? Sie waren es, die versucht haben, uns hier vorzuführen nach dem Motto „Es darf keine Wahlrechtsreform ohne Parität geben“. Sagen mir die SPD-Frauen einmal, wo wir heute stehen? – Nichts ist. Gestern haben Sie eine unmögliche Reform verabschiedet. Kein Wort von Parität! Und dann haben Sie in den Verbänden versucht, uns grüne und linke Frauen vorzuführen, nach dem Motto „Die meinen es nicht so ernst mit der Parität“. Dabei machen Sie jetzt eine Kommission als Verschiebebahnhof und Rolle rückwärts. Bis Juni 2023 darf die Kommission arbeiten, unter anderem zur Parität. Wenn sie der Diskontinuität anheimgefallen ist, dürfen wir sie in der nächsten Legislatur wieder neu einrichten, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin.
Das soll ein Ersatz für den Antrag heute sein? Nein, das ist es nicht, meine Damen und Herren.
({0})
Wir haben einen klaren, präzisen Auftrag mit einem kurzen Untersuchungszeitraum und mit externen Expertinnen. Ich fordere Sie auf, heute dafür zu stimmen, wenn Sie ein Interesse daran haben, dass sich der Bundestag diesem Thema widmet.
Danke.
({1})
Frau Kollegin Haßelmann, herzlichen Dank – nicht für die Überziehung der Zeit. Ich kam nicht dazwischen; Sie haben gar nicht mehr Luft geholt. – Es gab den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Deshalb erlaube ich eine Kurzintervention der Kollegin von Storch.
({0})
Sie freuen sich schon. Ich freu mich auch. – Bei der ganzen Debatte um die Erhöhung der Frauenquote, der Sie hier alle das Wort reden, insbesondere die Grünen, möchte ich daran erinnern, dass Sie ja auch darüber reden, dass das Transsexuellengesetz durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden soll. Jeder soll sein Geschlecht selber definieren können. Deswegen sei die Frage erlaubt: Wird dann die Frauenquote auch durch Männer erfüllt, die sich als Frauen selbst definieren? Ist es vielleicht ein Weg zur Erfüllung der Frauenquote von 50 Prozent,
({0})
wenn sich die Männer als Frauen definieren nach Ihrem Selbstbestimmungsgesetz? Ist das möglicherweise ein Weg aus dieser ach so großen Krise?
({1})
Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben jetzt zwei Minuten, um darauf zu reagieren.
Vielen Dank, Herr Präsident, die brauche ich nicht. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es noch eines Beweises für meine These gebraucht hätte, dass mit dem Einzug der AfD Antifeminismus, Sexismus, Homophobie, Diskriminierung
({0})
und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in dieses Haus Einzug gehalten haben, dann sehen Sie sich bitte den Beitrag von Frau von Storch an.
({1})
Ich erteile nunmehr der Kollegin Silvia Breher, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegen Ende der Debatte möchte ich zum Kern dieser Debatte zurückkommen. Worum geht es heute? Es geht um das gemeinsame Ziel, das fast alle in diesem Hause eint: Wir wünschen uns und setzen uns dafür ein, dass endlich mehr Frauen Platz haben im Deutschen Bundestag.
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Darüber haben wir im vergangenen Jahr intensiv debattiert. Wir haben eine Runde gehabt, die war einfach gut und wirklich erfolgreich. Warum sie erfolgreich war, das möchte ich gleich versuchen zu erklären. Auf jeden Fall verstehe ich überhaupt nicht, wie Sie sich hier heute hinstellen und sagen können, diese Runde sei nicht erfolgreich gewesen. Worüber wir heute debattieren und was wir heute erreichen, das schaffen wir nur, weil wir in diesem Jahr zusammengesessen haben und auch durch diese Debatte.
({1})
Aber worum geht es heute? Sie wollen mit Ihren Anträgen, die Sie hier aufrechterhalten, erreichen, dass eine Kommission eingesetzt wird, die einfach offen ist und Lösungen aufzeigt, wie wir am Ende zu mehr Frauen im Deutschen Bundestag kommen. Das wollen Sie mit Ihren heutigen Anträgen erreichen, und das wollten wir mit der Kommission erreichen.
Frau Haßelmann, Sie haben vorhin gefragt: Warum stimmen Sie nicht zu? – Wir stimmen heute nicht zu, weil wir diese Kommission schon eingesetzt haben. Gestern Abend im Plenum, im Rahmen der Debatte um das Wahlrecht, haben wir unter § 55 Bundeswahlgesetz eine Reformkommission eingesetzt. Diese Reformkommission soll „Maßnahmen empfehlen, um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Deutschen Bundestag zu erreichen“; das betrifft das Thema Direktkandidaten.
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Dafür soll es Vorschläge geben. Diese Kommission haben wir gestern Abend schon eingesetzt. Wir haben namentlich darüber abgestimmt. Ich kann ja verstehen, dass Sie Gründe hatten, der Änderung des Wahlrechtes nicht zuzustimmen, aber es hätte die Möglichkeit gegeben, in einer Erklärung zu sagen, dass diese Reformkommission richtig und an der Stelle korrekt ist.
(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sorry! So weit sind wir noch gar nicht gewesen!].
Im Detail möchte ich noch mal auf Ihre Kritik an der eingesetzten Reformkommission, die ja auch heute laut geworden ist, eingehen. Sie haben gesagt, das sei ein Verschiebebahnhof, das werde auf die lange Bank geschoben, diese Kommission sei ein Witz. Nein, das ist sie nicht. Die vorgeschlagenen Änderungen können zur Bundestagswahl 2025 gelten. Bis 2023 sind die Ergebnisse vorzulegen. Die Gespräche hierzu sind ergebnissoffen zu führen; Kollegin Magwas hat erklärt, welche Fragestellungen wir beantwortet haben wollen. Dann können wir die Ergebnisse in der nächsten Legislaturperiode umsetzen, zur Bundestagswahl 2025. Nichts anderes würden Sie erreichen, wenn Sie heute Ihre Kommission einrichten würden.
({3})
Das wird auch nicht nur mitgeregelt, das ist auch nicht nur ein kleiner Bestandteil der Reformkommission. In der Begründung zu § 55 steht, ein „Schwerpunkt der Kommissionsarbeit“ werde die Frage der Beteiligung von Frauen sein,
({4})
ein Schwerpunkt dieser Arbeit.
Diese Fragen werden wir im Rahmen der Reformkommission beantworten. Ich kann Sie nur alle auffordern, Ihr Licht und auch die Arbeit unserer Runde nicht unter den Scheffel zu stellen, sondern unsere Fragen, die wir gemeinsam aufgeworfen haben, die Frau Magwas dargestellt hat, in die Reformkommission einzubringen. Dort werden wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass wir Antworten auf diese Fragen bekommen und dann nach der Bundestagswahl 2025 – im Idealfall auch schon bei der nächsten Bundestagswahl, nämlich ganz freiwillig – mehr Frauen im Deutschen Bundestag sind.
Dafür setzen wir uns gemeinsam ein. Dafür sollte jeder seine eigenen Hausarbeiten machen – als Fraktion, als Partei und am Ende auch jeder in diesem Haus.
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Dafür stehe ich, dafür stehen viele Kollegen bei uns. Lassen Sie uns das also gemeinsam angehen. Es ist auf jeden Fall super, dass wir heute eine Debatte zu diesem Thema haben. Ich freue mich auf die weiteren Auseinandersetzungen in der Reformkommission.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Breher. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Josephine Ortleb, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Parität, die zahlenmäßige Gleichstellung von Frauen und Männern im Parlament, bewegt uns nun schon eine ganze Weile. Gerade uns demokratische Frauen eint fraktionsübergreifend das Ziel, die gleiche Repräsentanz der Geschlechter im Deutschen Bundestag zu erreichen. Ja, zwischenzeitlich waren wir optimistisch, dass uns das als Bündnis in dieser Legislaturperiode auch gelingt. Ein Ergebnis der damaligen Zusammenarbeit ist der heute vorliegende Gruppenantrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken, ein Gruppenantrag, mit dem eine Kommission eingerichtet werden soll, die sich ausschließlich mit Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils beschäftigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der letzten Debatte über diesen Antrag wurde, genau wie heute, von allen Fraktionen hinreichend dargelegt, warum eine Kommission, wie in diesem Antrag gefordert, nicht zustande kam oder kommt.
Die FDP ist gänzlich gegen die Einführung gesetzlicher Maßnahmen. Es scheint so, als ob sie in der Kinderbetreuung das Wundermittel für mehr Frauen im Bundestag sieht. Auch wenn das Verhalten in der heutigen Debatte teilweise wirklich an einen Kindergarten erinnert, ist doch vollkommen klar: Kinderbetreuung entscheidet am Ende nicht darüber, wie viele Frauen im Bundestag sitzen.
({0})
Das sind Fragen, über die wir reden müssen, keine Frage; aber es sind die Strukturen im politischen Betrieb und in der Gesellschaft insgesamt, an die wir ranmüssen. Da tut die Union sich schwer. Es fehlt ja nicht nur im Parlament an weiblichen Perspektiven. Schauen Sie sich zum Beispiel auch die Vorstände in deutschen Unternehmen an. Hier sinkt der Frauenanteil in der Krise sogar gerade noch. Wir haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Auch diesen blockiert die Union seit Monaten. Das zeigt uns: Strukturelle Probleme zu ignorieren, ist scheinbar eine konservative Spezialität. Das können wir Frauen, gerade wir Frauen meiner Generation uns nicht mehr leisten. Wir wollen mehr Teilhabe statt ständiger Blockade.
({1})
Umso mehr bedanke ich mich bei meiner Partei und der Fraktionsspitze, dass sie in den zähen Verhandlungen mit der Union um das Wahlrecht für Parität gekämpft haben. Die Position der SPD-Bundestagsfraktion war und ist dabei klar: Wir stehen für gesetzliche Maßnahmen zur Erreichung von Parität. Wir stehen für ein Wahlrecht mit Parität. Parität wird in den kommenden Jahren ein zentrales Thema bleiben, wenn es um die Ausgestaltung eines nachhaltigen, gerechten und modernen Wahlrechts geht.
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Parität wird in der Reformkommission auf Augenhöhe mit anderen Aspekten wie der Größe des Bundestages und dem Wahlalter verhandelt. Für uns ist das Thema Parität kein Nebenschauplatz, das irgendwo außerhalb des Wahlrechts verhandelt wird. Nein, für uns gehört die Parität auf die Hauptbühne und muss Teil eines zukunftsfesten Wahlrechts sein. Dafür muss man sich neben den Landeslisten natürlich auch die Direktmandate anschauen.
An unsere Reformkommission werden also zu Recht hohe Erwartungen gestellt, von uns Frauen hier im Parlament, aber auch von den Frauen außerhalb dieses Hauses. Das macht auch der Deutsche Frauenrat seit Jahren deutlich. Frauen erwarten zu Recht, dass sie über 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts auch endlich die gleiche Teilhabe an politische Entscheidungen bekommen. Dafür müssen wir gemeinsam streiten.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ortleb. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte rufe ich die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion, auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über Parität ist aufgrund der Coronapandemie ebenso wie die Diskussion über viele andere Themen zeitweise verstummt. Die Wichtigkeit und die Dringlichkeit dieses Themas sind aber geblieben. Mehr Frauen im Deutschen Bundestag, das ist auch für uns als Unionsfraktion ein wichtiges Anliegen. Deshalb hat der Koalitionsausschuss schon vor rund sechs Wochen die Reformkommission auf den Weg gebracht. Wir haben die Einsetzung gestern gesetzlich beschlossen. Dies zeigt die Handlungsfähigkeit der Koalition auch bei diesem Thema. Das ist ein enorm wichtiger Schritt, meine Damen und Herren.
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Auch wir Frauen in der Unionsfraktion haben die Einsetzung der Kommission gefordert. Wir haben uns in der interfraktionellen Frauengruppe sehr konstruktiv eingebracht und haben entscheidende Impulse gesetzt. – Ich sehe das Nicken. Jetzt setzen wir um. Wir haben diese Reformkommission, und sie befasst sich mit vielen wichtigen Fragen des Wahlrechts. Am wichtigsten ist mir natürlich der Auftrag an die Kommission, verfassungsmäßige Maßnahmen zu empfehlen, um eine Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Bundestag zu erreichen. Das ist ein ganz wichtiger Auftrag, für mich der wichtigste.
Aber auch die anderen Themen sind wichtig. Corona hat uns vor Augen geführt, wie wichtig die Modernisierung unserer Arbeit auch hier im Bundestag ist. Das gesamte Parlament und jeder Einzelne haben gemerkt, dass wir uns in ganz hoher Geschwindigkeit auf diese neue Situation einstellen mussten, dass wir uns anpassen mussten, um arbeitsfähig zu bleiben. Das ist uns ganz gut gelungen; aber es sind immer noch ganz viele Fragen offen, zum Beispiel, wie wir die Digitalisierung hier mit Leben erfüllen, wenn die Pandemie wieder stärker zuschlägt. Auch als Klimapolitikerin und mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es mir ganz wichtig, dass wir dieses Thema in der Kommission intensiv angehen.
({1})
Auch das Thema „Dauer der Legislaturperiode“ müssen wir angehen. Ich komme aus dem Europäischen Parlament, war dort neun Jahre lang tätig. Dort wird alle fünf Jahre gewählt. Das ist meiner Meinung nach auch sinnvoll.
({2})
Am Anfang der Legislaturperiode sind wir sehr lange mit Koalitionsverhandlungen befasst, und am Ende geht es schon wieder auf die Wahlen zu. Ich finde es wichtig, dass wir auch unsere Wahlperiode, unsere Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängern. Auch das ist eben ein wichtiger Auftrag dieser Reformkommission.
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Das Wahlrecht ab 16 Jahren hat der Koalitionspartner auf die Tagesordnung gesetzt. Die Kommission hat einen umfassenden Auftrag. Es ist dann auch gut, dass wir nicht fünf Einzelkommissionen haben, sondern dass wir alle Themen, die das Wahlrecht betreffen, zusammen in dieser Kommission behandeln. Wenn man dann die Themen sieht, dann muss man sagen: In einem Jahr oder in einem Dreivierteljahr wäre es ganz schwierig gewesen, diese Themen alle umfassend zu behandeln.
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Deswegen müssen wir die nächsten drei Jahre intensiv nutzen, um bei dem Thema, das uns als Frauen ganz besonders wichtig ist, wirklich konkrete Maßnahmenempfehlungen zu erarbeiten. Wir werden daran intensiv mitarbeiten, meine Damen und Herren.
Ich möchte mit einer Anekdote schließen: Meine Kinder – sie sind sieben und neun Jahre alt – haben mich kürzlich gefragt, ob eigentlich auch ein Mann Bundeskanzler werden kann. Daran sieht man: Die Frauen stehen ihren Mann oder ihre Frau, und sie gehen ihren Weg. Wir haben bezüglich der Gleichberechtigung von Frauen insgesamt viel erreicht. Aber wir brauchen nicht zu diskutieren: Ein Frauenanteil im Bundestag von rund 30 Prozent ist einfach zu gering. Das ist kein Spiegelbild des Volkes, und da muss sich etwas ändern, meine Damen und Herren.
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Deswegen sage ich: Wir müssen an vielen Fronten daran arbeiten. Wir müssen auch in der Partei daran arbeiten. Da möchte ich auch noch einmal erwähnen, dass wir als CSU schon seit Langem in den Bezirksvorständen und im Parteivorstand eine Quote haben und dass wir ein Mentoring-Programm haben, das seit langen Jahren wirkt. Ich habe gerade mit dem Kollegen Paul Lehrieder darüber gesprochen: In Unterfranken macht uns keiner etwas vor. Von fünf Bundestagsabgeordneten sind drei Frauen, meine Damen und Herren.
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Abschließend: Lasst uns doch jetzt nicht über die Dauer der Arbeit der Kommission und über die Themen streiten, sondern lasst uns einfach gemeinsam – Frauen und Männer, parteiübergreifend – daran arbeiten, dass wir beim Thema der Gleichberechtigung und gleichen Repräsentanz von Frauen und Männern im Bundestag gemeinsam weiterkommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Weisgerber. – Ich schließe damit die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von Ende 2014 bis Mitte letzten Jahres hatten wir eine Nettozuwanderung nach Deutschland von circa 3 Millionen Menschen auf einen Ausländeranteil von 11,1 Millionen. Der Bund hat auf eine Große Anfrage der Fraktion der Alternative für Deutschland nach zwei Fristverlängerungen und acht Monaten Antwortzeit Flüchtlings- und Integrationskosten – bemerken Sie diese Verknüpfung: Flüchtlings- und Integrationskosten; dazu kommen wir später – von 23,1 Milliarden Euro pro Jahr eingeräumt.
Das Bundesministerium der Finanzen hat gegenüber dem Bundesrechnungshof allerdings erklärt, dass diese Zahlen nur eingeschränkt belastbar seien. Auf Kosten in Ländern, Kommunen und der Sozialversicherung ist die Bundesregierung gar nicht eingegangen. Sie hat sich darauf zurückgezogen, zu sagen, das Fragerecht des Parlamentes sei überschritten. Ich sage Ihnen: Das ist falsch. Eine Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Finanzierungsverantwortung reicht aus, um hierauf zu antworten. Die Bundesregierung muss außerdem alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Informationsbeschaffung ausschöpfen. Das hat sie unserer Meinung nach nicht getan.
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Eine andere Herangehensweise: Das Institut der deutschen Wirtschaft und der Sachverständigenrat 2017 gehen von jährlichen Migrationskosten von 50 Milliarden Euro pro Jahr aus,
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das Kieler Institut für Wirtschaftsforschung sogar von 55 Milliarden Euro. Der Bundesminister Müller sagt, dass monatlich 2 500 Euro pro Schutzsuchendem hier in Deutschland anfallen. Das entspricht der Steuerbelastung von zwölf Durchschnittsverdienern bei 3 000 Euro brutto monatlich und Steuerklasse III. Unbegleitete jugendliche Migranten kosten uns 60 000 Euro, was 24 Durchschnittsverdienern entspricht. Der Tragfähigkeitsbericht 2020 der Bundesrepublik geht von einer No-Change-Policy bis 2060 aus. Das heißt: Die rechtswidrige Politik der offenen Grenzen soll beibehalten werden.
Vergleichen wir einmal: Das Vorzeigeprojekt DigitalPakt, über das wir lange gerungen haben, soll 1,1 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Im Gegenzug haben wir derzeit 270 000 unmittelbar Ausreisepflichtige ohne Schutzgrund in Deutschland, die Kosten von 8,1 Milliarden Euro pro Jahr verursachen. Da stimmen die Relationen nicht. Auf der einen Seite wollen wir unsere Kinder und die Digitalisierung fördern, auf der anderen Seite alimentieren wir hier Menschen, die längst ausreisepflichtig sind.
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Immer mehr Altdeutsche buckeln für immer mehr Neudeutsche. Auf der einen Seite Kinder- und Altersarmut, auf der anderen Seite kinderreiche alimentierte Großfamilien. Liebe Bundesregierung, Sie sollten sich schämen!
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Einige Fakten aus unserer Großen Anfrage: 78 000 Ausländer haben keine Angaben zu ihrer Herkunft gemacht. 80 000 Duldungen sind wegen fehlender Reisedokumente ausgesprochen. Per Stichtag 30. Juni letzten Jahres waren 400 000 Asylverfahren noch in der Bearbeitung und nur 94 000 mit einer Laufzeit unter einem Jahr. Von circa 95 Prozent der 11 Millionen Ausländer in Deutschland haben wir keine Angaben zu ihrer Schulbildung. Die Mär von den Facharbeitern dürfte damit widerlegt sein.
Noch ein kleines Schmankerl am Rande: Von 12 400 Migranten haben wir noch nicht einmal die Angabe eines Geschlechtes. Wo wir doch ein drittes Geschlecht haben und sich jeder sein Geschlecht aussuchen kann, ist das völlige Fehlen dieser Angabe ja wohl ein Witz.
Der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen sagt, jeder Flüchtling kostet uns in seiner Lebzeit 450 000 Euro.
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Bei nur 2 Millionen Zuwanderern belaufen sich diese Kosten auf nahezu 1 Billion Euro. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss nach drei bis fünf Jahren von Amts wegen prüfen, ob ein Schutzgrund noch besteht und gegebenenfalls den Status entziehen. Passiert das? In dieser Bananenrepublik offensichtlich nicht!
Die Alternative für Deutschland will Menschen, die Schutz brauchen, die an Leib und Leben gefährdet sind, temporär Schutz gewähren. Aber sie will sie nicht integrieren. Jeder Mensch, auch ein Migrant, hat ein Recht auf Heimat und darauf, in seiner Heimat zu leben. Wir wollen die Menschen, die keinen Schutzgrund mehr in Deutschland haben, nach Hause schicken.
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Die Alternative für Deutschland fordert ein konsequentes Anwenden geltenden Rechts. Ein Sozialstaat und offene Grenzen passen irgendwie nicht zusammen. Wir wollen zurück zu Dublin III. Wir fordern ferner eine jährliche Berichtspflicht betreffend direkte und indirekte Kosten der Migrationspolitik, Länder und Kommunen sowie unsere Sozialversicherung eingeschlossen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Keuter. – Nächste Rednerin ist Frau Staatsministerin Annette Widmann-Mauz für die Bundesregierung.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aufnahme der Geflüchteten im Herbst 2015 war eine humanitäre Notlage von historischem Ausmaß, und die Zahlen der anerkannt Schutzberechtigten zeigen, dass sie richtig war.
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Und sie war und sie ist eine enorme Kraftanstrengung.
({1})
Beim Ankommen und der Integration haben Millionen Haupt- und Ehrenamtliche vor Ort in unserem Land Herausragendes geleistet.
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Damals wie heute verdienen sie den Dank und die Anerkennung aller Demokratinnen und Demokraten auch aus diesem Hause.
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Ja, in Ost und West, in Städten und im ländlichen Raum zeigt sich: Integration ist kein Selbstläufer. Sie kostet Kraft, und wir müssen investieren, damit sie gelingt. Und genau das tun wir: zielgerichtet, nachhaltig und mit Umsicht. Auch das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage. Zwei Aspekte sind mir dabei besonders wichtig:
Erstens. Die Bundesregierung hat mit Nachdruck für schnellere Asylverfahren und mehr Ordnung und Steuerung bei der Migration gesorgt.
Zweitens. Wir setzen auf die Integration von Schutzbedürftigen von Anfang an. Das heißt Deutschlernen und Wertevermittlung in den Integrationskursen, eine Ausbildung starten, einen Arbeitsplatz finden, damit Geflüchtete so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen und ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können. Das ist das Ziel von Integration, und das stärkt den Zusammenhalt.
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Ja, Integration gelingt nicht von heute auf morgen. Dazu braucht es im Übrigen Ausdauer. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Seit 2015 haben über 1,2 Millionen Menschen am Integrationskurs teilgenommen. Die Hälfte der Geflüchteten seit 2013 ist erwerbstätig, etliche sind in Ausbildung. Das geht schneller als erwartet. Viele arbeiten davon im Gesundheitswesen, in der Altenpflege, im Handel, im Transport. Auch sie halten im Übrigen während der Coronakrise unser Land mit am Laufen.
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Und wenn ich „Integration von Anfang an“ sage, dann meine ich auch 130 000 junge Geflüchtete, die in unseren Schulen lernen. Die ersten machen gerade erfolgreich ihre Abschlüsse. Auch das ist das Verdienst der vielen, Lehrerinnen und Lehrer, der Pädagogen und der Erzieher, die vor Ort unverzichtbare Arbeit leisten.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser“ für die AfD. Das waren die verächtlichen Worte Ihres Fraktionssprechers. Er entlarvt damit Ihr Weltbild und Ihre politischen Ziele.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen René Springer?
Nein. – Und diese Worte offenbaren jedem glasklar, welche Bedeutung das Land und die Menschen für Sie und Ihre Partei haben, nämlich keine, rein gar keine!
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Die Bundesregierung dagegen arbeitet jeden Tag daran, dass es den Menschen in unserem Land gut geht – während Corona mit dem größten Konjunkturpaket aller Zeiten, das die Ausbildung von Jugendlichen und die Existenz der Betriebe sichert, das Familien und Beschäftigte unterstützt. Ja, meine Damen und Herren, das ist Heimatliebe. Das ist patriotische Verantwortung für unser Land. Und wir arbeiten weiter daran, dass Integration gelingt und Migration auf humane Weise geordnet und gesteuert wird: mit schnellen Asylverfahren, konsequenteren Rückführungen und für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das diesen Namen verdient.
Ja, wir setzen Ihrem von Verachtung getragenen Deutschlandbild entgegen, was Deutschland im Jahr 2020 ist: ein Land der Vielfalt, ein Land der Chancen – ein Land, das jede und jeden Einzelnen bestärkt und fordert, die eigenen Fähigkeiten zu entfalten und in unsere Gesellschaft einzubringen. Das ist Einheit in Vielfalt. Das ist gut für Deutschland, gut für die Integration, und es ist jede Investition wert.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Die AfD-Fraktion hat für den Kollegen René Springer eine Kurzintervention beantragt, die ich zulasse. Herr Kollege Springer, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Frau Staatsministerin, es ist schade, dass Sie nicht die Souveränität haben, mit Ihrer Verantwortung hier auf eine Zwischenfrage zu reagieren.
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Deswegen nutze ich die Möglichkeit einer Kurzintervention, und zwar zu folgendem Sachverhalt: Wir reden, wenn wir über Kosten der Migration und auch über Migration insgesamt reden – Sie kennen unsere kritische Position dazu –, immer über das Jahr 2015. Aber das Scheitern der Migrationspolitik hat ja schon viel früher eingesetzt. Wir haben heute 1 Million Menschen, die seit zehn Jahren Hartz IV beziehen, davon sind 200 000 Ausländer. In § 5 des Aufenthaltsgesetzes heißt es, dass der Aufenthalt gewährt wird, wenn der Lebensunterhalt gesichert werden kann. Offenbar ist es diesen Menschen ja nicht gelungen, den Lebensunterhalt zu sichern. Und ich denke, dass die Menschen, die jetzt hier zuschauen, gerne von Ihnen wissen wollen, warum es möglich ist, dass Ausländer über zehn Jahre durchgängig Hartz IV beziehen können.
Vielen Dank.
({1})
Frau Staatsministerin, Sie haben Gelegenheit, zu antworten.
Herr Kollege, im Unterschied zu Ihnen anerkennt die Bundesregierung, dass es individuelle Lebenssituationen gibt wie zum Beispiel Krankheit
({0})
und Behinderung, die es nicht jedem Menschen möglich machen, das eigene Erwerbseinkommen zu sichern. Umgekehrt zeigt aber genau das Beispiel sehr deutlich, wie wichtig es ist, dass wir vom ersten Tag an in Integration investieren.
({1})
Je besser wir das machen, desto besser ist es für unser ganzes Land und für die Sozialsysteme. Genau das sagt die Antwort auf Ihre Große Anfrage, und genau das habe ich in meiner Rede ausgeführt.
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Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christoph Meyer, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir konnten als Haushaltspolitiker bereits früher über den Antrag der AfD sprechen. Er ist leider durch die Debatten nicht besser geworden. Es ist schon bezeichnend, dass sich bei Ihnen kein Haushaltspolitiker in dieser Debatte meldet.
({0})
Das zeigt, wessen Kind dieser Antrag ist. Als Haushaltspolitiker habe ich nichts gegen Transparenz von Mittelverwendung. Aber darum geht es Ihnen doch gar nicht. Liest man Ihre krude Auflistung, was Sie alles hier in die Kosten eingerechnet haben wollen und was am Ende beim Berliner Mietendeckel endet, dann wird es vollkommen klar, dass es Ihnen hier nur darum geht, in Buchstaben gegossene Hetze zu betreiben, Menschen zu verunglimpfen und eine Rechtfertigung für Ihre immer gleiche Mühle – die Situation 2014/2015 – hier in den parlamentarischen Betrieb einzubringen.
({1})
Worum geht es Ihnen? Sie wollen Menschen ein Preisschild umhängen.
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Diese Menschen nennen Sie „Ausländer“ oder „Migranten“. Am Ende geht es immer um dasselbe, auch in Ihrer Rede. Wenn ich Ihren Antrag – ich habe mir die Mühe gemacht, ihn zu lesen – richtig verstehe, dann geht es Ihnen darin gar nicht um die Zusammenstellung der Kosten in den Jahren 2015, 2016, sondern darum, dass Sie ab jetzt einen jährlichen Migrationsbericht haben wollen. Aber in Ihren Reden, in Ihren Beiträgen kommen Sie wieder genau zu den Jahren 2014, 2015, 2016 zurück. Das entlarvt genau Ihre Motivation für diesen Antrag.
({3})
In der Flüchtlingskrise 2015, 2016 wurden politische Fehler gemacht,
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und diese haben auch wir als FDP deutlich artikuliert.
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Aber am Ende werden wir es niemals zulassen, dass Sie auf Kosten, auf dem Rücken der Menschen hier Ihre Polemik weiterverbreiten.
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Ein rechtsstaatliches Verfahren, Humanität kostet Geld. Wir als FDP sind stolz – und ich glaube, das gilt für alle anderen Fraktionen hier im Haus –,
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dass man dieses Geld auch bereit ist aufzubringen.
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Daher entlarven Sie sich mit Ihrem Antrag einmal mehr selbst. Der Grund für Ihr gesamtes politisches Dasein sind die Jahre 2015 und 2016; sie sind immer wieder Ausgangspunkt Ihrer Argumentation. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, und deswegen werden wir diesen Antrag natürlich ablehnen.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Meyer. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verneigen uns ein Jahr nach dem Anschlag von Halle vor den Ermordeten, vor den Verletzten, vor dem Inhaber des Dönerimbisses und vor der Jüdischen Gemeinde von Halle. Wir tun dies an diesem Tag genau ein Jahr nach dem antisemitischen, rassistischen Mordanschlag.
({0})
Der Inhaber dieses Ladens sagte – das sollten Sie sich genau anhören –, mit seiner Hautfarbe und mit seiner Haarfarbe werde er halt immer Ausländer sein. Die Jüdische Studierendenunion hat zusammen mit der Jüdischen Gemeinde Halle jetzt dafür gesorgt, dass dieser Mann seinen Laden retten, erhalten und weiter betreiben kann. Die Jüdische Gemeinde in Halle finanziert diesen Mann. Sie aber rechnen diesem Mann und Geflüchteten seinen Wert in Form von Kosten vor. Das sagt, glaube ich, alles über die heutige Debatte.
({1})
Es sagt alles über die menschliche und die moralische Größe der Jüdischen Studierendenunion und der Jüdischen Gemeinde Halle, und es sagt alles über die moralische und menschliche Mickrigkeit der gesamten AfD-Fraktion in diesem Haus.
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Diese Mickrigkeit äußert sich in ebendieser Großen Anfrage und in dem Antrag. Nachdem Sie gesehen haben, dass die Nutznießerei von Coronaprotesten nicht wirklich läuft, nachdem Sie gesehen haben, dass das Instrumentalisieren der Klimaschutzdebatte auch nicht funktioniert, muss natürlich wieder die Frage der Migrationskosten auf den Tisch kommen.
({3})
Und genau das machen Sie.
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Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Ich erlaube sehr gerne eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion, weil ich die AfD-Fraktion so zur Verlängerung meiner Redezeit instrumentalisiere. Also: Gerne.
({0})
Herr Lindh, ganz herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Auch ich nutze das, um meine Redezeit zu verlängern; da haben wir etwas gemeinsam.
Ich möchte Sie einfach fragen, ob Sie sich unsere Große Anfrage durchgelesen haben. Die AfD verfügt über hervorragende Leute,
({0})
die früher beim Bundesrechnungshof gearbeitet haben, die Bankdirektoren waren. Wir haben uns sehr viel Mühe gemacht, die Kameralistik einfach einmal zu hinterfragen, und haben überhaupt keine klare Buchhaltung festgestellt.
({1})
Ich hatte es in meiner Rede eben erwähnt, dass hier alles – Migrationskosten, Integrationskosten – in eine Kiste geworfen und vermengt wird.
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Die Frage ist – erstens –: Haben Sie sich unsere Große Anfrage überhaupt durchgelesen? Zweitens: Haben Sie sie verstanden? Und drittens: Ist Ihnen bewusst – Sie haben gesagt, wir würden jetzt merken, dass Corona nicht mehr zieht –, dass wir diese Anfrage bereits Mitte letzten Jahres gestellt haben, und haben Sie sich die Antwortzeiten daraufhin angesehen? Die Bundesregierung hat zweimal um Fristverlängerung für die Beantwortung gebeten und hat über acht Monate für die Antwort gebraucht. Dann dürfen wir auch ein paar Wochen nutzen, um diese Hunderte von Seiten zu analysieren, auszuwerten und vor allen Dingen zu sehen, welche Zahlen da wo versteckt worden sind.
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Herr Keuter, ich habe nicht nur das getan, ich war sogar im Wahlkreis bei einem Abgeordneten von Ihnen und habe es mir angetan, einen ganzen Tag lang mit AfD-Anhängern zu diskutieren.
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Ich habe mich über Sie informiert, und es gibt einen sehr interessanten Prozess, den Sie vor dem Wuppertaler Landgericht über Nazibilder geführt haben, die in Ihrem Büro verschickt werden. Das sollten sich alle ansehen; das ist sehr interessant. Ich habe mir auch Ihre Pressekonferenz angehört, in der Sie, Herr Keuter, dieselben Sätze, die Sie eben hier vorne und in Ihrer Zwischenfrage vorgetragen haben, schon einmal vorgetragen haben, inklusive der sehr erleuchtenden Einführung über die Qualität Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir aber an Ihren Anträgen bisher noch nie haben feststellen können; die ist sehr verborgen geblieben.
({1})
Insofern bin ich hinreichend informiert über die Qualität oder Minderqualität Ihrer Recherchearbeit und danke der Bundesregierung ausdrücklich, dass sie sich diese Marter über acht Monate angetan hat. Ich hätte ihr lieber unendlich viel Zeit gegönnt, um Ihre Frage mit sachlichem Interesse, mit Kenntnis der Verfassung zu beantworten. Föderalismus existiert für Sie ja nicht: Sie stellen der Bundesregierung Fragen zu Themen, die in der Zuständigkeit von Kommunen und Ländern liegen. All das hat sich die Bundesregierung in ihrer Großzügigkeit aber angetan und Ihnen entsprechende Antworten geliefert.
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Daher bin ich, glaube ich, besser über Sie informiert, als Sie es selbst sind.
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Ich hoffe, ich habe Ihre Frage damit umfassend beantwortet.
Ich bin eben auch bestens informiert – Sie wahrscheinlich nicht – über die Strategie, die ich eben beschrieben habe. Das Traurige an dieser Strategie, an der Thematisierung der Migrationskosten, ist, dass das ein schleichendes Gift ist, das Sie bewusst einsetzen, das uns aber manchmal unbewusst ansteckt. Das merkt man an solchen Details – Sie können es sich alle ansehen –, dass die Debatte heute, wenn man die entsprechende Seite über bundestag.de aufruft, mit einem etwas merkwürdigen Bild gekennzeichnet ist. Da sieht man von hinten einen Mann in einem langen Kostüm, einem Kaftan, mit einer weißen Mütze. Ich glaube, das ist nicht – diesen Hinweis gestatte ich mir – repräsentativ für die Fragen von Flucht und Migration in Deutschland.
({4})
Das zeigt aber leider, dass wir alle nicht immun sind gegen diese Bilder, die Sie massiv säen. Aber wir dürfen uns an diese Strategie eben nicht gewöhnen.
Sie nannten – eigentlich ist das noch Beantwortung Ihrer Frage; ich habe nämlich sehr gut zugehört –
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diese Große Anfrage auf Ihrer Pressekonferenz ein „Dokument der Zeitgeschichte“. Ich musste kurz innehalten, ich bin fast atemlos geworden in diesem Moment ob dieser Formulierung „Dokument der Zeitgeschichte“.
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Und dann rechnen Sie vor, dass 12 Durchschnittsverdiener einen Schutzbedürftigen finanzieren und 24 Durchschnittsverdiener einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling. Ich frage mich: Wie viele Durchschnittsverdiener finanzieren einen sehr gut diätierten AfD-Abgeordneten im Bundestag? Diese Rechnung möchte ich gerne einmal haben.
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Da Sie das Ganze offiziell als Kritik an der Politik, als Kritik an der Migrationspolitik deklarieren, wünsche ich mir, dass die Kosten Ihrer Migrationspolitik einmal entsprechend aufgeschlüsselt werden: die Kosten, die Rassismus in diesem Land verursacht,
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die Kosten, die Prävention verursacht, die Kosten zusätzlicher Stellen bei Sicherheitsbehörden, etwa beim Verfassungsschutz, die Kosten der Traumabehandlung von Opfern von Rassismus und Beschimpfung durch Ihre Anhänger – all die Kosten, die in diesem Land durch den Ungeist, den Sie verbreiten, verursacht werden. Eine solche Große Anfrage würde ich gerne einmal gestellt haben. Ich glaube, die Bilanz wäre im Vergleich zu Ihrer ganz eindeutig.
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Ich will mich aber an dieser Stelle nicht auf die Primärkosten Ihrer Migrationspolitik beschränken, sondern ich möchte auch über die Sekundärkosten – ich nenne das einmal so – sprechen. Da will ich auch persönlich werden – auch wenn man das nicht macht, tue ich es trotzdem. Mich erreichen dieser Tage zahllose widerliche Schreiben und auch Morddrohungen und Beschimpfungen von Menschen, die sich ermutigt fühlen durch die Politik, die Sie seit 2017 hier im Bundestag betreiben. Dort wird unter anderem – ich zitiere – zu einem Wettbewerb um meine Abschlachtung aufgerufen. Es wird ein großer Aufruf zu meiner Vernichtung verkündet. Es heißt dort, man wolle meinen Hals mit einer Schrotflinte lüften, sodass man dann mein Gehirn an der Wand verteilen und mein Herz rausreißen könne.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Solche Formulierungen oder der Hinweis – ganz frisch von dieser Woche –, dass man mir 17 Freunde schicken würde – mit „17 Freunden“ sind „17 Patronen“ gemeint –, die – ich zitiere – nicht alle mich direkt treffen würden, aber Hauptsache, man sei dabei, all dieses ist nicht aus dem Nichts gekommen, sondern es erwächst aus einem Klima, zu dem Sie wesentlich beigetragen haben.
({10})
Und deshalb sage ich hier auch, weil Schweigen keine Option ist: Wenn irgendwann eine Schrotflinte meinen Hals lüftet, wenn mein Gehirn an irgendwelchen Wänden klebt, wenn mein Herz rausgerissen wird, dann sind Sie politisch dafür mitverantwortlich, dann hatten Sie politisch den Finger mit am Abzug.
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Und das ist das Thema, über das wir hier reden müssen. Es geht nicht allein darum, ob man mehr oder weniger restriktive Positionen hat. Es geht um Grundfragen des Anstandes.
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Und Sie hätten die Entscheidung gehabt.
Wenn Sie anständige Deutsche wären, Herr Gauland, dann würden Sie solche Anfragen nicht stellen, dann würden Sie zig Mitglieder aus Ihrer Fraktion ausschließen. Aber anscheinend halten Sie es mit anderen Deutschen aus der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte, die von sich behaupteten, sie seien anständig geblieben. Nein, die AfD-Fraktion ist hier nie anständig geblieben. Und solange ich hier stehe und solange ich lebe, werde ich gemeinsam mit allen Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus gegen diesen Ungeist der Instrumentalisierung des Flüchtlingsthemas ankämpfen.
Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind ja jetzt mitten in den Haushaltsberatungen, und da erreichen mich viele Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Sie wollen zum Beispiel wissen, ob wir uns über 50 Milliarden Euro im Jahr für Aufrüstung der Bundeswehr leisten können. Und ich antworte: Nein, das können wir nicht.
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Wir brauchen nämlich das Geld, um Wohnungen, Kitas, Schulen und Hochschulen zu bauen. Wie soll ich denn einer Armutsrentnerin erklären, dass die Bundesregierung am Tag 137 Millionen Euro für die Vorbereitung und Durchführung von Kriegen ausgibt? Das kann ich als Humanistin nicht erklären; das kann ich nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
({1})
Natürlich wird auch uns die Frage gestellt, ob wir uns die Aufnahme von geflüchteten Menschen leisten können. Die Frage ist völlig legitim. Aber ich kann sie ohne Zögern mit Ja beantworten. Jeder, der ein humanistisches Wertesystem hat, muss Menschen in Not helfen.
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Aber natürlich kann man die Frage auch rein ökonomisch betrachten, und auch dann kann man diese Frage nur positiv beantworten.
Zu Ihrer Rede, Frau Staatsministerin, muss ich sagen: Die Bundesregierung muss sich etwas ehrlicher machen. Sie beziehen sich ja in der schriftlichen Antwort auf die Große Anfrage dieser Partei auf der rechten Seite auch auf die Antwort auf eine Anfrage der FDP. In der Antwort auf die Anfrage der FDP werden zum Beispiel die Ausgaben für Kriegseinsätze der Bundeswehr und Waffenexporte zu den flüchtlingsbezogenen Ausgaben gezählt. Ich sage Ihnen: Das ist doch eine Umkehrung von Ursache und Wirkung.
({3})
Waffenexporte und Kriegseinsätze sind wesentliche Ursachen von Krieg und Vertreibung.
Wer also die Kosten drastisch senken will, der muss im Bundestag gegen jegliche Rüstungsexporte und alle Kriegseinsätze der Bundeswehr stimmen. Und wer nach den Kosten fragt, der muss auch nach dem Nutzen fragen. Aber zuallererst fordere ich Sie auf: Stimmen Sie alle gegen Rüstungsexporte, gegen Kriegseinsätze! Das wäre der richtige Weg.
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Es wurde aber die Frage des Nutzens gestellt. Wir orientieren uns häufig an wichtigen Institutionen in unserem Land. Das Statistische Bundesamt sagt uns: Wir brauchen pro Jahr 400 000 Menschen, die zu uns einwandern, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten. – Ich finde, wir sollten nie vergessen, welche Leistungen Menschen, die hier nicht geboren sind, die zugewandert sind, die hierher geflüchtet sind, für unsere Gesellschaft erbringen. Wir sollten sie hoch achten, meine Damen und Herren.
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Ich komme zu ganz konkreten Zahlen. Schauen wir uns zum Beispiel die gesetzliche Krankenversicherung an: Zuwanderer zahlen jährlich Beiträge in Höhe von 17 Milliarden Euro. Dem stehen lediglich Kosten in Höhe von 8 bis 9 Milliarden Euro gegenüber. Im Ergebnis sorgen diese Menschen also für eine jährliche Entlastung des gesetzlichen Gesundheitssystems.
({6})
Meine Damen und Herren, wir Linke sagen ganz deutlich: Wir wollen Menschen in Not helfen, egal ob sie schon immer hier leben oder zu uns geflüchtet sind. Das ist gelebter Humanismus, und den erwarte ich auch von Parteien, die ein C im Namen haben, meine Damen und Herren.
({7})
Die Kollegin Filiz Polat hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir vom Schutz von Geflüchteten sprechen, geht es nicht darum, was wir bereit sind zu zahlen. Es geht schlicht um das Recht, Rechte zu haben. Es geht um das international verankerte Recht, in einem Land Schutz zu suchen. Meine Damen und Herren, dieses Recht beruht auf den Lehren aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah, denen wir uns uneingeschränkt verpflichtet fühlen.
({0})
An dieser Stelle lege ich der rechten Seite des Hauses die dritte Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus ans Herz.
({1})
Denn er mahnt zu einer Abkehr von Egoismus und richtet sich an alle Menschen guten Willens, fordert dazu auf, Herr Gauland, andere Menschen unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit anzuerkennen,
wertzuschätzen
({2})
– das gilt auch für Evangelen –
({3})
und – ja! – zu lieben. Versuchen Sie es!
({4})
Es ist wirklich nicht schwer, meine Damen und Herren.
({5})
Ich möchte aus der Enzyklika zitieren, Frau von Storch:
Wenn das Herz eine solche Haltung annimmt, ist es fähig, sich mit dem anderen zu identifizieren, ohne darauf zu achten, wo einer geboren ist oder wo er herkommt. Wenn einer in diese Dynamik eintritt, macht er letztendlich die Erfahrung, dass die anderen „von demselben Fleisch“ … sind.
Meine Damen und Herren, die humanitäre Zuwanderung, die Aufnahme von Geflüchteten war in der Vergangenheit und ist bis heute stets eine Win‑win-Situation. Einmal mehr wurde sichtbar, wie solidarisch und engagiert unsere Bürger und Bürgerinnen die Aufnahme von Geflüchteten unterstützten und nach wie vor unterstützen; das hat die Staatsministerin sehr richtig gesagt.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein, ich möchte deren Redezeit zumindest nicht verlängern.
({0})
Nachbarschaften und lokale Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam zu helfen. Meine Damen und Herren an der Seite rechts von mir, diese Menschen leisten tausendfach mehr für Deutschland, als Sie es jemals tun werden.
({1})
Und Investitionen in die Zukunft, in den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, in unsere Bildungseinrichtungen und in Menschen egal welcher Herkunft sind nun mal Zukunftsinvestitionen für unser Land und für uns alle.
({2})
Deshalb möchte ich mit einem Auszug aus der Enzyklika schließen:
Die Tätigkeit der politischen Liebe
… Während jemand einem älteren Menschen hilft, einen Fluss zu überqueren – und das ist wahre Liebe –, so erbaut der Politiker ihm eine Brücke, und auch dies ist Liebe. Während jemand einem anderen hilft, indem er ihm zu essen gibt, so schafft der Politiker für ihn einen Arbeitsplatz und übt eine sehr hochstehende Form der Liebe, die sein politisches Handeln veredelt.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns Brücken bauen! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Thomas Ehrhorn, AfD-Fraktion.
Herr Präsident, vielen Dank für die Erteilung des Wortes. – Meine Damen und Herren! Ich habe mir jetzt sehr lange alle Reden zu diesem Thema angehört,
({0})
und ich nehme wahr, dass es hier sehr wenige Menschen gibt, die irgendein Problem damit haben, dem deutschen Steuerzahler Abermilliarden
({1})
für immer mehr ungesteuerte Massenmigration aufzubürden. Deswegen möchte ich an dieser Stelle einfach einmal all die Redner, die sich hier zu Wort gemeldet haben, aber natürlich auch die Damen und Herren aus den Reihen der Linken und Grünen etwas fragen.
({2})
Ich möchte Sie fragen: Wer von Ihnen hat denn selbst einen Migranten bei sich zu Hause aufgenommen?
({3})
Wenn ich Sie unangemeldet zu Hause besuche,
({4})
wie viele Schwarzafrikaner, wie viele Syrer und wie viele Afghanen finde ich dann bei Ihnen am Abendbrottisch? Oder könnte es vielleicht sein, dass Sie die Migration immer nur mit dem Geld der anderen, aber nie mit dem eigenen Geld bezahlen wollen? Das ist nämlich hier die ganz große Frage.
({5})
Deswegen stelle ich hier die Frage und bitte jeden Einzelnen, der sich hier für weitere Migration und für diese Kostenübernahme ausspricht, der einen Migranten selbst und persönlich aufgenommen hat, dies doch hier einmal per Handzeichen anzuzeigen. – Ich stelle aber fest: Ich sehe nicht einen einzigen Finger, der sich meldet.
({6})
Danke schön.
({7})
Herr Kollege, wer hier ein Handzeichen gibt oder nicht, das bestimme ich. Wir stimmen hier über nichts ab.
({0})
Frau Kollegin, wollen Sie antworten?
Vielen Dank, Herr Präsident. Es ist zwar nicht auf meine Rede Bezug genommen worden, aber ich will vielleicht doch noch einmal betonen, dass dieses Land, Deutschland, ein Einwanderungsland ist
({0})
und aus verschiedenen Zuwanderungsgruppen besteht. Auch in diesem Parlament sind viele Abgeordnete, die aus Zuwandererfamilien stammen, die selbst migriert sind,
({1})
die als Gastarbeiter oder Gastarbeiterinnen gekommen sind oder Kinder von ihnen sind, die dieses Land mit aufgebaut haben. Mein Vater selbst ist Arzt und hat Tausenden von Menschen das Leben gerettet.
Ich glaube, Sie disqualifiziert alles, was Sie hier tun, wenn Sie solche Menschen beschäftigen und in Ihren Reihen haben, wie Sie das tun. Deshalb haben Sie eigentlich überhaupt kein Recht, hier zu sprechen,
({2})
und es tut mir im Herzen weh, dass Sie hier Mitglied dieses Hauses sind.
({3})
So, wenn Sie sich beruhigen, würde der Kollege Detlef Seif, CDU/CSU-Fraktion, jetzt etwas sagen.
({0})
Ich würde dann mal anfangen. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Keuter, Sie können es hundertmal behaupten, aber wir haben eine ganz klare Zuständigkeitsordnung, wir haben den Föderalismus, und Sie fordern eine Masse an Zahlen an, die nicht in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Deshalb ist Ihr Antrag – das ist eigentlich der entscheidende Satz – schon aus formalen Gründen, wegen fehlender Zuständigkeit, abzuweisen.
({0})
Die AfD spricht in ihrem Antrag von Lasten der Zuwanderung, von „finanziellen Lasten der Migrationspolitik“. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass Sie sich auf Zuwanderung insgesamt beziehen. Aber, meine Damen und Herren, die Zuwanderung nach Deutschland – ich sage es einmal genau so, wie Sie andersherum reden – in die Arbeitsmärkte, in die Wirtschaft ist existenziell für unser Land.
({1})
Wir haben Menschen mit Migrationshintergrund in einer geschätzten Quote von 35 bis 40 Prozent in den letzten 60 Jahren. Unsere Sozialsysteme wären längst kollabiert. Die Renten könnten nicht mehr in diesem Umfang sichergestellt werden. Der Wohlstand wäre nicht in dem Maße gewährleistet. Das müssen Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen!
({2})
Jetzt wird es schlimmer. Man muss ja jeden Satz in Ihrem Antrag lesen. Sie sprechen von „sogenannten humanitären Gründen“, „Migranten aus sogenannten humanitären Gründen“, „sog. Fluchtursachenbekämpfung“.
({3})
Aber welche Fälle, welche Schicksale dahinterstehen, die machen doch erst deutlich, worum es hier eigentlich geht. Ich nenne ein paar Beispiele aus meinem Wahlkreis. Da ist die syrische Frau, die mit ihren beiden Kindern in den Kreis Euskirchen kam. Die Terrormiliz IS hatte ihren 18-jährigen Sohn aufgefordert, ins Militär zu kommen, beizutreten. Am nächsten Morgen, nachdem der Sohn das verweigert hatte, fand die Mutter den Kopf des Sohnes vor der Haustüre. Um ihren 16-jährigen Sohn zu schützen, ist sie mit ihm und ihrer Tochter dann nach Deutschland gekommen.
({4})
Ich nenne den zweiten von vielen Fällen, die mir das Deutsche Rote Kreuz, DRK-Kreisverband Euskirchen, genannt hat.
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– Hören Sie mal zu! Sie wissen ja gar nicht, um was es geht.
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Da sind zwei Flüchtlinge aus Guinea, die sich auf der Flucht kennengelernt haben. Der Frau drohte die Genitalverstümmelung – Herr Gauland, ich wünsche Ihnen nicht, dass Ihnen das passiert,
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Sie sind ja bekanntlich ein Mann; da könnten Sie sich reinversetzen –,
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sogenannte FGM. Das Dorf des Mannes wurde nach einer blutigen Auseinandersetzung niedergebrannt, seine ganze Familie getötet. – Das sind die Menschen, um die es hier geht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh – das zeigt ja die Zustimmung –: Wir in diesem Hohen Hause – bis auf einen erklecklichen Rest –
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fühlen uns tatsächlich dem Völkerrecht verpflichtet und der Genfer Flüchtlingskonvention.
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Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt. Menschen, die hinter derartigen Fällen stehen, bezeichnen Sie als „Migranten aus sogenannten humanitären Gründen“.
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Ich kann es nur zusammenfassen: Was sind Sie für ein herzloser, unmenschlicher und menschenverachtender Haufen!
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Und, meine Damen und Herren, um bei der Begrifflichkeit dieser herzlosen Partei zu bleiben: Der Flüchtlingsschutz ist keine Positivrendite, es geht nicht um Gewinne.
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Das wäre auch absurd; dann würden wir die Menschlichkeit nur zeigen, wenn das mit Gewinnen verbunden ist, mit Rendite.
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Aber eines ist klar: Der Flüchtlingsschutz darf und soll nicht missbraucht werden für andere Zwecke; etwa für Wirtschaftsmigration.
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In Deutschland haben wir schon wesentliche Fortschritte gemacht mit den Asylpaketen.
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Aber ich glaube, abschließend ist die Feststellung ja klar – wir wissen, welche Schwierigkeiten wir in der Europäischen Union haben –: Ein geeignetes und taugliches System kann nur ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem sein,
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das diesen Namen auch verdient. Lassen Sie die Hetze,
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lassen Sie die Unmenschlichkeit und arbeiten Sie daran mit, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
– dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem vollendet wird.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es dauert jetzt noch etwas bis zur Abstimmung. Ich bitte Sie, auf den Plätzen sitzen zu bleiben. Sie haben ja dann wieder 30 Minuten Zeit für die namentliche Abstimmung.
Wir kommen jetzt zum letzten Redner dieses Tagesordnungspunktes – bitte bleiben Sie sitzen! –; das ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Abschluss dieser Debatte darf ich vielleicht eingangs sagen: Papier ist geduldig. Papier kann aber auch Schmerzen hervorrufen. Wenn man Ihre Anfrage durchliest – es sind übrigens 211 Seiten; im Strafrecht ist das Mord: § 211 –, bekommt man Schmerzen,
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in der Tat, weil vom Anfang bis zum Ende der Duktus, die Intention Ihrer Anfrage und auch der Beantwortung dahin geht, dass Deutschland einen finanziellen Niedergang erleiden wird, einen finanziellen Niedergang sondergleichen, durch die Aufnahme von Flüchtlingen, von Zuwanderern, die uns in unseren Grundfesten erschüttern sollen. Das, meine Damen und Herren, finde ich so abgrundtief schlecht in Ihrer Argumentation.
Sie kritisieren, Herr Keuter, dass die Verwaltung für die Beantwortung acht Monate Zeit gebraucht hat – meinetwegen hätten die acht Jahre Zeit haben dürfen, um so etwas zu beantworten.
({1})
Zum Beispiel: Sie fragen nach den Ausgaben, den Kosten für die Programme zur freiwilligen Rückkehr. Die Verwaltung muss ja alles durchgeblättert haben. Ich danke wirklich denen, die sich da die Mühe gemacht haben; sie haben herausgefunden, dass zum Beispiel im Land Brandenburg zulasten des Bundes dabei 35 Cent Ausgaben angefallen sind, und Brandenburg hat auch 35 Cent bezahlen müssen. – Das wollen die wissen, stellen Sie sich das vor! Als ob es in Deutschland nichts Wichtigeres gäbe
({2})
als solche banalen Auskünfte und Anfragen!
Meine Damen und Herren, es geht in diesem Duktus weiter. Zuerst wollte ich lachen. Die ganze Nacht habe ich darüber gelesen, 211 Seiten. Drei Weizenbiere habe ich dafür gebraucht.
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Die Rechnung schicke ich Ihnen. Alkoholfreies Weizen übrigens.
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Sie schreiben in Ihrer Anfrage, dass wir in Deutschland wegen der Zuwanderung 2 400 neue Grundschulen brauchen würden. Wissen Sie überhaupt nicht, was Sie da schreiben? Im Statistischen Jahrbuch steht: Wir hatten 2015 15 483 Grundschulen. Heute haben wir 15 431 Grundschulen, 52 weniger; Sie schreiben, 2 400 mehr. Und so geht das weiter. Das muss man sich durchgelesen haben, meine Damen und Herren, damit man sich hier wirklich in Rage reden kann.
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– Kann der Applaus von der Redezeit abgezogen werden, Herr Präsident?
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Raffelhüschen wird von Ihnen zitiert: 450 000 Euro soll ein Flüchtling zeitlebens kosten, von der Wiege bis zur Bahre natürlich: Der reckt sich und streckt sich nicht, sondern der wird nur von uns finanziert. – Im nächsten Satz schreiben Sie, bei 2 Millionen Zugewanderten kommen Sie auf fast 1 Billion; 900 Milliarden Euro, schreiben Sie in Ihrem Antrag. – Haben Sie das bemerkt? In der ersten Zeile spricht er von den Flüchtlingen, und in der zweiten Zeile spricht er von den Zugewanderten. Das ist was ganz anderes.
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Und dann kommen wir zu Ergebnissen, die niemals stimmen können. Das ist doch ganz klar: Wenn du die Jacke von unten verkehrt rum zuknöpfst, kommst du oben nicht richtig heraus. Das ist völlig unmöglich.
({8})
Herr Kollege Karl, Sie erinnern sich: Wenn ein Minus vor der Restzeitangabe steht, dann ist die Redezeit schon überschritten.
Ja.
({0})
Also, letzter Satz.
Fragen Sie doch mal, ob die eine Zugabe hören wollen, Herr Präsident.
({0})
Also, Herr Kollege, letzter Satz.
Na ja, gut. – Ich komme trotzdem zum Schluss.
Meine Damen und Herren, es ist in der Tat ein gewaltiger Unterschied zwischen unserem Politikansatz und dem Ihrigen.
({0})
Während Sie die Menschen, auch die Menschen in ihrer existenziellen Not, lediglich als finanzielle Recheneinheit in einem Abakus von Soll und Nichthaben sehen, haben wir zum Gegenstand unserer Politik die Humanität, die Nächstenliebe, die Grundrechte
({1})
und die Menschenrechte, und daran werden wir festhalten, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Karl. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 31.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der 18. Wahlperiode hat dieses Haus das Einziehungsrecht reformiert – eine Reform, die bitter notwendig war. Formale Barrieren machten es nämlich Kriminellen zu einfach, ihre Beute zu behalten. Das haben wir geändert. Verbrechen darf sich nicht lohnen.
({0})
Die neuen Regeln haben Biss. In Berlin wurden bereits millionenschwere Vermögen eingezogen. Das Durchgreifen der Berliner Staatsanwaltschaft mit den neuen Regeln hat bundesweit Beachtung gefunden. Die organisierte Kriminalität muss endlich um ihre Sportflitzer und Villen fürchten. Und ich sage Ihnen: In einem schlagkräftigen Rechtsstaat ist das mehr als geboten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Baustelle ist bei der Reform allerdings offengeblieben: der Einzug bei verjährten Steuerstraftaten. Der Bundesgerichtshof hat das in seinem Beschluss letztes Jahr verdeutlicht. Und ich sage Ihnen: Was für Bankräuber gilt, muss auch für Steuerräuber gelten. Deswegen haben wir die Lücke schnellstmöglich geschlossen. Das ist im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz passiert, und das ist auch gut so.
({2})
Doch die Schnelllösung hat noch ein Manko: Sie gilt nur für Steuerstraftaten, die nach dem 1. Juli 2020 verjähren. Außer Frage steht aber: Niemand darf sich mit seiner Steuerbeute in Sicherheit wissen. Jeder ergaunerte Euro gehört zurückgezahlt.
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Ja, dafür brauchen wir eine Lösung. Diese Lösung muss aber rechtssicher und umfassend sein,
({4})
und die Gesetzentwürfe der Opposition, die wir hier beraten, sind dies nicht. Dass es sich um eine juristisch schwierige Materie handelt, ist allen im Finanzausschuss deutlich und bewusst. Im Ausschussbericht hat Die Linke selbst bestätigt, dass sie in dieser Frage mit ihrem Fachjura an ihre Grenzen gekommen ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, der Grünen, können Sie Ihrem Gesetzentwurf überhaupt mit gutem Gewissen zustimmen?
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Die SPD kann es jedenfalls nicht.
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Wir werden einen anderen Weg gehen, einen Weg, der die Frage grundlegend löst. Unser Weg wird über die Reform der Strafprozessordnung gehen. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass dies in diesem Jahr noch beschlossen werden soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als SPD stehen wir dazu: Verbrechen darf sich nicht lohnen. Das muss auch für Steuerbetrug und selbstverständlich auch für jeden Fall von Cum/Ex gelten.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Albrecht Glaser.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es mit zwei Gesetzentwürfen zu tun, die beide das Ziel haben, Taterträge von steuerrechtlich bereits verjährten Ansprüchen einzuziehen.
Das Strafgesetzbuch eröffnet die Möglichkeit, Taterträge bis zu einer Frist von 30 Jahren abzuschöpfen, es sei denn, die Verfolgung der zugrundeliegenden Straftaten sei durch Verjährung ausgeschlossen. Das galt bis vor Kurzem auch für verjährte Steueransprüche. Die Große Koalition hat versucht, dieses Problem im zweiten Corona-Steuerhilfegesetz – –
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Entschuldigung. – Herr Kollege Brandner, wenn Sie rumlaufen – –
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– Bitte, machen Sie das.
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– Bitte schön, Herr Glaser.
Das Strafgesetzbuch eröffnet die Möglichkeit, Taterträge bis zu einer Frist von 30 Jahren abzuschöpfen, es sei denn, die zugrundeliegenden Straftaten sind verjährt, und das war auch die Lage bezogen auf Steueransprüche.
Die Große Koalition hat versucht, dieses Problem im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz zu lösen. Sie fügte den § 375a Abgabenordnung ein, der trotz steuerrechtlicher Verjährung, die im Steuerrecht zum Untergang des Anspruchs führt, die Einziehung von Taterträgen nach den einschlägigen Bestimmungen des Strafrechts möglich macht.
Zugleich wurde im Einführungsgesetz zur AO der Anwendungsbereich ebendieses neuen § 375a nur in Kraft gesetzt für die Zeit ab 1. Juli 2020. Die Möglichkeit des Zugriffs auf Taterträge ist danach für Steuerstraftaten, die zu diesem Zeitpunkt verjährt waren, nicht mehr möglich. Das bedeutet, dass beispielsweise Einziehungen von Taterträgen bei Fällen im Bereich Cum/Cum und Cum/Ex wegen steuerrechtlicher Verjährung nicht mehr vollzogen werden können. Dabei geht es immerhin um zweistellige Milliardenbeträge. Diese Wirkung für die Cum/Cum- und die Cum/Ex-Fälle, so der Bundesfinanzminister, sei nicht beabsichtigt gewesen, und man würde alles dafür tun, dieses Problem erneut anzugehen.
Tatsächlich wurde eine Art Steueramnestie für bereits verjährte, aber noch nicht aufgedeckte Fälle der Steuerhinterziehung erlassen. Die Annahme, diese Amnestie könne durch eine neuerliche Gesetzesänderung aufgehoben werden, ist jedoch höchst fragwürdig.
Die Linke will nun mit ihrem Antrag den neuen § 34 Einführungsgesetz zur Abgabenordnung einfach streichen. Dieses Vorgehen ist nicht gut durchdacht und entfaltet nicht die beabsichtigte Wirkung; darüber sollte Einigkeit bestehen. Bündnis 90/Die Grünen haben sich etwas mehr Gedanken gemacht. Doch auch bei ihrem Vorschlag ist die Verfassungsmäßigkeit nicht gewährleistet.
Wir unterstützen natürlich die Einziehung von Taterträgen, auch bei steuerrechtlicher Verjährung. Es darf nicht sein, dass Steuerhinterzieher nur warten müssen, bis die Verjährung nach zehn Jahren eintritt, und dann können sie in der Tat die Beute behalten.
Andererseits halten wir die ordnungsgemäße Rechtsetzung und die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen für ein besonders hohes und wichtiges Gut. Deshalb lehnen wir eine nichtverfassungssichere Regelung ab.
({0})
Denn Gesetze mit echter Rückwirkung sind in aller Regel verfassungswidrig und nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig.
Nun hat die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz dem Finanzausschuss in einem Schreiben mitgeteilt, dass im Dezember dieses Jahres ein neuer Referentenentwurf vorgelegt werden soll, der das beabsichtigte Ziel tatsächlich erreicht und der mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Wenn das tatsächlich gelingen sollte – was wir sehen werden –, dann werden wir uns einer solchen Entscheidung natürlich nicht verweigern. Aber im Moment ist nicht erkennbar, wie die Bundesregierung ihren Fehler wiedergutmachen will.
({1})
Wir sind neugierig auf die Vorlage und werden uns im Dezember hier wiedersehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Herr Kollege Glaser, wenn Sie bitte Ihre Mund-Nase-Bedeckung aufsetzen. – Jawohl; prima.
Der nächste Redner ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach einer so guten Rede von Alois Karl kommen wir jetzt zur stillen Erotik des deutschen Steuerrechts.
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Es geht heute um die Abgabenordnung, und es geht darum, eine Möglichkeit zu schaffen, Taterträge bei schwerer Steuerhinterziehung einzuziehen, also sich das erbeutete Geld wieder zurückzuholen.
Wenn wir an schwere Steuerhinterziehung denken, dann denken wir aktuell insbesondere an die vielen Cum/Ex-Fälle. Vereinfacht gesagt, war es bei den Cum/Ex-Fällen ja so, dass für eine Dividendenauszahlung die Kapitalertragsteuer zweimal zurückerstattet bzw. dies beantragt wurde. Dies erfüllt natürlich eindeutig den Tatbestand der Steuerhinterziehung; in der Abgabenordnung ist das geregelt. Auch der Versuch ist strafbar.
Ab wann spricht man von einer schweren Steuerhinterziehung? Der Bundesgerichtshof sagt: Bei Beträgen ab 50 000 Euro liegt eine schwere Steuerhinterziehung vor. – Aber diese vereinfachte Darstellung, gerade der Cum/Ex-Geschäfte, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Cum/Ex-Geschäfte leider sehr komplex gestaltet wurden und dass für die Aufklärung dieser Geschäfte ein erheblicher Aufwand seitens der Strafverfolgungsbehörden vorgenommen werden muss.
Nach den Regelungen des Strafgesetzbuches ist eine Einziehung ausgeschlossen, soweit der entsprechende Anspruch erloschen ist. Wann erlischt ein Anspruch aus schwerer Steuerhinterziehung? Auch das ist in der Abgabenordnung geregelt. Nach der Abgabenordnung erlischt ein Steueranspruch bei schwerer Steuerhinterziehung nach zehn Jahren. Daran schließt sich dann eine zehnjährige Strafverfolgungsverjährung bei den Gerichten an, die sogenannte absolute Verjährung. Sobald die Staatsanwaltschaft Kenntnis von einer Steuerstraftat hat und ein Verfahren einleitet, laufen die zehn Jahre an.
In unserem Fall stellt sich nun die Frage, ob die Einziehung auch erfolgen kann, wenn die steuerrechtliche Verjährung bereits eingetreten ist. Hier hat der Bundesgerichtshof – und das ist überhaupt der Ausgangspunkt der ganzen Diskussion – 2019 entschieden, dass eine Einziehung von steuerrechtlich verjährten Taterträgen nicht mehr möglich ist.
({1})
Gerade bei solchen komplexen Fällen kann es eben passieren, dass das Verfahren so lange dauert, dass die steuerrechtliche Verjährung schon eintritt. Deswegen wollen wir eine Einziehungsmöglichkeit schaffen, auch wenn die steuerrechtliche Verjährung bereits eingetreten ist.
Jetzt stellt sich als Zweites die Frage: Können wir eine Gesetzgebung machen, die Rückwirkung hat?
({2})
– Ein klares Ja, wie Sie von den Grünen das formulieren, gibt es eben nicht. – Der Bundesgerichtshof hat die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Deswegen ist die Methode, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf verfolgen, zu einfach, und sie führt auch zu Rechtsunsicherheit.
Die Bundesregierung bzw. das Bundesfinanzministerium hat mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz versucht, hier eine Regelung zu schaffen, allerdings für meine Begriffe – wir haben das immer wieder gesagt – viel zu schnell und zu undurchdacht – ohne Verbändeanhörung –, und dann wurde dieser neue § 375a Abgabenordnung eingeführt. Am Ende kam natürlich raus, dass er erst für Taterträge gilt, die ab dem 1. Juli 2020 noch nicht verjährt waren, also mit Inkrafttreten des Gesetzes.
Ich halte diese Vorgehensweise nicht für richtig. Wir haben das auch in den Berichterstattergesprächen mit dem Koalitionspartner immer wieder erwähnt und haben gesagt: Wir brauchen keinen Schnellschuss im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz, sondern wir brauchen ein Extragesetz, in dem wir substanziiert die einzelnen Punkte wirklich abschichten und schauen, dass wir alle Cum/Ex-Erträge wieder zurückholen können. Leider war diese differenzierte Diskussion mit dem Koalitionspartner nicht möglich. Jetzt stehen wir vor dem Berg an Aufgaben, die wir erledigen müssen, und wir haben keine Lösung für die alten Erträge.
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Ich glaube, wir müssen hier ohne Schaum vor dem Mund ganz sachlich, klar und steuerrechtlich präzise eine Regelung finden. Nach Auskunft des Bundesfinanzministeriums sind übrigens bisher keine Taterträge verjährt. Also, ich verstehe gar nicht die Hektik. Man hätte das wirklich auch ganz sauber lösen können.
Nun liegen zwei Lösungen auf dem Tisch: eine aus dem Bundesrat, insbesondere aus NRW vom Justizminister Biesenbach, der sagt: Wir wollen die steuerrechtliche Verjährung von 10 auf 15 Jahre verlängern. – Ein entsprechender Antrag wurde übrigens heute im Bundesrat an dessen Finanzausschuss überwiesen. Zum anderen liegt zwar noch kein richtiger Vorschlag vor, aber zumindest die Ankündigung eines Vorschlages des Bundesfinanzministeriums gemeinsam mit dem Justizministerium, eine Fortentwicklung der Strafprozessordnung und der Regelungen im Strafgesetzbuch vorzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns beide Regelungen, sobald sie auf dem Tisch liegen, anschauen. Wir werden beide bewerten und dann eine Entscheidung darüber treffen, welchen Weg wir gehen. Ich warne erneut vor einem Schnellschuss.
Die beiden Gesetzentwürfe, einer von den Linken und einer von den Grünen, sind Schnellschüsse. Die Grünen sagen: Es ist uns eigentlich wurscht, was das Bundesverfassungsgericht entscheidet; Rückwirkungen machen wir einfach mal. – Das ist rechtsunsicher. Die Linken sagen: Wir streichen einfach den Passus „1. Juli 2020“. – Auch das ist zu kurz gesprungen.
Wir werden das aus diesem Grunde heute ablehnen, aber mit dem festen Willen, glaube ich, aller Parteien hier im Hause, die Taterträge aus Geschäften schwerer Steuerhinterziehung zurückzuholen. Aber wir wollen eine rechtssichere Möglichkeit schaffen.
Deswegen, glaube ich, sollten wir jetzt in den nächsten Wochen einfach den Entwurf abwarten, die beiden dann vorliegenden Entwürfe, sowohl den vom Bundesrat als auch den vom Bundesfinanz- und Justizministerium, diskutieren – inhaltlich, sachlich –, und dann sollten wir eine Entscheidung treffen. Denn wir wollen, dass Taterträge aus schwerer Steuerhinterziehung vom Staat auch wieder zurückgeholt werden können. Das ist unser fester Wille. Ich freue mich auf die Diskussion.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Sebastian Brehm. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion die Kollegin Katja Hessel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Cum/Ex hat einen Schaden von circa 12 Milliarden Euro verursacht. Cum/Ex ist einer der größten Steuerskandale, die wir in der Bundesrepublik Deutschland gehabt haben, und es hat lange gedauert, bis Cum/Ex abgestellt worden ist. Es hat noch länger gedauert, bis es die erste Verurteilung gegeben hat; die war im Frühjahr dieses Jahres.
Es sind momentan 80 Verfahren mit circa 900 Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft Köln bzw. beim Landgericht Bonn anhängig. Ja, 2017 ist das Gesetz dahin gehend geändert worden, dass der Staat kriminell erworbenes Vermögen 30 Jahre lang einziehen kann. Nur leider ist wieder mal ein Gesetz nicht so ganz richtig ausgestaltet worden; denn Erträge aus verjährter Steuerhinterziehung sind eben nicht einziehbar. Das hat der BFH im Jahr 2019 festgestellt. Im Jahr 2020 kam im Zuge von Corona plötzlich Hektik auf, und es wurde beschlossen: Wir müssen auch bei der Verjährung ganz schnell was machen.
Beim ersten Corona-Steuerhilfegesetz ist lange debattiert worden, ob es Verjährungen geben kann. Die Bundesregierung hat gesagt: Es ist alles so weit in Ordnung; wir haben es im Griff. – Dann kam das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz. Da wurde ganz schnell irgendetwas hineingeschrieben, bei dem man dann hinterher festgestellt hat: Das ist aber gar nicht das, was wir eigentlich wollten. Verjährung ist immer noch möglich. Wir wissen aber nicht so genau, ob es auch Verjährungen gibt. – Wir diskutieren weiter.
({0})
Jetzt haben die Grünen und die Linken jeweils einen Gesetzentwurf eingebracht, um dieses zu beheben.
({1})
Ich finde, das ist ein richtiges Zeichen. Lieber Kollege Brehm, ganz ehrlich, trotz alldem, was Sie ausgeführt haben: Meine Fraktion kann das Vertrauen in die Bundesregierung, dass da noch was passiert, nicht wirklich teilen.
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Deswegen werden wir die Gesetzentwürfe von Linken und Grünen unterstützen, um einfach ein Zeichen zu setzen, dass hier schnell etwas passieren muss,
({3})
weil es nicht sein kann, dass 12 Milliarden Euro Steuergelder einfach so verpuffen.
({4})
Liebe Bundesregierung, Sie hatten lange genug Zeit, etwas zu tun. Es hätte auch schneller gehen können; es hätte keine Schnellschüsse geben müssen. Wir diskutieren im Finanzausschuss immer noch von Sitzung zu Sitzung, wie denn ein rechtssicherer Weg aussehen kann. Wir warten gerne, bis Sie uns etwas vorschlagen; aber unser Vertrauen, dass das rechtzeitig passiert, ist nicht gegeben. Deswegen unterstützen wir, wie gesagt, heute die Gesetzentwürfe und warten dann darauf, dass Sie uns einen rechtssicheren Vorschlag vorlegen.
Vielen Dank.
({5})
Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Fabio De Masi.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat, Kollege Brehm, Alois Karl hat eine tolle Rede hier gehalten. Wenn er diese Leistung bei seinem hundertsten Einsatz für den FC Bundestag auf dem Platz abruft, dann hat zumindest Jogi Löw keine Probleme.
({0})
Aber wir haben hier ein Problem, weil wir nämlich noch immer – Jahre nach dem Cum/Ex-Skandal – mit kriminellen Steuerdeals mit Aktien zu tun haben, dem Geld hinterherrennen und Steuerhinterziehungen in Höhe von Milliarden Euro zu verjähren drohen. Meine Fraktion ist der festen Überzeugung: Wir dürfen nicht zulassen, dass in Deutschland die Gangster im Nadelstreifen ungeschoren davonkommen. Deswegen müssen wir eine Verjährung dieser kriminellen Geschäfte unterbinden.
({1})
Wir haben dazu im Corona-Steuerhilfegesetz einen Passus eingefügt, der sinnvoll war. Wir haben gesagt: Wenn diese Tatbeute bereits steuerlich verjährt ist, wollen wir es durch Strafprozesse ermöglichen, dass wir die Tatbeute trotzdem einziehen. – Das war richtig und auch gut so. Aber: Eingefügt wurde in dieses Gesetz ein Passus, dass dies nicht für Altfälle vor dem 1. Juli 2020 gilt. Ich habe damals nachgefragt, warum man das so macht, und mir wurde geantwortet, das sei dringend erforderlich, weil es ein Rückwirkungsverbot in der Gesetzgebung gebe. Kurz darauf habe ich ein Gutachten beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages angefordert, und in diesem Gutachten steht, das sei keinesfalls zwingend erforderlich gewesen,
({2})
man hätte eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten können.
({3})
Das Problem, das nun durch diesen Passus entstanden ist, ist aber, dass wir zukünftig, auch wenn wir versuchen, es jetzt anders zu regeln, durch das Prinzip der Meistbegünstigung eine Situation haben, in der die Cum/Ex-Gangster sagen könnten: Es gab ja einmal eine günstigere Regelung für mich im Gesetz. – Von daher könnte es passieren, dass uns übrigens auch die kriminelle Tatbeute der Warburg-Bank durch die Lappen geht. Dieses Problem haben nicht wir verursacht, sondern dieses Problem hat das zuständige Ministerium verursacht.
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Wir hingegen haben frühzeitig auf dieses Problem hingewiesen.
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Nun kann man unterschiedliche Wege suchen, dieses Problem zu beheben. Eines sollte uns einen: Wenn wir als Bundestag es schaffen, gemeinsam eine Lösung zu finden, mit der wir uns vor die Bevölkerung stellen und sagen können: „Wir haben verhindert, dass die Gangster im Nadelstreifen ungeschoren davonkommen; wir haben es gemeinsam geschafft, die Milliarden wieder reinzuholen“, dann könnten wir gemeinsam wirklich stolz auf das Erreichte sein. Das ist auch das Ziel der Linksfraktion.
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Nun hat der Kollege Brehm Bedenken an unseren Vorschlägen geäußert; das ist völlig legitim. Es gibt Vorschläge im Bundesrat von Nordrhein-Westfalen; die werden wir uns angucken. Wenn wir glauben, das Problem wird damit gelöst, dann werden wir sie selbstverständlich unterstützen; denn es geht hier um die Sache.
Wir kritisieren auch niemanden, der sagt, dass unser Gesetz das Problem nicht rechtssicher löst. Ich glaube, dass es in allen Varianten eine hohe Rechtsunsicherheit gibt. Die Grünen zum Beispiel gehen an das Problem der Meistbegünstigung heran; das ist auch okay. Allerdings gibt es da wieder entsprechende Literatur im Europarecht, die besagt, dass das unter Umständen EU-rechtswidrig ist. Das heißt, keine Fraktion hier hat eine hundertprozentig rechtssichere Lösung.
Kollege Seitz, würden Sie sich bitte hinsetzen oder sofort den Mund-Nase-Schutz aufsetzen. – Entschuldigung, Herr Kollege.
Da gibt es nichts zu entschuldigen. – Deswegen sagen wir als Linke: Wir wollen mit dieser Debatte heute den politischen Druck hochhalten, damit die Cum/Ex-Gangster in diesem Land nicht ungeschoren davonkommen.
({0})
Wir wollen den politischen Druck erhöhen. Das ist das Ziel unserer heutigen Debatte. Das haben wir erreicht, und darüber freuen wir uns.
Vielen Dank.
({1})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Cum/Ex, das steht für den größten Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch haben CDU/CSU und SPD die ganzen Jahre versucht, den Skandal kleinzureden.
({0})
Wir Grünen haben nicht lockergelassen. Wir haben 2016 dazu einen Untersuchungsausschuss initiiert. Das hatte Wirkung – das haben wir von allen gehört –: Inzwischen sprechen auch SPD und Union von einer Riesensauerei.
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Aber Worte sind das eine, Taten das andere, meine Damen und Herren. Da gibt es ernüchternde Zahlen. Bislang konnte von den vielen Milliarden, die fehlen, nur eine einzige zurückgeholt, gerettet werden. Nur jeder neunte Verdachtsfall ist bisher geklärt; die Dunkelziffer ist immer noch sehr groß. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen laufen zwar – allein in Nordrhein-Westfalen wird derzeit gegen 900 Personen in 69 Fallkomplexen ermittelt –, aber die schwarz-gelbe NRW-Regierung stellt dafür viel zu geringe Ressourcen bereit. Ein Team von weniger als 50 Ermittlern soll das alles wuppen. Umfangreiche Ermittlungen sind so offensichtlich unmöglich oder dauern Jahrzehnte – und das kann nicht sein, meine Damen und Herren!
({2})
Die Verjährung von Straftaten, nur weil zu wenig Personal zur Verfügung steht, erschüttert den Rechtsstaat schon bis ins Mark. Wenn aber die Straftäter dann auch noch mit der Steuerbeute in Milliardenhöhe davonkommen, dann ist das unerträglich. Aber genau das passiert gerade. Jetzt gilt dank Olaf Scholz: Selbst wenn die Täter verurteilt werden, dürften die beteiligten Finanzfirmen in vielen Fällen ihre Beute behalten – Steuergeld, das ihnen nicht zusteht, womöglich in Milliardenhöhe. Jetzt gilt, dass Cum/Ex-Steuerräuber besser behandelt werden als illegale Drogendealer. Deren Vermögen kann noch bis zu 30 Jahre später vom Staat zurückgefordert werden. Bei Cum/Ex sind es nur 10 Jahre, rückwirkend bis zum 1. Juli 2010.
({3})
Die Einbeziehung von Steuerhinterziehung in die 30-Jahre-Regelung wurde schon 2017 von SPD und CDU/CSU bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Reform der Vermögensabschöpfung versäumt.
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Olaf Scholz hat im Juni daraus sogar einen echten Freifahrtschein für Cum/Ex-Betrüger vor dem 1. Juli gemacht. Das muss endlich aufhören, meine Damen und Herren.
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Deshalb legen wir heute unseren Gesetzentwurf zur Abstimmung vor. Damit stellen wir klar, dass auch für illegal aus Steuerhinterziehung erlangtes Vermögen die 30-Jahre-Regelung für Verjährung gilt und die Verjährung nicht schon nach zehn Jahren eintritt.
Sie hatten zwei Gegenargumente:
Erstens. Es gebe nun mal ein verfassungsrechtliches Rückwirkungsverbot. Ja, das stimmt für Strafgesetze; aber das stimmt eben gerade nicht für das Behalten von Geld, das illegal erworben wurde. Darauf kann es keinen Vertrauensschutz geben.
({6})
Um es mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts aus einem Urteil jüngeren Datums zum Sozialkassensicherungsgesetz zu sagen – ich zitiere –:
Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze …
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Es gilt nicht, soweit … ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war …
So weit das Bundesverfassungsgericht.
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Ihr zweites Argument ist: Sie wollen es lieber später und in einem anderen Gesetz regeln. Aber ich frage Sie: Warum? – Unser Gesetz liegt vor. Die Wahrheit ist:
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Wenn Sie unserem Gesetzentwurf heute hier nicht zustimmen, dann bleibt es dabei: Steuerhinterziehung lohnt sich.
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Man kann sogar Milliarden Euro behalten. Wenn Sie unserem Gesetzentwurf heute nicht zustimmen, dann sind Sie, dann ist Olaf Scholz, dann ist die GroKo dafür verantwortlich, dass das so bleibt, und dann senden Sie ein verheerendes Signal in unsere Republik. Deswegen fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf hier heute zu, meine Damen und Herren!
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So, Sie sind jetzt fertig. – Der nächste Redner ist der Kollege Michael Schrodi, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kommen wir zur Sachlichkeit zurück. Es liegen zwei Gesetzentwürfe vor, die, wie ich finde, mindestens überholt sind. Sie könnten sogar die Einziehung von rechtswidrig erlangten Steuergeldern verhindern, liebe Grüne; das ist nämlich das Problem eures Gesetzentwurfes, dem wir nicht zustimmen können.
Drei Punkte zur Klarstellung:
Erstens. Von der Linken ist gesagt worden: Cum/Ex-Gelder drohen in Verjährung zu laufen. – Erste Feststellung: Es gibt keinen einzigen bekannten Verjährungsfall. Wenn es welche gibt, nennen Sie uns diese bitte! Grüne, Linke, nennen Sie uns diese! Das sage ich auch in Richtung derjenigen, die sich aus Nordrhein-Westfalen zu Wort gemeldet haben: Nennen Sie uns diese, wenn sie bekannt sind! Wir haben im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz übrigens die gesetzliche Verjährungsfrist verlängert.
Zweitens. Wir haben dort, wo notwendig, schnell, präzise und übrigens auch transparent gehandelt. Im Gesetzgebungsverfahren zum Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz haben wir es doch hoch und runter diskutiert. Wir haben in § 375a der Abgabenordnung festgelegt, dass rechtswidrig erlangte Taterträge, zum Beispiel aus Cum/Ex, trotz Verjährung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis eingezogen werden können mit Inkrafttreten dieses Gesetzes. Wir wollten diese schnelle Lösung, damit wir eben gleich handeln können, damit es nicht zu einer Verjährung kommt und wir die Taterträge einziehen können.
Herr De Masi sagte, wir hätten ja bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts warten können. – Da sage ich: Eben nicht. Wir wollten gleich entsprechend handeln.
Herr Kollege Schrodi, Herr Kollege De Masi will dazu was fragen.
Nach Schluss meiner Rede kann er was fragen.
Am Schluss gibt es nichts, auch keine Zwischenfragen.
Er kann jetzt nicht fragen.
Wir werden, drittens, die schwierige Frage der rückwirkenden Gültigkeit klären müssen. Auch hierfür haben wir aber, das wissen Sie, eine Lösung – wir haben das im Finanzausschuss transparent gemacht; es ist auch in der Ressortabstimmung –: § 375a der Abgabenordnung soll in das Strafgesetzbuch überführt werden. Dort werden wir dann festschreiben, dass auch rechtswidrig erlangte Taterträge trotz steuerlicher Verjährung vor dem 1. Juli 2020 eingezogen werden können. Das ist eine nachhaltige, eine sorgfältige, eine rechtssystematisch richtige Lösung. Das weiß auch die Opposition. Das können auch die Bundesländer wissen. Das ist transparent und liegt auf dem Tisch. Es gibt andere Vorschläge aus dem Bundesrat. Wir werden uns das alles anschauen.
Aber eins ist klar: Wir haben schnell gehandelt, um jetzt keine Lücke zu haben, und die Frage der Rückwirkung werden wir klären. Das heißt: Es werden keine Fälle verloren gehen, sondern wir sorgen für Rechtssicherheit. Wir sorgen dafür, dass es eine nachhaltige, sorgfältige Lösung gibt – das ist in diesem Fall auch angemessen – und keine Schnellschüsse mit Anträgen, die nicht zu diesem Ziel führen, sondern die Lösung sogar verhindern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum dann diese namentliche Abstimmung heute? Eins noch am Schluss. Es ist ein schmaler Grat zwischen wirklich ernsthafter Problemlösung und Stimmungsmache, um womöglich die nächste Schlagzeile zu haben. Wir wollen eine nachhaltige Lösung. Auf diesen Weg wollen wir uns machen mit allen, die bereit sind, da mitzugehen. Ich freue mich deshalb auf die Beratungen zu den Lösungen, die wir hier auf dem Tisch liegen haben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Schrodi. – Der von Ihnen angesprochene Kollege Fabio De Masi erhält das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrter Herr Kollege Schrodi, Sie haben mich ja angesprochen. Deswegen: Wenn man Fragen stellt, bekommt man natürlich auch Antworten.
Sie haben mich erstens gefragt, ob ich einzelne Fälle benennen kann, wo Verjährung droht. Zweitens haben Sie unterstellt, dass es das Problem, das wir heute diskutieren, gar nicht gebe, und Sie haben uns Stimmungsmache vorgeworfen.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages ist, der zu derselben Auffassung kommt wie die Linken und die Grünen: dass der Einschub, den Sie damals gemacht haben, nicht nötig gewesen wäre, sondern man eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte abwarten können. Wenn Sie dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages Stimmungsmache unterstellen wollen, dann finde ich das etwas überdreht.
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Zudem möchte ich Sie darauf hinweisen, dass zu dieser Einschätzung auch zahlreiche Verfassungsrechtler und Rechtsexperten kommen, auch der Justizminister von Nordrhein-Westfalen.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Vermögensabschöpfung in Artikel 316h im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch geregelt ist. Wenn es also ein Problem mit dem Rückwirkungsverbot gegeben hätte, hätten Sie nicht nur eine Lex Cum/Ex schaffen, sondern es auch dort neu regeln müssen. Das haben Sie aber nicht getan. Insofern ist das mindestens widersprüchlich.
({1})
Dann haben Sie mich gefragt, in welchen konkreten Fällen Verjährung droht. Wir haben zum Beispiel den Fall der Warburg-Bank, den wir ja hier vor einiger Zeit prominent diskutiert haben, bei der es Vorgänge aus dem Jahr 2007 gibt, die spätestens nächstes Jahr vermutlich in die Verjährung laufen könnten, weil wir da schon hart an der Schwelle kratzen. Darüber hinaus haben wir Fälle, die in die Verjährung laufen können, weil überhaupt noch keine Ermittlungen aufgenommen wurden; denn die Sachverhalte sind so komplex, und die Staatsanwaltschaften in den Bundesländern haben zu wenig Personal. Auch die werden uns durch die Lappen gehen.
Sie müssen doch erklären, wie die Diskrepanz zustande kommt, dass uns über 5 Milliarden Euro aus Cum/Ex-Geschäften –
Herr Kollege De Masi, Sie müssen zum Ende kommen.
– durch die Lappen zu gehen drohen, dass aber erst 1 Milliarde Euro reingeholt wurde. Sie müssen diese Differenz erklären.
Herr Kollege De Masi, die Zeit ist abgelaufen.
Das ist einfache Mathematik.
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Lieber Kollege Schrodi, Sie können sich die Antwort noch überlegen.
Ich komme kurz zurück zu Tagesordnungspunkt 31. Die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis gebe ich Ihnen später bekannt.
Kollege Schrodi, wollen Sie darauf antworten? – Bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr Herr Kollege De Masi, ich habe zum Schluss „Stimmungsmache“ gesagt; das ist richtig. Ich habe aber auch gesagt, dass wir an einer Lösung dran sind. Daran können sich alle beteiligen. Ich glaube, dass diese Lösung die richtige ist. Diese namentliche Abstimmung dient dazu, etwas anderes zu suggerieren – das klang auch in manchen Reden heute an –, nämlich wir würden das nicht wollen. Das weise ich zurück und sage: Wir wollen eine sorgfältige Lösung.
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Zu „Stimmungsmache“ sage ich Ihnen persönlich noch eins: Wir hatten eine Anhörung zu Cum/Ex. Da hat Ihr Gutachter gesagt, es gebe immer noch Cum/Ex-Gestaltungsmöglichkeiten. Ich habe dann andere gefragt. Es wurde widerlegt. Zehn Minuten später lese ich auf Twitter: Es gibt weiterhin Cum/Ex-Gestaltungsmöglichkeiten. – Sie werfen anderen, auch dem Bundesfinanzminister vor, dass sie sich an Gespräche von vor drei Jahren nicht erinnern können. Sie können sich nicht mal an Aussagen von vor zehn Minuten richtig erinnern oder wollen sich nicht daran erinnern. Auch das sei zu „Stimmungsmache“ gesagt.
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Ich habe Ihnen auch deutlich gemacht, dass wir zwei Dinge gemacht haben: Wir haben zum einen eine Lösung gefunden, die schnell wirkt. In § 375a Abgabenordnung sind ab dem Zeitpunkt alle möglichen Fälle – Sie haben eben auch gesagt: „mögliche Verjährungen“; Sie haben aber keinen einzigen Fall genannt – von zukünftigen Verjährungen abgedeckt. Zum anderen lösen wir die Frage der Rückwirkung im Strafgesetzbuch, so wie ich es gerade gesagt habe.
Zur Warburg-Bank ist Ihnen doch im Finanzausschuss vom Bundesfinanzministerium geantwortet worden, dass wir hier nicht das Problem haben, so in die Verjährung zu fallen, dass wir nicht entsprechend wieder einziehen können. Insofern sind wir an einer Lösung dran, sodass Steuerbetrüger nicht durchkommen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich an der Problemlösung beteiligen würden, aber konstruktiv und nicht auf populistische Art und Weise.
Danke schön.
({2})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Fritz Güntzler.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Es dauert noch ein bisschen bis zur Abstimmung. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen sitzen. – Kollege Güntzler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Schon spannend, so einem bilateralen Dialog eben zu folgen. Da ist ja fast mehr gesagt worden als in den Reden. Von daher war das schon ganz interessant.
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Wir beschäftigen uns heute mal wieder mit dem schönen Thema Cum/Ex und der Aufarbeitung der Fälle. Kollegin Paus hat darauf hingewiesen, dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in einem Untersuchungsausschuss sehr ausführlich mit diesem Thema befasst haben, in dem, so würde ich sagen, alle Fraktionen sehr aufmerksam mitgearbeitet und auch an Lösungen mitgewirkt haben; Sie haben das ja eben ein wenig einseitig dargestellt. Für uns war klar – das ist im Ausschussbericht auch so dokumentiert worden –, dass es rechtswidrig war, was da geschehen ist; denn wenn man einmal etwas bezahlt, kann das nicht zwei- oder sogar dreimal erstattet werden. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Von daher sind wir froh, dass das Landgericht Bonn im Frühjahr ein klares Urteil gefällt hat.
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Man kann jetzt darüber diskutieren, ob schon viel erreicht wurde oder nicht. Immerhin sind 51 Fälle aufgedeckt und 1,1 Milliarden Euro zurückgeflossen bzw. nicht erstattet worden. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es derzeit allein bei der Staatsanwaltschaft Köln 900 Beschuldigte gibt, dass also noch weitere Verfahren anstehen und weitere Gelder zurückfließen werden. Es ist eben nicht so, dass man in ein Unternehmen bzw. meistens in eine Bank geht und sagt: Es gab Cum/Ex-Geschäfte, und ich habe es bemerkt. – Es geht um sehr komplexe Zusammenhänge, es geht um Bandenkriminalität, und die Staatsanwaltschaften brauchen die Zeit, die Vorgänge sauber aufzuklären, um Ansprüche geltend zu machen.
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Von daher bin ich den Kolleginnen und Kollegen der Justizverwaltung und der Staatsanwaltschaften, die zurzeit daran arbeiten, sehr denkbar für den tollen Job, den sie machen.
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Zum Thema Verjährung. Ich darf daran erinnern: Es war im Wesentlichen die Unionsfraktion, die das Thema Verjährung auf die Tagesordnung gesetzt hat und bezüglich der Notwendigkeit von Gesetzesänderungen Druck gemacht hat. Anders als mein Kollege Schrodi – obwohl wir in der Großen Koalition sehr eng zusammenarbeiten – sehe ich, dass es nach wie vor Probleme gibt, die auf uns zukommen können. Justizminister Biesenbach aus Nordrhein-Westfalen hat heute im Bundesrat darauf hingewiesen: Wenn wir bei der relativen Verjährungsfrist bei schweren Steuerstraftaten keine Verlängerung von 10 auf 15 Jahre vereinbaren, können in Fällen, die vor 2010 liegen, keine Ermittlungsverfahren mehr aufgenommen werden. Dabei besteht die Befürchtung, dass es da noch eine erhebliche Zahl von Fällen gibt.
Von daher tut es not, da etwas zu tun. Das ist übrigens die größte Schwäche der Gesetzentwürfe der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, dass dieser Punkt nicht enthalten ist. Das ist für mich persönlich zum Beispiel ein Grund, warum ich den Gesetzentwürfen nicht zustimmen kann.
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Wir haben versucht, im Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz das zu regeln. Ich muss selbstkritisch sagen: Das war nicht der große Wurf.
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Wir haben etwas anderes intendiert. Wir haben uns auf die Ministerien verlassen, dass uns ein Vorschlag vorgelegt wird, der alles berücksichtigt. Das ist leider so nicht geschehen.
Ich ärgere mich selber, dass ich es nicht bemerkt habe. Aber fast alle Fraktionen haben zugestimmt, weil wir großes Vertrauen in das hatten, was uns vorgelegt wurde. Aber wenn man einen Fehler gemacht hat, dann sollte man auch den Mut haben, die Probleme zu benennen und aufzuarbeiten, und die Lösung nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.
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Von daher kann ich auch die Bitte des Bundesrates verstehen – wenn ich es richtig vernommen habe, war das Ergebnis 16 : 0 – , zu prüfen, ob es nicht gelingen könnte, dass der Deutsche Bundestag im Rahmen der Beratungen zum Jahressteuergesetz 2020 entsprechende Regelungen aufnimmt.
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Da gibt es einen Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen. Es gibt übrigens auch einen Vorschlag des BMJV, als Vorentwurf zum Referentenentwurf, der fast genau das Gleiche vorsieht, nämlich Änderungen im Strafgesetzbuch. Das ist, glaube ich, der bessere Weg, als es über die Abgabenordnung zu regeln. Das Material, wie wir es besser machen können, liegt also auf dem Tisch.
Kollege Brehm hat schon darauf hingewiesen: Die Gesetzentwürfe der Linken und der Grünen kann ich als politisches Mittel verstehen. Es geht darum, wie es Herr De Masi gesagt hat, den Druck im Kessel zu halten. Sie sind aber doch mit sehr vielen Unsicherheiten versehen. Nachdem der erste Versuch nicht so glücklich ausgegangen ist, sollten wir dem nicht glücklichen ersten Versuch nicht einen zweiten nicht glücklichen Versuch hinterherschieben. Wir sollten uns von daher Zeit nehmen.
Eine Änderung im Rahmen eines Gesetzes zur Modernisierung der Strafprozessordnung durchzuführen, wie von Minister Scholz angekündigt, halte ich persönlich für zu spät, da der Kabinettsentwurf erst im Dezember dieses Jahres kommen soll. Von daher hoffe ich, dass wir mit dem Ministerium, mit der Regierung, aber auch mit der SPD und selbstverständlich mit der Opposition noch einmal reden können, um eine kluge Lösung im Jahressteuergesetz 2020 zu finden.
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Eine Anmerkung zur FDP: Liebe Kollegin Hessel, Sie sagen, Sie stimmen beiden Gesetzentwürfen zu. Ich kann nur sagen: Das funktioniert nicht. Es sind zwei unterschiedliche Gesetze. Sie müssen sich schon für den der Linken oder den der Grünen entscheiden. Es wäre einfacher, wenn Sie dazu eine Meinung hätten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde befasst sich auf Antrag der Freien Demokraten mit zwei Themen: Zum einen liegt die Hälfte der deutschen Ratspräsidentschaft hinter uns, und es ist an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Zum anderen hat sich die Bundeskanzlerin geweigert, hier im Plenum eine Regierungserklärung zu den großen Gipfeln in Europa abzugeben,
({0})
und stattdessen nur einen kleinen Besuch im Europausschuss absolviert, der auch noch in nichtöffentlicher Sitzung tagte. Das ist nicht in Ordnung.
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Denn hier im Plenum, hier unter der Glaskuppel, die Transparenz symbolisiert, hier ist der Platz für die öffentliche Debatte darüber, was die Bundesregierung in Brüssel in unserem Namen plant, verhandelt und beschließt, meine Damen und Herren.
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Die Information des Deutschen Bundestages ist kein Gnadenakt der Exekutive, sondern ein Recht dieses Parlaments,
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ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger, die uns über alle Parteien hinweg, hierher abgeordnet haben. Es ist ein Armutszeugnis, dass das einmal mehr von der Bundeskanzlerin ignoriert wird.
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Eine nichtöffentliche Sitzung ist kein Ersatz für eine Plenardebatte, meine Damen und Herren.
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Allerdings, lieber Kollege Krichbaum, kann ich das Vorgehen irgendwo auch verstehen.
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Bei der Zwischenbilanz Ihrer Ratspräsidentschaft würde ich mich auch hinter geschlossenen Türen verstecken.
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Mehrjähriger Finanzrahmen, Gemeinsames Europäisches Asylsystem, Brexit-Verhandlungen, Rechtsstaatlichkeit,
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echter Fortschritt ist auf keinem dieser Felder zu erkennen. Von der Aufbruchstimmung, die Sie hier vor einigen Monaten verbreitet haben, ist nicht viel übrig. Stattdessen herrscht Katerstimmung.
Ich will zu einem Thema sprechen, am dem dies besonders deutlich wird: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Meine Damen und Herren, wir stehen vor der schwersten Verfassungskrise in der Geschichte der Europäischen Union. Timothy Garton Ash hat neulich die Frage gestellt, ob das Überleben der Demokratie in Polen langfristig noch gesichert sein kann.
({9})
In Bezug auf Ungarn hat er schlicht und richtig festgehalten: Ungarn ist keine Demokratie mehr. – Was heißt das konkret?
Schauen wir auf Polen. Es geht um die Kontrolle der polnischen Regierung über den Rundfunk, die Entlassung Hunderter Journalisten und eine Justizreform, die das Verfassungsgericht zum willfährigen Vollstrecker der Kaczynski-Regierung macht.
Zu Ungarn. Schauen wir auf die Medienlandschaft, egal ob es Radio, Fernsehen, Online oder Print ist – ganz konkret –: Alle Bereiche sind vom Staat kontrolliert oder gleichgeschaltet. Die Medienholding MTVA wurde zentralisiert und auf Linie gebracht. Die regionale Presse ist vollständig im Besitz orbantreuer Unternehmer. Erst vor Kurzem kündigten nach der Absetzung des Chefredakteurs des Nachrichtenportals „Index“ fast alle Mitarbeiter aus Protest. Dazu hat jetzt auch das unabhängige Klubradio seine letzten Sendelizenzen verloren.
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Die Justiz ist schon lange gleichgeschaltet. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Central European University kam zu spät.
In diese Lage fällt die deutsche Ratspräsidentschaft.
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Gleichzeitig fällt genau in diese Phase die Ausgestaltung des EU-Haushalts für die nächsten sieben Jahre. Ungarn und Polen, die Raubbau an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betreiben, sind die größten Empfänger von EU-Geldern und bleiben auf diese angewiesen.
Noch vor wenigen Jahren hat die Kommission richtigerweise eine strengere Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit angestrebt, diese Pläne jetzt aber verworfen und aktuell vorgeschlagen, einen Geldentzug nur dann zu ermöglichen – Zitat –, „wenn ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Haushaltsführung zu beeinträchtigen droht“. Ein schwacher Vorschlag! Es geht um Rechtsstaatlichkeit! Es geht um Demokratie! Es geht nicht um wirtschaftliche Haushaltsführung.
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Was könnte die Bundesregierung nicht alles tun mit der gesamten Kraft der Ratspräsidentschaft? Zum Beispiel für ein System werben, das über dieses Modell hinausgeht? Aber was tut sie? Sie stampft diesen ohnehin schon schwachen Vorschlag noch weiter ein,
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sodass er jetzt nur noch eine Art Finanzprüfung darstellt, wie sie jeder Rechnungshof macht. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie überhaupt nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren!
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Bei Kritik an dem Vorschlag verweist die Bundesregierung dann auf Ungarn und Polen, die etwas anderem ja nicht zustimmen würden. Meine Damen und Herren, so leid es mir tut: Wer einen Sumpf trockenlegen will, der darf nicht die Frösche fragen. – Die Niederländer, die Skandinavier sind entsetzt, sind entgeistert von der Überzeugungsschwäche, dem Mangel an Überzeugungskraft dieser Bundesregierung. Anstatt für Ihre Ideen zu kämpfen, stellen Sie seit Wochen vorauseilenden Gehorsam ins Schaufenster. Für die Freien Demokraten ist klar: Wer die Grundwerte der EU mit Füßen tritt, kann nicht mit vollen Händen ihre Gelder abgreifen, meine Damen und Herren.
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Bitte – das ist mein Ceterum censeo –: Dass Sie, die Union, Orbans unsägliche Fidesz-Partei immer noch nicht aus den Reihen der EVP ausgeschlossen haben, das kann doch nicht sein. Es kann doch nicht sein, dass Sie als Union gestern im Europaparlament versuchen, eine Resolution gegen die Korruption in Bulgarien mit Rücksicht auf GERB zu blockieren. Es kann doch nicht sein, dass man von Ihnen keinen Ton hört, wenn die Justizkommissarin Jourova von Orban wüst beschimpft wird, nur weil sie die Dinge in Ungarn beim Namen nennt.
Bitte setzen Sie sich, auch Sie von der Union, mit allen Mitteln, mit aller Kraft und auf allen Wegen für die Verankerung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im nächsten EU-Haushalt ein.
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Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Ratspräsidentschaft läuft auf vollen Touren. Alle Regierungsverantwortlichen sind im Dauereinsatz, und die FDP setzt eine Aktuelle Stunde an.
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Das ist ja auch ihr gutes Recht als Oppositionspartei. Nur, ganz ehrlich, lieber Graf Lambsdorff, so ganz klar ist mir nicht, warum Sie diese Aktuelle Stunde heute aufgesetzt haben.
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Erstens hat die Kanzlerin erst in der vergangenen Woche eine Regierungserklärung zur Europapolitik abgegeben, und zweitens – da waren Sie auch dabei – hat sie uns erst vorgestern im Europaausschuss
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ausführlich Rede und Antwort gestanden.
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Ich begrüße aber trotzdem, dass Sie diese Aktuelle Stunde heute Nachmittag aufgesetzt haben, weil: Das muss echte paneuropäische Liebe sein an dieser Stelle. Es gibt uns auch die Gelegenheit, unsere Halbzeitbilanz zur Ratspräsidentschaft Ihnen hier noch mal zu erläutern; denn diese kann sich sehen lassen.
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Eine Pandemielage ist eine besondere Situation, und sie erfordert tagtäglich von allen Europäerinnen und Europäern große Opfer. Es ist das Verdienst unserer Kanzlerin und der Regierungskoalition, einen klaren proeuropäischen Kurs zu halten. Wir sind eben nicht in kleinliche, nationalistische Reflexe zurückgefallen.
Es ist das Verdienst unserer Kanzlerin, auf europäischer Ebene Brücken zu bauen und die Haushaltsverhandlungen vor einer Zerreißprobe zu bewahren. Und nicht nur das: Es ist uns darüber hinaus gelungen, mit einem Wiederaufbaufonds für Stabilität auf den Märkten zu sorgen.
Die CDU/CSU-Fraktion begleitet darüber hinaus mit dem notwendigen wirtschaftlichen Sachverstand die Transformation der Europäischen Union hin zu einem klimaneutralen Kontinent. Da hört man sehr wenig von Ihnen, liebe FDP, wenn es um das Megathema Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit geht.
Es war unser Bundesinnenminister Horst Seehofer, zusammen mit vielen Kollegen hier, der tragbare Vorschläge für das Migrationspaket beigesteuert hat.
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Da gibt es noch viel zu tun; das ist richtig. Auch hier bringen wir uns als Fraktion weiterhin konstruktiv ein. Aber der Weg bis dahin, ein 450 Seiten starkes Paket auf den Tisch zu legen, das erstmalig bei allen EU-Mitgliedstaaten eine Grundakzeptanz findet, zeigt auch die Stärke dieser Ratspräsidentschaft. Das könnten Sie auch anerkennen.
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All das ist harte exekutive Arbeit – einer Verantwortung, der Sie sich – das kann man nicht oft genug sagen – vor drei Jahren entzogen haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Aktuelle Stunde auch einmal zum Anlass genommen, um mir genau anzusehen, welche Vorschläge Sie bisher hier vorgelegt haben. Da ist zum Beispiel eine Kleine Anfrage zum Wiederaufbaufonds, und Sie beharren dabei strikt auf reiner Kreditvergabe. Das kann man natürlich in der Opposition fröhlich fordern. Das hätte aber nie den Rat überstanden. Auch hier kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin sehr froh, dass wir einen guten Kompromiss gefunden haben. Deutschland geht es eben nur gut, wenn es Europa gut geht.
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Auch hier kann es daran liegen, dass Sie ja traditionell eine große Distanz zu der Basis haben.
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Ich kann Ihnen nur sagen: In meinem Wahlkreis Hanau ist es so, dass die Unternehmen fast 60 Prozent ihrer Waren in die Europäische Union exportieren. Es ist schlichtweg in unserem Interesse, dass wir Europäer in diesen Zeiten zusammenhalten.
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Ich kann ja auch Ihre grundsätzliche Forderung, lieber Herr Graf Lambsdorff, in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU – darüber diskutieren wir ja auch ernsthaft – weiter voranzukommen, nur voll unterstreichen. Wir haben es ja bei dem Thema Belarus gesehen. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn wir das kleine Land Zypern an der Stelle einfach überstimmen könnten, aber so einfach ist das eben nicht.
Ich könnte die Liste der Vorschläge der FDP weiter durchgehen. Meistens scheitern sie an der Realität. Dabei – ich möchte Sie ja auch gerne ermutigen – würden wir uns sehr freuen, wenn sich die Partei der großen Europäer Scheel und Genscher grundsätzlich mehr einbringen würde. Gut fand ich Ihre Idee für eine europäische Grundwerteinitiative. Es wäre auch schön, wenn Sie uns bei dem Thema Freihandelsabkommen stärker unterstützen würden.
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Aber auch hier vermissen wir Ihre liberale Dynamik.
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Lassen Sie mich an diesem Nachmittag zum Schluss kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie diese Aktuelle Stunde heute hier aufgesetzt haben und wir noch mal unsere zentralen Ergebnisse darlegen können.
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Ich sehe die deutsche Ratspräsidentschaft als eine Aufforderung an alle proeuropäischen Kräfte, sich konstruktiv einzubringen. Sie sind herzlich eingeladen, hier mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Kollegen! Liebe Zuschauer! Die eigentliche Frage der Aktuellen Stunde müsste lauten: Was verbirgt sich hinter den EU-Machenschaften, die sich als ewige Erfolgsmeldungen tarnen?
Vor einem EU-Gipfel gibt es einen Berg unlösbarer Probleme, die sich schließlich nach harten, zähen und langen Verhandlungen glücklicherweise in einem Kompromiss auflösen, bei dem es nur Gewinner gibt. Das ist zumindest der Eindruck, der regelmäßig erweckt wird. In Wirklichkeit hat sich aber auch nach einem Gipfel nichts geändert: Deutschland zahlt, lässt sich die Agenda von Frankreich diktieren und lässt die Tage der Ratspräsidentschaft ungenutzt verstreichen.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Bundesregierung das sogenannte Möbiusband zum Symbol ihrer Ratspräsidentschaft erhoben hat. Es symbolisiert die ewige Wiederkehr des Gleichen, das ewige Um-sich-selbst-Kreisen, das dem darin Gefangenen einen Moment nach dem anderen vorgaukelt, dass sich etwas bewegt hat. Am Ende aber steht man da, wo man angefangen hat. Vom Willen, den Brüsseler Schlendrian zu beenden, ist nichts zu spüren. Vielmehr geschieht hier ständig eine politische Geschäftsführung nach der anderen ohne deutschen Wählerauftrag,
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eine politische Geschäftsführung im unreinen Interesse etwa der Klima- und Coronalobbyisten des In- und Auslands.
Die EU hat sich spätestens mit der Coronahysterie und Wahnprogrammatik ihrer letzten Existenzberechtigung beraubt.
({1})
Das auf Wettbewerb gestützte Wirtschaftsprojekt EU wurde zu Grabe getragen. Man hat ein Antisubsidiaritätsmonster geschaffen, das vor allem Umverteilung, Fehlinvestitionen und Gratiskonsum garantiert. Darauf wären selbst Marx und Keynes nie gekommen.
Die letzten Hemmungen sind in diesem Jahr gefallen, Anno Domini 2020, als hätte nicht schon die gleich in den 90ern eingeleitete Gipfelei von Rio, Kyoto, Paris, Bologna usw. genug Schaden angerichtet, der dann in Brüssel und Berlin optimiert wird, nämlich umweltschädliche Umweltpolitik, wohlstandsvernichtende Wirtschafts- und Energiepolitik sowie bildungsfeindliche Bildungspolitik,
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als wäre nicht die Dauerrettung des Euro und all die Umverteilung via Euro mit immer neuen Vertragsbrüchen seit Mai 2010 schon genug wohlstandsvernichtende Finanz- und Währungspolitik als faule Grundlage immer faulerer Kompromisse.
Doch es waren und sind naturgemäß die Nationalstaaten oder regionale Subeinheiten, die sich etwa des Gesundheitsschutzes und Katastrophenmanagements anzunehmen haben und die dabei reüssieren oder eben nicht. Der EU-Zentralismus und all die WHO-Internationalisierung haben ihre Unzuverlässigkeit und nackten Eigeninteressen unter Beweis und ins Schaufenster gestellt. In ungeahnter Dreistigkeit verlangen klare Versager- und Betrügeradressen immer mehr Geld vom Publikum, mehr als je zuvor. Die Politiker der Nettozahler bedienen die Interessen der Kostgänger. Mit kommunistischer Rhetorik allgegenwärtiger Solidarität wird jede Eigenverantwortung beiseitegewischt.
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Die Verunklarung dieser elementaren Zusammenhänge durch immer nebulöseren Multilateralismus ist ein uralter Trick. Er begann mit dem Kernversagen von Versailles und Völkerbund, setzt sich fort mit UNO- und EU-topia.
„Für wen das Ganze?“, fragt man sich.
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Nun, „Schrottstaaten plus Deutschland“ lautet da die Formel, über die funktionierende Normalstaaten nur schmunzeln können. Ob sie nun groß oder klein sind, durch Pseudointernationalismus wird alle echte Staatsräson pervertiert. Staatsräson hat aber bei schon national unbedingt notwendiger Subsidiarität sich zuerst und zuletzt um die jeweilige Sicherheit und Wohlfahrt der eigenen Staatsbürger, des eigenen Staatsvolkes im jeweiligen Einzel- oder eben Mitgliedstaat zu kümmern und sich darauf zu beziehen.
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Gerade die vielbeschworene gemeinsame Politik, gar Außenpolitik, findet nicht wirklich statt. Die völlig irreführende Asylpolitik hat weder viel mit echten Asylfällen noch Außen- oder Entwicklungspolitik zu tun, mit weltumspannendem bedachtem Humanismus für Fremde und eigene Leute auch nicht, eher schon mit völlig unfähiger Sozial- und Innenpolitik.
In solch einer Situation können EU-Gipfel nur einem Ziel dienen: Diesen für Deutschland völlig haltlosen Zustand im Kompromissbrei zu konservieren. Ich bezweifle, dass uns die angemahnte Transparenz aus der Dauerschleife von Scheinkompromissen zulasten Deutschlands herausführt, solange nicht ein ernsthafter politischer Wille da ist, aus dieser für uns existenzbedrohenden Spirale auszubrechen. Das pseudointernationalistische „Konferenz- und Vertragstheater“, wie es Helmut Schmidt einmal nannte, ist ansonsten vor allem ein Medienspektakel und ein Relikt der Vergangenheit, das es zu beenden gilt,
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wenn Außenpolitik wieder mehr sein soll als ein Wasserkopf in Brüssel. Weg mit den alten Zöpfen!
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Der nächste Redner: der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurt Schumacher hat mal gesagt: „Demokratie ist eine Frage des guten Gedächtnisses.“ Ich erlaube mir, meinem Vorredner ein bisschen auf die Sprünge zu helfen: Wir haben vor 50 Jahren eine Ratspräsidentschaft mit Bundeskanzler Willy Brandt gehabt, wir hatten 1978 die Ratspräsidentschaft mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, 1994 mit Bundeskanzler Helmut Kohl, 1999 mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und 2007 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am Ende aller dieser fünf deutschen Ratspräsidentschaften war diese EU, diese Gemeinschaft sicherer, und der Frieden wurde gewahrt und die Zusammenarbeit gestärkt.
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Das ist ein zentraler Punkt, weil am Anfang der Konflikt steht und am Ende der Kompromiss stehen muss. Wenn am Anfang der Konflikt steht und am Ende nicht der Kompromiss steht, ist – das ist wohl die Ideologie, die bei der AfD dahintersteht – die Alternative zum Kompromiss nämlich am Ende irgendwo der Krieg. Und Europa ist ein gemeinsames Friedensprojekt,
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und die Fraktionen hier im Hause von FDP, CDU/CSU, Grünen, SPD plus Linkspartei verbindet eben der gemeinsame Wille zum Frieden. Das sollten wir gerade in so einer Ratspräsidentschaft deutlich machen.
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Nun ist die Frage, Kollege Graf Lambsdorff, wie man ganz konkret eine Ratspräsidentschaft gestaltet. Sie waren ja im Europäischen Parlament Mitglied, ich auch. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die Möglichkeit, dass die Kanzlerin einen Zwischenbericht im Ausschuss gibt, ist eine gute, weil der Unterschied zwischen einer Ausschussdebatte und unserer Aussprache hier im Hause ist: Man kann im Ausschuss einfach besser aufeinander eingehen, auf Rede und Gegenrede und alles, was dazugehört.
Auf der anderen Seite haben Sie mit einem Kritikpunkt recht: Das geschieht leider hinter verschlossenen Türen.
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Deshalb appelliere ich hier als Sozialdemokrat vor allen Dingen an unseren geschätzten Koalitionspartner noch mal: Bitte unterstützten Sie die Initiative, dass wir ebenso wie im Europäischen Parlament auch im Deutschen Bundestag öffentliche Ausschusssitzungen machen! Dann kriegen wir ganz viele Dinge eben besser vermittelt, besser diskutiert und auch öffentlich wahrgenommen.
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Man muss auch dazusagen – –
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– Ja, lieber Gunther Krichbaum, man kann auch die Geschäftsordnung ändern.
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Warum soll denn das, was in vielen Parlamenten gut funktioniert, im Deutschen Bundestag nicht auch funktionieren? Probieren wir es doch mal aus!
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Ich mache Ihnen das Angebot: Wir machen das ein halbes Jahr und schauen, wie es dann läuft.
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Jetzt schauen wir mal auf die Problemlage, die vor uns steht: Wir werden, wie das schon 1999 bei Gerhard Schröder war, den mittelfristigen Finanzrahmen zusammenbinden müssen. Nur haben wir jetzt noch ein paar zusätzliche Probleme wie den Brexit zu bewältigen. Wir haben schon ein Recovery-Programm von außergewöhnlichem Umfang, von historisch einmaliger Dimension auf den Weg gebracht. Wir werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Klimafrage natürlich auch als zentrales Thema immer wieder aufnehmen müssen.
Nur: Ist alles, was die Bundesregierung vorhat, politisch sinnvoll? Die Fraktionen dieses Hauses, SPD und CDU/CSU, tragen diese Bundesregierung mit Vertrauen. Vertrauen heißt immer: auf bestimmten Erfahrungen basierend und mit Hoffnung verbunden; Hoffnung, dass Kompromisse erreicht werden. Es kann nicht sein, dass wir schon heute, am 9. Oktober, Dinge so diskutieren, die vielleicht erst im Dezember finalisiert werden können, weil nämlich Kompromisse zwischen den verbleibenden 27 EU-Staaten bzw. 27 plus 1 beim Brexit extrem schwierig sind. Sie müssen – leider, leider – in Verhandlungen hinter verschlossenen Türen vorbereitet werden, auch wenn wir hinterher öffentliche Debatten, vor allen Dingen in den Parlamenten, brauchen. Aber sie müssen in Verhandlungen vorbereitet werden. Das ist gut, richtig und notwendig.
In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ich Ihnen prophezeien: Wir werden am Jahresende als deutsche Bundesregierung, als Mehrheit im Bundestag sagen können: Jawohl, wir haben Europa wieder ein Stück vorangebracht. Wir haben es sicherer gemacht, auch der Zukunft zugewandt. – Auf dieser Grundlage gehe ich mit Optimismus an diese Aufgabe heran. Hoffnung heißt bekanntlich: immer ins Gelingen verliebt.
Vielen Dank.
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Es macht sich der Kollege Dr. Diether Dehm bereit. Er ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für uns Linke bleibt die zentrale Frage in der Krise: Wer zahlt die Zeche? Und wir sagen: Konzerne und Superreiche.
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Mit einer Digitalsteuer und einer Finanztransaktionsteuer würden nicht nur Aktien, sondern auch Derivate, also diese großen Wettgeschäfte an der Börse, erfasst, damit endlich auch der Multimilliardär Jeff Bezos für die öffentliche Infrastruktur, die Straßen und vieles andere, das er, das Amazon benutzt, seinen Beitrag zahlen muss und damit Amazon, nebenbei bemerkt, endlich auch Verdi-Tariflöhne zahlt.
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Wenn Herr Altmaier weiter gegen diese Steuern für Superreiche bremst und Steuergerechtigkeit in der EU damit weiter abbaut, bekommt Europa nie seinen inneren Zusammenhalt.
({2})
Die Seele eines Gemeinwesens heißt Sozialstaat und Steuergerechtigkeit.
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In dieser Woche kam die Meldung, dass die Superreichen in Deutschland ihr Vermögen während der Coronakrise von 500 auf 594 Milliarden Euro erhöhen konnten. Das ist eine Ohrfeige für alle, die wir für wirklich systemrelevant halten: die Krankenschwestern und die Pfleger zum Beispiel. Was sollen sie denn empfinden, wenn sie diese Nachricht hören?
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Währenddessen produzierten sich der Rechtspopulist Kurz und die geizigen Vier – also Österreich, Schweden, Dänemark und Niederlande – in unwürdigem Gezerre um den Wiederaufbaufonds. Am liebsten hätten sie Spanien, Italien und Portugal nur Kredite zugestanden.
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Es ist ideologisch verbohrt und kurzsichtig, dass eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts in eine Ratsarbeitsgruppe und damit auf die lange Bank geschoben wird, statt offensiv die Schuldenregeln zu überarbeiten. Die Schuldenbremse war Gift, ist Gift und bleibt Gift für jegliche wirtschaftliche Belebung.
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– Sie kriegen gleich Ihr Fett auch noch ab. Warten Sie noch einen kleinen Moment.
Die Vorkommnisse rund um den schweinischen Ausbeuter Tönnies in diesem Jahr hätten der Bundesregierung mehr Druck machen müssen. Im Januar 2019 hat Hubertus Heil angekündigt:
Ich werde den Aufbau von Mindestlohn- und Grundsicherungssystemen zum Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft … machen.
Dem stimmen wir zu. Aber das darf kein frommer Wunsch bleiben.
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Ein EU-weit koordinierter Mindestlohn wäre auch ein wesentlicher Beitrag zur Bewältigung der Coronakrise. Er würde die Menschen und die Länder widerstandsfähiger und die EU als transnationalen Verschiebebahnhof der Konzerne für Arbeitende und Arbeitsuchende endlich weniger attraktiv machen. Wer Arbeitsplätze ins Ausland verlegt oder – wie Klatten/Quandt, also BMW – Milliardendividenden ausschüttet, hat das Recht auf staatliche Unterstützung verloren und muss das Kurzarbeitergeld zurückzahlen.
({8})
Zum Schluss noch Folgendes an Frau Merkel, die nicht anwesend ist. Darum, dass sie sich mit dem völkisch-neoliberalen Orban rumschlagen muss, ist sie von unserer Seite nicht zu beneiden. Aber wann schmeißen Sie diesen Orban aus der EP-Parteifamilie endlich raus?
({9})
Das wäre doch konsequent. Ich kann dem Kollegen Graf Lambsdorff an dieser Stelle nur zustimmen.
Retten kann man die europäische Integration nur, wenn man endlich den inneren Zusammenhalt mit der Mehrheit der Menschen erkämpft. Ich habe die Steuergerechtigkeit schon angesprochen. Wenn Sie von der AfD sagen: „Weg mit den alten Zöpfen“, dann bedeutet das, dass Sie ja aus dem Bundestag verschwinden würden. Das wäre ja dann Ihr Wunsch.
({10})
Denn die AfD ist doch eine Partei, die immer mit dabei ist, wenn es darum geht, den Steuerverkürzern, denjenigen, die Steueroasen predigen, hier an diesem Rednerpult einen roten Teppich auszurollen.
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Sie sind doch immer bei den Steuerverkürzern dabei. Wie können Sie denn dann hier irgendeinen Satz für Sozialstaat und für Gemeinwesen sagen?
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Retten kann man das nur mit dem sozialen Zusammenhalt, und dafür müssen die Krisengewinner zur Kasse gebeten werden: Amazon, Google, Klatten/Quandt, Facebook und Starbucks. Dafür muss auch endlich der Wirtschaftskrieg gegen Russland beendet werden.
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Auf Druck von Deutschland, meine Damen und Herren,
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macht die EU nichts gegen Erdogan, gegen illegale Bohrungen, gegen einen Krieg im Mittelmeer. Frau Leikert, hat die Kanzlerin dazu irgendetwas Belastbares im EU-Ausschuss gesagt? Kein Wort. Die europäische Solidarität war in der Coronakrise genauso ein Reinfall wie in der Flüchtlingskrise. Der europäische Tisch der Menschen – –
Herr Kollege Dehm, es ist spät geworden.
Ich beende den Satz noch: Der europäische Tisch der Menschen muss von den Superreichen gedeckt werden. Der Zukunft zugewandt, Kollege Schäfer.
({0})
Liebe Kollegen, nach der nächsten Rednerin schließe ich die namentliche Abstimmung. Wer noch nicht abgestimmt hat, den bitte ich, das jetzt zu machen.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Leikert, Sie haben gerade noch einmal gefragt: Warum braucht es denn eine Regierungserklärung? Ich nenne Ihnen zwei Gründe: weil wir nächste Woche einen Europäischen Rat haben, der sich um den Brexit, um den Haushalt, um Rechtsstaatlichkeit und um das Klima kümmert. Das sind die „kleinen“ Themen, die gerade keinen interessieren und die überhaupt nicht relevant sind. Wenn Ihnen das noch nicht reicht, würde ich noch einen zweiten Grund hinzufügen: weil Deutschland gerade die Ratspräsidentschaft innehat. Ratspräsidentschaft bedeutet, dass man die europäischen Debatten in die Öffentlichkeit bringen soll.
({0})
Das ist die Aufgabe von Ratspräsidentschaft. Als Parlament sind wir doch ein prädestinierter Ort dafür, diese Debatten in die Öffentlichkeit zu bringen. Deswegen: Ich kann es nicht nachvollziehen.
Warum wird es nicht öffentlich diskutiert? Weil die Bilanz bis jetzt mager ist, weil Frau Merkel an einem Tag den Rechtsstaat und die Rechtsstaatlichkeit preist, um sie am nächsten Tag preiszugeben. Wir haben das gesehen: Es gab einen Vorschlag, der vorsah, die Vergabe europäischer Gelder an das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen; eigentlich eine Selbstverständlichkeit in einer Europäischen Union. Aus diesem Vorschlag wurden jetzt alle Aspekte der Rechtsstaatlichkeit herausgestrichen: Unabhängigkeit der Gerichte, Rechtsmittelmöglichkeit gegenüber Behörden – alles rausgestrichen. Die Vorsitzenden der vier demokratischen Fraktionen im Europäischen Parlament, wie sie auch hier sitzen, haben die Ratspräsidentschaft gebeten, das wieder zu ändern. Darauf gab es einen Antwortbrief, der de facto sagt: Forget it! Vergesst es, da kommt nichts! – Ich kann Ihnen sagen: Das ist eine so unerträgliche Arroganz gegenüber dem Europäischen Parlament, dass damit wirklich Schluss sein muss.
({1})
Diese Arroganz gegenüber dem Europäischen Parlament zeigt sich übrigens auch bei einem Blick auf den Haushalt an sich. Das Europäische Parlament fordert richtigerweise, dass die europäischen Aufgaben – Forschung, Klimaschutz und Gesundheit; angesichts dieser Pandemie – wieder finanziell gestärkt werden. Was ist die Antwort des deutschen Botschafters: maximal 9 Milliarden Euro. Und das angesichts eines Haushalts, der ein Volumen von 1 Billion Euro hat. Das sind Peanuts, das ist nichts, das ist einfach eine Verarsche des Europäischen Parlaments!
({2})
Ich finde es absolut falsch, dass die Bundesregierung dafür auch noch ihren Namen hergibt.
({3})
Wenn die Bundesregierung, wenn die Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf ihrem viertägigen Gipfel im Juli vielleicht einmal daran gedacht hätten, dass es auch noch ein Europäisches Parlament gibt, dann wären die Verhandlungen jetzt nicht so zäh. Das heißt: Jeder Tag Verzögerung geht auf Ihr Konto. Es liegt in Ihrer Verantwortung, hier jetzt schneller voranzukommen, auf das Europäische Parlament zuzugehen und endlich Rechtsstaatlichkeit und europäischen Mehrwert durchzusetzen.
({4})
Das zweite große Thema ist der Brexit. Mir bereitet es gerade große Sorgen, dass wir am Ende zu einer Einigung kommen könnten, die zulasten des Binnenmarktes und unserer gemeinsamen Standards geht. Alles, was wir hören und sehen können, deutet darauf hin, dass Großbritannien am Ende vielleicht in der Lage sein wird, die aktuellen Standards zu halten, sich aber mit Blick auf zukünftige Standards – ich sage nur: CO2-Preis etc. – auf nichts einlassen wird und wir am Ende, unter Druck, sogar noch einschlagen.
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Das ist gefährlich für unseren Binnenmarkt, weil das ein unfairer Wettbewerb für unsere Unternehmen wäre.
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Es geht da um unsere eigenen Unternehmen; denn denen würde hinterher unfaire Konkurrenz gemacht werden aus Großbritannien. Ich hoffe, dass diese Bundesregierung sich endlich an die Seite Frankreichs stellt, das wesentlich härter darauf pocht und auf Fairness setzt. Ich hoffe, dass die Bundesregierung hier nicht umknickt.
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Wir wissen, dass diese Woche die Innenminister getagt haben. Mich hat es ehrlich gesagt geschockt, dass es, wenige Wochen nach Moria, worüber wir hier viele Debatten geführt haben, in Deutschland eigentlich kaum noch jemanden interessiert, was die Innenminister aus dem Vorschlag der Europäischen Kommission machen. Diese Kurzlebigkeit der Debatten finde ich tragisch. Eigentlich hätten wir hier alle darüber diskutieren müssen, was die Bundesregierung jetzt aus den europäischen Vorschlägen macht. Diese Diskussion hat in der Öffentlichkeit nicht stattgefunden. Deshalb diskutieren wir öffentlich auch nicht darüber, dass diese Bundesregierung mit ihren eigenen Vorschlägen auch eine europäische Lösung verhindert, weil die Vorschläge von Herrn Seehofer unrealistisch sind. Die Südländer wollen die Verfahren nicht komplett an ihren Grenzen abschließen. Das würden auch wir niemals akzeptieren.
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Das sind unrealistische Positionen dieser Bundesregierung, die eine gemeinsame Positionierung am Ende verhindern. Das gilt übrigens auch für den Vorschlag, dass wir die Herkunftsländer einfach dadurch bestrafen, dass sie weniger Entwicklungsgelder erhalten, wenn sie ihre Bürgerinnen und Bürger nicht zurücknehmen. Wir brauchen stattdessen sicherere Migration, aber auch da blockiert die Bundesregierung. Machen Sie endlich konkrete, realistische Vorschläge, damit wir auch da weiterkommen.
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– Ich sage nur: Ich habe keine Lust mehr auf Debatten im Plenum, in denen wir sagen: „Moria darf nicht wieder passieren“, und wenn es konkret wird, verhindert man alles, was genau dazu führen könnte. Das ist eine unredliche Debatte.
({10})
Ich hoffe, dass Sie aus der Ratspräsidentschaft noch was machen.
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Jetzt keine weiteren Dialoge! – Vielen Dank, Frau Kollegin. Bitte gehen Sie zügig zur Abstimmung, damit ich dann die namentliche Abstimmung schließen kann. Die Maske nicht vergessen!
Der nächste Redner ist der Kollege Detlef Seif.
({0})
Lieber Kollege Seif, Sie haben in Ihrer vorigen Rede, vor etwa einer Stunde, die AfD-Fraktion als einen Haufen bezeichnet. Diese unparlamentarische Äußerung weise ich ausdrücklich zurück und bitte Sie, künftig sorgfältig zu formulieren.
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Sehr geehrter Herr Präsident, ich werde das bei meinen Reden berücksichtigen. Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist schon hochinteressant: Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zwischen zwei Europäischen Räten. Ich habe gedacht: Wow, welch ein Thema für eine Aktuelle Stunde! Wir haben ja keine Themen,
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die diese liberale Welt interessieren könnten – außenpolitisch, innenpolitisch, verteidigungspolitisch.
({1})
Es liegt so viel auf Ihrem Schreibtisch, und dann nehmen Sie aus so durchsichtigen Gründen und Erwägungen so ein Thema.
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Ich will ausdrücklich widersprechen, auch der Kollegin Brantner. Die Bundeskanzlerin hat das nachvollziehbar dargelegt: Sie hat eine Regierungserklärung angekündigt, um eben über den Stand der Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich berichten zu können. Das ist der Schwerpunkt des anstehenden Europäischen Rates und nichts anderes.
Wir wissen, die Verhandlungen sind in einer schwierigen Situation, man kann auch sagen, sie stocken. Jedes Wort zu viel in der Öffentlichkeit könnte auch die Verhandlungsstrategie des Verhandlungsführers Barnier betreffen. Deshalb war es an der Stelle richtig, keine Regierungserklärung abzugeben.
Und was ist denn besser als der Austausch mit Fachkollegen, mit Fachpolitikern im Europaausschuss? Hier hätten wir nur eine Rede gehört, dort konnten wir uns über alle aktuellen europäischen Themen austauschen.
({3})
Das war richtig an der Stelle.
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Der Bundestag kann sich nun wirklich nicht beschweren angesichts der Vielzahl an Unterrichtungen. Wir als Bundestag haben Beteiligungsrechte in EU-Angelegenheiten; ich muss eingestehen, dass die Grünen diese durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erwirkt haben. Diese Rechte haben wir als Parlament; wir sind zu beteiligen, und wir werden beteiligt. Staatsminister Roth informiert uns regelmäßig, wir werden von Andreas Peschke, dem Leiter der Europaabteilung des Auswärtigen Amtes, informiert.
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– Wir haben eine Zusammenarbeitsvereinbarung. Also, mein Souffleur, der Ausschussvorsitzende, ruft das gerade zu.
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Das funktioniert alles bestens.
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Darum beneiden uns die anderen Parlamente in Europa; das sollten wir doch einfach zur Kenntnis nehmen.
Sie wollen mit Ihrem Antrag hier süffisant vermitteln: Merkel weigert sich. Das steckt im Prinzip dahinter. Sie ist aber eine überzeugte Europäerin, sie bindet uns wirklich aktiv und intensiv ein, wir können uns nicht beschweren an der Stelle.
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Thema der durch die FDP beantragten Aktuellen Stunde ist auch die Halbzeitbilanz. Sie haben schon davon gehört, dass man das auch im Rahmen einer Parlamentsdebatte erörtern kann? Dann wäre auch der Austausch besser gewesen. Dies ist eigentlich der falsche Rahmen, um das zu besprechen.
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In der ersten Hälfte der Ratspräsidentschaft konnte Deutschland schon wichtige Impulse setzen. Hervorzuheben ist die grundsätzliche historische Einigung zum mehrjährigen Finanzrahmen, aber insbesondere zum Aufbauprogramm „Next Generation EU“. Das werden auch Sie nicht bestreiten, das ist schon ein wichtiger Punkt an der Stelle.
Bei den Details müssen wir aber verdammt aufpassen. Das anleihefinanzierte Aufbauinstrument muss transparent und rechtlich einwandfrei sein. Das ist gar nicht so einfach. Die Finanzierung über EU-Anleihen ist eine zeitlich befristete Ausnahme und muss dies auch bleiben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will kein neues Dauerinstrument und will vor allen Dingen keine Gemeinschaftswährung durch die Hintertüre einführen.
({10})
Die Migration ist eine der größten Herausforderungen für Europa. Ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das diese Bezeichnung verdient, ist dringend erforderlich. An dieser Stelle, Kollegin Brantner, muss ich Ihnen noch mal widersprechen: Zu den aktuellen Vorgängen sagen Sie: Die Regierung handelt nicht und hat keinen Plan. – Gerade das, was jetzt auf dem Tisch liegt, was das Gemeinsame Europäische Asylsystem ausmachen soll, ist wesentlich auch auf die Vorschläge unseres Bundesinnenministers zurückzuführen. Grenzverfahren, Zurückführen der Sekundärmigration,
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besser koordinierte Rückführungen sind ganz wichtige Themen.
Bei allem Optimismus steht fest, dass wir nicht erwarten können, dass wir bis zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft tatsächlich ein GEAS auf dem Tisch haben; das Thema behandeln wir seit Jahren. Aber ich erwarte einen politischen Beschluss des Europäischen Rates über die zukünftige Ausrichtung und die Schwerpunkte. Das muss erreichbar sein. Lassen Sie uns gemeinsam hier die Bundesregierung bei diesem Vorhaben unterstützen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Kollege Seif. – Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 32. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis später bekannt.
Wir setzen die Aussprache fort. Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäfer, Ihre Andeutung, die AfD strebe nach Krieg, ist nun wirklich bodenlos und, ich glaube, dieses Hauses nicht würdig. Na ja, wer beleidigt, der hat offenbar keine Argumente.
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Wir sind heute zusammengekommen, um Bilanz zu ziehen über die erste Hälfte der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. So eine Ratspräsidentschaft ist ja immer verbunden mit einer gewissen Hoffnung, nicht wahr? Man hat diese Ratspräsidentschaft ja nicht oft; die letzte war 2007. Man könnte ja hoffen, dass daraus vielleicht auch mal ein Vorteil für Deutschland entsteht. Aber diese Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Die erste Hälfte dieser deutschen Ratspräsidentschaft war so schlecht, dass man sich bei Gott keine zweite Hälfte wünscht. In sämtlichen Bereichen versagt die Bundesregierung und/oder handelt zum Nachteil für Deutschland.
({1})
– Seien Sie doch mal ehrlich, Herr Krichbaum, ständig wird über ein starkes Europa fabuliert, aber faktisch macht die Politik der Bundesregierung und auch der EU-Kommission Deutschland und die Europäische Union schwach.
Ich fange mal an mit den Finanzen und dem MFR. Da hat tatsächlich die Bundesregierung in einer der ersten Wochen der deutschen Ratspräsidentschaft einem völlig irren Mehrjährigen Finanzrahmen mit einem großen Volumen zugestimmt. Über 40 Milliarden Euro werden wir jedes Jahr vom Bundeshaushalt an die Europäische Union überweisen müssen. Das sind mehr als 10 Prozent. Wer soll das alles bezahlen? Das sind Steuergelder, die unwiederbringlich weggehen für zum großen Teil blödsinnige Projekte.
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Dazu wurde auch noch ein Wiederaufbaufonds beschlossen von 750 Milliarden Euro, der uns bis ins Jahr 2058 hinein verschuldet. Und dabei dient er gar nicht dem Wiederaufbau, sondern er dient dem absurden Ziel des Green Deal. Wenn Sie wirklich etwas hätten machen wollen, um die Coronafolgen abzufedern, dann hätten Sie vielleicht auf den Angebotsschock eingehen müssen. Die Läden durften ja nicht öffnen. Die Friseure durften keine Dienstleistungen anbieten usw. Aber stützen Sie das Angebot damit? Nein. Man könnte auch fragen: Stützen Sie die Nachfrage damit? Auch Fehlanzeige.
Dieser sündteure Next Generation EU Fund dient ausschließlich den Lobbyinteressen. Er begünstigt große Champions – das ist ja typisch für französische Industriepolitik; da wären wir wieder bei Herrn Macron, nicht wahr, Frau Dr. Brantner? –, und der Kleine muss es zahlen. Der deutsche Steuerzahler bezahlt die wahnsinnigen Projekte. Ich muss sie „wahnsinnig“ nennen; denn der Green Deal ist ein wahnsinniges Projekt. Ursula von der Leyen hat den ja schon zu ihrem Programm erklärt, als sie ihr Amt angetreten hat, und hat 1 Billion Euro gefordert. Damals konnte kein vernünftiger Mensch sagen: Wir zahlen dafür 1 Billion Euro. – Aber jetzt mit Corona hat sie 750 Milliarden Euro bekommen, um die Europäische Union auf den Weg der Klimaneutralität zu führen durch Verbote von Verbrennungsmotoren und Heizsystemen. Ach ja: Die Stahlindustrie will sie auch dekarbonisieren. Wie, das weiß sie natürlich nicht. Aber das spielt ja auch in der Europäischen Union nur eine Nebenrolle.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, man sollte vielleicht nicht Politik mit den Halluzinationen eines Mädchens machen, das CO2-Partikel mit bloßem Auge erkennen kann,
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und dafür dann 750 Milliarden Euro aus dem Fenster werfen. Das sind die kompletten Rentenzahlungen von mehr als zwei Jahren in Deutschland. Unsere Rentner haben niedrige Renten, haben teilweise Armutsrenten und müssen zusehen, wie das Geld für irrsinnige Projekte aus dem Fenster geworfen wird. Das ist auch die Bilanz der ersten Hälfte der Ratspräsidentschaft der EU.
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Ihr Fokus ist allgemein komplett schief. Ich nehme jetzt einfach mal den Brexit als erstes Beispiel. Da kriegen Sie nichts hin. Der Grund dafür ist sehr einfach: Sie kommen aus der Stufe nicht heraus, dass Sie den Briten die ganze Zeit Vorwürfe machen. Sie werfen den Briten vor, sie wüssten nicht, was das Beste für ihr Land sei; sie seien außenpolitisch inkompetent. Vielleicht wäre mal ein bisschen Selbstreflexion angebracht. Nicht die Briten sind inkompetent. Es ist die Europäische Union, die in vielen Bereichen inkompetent ist
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und nicht sieht, wie sie die ganze Zeit in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreift.
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Dann legen Sie von der Bundesregierung noch was drauf und fordern ein soziales Europa. Sie wollen den Mitgliedstaaten vorschreiben, welche Mindestlöhne es geben muss und welche Mindestversorgung es geben muss. Das ist doch schon wieder ein Eingriff in die Souveränität. Da kann man wirklich nur davonlaufen; da muss man ja den Briten recht geben.
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Vor der Migrationspolitik, die die EU vorschlägt, muss man auch davonlaufen. Glauben Sie ganz ehrlich, dass das klappen wird mit den Paten? Wenn ein Land sozusagen keine Migranten aufnehmen will, dann soll es plötzlich Abschiebepate werden für ein anderes Land und soll die Abschiebung übernehmen. Ach wissen Sie, wie man Migrationspolitik eigentlich machen muss? Erstens: Grenze dicht. Zweitens: wörtliche Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Die ist Völkerrecht, und da steht drin: Ein Flüchtling darf eine Grenze überschreiten und keine weitere, und da ist er dann Flüchtling. – Man müsste es einfach umsetzen, komplett umsetzen, durchsetzen, Migranten zurückschieben, die das nicht beachtet haben, und das Problem wäre gelöst.
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Aber außenpolitisch haben Sie sowieso relativ wenig zu bieten. Sie fördern einen Despoten Erdogan; mit dem führen Sie ja noch weitere Verhandlungen. Sie gehen auf China ein und hoffen auf ein Investitionsschutzabkommen. Ja, wer es glaubt, wird selig, dass das die Kommunisten einhalten. Aber wehe, Polen schickt ein paar kommunistische Richter in die Rente. Dann gibt es ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren. Ja, das ist die Europäische Union. Sie haben nichts erreicht für die Bürger. Sie haben nichts erreicht für Deutschland, und Sie haben nichts erreicht für die Europäische Union. Für diese Ratspräsidentschaft Deutschlands muss man sich echt schämen.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Halbzeit. Die Halbzeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist keine Pause und kein Zeitfenster, um Kräfte zu sammeln, um etwas zu trinken oder um letzte Anweisungen der Trainerin zu erhalten. Die Halbzeit ist eine Zeit für eine Zwischenbilanz. Wir checken, ob wir auf dem richtigen Weg sind. So viele Begegnungen hatten wir uns vorgenommen, so viel Austausch, so viel lebendiges Europa.
({0})
Die Pandemie hat den persönlichen Begegnungen oft einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und doch empfinde ich den Auftrag, unser Europa in dieser Ratspräsidentschaft gut fortzuentwickeln, als persönlichen Auftrag für jede Demokratin und jeden Demokraten hier im Haus.
Ich habe nicht wie Axel Schäfer, Franziska Brantner oder Alexander Graf Lambsdorff praktische Erfahrungen im Europaparlament. Ich kann hier einfach nur biografisch auf Europa schauen. Ich bin Jahrgang 1960. Ich hatte uralte Eltern. Mein Vater war Jahrgang 1916, meine Mutter Jahrgang 1919; ein Haufen Kinder, keine Pille. Mein Vater ist im Ersten Weltkrieg geboren, er war im Zweiten Weltkrieg Soldat. Meine Mutter war Krankenschwester in deutschen Lazaretten in Frankreich. Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg. Die Generationen davor haben sich hier jahrhundertelang wegen allem Möglichen die Köpfe eingeschlagen.
Ich bin mit dem Friedensversprechen Europas großgeworden. Es war aber nicht so, dass man jeden Tag beim Mittagessen das Friedensversprechen Europas angesprochen hat. Da hieß es eher: Iss deinen Teller leer. – Wir wären froh gewesen, wir hätten etwas gehabt.
Nun ist es so, dass dieses Friedensversprechen alleine nicht mehr trägt. Wir müssen diesem Friedensversprechen noch etwas hinzufügen. Dieses Friedensversprechen trägt nicht mehr bei den Griechen in Südeuropa, die wir alleine lassen mit den großen Problemen.
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Wir müssen dem Friedensversprechen ein soziales Versprechen, ein Klimazielversprechen, ein Menschenrechtsversprechen und ein Rechtsstaatsversprechen hinzufügen.
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Auf der einen Seite stehen diese großen Worte, auf der anderen Seite hat man seine konkreten Arbeitsbereiche. Wenn ich meine Arbeitsbereiche hier im Haus anschaue, dann muss ich sagen, dass wir da schon einiges auf den Weg gebracht haben. Franziska Giffey
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hat zum Beispiel dem Thema „Gewalt an Frauen“ eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und schenkt dem noch immer besondere Aufmerksamkeit.
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Wenn ein Drittel der Frauen in Europa körperliche oder auch sexuelle Gewalt erlebt, ein Fünftel Opfer häuslicher Gewalt ist und über die Hälfte sexuell belästigt wurde, ist es gut, wenn die Bekämpfung von Gewalt an Frauen ein Arbeitsschwerpunkt ist. Am Ende unserer Ratspräsidentschaft werden wir eine europaweite Hotline haben, eine Telefonnummer, an die sich Frauen wenden können und die gerne auf allen Hygieneartikeln abgedruckt werden darf. So wird es sein.
Ich hoffe, die Ministerin schafft es, in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats die Programmatik der EU um den Punkt „unbezahlte Sorgearbeit“ zu erweitern. Das haben wir seit Beginn der Coronakrise alles gelernt. Es ist natürlich schwer: Auf der einen Seite wollen wir da vorangehen, und auf der anderen Seite haben wir Osteuropa, wo man irgendwie alles ausbremst, worin auch nur irgendwo das Wort „Gender“ vorkommt.
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Das kommt einem so vor, als würde Herr Orban, wenn er das Wort „Gender“ hört, gleich den Knoblauch an die Tür hängen aus Angst, der böse Vampir rammt ihm gleich die Zähne in den Hals. Das macht einfach dieses Projekt Europa auch furchtbar schwer. In Polen wollen sie das Abtreibungsrecht verschärfen, und Sexualaufklärung an Schulen verbieten. Verhütungsmittel dürfen nicht mehr an Unter-18-Jährige verschrieben werden. Das hat wirklich was mit unserer Wertegemeinschaft zu tun. Das dürfen wir so nicht durchgehen lassen.
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Noch eins: Ich sitze hier nicht auf dem hohen Ross und zeige nicht mit erhobenem Finger dort hinüber und darauf, wie schwer Frauen es da haben. Ich nehme auch zur Kenntnis, wie in Deutschland osteuropäische und südosteuropäische Frauen in Bordellen ausgebeutet werden und schwerste Menschenrechtsverletzungen erleiden. Auch das hat etwas mit Europa zu tun.
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Da müssen wir rangehen, und darüber müssen wir reden, jetzt vielleicht während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und auf jeden Fall auch danach.
Wir haben keine Pause in dieser Halbzeit. Wir schärfen unseren Blick und werden Stück für Stück dem Friedensversprechen Europas ein soziales Versprechen, ein Klimaversprechen, ein Menschenrechtsversprechen und ein Rechtsstaatlichkeitsversprechen hinzufügen. Daran lassen Sie uns bitte arbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, gibt es etwas Schöneres, als zu seinem Geburtstag hier eine Rede zu halten?
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Der nächste Redner ist unser Geburtstagskind des heutigen Tages: der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion.
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Lieber Thomas, du hast aber trotzdem nur fünf Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herzlichen Dank für die Glückwünsche! – Am 1. Juli dieses Jahres übernahm Deutschland die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union.
Die Aufgaben vor uns sind gewaltig; und sie verlangen gewaltige Anstrengungen. Sie brauchen eine parlamentarische Auseinandersetzung, sie brauchen politische Vermittlung, sie brauchen kulturelle Übersetzungen in die verschiedenen Länder und Regionen.
Mit diesen Worten erklärte die Bundeskanzlerin am 8. Juli 2020 in Brüssel die Maxime der deutschen Ratspräsidentschaft. Herr Kollege Seif, manchmal muss man sich an seine eigenen Worte auch erinnern.
Wo steht Europa denn heute nach drei Monaten? In Westminster torpediert Ministerpräsident Boris Johnson mit seiner Internal Market Bill einen völkerrechtlichen Vertrag und führt das engagierte Bemühen der EU ad absurdum. Wenn nach 2021 der Reisepass für die Einreise in das Vereinigte Königreich für EU-Bürger zur Pflicht werden soll, diskutiert das Königreich lieber über eine Brücke nach Nordirland als über eine vernünftige Lösung zwischen Iren und Nordiren. Zudem fragen sich zu Recht die Menschen: Was unternimmt Deutschland in dieser Situation?
Seit Wochen und Monaten demonstrieren Hunderttausende in Minsk für eine Zukunft in Freiheit, ohne Willkür und Gewalt. Ihr Blick richtet sich dabei auch nach Europa und Deutschland. Während die belarussische Oppositionspolitikerin Tichanowskaja von Russland auf die Fahndungsliste gesetzt wurde, darf sie sich hier bei ihrem Berlin-Besuch von der Bundeskanzlerin Hinweise geben lassen, wie denn die Lage in Belarus verändert werden kann, wie Belarus aus seiner eigenen Lage herauskommen könnte. Ihrer Bitte nach härteren EU-Sanktionen gegen ein Regime, das alte Frauen zusammenprügeln lässt und Journalisten aus dem Land wirft, kommt man dann aber doch nicht nach.
Diese Woche urteilte der EuGH, dass Ungarns Hochschulgesetz und der Bann der Central European University gegen Unionsrecht verstoßen. Das Europäische Parlament hat unmissverständlich klargemacht, dass Ungarns und Polens Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien endlich mit Sperrungen von EU-Mitteln zu ahnden sind. Ein schlagkräftiger Mechanismus, der mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit operiert, darf nicht beerdigt werden.
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Die Verantwortung, dies zu erreichen, liegt bei der Ratspräsidentschaft.
Bergkarabach, Hongkong, Moria – die Liste der Brennpunkte unserer Tage lässt sich beliebig fortsetzen, von den immensen Herausforderungen der Coronapandemie und der Klimakrise ganz zu schweigen. Und bei all diesen Problemen richtet sich der Blick nach Deutschland, auf die größte Volkswirtschaft Europas und den derzeitigen Ratspräsidenten. Die Menschen wollen wissen: Was kann und was macht Deutschland? In dieser Woche wäre die Gelegenheit gewesen, Antworten zu geben, Positionen zu erläutern und die parlamentarische Auseinandersetzung zu suchen – vergeblich!
Die Absage der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zwischen zwei Europäischen Räten ist unverständlich und eine vergebene Chance.
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Die Menschen draußen müssen genauso lange auf die Antworten warten wie die Mitglieder dieses Hauses. Wo ist die parlamentarische Auseinandersetzung? Wo ist die politische Vermittlung? Wo ist die kulturelle Übersetzung, die vor drei Monaten noch so wichtig war?
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Genau aus diesem Grund haben wir Freien Demokraten diese Aktuelle Stunde beantragt. Die Teilhabe an den europäischen Prozessen und die Fortschritte oder Verzögerungen der Arbeit der Bundesregierung gehören in die Mitte des Parlaments und nicht in den Europaausschuss.
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Lieber Kollege Hahn, die einstündige Diskussion mit der Bundeskanzlerin im nichtöffentlich tagenden Europaausschuss ist eben allenfalls nur für die wenigen besser, die dort dabei sein können. Die Kanzlerin hatte das sofort verstanden. Natürlich sind die Themen in Europa komplex, und Verhandlungen und Entscheidungen brauchen Vertrauen. Aber Europa braucht in diesen Zeiten vor allem auch Transparenz.
Die Menschen in unserem Land haben zu Recht Fragen zu den Entscheidungen, die auf europäischer Ebene und auf internationaler Ebene getroffen werden. Sie fragen sich: Warum dauert es so lange, bis die EU härtere Sanktionen gegen das Regime in Belarus verhängt, und warum kann Herr Lukaschenko immer noch auf seine Konten im Ausland zugreifen? Sie fragen sich: Warum dürfen Ungarn und Polen scheinbar machen, was sie wollen, als ob das Rechtsstaatsprinzip nur „nice to have“ wäre? Sie fragen sich: Warum scheitert Europa an einer klaren und einvernehmlichen Stimme in der Flüchtlingspolitik, die Menschlichkeit und Rechtsstaat in Einklang bringt?
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Die Menschen möchten verstehen, was gerade passiert. Diese Antworten dürfen wir ihnen nicht schuldig bleiben. Nur dann kann es uns gelingen, Europa gemeinsam weiterzuentwickeln. Wer es mit Europa ernst meint, der muss europapolitische Diskussionen auch in die öffentliche Wahrnehmung bringen. Nur so können wir die Menschen begeistern, sich aktiv an der Zukunft Europas zu beteiligen, auch an der bevorstehenden Konferenz zur Zukunft Europas.
Meine Bitte an die Bundeskanzlerin: Bitte vergessen Sie die selbst gewählte Maxime Ihrer Präsidentschaft nicht, und nehmen Sie die Menschen und uns auf diesem Prozess mit! Tragen Sie durch eine offene Debatte hier im Haus dazu bei, dass die Menschen in Deutschland Europa verstehen.
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Eine schöne Geburtstagsparty!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt haben wir ja heute schon viel über das Parlamentsrecht gehört und darüber, was man hier darf, was man nicht darf, wann man berichten darf, berichten muss oder nicht berichten muss. Ich finde es ja, ehrlich gesagt, schade, dass die Regeln hier in diesem Parlament vorsehen, dass nur die, die auf der anderen Seite des Rednerpultes sitzen, also die Zuhörenden, die Möglichkeit haben, Zwischenfragen zu stellen. Ich hätte Ihnen heute schon gern mal eine Frage gestellt,
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nämlich wie Sie auf die Idee mit dieser Aktuellen Stunde heute gekommen sind. Wie kommt man denn auf so eine Schnapsidee? Vielleicht ist Ihnen einfach nur nix Besseres eingefallen; das kann ja sein. Sie nennen sich immer gerne „Serviceopposition“. Es ist zwar echt nicht unsere Aufgabe, aber wenn Sie wirklich an so akuter Ideenlosigkeit leiden, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätten Sie uns halt fragen können. Wir hätten gerne im Sinne einer Art Servicekoalition – das ist wohl das Gegenstück zu einer Serviceopposition – mit sinnvollen Ideen für diese Aktuelle Stunde heute ausgeholfen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Freien Demokraten, wenn Sie sich jetzt hier schon aufregen:
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Ich hätte so eine Aktuelle Stunde, in der es eigentlich nur darum geht, dass man vielleicht die Kanzlerin irgendwo ein bisschen bloßstellt, den Kollegen noch ein Stück weiter rechts durchaus zugetraut. Bei Ihnen bin ich da doch ein bisschen enttäuscht. Offensichtlich finden aber nicht alle in Ihrer Fraktion das Thema so interessant. Ihr Herr Fraktionsvorsitzender hat sich ja schon vor über einer halben Stunde nach Hause verabschiedet.
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– Ja, es ist aber Ihre Aktuelle Stunde. Insofern würde ich schon davon ausgehen, dass ihn das auch interessiert. Aber dem ist offensichtlich nicht so.
Wie auch immer, Sie sind auch im Europaausschuss vertreten. Am Mittwoch in der Sitzung war die Kanzlerin zu Gast. Sie hat sachlich und aufschlussreich erklärt, warum es dieses Mal eben keine Regierungserklärung gibt. Aber auch da mache ich gerne für Sie die Servicekoalition und wiederhole das noch mal.
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Der Europäische Rat findet am 15. und 16. Oktober statt, nächste Woche. Jetzt haben wir nächste Woche keine Sitzungswoche. – Ja, das ist nun mal so. Auch bei den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich hat es noch keine Fortschritte gegeben, sodass man darüber jetzt berichten könnte. In der letzten Woche, in der Haushaltsrede, hat sie mehr als ausführlich auch zu all diesen Themen Stellung bezogen.
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Insofern weiß ich gar nicht, was man jetzt berichten soll. Das, was zu sagen ist, ist seit der letzten Woche gesagt; da hätten Sie vielleicht besser zuhören sollen. Neues gibt es in dieser Woche nicht.
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Ich frage mich wirklich, wie Sie zu dieser Aktuellen Stunde kommen.
Dann wollten Sie gerne noch über die Halbzeitbilanz der Ratspräsidentschaft reden. Auch das ist in der Ausschusssitzung schon mehr als ausführlich thematisiert worden.
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Da hätten Sie durchaus besser zuhören können; dann hätten wir uns die Aktuelle Stunde erspart. Aber auch da helfen wir Ihnen natürlich immer gerne auf die Sprünge.
Ich glaube, die Halbzeitbilanz kann sich trotz der coronabedingt zahlreichen zusätzlichen Themen und der Einschränkungen, die coronabedingt nach wie vor gelten, durchaus sehen lassen. Wir haben schon im Juli mit den Staats- und Regierungschefs eine sehr gute Grundlage für die Fortschritte beim Corona-Aufbaufonds und im EU-Haushalt gebildet. Die deutsche Ratspräsidentschaft setzt alles daran, dass das Paket so zügig wie möglich abgeschlossen werden kann, und begleitet seit Ende August die trilateralen Gespräche zwischen Rat, Parlament und Kommission, damit der Aufbaufonds und der Haushalt wie geplant im nächsten Jahr in Kraft treten können.
Zudem haben wir im September sehr wichtige Vorstöße unternommen. Zum Beispiel gibt es beim Thema „Migration und Asyl“ jetzt den neuen gemeinsamen Ansatz, dass die Erstaufnahmeländer effizienter entlastet werden und die Zusammenarbeit mit den Nicht-EU-Ländern in Migrationsfragen verbessert wird. Die Palette der Themen, mit denen wir uns beschäftigen, ist umfangreich: Sie reicht vom Klimaschutz über die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich bis hin zu den zahlreichen außenpolitischen Fragen, der finanziellen Ausstattung, der Bewältigung der Coronakrise usw., usf.
Die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft und damit an die Kanzlerin bleiben groß. Es ist immer wieder die Rede davon, dass unsere Kanzlerin wohl die Einzige ist, die die Europäische Union durch die jetzt härteste Bewährungsprobe lotsen kann und die Ordnung in das unübersichtliche Krisenwirrwarr bringt.
Deswegen würde ich zum Schluss gerne noch mal an Sie alle appellieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben ein Motto in der europäischen Ratspräsidentschaft: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“. Gemäß diesem Motto, finde ich, sollten wir zusammenarbeiten, in der schwierigen Zeit an einem Strang ziehen und uns nicht in solchen Aktuellen Stunden, wie wir sie gerade durchführen, gegenseitig aufreiben; denn ich glaube, die Energie können wir für andere Dinge besser gebrauchen.
Danke schön.
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Der Kollege Christian Petry macht sich bereit, und nach einer kleinen Desinfektionsrunde geht es schon weiter.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ – Kollegin Staffler hat das Motto genannt – ist ein Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft, für das es sich wirklich lohnt, Politik zu machen. Und obwohl wir uns alle fragen, ob dies die sinnvollste Aktuelle Stunde ist und ob es nicht andere Themen gäbe, die man behandeln kann, sind wir nun hier und können uns mit diesem Thema auseinandersetzen; denn die deutsche Ratspräsidentschaft ist – das zeigt ihre Halbzeitbilanz – sehr erfolgreich.
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An dieser Stelle möchte ich auch einen Dank an diejenigen aussprechen, die das trotz Corona bewerkstelligen müssen. Das sind zunächst selbstverständlich die Vertreterinnen und Vertreter unserer Bundesregierung mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, an der obersten Stelle Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz. Die haben mit den Fachministerinnen und Fachministern tatsächlich bereits sehr viel erreicht; ich werde gleich darauf eingehen. Ich möchte natürlich auch dem Präsidenten, in Vertretung Herrn Friedrich, danken, dass wir unser parlamentarisches Programm trotz der organisatorischen Schwierigkeiten, die wir durch Covid-19 haben, unter erschwerten Bedingungen durchführen können, dass wir Konferenzen durchführen und unsere Beiträge leisten können. Auch hierfür einen ganz herzlichen Dank an all diejenigen, die dies bewerkstelligen!
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Es ist vieles erreicht worden. Wir haben als Startschuss einen Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen erreicht. Das war vorher über mehrere Jahre nicht möglich. Es ist nicht ungewöhnlich, dass das immer kurz vor Toresschluss kommt. Der Vorschlag liegt nun beim Europäischen Parlament. Die Schwierigkeiten sind genannt worden, aber der Vorschlag ist da.
Jetzt kann man natürlich sagen: Bei dem einen gibt es zu wenig, bei dem anderen zu viel. – Das ist ganz normal. Man kann auch ursprüngliche Vorschläge oder das, was im letzten Finanzrahmen enthalten war, als Bezugspunkt nehmen; je nachdem gibt es eine Steigerung oder keine Steigerung. Das sind die typischen politischen Bewertungen, die legitim sind und mit denen wir uns auseinandersetzen. Jeder hat seine Schwerpunkte, wo er sagen würde: Da will ich mehr. – Das wird im Europäischen Parlament nun sehr stark verhandelt. Dort spielt das Thema Rechtsstaatlichkeit selbstverständlich eine exponierte Rolle.
Ich bin nicht so pessimistisch bei dem Vorschlag, der auf dem Tisch liegt. Mehr geht immer – ganz klar –; ich habe auch gar nichts dagegen. Aber der Fuß ist in der Tür, und zwar sehr stark. Die müssen wir offen halten und die Möglichkeiten nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Beim Thema Brexit haben wir das Trauerspiel auf der britischen Seite, das wir die ganze Zeit haben; das muss man sagen. Herrn Barnier und der Europäischen Union ist es gelungen, Geschlossenheit zu wahren; das ist unwahrscheinlich wichtig, auch in der jetzigen schwierigen Phase. Auch das ist ein Signal während der deutschen Ratspräsidentschaft: dass die Europäische Union geschlossen auftritt, wenn es darum geht, die Werte der Europäischen Union, die Freizügigkeit in der Europäischen Union, den Binnenmarkt in der Europäischen Union zu schützen und damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Frieden und Wohlstand in unserem Land zu sichern. Das ist eine Grundvoraussetzung.
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Dazu leisten die Europäischen Union und die deutsche Ratspräsidentschaft einen großen Beitrag.
Diese elendige Nettozahlerdebatte ist wirklich furchtbar.
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Da zahlt man auf der einen Seite 40 Milliarden Euro und verschweigt, dass die Volkswirtschaft auf der anderen Seite 120 Milliarden Euro im Jahr gutmacht.
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Das verschweigt man! Man belügt die Bevölkerung wissentlich!
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– Ich hoffe, Herr Kleinwächter, dass Sie vollkommen genesen sind. Ich habe eben Ihre Rede gehört. Also, mein lieber Mann! Was Sie hier alles von sich gegeben haben, das ist natürlich hanebüchen.
Wir haben noch viel mehr Positionen. Wir haben die Transformation des Binnenmarkts vor uns.
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Es geht um den Schutz im Welthandel. Es gibt dazu auch mit dem Wiederaufbaufonds und zu den Eigenmitteln durchaus interessante Vorschläge,
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die wir ernsthaft diskutieren müssen, zum Beispiel die Carbon Border Tax, die man auch als Außenwirtschaftsteuer bezeichnen kann. Kann die ein Instrumentarium sein, unsere Wirtschaft vor Produkten zu schützen, die nicht unsere Standards bei der Nachhaltigkeit oder die sozialen Standards erfüllen? Ist das eine Möglichkeit? Die Chance, darüber zu reden, müssen wir in der Debatte nutzen. Das ist doch die Gelegenheit, die wir haben.
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Wir haben noch viele andere Themen. Es ist erreicht worden, dass bei der Digitalisierung 20 Prozent der Mittel ausgegeben werden müssen, damit wir dort wieder in die Position des Marktführers kommen. Aber wir haben auch in der Afrika- und der Chinapolitik die Pflöcke gesetzt und werden das weiter tun. Das sind ganz wichtige Themen.
Es gibt Krisen, die wir in der Zeit, in der wir die deutsche Ratspräsidentschaft innehaben, behandeln. Sie sind alle genannt worden: Belarus, Bergkarabach – das kommt jetzt noch dazu –, östliches Mittelmeer; die ganzen bestehenden Krisen machen es ja nicht einfacher. Hier bin ich Außenminister Heiko Maas wirklich dankbar, dass wir hier sehr besonnen und sehr gut agieren können.
Also: Ein ganz bunter Strauß an Themen in der Halbzeitbilanz. Ich sehe eine erfolgreiche Halbzeitbilanz. Ich wünsche mir, dass dies selbstverständlich in der zweiten Hälfte dann erfolgreich abgeschlossen werden kann. Denn das Ziel „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ werden wir erreichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glück auf!
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Vielen Dank. – Wir kommen zur letzten Rednerin der Aktuellen Stunde: die Kollegin Dr. Saskia Ludwig, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte FDP, die Partei der Freiheit und der großen Diplomatie – ich denke da an Herrn Genscher – will mit dem Holzhammer anstatt mit dem Florett beim Thema Rechtsstaatlichkeit vorgehen. Das finde ich schon spannend.
Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen, in einer Familie, die mir Respekt vor anderen Lebensentwürfen beigebracht hat und Mut, für das Richtige einzustehen – und das zu einer Zeit, wo es wirklich gefährlich war, eine eigene Meinung jenseits der offiziellen Verlautbarungen zu haben, einer Zeit, wo allein die Äußerung des Wunsches, andere Länder außer sozialistische sehen zu wollen, dazu führte, nicht das studieren zu können, was man gern wollte.
1982 – da war ich 14 Jahre alt – wurde Helmut Kohl, später Kanzler der Einheit, Bundeskanzler. 1986 – da war ich gerade 18 – traten Spanien und Portugal der Europäischen Gemeinschaft bei. Und schon damals, als Jugendliche, wollte ich gerne Teil dieses freien und rechtsstaatlichen Europas sein.
Ich war 21, als Außenminister Genscher damals in der Botschaft in der Tschechei verkündet hat, dass die diejenigen, die in Freiheit gehen wollten, ausreisen durften. Und wir wissen, dass das der Anfang vom Ende der DDR war. Dafür bin ich Herrn Genscher auch heute noch sehr, sehr dankbar.
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Ich freue mich auch, dass der FDP hier im Haus zu wenig über Europa geredet wird. Ich möchte nicht alles wiederholen, was meine Kollegen zu Recht im Vorfeld gesagt haben. Ich begreife die Aktuelle Stunde zu Europa nicht als Pflichtveranstaltung, sondern gerade als eine echte Gelegenheit. Auch wenn ich die letzte Rednerin zum letzten Tagesordnungspunkt bin, ist es doch meine erste Rede in diesem Hohen Haus.
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Insofern erlauben Sie mir einen etwas anderen Blick auf die Debatte. Ich möchte Europa eher aus meinem Wahlkreis heraus betrachten. Ich weiß nämlich, nachdem ich mit vielen diskutiert habe, dass die Menschen gerade im 30. Jahr der Wiedervereinigung wirklich Europa leben und erleben möchten. Und das gehörte zu jenen Freiheitsträumen, die wir damals, 1989/90, hatten. Wir haben dieses neue Europa in den ersten Jahren voller Hoffnung gewollt und begrüßt.
Dazu gehörte durchaus auch die Osterweiterung der EU. Gerade Polen und die damalige CSSR waren für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR von sehr großer Bedeutung – und nicht zu vergessen die besondere Bedeutung Ungarns bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs.
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Es wird relativ wenig daran erinnert, was für eine große Leistung auch gerade die karitativen Organisationen damals in Ungarn leisteten. Ich weiß es nämlich persönlich, weil die Malteser mich damals empfangen haben, als ich es noch vor dem Mauerfall geschafft hatte, in Ungarn anzukommen. Natürlich war es aus heutiger Sicht völlig richtig und notwendig, dass diese Länder im Zuge des EU-Beitritts erhebliche Hilfen und Unterstützung erhalten haben.
Gerade als Bürgerin aus den neuen Bundesländern habe ich allerdings in den vergangenen Jahren mit einigem Unbehagen die politischen Entwicklungen in Europa verfolgt.
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Wir haben – neben dem Brexit – leider auch so einige Skepsis gegenüber der jetzigen EU bei unseren östlichen Freunden hervorgerufen. Antwort darauf sollte aber nicht finanzielle Erpressung sein, sondern Vertragstreue und Diplomatie. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, ein weiteres Verschärfen des Tones wird garantiert nicht zu einem guten Ergebnis führen.
Gerade in Krisenzeiten – wie ganz aktuell – brauchen wir ein starkes und gemeinschaftlich agierendes Europa. Wir müssen den Menschen gerade in diesen Zeiten die Vorteile der EU aufzeigen und dürfen nicht wie die Linken agieren. Ich glaube, einer von ihnen ist gerade noch da. Schön, dass Sie noch bis zum Ende durchhalten! Schönen Gruß an die Kollegen und an Herrn Dehm!
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Mit Sozialismus sollten wir den Leuten jetzt gerade weiß Gott nicht Angst machen. Vielmehr gehört dazu, dass wir die regionalen Sorgen und Nöte unserer Bürger in die europäischen Institutionen tragen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Diejenigen, die Sparsamkeit anmahnen, sollten wir nicht „geizige Vier“ nennen. Und dass die Linken sich jetzt hier als die Gralshüter der Demokratie aufspielen, obwohl sie uns vor über 30 Jahren eingebrockt haben, dass wir auch heute noch finanzielle Lasten zu tragen haben, finde ich hoch erstaunlich.
Wie wird Europa in meinem Wahlkreis sichtbar? An die AfD: Es gibt weiß Gott nicht nur diese abstrusen Projekte, von denen Sie sprechen. Ich möchte Ihnen nur mal zwei nennen, wo Europa wahnsinnig wichtig ist:
Erstes Beispiel: das Thema Umwelt- und Klimaschutz, ganz konkret die Wasserknappheit. Ich habe bei mir im Wahlkreis den Seddiner See, der einen dramatisch gesunkenen Wasserspiegel hat. Nach Expertenaussagen fehlen dem Gewässer circa 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser, und das allein durch die hohe Verdunstung in den letzten drei Jahren. Wir haben in Brandenburg Seen, die hauptsächlich vom Grundwasser gespeist sind. Das macht das eigentliche Problem deutlich, das sich damit verbindet, dass wir eine extreme Absenkung des Wasserspiegels haben.
Die Wasserknappheit ist zwar jeweils ein regionales Thema, aber wir können es nur europäisch lösen. Nur gemeinsam können wir dieses existenzielle Problem angehen, und hierfür brauchen wir die EU.
Zweites Beispiel: die Entwicklung der Region Lausitz. Wir haben endlich einen Kohlekompromiss: Kohleausstieg bis 2038, verbunden mit den CO2-Zielen der EU. Was aber unlauter ist und wieder Verunsicherung bringt, ist die Debatte, die jetzt vonseiten der Grünen aufgemacht wird, nämlich diesen Kompromiss wieder aufschnüren zu wollen und über den Kohleausstieg 2030 zu debattieren. Das ist unlauter. Die Strukturmittel und auch die Zeit bis 2038 brauchen wir für den Strukturwandel und auch für die Sicherheit der Arbeitsplätze vor Ort. Auch das ist eine gemeinsame Kraftanstrengung, die wir allein nicht schaffen, sondern nur mit der EU zusammen. Dafür brauchen wir die EU. – Alle Themen, die ich genannt habe, wurden und werden übrigens auch im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft angesprochen und geklärt.
Nicht zu vergessen ist die gelebte Menschlichkeit.
Letzter Satz.
Erlauben Sie mir noch eine kleine Anmerkung. – Ob die Oderflut in Brandenburg, das Erdbeben in Griechenland – man vergisst es manchmal – oder jetzt aktuell die medizinische Betreuung von französischen Coronapatienten: Wir helfen einander, wir respektieren unsere Ansichten, wir sind ein Europa. Und nur so funktioniert Partnerschaft.
Europa ist eine Notwendigkeit, nicht immer geliebt, aber die richtige Antwort auf jetzige und zukünftige Herausforderungen. Und ich bin froh, dass Deutschland in dieser herausfordernden Zeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Vielen Dank.
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Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin, zu Ihrer ersten Rede! Ich weise darauf hin, dass es den Zeitzuschlag nur bei der ersten Rede gibt.
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