Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute ein wichtiges Gesetz, das eine der Konsequenzen ist, die wir noch immer aus der letzten großen Finanzkrise ziehen. Denn tatsächlich ist es ja so gekommen, dass wir nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers und den damit verbundenen Folgen immer wieder Gesetze und Regelungen in Europa und in Deutschland auf den Weg gebracht haben, deren wichtigstes Ziel es gewesen ist, dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger besser geschützt werden und dass nicht immer die Steuerzahler aufgerufen sind, wenn im Bereich der Banken und Finanzwirtschaft etwas falsch läuft. Dieses Gesetz dient ebenfalls diesem Ziel.
({0})
Es geht jetzt ganz konkret darum, dass wir zum Beispiel im Rahmen der europäischen Debatte durchgesetzt haben und jetzt auch für uns nachvollziehen, dass es einen Verlustpuffer geben muss von mindestens 8 Prozent der Bilanzsumme, damit die Banken im Krisenfall gut vorbereitet sind. Das war – das kann ich Ihnen hier berichten, und das haben viele verfolgt – eine sehr umstrittene Sache. Viele haben sich Regelungen mit geringeren Quoten und weniger intensive Schutzmaßnahmen vorgestellt. Ich glaube aber, dass es unbedingt notwendig ist, dass wir genau das jetzt tun. Denn das ist ja eine der großen Lehren aus der Finanzkrise: Immer dann, wenn man in guten Zeiten denkt, man habe gewissermaßen genügend Spielraum und es müsse nicht so streng hingeschaut werden, merkt man in der nächsten Krise, dass man sich geirrt hat. Deshalb ist es richtig, dass wir das tun und auch jetzt, wo wir eine anders motivierte Krise haben, weiter daran festhalten. Wir müssen die Banken sicherer machen; das hilft auch in der jetzigen Wirtschaftskrise.
({1})
Darüber hinaus geht es natürlich darum, dass wir dafür Sorge tragen, dass im Bankensektor keine Geschäfte organisiert werden, die die Kundinnen und Kunden dieser Banken nicht gut verstehen. Es ist deshalb wichtig, dass wir auch die Fragen des Anlegerschutzes bei dieser Gelegenheit mit bedenken. Ich will ausdrücklich sagen, dass die Regelung, die wir hier vorschreiben, dass es bei bestimmten Anleihen eine Stückelung von mindestens 50 000 Euro geben muss, ganz, ganz wichtig ist. Es ist wichtig, dass wir das auch nicht auf einzelne Sektoren beschränken, sondern dass wir das umfassend regeln, auch ein bisschen über die europäische Richtlinie hinaus.
Aber es ist eine Maßnahme, weil ganz viele denken, was sie da hätten, sei so was Ähnliches wie ein Sparbuch und ganz sicher und in jeder Krise abgesichert. Tatsächlich gilt das für bestimmte eigenkapitalähnliche Beteiligungen aber nicht. Die werden aber trotzdem an viele verkauft, die das überhaupt nicht verstehen und sich in einer Krise dann wundern. Deshalb ist es notwendig, diesen Schutz der Verbraucher jetzt mit zu beschließen. Ich bin froh, dass das im Gesetz mit enthalten ist.
({2})
Meine Damen und Herren, im Übrigen ist das ja auch eine Maßnahme, die dazu beiträgt, dass der Bankensektor sicherer wird. Denn wenn man es erst einmal zugelassen hat, dass ganz viele Bankkunden gewissermaßen fast mit eigenkapitalähnlichen Strukturen beteiligt sind, dann entsteht ein großer Druck, nicht so streng hinzusehen. Das sehen wir in vielen anderen Ländern, und deshalb ist für mich ganz wichtig, dass wir diese Präzision hier zustande bringen. Es wird viele Bürgerinnen und Bürger schützen, sodass sie keine ungeeigneten Finanzprodukte erwerben.
({3})
Mit diesem Paket verbunden ist darüber hinaus, dass wir zielgerichtet kleine und mittlere Banken entlasten; auch dafür haben wir uns in Europa eingesetzt. Das war ein lange bestehender Wunsch, der immer wieder geäußert worden ist und der mit dieser Regelung jetzt umgesetzt wird. Wir werden kleine Banken von allzu viel Regulierung entlasten. Auch das ist ein wichtiger Schritt nach vorne.
({4})
Und – das will ich zum Schluss sagen –: Die Arbeit hört niemals auf. Ich bin deshalb sehr froh, dass wir uns gestern in der Bundesregierung unterhalten und unter den zuständigen Ministern darauf verständigt haben, ein Paket auf den Weg zu bringen, das zum Beispiel dafür sorgt, dass Bilanzierungsvorschriften verändert werden, dass Wirtschaftsprüfergesellschaften ganz anders agieren müssen, als das heute der Fall ist. Das sollten wir uns auch merken: Es ist niemals zu Ende. Wir müssen immer wieder dafür sorgen, dass wir ein ganz sicheres Finanzsystem haben, und das wird dauerhaft unsere Aufgabe bleiben.
Schönen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bruno Hollnagel, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt die Auffassung, dass europaweit agierende Banken einer europaweit einheitlichen Gesetzgebung unterliegen müssten. Dabei stelle ich mir die Frage: Und was ist mit weltweit operierenden Banken? Müssten die dann nicht ebenfalls einem detaillierten supranationalen Bankenrecht unterliegen, das weit über den geografischen Geltungsbereich von Basel III hinausreicht und zum Beispiel dezidiert Eigenkapitalanforderungen vorschreibt? Würden dem die USA oder China zustimmen? Die Antwort: Nein. Und dennoch funktioniert weltweit der Bankenhandel. Es reichen also offenbar Rahmenbedingungen aus.
Was ist aber das eigentliche Problem? Der siebte Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität stellt fest: Erstens. Banken stehen unter Druck. Der Grund: die tiefen Zinsen. Zweitens. Das Risiko bei Krediten ist insgesamt gestiegen. Drittens. Immobilien in Städten sind überbewertet.
({0})
Zusammengefasst: Die Risiken steigen.
Nun ist klar, dass Kreditzinsen, die die Banken erheben, sowohl die Kosten als auch die Risiken beinhalten müssten. Steigen also, wie beschrieben, die Risiken, müssen auch die Zinsen steigen. Das ist aber nicht der Fall. Der Grund ist das Zinsdiktat der EZB. Dieses Zinsdiktat der EZB ergibt sich aus den Leitzinsen und den gigantischen Anleihekäufen, die die EZB praktisch in eine monopolartige Stellung hineinbringen und es ihr ermöglichen, den Zins zu diktieren. Das Zinsdiktat der EZB lässt den Banken keinen Spielraum für risikoadäquate Zinsen.
({1})
Und es geschieht etwas ganz Perfides: Durch die Negativzinsen zwingt die EZB die Banken in Geschäftsrisiken, die nicht durch die Zinshöhe gedeckt sind. Außerdem sollen nach EU-Verordnung mit weniger Eigenkapital mehr Kredite besichert werden, obwohl das Risiko steigt. Das heißt also: Mehr und gestiegene Risiken sollen mit weniger Sicherheiten gedeckt werden. Meine Damen und Herren, das kann auf Dauer nicht funktionieren. Das muss scheitern.
({2})
Das hier zu verabschiedende Gesetz kaschiert nichts weiter als die verfehlte Politik. Sie stellt Banken vor nicht lösbare Probleme.
Das geplante Gesetz hat weitere Mängel:
Erstens. Die Risiken von Staatsanleihen werden nicht sachgerecht bewertet. Angeblich ist ein Ausfall von Staatskrediten nicht möglich.
Zweitens. Die Mithaftung deutscher Banken für ausländische Banken ist nicht ausgeschlossen.
Drittens. Der Abwicklungsfonds ist zu klein, um seine Aufgaben zu erfüllen, nämlich im Falle des Falles die Steuerzahler zu schonen.
Viertens. Einlagen bei Banken sind quasi Kredite, die nicht risikoadäquat verzinst werden.
Fünftens. Wir haben es mit verschiedenen widersprüchlichen Positionen zu tun. Einerseits sollen die Kapitalanforderungen für Banken gesenkt werden, damit sie mehr Kredite vergeben. Andererseits sollen die Kapitalanforderungen zum Beispiel durch Basel III erhöht werden, um Banken krisenfester zu machen. Hier sollte zuerst einmal klargestellt werden, welche Position eigentlich die maßgebliche ist, bevor hier Gesetze verabschiedet werden sollen.
Generell ist zu bedenken, dass einheitliche Standards die Verantwortlichkeiten auf eine höhere Ebene delegieren und schon ein einziger Mangel dieses Einheitssystem zum Kollabieren bringen kann. Deswegen fordern wir eigenverantwortliches Handeln. Die Bankenaufsicht gehört in nationale Hände. Wir wollen Vielfalt und Wettbewerb statt Einförmigkeit und Zentralismus.
Danke schön.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen heute das Gesetz zur Reduzierung von Risiken und zur Stärkung der Proportionalität im Bankensektor in das Parlament ein und diskutieren darüber. Wir sollten uns in dieser Debatte auf das konzentrieren, was in dem Gesetz geregelt ist, und nicht abschweifen in Allgemeinplätze, wie wir es gerade erfahren haben.
({0})
Dass die Regulierung der letzten Jahre erfolgreich war, erleben wir in der Coronapandemie, indem wir jetzt die Puffer flexibel handhaben konnten und die Banken stabilisiert haben. Darum können wir bei aller Kritik, die, glaube ich, jede Fraktion im Detail haben kann, sagen: Die Regulierung der letzten Jahre war erfolgreich. Die Finanzplätze sind stabil. Das ist ein Verdienst unserer Politik.
({1})
Wir müssen, wenn dann die Pandemie überwunden ist, dazu kommen, auch zu überprüfen, was gelockert wurde und was von den Lockerungen beibehalten werden soll, was Überregulierung war und wo wir zurückdrehen müssen. Für die Zeit nach der Pandemie ist meine Bitte an das Bundesfinanzministerium, sich diesem Weg nicht zu verschließen.
Ansonsten geht es um die Reduzierung der Risiken und die Stärkung der Proportionalität. Bei der Proportionalität haben wir noch Luft nach oben.
({2})
Herr Finanzminister, hier sollten wir im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren entsprechend nachbessern.
({3})
Wir haben auf europäischer Ebene erfolgreich durchgesetzt, dass die Förderbanken herausgenommen wurden. Wenn wir es geschafft haben, die Förderbanken, die Landesförderbanken herauszunehmen, und wenn wir es geschafft haben, die Rentenbank herauszunehmen, dann sollten wir die entsprechenden Erleichterungen auch national weitergeben, wie zum Beispiel bei den Offenlegungspflichten. Förderbanken, die sich nicht am Markt finanzieren, brauchen solche Pflichten nicht. Ich denke, hier muss nachgesteuert werden.
({4})
Bei den Kapitalanforderungen ist das Ziel, hier dann auch das harte Kernkapital zu haben. Meine Damen und Herren, den Ruf nach dem Gesetzgeber, Level-3-Gesetzgebung auf europäischer Ebene zu torpedieren, finde ich zumindest bemerkenswert. Wir sollten hier den Weg nicht verschließen, aber gleichzeitig auch hier die Proportionalität hineinbringen. Ich kann mir vorstellen, dass die Anforderungen an kleine Banken andere sind als an große Banken. Das sollten wir im Rahmen der Gesetzgebung entsprechend erörtern.
({5})
Wo ich schon ein wenig nachfragen möchte, ist die Eignungsprüfung durch die Bank selber. Zukünftig ist nach dem Gesetzentwurf vorgesehen, dass die Bank selber prüfen soll, inwieweit Verwaltungsräte, inwieweit Aufsichtsräte geeignet sind, die Beaufsichtigung der Bank zu übernehmen.
({6})
Um die Compliance richtig zu verstehen, sollte man doch die Frage stellen: Ist es denn notwendig, dass diejenigen, die beaufsichtigt werden, diejenigen sind, die dann entsprechend prüfen? Ich glaube, hier bestehen noch Nachbesserungsbedarf und Klärungsbedarf – ebenso bei dem Thema der Organkredite. Meine Damen und Herren, wir als Abgeordnete kennen zwar die PEPP-Thematik – das wird entsprechend ausgeweitet –, aber dass das jetzt in dieser Breite auch in die Banken getragen werden soll, halte ich in der jetzigen Frage für nicht angezeigt.
({7})
Bei dem Thema der Einlagensicherung brauchen wir einen verlässlichen Rahmen, wo wir wissen, wie das BMF, wie die BaFin zukünftig argumentieren und arbeiten werden. Aber ich glaube nicht, dass wir als Parlament darüber entscheiden sollen, wann eine Einlagensicherung im Konkreten handlungsfähig ist, und wir sollten uns auch dem entziehen. Dort, wo Politik gemacht wird – aus den Verbänden heraus gegenüber den eigenen Trägern, gegenüber den Banken –, sollten wir für Objektivität sorgen und für sonst nichts.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Stückelung mit Blick auf Kleinanleger sagen. Herr Minister, Sie haben gesagt, der Verbraucherschutz sei wichtig. Das ist richtig in diesem Zusammenhang. Aber die Mindeststückelung von 50 000 Euro im Bereich der Kleinanleger erscheint mir übertrieben. Gerade bei kleinen Banken wie zum Beispiel bei der UmweltBank würde es dazu führen, dass überhaupt keine entsprechenden Produkte, Genussscheine, mehr ausgegeben werden können. Hier sollten wir die Grenze von 50 000 Euro überdenken. Ich denke, eine solche Grenze ist nicht geeignet, um hier den entsprechenden Verbraucherschutz zu gewährleisten. Vielmehr sollte der Verbraucherschutz in dem Gesetz geregelt werden, wo er hingehört.
({8})
Lassen Sie uns jetzt in der Anhörung diese Fragen klären. Lassen Sie uns in das Gesetzgebungsverfahren eintreten. Lassen Sie uns über das Gesetz reden, so wie es ist, und ansonsten zukünftig die Bankenregulierung dort begleiten, wo es sinnvoll ist und notwendig, und nicht regelmäßig mit alten Kamellen ein aktuelles Gesetz begleiten.
Besten Dank.
({9})
Dr. Florian Toncar, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausweislich seines Titels soll das Gesetz die Risiken im Bankensektor reduzieren und den Gedanken der Proportionalität stärken. Natürlich haben wir dabei sehr viel Finanzmarkttechnik, sehr viel Umsetzung europäischen Rechts, und dem werden wir uns natürlich hier auch gar nicht versperren. Trotzdem bin ich der Meinung, dass beide vorgeblichen Ziele, die Reduzierung von Risiken und die Stärkung der Proportionalität, durch Ihre Politik nicht erreicht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Herr Radwan, Sie von der CSU als Teil der Regierungskoalition haben es ein bisschen diplomatischer ausgedrückt und gesagt: Bei der Proportionalität ist noch Luft nach oben. – Da ist natürlich noch sehr, sehr viel Luft nach oben; denn das, was wir hier finden, ist reine Proportionalitätslyrik. Bei den Instituten, bei den Banken wird nichts davon ankommen. Das bedeutet, dass oft gerade die kleineren und mittelgroßen Banken Anforderungen erfüllen müssen, die eigentlich für große Banken gedacht sind. Das ist ein Eingriff in den fairen Wettbewerb und die Chancengleichheit. Genau deshalb darf Proportionalität nicht nur auf dem Papier stehen, sondern muss auch umgesetzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir schlagen vor, dass man drei bis vier Größenklassen, Kategorien für Banken klar definiert und dann zuordnet. Die kleinsten müssen ganz wenige Anforderungen erfüllen, und dann steigert man das mit jeder Größenklasse so lange, bis man das volle Programm erst bei den wirklich global tätigen, systemrelevanten Großbanken anwendet. Nur wenn man klare Kategorien schafft, kann Proportionalität auch funktionieren.
({2})
Im Übrigen sind einige Ihrer Regelungen genau das Gegenteil von Proportionalität. Dann betreiben Sie wieder sogenanntes Gold-Plating. Also, Sie tun mehr, als die europäischen Richtlinien verlangen. Ich will Organkredite als Beispiel herausgreifen, also Kredite, die Banken vergeben an Personen, die verwandt sind zum Beispiel mit Mitarbeitern der Bank, mit Geschäftsführern der Bank. Den Begriff „Organkredite“ weiten Sie dramatisch aus, und ich sage voraus, Herr Minister Scholz: Das wird ja vor allem bei den Banken, die sehr viel kleines Geschäft machen, zum Beispiel bei den Sparkassen und den Volksbanken, ein ganz besonders großes Thema werden. Die werden sich am schwersten damit tun, das umzusetzen, was Sie vorschlagen. Das ist nicht Proportionalität, das ist Antiproportionalität, was Sie hier in Ihrem Gesetz vorschlagen, das Sie eingebracht haben.
({3})
Ich glaube, wir bräuchten insgesamt weniger Detailsteuerung, was Organkredite oder die Frage angeht, in welcher Stückelung man Verbrauchern was anbieten darf. Wir bräuchten eher ein klares Rahmenwerk mit Kapitalregeln, an die sich jeder halten muss, die angemessen sind, und mit klaren Abwicklungsregeln, die sicherstellen, dass gescheiterte Banken auch wirklich vom Markt verschwinden und nicht wieder gerettet werden müssen. Genau das ist übrigens dann auch das, was Risiken reduziert und nicht erhöht.
In diesem Sinne sehen wir vieles, was Sie da reingeschrieben haben, in Bezug auf die Umsetzung skeptisch und glauben vor allem, dass wir im Grundsatz eigentlich einen anderen Ansatz bei der Regulierung von Banken brauchen: einen besseren Rahmen, der sicherstellt, dass Banken für ihre Kunden Werte schaffen und gute Leistungen abliefern, aber weniger staatliche Detailsteuerung, vor allem wenn sie bei den kleinen Banken auch noch besonders hart zuschlägt, so wie das auch mit diesem Gesetz leider weitergehen wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Jörg Cezanne, Die Linke, hat jetzt das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bei fast allen Versuchen der letzten Jahre, das Risiko, das von den Finanzmärkten ausgeht, in den Griff zu bekommen, gilt auch für das vorliegende Gesetz: Es ist im Einzelnen nicht falsch, aber es leitet nicht den notwendigen grundlegenden Richtungswechsel ein. Das genügt nicht.
({0})
Großbanken sind immer noch zu groß und zu vernetzt, als dass sie im Fall einer Krise pleitegehen könnten. Ihre Pleite würde eine Kettenreaktion auslösen; Steuergelder würden wieder verwendet werden, um sie zu retten. Der Ansatz, diese internationalen Geschäftsbanken sollen, salopp gesprochen, einfach mal ein paar Euro mehr auf die hohe Kante legen, damit sie in der Krise auch ohne Steuergeld abgewickelt werden können, ist unrealistisch. Es ist der falsche Weg.
({1})
Viel wichtiger wäre es, die riskanten Geschäfte, die solche Banken vor allem in Schieflagen bringen können, in Zukunft zu unterbinden. Wir reden hier vom Investmentbanking oder Kapitalmarktgeschäft. Diese Finanzgeschäfte sind überwiegend riskante Wetten, die für die Realwirtschaft keinen wesentlichen Nutzen bringen. Sie erzeugen aber gerade jene Risiken, die mit diesem Gesetz verringert werden sollen. Also weg damit!
({2})
Es ist gut und richtig, die Aufgaben für Banken im Verhältnis zu ihrer Größe, also proportional, und ihrem Geschäftsmodell zu regeln: kleine, risikoarme Banken einerseits, Großbanken mit riskantem Geschäft andererseits. Über eine differenziertere Aufteilung, wie Herr Toncar sie angesprochen hat, lässt sich auf jeden Fall reden.
({3})
Erleichterungen bei der Regulierung für Sparkassen und Genossenschaftsbanken sind deshalb berechtigt. Dazu müssen aber deutlich schärfere Auflagen für die Großbanken kommen, als sie im Gesetz vorgesehen sind.
({4})
Ich begrüße es, dass die Bundesregierung endlich mit Vorkehrungen beginnt, um eingezahlte Beiträge der Versicherten bei einer denkbaren Pleite vor allem großer privater Lebens- oder Krankenversicherungen zu schützen. Konsequent und notwendig wäre es aber, aus dem Irrweg der Förderung kapitalgedeckter privater Alterssicherung ganz auszusteigen. Stecken Sie dieses Geld wieder in die umlagefinanzierte gesetzliche Rente! Die muss für alle ein würdiges Leben ermöglichen.
({5})
Zum Schluss. Natürlich wäre es ein wesentlicher Beitrag, wenn einfach weniger Kapital für unsinnige und gefährliche Spekulationsgeschäfte zur Verfügung stünde. Höhere Löhne für Beschäftigte und eine stärkere Besteuerung von Spitzenverdienern und Superreichen sind deshalb ebenfalls notwendige Maßnahmen, die allerdings an anderer Stelle zu regeln wären.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Rednerpult wird vorbereitet für die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gute Regulierung und eine starke Risikovorsorge sind essenziell. Das wird uns gerade derzeit, in der Coronakrise, wieder deutlich vor Augen geführt. Auch wenn heute die Folgen für die Realwirtschaft, zum Beispiel die Höhe der Zahl der Insolvenzen und andere Dinge, noch lange nicht absehbar sind und damit natürlich auch nicht die Zweitrundeneffekte auf das Finanzsystem wie Wertberichtigungen, Kreditausfälle etc.: Es ist beruhigend, zu wissen, und es hilft uns in dieser Krise, dass die deutschen Banken heute wegen besserer Regeln in puncto Eigenkapital viel besser aufgestellt sind als vor der Finanzkrise vor zehn Jahren, meine Damen und Herren.
({0})
So ist die durchschnittliche Kernkapitalquote von kleinen und großen, systemrelevanten Banken seit 2008 von Werten um die 8 Prozent auf inzwischen rund 17 Prozent gestiegen. Das ist gut; denn das verfügbare Eigenkapital bestimmt entscheidend, ob und wie das Bankensystem ungünstige makroökonomische Entwicklungen abfedern kann, ohne die Kreditvergabe einschränken zu müssen.
Schaut man sich die ungewichtete Eigenkapitalausstattung an, also das Kernkapital im Verhältnis zur Bilanzsumme und nicht zu den risikogewichteten Aktiva: Da gibt es allerdings deutliche Unterschiede. So haben die systemrelevanten Banken ihre ungewichtete Eigenkapitalquote seit der Finanzkrise zwar von rund 2 Prozent auf 5 Prozent aufgestockt; aber sie liegen damit immer noch deutlich unter der Quote von Kreditgenossenschaften und Sparkassen von rund 9 Prozent und ungefähr auf dem Niveau, mit dem die kleinen Banken damals in die Finanzkrise gestartet sind.
Hinzu kommt, dass bei der Abwicklungsfähigkeit besonders von großen, grenzüberschreitend tätigen Banken im Krisenfall immer noch große Lücken bestehen. Mit anderen Worten: Es ist immer noch so: Manche Banken sind „too big to fail“. Zu diesem Ergebnis kommt insbesondere das internationale Financial Stability Board in seiner großangelegten Studie zu dieser Frage im vergangenen Jahr.
Den Ansatz dieses Gesetzes finden wir als Grüne deshalb genau richtig: Zur Stärkung der Proportionalität sollen die kleinen und risikoarmen Banken entlastet werden; bei großen Banken sollte die Regulierung hingegen angezogen werden.
({1})
Das mit der Entlastung hat unserer Ansicht nach schon ganz gut geklappt, anders als es von anderen Rednern heute gesagt wurde. Kleine Banken wie Sparkassen und Genossenschaften werden mit diesem Gesetz von der Bürokratieflut spürbar entlastet, und Landesförderbanken werden von dem Anwendungsbereich der europäischen Bankenregulierung befreit. Das stabilisiert den deutschen Bankenmarkt zusätzlich, und das finden wir gut, meine Damen und Herren.
({2})
Die Risikoreduzierung bei den großen, systemrelevanten Banken ist hingegen wieder einmal auf halbem Wege stecken geblieben. Zwei kurze Beispiele:
Erstens wird zwar endlich eine absolute Schuldenbremse für Banken eingeführt, wie wir Grünen es seit Langem fordern. Das heißt, deutsche Banken müssen fortan zwingend mindestens 3 Prozent echtes Eigenkapital im Verhältnis zu ihrer Bilanzsumme vorweisen. Diese Verschuldungsobergrenze ist aber deutlich zu niedrig. Für einen widerstandsfähigen Bankensektor brauchen wir mindestens 10 Prozent echtes Eigenkapital im Verhältnis zur Bilanzsumme. Das muss das Ziel sein, meine Damen und Herren.
({3})
Zweitens fehlen außerdem – –
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Es fehlen harte Vorgaben zur Begrenzung der Risiken im Schattenbanksektor, und auch das müssen wir ändern.
Es gibt weiterhin viel zu tun. Wir werden den Prozess konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Johannes Schraps, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Risikoreduzierungsgesetz setzen wir die Beschlüsse des EU-Bankenpakets aus dem vergangenen Jahr nun in nationales Recht um. Wir stärken die Kapital- und Liquiditätsanforderungen für Banken, damit diese in Stressphasen besser abgesichert sind und auch selbst zu dieser Absicherung beitragen. Denn wenn es doch einmal notwendig sein sollte – und das hat dankenswerterweise unser Bundesfinanzminister Olaf Scholz gerade noch mal ganz deutlich gemacht –, dann sollen die Kosten einer Bankenrettung von den Gläubigern und Eigentümern einer Bank sowie
({0})
aus dem Bankensektor selbst heraus getragen werden und nicht vom Steuerzahler, verehrte Damen und Herren.
({1})
Es ist angesprochen worden: Es ist bereits über zwölf Jahre her, dass die globale Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 große Unsicherheiten verursacht hat, und die Auswirkungen – das sehen wir auch an dieser Gesetzgebung – beschäftigen uns bis heute. Denn wir mussten damals lernen, dass die Finanzkrise ohne staatliche Eingriffe deutlich schlimmer ausgefallen wäre und es besserer Mechanismen und Regeln bedurfte, um derartige Entwicklungen in Zukunft zu verhindern.
Seitdem hat sich einiges getan. Unter anderem durch das Basel-II-Rahmenwerk wurden die Vorgaben zur Eigenkapitalausstattung der Banken verschärft und Liquiditätsstandards neu eingeführt. Aber weil es natürlich auch im Finanzbereich Menschen gibt, die sich nur ungern an die Verwerfungen und Auswirkungen dieser Finanzkrise erinnern und am liebsten so weitergemacht hätten, wie es vorher der Fall war, ist es umso wichtiger, dass wir die bestehenden Vorgaben immer wieder evaluieren und auch stetig weiterentwickeln.
({2})
Um im Sinne des EU-Bankenpakets der Proportionalität und der Verhältnismäßigkeit der Regulierung – das ist gerade schon mehrfach angesprochen worden – stärker Rechnung zu tragen, sieht das nun vorliegende Risikoreduzierungsgesetz einige Anpassungen vor. Neben der bereits erwähnten stärkeren Beteiligung von Gläubigern und Eigentümern müssen beispielsweise größere Banken künftig Verlustpuffer von mindestens 8 Prozent ihrer Bilanzsumme vorhalten, damit Verluste im Krisenfall eben auch abgefedert werden können. Das reduziert die Risiken, verehrte Damen und Herren.
({3})
Gerade aktuell, in einer Stressphase wie der Coronapandemie, merken wir, wie wichtig ein besser abgesicherter Bankensektor ist; denn besonders die nationalen Förderbanken, die ja für die Bearbeitung der Coronahilfen ein eminent wichtiger Faktor waren, spielen da eine ganz wichtige Rolle. Diese Förderbanken, die selbstständigen Förderbanken der Länder und auch die Landwirtschaftliche Rentenbank, werden künftig der Förderbank des Bundes, die wir alle unter dem Namen KfW kennen, materiell gleichgestellt. Zukünftig sollen sie nach nationalen Regelungen, die aber weitgehend dem europäischen Recht entsprechen, beaufsichtigt werden. Damit wird die Einheitlichkeit der deutschen Förderlandschaft verbessert. Natürlich werden wir in den Beratungen prüfen, welche Regelungen konkret auf die Förderbanken anzuwenden sind; da sind ja eben von Kollegen schon einige angesprochen worden. Sie sollten aus unserer Sicht aber über das Kreditwesengesetz abgedeckt sein.
Sicherlich gibt es noch ein paar Stellschrauben in dem Gesetzentwurf, über die wir reden, über die wir diskutieren werden, aber insgesamt geht der Entwurf des Bundesfinanzministers aus unserer Sicht in die absolut richtige Richtung und ist in sich stimmig. Deshalb freue auch ich mich auf die kommende Anhörung und die Diskussionen im Ausschuss, damit wir dann zeitnah ein gutes Gesetz verabschieden können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sepp Müller, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Koalition kann Krise. Vor zwölf Jahren war die Finanzkrise das Thema in diesem Parlament, und das Risikoreduzierungsgesetz ist auch Ausfluss der Finanzkrise. Wir haben damals bewiesen: Wir handeln. Die Eigenkapitalquoten der Banken sind deutlich höher, als es 2008 der Fall war. Und, sehr geehrter Herr Finanzminister, der Schritt, den wir jetzt mit dem Risikoreduzierungsgesetz gehen, ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen die Risiken in den Bankbilanzen reduzieren.
({0})
Ziel ist es, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass nie wieder ein Steuerzahler-Euro in die Rettung von Banken fließt. Und das ist schwierig – das wissen wir –, weil die Banken in der aktuellen Zeit wenig Geld verdienen und somit auch wenig Eigenkapital bilden können.
Aber was ist eigentlich Eigenkapital? Vielleicht kennen Sie sie auch: Antonia, 32 Jahre jung, möchte mit ihrem Lebensgefährten ein Haus finanzieren. Das Haus kostet 300 000 Euro. Und der Bankberater sagt: Mensch, du musst 20 Prozent Eigenkapital mitbringen, also 60 000 Euro. – Warum sind denn 20 Prozent Eigenkapital so wichtig? Weil die Rate geringer wird, umso mehr Eigenkapital Antonia aufbringt. Jetzt hat aber Antonia nur 20 000 Euro – 40 000 Euro fehlen. Dann holt sie sogenanntes Ergänzungskapital; bei ihrer Oma, in der ganzen Familie sammelt sie das zusammen. Sie hat am Ende 60 000 Euro zusammen, und Antonia kann sich das Haus leisten. Sie zieht mit ihrem Lebensgefährten in das neue Haus ein, später auch die zukünftigen Kinder. Das bedeutet: Eigenkapital fördert die Kreditherauslage.
So funktioniert das auch bei den Banken: Je mehr Eigenkapital Banken haben, desto mehr Kredite können sie herausgeben. Nun kommt das Thema Ergänzungskapital bei Banken auch hinzu. Das ist jetzt nicht die Oma; das sind ein paar kleine Bankreserven, die man hat. Wir müssen uns genau anschauen, ob wir da mit dem vorliegenden Entwurf des Risikoreduzierungsgesetzes die richtige Antwort gefunden haben, ob wir da alles wegmachen sollten oder ob wir genau definieren sollten, was an Ergänzungskapital zukünftig notwendig ist. Aber eines ist klar: Das, was Banken in Deutschland Antonia sagen, das muss auch für Banken gelten. Mehr Eigenkapital bei der Kreditherausgabe – das ist der richtige Weg, und den werden wir mit diesem Gesetz beschreiten.
({1})
Als Große Koalition, liebe Kollegen, haben wir uns auch das Thema der Sparkassen, Volksbanken und Kleinbanken auf die Agenda geschrieben. Denn es sind nicht die Großbanken, die vor Ort sind. Es ist die Sparkasse, die sich vor Ort engagiert. Es ist die Volksbank, die in der Coronapandemie ihre Türen geöffnet gehalten hat, damit die Bargeldversorgung stattfindet. Darum ist ganz klar – was die Kollegin vorhin beim Thema Proportionalität angesprochen hat, möchte ich noch mal übersetzen –: Für kleine Sparkassen, für kleine Volksbanken, für kleine private Banken müssen andere Regeln gelten als für große Banken. Wir sind die Parteien derjenigen, die die Leute vor Ort unterstützen, die den Sparkassen danksagen, die dem Bankberater am Schalter bei der Volksbank danksagen.
({2})
In der Coronapandemie habt ihr die Türen offen gehalten, und wir stehen auch beim Risikoreduzierungsgesetz an eurer Seite und werden das einfordern, was wir in den Koalitionsvertrag geschrieben haben.
({3})
Und dann ist in dem Entwurf der Bundesregierung, welcher uns als Parlament zugeleitet wurde, ein Begriff enthalten, der immer so ein bisschen allergische Reaktionen auslöst: Das ist das Thema Einlagensicherung. Wir werden uns das ganz genau anschauen. Wir haben in Deutschland ein besonderes System. Antonia ist zu ihrer Bank gegangen, sie hätte aber auch zur Sparkasse oder zur Volksbank gehen können. Dieses System, das dreigliedrige Bankensystem in Deutschland mit Volksbanken, Sparkassen und privaten Banken, ist einzigartig in Europa. Und wenn wir eine europäische Antwort auf die Frage der Bankenregulierung haben wollen, dann müssen wir auch die Sondersituation in Deutschland betrachten. Und die Sondersituation in Deutschland heißt: Institutssicherung für Volksbanken und Institutssicherung für Sparkassen. Die wollen wir erhalten, und deswegen werden wir uns das Thema Einlagensicherung ganz genau anschauen.
({4})
Abschließend werden wir nicht nur die Krise von 2008 in der Großen Koalition ordentlich bewältigen, sondern wir werden auch die Zukunft gestalten. Das wollen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Deswegen gehen wir den Weg weiter. Wir werden die Risiken reduzieren; gerade angesichts der Coronapandemie wollen wir die Risiken raushaben.
Danke noch mal an all diejenigen Berater – und das sage ich ausdrücklich auch im Namen der Unionsfraktion –, die in Zeiten der Pandemie unsere Bevölkerung mit Bargeld versorgt haben! Das war nicht einfach. Sie sind systemrelevant, und wir stehen an ihrer Seite.
Herzlichen Dank.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute das Jahressteuergesetz 2020. Ich bin schon eine ganze Zeit im Bundestag. Wir haben eigentlich jedes Jahr ein Jahressteuergesetz beraten, obwohl wir uns immer vorgenommen haben: Vielleicht brauchen wir es dieses Jahr nicht. – Wir machen ja das ganze Jahr über Steuergesetze, aber es gibt Restanten. Es gibt Erfahrungen aus der Praxis mit Steuergesetzen, die wir schon beschlossen haben. Wir möchten ein paar Dinge noch besser machen, und deswegen kommen ein paar Details in dieses Jahressteuergesetz. Es sind Details; es sind nicht die großen, revolutionären Dinge.
Es ist nicht die Unternehmensteuerreform, von der vielleicht die CDU/CSU träumt,
({0})
es ist auch nicht die Veränderung der Steuerkurve, von der wir träumen,
({1})
sondern es sind Kleinigkeiten im Einkommensteuer- und Umsatzsteuerrecht. Zum Beispiel ist es die Verlängerung der Steuerbefreiung von Arbeitgeberzuschüssen zum Kurzarbeitergeld. Dieses Gesetz gibt es schon; die Geltung wird verlängert bis zum 31. Dezember 2021.
({2})
Des Weiteren ergreifen wir steuerliche Maßnahmen für günstigen Wohnraum. Es wird in Zukunft möglich sein, dass Vermieter ihren Mietern weiterhin günstigen Wohnraum anbieten. Sie werden nicht bestraft durch Veränderungen bei den Werbungskosten, sie können also weiterhin günstigen Wohnraum anbieten.
({3})
Wir haben eine Vereinfachung bei der Mobilitätsprämie. Hier haben wir natürlich das Klimaschutzprogramm 2030 im Hinterkopf und wollen das damit auch mit ermöglichen.
Wir haben weiterhin Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuergestaltung. Steuergestaltung ist ein Thema, das uns immer beschäftigt. Hier geht es um die Begrenzung der Verrechenbarkeit von Verlusten aus Kapitalvermögen, und es geht um Reverse-Charge-Verfahren. Ziel ist bei beidem die Bekämpfung von Steuervermeidung in betrugsgefährdeten Branchen.
({4})
Hier geht es vor allen Dingen um Telekommunikationsdienstleistungen; hier sind ein paar Sachen aufgepoppt, die wir dringend bekämpfen müssen.
Dann haben wir eine Regelung zur Umsetzung des Mehrwertsteuer-Digitalpakets. Durch Digitalisierung wird Bürokratie abgebaut; das hört sich trocken an, ist aber im Ergebnis für die Menschen, die damit umgehen müssen, sehr sinnvoll.
Des Weiteren bauen wir Bürokratie beim Datenaustausch mit privaten Kranken- und Pflegeversicherungen ab. Auch hier ist es, denke ich, sinnvoll, dass wir Papierbescheinigungen abschaffen
({5})
und die Digitalisierung verstärkt einführen.
Wir wollen des Weiteren die Steuervergünstigungen bei Investitionen von kleinen und mittleren Unternehmen verbessern. Wir wollen die Inanspruchnahme von Investitionsabzugsbeträgen und Sonderabschreibungen verbessern. Das heißt, wir wollen die Liquidität von Unternehmen steigern, vor allen Dingen von Unternehmen, die besonders von der Coronakrise betroffen waren.
({6})
Ich denke, dieses Jahressteuergesetz enthält gute Teile. Wir werden es weiter beraten. Vielleicht kommen auch von Oppositionsparteien noch gute Ansätze, es noch besser zu machen. Ich freue mich auf die Beratung. Ich denke, wir werden am Ende ein gutes Gesetz verabschieden und eine gute Beratung haben.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wie immer vor allen Dingen: Liebe Steuerzahler! Heute sprechen wir in der ersten Lesung über das Jahressteuergesetz 2020. Immerhin wird, anders als im letzten Jahr – das ist schon mal ein guter Anfang –, kein ideologischer Kampfbegriff vorangestellt; letztes Jahr begann der Titel mit „Gesetz zur … Förderung der Elektromobilität“.
Das Gesetz enthält coronabedingt einige sehr wichtige Änderungen – sie wurden von meiner Vorrednerin genannt –, zum Beispiel bei den Voraussetzungen für den Investitionsabzugsbetrag. Die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung kreisen aber vor allem um Freiberufler, Unternehmer und Selbstständige. Dagegen gibt es zunächst nichts einzuwenden. Interessant ist aber immer, was in einem Gesetzentwurf nicht erwähnt wird.
Wir wissen, die Mehrheit der Menschen in Deutschland sind nun einmal Arbeitnehmer, sozialversicherungspflichtige abhängig Beschäftigte, Arbeitnehmer, von denen viele aufgrund Ihrer Coronapolitik, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierung, einen Großteil ihrer Arbeitszeit in diesem Jahr im – neuer Modebegriff – Homeoffice verbracht haben oder verbringen mussten. Ich zitiere, mit Erlaubnis des Präsidenten:
Nach einer Erhebung von Mitte März 2020 arbeitet infolge der Corona-Pandemie jeder zweite Berufstätige (49 Prozent) ganz oder zumindest teilweise im Homeoffice.
Dies ist Ergebnis einer repräsentativen Erhebung von Bitkom, Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien. Einige Studien sprechen in diesem Zusammenhang nun auch schon davon, dass Homeoffice generell das Modell einer zukünftigen Arbeit für viele, viele Menschen sein wird. Studien belegen auch, dass Arbeitnehmer durchaus effizient von zu Hause arbeiten können. Aber am Rande sei erwähnt: Das Kanzleramt, glaube ich, blockiert den Vorstoß des Arbeitsministers zum generellen Anspruch auf Homeoffice. Wir werden sehen, wie das verläuft.
Aber es bleibt festzustellen: Findet dieses wichtige Thema in Coronazeiten eine steuerliche Anerkennung oder Erwähnung in Ihrem Jahressteuergesetz, verehrte Damen und Herren der Regierung und vor allen Dingen der SPD? Fehlanzeige! „Vereinfachung der steuerlichen Anerkennung von Heimarbeitsplätzen“ wäre hier ein guter Titel gewesen statt der ideologischen Kampfbegriffe, wie im Vorjahr „Elektromobilität“. Die Wörter „Arbeitszimmer“ und „Homeoffice“ kommen aber nicht ein Mal in Ihrem Jahressteuergesetz vor, meine Damen und Herren. Ich kann das nicht nachvollziehen, ich will das nicht nachvollziehen, meine Fraktion auch nicht, und der Bund der Steuerzahler kann das auch nicht nachvollziehen. Ich zitiere ein weiteres Mal, mit Erlaubnis des Präsidenten:
Derzeit werden diese Kosten steuerlich nur berücksichtigt, wenn ein gesondertes Arbeitszimmer in der Wohnung zur Verfügung steht.
Das heißt also ganz korrekt: Jeder, der im Wohnzimmer seinen Schreibtisch, seinen Rechner oder Laptop stehen hat und hier seine Arbeit im Homeoffice erledigt hat, geht leer aus.
Dazu kommt logischerweise, dass in Zeiten von Homeoffice die Entfernungspauschale für den Weg zum Arbeitsplatz für weniger Tage steuerlich geltend gemacht werden kann. Hier werden im nächsten Jahr viele Arbeitnehmer, die auf ihrer Lohnsteuerkarte einen Lohnsteuerfreibetrag für diese sogenannte Pendlerpauschale geltend gemacht haben, eine erhebliche Nachzahlung bei der Steuer zu fürchten haben.
Arbeitnehmer, die ihren Unternehmen in Homeoffice-Zeiten den Rücken gestärkt haben, werden also steuerlich vollends ins Abseits gestellt und im Prinzip – nicht nur im Prinzip, sondern wirklich – doppelt bestraft.
({0})
Ich kündige hier an, dass wir das als AfD-Fraktion nicht so stehen lassen werden und uns tatsächlich, wie immer, konstruktiv mit vielen Initiativen einbringen werden. Wir werden diesem Jahressteuergesetz einen Antrag beistellen, der genau diese Fehlallokation und Fehlregelung im Jahressteuergesetz ändern wird und das Homeoffice wieder vereinfacht zum steuerlichen Abzug bringen wird. Wir werden uns wie immer auch konstruktiv mit Fragen und Antworten entsprechend einbringen.
Dieses Jahressteuergesetz – auch das muss man sagen – gehört in der Tat zu den besseren Gesetzen der Regierung in diesem Jahr. Wir freuen uns auf die Meinungen der Sachverständigen und werden uns konstruktiv in die Debatte einbringen.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer! Wir beraten heute das Jahressteuergesetz 2020. Ich bin froh, dass wir es wieder Jahressteuergesetz nennen. Ich erinnere mich an Zeiten, als wir ein Anpassungsgesetz Kroatien und ein Zollkodex-Anpassungsgesetz gemacht haben, um zu kaschieren, dass wir ein Jahressteuergesetz machen. Jetzt schreiben wir es. Und was ist ein Jahressteuergesetz? Das ist ein Sammelgesetz – die Kolleginnen und Kollegen haben schon darauf hingewiesen –, und fast alle Steuergesetze sind irgendwie betroffen: Wir regeln Dinge im Einkommensteuergesetz, im Umsatzsteuergesetz, im Grundsteuergesetz, im Grunderwerbsteuergesetz, in der Abgabenordnung, im Investmentsteuergesetz – viele wissen gar nicht, dass es so etwas gibt.
({0})
Wir haben einen umfassenden Katalog, den wir abarbeiten müssen. Es gibt viele technische Dinge, die wir dort regeln, auch Klarstellungen; wir reagieren auf Urteile des Bundesfinanzhofs.
Das Jahressteuergesetz ist – das muss man konstatieren – kein großes Reformpaket; dafür ist das Jahressteuergesetz auch nicht gemacht. Von daher kann ich hier in der Kürze der Zeit nicht auf alles eingehen. Ich möchte zwei, drei Punkte heraussuchen.
Es geht zum einen um die Verbesserung beim Investitionsabzugsbetrag. Wir wollen in dieser besonderen Situation Investitionsanreize schaffen. Von daher ist es richtig, dass wir die Abschreibungsmöglichkeiten von 40 Prozent der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten für kleine Unternehmen auf 50 Prozent erhöhen; nur kleine Unternehmen haben die Möglichkeit, diesen Investitionsabzugsbetrag geltend zu machen. Wir als Union sehen kritisch, dass die Voraussetzungen dafür verändert werden, weil Unternehmen, die derzeit drin sind, in Zukunft wahrscheinlich herausfallen würden. Von daher werden wir mit dem Koalitionspartner darüber noch einmal reden. Ich erinnere daran, dass wir damals, in der Finanzkrise 2009/2010, die derzeitigen Kriterien erhöht haben. Ich glaube, das wäre eigentlich der richtigere Weg, als jetzt ein einheitliches Kriterium zu schaffen, wodurch viele Unternehmen herausfallen werden. Wir wollen ja Investitionsanreize setzen und nicht Investitionen verhindern. Von daher sollten wir meines Erachtens darüber noch einmal gemeinsam diskutieren.
({1})
Wir diskutieren über Vermietung von Wohnungen. Das macht Sinn in dem Punkt, dass Werbungskosten nur da geltend gemacht werden können, wo auch ein gewisser Prozentsatz der ortsüblichen Miete genommen wird. Wir schaffen da aber gleichzeitig ein gewisses Bürokratiemonster – das muss man schon sagen –, indem wir in gewissen Zeiten eine Totalüberschussprognose des Steuerpflichtigen über 30 Jahre verlangen. Auch darüber sollten wir vielleicht noch einmal diskutieren.
Wir werden dann das Digitalpaket der Europäischen Union umsetzen. Dabei geht es um umsatzsteuerliche Änderungen im Bereich von E‑Commerce und Versandhandel. Da haben wir die erste Stufe schon umgesetzt. Jetzt geht es um weitere administrative Erleichterungen, sodass ein Unternehmen, das im Versandhandel tätig ist, nur ein Land hat, wo es seine versteuerbaren Umsätze anmelden muss. Das ist zwar wenig spannend; aber damit regeln wir das, was wir in nationales Recht umsetzen müssen.
Spannender ist eigentlich das, was nicht im Jahressteuergesetz steht, und darüber werden wir noch diskutieren müssen.
({2})
Der Bundesrat ist da ja schon sehr aktiv geworden. Wir haben gesehen, dass der Finanzausschuss des Bundesrates einen Vorschlag von Hessen und Nordrhein-Westfalen mehrheitlich beschlossen hat. Es wird spannend, zu sehen, wie der Bundesrat dann am Freitagmorgen darüber befindet. Da geht es um die ATAD-Umsetzung. Das ist die Antisteuervermeidungsrichtlinie der EU, die wir schon bis zum 31. Dezember des letzten Jahres hätten umsetzen müssen. Dazu gibt es einen Referentenentwurf des Ministers Scholz, der aber irgendwie überall ruht.
({3})
Das Vertragsverletzungsverfahren der EU ist mittlerweile in Vorbereitung. Also, ich glaube, in der EU-Ratspräsidentschaft tun wir uns damit keinen Gefallen. Von daher, Herr Minister, wäre es schön, wenn Sie über den Referentenentwurf hinauskämen und uns endlich mal den Gesetzentwurf vorlegten, oder wir machen es so, wie der Bundesrat vorgeschlagen hat, nämlich über das Jahressteuergesetz. Ich glaube, es wäre eine gute Regelung, wenn wir das hier machen könnten.
({4})
Der Bundesrat hat klugerweise eben nicht das gemacht, was der Minister vorhat. Das Problem ist ja, dass der Herr Minister meint, mehr regeln zu müssen, als in dieser Richtlinie geregelt wird. Es ist bei Weitem keine Eins-zu-eins-Umsetzung, es ist noch restriktiver. Die Unternehmen sollen noch mehr gegängelt werden. Von daher glaube ich: Wenn man keine Eins-zu-eins-Umsetzung macht, werden wir hier eine Regelung schaffen müssen.
Ich finde klug, dass der Bundesrat auch gesagt hat, dass wir beim Außensteuergesetz eine Niedrigbesteuerungsgrenze von nur noch 15 Prozent haben sollten, nicht von 25 Prozent. Sie müssen wissen: Das Außensteuergesetz regelt, dass man Gewinne, die man ins Ausland verlagert, doch in Deutschland besteuern muss, wenn man in einem sogenannten Niedrigsteuerland ist. Aber bei 25 Prozent Niedrigbesteuerungsgrenze sind mittlerweile fast alle EU-Länder Niedrigsteuerländer. Das kann so nicht sein. Von daher brauchen wir hier dringend eine Änderung. Die 15 Prozent sind, glaube ich, eine richtige Höhe.
({5})
Darauf, was uns als Union natürlich auch fehlt, hat mein Fraktionsvorsitzender in der Haushaltsrede hingewiesen: Wir brauchen, glaube ich, auch eine Modernisierung des deutschen Unternehmensteuerrechts. Ich wundere mich, dass da aus dem Bundesfinanzministerium gar nichts kommt.
({6})
Herr Minister Scholz hat immer von Standortverbesserungen gesprochen, die er schaffen will, und von einem Optionsmodell fabuliert. Aber bis jetzt sehen wir nichts. Von daher, glaube ich, Herr Minister Scholz, sind Sie hier gefordert, etwas zu tun.
Wir beide waren damals zusammen bei dem Forum „10 Jahre Hamburger Forum für Unternehmensteuerrecht“ an der Bucerius Law School in Hamburg. Dort haben Sie eine schöne Rede gehalten. Da haben Sie gesagt – ich darf mal zitieren –:
Wir beobachten die wirtschaftliche Entwicklung sehr genau, um darüber hinaus auch mit steuerlichen Maßnahmen reagieren zu können, wenn es notwendig ist.
Und jetzt kommt es:
Notwendig wird das jedoch erst im Falle eines deutlichen und gravierenden Einbruchs der konjunkturellen Entwicklung.
Das ist richtig; aber die haben wir doch nun, Herr Minister. Von daher wäre es doch jetzt angezeigt, dass Sie endlich reagieren, damit wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensteuerrechts wiederherstellen.
({7})
Von daher bitten wir Sie, entsprechende Dinge nicht nur anzukündigen, sondern auch umzusetzen. Es wäre, glaube ich, eine gute Gelegenheit, dies beim Jahressteuergesetz zu tun. Von daher freue ich mich auf die Beratungen.
({8})
Herr Lothar Binding kündigt ja schon an, dass wir – da sind wir schon im Diskurs – das alles beraten werden. Ich hoffe, dass wir dann im Ergebnis ein noch viel besseres Jahressteuergesetz beschließen werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort der Kollege Markus Herbrand, FDP.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten jetzt das Jahressteuergesetz. In der Tat – es ist schon angesprochen worden – gibt es da in puncto Qualität und Rechtssicherheit durchaus noch Luft nach oben.
Ich möchte mich auf wenige Punkte beschränken und fange mit dem Investitionsabzugsbetrag an. Es ist richtig – der Kollege Güntzler hat es gesagt –: Die Abschreibungshöhen verändern sich positiv. Ich bezweifle auch nicht, dass es eines Updates dieser Regelung bedarf. Was aber nicht geschehen darf, ist, dass der Zugang zu dieser ansonsten sehr guten und auch sehr prominenten Regelung erschwert wird. Es ist eigentlich das Instrument für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, das die Liquiditätssteuerung in der Steuergesetzgebung hergibt. Das brauchen der Dachdecker von nebenan und unser Installateur von nebenan ganz dringend. Sie brauchen da keine zusätzlichen Risiken und Nebenwirkungen.
({0})
Auch die Nutzbarkeit des Investitionsabzugsbetrags wird ja im Grunde genommen im Verhältnis von Gesamthandelsbilanzen und Sonderbilanzen eingeschränkt. Das alles brauchen wir eigentlich nicht. Wollen wir wirklich die kleinen und mittelständischen Unternehmen noch weiter belasten, mit Bürokratie und weiteren und höheren Steuern? Das alles brauchen wir nicht. Was wir brauchen, ist ein Investitionsabzugsbetrag, der sich noch weiter öffnet, der noch mehr Unternehmen die Möglichkeit gibt, diese Regelung in Anspruch zu nehmen, und der sich vor allen Dingen für Investitionen in die digitale Transformation öffnet. Das alles haben wir schon mehrfach beantragt. Es ist immer wieder abgelehnt worden. Wir werden uns überlegen, das noch mal zu machen.
Punkt zwei, den ich ansprechen möchte, ist die verbilligte Vermietung, sind die Regelungen in § 21 Absatz 2 des Einkommensteuergesetzes. Wollen Sie allen Ernstes bei Vermietungen zwischen 50 und 66 Prozent der ortsüblichen Miete wieder die Totalüberschussprognose einführen? Das ist ein Aufbau von Bürokratie, den wir eigentlich abgeschlossen hatten. Wir hatten diese Bürokratie bereits abgeschafft; jetzt soll das wieder kommen. Wenn eine Vorschrift im Kern gut ist, sollte es uns doch eigentlich mal gelingen, sie dann auch so auszugestalten, dass das Gute nicht gleich wieder durch ein Mehr an Bürokratie aufgefressen wird.
({1})
Punkt drei, den ich ansprechen möchte, ist eine Regelung, die fehlt. Sie werden uns nachsehen, dass wir nach wie vor der Überzeugung sind, dass da, wo Gewinne versteuert werden, auch Verluste steuerlich akzeptiert werden müssen. Bei den Einkünften aus Kapitalvermögen ist im letzten Jahr ein Koalitionskompromiss ins Gesetz eingefügt worden. Der muss in unseren Augen wieder raus.
({2})
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Diese asymmetrische Besteuerung von Gewinnen und Verlusten widerspricht im Prinzip auch der BFH-Rechtsprechung und ist ein Schlag ins Gesicht vieler Kleinsparer und Anleger.
({3})
Insofern gibt es da noch Luft nach oben.
Wir werden uns selbstverständlich wie immer konstruktiv beteiligen.
({4})
– Da gibt es doch nichts zu lachen, Frau Kollegin.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier ist ja wieder eine Bombenstimmung bei einer Steuerdebatte. Viele Rednerinnen und Redner haben gesagt, worüber wir nicht sprechen. Deswegen mache ich das auch mal.
Worüber wir nicht sprechen, ist die Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen in diesem Land, die den Laden am Laufen gehalten haben, und im Gegenzug die stärkere Belastung der Milliardäre und Multimillionäre in diesem Land, die – das zeigen die aktuellen Zahlen der Schweizer Großbank UBS – seit 2019 noch 20 Prozent Gehaltserhöhung hatten. Es wäre aber bitter nötig, dass wir darüber sprechen; denn die Regierung will ja nach der Wahl zur Schuldenbremse zurückkehren, und das wird dann ein Kürzungshammer, wenn man die ganzen Kredite in so kurzer Zeit zurückzahlen will.
Worüber wir auch nicht sprechen, ist die Verjährung von kriminellen Cum/Ex-Aktiengeschäften. Wenn die jetzt in die steuerliche Verjährung laufen, kann man weiter strafrechtlich die Tatbeute abschöpfen. Das finden wir sinnvoll. Das gilt allerdings nicht für Fälle vor dem 1. Juli 2020. Deswegen drohen uns hier Milliarden Euro durch die Lappen zu gehen, und darum muss dringend gehandelt werden. Das Finanzministerium hat angekündigt, dies im Dezember tun zu wollen. Wir finden aber, hier wäre etwas mehr Tempo angezeigt.
({0})
Es gibt aber durchaus einige sinnvolle Maßnahmen im Jahressteuergesetz. So sollen zum Beispiel Leistungen des Arbeitgebers wie Jobtickets nur von Steuern und Sozialabgaben befreit werden, wenn sie zusätzlich auf den Lohn obendrauf kommen und die Arbeitgeber nicht, ich sage mal, Lohn in Jobticket umwandeln. Das haben wir seit letztem Jahr gefordert, und es ist sinnvoll, dass das Finanzministerium das jetzt klarstellt.
({1})
Weniger gut finden wir das Thema Investitionsabzugsbeträge – was für ein Wort; da sieht man die ganze Blüte der deutschen Sprache. Ich versuche, das einmal zu erklären: Es geht darum, dass man Abschreibungen steuerlich geltend machen kann, schon bevor man eine Investition getätigt hat. Die Idee dahinter ist, dass Unternehmen die Mittel ansparen können, um die Investitionen dann zu machen, und später der Staat dadurch auch höhere Steuereinnahmen generiert. Das ist durchaus eine sinnvolle Idee.
Bisher war es aber so, dass die Investitionen dann in dem Jahr und auch im Folgejahr zu 90 Prozent in dem Unternehmen verbleiben müssen. Jetzt soll die Vermietung dieser Investitionsgüter erleichtert werden. Das führt dann aber zu einem Problem, nämlich der Steuergestaltung. Ich kann zum Beispiel eine Maschine aus dem Vermögen eines Gesellschafters, eines Unternehmens kaufen und dann an die Gesellschaft zurückvermieten und das trotzdem steuerlich geltend machen. Steuertricks haben wir in diesem Land schon genug. Deswegen sehen wir das kritisch.
({2})
Zum Schluss: Sinnvoll finden wir, dass es eine Steuerbefreiung der Zuschüsse des Arbeitgebers zum Kurzarbeitergeld geben soll. Was uns allerdings fehlt, ist, dass der Progressionsvorbehalt nicht auf das Kurzarbeitergeld angewendet wird.
({3})
Denn Kurzarbeitergeld soll steuerfrei sein. Es wird aber zum zu versteuernden Einkommen hinzugerechnet. Dadurch rutscht man in einen höheren Steuertarif. Diejenigen, die jetzt in der Krise um ihre Zukunft zittern, die Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen müssen, die rutschen dann womöglich in einen höheren Steuertarif und müssen dann kräftig nachzahlen. Hier wäre eine Aussetzung sinnvoll gewesen.
Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen.
({4})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde schon gesagt: Wir beraten hier das Jahressteuergesetz, mit dem ganz viele Regeln im Steuerbereich angepasst werden. Von daher ist da viel Licht, aber eben auch Schatten. Bemerkenswert in diesem Jahressteuergesetz ist aber tatsächlich, was fehlt.
Erstens fehlt in diesem Jahressteuergesetz eine Korrektur der Lex Cum/Ex.
({0})
Noch im Juni brüstete sich Olaf Scholz damit, er werde durch Gesetzesänderungen dafür sorgen, dass Milliarden an Steuergeldern, die sich Banker, Aktienhändler und Berater mit ihren Cum/Ex-Geschäften ergaunert haben, dem Staat nicht wegen Verjährung verloren gehen. Einen Monat später, im Juli, mussten wir feststellen, dass Olaf Scholz in Teilen genau das Gegenteil gemacht hat. Jetzt gilt: Selbst wenn die Täter verurteilt werden, dürften die beteiligten Finanzfirmen in vielen Fällen ihre Beute behalten – Steuergeld, das ihnen nicht zusteht, womöglich in Milliardenhöhe. Das ist unerträglich, meine Damen und Herren.
({1})
Deswegen fordern wir und fordert der Bundesrat Sie auf: Ändern Sie das in diesem Jahressteuergesetz! Wir haben gestern gelernt: Sie wollen dann irgendwann im Dezember anfangen, es zu ändern. Jetzt müssen wir es ändern; jetzt ist die Zeit, es zu ändern!
({2})
Das Zweite, was fehlt, ist eine Änderung im Gemeinnützigkeitsrecht. Wir brauchen endlich wieder Rechtssicherheit für politisch engagierte gemeinnützige Organisationen. Spätestens seit dem Urteil des Bundesfinanzhofs zu Attac im vergangenen Jahr hat sich die Lage für gemeinnützige Organisationen dramatisch verschärft. Es wurde langjährigen gemeinnützigen Organisationen plötzlich die Gemeinnützigkeit aberkannt – nicht nur Attac, auch vielen weiteren – oder die Aberkennung angedroht. Seit einem Jahr warten wir auch hier auf ein Gesetz von Olaf Scholz dazu; aber bisher nach wie vor Fehlanzeige. Auch das müssen wir endlich hier im Jahressteuergesetz regeln, meine Damen und Herren.
({3})
Wir Grüne wollen eindeutig regeln, dass grundsätzlich auch die Einflussnahme auf die politische Willensbildung zu gemeinnützigen Zwecken erfolgen darf. Nicht nur die Förderung des demokratischen Staatswesens, sondern auch die Förderung seiner tragenden Grundsätze wie Demokratie, wie Grund- und Menschenrechte, wie zivilgesellschaftliche Teilhabe oder soziale Gerechtigkeit sollten klar gemeinnützig sein und werden, meine Damen und Herren.
({4})
Bemerkenswert an diesem Jahressteuergesetz ist aber auch, was mal drin war, aber inzwischen gestrichen wurde, zum Beispiel so ein kleiner Punkt wie die Besteuerung von Kapitalerträgen aus Xetra-Gold. Xetra-Gold – das ist die frohe Botschaft an all diejenigen, die hierin investiert haben – bleibt steuerfrei. Im Referentenentwurf war die Besteuerung noch vorgesehen. Offenbar wirkt die AfD nach wie vor auch in diese Koalition hinein, meine Damen und Herren. Das brauchen wir nicht.
({5})
Okay ist, was drinsteht. Aber es hakt dann an anderer Stelle, zum Beispiel beim Country-by-Country Reporting. Es gibt in diesem Gesetz eine kleine Änderung in der Abgabenordnung, die gut und überfällig ist. Noch überfälliger ist es jedoch, das Country-by-Country Reporting endlich öffentlich zu machen, also dass Gewinne von internationalen Konzernen nicht mehr nur gesammelt in der Bilanz ausgewiesen werden, sondern in der öffentlichen Bilanz zu erkennen ist, in welchem Land sie welche Gewinne machen, damit aggressive Steuervermeidung wirksam endlich bekämpft werden kann.
({6})
Der europäische Gesetzentwurf dazu liegt im Ministerrat beschlussreif vor. Aber Minister Scholz, Minister Altmaier und Ministerin Lambrecht blockieren dieses Offenlegungsgesetz. Wir fordern Sie erneut auf: Setzen Sie als Ratspräsident das Gesetz endlich auf die Tagesordnung, und ermöglichen Sie einfach die Abstimmung darüber, meine Damen und Herren!
({7})
Bevor ich dem voraussichtlich letzten Redner das Wort erteile, möchte ich gerne darauf hinweisen, Herr Kollege Heilmann, dass auch das Telefonieren nicht von der Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen, entbindet.
Jetzt hat das Wort der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU.
({0})
– Entschuldigung, ich bitte um Nachsicht. Die Maskenpflicht erfordert so sehr meine Aufmerksamkeit, dass mir ein Fehler unterlaufen ist.
({1})
Herr Schrodi, Sie haben das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. – Vielleicht will Herr Brehm ja verzichten, weil ich jetzt wahrscheinlich auch in seinem Sinne sprechen werde; aber das werden wir noch sehen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal: Kollege Güntzler, ich finde, dass die klangvollen Titel des Jahressteuergesetzes in den letzten Jahren ganz gut waren. „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität“ letztes Jahr hat es, glaube ich, ganz gut getroffen. Jetzt heißt es wieder „Jahressteuergesetz 2020“. Es ist dennoch viel und viel Wichtiges drin.
Es wurde viel darüber gesprochen, was nicht drin sei. Zu Linken und Grünen: Es ist relativ eindimensional, was Sie da vorgetragen haben. Um es noch einmal deutlich zu machen – wir haben es auch im Ausschuss gesagt –: Es gibt keinen einzigen Fall von Verjährung von Cum/Ex-Fällen. Wir haben jetzt eine Regelung getroffen, die das Problem für die Verjährung nach dem 1. Juli 2020 löst, und bei der Verjährungsfrage vor dem 1. Juli 2020 sind wir an einer Lösung im Strafgesetzbuch dran, die dort auch hingehört. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Wir machen uns dran. Nicht im Jahressteuergesetz, aber noch in diesem Jahr gehen wir das an. Das hätten Sie zur Richtigkeit auch dazusagen sollen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({1})
Drei Maßnahmen in diesem Jahressteuergesetz, die uns wichtig sind, möchte ich herausheben. Als viele Unternehmen coronabedingt in Schwierigkeiten geraten sind, haben wir gesagt: Wir wollen a) Arbeitsplätze erhalten, und wir wollen b) Unternehmen in der Krise helfen. Zentrales Instrument ist das Kurzarbeitergeld, das wir erhöht und bis 2021 verlängert haben. Es ist ein Erfolgsmodell aus den Häusern Hubertus Heil und Olaf Scholz und eine wirklich sehr gute Maßnahme.
Eines muss ich dazusagen: Die AfD hat gerade über Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesprochen. Die AfD ist es, die hier in diesem Hause gesagt hat, sie seien gegen eine Verlängerung dieses Modells, auf Teufel komm raus. Soll es bloß verlängert werden? Nein, es geht hier um Existenzen von Menschen und Unternehmen. Es ist gut, dass wir das machen und es auch im Jahressteuergesetz jetzt noch einmal stärken, meine sehr geehrten Damen und Herren;
({2})
denn wir beschließen und wollen, dass die Zuschüsse des Arbeitgebers bis Ende 2021 von der Steuer befreit werden.
Zum Zweiten. Wir wollen, dass Unternehmen trotz Krise investieren. Mit der Änderung der Investitionsabzugsbeträge nach § 7g des Einkommensteuergesetzes machen wir das. Wir erhöhen zum einen den Anteil der steuerlich begünstigten Investitionskosten von 40 auf 50 Prozent, und wir erhöhen die Gewinngrenze, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Investitionsabzugsbeträgen ist, auf 150 000 Euro. Das ist also eine Besserstellung und eine gute Maßnahme; denn damit erreichen wir, dass die Steuerbelastung geringer ist und die angesparten Mittel dann für Investitionen leichter zur Verfügung stehen. Das ist ein weiterer wichtiger Beitrag in diesem Jahressteuergesetz.
({3})
Zum Dritten. Wir wollen kostengünstigen Wohnraum nicht nur schaffen, sondern auch günstige Mieten erhalten. Ich kenne es aus dem Raum München, dass es oftmals schwierig ist, Wohnraum zu finden. Während große Wohnungsunternehmen trotz Coronakrise teilweise massiv Mieten erhöhen, gibt es dennoch Vermieter, die günstig vermieten wollen, langjährige Mieterinnen und Mieter behalten wollen und günstige Mieten anbieten. Damit diese Vermieterinnen und Vermieter ab einer gewissen Grenze eben die Werbungskosten weiterhin geltend machen können, ändern wir die bestehende Regelung. Künftig können Vermieter, wenn die Miete 50 Prozent der ortsüblichen Miete beträgt, die vollen Werbungskosten geltend machen. Voraussetzung ist, wenn die Miete 50 bis 66 Prozent der ortsüblichen Vergleichsmiete beträgt, eine sogenannte Totalüberschussprognose. Das soll schädliche Steuergestaltungen ausschließen. Ich glaube, es ist eine gute Lösung, um günstige Mieten in Ballungsräumen zu erhalten. Auch das ist Teil dieses Jahressteuergesetzes.
({4})
Es ist also ein gutes Gesetz. Was noch hineinkommt, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir sehen. Zur ATAD sei nur eines gesagt: Da macht der Bundeswirtschaftsminister das, was er immer macht, nämlich aussitzen und nichts tun. Mit diesem Problem sollten Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, an den Bundeswirtschaftsminister richten. Es soll nicht an uns liegen. Ob wir es im Jahressteuergesetz behandeln müssen, steht auf einem anderen Blatt. Aber das werden wir dann in der weiteren Beratung sehen.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Sebastian Brehm, dem ich beinahe schon vorher das Wort erteilt hätte, hat jetzt definitiv das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schrodi, es ist, glaube ich, ganz gut, dass ich auch noch etwas dazu sage; denn einige Punkte sollten wir noch hinzufügen.
Wir diskutieren wie in jedem Jahr über ein Jahressteuergesetz mit unterschiedlichen Gesetzesänderungen im Bereich der Ertragsteuern, der Umsatzsteuer sowie in zahlreichen weiteren Gesetzen – der Kollege Güntzler konnte das ja ausführen –, und wir passen damit Gesetze nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, des EuGH, aber auch aus anderen Gründen an. Auch Korrekturen, die notwendig sind, passen in ein solches Jahressteuergesetz.
In diesem Jahr kommt es zusätzlich darauf an, dass wir die Herausforderungen der Coronapandemie mit im Blick haben und auch diskutieren, welche steuerlichen Schwerpunkte wir setzen – für mehr Wachstum, für mehr Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir wollen vor allem Investitionsanreize setzen.
Deshalb packen wir die Erweiterung des Investitionsabzugsbetrages an. Bisher konnten Unternehmen mit einem Betriebsvermögen bei Bilanzierung von 235 000 Euro oder einem Gewinn bei Einnahmenüberschussrechnung von 100 000 Euro und in der Landwirtschaft mit einem Wirtschaftswert von 125 000 Euro 40 Prozent von zukünftigen Investitionen in einen Investitionsabzugsbetrag packen. Dies führt im ersten Schritt zu einer Steuerreduzierung und lässt damit übrigens Mittel für Investitionen frei werden. Das ist der Unterschied zwischen uns: Sie von den Linken wollen das Geld vorher wegnehmen; wir wollen, dass das Geld für Investitionen in den Unternehmen bleibt.
Deswegen ist die Erweiterung des Investitionsabzugsbetrages auf nun 50 Prozent bei einer einheitlichen Grenze von 150 000 Euro Gewinn grundsätzlich sehr gut. Ich glaube übrigens, dass wir noch etwas obendrauf packen müssen, dass wir die Grenze von 150 000 auf 250 000 Euro Gewinn erhöhen müssen. Damit könnten wir weitere Investitionen im Land steuern. Damit hätten wir mehr Geld in den Unternehmen, und das brauchen wir in dieser Zeit.
({0})
Wenn wir weitere Investitionen und Wachstum wollen – Wachstum brauchen wir auch, um die Pandemie überhaupt schultern zu können –, dann müssen wir unseren Blick auch auf die Besteuerung der Personengesellschaften richten. Hier werden derzeit Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, mit bis zu 45 Prozent besteuert. Wir liegen damit über 20 Prozentpunkte höher als unsere europäischen Nachbarstaaten. Deshalb wollen wir gemeinsam auch § 34a EStG, also die Thesaurierungsbegünstigung, anpacken, sodass in dieser Zeit mehr Geld in den Unternehmen verbleibt. Dafür werbe ich – so wie für viele Punkte zur Modernisierung der Unternehmensbesteuerung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Entlastung von Arbeitnehmern ist es uns auch wichtig, dass wir die hohen finanziellen Herausforderungen und Belastungen durch die Pandemie entlasten. Deshalb haben wir als CSU eine Homeoffice-Pauschale von 600 Euro im Jahr vorgeschlagen. Ich weiß, dass es hier noch viele Diskussionen gibt, sowohl innerhalb unserer Fraktion als auch mit dem Koalitionspartner. Aber ich glaube, es wäre ein richtiges Signal, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, denjenigen, die Homeoffice gemacht haben, die Homeschooling gemacht haben, die Mehrbelastungen gehabt haben über die Familien, Dank zu sagen und ihnen die Entlastung zukommen zu lassen, die notwendig ist. Also hier bitte ich ganz herzlich um Ihre Unterstützung, dass wir das durchsetzen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein letzter Punkt sei mir auch noch gestattet. Ein Jahressteuergesetz – es ist gut, dass der Bundesfinanzminister da ist – dient auch dazu, Unklarheiten zu beseitigen. Im vergangenen Jahressteuergesetz konnten wir die 44‑Euro-Regelung stärken. Also: Der Arbeitgeber kann zusätzlich zum Arbeitslohn 44 Euro Sachlohn dem Arbeitnehmer zukommen lassen; das ist steuer- und sozialversicherungsfrei. Wir haben im letzten Jahressteuergesetz digitale Produkte mit eingebracht, sogenannte Gutscheinkarten, Open-Loop-Karten. Diese Karten haben keine Geldauszahlungsfunktion, sondern die, sozusagen nur Sachlohn zu ermitteln – eine digitale Lösung in digitalen Zeiten.
Nun kam ein Entwurf eines Schreibens des Bundesfinanzministeriums, in dem quasi diese Karten aus der Regelung wieder herausgenommen worden sind. Das ist eigentlich eine Nichtumsetzung des Gesetzgebungswillens. Deswegen hatte ich in einer Regierungsbefragung auch den Bundesminister danach gefragt. Er hat uns zugesagt, das im jetzigen Jahressteuergesetz noch mal klarzustellen. Es sind übrigens 6,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen, die solche Karten haben. Ich kann Ihnen sagen: Ich glaube nicht, dass wir diesen 6,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die 44 Euro im Monat wegnehmen wollen. Ich glaube, da sind wir uns einig. Wir werden das im Jahressteuergesetz noch mit anpacken und umsetzen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Es gibt noch viel zu tun, zum Beispiel bei der Anpassung der Erbschaftsteuer, bei Behaltensfristen aufgrund der Pandemie, beim Kurzarbeitergeld und anderes.
({3})
– Cum/Ex, jawohl; Verjährungsregelungen und alles andere. – Ich freue mich auf die Diskussion. Packen wir es gemeinsam an, und schauen wir, dass wir ein gutes Jahressteuergesetz daraus machen!
Herzlichen Dank.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Alternative für Deutschland hier im Bundestag beantragt die Aussetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Warum halten wir das für erforderlich? Ganz einfach: Weil die Coronamaßnahmen der Bundesregierung unser Land in ein Chaos gestürzt und vielen Unternehmen und Beschäftigten damit geschadet haben. Die Arbeitslosigkeit ist um fast 30 Prozent gestiegen.
({0})
Die Zahl der offenen gemeldeten Stellen ist massiv eingebrochen. Wir haben 600 000 Arbeitslose mehr. Wir haben 4 Millionen in Kurzarbeit. Viele davon werden nur noch einmal an ihren Arbeitsplatz zurückkommen – um ihren Schreibtisch auszuräumen.
({1})
All diese Menschen schauen nun auf die Politik und fragen sich: Was machen Sie eigentlich für diese Menschen?
({2})
Die Bundesagentur für Arbeit sieht die Pleitewelle erst noch auf uns zukommen. Das staatliche Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet nicht damit, dass die Jobverluste so schnell ausgeglichen werden. In einer solchen Situation daran festzuhalten, ausländische Fachkräfte anzuwerben, halten wir für gefährlich, verantwortungslos und falsch.
({3})
Jetzt muss es heißen: Inländische Fachkräfte zuerst. Deren Existenz und deren Zukunft müssen jetzt an erster Stelle stehen. Wir wollen keine zusätzliche Konkurrenz am Arbeitsmarkt für diejenigen, die jetzt ihren Job verloren haben.
({4})
Wenn wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz dann ausgesetzt haben, dann sollten wir die Zeit nutzen, um diese völlig verfehlte Einwanderungspolitik der Bundesregierung zu korrigieren; denn die Einwanderungspolitik der Bundesregierung löst keine Probleme, sie schafft zusätzliche Probleme.
({5})
Die Bundesregierung ist verantwortlich für massives Lohndumping. Wir werben Fachkräfte an, die bereit sind, die Jobs, die es hier gibt, für 1 000 bis 1 500 Euro weniger im Monat zu machen.
({6})
– Ich bin lauter als Sie.
({7})
Die Bundesregierung ist verantwortlich für eine nie dagewesene Einwanderung in die Sozialsysteme.
({8})
Auf 100 Fachkräfte aus Drittstaaten, die hier einen Job annehmen, kommen 80, die Hartz IV empfangen. Wir haben Arbeitslosigkeit selbst in Mangelberufen. Schauen Sie sich die Altenpflege an. Da ist die Arbeitslosigkeit bei Deutschen zurückgegangen und bei Ausländern um 40 Prozent gestiegen,
({9})
und das im Mangelberuf Nummer eins. – Sie alle kennen die Zahlen; denn es sind die Zahlen der Bundesregierung.
({10})
Die Bundesregierung ist verantwortlich für eine nie dagewesene Abwanderung deutscher Fachkräfte. Jedes Jahr verlassen Zehntausende Deutsche dieses Land und kehren nicht wieder zurück.
({11})
Ich höre hier niemanden, der nachfragt, warum das so ist.
({12})
Meine Damen und Herren, wir als Alternative für Deutschland rücken die Interessen der deutschen Arbeitnehmer wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns. Unterstützen Sie uns dabei. Ich freue mich auf eine sachliche Debatte.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Springer, Sie wünschen sich eine sachliche Debatte. Ihr Beitrag war sicherlich der geringste Beitrag zur Sachlichkeit in dieser Debatte.
({0})
Das muss man vorab feststellen.
In Ihrem Antrag ist die Rede auch von der Westbalkanregelung und vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz, wobei Sie dort alles durcheinanderwerfen; Sie trennen die Dinge nicht sorgfältig.
Ich will einmal – ganz unbeschadet dessen, was ich vorbereitet habe – eine ganz grundsätzliche Bemerkung machen: Wenn wir uns über die Situation unserer Wirtschaft und unseres Arbeitsmarktes insgesamt ins Bild setzen, dann sehen wir, dass wir ohne ausländische Fachkräfte, ohne ausländische Arbeitskräfte überhaupt nicht mehr klarkommen würden. Wir hätten den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre und Jahrzehnte überhaupt gar nicht bewerkstelligen können, wenn wir nicht Kräfte von außen angeworben hätten und wenn nicht Menschen aus anderen Ländern bereit gewesen wären, hier in Deutschland zu arbeiten und mit zu unserem Wohlstand beizutragen.
({1})
Das, glaube ich, sollte man der Fairness und der Ausgewogenheit halber wirklich feststellen.
Wenn Sie sich einzelne Branchen ansehen, dann sehen Sie, dass im Reinigungsbereich 35 Prozent der Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen; dabei sind gar nicht all diejenigen mitgezählt, die vielleicht schon viele Jahre hier sind und längst die deutsche Staatsbürgerschaft haben. In der Lebensmittelherstellung, in der Lebensmittelverarbeitung sind es 32 Prozent, im Tourismus, im Hotel- und Gaststättengewerbe sind es 28 Prozent, beim Bau ist es jeder vierte Arbeitnehmer. Das heißt, wir würden hier, um das mal deutlich zu sagen, gar nichts mehr auf die Platte kriegen ohne die Zuwanderung aus dem Ausland.
({2})
Jetzt machen wir das nicht in der Art und Weise, wie Sie es geschildert und auch in Ihrem Antrag geschrieben haben. Sie behaupten, es gäbe keine Vorrangprüfung mehr, und schreiben all diesen Blödsinn. Sie kennen sich wirklich nicht aus, und Sie können zur Sache nichts beitragen.
({3})
Bei der Westbalkanregelung gilt die Vorrangprüfung durchgängig weiter. Das heißt, wir prüfen immer, ob wir inländische Arbeitskräfte haben, Deutsche oder EU-Ausländer, die den Job machen können. Erst wenn das nicht der Fall ist, kann eine Zuwanderung aus dem Ausland stattfinden.
({4})
Was das Fachkräfteeinwanderungsgesetz angeht, so liegen auch da die Prämissen erst mal auf der Qualifizierung der inländischen Kräfte, der Deutschen, aber auch der EU-Ausländer und auch der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, die wir hier aufgenommen haben. Auch die wollen wir zunächst qualifizieren, in den Arbeitsmarkt bringen. Da gibt es beachtliche und gute Erfolge. Auch das muss man feststellen.
({5})
Ganz unbeschadet dessen will ich Ihnen mal sagen: Wir haben, was die EU-Zuwanderung angeht, gewaltige Rückgänge. Das heißt, wir werden in Zukunft allein mit Zuwanderung aus den EU-Staaten gar nicht mehr klarkommen. Wir werden unsere Arbeitsplätze gar nicht mehr besetzen können. Wir haben dort einen Rückgang von 29 Prozent im Vergleich des ersten halben Jahres 2020 mit dem ersten halben Jahr 2019. Wir haben eine demografische Entwicklung, bei der wir absehen können, dass uns im Jahr 2030 mindestens 10 Prozent weniger Arbeitskräfte hier im Inland zur Verfügung stehen werden. Das heißt, wir stehen auch in Zukunft vor der Aufgabe, dass wir Fachkräfte aus dem Ausland akquirieren müssen.
Deswegen haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz gemacht. Das ist auch auf manche Kritik gestoßen, wir wären an der einen oder anderen Stelle ein bisschen zu engherzig. Ich sage Ihnen: Ich glaube, wir haben es genau richtig gemacht. Denn wir haben in bestimmten Bereichen, wo es beispielsweise um ein sechsmonatiges Visum geht, um hier einen Ausbildungsplatz anzunehmen, die Qualifikationsanforderungen sehr hoch angesetzt. Das ist auch richtig so, weil das eine allgemeine Anwerbung ist. In anderen Bereichen, wo es etwa um IT-Kräfte geht, Spezialkräfte im IT-Bereich, haben wir sehr pragmatisch angesetzt und gesagt: Wir verlangen nicht mal einen Bildungsabschluss, wir verlangen nur Berufspraxis, drei Jahre einschlägige Berufspraxis, und ein Mindestgehalt. – Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann jemand als IT-Fachkraft nach Deutschland zuwandern. Es ist genau richtig, dass wir die Bedingungen so sauber und sorgfältig differenziert haben.
({6})
Die Zahl der offenen Stellen – das stellen auch Sie in Ihrem Antrag fest – ist zurückgegangen – das ist richtig –, aber sie ist eben immer noch vergleichsweise hoch. Wir brauchen noch 40 000 Leute in Medizin- und Gesundheitsberufen. Wir haben 35 000 offene Stellen bei Mechatronik, Energie und Elektro, und wir haben 15 000 offene Stellen bei Informatik und bei IT-Berufen. Also, wir haben noch Bedarf, und wir werden es weiterhin klug machen.
Wir sind auch beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz immer in der Lage, sauber und fein nachzujustieren; denn wir haben auch da jederzeit die Möglichkeit, die Vorrangprüfung wieder in Gang zu setzen. Das geht qua Verordnungsermächtigung. Wir können das sehr zielgenau machen: für bestimmte Berufsgruppen und sogar für bestimmte Regionen in Deutschland.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich – da ziehe ich die Bilanz –: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz muss unbedingt in Kraft bleiben. Es ist aus meiner Sicht sehr zielgerecht, und es ist ausgewogen.
Eine letzte Bemerkung, weil dieser Punkt bestimmt auch in dieser Debatte angesprochen wird: Wie läuft das mit den Visa? Wir haben unsere Visastellen angewiesen, dass in Zukunft jeder, der sich nach dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz bewirbt, innerhalb von drei Wochen seinen Antrag bei den ausländischen Visastellen stellen kann. Wenn das nicht klappen sollte, dann wenden Sie sich freundlicherweise an das Auswärtige Amt. Es wird leider seit 60 Jahren nicht mehr von der Union geführt.
({7})
Der letzte Amtsinhaber, den wir 1961 gestellt hatten, war Gerhard Schröder, aber der andere Gerhard Schröder; nicht der, der sich jetzt als Laufbursche zur Verfügung stellt, sondern der andere.
Herzlichen Dank.
({8})
Linda Teuteberg, FDP, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig ist: Unser Land steckt derzeit in einer tiefen Wirtschaftskrise, und wir müssen einiges tun, um es wieder auf einen Wachstumspfad zu führen. Allein, was die AfD hier vorschlägt, geht völlig an der Sache vorbei. Wir werden die Wirtschaftskrise bestimmt nicht mit Rückschritten bei der Fachkräfteeinwanderung meistern, sehr geehrte Damen und Herren.
({0})
Wir als Freie Demokraten sind wahrlich nicht zufrieden mit dem, was die Große Koalition als Antwort auf die Wirtschaftskrise anbietet. Wir brauchen mehr als eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes über die Bundestagswahl hinaus – was nicht mehr und nicht weniger ist als der Traubenzucker für einen Marathon. Wir brauchen vielmehr auch eine Debatte darüber, dass zum Beispiel die Existenz des Facharbeiters, um die es auch uns Freie Demokraten geht, eben genau davon abhängt, dass unser Land diejenigen Ingenieure anwerben kann, die es braucht.
Insofern ist der AfD-Antrag hier viel zu kurz gesprungen. Dass aber das Kurzarbeitergeld eine sinnvolle Kurzfristmaßnahme ist, zeigt sich darin, dass die Arbeitgeber erst mal bemüht sind, ihre Fachkräfte auch in der Krise zu halten. Genau deshalb nutzen sie es. Auch da geht die AfD von falschen Befürchtungen aus.
({1})
Politik, die rechnen kann, muss vor allem aber auch Statistiken richtig deuten. Wenn die AfD mit Arbeitslosenzahlen argumentiert, dann vernachlässigt sie dabei völlig, dass diese zum Teil auch auf den demografischen Wandel zurückzuführen sind – in bestimmten Bereichen sinkt allein deswegen das Angebot an deutschen Arbeitskräften. Wir sind also dringend darauf angewiesen, etwa im Pflege- und Gesundheitsbereich, Menschen in unseren Arbeitsmarkt einzuladen. Deshalb sind die bisherigen Regelungen dazu richtig und die Vorschläge im vorliegenden Antrag falsch.
({2})
Sie zeigen, dass die AfD die Größe der Herausforderung nicht erkannt hat. Klar ist: Wir können diese Herausforderung nicht allein durch Einwanderung, aber auch nicht ohne Einwanderung bewältigen.
Und: Wir müssen mehr für Bildung tun und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergreifen. Wir machen dazu Vorschläge, zum Beispiel die Einführung des Midlife-BAföG. Aber wir werden das Problem nicht ohne mehr Fachkräfteeinwanderung lösen. Das muss hier gesagt werden.
({3})
Die Fachkräfte, die unser Land braucht, warten übrigens nicht an der Grenze, sondern es bieten sich ihnen weltweit Alternativen. Außer den Gesetzen zur Migration gibt es einige Faktoren, die Menschen davon abhalten, zu uns zu kommen. Das ist zum einen unsere Sprache, die, zwar wunderschön, aber auch schwer zu erlernen ist. An der können und wollen wir wohl nichts ändern, aber sie ist ein hemmender Faktor. Zum anderen ist es die im internationalen Vergleich leider spitzenmäßig hohe Steuer- und Abgabenlast, die hochqualifizierte Menschen abhält, zu uns zu kommen. Darüber jedoch müssen wir diskutieren.
({4})
Weil es also Faktoren außer der Migrationsgesetzgebung gibt, die unser Land für Fachkräfte eher weniger attraktiv machen, ist es umso wichtiger, dass wir mehr bekommen als das, was uns die GroKo zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz vorgelegt hat; denn das ist zaghaft, uninspiriert und kein großer Fortschritt.
({5})
Was für die Unionsparteien offenbar schon ein großer Schritt war, ist ein winziger für unser Land. Und es ist mehr als nur eine technische Frage, dass wir kein Einwanderungsgesetz aus einem Guss bekommen haben, sondern mehrere Gesetzentwürfe, mit denen nur kleine Änderungen an bereits bestehenden Gesetzen vorgenommen werden. Nach eigener Prognose der Großen Koalition sind durch die Regelungen nur circa 25 000 Fachkräfte mehr pro Jahr zu erwarten. Wir brauchen aber einen großen Wurf.
Was ist also aus unserer Sicht zu tun? Erstens: Wir müssen die Bluecard weiter ausbauen und damit einen Zugang für Menschen schaffen, die ein konkretes Arbeitsvertragsangebot haben.
({6})
Wir brauchen, zweitens, endlich ein Punktesystem, wie wir es aus erfolgreichen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien oder Neuseeland kennen. Ihnen gelingt es, die Einwanderung in den Arbeitsmarkt gezielt zu steuern.
Aller guten Dinge sind drei: Für ein modernes Einwanderungsrecht braucht es auch moderne Behörden. Die Visastellen vergeben längst nicht genügend Termine, damit qualifizierte Menschen zügig ihre Anträge stellen können. Wir brauchen außerdem Lotsen durch das derzeitige Behördenchaos und den Bürokratiedschungel – am besten wäre es natürlich, ihn gar nicht erst mit den Gesetzen zu schaffen, die wir hier im Haus beschließen. Und wir brauchen auch zügige und einheitliche Anerkennungsverfahren für berufliche Qualifikationen, und zwar bundesweit.
({7})
Das wäre ein großer Wurf beim Thema Fachkräfteeinwanderung. Zugleich will ich auch etwas anderes deutlich machen – denn daran entzündet sich ein großer gesellschaftlicher Konflikt in unserem Land und auch in vielen anderen westlichen Demokratien.
Wir müssen uns ehrlich machen und klar unterscheiden: Erstens: Wer braucht unseren Schutz? Zweitens: Wen wollen wir in unseren Arbeitsmarkt und in unsere Gesellschaft einladen? Drittens: Für wen gilt „weder noch“?
Leider hat die linke Seite dieses Hauses mit der dritten Kategorie ein Problem. Denn es bedeutet, auch hier die rechtsstaatliche Konsequenz walten zu lassen und endlich dafür zu sorgen, dass es einen Unterschied macht, wie in unserem Land ein rechtsstaatliches Asylverfahren ausgeht. Es macht nämlich einen Unterschied, ob es positiv ausgeht – dann ist der Schutzanspruch gegeben und Integration zu gewährleisten – oder ob es abschlägig beschieden wird, und dann muss auch die Pflicht zur Ausreise durchgesetzt werden.
({8})
Beides gehört zusammen und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden.
({9})
Wir brauchen mehr geordnete, legale Migration und zugleich die wirksame Bekämpfung illegaler Migration. Deshalb sollten die Bereiche nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr müssen wir in Deutschland unsere Hausaufgaben machen neben dem, was wir gerade auf europäischer Ebene zu verhandeln haben. Und das bedeutet: ein Fachkräfteeinwanderungsrecht zu schaffen, bei dem kleine und mittelständische Unternehmen nicht einen Fachanwalt brauchen, um zu klären, ob der Arbeitnehmer mit den entsprechenden beruflichen Qualifikationen, den sie brauchen und der zu uns kommen möchte, eine Chance auf legalen Aufenthalt bei uns hat. Und das bedeutet auch, das Vertrauen unserer Bürgerinnen und Bürger endlich dadurch zu stärken, dass es in der Praxis einen Unterschied macht, wie bei uns ein Verfahren ausgeht, und dass es zur Regel und nicht zur Ausnahme wird, dass die Pflicht zur Ausreise, wenn sie feststeht, in einem Rechtsstaat auch durchgesetzt wird.
({10})
Das ist unsere Verantwortung. Wir wollen uns ihr stellen und laden andere, die das in diesem Haus noch nicht tun, dazu ein, das ebenfalls zu tun.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, SPD.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Teuteberg hat eben zur Fachkräfteeinwanderung vorgetragen, sie sei zu zaghaft. Die Antragsteller sagen: Wir sollten sie gar nicht erst zulassen. Beide können sie nicht recht haben. Ich sage Ihnen: Sie haben beide nicht recht. Diese Koalition hat ein Gesetz nach Maß und Mitte für Einwanderung und nach klaren Regeln für Fachkräfte vorgelegt, und das ist gut für unser Land.
({0})
Als wir dieses Gesetz beraten haben, kamen die Wirtschaftsverbände auf uns zu und haben gesagt: Könnt ihr das nicht großzügiger machen? Können wir nicht zum Beispiel auch Ungelernte in dieses Gesetz hineinnehmen? Wir haben dann zurückgefragt: Was ist eigentlich, wenn jemand in Ihrem Betrieb ein Handicap hat? Hat diese Person eine Chance, oder kaufen Sie sich frei? Was ist, wenn Sie einen Lebenslauf bekommen, der nicht ganz gerade ist – es gelingt nicht immer alles im Leben –, in dem es Lücken gibt? Fliegt diese Bewerbung vom Stapel, oder hat diese Person bei Ihnen eine Chance? Oder was ist, wenn sich ein Mädchen bewirbt und auf dem Lichtbild zu sehen ist, dass sie ein Kopftuch trägt? Hat sie die gleichen Chancen wie jede andere, die sich bewirbt, oder hat sie Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt? Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns geht es um alle Menschen in diesem Land. Es gibt ein Recht auf Arbeit. Wir müssen sagen: Alle werden gebraucht. Diese Politik verfolgen wir in dieser Bundesregierung.
({1})
Jetzt kommt Corona, und das führt zu neuen Sorgen. Aber es ist überdeutlich für die Menschen im Land: Diese Regierung kämpft mit Hubertus Heil und der ganzen Ministerriege um jeden Arbeitsplatz.
({2})
Wir gehen mit Wumms gegen diese Krise vor,
({3})
damit wir im nächsten Jahr nach Möglichkeit wieder die Wirtschaftsleistung erreichen, die wir vor der Krise hatten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das können wir auch schaffen, wenn wir uns anstrengen.
({4})
Aber wir schaffen es nicht, wenn wir uns spalten lassen. Wir schaffen es auch nicht, wenn wir das Land schlechtreden, aber genau das passiert hier. Das Land wird von Leuten schlechtgeredet, die glauben, dass es ihnen damit besser geht. Das ist eine ganz durchsichtige Strategie.
({5})
Kollege Middelberg hat es angesprochen: Es ist ein Irrweg, die Dinge gegeneinanderzustellen. Gehen wir in die Betriebe, in die Handwerksbetriebe in unseren Wahlkreisen. Die Menschen, die von außen dazukommen, sichern längst die Arbeitsplätze, auch von Menschen, die schon lange in diesem Land sind. Das ist kein Gegensatz, sondern es ist zum Nutzen aller, dass wir Einwanderung gestalten und dafür klare Regeln aufstellen.
({6})
Zum Schluss noch eine persönliche Erfahrung: Mitte der 90er-Jahre gab es schon einmal eine stark ansteigende Arbeitslosigkeit, die übrigens von dem „Laufburschen“, Herr Middelberg, mit starken Reformen auf dem Arbeitsmarkt bekämpft worden ist, und das wirkungsvoll.
({7})
Damals habe ich in meiner Heimatstadt zu einem runden Tisch zum Thema Arbeit eingeladen. Daraus ist eine Beschäftigungsinitiative entstanden, die heute noch als kleines Sozialunternehmen Menschen Arbeit bietet. Ich kann Ihnen aufzählen, wer damals dabei war: Das war der Vorsitzende der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, das war der Gemeindediakon der Evangelischen Kirche, das war unser Stadtkämmerer, und das war die Erste Bürgermeisterin, die uns geholfen hat, die Satzung für den Verein zu schreiben. Leute, die sagen, man müsste mal was für die Menschen hier im Land machen, denen es nicht so gut geht, habe ich bei dieser Gelegenheit nicht gesehen. Daraus habe ich eine Grunderfahrung gezogen, nämlich dass manchmal die Leute, denen es nicht gut geht, von Leuten benutzt werden, die eine ganz andere Suppe kochen wollen. Das ist das, was die AfD hier macht. Ihnen geht es nicht um die Menschen, die in diesem Land auf die Füße kommen müssen und Hilfe brauchen.
({8})
Sie benutzen diese Menschen, und das ist schäbig.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Land werden alle gebraucht. Das ist etwas, woran wir weiter arbeiten müssen. Wir wollen mit Wumms aus dieser Krise. Wir wollen, dass wir wieder die Wirtschaftsleistung wie vor der Krise haben. Das können wir nächstes Jahr schaffen. Dazu hilft Einwanderung, wenn wir sie klug gestalten, wenn sie gute Regeln hat. Die entsprechenden Regeln hat diese Regierung mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz aufgestellt.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Ferschl, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einmal mehr muss sich dieser Bundestag mit einem Antrag der AfD beschäftigen, der nichts anderes zum Ziel hat, als diese Gesellschaft zu spalten. Die Krise kommt Ihnen doch gerade recht. Wie sagte Ihr geschasster Fraktionssprecher Lüth: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD.“ Die Menschen plagen Existenzängste. Sie betreiben billige Stimmungsmache, und statt konstruktiver Vorschläge kommt von Ihnen immer nur: „Die Ausländer sind schuld.“ – Das ist nicht nur billig, sondern auch extrem abstoßend.
({0})
Dieser Antrag ist wie alle Anträge von Ihnen fachlich einfach nur schlecht. Sie betrachten darin unter anderem die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Gesundheits- und Krankenpflege innerhalb der letzten sechs Jahre und sagen dann, dass die Arbeitslosigkeit bei den ausländischen Beschäftigten um 70 Prozent gestiegen ist, wohingegen sie bei den inländischen Beschäftigten gesunken ist. Damit wollen Sie natürlich suggerieren, dass die Ausländer zum großen Teil arbeitslos sind und uns auf der Tasche liegen.
Die absoluten Zahlen mögen ja stimmen.
({1})
Um eine Entwicklung zu erkennen, muss man jedoch Zahlen ins Verhältnis setzen. Aber mit Prozentrechnen haben Sie es ja offensichtlich nicht so. Im genannten Zeitraum hat sich nämlich die Anzahl der ausländischen Beschäftigten verdoppelt, was im Übrigen deutlich beweist, wie dringend sie gebraucht werden.
Setzt man jetzt die Zahlen in Relation, merkt man: Die Arbeitslosenquote „der Ausländer“ ist deutlich gesunken. Sie liegt mit 3 Prozent weit unter der allgemeinen Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent. Was wollen Sie also? Mit miesen Taschenspielertricks versuchen Sie hier Ihre rassistischen Spiele zu spielen. Aber ohne uns!
({2})
Wir Linken haben das Fachkräfteeinwanderungsgesetz damals auch kritisiert: dahin gehend, dass einseitig die Unternehmenslobby mit möglichst billigen Arbeitskräften bedient und so Lohndumping befördert wird. Aber die Lösung kann doch niemals eine Abschottungspolitik sein, sondern muss eine Regulierung des Arbeitsmarktes beinhalten, die genau diese Konkurrenz zwischen den Beschäftigten verhindert.
({3})
Es gäbe genügend Maßnahmen: eine Stärkung der Tarifbindung, weil Tarifverträge für einheitlich faire Bedingungen sorgen, mit einem Mindestlohn von wenigstens 12 Euro als unterster Auffanglinie, und die Eindämmung von prekärer Beschäftigung.
({4})
All das lehnen Sie aber mit der Begründung ab, das würde den Unternehmen die Flexibilität nehmen. Sie gerieren sich in der Öffentlichkeit als die Partei des kleinen Mannes. Im Bundestag vertreten Sie knallharten Neoliberalismus, gepaart mit einer Prise Rassismus. Deswegen ist alles, was hier vom rechten Rand kommt, abzulehnen.
({5})
Die Linke steht für eine solidarische Zuwanderung und gute Arbeit für alle. Solidarität statt Ausgrenzung!
({6})
Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Dieses Zitat von Max Frisch über die Gastarbeiterinnen- und Gastarbeitergeneration kennen wir alle. Es ist heute noch so aktuell wie 1965. Angesichts der Debatte heute möchte ich es noch einmal in Erinnerung rufen: Wir sprechen hier nicht über kalte Zahlen oder über Humankapital. Wir sprechen hier über Menschen, die sich hoffentlich für unser Land entscheiden, über Menschen, die sich für ein Unternehmen, einen Handwerksbetrieb oder eine Pflegeeinrichtung entscheiden, die sich für ein Studium oder eine Ausbildung in Deutschland entscheiden oder sich einfach in jemanden in Rosenheim, Schwerin, Bielefeld oder Freital verliebt haben. Aber wie in der Ehe oder Partnerschaft sollte in einer Einwanderungsgesellschaft doch das Versprechen gelten: In guten wie in schlechten Zeiten.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, einen großen Anteil daran, dass dieses Land vor der Pandemie und währenddessen am Laufen geblieben ist und bleibt, hatten auch Eingewanderte. Eine Studie der Europäischen Kommission aus dem April dieses Jahres legt eindrücklich dar, dass vor allem Migrantinnen und Migranten in den systemrelevanten Berufen, in der Landwirtschaft, der Lebensmittelbranche oder im Gesundheitsbereich – wir alle wissen das –, in Krankenhäusern, Arztpraxen und Laboren, arbeiten. Laut dieser Studie sind es europaweit ungefähr 20 Prozent; in Deutschland ist der Anteil sogar noch höher. Vielleicht sollte die rechte Seite dieses Hauses dies einmal zur Kenntnis nehmen und sich vor der Leistung und dem Engagement dieser Menschen verneigen.
({1})
– Versuchen Sie es doch einmal, Herr Gauland, Frau Weidel; es tut wirklich nicht weh.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist und bleibt auf Einwanderung angewiesen; das wurde eindrücklich von den Kolleginnen und Kollegen bestätigt. Das müssen Sie einfach akzeptieren. Das betonte unlängst der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit Daniel Terzenbach. Obwohl durch die Coronapandemie die Arbeitslosigkeit steige, bestehe weiterhin Fachkräftemangel in wesentlichen Branchen. Er sagte: „Wir brauchen Pflegekräfte, Mediziner, Fachkräfte im Tiefbau oder IT-Fachleute.“ Corona ändere daran nichts.
Ich möchte auch aus einer Studie der KfW aus dem Juni 2020 berichten. Diese kommt zu dem Schluss und unterstreicht: Die Gefahr für die deutsche Wirtschaft, wenn hier nicht weitreichend gegengesteuert werde, sei sehr groß. „Schon in wenigen Jahren werden der Fachkräftemangel und die schwache Produktivitätsentwicklung ... wieder zu den größten Herausforderungen der deutschen Wirtschaft zählen“, so KfW-Chefvolkswirtin Dr. Fritzi Köhler-Geib.
({2})
Ja, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz – es ist gerade von Herrn Middelberg erwähnt worden – wird gar keinen Anteil daran haben, dieses Problem zu lösen. Insofern ist der Antrag der AfD auch ein bisschen absurd, das in Korrelation zu setzen. Zum einen haben die steigenden Arbeitslosenzahlen nun wirklich nichts mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu tun. Zum anderen ist es bisher und bleibt es auch in Zukunft wirkungslos, weil es leider weiterhin sehr bürokratisch ist. Das war im Übrigen auch die Kritik der Wirtschaft: starr und intransparent für die Einwanderungswilligen. Das bleibt so und ist so. Deshalb fordern wir Grünen weiterhin seit Jahren ein modernes Einwanderungsgesetz und eine Einwanderungskommission, die diesem Prinzip gerecht wird.
({3})
Mit der Einführung einer sogenannten Talentkarte auf der Grundlage eines kriterienbasierten Punktesystems kann nämlich flexibel auf die Bedarfe des Arbeitsmarktes reagiert werden. Sie bietet gleichzeitig Einwanderungswilligen ebendieses transparente und faire Verfahren. Eine Einwanderungskommission in diesem System könnte jährlich den Arbeitskräftebedarf neu abschätzen und steuern, Mangelberufe frühzeitig erkennen und gleichzeitig auch die Problematik des sogenannten Braindrain aus den Herkunftsstaaten berücksichtigen. Ein, wie wir finden, sinnvolles System, und dafür werden wir auch weiter werben.
({4})
Ja, wir dürfen die Fehler bei der Anwerbung der sogenannten Gastarbeiterinnen- und Gastarbeitergeneration nicht wiederholen; da sind wir uns alle einig. Wenn Einwanderungswillige lediglich als Arbeitskräfte betrachtet werden und nicht als Menschen, wenn die Familien nicht mitgedacht werden, wenn keine langfristigen Perspektiven geboten werden und wenn die Migrantinnen und Migranten als Arbeitskräfte zweiter Klasse behandelt werden, wird es Deutschland nie vom Einwanderungsland zu einer inklusiven und chancengerechten Einwanderungsgesellschaft schaffen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Peter Weiß, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist ja unbestritten: Wenn Deutschland weiterhin wirtschaftlich spitze sein will, insbesondere wenn Deutschland aus der derzeitigen Krise herauskommen will, brauchen wir mehr Fachkräfte. Deswegen haben wir zusammen mit der Bundesregierung etwas viel Umfassenderes in Gang gesetzt, nämlich die Fachkräftestrategie für unser Land. Inhalt der Fachkräftestrategie ist zuallererst einmal, das inländische Potenzial an möglichen Fachkräften zu heben, also Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Chance zu geben, sich für die Zukunft weiter zu qualifizieren, dafür sorgt zum Beispiel das Qualifizierungschancengesetz. Außerdem haben wir über 4 Milliarden Euro in die Hand genommen, um Menschen, die lange arbeitslos sind, Arbeitslosengeld II beziehen, endlich eine Chance zu geben, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen; ein Instrument, das übrigens sehr erfolgreich wirkt.
Es ist interessant, dass die Fraktion, die diesen Antrag heute gestellt hat, beide Gesetze zur Qualifizierung deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Deutschen Bundestag abgelehnt hat. Bemerkenswert!
({0})
Und es zeigt mit Deutlichkeit: Es geht Ihnen nicht um die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, es geht Ihnen erst recht nicht um die deutschen Arbeitslosen.
({1})
Da ist bei Ihnen Fehlanzeige.
({2})
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz schafft etwas, was die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land schon lange gefordert hat, nämlich eine klare Trennung zwischen dem Thema Asyl und dem Thema Erwerbsmigration. Das ist auch richtig.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen Fachkräfte, weil wir sie brauchen. Dafür setzen wir klare Bedingungen, zum Beispiel auch beim Gehalt. Gerade weil wir die digitale Welt gestalten wollen, sagen wir: Ja, wir brauchen mehr ITler. – Aber wenn ein ausländischer ITler hierherkommen soll, dann verlangen wir, dass er ein Jobangebot vorweist, bei dem er mindestens 4 140 Euro im Monat verdient. Keine Dumpinglöhne: Über 4 000 Euro müssen es sein.
({4})
Für andere Beschäftigungsbereiche haben wir ins Gesetz hineingeschrieben, dass jemand, der 45 Jahre oder älter ist, ein Mindestgehalt von 3 795 Euro pro Monat nachweisen muss.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Springer?
Ja, gerne.
({0})
Das kann sich jetzt wieder ändern. – Herr Präsident! Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Weiß. – Sie sagen gerade, dass man für IT-Fachkräfte eine Lohnbedingung eingeführt hat, das heißt also, dass im Arbeitsvertrag ein bestimmter Lohn stehen muss. Da haben Sie völlig recht. Da reden wir allerdings nicht über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, sondern über die Blaue Karte der Europäischen Union; das ist eine ganz andere Möglichkeit der Fachkräfteeinwanderung.
({0})
Ich wollte Sie fragen, ob Sie das eben in Ihrer Rede durcheinandergebracht haben.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Herr Kollege Springer, ich werde Ihnen nach dieser Debatte eine Ausfertigung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes zusenden,
({0})
in der Sie exakt die von mir zitierte Passage zum Thema Einwanderung von IT-Fachkräften nachlesen können.
({1})
Sie haben wahrscheinlich auch ein Handy oder iPhone, womit man rechnen kann, und wenn Sie es nachrechnen, dann werden Sie sehen, dass Sie auf die von mir genannten Monatseinkommen kommen. Das ist die dort festgelegte gesetzliche Bestimmung.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man schon über das Thema „arbeitslose Ausländerinnen und Ausländer“ sprechen will, muss man die Zahlen miteinander in Relation setzen; darauf ist zu Recht hingewiesen worden. Wenn man sich die Arbeitslosenrate bei Akademikern in Deutschland anschaut – ich glaube, das ist das deutlichste Beispiel –, dann sieht man, dass die Arbeitslosenrate unter deutschen Akademikern höher ist als unter ausländischen Akademikern. Das zeigt: Die Leute, die zu uns kommen, sind in der Tat so qualifiziert, dass sie den Arbeitsplatz nicht verlieren, sondern Gott sei Dank für unser deutsches Steuer- und Sozialversicherungssystem hier in Deutschland erfolgreich arbeiten.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, made in Germany ist das Markenzeichen, das für den Erfolg der deutschen Wirtschaft steht. Made in Germany ist auch weltweit gefragt. In der Regel zahlt man für made in Germany auch ein bisschen mehr als für etwas anderes. Made in Germany gibt es aber auch in Zukunft nur, wenn die besten Fachkräfte eine Chance haben, in den deutschen Hightechunternehmen ihre Ideen zu verwirklichen und ihre Arbeitskraft einzusetzen.
({4})
Es wird zu Recht gefragt: Wie kommen wir aus der derzeitigen Krise heraus? – Wir sehen schon, dass wir mit den Anstrengungen, die wir unternehmen, auch Erfolg haben: Die Zahl der Arbeitslosen und die Zahl der Kurzarbeiter sinkt. Das ist eine gute Botschaft: Sie steigt nicht, sie sinkt. Aber wenn wir mit made in Germany aus dieser Krise herauskommen wollen, dann brauchen wir mehr und bessere Fachkräfte: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereit sind, sich hier in Deutschland zu qualifizieren, aber eben auch qualifizierte ausländische Fachkräfte, die zu uns kommen und bereit sind, bei uns in Deutschland zu arbeiten. Sie werden überall auf der Welt gesucht. Es ist ja nicht so, dass die Fachkräfte bei uns Schlange stehen; überall auf der Welt werden qualifizierte Fachkräfte gesucht. Wir haben mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Basis dafür geschaffen, dass Deutschland weiterhin erfolgreich sein kann, und das wollen wir.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollte Abhilfe in Mangelberufen schaffen; aber weder wurde das Gesetz auf Berufssparten beschränkt, wo Mangel herrscht, noch auf Fälle, wo wir die Leute sicher brauchen. Man will gar nicht wissen, ob ein Deutscher den Job machen könnte, es soll keine Vorrangprüfung mehr geben. Wenn man dann noch hinzunimmt, dass das Gesetz weder eine klare Qualifikation verlangt
({0})
oder einen Nachweis der Gleichwertigkeit vor Einreise – ja, erst hier Beginn einer Ausbildung – noch eine Jobzusage – erst hier Jobsuche –, dann wird auch dem Letzten klar: Egal ob da überhaupt Fachkräfte kommen, Hauptsache außereuropäische Zuwanderung, meist aus islamischen Ländern oder Clangesellschaften, oft mit höherer Gewaltaffinität, überproportional repräsentiert in der Kriminalstatistik. Da ist Integration zum Scheitern verurteilt; das ist das Aus für Sozialkassen und innere Sicherheit, Staatscrash mit Ansage.
({1})
Durch den überzogenen Lockdown haben Sie doch erst eine verschärfte Staatsschulden- und Wirtschaftskrise verursacht. Die wird für dauerhafte Massenarbeitslosigkeit sorgen, das entzieht jedem Argument für Arbeitskräfteanwerbung die Grundlage.
({2})
Wir haben schon 3 Millionen Arbeitslose, 3,6 Millionen Unterbeschäftigte, 3,7 Millionen Kurzarbeiter. Die Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen ist im letzten Halbjahr um 38 Prozent gestiegen; es sind jetzt 292 000. Sie gilt es jetzt in Lohn und Brot zu bringen, nicht Ihre deutschlandschädliche Ideologie zu pflegen.
({3})
Das Gesetz will die Gleichbehandlung von Ungleichen erzwingen.
({4})
Dabei wird das zu verteilende Gut, der deutsche Arbeitsplatz, von der hier arbeitenden Bevölkerung geschaffen, von hiesigen Betrieben und Unternehmern erwirtschaftet, vom deutschen Steuerzahler subventioniert: ein Leistungsprodukt der gesamten Gesellschaft, mithin nicht einfach veräußerbar zur Nutznießung für alle Welt, sondern vorrangig verfügbar für Bürger dieses Landes, die, falls arbeitslos, weiterhin unterhalten werden müssen. Diesen Arbeitsplatz im Lande zu nutzen, statt weltweit zu verscherbeln, diskriminiert niemanden. Alles andere aber wäre Veruntreuung dieser deutschen Vorleistung. Wer das global veräußert, beutet unser Volk für die Interessen anderer aus, handelt verantwortungslos, inhuman gegen die eigenen Menschen und staatsschädigend.
({5})
Es ist doch klar, dass dieses Gesetz die Arbeitsmigration Unterqualifizierter weiter anheizt, dass die Armee afrikanischer Niedriglohnzuwanderer die Arbeitsmarktlage hier durch Lohndumping weiter verschlechtert. Klar, was das für den Engpass am Wohnungsmarkt heißt, für die Situation in den Städten, an den Schulen: Es ist Ihnen offensichtlich völlig egal, wenn Sie nur Ihre Zuwanderungsagenda durchziehen.
({6})
Bei Auswanderung von 180 000 hochqualifizierten Deutschen pro Jahr sollte es zuvörderst nicht darum gehen, kulturfremde Ausländer anzulocken, sondern Deutsche von einer Auswanderung abzuhalten. Aber Sie vertreiben mit Ihrer Politik die Menschen aus dem Land, meine Damen und Herren.
({7})
Wundert einen das noch bei einer Regierung, die jetzt wieder ohne Ende Milliarden Euro mal eben an das EU-Ausland verschenkt, beim globalen Migrationspakt, der Migration als Ziel an sich fördern will, bei Merkels Aushebelung von Dublin III, beim neuen EU-Migrationspakt mit ungebremstem Asyltourismus in Europa und Ausweitung der Kernfamilie?
({8})
Das ist die No-Nations-No-Borders-Haltung dieser Regierung: auf Kosten der eigenen Bürger lieber den Import von Ausländern, als der Arbeitslosigkeit der eigenen Leute abzuhelfen. Diese Regierung ist so in ihrer antideutschen globalistischen Ideologie befangen, dass sie jedes soziale Gewissen gegenüber der eigenen Bevölkerung verloren hat.
({9})
Sie haben durch den unangemessenen Lockdown das Porzellan der deutschen Wirtschaft zerschlagen. Die politische Vorrangprüfung ergibt, dass jetzt besser andere den Regierungsjob machen sollten: wahre Fachkräfte für die Interessenvertretung des deutschen Volkes.
({10})
Wir können Sie beruhigen: Dafür gibt es ja die AfD. Das F steht übrigens für Fachkräfte.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ihnen stand schon, Herr Dr. Curio, buchstäblich die Schamesröte ob der eigenen Rede im Gesicht.
({0})
Sie wären fast geplatzt vor Röte. Ich stelle es immer wieder fest, und Ihre Rede war ein Beispiel: Der Nationalsozialismus sitzt wieder im deutschen Parlament, und das ist widerlich.
({1})
Zum Zweiten stelle ich fest, dass die Leute – sogenannte Gastarbeiter und ihre Nachfahren –, die in diesem Land Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, Arbeit leisten, dafür sorgen, dass Sie hier bequem auf Ihren Hintern in den Sesseln sitzen können, coronasatt. Das ist die Realität in diesem Land, mit der wir es zu tun haben.
({2})
Ich frage mich noch etwas angesichts Ihrer Anwürfe: Was ist wohl größer? Ihre wirtschafts- und sozialpolitische Ahnungslosigkeit oder Ihr Rassismus? Und nach der Rede und dem Antrag lautet meine Antwort: Noch größer ist Ihre Unfähigkeit, zu trauern, und Ihre Unfähigkeit zu Respekt.
({3})
Wie kann man es nach Hanau ernsthaft wagen, einen solchen Antrag zu stellen?
({4})
Die Betroffenen, die Opfer, sind selbst Arbeitsmigranten, oder sie sind Kinder und Kindeskinder von Arbeitsmigranten, und Sie machen Stimmung gegen diese Menschen. Schämen Sie sich!
({5})
Und zum Zweiten: die Unfähigkeit zum Respekt. Warum gibt es wohl ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz? Natürlich aus wirtschaftspolitischen Gründen; aber auch, weil wir eine Realität in diesem Land anerkennen wollen. Gucken wir uns einmal im Parlament um, und sehen wir, die wir hier sitzen, uns unsere eigenen Biografien an. Und dann gucken wir mal in die Reihen derjenigen, die hier im Bundestag die Toiletten reinigen, die die Räume saubermachen und die dafür sorgen, dass hier nicht alles coronaverseucht ist. Ganz viele von ihnen sind selber als Einwanderer in dieses Land gekommen, oder sie sind Kinder und Kindeskinder von Einwanderern.
Was ist unsere Antwort auf die Probleme dieser Menschen? Die Antwort kann nicht sein, dass wir die Einwanderungsgesellschaft ablehnen, sondern nur, dass wir uns entschieden zu ihr bekennen. Dieses Bekenntnis bedeutet, dass wir auch große Gesten und ein Denkmal setzen müssen – buchstäblich ein Denkmal, das würde mich freuen –, indem wir dieses Bekenntnis zum Beispiel im nächsten Jahr, Ende Oktober, hier im Parlament mit einer Debatte oder einem Festakt „60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“, wie auch immer, deutlich machen.
Das Dritte. Gut wäre, wenn es uns tagtäglich gelingen würde, die Leistung derjenigen, die kommen, der Fachkräfte, der mehr oder weniger Qualifizierten, aber auch der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter endlich anzuerkennen; denn das ist dringend notwendig. Dazu würde auch gehören, dass diese Personen bei Kommunalwahlen endlich mal wählen könnten; sprich: Das Wahlrecht für Drittstaatsangehörige gehört aus der Sicht der Sozialdemokratie auf die Tagesordnung.
({6})
Dazu gehört auch, dass der Doppelpass für diese Menschen möglich sein muss. Sie haben jahrzehntelang – zum Beispiel in meiner Stadt – die Straßen gekehrt, für Sauberkeit gesorgt. Sie haben dafür gesorgt, dass wir uns frei in Straßen bewegen können. Und diesen Menschen – was für ein Bild – schütten Sie Ihren Dreck und Ihren geistigen Müll vor die Augen. Das ist widerlich und unerträglich.
({7})
Deshalb sage ich im Angesicht dieses Antrages – und ich sage das nicht aus sozialdemokratischer Romantik und nicht aus Gefühligkeit, sondern ich sage das für alle in diesem Land in diesem Moment –: Wir schämen uns und wir entschuldigen uns dafür, dass Menschen wie Sie in diesem Parlament sitzen, und wir schämen uns für die aktuellen wie die vergangenen Debatten auf Kosten von Einwanderern.
({8})
Umgekehrt verbeugen wir uns vor den Leistungen der Einwanderinnen und Einwanderer. Sie tragen seit Jahrzehnten mit dazu bei, dass dieses Land groß und stark ist.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Sie sind nicht fremd; sie sind keine Gäste. Sie sind wir, und wir sind sie. Das rufe ich euch zu.
Vielen Dank.
({0})
Ich bin, wie Sie wissen, Herr Baumann, der Auffassung, dass man diesen Begriff nicht inflationär gebrauchen sollte, weil er der geschichtlichen Bedeutung nicht gerecht wird. Das habe ich schon deutlich gemacht.
Aber nach wie vor muss ich auch akzeptieren, dass diese Debatte eine besondere Emotionalität hat. Noch einmal: Ich habe meine Meinung zum Ausdruck gebracht.
Ich finde es auch nicht in Ordnung, wenn ich das einmal sagen darf, dass man von „Menschen wie Sie“ redet und damit Persönlichkeiten abwerten will. Wir sollten darauf achten, dass die persönliche Integrität, auch wenn wir unterschiedlicher Auffassung sind, nie infrage gestellt wird.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD sucht sich ihre Themen danach aus, wo sie denkt, sie kann daraus politisches Kapital in Form von Hetze schlagen, so wie es heute in dieser Debatte wieder geschieht.
Heute wollen Sie das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zurücknehmen. Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, dann wüssten Sie: Die Neuregelungen zur Fachkräfteeinwanderung werden zu keiner Einwanderung in nennenswerter Größenordnung führen. Es ist ganz anders, als Sie es hier darstellen.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Bundesregierung in dieser Form ist viel zu restriktiv. Die Verfahren sind viel zu lang, und die Anerkennung der ausländischen Qualifikationen funktioniert in der Praxis nicht wirklich.
({0})
Was Sie hier wieder versuchen aufzubauen, ist und bleibt ein lächerlicher Mythos. Sie möchten den Menschen durch Hetze wieder Angst machen, um dann darauf eine Sündenbockpolitik aufzubauen. Und dann, wenn Sie glauben, dass keiner zuhört, zeigen Sie Ihr wahres Gesicht, wie zum Beispiel Ihr damaliger Pressesprecher Christian Lüth, der sagte, dass man eingereiste Menschen „erschießen“ oder „vergasen“ sollte. Das haben Nazis in diesem Land schon früher getan, und Sie unterscheiden sich in keinster Weise von deren Ideologie. Dem stehen wir als Linksfraktion entschieden entgegen.
({1})
Sie schreiben in dem Antrag über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Gesundheits- und Pflegeberufen. Mit Ihren Zahlen soll suggeriert werden, dass die Arbeitslosigkeit von Ausländerinnen und Ausländern in diesen Bereichen drastisch zunehme: um 70 bis 110 Prozent. Aber schaut man sich die absoluten Zahlen an, sieht man: Es geht um 1 000 bis 2 000 Menschen. – Absolut lächerlich! Sie wollen wieder einen Mythos bauen, der sich wie immer als Lüge entpuppt. Das Entscheidende ist doch vielmehr: Ohne ausländische Beschäftigte liefe im Bereich der Gesundheitsversorgung und Pflege heute gar nichts mehr.
Ihre Politik ist krank. Sie wollten als knallharte rechte Partei in der Zeit des Lockdowns die Grenzen schließen. Als das dann real passierte, wollten Sie doch Zuwanderung und haben sich dafür ausgesprochen, Ausnahmen für Erntehelferinnen und Erntehelfer zu machen. Also kurzum: Wenn es um Ihren deutschen Spargel auf dem Teller geht, können Menschen aus dem Ausland zum Arbeiten kommen. Bei Ihnen geht es um reine Verwertungslogik und nicht um die Menschen. Die Arbeits- und die Unterbringungsbedingungen dieser Menschen sind Ihnen völlig egal.
Wir als Linksfraktion kämpfen für bessere Ausbildung, für bessere Bezahlung und für bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, und zwar für alle Beschäftigten, unabhängig von ihrer Herkunft.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD will heute mit ihrem Antrag das Fachkräfteeinwanderungsgesetz im Wesentlichen abschaffen. Zur Begründung verweist sie auf die Arbeitslosenzahlen. Der Antrag der AfD, er ist realitätsfern, er ist schlecht begründet, und er ist fachlich falsch, und im Ergebnis würde er auch Deutschland schaden. Aber Deutschland zu schaden – das wissen wir ja mittlerweile –, das ist es, was die AfD möchte; denn – ich darf ihren ehemaligen Pressesprecher noch mal zitieren –: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD.“
({0})
Ich weiß nicht genau, wozu Sie heute gesprochen haben, Herr Dr. Curio; aber wenn das eine Rede zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz war, dann darf ich an dieser Stelle festhalten: Zum einen ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz erst seit dem 1. März 2020, also seit sieben Monaten, in Kraft. Das ist der Zeitraum, in dem Sie die Rücknahme dieses „völlig überzogenen“ Lockdowns durch die Bundesregierung anmahnen, obwohl der doch dazu führt, dass keiner mehr nach Deutschland kommen kann. Zum Zweiten weiß ich nicht, ob Sie vergessen haben, dass es Ihr Parteivorsitzender, Herr Meuthen, war, der am 19. März 2020 gefordert hat: Deutschland steht vor einer Katastrophe. Shutdown jetzt!
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das alles zeigt, dass es der AfD auch heute mal wieder nur um eines geht: Vorurteile schüren,
({2})
- „hetzen“ – und Menschen in Misskredit bringen.
({3})
Aber es geht Ihnen von der AfD definitiv nicht um das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Das muss überhaupt erst mal evaluiert werden, und dabei müssen auch die Auswirkungen der Coronazeit berücksichtigt werden.
Dass wir aktuell insbesondere keine Pflegekräfte zu uns holen können, ist keine Freude, sondern das ist eine zusätzliche Belastung für Pflegebedürftige und für die zu Pflegenden in Deutschland. Ich werde darauf nachher noch zu sprechen kommen.
Sie haben aber auch einen schlecht begründeten Antrag vorgelegt. Sie verwenden darin völlig veraltete Zeitungsartikel und machen falsche Quellenangaben. Wenn man sich mit Ihrer Drucksache 19/21096 beschäftigt, die in Ihrem Antrag immerhin dreimal als Quelle genannt wird, stellt man fest, dass sich diese Drucksache mit dem R-Wert beschäftigt, aber nichts zur Pflege aussagt. Ich stelle damit fest: Auch nach drei Jahren sind Sie immer noch nicht in der Lage, die qualitativen Mindeststandards an einen Antrag einzuhalten.
({4})
Zum Zweiten ist Ihr Antrag aber auch fachlich falsch. Wir haben die Vorrangprüfung nicht ersatzlos aufgehoben. Tun Sie doch nicht immer so, als ob das so wäre. Das ist doch komplett falsch. Wir haben lediglich einen Systemwechsel vollzogen. Früher galt der Grundsatz „Arbeitsverbot mit Erlaubnisvorbehalt“ – das war insbesondere bei Mangelberufen wichtig –, und heute gilt, dass Arbeitnehmer grundsätzlich einen Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis haben, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Aber wir haben einen Verbotsvorbehalt. Das heißt, wir können die Arbeitsaufnahme untersagen, und der Staat kann die Vorrangprüfung in strukturschwachen Gebieten oder für bestimmte Branchen jederzeit wieder einführen, um die dortigen Arbeitnehmer zu schützen. Wir haben also natürlich alles getan, damit wir den Vorrang beibehalten: erst Qualifikation der Menschen in Deutschland, dann die Suche innerhalb Europas und dann Zuzug aus den Drittstaaten. Und das ist auch richtig so.
({5})
Ihr Antrag ist insbesondere extrem schädlich für Deutschland. Sie behaupten, die deutsche Wirtschaft braucht keine ausländischen Fachkräfte. Natürlich braucht die deutsche Wirtschaft nach wie vor ausländische Fachkräfte. Der Druck zur Digitalisierung und auch zur Transformation hin zu einer klimaschonenden Wirtschaft lässt wegen Corona gerade nicht nach, sondern er steigt. Wir retten keine Arbeitsplätze in irgendeiner Branche, weder bei VW noch bei Mercedes, indem wir die Einreise von IT-Experten oder Pflegekräften verhindern. Wir brauchen diese Experten. Das bestätigen uns die Arbeitgeber auch heute noch immer wieder.
Jetzt kommen wir mal zu den Pflegekräften. Die Bundesagentur hat noch im Mai festgestellt, dass im Bereich der Altenpflegekräfte nach wie vor ein Mangel besteht. Lediglich in zwei Bundesländern sieht die Tendenz ein bisschen anders aus. Selbst die in Ihrem Antrag genannten Zahlen belegen, dass wir von 2013 bis 2019 einen Anstieg der Arbeitslosenzahl von 1 775 auf 3 037 hatten. Gleichzeitig fehlen aber in Krankenhäusern mehr als 50 000 Pflegekräfte, in Altenheimen über 120 000 Pflegekräfte. Angesichts dessen will ich Ihnen mal ganz ehrlich sagen: Der Antrag, den Sie hier vorlegen, ist ein Witz.
({6})
Es ist einfach unverschämt und unglaublich, zu behaupten, dass wir in Deutschland keine Pflegekräfte mehr brauchen und dass unser Fachkräfteeinwanderungsgesetz in irgendeiner Weise geeignet ist, irgendjemandem bei uns, der eine Arbeitsstelle sucht, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verweigern. Das ist absoluter Blödsinn.
Ich will Ihnen noch eins sagen: Ihr Antrag ist derart schlecht und populistisch. Wenn ich nicht Ausschussvorsitzende, sondern Lehrerin wäre, dann würde ich sagen: Setzen, ungenügend, mangelhaft! – Absolut bodenlos ist Ihr Antrag.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. Aber auch als Lehrerin müssten Sie sich entscheiden, ob „ungenügend“ oder „mangelhaft“.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, dass ich eigentlich immer mit etwas Positivem beginne. Ich habe den Antrag gelesen und gesucht. Und ich habe tatsächlich etwas Positives gefunden: Sie nutzen Zahlen des IAB. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit ist wirklich ein sehr gutes Forschungsinstitut.
({0})
Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen; die machen wirklich eine sehr gute Arbeit. Deswegen will ich gerne den Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“, Herrn Professor Brücker, zitieren, der zum Thema sagt: Deutschland wird alt. – Das kann man nachvollziehen, auch mit Blick auf Ihre Fraktion.
({1})
Ihre Fraktionsmitglieder sind im Schnitt deutlich über 50; damit stellen Sie die älteste Fraktion hier im Haus.
Die gute Nachricht ist: Migration dämpft die Folgen des demografischen Wandels in Deutschland schon jetzt. Ihre Rente, wenn Sie mal eingezahlt haben sollten, wird zu einem guten Teil durch die Arbeit von Migrantinnen und Migranten finanziert werden.
Schon jetzt ist ein großer Teil der systemrelevanten Berufe darauf angewiesen, dass Menschen mit Migrationsgeschichte hier arbeiten: Ärzte, Pflegekräfte, aber auch Beschäftigte aus anderen Bereichen, zum Beispiel Postboten. Und ich finde es wohlfeil, im Zweifel zur Ärztin mit ausländischen Wurzeln zu gehen oder die Oma vom Pfleger aus Vietnam pflegen zu lassen oder sich das hübsche Häuschen von Migrantinnen und Migranten bauen zu lassen und dann hier gegen qualifizierte Beschäftigung zu wettern.
({2})
– Doch. Sie haben es, glaube ich, nicht verstanden. Überlegen Sie sich mal, wie Sie in Ihrem realen Leben agieren und was Sie hier tun.
({3})
Die Quelle ist zwar sehr gut, aber in Ihrem Antrag würfeln Sie die Zahlen zu qualifizierten Fachkräften und anderen Migrationsformen hübsch durcheinander. An anderen Stellen sagen Sie, man müsste das ganz gravierend trennen. Sie machen es immer so, dass es für Sie stimmig ist; da hilft auch die beste Quelle nichts.
Sie tun so, als hätte das Fachkräfteeinwanderungsgesetz das Einwanderungsrecht in unserem Land vollkommen liberalisiert. Das ist nicht der Fall. Wir hatten schon vorher ein durchaus liberales Einwanderungsrecht. Das war nur sehr unübersichtlich und sehr bürokratisch. Es ist jetzt übersichtlicher und praxisnäher geworden: Bei den beruflich Qualifizierten sehen wir davon ab, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nur auf Engpassberufe zu fokussieren, und es wird vor allen Dingen verwaltungstechnisch deutlich besser. Das ist auch wirklich angezeigt. Oder wollen wir Visumanträge wirklich weiterhin auf dem Postweg bearbeitet wissen? Das ist nicht der Fall. Da ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wirklich ein großer Fortschritt.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird wirken, wenn sich die Unternehmen bemühen, wenn sie wirklich etwas dafür tun, Beschäftigte nach Deutschland zu holen. Das Interessante ist: Das tun sie, auch in der Coronakrise. Wenn ich mit den IHKs spreche, dann sagen die, eines ihrer großen Themen derzeit ist trotz Corona die Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Die Bedarfe sind groß.
Wir wissen noch nicht, wie viele Fachkräfte infolge dieses Gesetzes wirklich einwandern werden; aber die Kritiken, die Sie hier herbeireden, die sind wirklich durch nichts zu rechtfertigen. Da kann man wieder zum IAB schauen, das sich die Westbalkanregelung angeschaut und festgestellt hat: Die Menschen, die infolge der Westbalkanregelung gekommen sind, sind dauerhaft beschäftigt; sie sind nicht im Niedriglohnsektor beschäftigt, sondern ihre Lohnhöhe entspricht der von deutschen Berufseinsteigern. Und: Sie sind hier gefragt, und das, obwohl Qualifikation an der Stelle gar kein Kriterium ist. – Wir sehen also – das bestätigt auch das IAB –, dass über Visa geregelte Arbeitsmigration dazu führt, dass Arbeitsmarktintegration sehr gut gelingt.
({4})
Ich weiß insofern nicht, was Ihr Antrag soll. Er ist schlicht überflüssig wie ein Kropf.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus gegebenem Anlass weise ich noch einmal auf Folgendes hin: Wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihren Platz verlassen, besteht Maskenpflicht, also Mund-Nase-Schutz-Pflicht. Ich sehe schon, dass man zum Telefonieren mal schnell loslaufen will. Das Präsidium des Deutschen Bundestages wird diese Anordnung des Bundestagspräsidenten durchsetzen, heute noch mal mit Ermahnungen, demnächst mit Ordnungsrufen und schlimmeren Geschichten. Also, bitte achten Sie darauf: Wenn Sie Ihren Platz verlassen oder zu Ihrem Platz gehen, tragen Sie die Mund-und-Nase-Bedeckung.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der parlamentarische Kalender sieht vor – so hat es sich gefügt –, dass wir heute einen Antrag der AfD aus dem Bereich „Innenpolitik“ mit Bezügen zum Bereich „Arbeit und Soziales“ behandeln; am Freitag im Plenum ein Antrag aus dem Bereich „Finanzen“ auf der Tagesordnung steht. Am Freitag geht es um die fiskalischen Folgen der Zuwanderung; heute geht es um Fachkräftezuwanderung. Am Freitag lautet das Argument der AfD: Wir wollen keine Ausländer, weil sie keine Steuern bezahlen. – Heute lautet das Argument der AfD: Wir wollen keine Ausländer, weil sie Steuern bezahlen. – Das zeigt nur eins: Sie brauchen kein Argument. Bei Ihnen ist Hass und Hetze gegen Ausländer Bestandteil Ihrer Triebstruktur.
({0})
Deswegen ist jede Rede, die Sie hier halten, ein Denkmal Ihrer Niedertracht.
({1})
„Inländische Arbeitskräfte zuerst“, so haben Sie das Ganze publikumswirksam betitelt, und Ihre Anhänger wissen schon, wie das zu verstehen ist – wir auch. Ja, die Coronaepidemie hat zu einer Zunahme an Arbeitslosen und zu Kurzarbeit geführt. Und dennoch ist richtig: Wir brauchen langfristig weiterhin Fachkräfte in bestimmten Mangelberufen. Wenn ich „langfristig“ sage, meine ich nicht die nächsten 1 000 Jahre, sondern die nächsten 20 oder 30 Jahre. Wir brauchen diese Kräfte, weil sie absehbar nicht aus dem inländischen und europäischen Arbeitsmarkt rekrutiert werden können. Wir brauchen diese Kräfte, weil sie Wachstumspotenziale der deutschen Wirtschaft freisetzen und damit unsere Exportkraft stärken. Wir brauchen sie aber auch, um beispielsweise den hohen absehbaren Bedarf an Pflegekräften abdecken zu können.
Vielleicht – nun schaue ich zur antragstellenden Fraktion – ist der eine oder andere von Ihnen dankbar, später von einer fleißigen Pflegekraft betreut zu werden, die nichts weiß von Ihrer widerlichen Gesinnung und in Ihnen nur den pflegebedürftigen, den hilfsbedürftigen Menschen sieht.
({2})
Wahrlich, meine Damen und Herren von der AfD, dann wäre sie, auch wenn sie aus dem Ausland kommt, näher an der Idee der Menschenwürde und der christlichen Caritas, als Sie es jemals gewesen sein werden.
({3})
Vor knapp einem Jahr hat der „Herbstreport“ des Instituts der deutschen Wirtschaft alleine für die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik festgestellt: Es fehlen 263 000 Beschäftigte. Die werden auch fehlen, wenn die Coronapandemie vorbei ist. Es glaubt doch keiner, man könne Arbeitslose einfach zu Spezialisten in MINT-Bereichen umschulen. Nein, hier sind wir auf Zuwanderung angewiesen, im Interesse unserer Arbeitsplätze und unserer Wirtschaft.
Viele dieser Spezialisten kommen aus asiatischen Ländern, und sie sehen doch mit Sorge, wie sich durch das Treiben der AfD die Stimmung aufheizt, wie ausländerfeindliche Parolen ihre klammheimliche Unterstützung finden. Und sie überlegen sich vielleicht zweimal, ob sie in einem Land arbeiten wollen, in dem eine krawallorientierte Minderheit mit parlamentarischer Vertretung Menschen nach ihrer Herkunft beurteilt und nicht nach der gemeinsamen Zukunft, die man gestalten will.
({4})
Sie überlegen sich, ob sie ihre Familien in ein Land bringen wollen, in dem eine lautstarke Minderheit ihnen sagt: „Ihr seid nicht willkommen“, in ein Land, in dem Übergriffe gegen fremd anmutende Menschen zur Tagesordnung gehören.
Ich sage deshalb: Schlimmer als der Fachkräftemangel ist das Klima der Ausländerfeindlichkeit,
({5})
das durch die rechte Seite des Hauses geschürt wird. Sie sind es, die der deutschen Wirtschaft schaden.
({6})
Sie sind es auch, die den internationalen Chancen unserer Wirtschaft Schaden zufügen. Sie sind derzeit aus meiner Sicht das größte Investitionshemmnis in Deutschland.
({7})
Deswegen, meine Damen und Herren, gehört für mich zu einem wirtschaftlichen Aufschwung eine eindeutige Absage an rechtes und ausländerfeindliches Gedankengut,
({8})
eine Absage an die gewaltbereiten Schlägertruppen und ihre parlamentarischen Handlanger und vor allen Dingen eins: Hinaus aus dem Parlament mit dieser Truppe!
({9})
Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Klimaschutz ist notwendig und dringend. Deswegen haben wir als SPD bereits 2009 ein Klimaschutzgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht – weit vor allen anderen Parteien –, und glücklicherweise haben wir es im letzten Jahr endlich beschlossen.
({0})
Unser Ziel ist es, den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen so schnell wie möglich und nötig auf null zu führen. Das Ziel ist Klimaneutralität. Das steht so im Gesetz, und die EU hat es auch beschlossen. Das ist gut; denn damit ist klar: Fossile Emissionen müssen verteuert werden, und das als eine Methode. Dies tun wir mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, für die Bereiche, die nicht Teil des europäischen Emissionshandels sind. Wir steigen jetzt mit einem Einstiegspreis von 25 Euro ein. Die Einführungsphase endet am Ende des Jahres 2026, und dann gibt es einen wirksamen Mengendeckel und eine freie Preisbildung wie beim europäischen Emissionshandel. Wer das Gegenteil behauptet – und das höre ich hier im Haus immer wieder –, hat entweder das Gesetz nicht gelesen, oder er hat es nicht verstanden, oder beides.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Debatte im Umweltausschuss war ich sehr überrascht. Bündnis 90/Die Grünen haben dort begründet, warum sie den Entschließungsantrag der Koalition ablehnen und haben das auch mit dem Carbon-Leakage-Schutz für unsere Industrie begründet. Ich sage eins ganz klar: Die produzierende Industrie und das produzierende Gewerbe müssen sich umstellen. Aber ich sage auch: Wir müssen den Unternehmen die Zeit zur Umstellung geben. Alles andere ist kein wirksamer Klimaschutz, weil dann Produktion ins Ausland verlagert wird, und zwar mit schlechteren Umweltstandards.
({2})
Im Entschließungsantrag haben wir festgelegt, dass wir das gemeinsam mit den Tarifpartnern, mit den Unternehmerinnen und Unternehmern und mit den Gewerkschaften angehen müssen.
({3})
Es geht hier nicht um Beruhigung, um gutes Gewissen. Es geht um gute Politik für eine sozialökologische Transformation, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Dafür muss man die Regeln verstehen, die wir aufgestellt haben. Wenn Sie bei der UN-Klimaschutzorganisation UNFCCC nach den deutschen Klimaschutzzielen suchen, dann finden Sie die europäischen Klimaschutzziele. Das ist logisch, weil die EU ein Wirtschaftsraum ist und weil die EU auch Vertragspartner von Paris ist. Es ist wichtig, dass man das versteht. Wir haben dann die Aufgabe, die EU-Vorgaben in deutsches Recht umzusetzen, und zur Umsetzung dieser Vorgaben brauchen wir den CO2-Preis. Aber wir müssen auch ehrgeiziger werden, und deswegen ist die Debatte, die auf europäischer Ebene gerade stattfindet, absolut richtig. Wir brauchen eine Verschärfung der Klimaschutzziele in Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Die EU wird dann auch die Frage des CO2-Budgets regeln, zu der man immer wieder sagt: Das müssen wir in Deutschland national machen. – Das macht keinen Sinn. Das muss man für einen Wirtschaftsraum machen.
({6})
Wir müssen diese Ziele hier ganz klar demokratisch diskutieren, und das werden wir auch tun. Aber eins ist für die SPD auch klar: Wer nur eine Ausstiegsdiskussion führt, der wird diese Diskussion nicht gewinnen. Wir müssen auch eine Einstiegsdiskussion führen. Wer aus den Fossilen aussteigen will, der muss in die Erneuerbaren einsteigen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird überwiegend erneuerbarer Strom sein. Denn wir brauchen den Strom für die Sektorenkopplung, für den Verkehr, für die Gebäude, für die Industrie. Und natürlich brauchen wir auch Speicher und Wasserstoff, und das in großen Mengen.
({8})
Ich sage ganz deutlich: Wir haben in Europa und in Deutschland das Potenzial, unseren Energieverbrauch mit heimischen erneuerbaren Energien zu decken, vor allen Dingen in den Bereichen Wind und Solar. Jeden Tag werden die Erneuerbaren und die Speicher billiger. Herrn Energieminister Altmaier muss man noch mal klar sagen – leider ist er heute nicht hier –: Der EEG-Entwurf ist unzureichend und setzt bindendes EU-Recht nicht um. Herr Altmaier setzt dort die Politik des ehemaligen grünen Energiestaatssekretärs Baake fort. Wenn das die schwarz-grüne Linie wird, dann wird mir angst und bange vor der Zukunft.
({9})
Das ist bürokratisch, ängstlich, teuer, und damit werden wir unsere Klimaziele verfehlen und unsere industrielle Basis verlieren.
Der Weg der SPD ist anders: Wir wollen eine sozialökologische Transformation. Wir wollen das solare Recht für alle. Das wird dann besser, und es wird gerechter.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Marc Bernhard, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie mit Ihrem Diesel im Urlaub durch Finnland, Schweden, Holland, Österreich, Spanien, Litauen oder Dänemark fahren, stoßen Sie mit dem gleichen Auto 65 Prozent weniger CO2 aus als in Deutschland; denn diese Länder reduzieren durch synthetische Kraftstoffe den CO2-Ausstoß von Dieselfahrzeugen auf einen Schlag um 65 Prozent, und das Ganze ohne irgendeinen technischen Umbau am Auto. Auf Deutschlands Straßen fahren über 46 Millionen Autos, die sofort über das bereits bestehende Tankstellennetz synthetische Kraftstoffe tanken könnten. Von jetzt auf gleich könnte also der CO2-Ausstoß um 65 Prozent reduziert werden, ohne dass es die Menschen in irgendeiner Weise belasten würde.
({0})
Aber was macht die Regierung? Was macht die Bundesregierung? Sie verhindert die Zulassung synthetischer Kraftstoffe und zockt stattdessen lieber die Menschen durch die Einführung einer CO2-Steuer weiter ab.
({1})
Und warum tun Sie das? Warum tun Sie das?
({2})
Um die schmutzigste Antriebsart überhaupt,
({3})
nämlich Batterieautos, gegen jeden Sinn und Verstand zu erzwingen.
({4})
Trotz massivster Subventionen und Kaufanreize waren im letzten Halbjahr nicht mal 4 Prozent aller Neuzulassungen Elektroautos. Das zeigt doch ganz deutlich: Niemand will Ihre teuren, umweltschädlichen und lebensgefährlichen Elektrofahrzeuge.
({5})
Wenn es Ihnen tatsächlich und wirklich um die CO2-Reduktion gehen würde, dann würden Sie neuen Technologien eine Chance geben, wie beispielsweise dem aus Abfällen hergestellten Care-Diesel. Selbst die Betreiber der europäischen Raffinerien wollen für den Umstieg auf CO2-neutrale synthetische Kraftstoffe 650 Milliarden Euro investieren. Und Sie von der Regierung blockieren das, vernichten durch die Elektromobilität Millionen von Arbeitsplätzen und führen stattdessen eine CO2-Steuer ein,
({6})
die Sie heute noch vor ihrer Einführung um 150 Prozent erhöhen wollen.
({7})
Dabei zahlt doch eine vierköpfige Familie schon jetzt für Ihre Klimahysterie 4 000 Euro pro Jahr, ohne dass sich der CO2-Ausstoß Deutschlands in den letzten Jahren irgendwie signifikant verringert hätte.
Aber damit nicht genug: Jetzt haben Sie noch Ihren Deindustrialisierungsmasterplan, den sogenannten Green Deal, vorgelegt, der 3 000 Milliarden Euro kosten soll. Für die vierköpfige Familie bedeutet das – noch mal zusätzlich – eine weitere Belastung von 4 000 Euro pro Jahr. Die von Ihnen bereits beschlossenen und noch geplanten Maßnahmen werden also diese vierköpfige Familie in Zukunft jedes Jahr rund 10 000 Euro kosten.
({8})
Was Sie hier machen, ist, die deutsche Autoindustrie in den Abgrund zu führen, die Arbeitsplätze zu vernichten und die Bürger abzuzocken.
({9})
Sie zerstören den Wohlstand, den sich die Menschen in unserem Land über viele, viele Jahre hart erarbeitet haben, und so schaffen Sie Deutschland ab.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Bernhard. – Ich werde nicht aufhören, pädagogisch fortzufahren, Herr Kollege Bernhard, was die Maskenpflicht angeht.
({0})
– Alles gut! – Noch akzeptieren wir das. Aber in der nächsten Sitzungswoche wird das mit Sanktionen versehen sein. Das gilt nicht nur für Sie – Sie sind nicht der Einzige –, das gilt auch für alle anderen Beteiligten hier im Haus. Ich sehe das schon.
Nächste Rednerin ist die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Bundesregierung
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat sich auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zur Einhaltung ehrgeiziger Klimaziele verpflichtet. Und das nehmen wir sehr, sehr ernst. Der Start des nationalen Brennstoffemissionshandels am 1. Januar nächsten Jahres ist ein wichtiger Baustein, um diese Ziele zu erreichen. Er setzt die richtigen marktwirtschaftlichen Anreize, damit es sich lohnt, immer mehr auf emissionsarme oder emissionsfreie Technologien umzustellen.
Durch das Änderungsgesetz, das wir heute beschließen, sollen die Zertifikatspreise nun zum 1. Januar 2021 auf 25 Euro angehoben werden; das wurde schon dargelegt. Das bedeutet natürlich auch höhere Kosten für die betroffenen Unternehmen. Der Emissionshandel darf aber im Ergebnis nicht zu unangemessenen Belastungen führen. Uns ist wirksamer Klimaschutz wichtig, und der darf den wirtschaftlichen Wohlstand nicht gefährden. Beides darf kein Gegensatz sein. Wir müssen beides miteinander verbinden. Beides muss sich wechselseitig bedingen und stützen. Wir wollen und müssen beides schaffen.
({0})
Ganz auf dieser Linie liegt es, wenn die Einnahmen aus diesem nationalen Emissionshandel auch entsprechend eingesetzt werden für neue Förderinstrumente, für Strompreissenkungen an die Bürgerinnen und Bürger sowie an die Unternehmen.
Einen ersten wichtigen Schritt zur Entlastung unserer Wirtschaft haben wir bereits auf den Weg gebracht. Ein Teil der Einnahmen aus dem Emissionshandel soll zur Absenkung der EEG-Umlage verwendet werden. Hinzu werden weitere Haushaltsmittel kommen, um die Absenkung dieser Umlage zu finanzieren. Das wurde bereits am 3. Juni beschlossen im Koalitionsausschuss, und genau so wird das auch umgesetzt.
Das BEHG sieht zudem einige Entlastungsregelungen vor. Ziel dieser Regelungen ist der Schutz der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen; denn es ist für das Klima nichts geschafft und nichts erreicht, wenn energieintensive Produktion aus Deutschland mit den Arbeitsplätzen abwandert und dann möglicherweise an anderen Orten noch höhere Klimaschäden entstehen, als es sie hier gegeben hätte.
Von grundlegender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Regelungen zur Vermeidung von Carbon Leakage. Die Bundesregierung hat hierzu bereits am 23. September ein Eckpunktepapier verabschiedet, und danach wird die Liste der beihilfeberechtigten Sektoren eins zu eins aus dem EU-Emissionshandel übernommen werden.
({1})
Wir haben uns gerade seitens des Wirtschaftsministeriums dafür eingesetzt, dass es diesen grundsätzlich breiten Ansatz gibt. Die Liste umfasst damit bereits wichtige Wirtschaftsbranchen. Diese Carbon-Leakage-Liste kann in Zukunft außerdem erweitert werden. Auch auf Produktebene können sich einzelne Branchen für den Carbon-Leakage-Schutz qualifizieren.
Die Details zur Carbon-Leakage-Verordnung müssen noch ausgearbeitet werden. Es liegen aber, wie gesagt, die Eckpunkte der Bundesregierung dazu vor, und auch heute hier im Parlament soll ja eine Entschließung mit wesentlichen Details dazu verabschiedet werden, sodass sich die Unternehmen in Deutschland darauf verlassen können, dass es diese Regelung geben wird. Das ist ein wichtiges Signal an die betroffenen Unternehmen.
({2})
Es liegt hier noch viel Arbeit vor uns. Ich kann Ihnen aber versichern: Wir werden uns für eine bürokratiearme Ausgestaltung einsetzen, die auch zielgenau wirkt. Ich bin mir sicher, dass wir es in enger Abstimmung mit den Fraktionen auch schaffen, hier zu angemessenen Lösungen für unsere Unternehmen zu kommen, damit wir eben beides schaffen: die Wirtschaft stärken und das Klima schützen.
Danke schön.
({3})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Klaus Mindrup, liebe Staatssekretärin, Sie haben beide gerade darüber gesprochen, dass wir gute Klimapolitik machen müssen und wollen und dass die Bundesregierung das möchte. Gute Klimapolitik kann es ja nur dann geben, wenn sie auch funktioniert. Das Brennstoffemissionshandelsgesetz tut das aber nicht. Es sieht eben keinen Emissionshandel vor, der über die Mengensteuerung dafür sorgt, dass am Ende des Tages wirkliche Klimapolitik gemacht wird. Das heißt, die Zielerreichung ist nicht sichergestellt; und das ist doch das Problem. Deswegen schlagen wir Freie Demokraten hier schon seit Jahren vor, ein funktionierendes CO2-Bepreisungssystem einzuführen. Das wäre gute Klimapolitik, meine Damen und Herren.
({0})
Klimapolitik muss das tun, was Klimapolitik tun muss: das Klima schützen. Die anderen Probleme müssen wir an anderer Stelle klären. Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die Carbon-Leakage-Liste eins zu eins übertragen wollen. Das Ziel hinter einer Carbon-Leakage-Liste ist ja eigentlich ein sehr vernünftiges; denn sie soll dafür sorgen, dass Emissionen aus Deutschland nicht in ein anderes Land verlagert werden, dass Produktionen nicht aus Deutschland in ein anderes Land verlagert werden. Das wäre das Schlechteste und das Dümmste, was wir tun könnten; denn dann wären die Emissionen ja weiterhin vorhanden, nur nicht in Deutschland. Es geht aber darum, sie in Deutschland zu reduzieren, und das geht nur über effiziente Innovationspolitik. Wettbewerb ist da der deutlich bessere Klimaschützer.
({1})
Jetzt haben Sie aber gesagt, es gibt eine Eins-zu-eins-Übertragung der Liste aus dem schon bestehenden europäischen Emissionshandel auf das Brennstoffemissionshandelsgesetz, das ja andere Sektoren als den Emissionshandel regeln soll. Das Absurde daran ist, dass die Unternehmen ja schon längst befreit sind. Das heißt, sie übertragen eine Liste für Unternehmen, die unter einem Emissionshandelsgesetz gar nicht befreit werden können. Sie bringt also für die Wirtschaft gar nichts; der Carbon-Leakage-Schutz ist damit nicht gegeben. Das zeigt das Trauerspiel der Regierung in puncto Klimaschutz.
({2})
Das zeigt, wie traurig es ist, dass Sie nichts hinbekommen.
Das Problem ist doch: Sie haben vor einem Jahr ein mit extrem heißer Nadel gestricktes Gesetz gemacht. Und Sie hätten jetzt ein Jahr Zeit gehabt, die ganzen Fehler, die in diesem mit extrem heißer Nadel gestrickten Gesetz sind, zu beheben. Was kommt am Abend, bevor wir im Ausschuss über eine Beschlussempfehlung zu diesem Gesetzentwurf beraten? Eine Entschließung, die die Bundesregierung dazu auffordert, die Fehler noch zu beheben. Sie haben also ein Jahr lang gar nichts gemacht. Das ist doch traurig, meine Damen und Herren. So funktioniert Klimapolitik ganz sicher nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben ein Gesetz, das für das Klima nichts bringen wird; das sagen Ihnen alle Expertinnen und Experten.
({4})
Wir haben ein Gesetz, das Menschen belastet. Wir haben ein Gesetz, das Unternehmen belastet. Wir haben ein Gesetz, das in einer extrem schwierigen wirtschaftlichen Zeit also auf der einen Seite nichts bringt, nämlich keinen Klimaschutz, und auf der anderen Seite die Menschen und die Unternehmen belastet. Das kann doch nicht der richtige Weg sein.
Meine Damen und Herren, weiten wir den europäischen Emissionshandel aus, so wie die Kommission das vorschlägt, so wie wir das vorschlagen – gerne hier in Deutschland, gerne in einem halben Jahr, gerne in kürzester Zeit –, um wirklichen Klimaschutz zu machen! Dann kümmern wir uns um sinnvollen Carbon-Leakage-Schutz. Dafür haben wir jede Menge Vorschläge gemacht. Das wäre der Weg, wie wir Klimaschutz, also Ökologie, und die Wirtschaft, also Ökonomie, miteinander verbinden können; denn nur dann funktioniert Umwelt- und Klimapolitik. Und das muss das Ziel sein.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Köhler. – Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sie behaupten, der Handel mit Emissionsrechten bzw. CO2-Zertifikaten, also mit dem Recht auf Umweltverschmutzung, sei ein guter Weg für Klimaschutz. Die Linke sagt: Dieser Weg ist unsozial und zu langsam.
({0})
Erst mit einem Mindestpreis entfalten CO2-Zertifikate eine Lenkungswirkung. Erst bei einem Preis von 25 Euro im Energiesektor wurde Kohlestrom langsam verdrängt; vorher passierte nichts. Im Verkehrs- und Wohnsektor rechnen sich Investitionen erst ab CO2-Preisen von über 100 Euro. Jetzt steigt die Koalition mit einem Preis von 25 Euro in den nationalen Emissionshandel ein. Dieser soll bis 2025 auf 55 Euro steigen. Das wird den CO2-Ausstoß Deutschlands im Verkehrs- und Wärmesektor kaum senken,
({1})
aber die Nebenwirkungen sind beträchtlich.
Bei CO2-Preisen von über 25 Euro steigt die Warmmiete für eine Familie um 120 Euro im Jahr. Da ist die Strompreisreduzierung um 15 Euro blanker Hohn. Den Vermietern ist das egal; die reichen die Kosten einfach durch. So treiben die unionsgeführte Koalition und Grüne die Mieten in die Höhe, und das lehnt Die Linke ab.
({2})
Höhere Pendlerpauschalen reichen nicht, um in ländlich geprägten Räumen die Mehrkosten aufzufangen. Die Preise für ÖPNV-Tickets steigen durch die Treibstoffpreissteigerung.
Der Hausmüll wird pro Jahr um 50 Euro teurer – und das schon bei 25 Euro CO2-Zertifikatspreis.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hagen Reinhold aus der FDP-Fraktion?
Ja.
Herr Präsident! – Herr Lenkert, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Sie müssen mir ein bisschen Nachhilfe geben; denn ich komme bei Ihrer Rede nicht ganz mit. Am Anfang haben Sie uns gerade erklärt, ab wann ein Preis eine Lenkungswirkung entfaltet,
({0})
und im nächsten Absatz erklären Sie uns, dass alle die, die Verbraucher sind und eigentlich eine Lenkung bräuchten, vom Preis befreit werden sollen. Wie stellen Sie sich dieses Modell jetzt eigentlich endgültig vor? Soll es jetzt durch den Preis eine lenkende Wirkung auf den haben, der die Emission verursacht, oder wollen Sie alle davon befreien? Was Sie hier erzählen, widerspricht sich eklatant.
Vielen Dank für die Frage. Wenn Sie gewartet hätten, hätten Sie es verstanden. Aber so habe ich mehr Zeit, es Ihnen zu erklären.
({0})
Investitionen, zum Beispiel in eine neue Heizungsanlage, rechnen sich betriebswirtschaftlich bei CO2-Preisen von über 100 Euro. Vermieterinnen und Vermieter können die Kosten bedenkenlos durchreichen. Das heißt, sie haben überhaupt kein Interesse daran, solche Investitionen vorher – oder überhaupt – durchzuführen. Gleichzeitig hat der Mieter oder die Mieterin null Chance, irgendetwas zur CO2-Preisreduktion beizutragen, muss aber die Kosten zahlen.
({1})
Das heißt, dieser Weg kann nicht funktionieren.
Alternativ kann man das machen, was die FDP ablehnt, nämlich Ordnungsrecht einführen.
({2})
Man kann strenge Vorgaben für den CO2-Ausstoß von Heizungsanlagen machen, und man kann über Fördermittel dafür sorgen, dass dies Mieterinnen und Mieter nicht belastet.
({3})
Das ist unser Weg. Genauso kann man Transportkosten verteuern, um Transporte zu reduzieren. Diese Reduzierung kann man dann beispielsweise über eine niedrigere Mehrwertsteuer für Lebensmittel zurückzahlen.
({4})
Es gibt Möglichkeiten, dass man Unternehmen belastet, dass man den CO2-Ausstoß über technische Maßnahmen reduziert, die man fördert, und man kann dafür sorgen, dass all dies ohne einen Zertifikatehandel möglich ist, wie Sie ihn betreiben.
({5})
Der führt nämlich im Endeffekt dazu, dass die Menschen, die viel Geld haben, die es sich leisten können, CO2-Zertifikate zu kaufen, ihren CO2-Ausstoß nicht reduzieren. Für die große Jacht könnte der Millionär die CO2-Kosten übernehmen; aber der Pendler könnte es sich nicht mehr leisten, auf Arbeit zu fahren.
({6})
Und das lehnt Die Linke ab.
({7})
Ich fahre fort. Selbst Handwerksbetriebe in etlichen Branchen, kleine und mittlere Unternehmen müssen um ihre Existenz fürchten. Deswegen hat die Koalition jetzt schon die ersten Ausnahmen zugelassen.
Wer diesem Gesetz zustimmt, zerstört Akzeptanz und verlangsamt Klimaschutz.
({8})
Gesetzliche Vorgaben sind besser als CO2-Emissionshandel. Wir fordern mehr ÖPNV mit höheren Takten, besserer Qualität und niedrigeren Ticketpreisen,
({9})
ein Umstellen von Heizungen und Fernwärme auf Klimaneutralität – warmmietenneutral, über Fördermittel und mit strengen Vorgaben –, einen schnellen Kohleausstieg, eine Maut für alle Fahrzeuge über 3,5 Tonnen und ein Verbot von Kurzstreckenflügen. Und als Thüringer sage ich: Es muss kein Mineralwasser aus der Eifel in Thüringen geben und kein Thüringer Waldquell in Rheinland-Pfalz. Das sind unnütze Transporte; die kann man vermeiden.
({10})
Regionale Wirtschaftskreisläufe stärken unsere ländlichen Räume, verschaffen den Menschen Arbeit in ihrer Heimat; sie müssen nicht mehr pendeln oder umziehen. Das schont Infrastruktur, bekämpft den Wohnungsmangel in Ballungsräumen und senkt den CO2-Ausstoß. Im Übrigen: Das von den meisten Porschefahrern abgelehnte Tempolimit
({11})
ist viel sozialer als höhere Benzinkosten.
({12})
Begraben Sie das Brennstoffemissionshandelsgesetz! Folgen Sie unseren Vorschlägen!
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Lenkert. – Das war gerade ernst gemeint mit den Porschefahrern.
Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute hier – zumindest teilweise gemeinsam – beschließen, ist ein großer Erfolg der grün mitregierten Länder
({0})
und – das muss man sagen – ganz besonders von Winfried Kretschmann; denn wir korrigieren damit einen der vielen klimapolitischen Fehler dieser Bundesregierung.
({1})
Man muss noch mal daran erinnern: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre – das war bereits beschlossen –, würden wir zum 1. Januar 2021 – mit „wir“ meine ich die Bundesrepublik – einen CO2-Preis in der lächerlichen Höhe von 10 Euro pro Tonne einführen; das hatten Sie bereits beschlossen.
({2})
Und ich hoffe, Sie sind uns dankbar, dass wir das mit einem Kraftakt im Vermittlungsausschuss verhindert haben.
({3})
Angesichts dessen, was auf der Welt los ist, angesichts dessen, was man sich im Südsommer letzten Jahres in Australien und jetzt in Kalifornien anschauen konnte und kann, angesichts der Dramatik der Klimakrise wäre das für die Bundesrepublik Deutschland wirklich eine Peinlichkeit gewesen, und ich bin wirklich froh, dass es uns gelungen ist, uns allen diese Peinlichkeit zu ersparen.
({4})
Es ist den grün mitregierten Ländern sogar noch etwas Zweites gelungen.
({5})
Wenn es nämlich nach Ihnen gegangen wäre, wäre ein Großteil des Geldes einfach irgendwo im Bundeshaushalt versickert.
({6})
Jetzt sorgen wir dafür, dass ein Großteil des Geldes über die Senkung der EEG-Umlage an die Menschen zurückgegeben wird, an kleine Unternehmen, an Handwerksbetriebe, die nicht von der EEG-Umlage befreit sind. Das ist gut für die Wirtschaft, das ist gut für die Menschen, und das ist sozial gerecht.
({7})
Aufgrund dieser beiden Erfolge können wir als grüne Bundestagsfraktion dem vorliegenden Gesetz zustimmen.
({8})
Aber es muss allen klar sein: Es kann angesichts der Dramatik der Entwicklungen nicht das Ende der Fahnenstange sein.
({9})
Wir brauchen deutlich mehr Maßnahmen, wir brauchen deutlich mehr Ehrgeiz, um die Klimaziele einzuhalten.
({10})
Das, was wir heute beschließen, ist nicht das, was notwendig wäre, und es ist auch nicht das – davon bin ich fest überzeugt –, was mit der Gesellschaft möglich wäre,
({11})
sondern es ist das, was mit CDU/CSU und SPD möglich ist. Aber besser das als nichts! Deshalb beschließen wir es gemeinsam und sorgen dafür, dass in Zukunft deutlich ehrgeiziger Klimaschutz gemacht wird; denn die zukünftigen Generationen und die Menschen, die jung sind, brauchen das. Es geht schlichtweg um die Rettung unserer und insbesondere derer Lebensgrundlagen.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Idee, die hinter dem CO2-Preis steckt, ist ganz einfach: Wir machen fossile Energie teuer, und wir fördern erneuerbare Energien, indem wir sie billiger machen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Und das ist der richtige Weg, den wir hier beschreiten.
({1})
Erstens. Der CO2-Preis ab 1. Januar 2021 – Einstieg bei 25 Euro – ist industriepolitisch sinnvoll; denn Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, können diesen CO2-Preis nicht einfach weiterreichen. Wir müssen sie unterstützen. Deswegen ist ein Carbon-Leakage-Schutz der richtige Weg. Es wäre doch abstrus, wenn wir Unternehmen ins Ausland verjagen und sie dann dort sehr viel mehr CO2 ausstoßen. Deswegen brauchen wir einen Carbon-Leakage-Schutz.
Ehrlich gesagt, hätte ich mir von den Grünen, wenn sie schon nicht unserer Entschließung zustimmen, doch wenigstens mal einen eigenen Entschließungsantrag gewünscht. Sonst muss man ihnen nämlich den Vorwurf machen, dass sie industriefeindlich sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, und das wollen wir ja eigentlich nicht.
({2})
Aber da sind Sie blank, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen.
Lieber Lukas, dich schätze ich als Energiepolitiker ja eigentlich sehr;
({3})
aber eben hast du etwas gesagt, was nicht ganz stimmt. Es gibt überhaupt keine Unternehmerlisten. Es gibt sogenannte Sektorenlisten.
({4})
Und in den Sektoren gibt es ETS- und Non-ETS-Anlagen, und übrigens kann man diese Listen erweitern – auch das steht drin. Insofern bist du da auf der falschen Spur.
({5})
Zweitens muss man noch mal deutlich sagen, dass der CO2-Preis auch klimapolitisch sinnvoll ist. Dazu muss er aber klimaneutral ausgestaltet werden. Deswegen ist es richtig, dass wir auch Anlagen davon ausnehmen, wie zum Beispiel im Bereich Klärschlamm; das ist meinem Kollegen Michael Thews gelungen. Es ist ein wichtiger und richtiger Schritt, dass die Anlagen im Bereich Klärschlamm ausgenommen werden.
({6})
Ich kann ein Beispiel aus meinem Wahlkreis, aus Kassel, nennen. Da wird das Braunkohlekraftwerk jetzt in ein Kraftwerk umgerüstet, das Klärschlamm verbrennt, und es ist richtig, dass dafür kein CO2-Preis gezahlt werden muss.
({7})
Das wird ab 2025 der Fall sein. Dann wird es in Kassel keine Kohlekraft mehr geben, und das ist gut so. Das haben Sozialdemokraten gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({8})
Drittens muss der CO2-Preis sozial ausgewogen sein. Auch da haben wir als Sozialdemokraten gehandelt.
({9})
Wir haben die Pendlerpauschale erhöht. Wir haben das Wohngeld erhöht. Wir werden dafür sorgen, dass die EEG-Umlage sinkt.
({10})
Und wir werden auch dafür sorgen – das sagen wir hier ganz deutlich –, dass die höheren Heizkosten anteilig zwischen Vermietern und Mietern aufgeteilt werden. Wir wollen das Vermieter-Mieter-Dilemma sozusagen auflösen, und davon müssen wir unseren Koalitionspartner noch überzeugen. Das werden wir aber tun. Mieterinnen und Mieter dürfen nicht hinterher die Zeche zahlen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({11})
Ich sage Ihnen aber auch ganz deutlich zum Schluss: Es kann nicht sein, dass wir jetzt das Brennstoffemissionshandelsgesetz haben, den CO2-Preis haben und dann einen Haken dranmachen. Das kann nur ein erster Schritt sein. Als nächsten großen Schritt in eine klimagerechte Zukunft mit erneuerbaren Energien brauchen wir ein ordentliches EEG 2021, und da haben wir noch erheblichen Nachholbedarf, meine sehr verehrten Damen und Herren. Aber darum kümmern wir uns dann ab der nächsten Sitzungswoche.
In diesem Sinne: Alles Gute und Glück auf!
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Gremmels. – Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich der Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Klimaschutzpaket haben wir eine sehr solide Grundlage für einen wirksamen Klimaschutz gelegt. Das Klimaschutzgesetz, das wir schon beschlossen haben, gibt sektorscharfe Klimaziele vor, ein Monitoring, das auch die Zielerreichung garantiert. Mit über 60 Maßnahmen unterstützen wir die Menschen beim Umstieg auf klimafreundliche Technologien. Und das Dritte, was wir jetzt auch noch mal verschärfen, ist das Brennstoffemissionshandelsgesetz. Damit geben wir dem schädlichen Klimagas CO2 auch in den Sektoren Wärme und Verkehr ab 2021 einen Preis. Und das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren.
({0})
Wir steigen moderat ein, der Preis steigt aber auch kontinuierlich an. Es gibt einen Aufwuchspfad, der moderat ist. Und den hätte es, lieber Kollege Hofreiter, auch schon vorher gegeben: Ein Jahr nach Einführung wäre der Preis dann schon bei 20 Euro gewesen, am Ende wäre er maximal bei 60 Euro gewesen. – Das wird allerdings immer verschwiegen. Wir erhöhen den Einstiegspreis jetzt – wir machen es aber moderat – und geben gleichzeitig am Anfang eben auch Anreize für den Umstieg auf klimafreundliche Technologien. Und am Ende bildet sich der Preis am Markt.
Dass der Emissionshandel das richtige Instrument ist, hat der europäische Emissionshandel schon unter Beweis gestellt. Er ist innovativ, er ist marktwirtschaftlich, und wir können dadurch die CO2-Emissionen nachhaltig senken. Das ist im Bereich „Industrie und Energie“ gelungen. Auch durch den europäischen Emissionshandel können wir jetzt allen Unkenrufen zum Trotz unser Klimaziel bis Ende 2020 erreichen. Das ist auch ein Erfolg dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren, und des Bundestages.
({1})
Wir führen ein Emissionshandelssystem ein, geben CO2 einen Preis. Das ist die Alternative zu Verboten. Was hatten die Grünen ursprünglich gefordert? Verbote: ein frühzeitiges Verbot des Verbrennungsmotors – am liebsten schon ab sofort; Verbot der Ölheizung – ab sofort.
({2})
Wir bieten einen anderen Weg: Wir fördern die Menschen. Wir unterstützen sie durch klimafreundliche Autos und durch umweltschonende Heizungssysteme, die wir fördern.
Und die Menschen planen den Umstieg. Die Bepreisung, die angekündigt ist und ab 2021 greift, wirkt schon jetzt. Die Menschen beantragen diese Fördermittel. Die Anzahl der bewilligten Anträge ist massiv gestiegen. Man sieht also jetzt schon, dass das System der Bepreisung besser funktioniert als Verbote. Das ist unsere Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({3})
Deutschland ist Vorbild und Vorreiter beim Klimaschutz. Das stellen wir auch mit der CO2-Bepreisung und dem Emissionshandelssystem für Wärme und Verkehr unter Beweis. Und wir haben in Europa eine Bewegung in Gang gesetzt. Ich bin stolz darauf – und da könnte sich die FDP eigentlich auch einmal mit freuen –, dass Ursula von der Leyen jetzt angekündigt hat, den europäischen Emissionshandel auszuweiten.
({4})
Die Europäische Union prüft eine Ausweitung auf die Bereiche Luft- und Seeverkehr sowie auf die Sektoren Gebäude und Verkehr. Schon Mitte nächsten Jahres soll es dazu einen Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Union geben. Das ist auch ein Erfolg, den wir uns in Deutschland ein Stück weit auf die Fahnen schreiben können; denn wir haben diese Bewegung in Gang gesetzt, meine Damen und Herren.
({5})
Mit dem europäischen Emissionshandel und seiner Ausweitung werden wir auch eine fairere Lastenverteilung bekommen; denn im Moment werden die Ziele zwischen den Mitgliedstaaten vor allen Dingen in dem Bereich diskutiert und verhandelt, der noch nicht dem Emissionshandel unterliegt. Mit der Ausweitung des europäischen Emissionshandels bekommen wir automatisch eine neue Lastenverteilung, und das ist der richtige Weg; denn auch die europäischen Partner müssen ihren Beitrag zu einem wirksamen Klimaschutz leisten.
Warum ist der Preis moderat? Was bedeuten die 25 Euro pro Tonne CO2 in 2021? Das bedeutet in der Anfangsphase einen Mehrpreis von 7 Cent pro Liter Benzin und 8 Cent pro Liter Diesel. Was fordern Fridays for Future? 180 Euro pro Tonne. Das würde einen Mehrpreis beim Benzin von 49 Cent pro Liter bedeuten, beim Diesel von 58 Cent pro Liter. Das wäre ein Preisanstieg beim Benzin um 40 Prozent, beim Diesel um 55 Prozent. Das wäre zu massiv! Wir steigen moderat ein; denn wir sind der Meinung, das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren.
({6})
Was fordert die FDP? Sie fordert einen Preis, der sich von Anfang an frei am Markt bildet. Das wären dann auch über 100 Euro pro Tonne CO2.
({7})
Was würde das bedeuten? Wahrscheinlich einen Mehrpreis von 30 Cent pro Liter. Das ist keine mittelstandsfreundliche Politik, die Sie vertreten; da müssen wir Sie immer wieder stellen, und das tun wir regelmäßig.
Wir entlasten auch die Unternehmen. Wir müssen das Augenmerk auf die Unternehmen lenken, die im europäischen Wettbewerb stehen. Deswegen bin ich froh, dass wir vonseiten des Bundestages durchgesetzt haben, dass es schon jetzt Eckpunkte gibt bezüglich des Carbon-Leakage-Schutzes.
({8})
Wir haben diese Eckpunkte deutlich verbessert. Auf europäischer Ebene hat die Erarbeitung der Carbon-Leakage-Listen vier Jahre gedauert. Wir haben das jetzt in einem Dreivierteljahr auf den Weg gebracht. Durch den Druck des Bundestages gibt es die Eckpunkte schon jetzt.
Und es gibt einen Entschließungsantrag, der vieles sicherstellt, zum Beispiel auch, dass es ein bürokratiearmes Verfahren gibt, dass die Unternehmen von Anfang an finanzielle Kompensation bekommen, über die Anfangsphase hinaus, und dass es auch keine Doppelbelastungen der Unternehmen gibt. Das ist der richtige Weg – das sollten auch die FDP und die übrige Opposition zur Kenntnis nehmen –,
({9})
das ist der Ausgleich zwischen dem Klimaschutz auf der einen und der Wirtschaft auf der anderen Seite.
Vielen Dank.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Erwachsene! Liebe Kinder! Um sie geht es hier ja immer, aber in dem Fall, glaube ich, ganz besonders, weil wir heute über ein Thema diskutieren, das vielleicht für viele erst in 60, 70 oder 100 Jahren besonders interessant wird. Es geht um das Weddellmeer, und das ist ein spannender Ort auf der Welt. Aber es geht eigentlich nicht nur um das Weddellmeer, sondern es geht um die Frage, wie wir eigentlich mit der Welt umgehen, wie wir mit der Natur umgehen, die uns anvertraut ist, und wie wir diese Natur eigentlich schützen.
Wir sind dabei, das, was an Erde und Erdmasse da ist, entsprechend zu gestalten, manche würden auch sagen: zu verunstalten, die Natur entsprechend in Anspruch zu nehmen. Aber wir haben große Gebiete auf der Welt, die noch nicht so zugänglich sind – das sind vor allen Dingen die Meere –, die wir aber über Klimawandel und vieles andere schon sehr verändern. Auch das Weddellmeer ist mittlerweile vom Klimawandel schon beeinflusst. Aber wir haben bei den Meeren die Möglichkeit, diese noch viel mehr und viel nachhaltiger zu schützen, als uns das bisher auf der Erde gelungen ist.
Absurd ist, dass wir das Weddellmeer und andere Teile der Meere deshalb schützen müssen, weil es den Klimawandel gibt, weil heute bestimmte Teile der Meere eben ganz anders zugänglich sind, als sie es in der Vergangenheit waren, und wir in der Lage sind, durch Bergbautätigkeiten, durch Fischerei und anderes eben auf diese Meeresumwelt massiv Einfluss zu nehmen. Deswegen müssen wir uns dem Ganzen besonders widmen. Aber es ist eben auch eine ganz große Chance, weil im Moment noch nicht alle unterwegs sind, jedenfalls auf diesem Teil des Planeten, und wir die Chance haben, frühzeitig bestimmte Teile unter Schutz zu stellen, um unserer Verantwortung da nachzukommen.
Das Ganze, was wir im Rahmen des Weddellmeeres diskutieren, ist im Übrigen auch – und ich sehe ja die Staatsministerin des Auswärtigen hier sitzen – eine Frage des Multilateralismus. Der ist unter Beschuss und in großer Gefahr. Aber am Ende wird kein „America“ oder „Russia“ oder „China First“ dafür sorgen, dass wir dieses Welterbe schützen, sondern es wird nur funktionieren, wenn wir multilateral vorgehen, wenn wir es schaffen, in dem Fall insbesondere China und Russland, aber auch Länder wie Norwegen, wie Japan, wie Südkorea und Südafrika, die alle dort Interessen haben, entsprechend unter einen Hut zu bringen.
Das Weddellmeer ist ein faszinierender Naturraum, und das Spannende ist ja, dass man sich unter manchen Zahlen, die man hört – 14 000 Arten –, gar nichts vorstellen kann. Man denkt: Da ist es superkalt, und da kann ja so viel nicht sein. Deswegen muss man Greenpeace und Javier Bardem wirklich dankbar sein, die uns mal gezeigt haben, wie es da eigentlich aussieht: eine faszinierende Lebenswelt, bei der man denkt: Das sieht so aus wie die Korallenbänke im Warmwasser. Aber etwas genauso Farbenprächtiges, so ein tolles Naturschauspiel gibt es eben dort auch. Es ist ein Ort, den man sehen muss, um zu begreifen, wie schutzwürdig er ist. Ich habe gelernt, auch von Greenpeace, dass es dort den Eisfisch gibt. Auf eine gewisse Art funktioniert es bei ihm so wie beim Auto: dass er etwas in sich hat, damit er nicht einfriert. Also, es sind ganz faszinierende Arten.
Was ist eigentlich so spannend am Weddellmeer als einem der 14 Randmeere der Antarktis? Man muss es sich noch mal vorstellen: Da ist die Antarktis, und dann gibt es eben Meere drumherum, zum Teil mit Eis bedeckt, eine Fläche, die fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Was ist so spannend daran? Spannend ist es in Bezug auf den Bergbau, die Frage, ob und was man irgendwann in weiter Zukunft da an Bodenschätzen ernten kann. Da gibt es zum Glück mittlerweile Abkommen, die das zunächst mal verhindern. Aber für viele Länder ist vor allen Dingen spannend, dass man dort Fischerei betreiben kann, den schwarzen Seehecht fangen, 2 Meter lang, und Krill, der für bestimmte Fischzuchten als Futter eingesetzt wird.
Und ich will das noch mal sagen: Wir müssen uns bei Greenpeace bedanken, stellvertretend für viele Umweltverbände, die dort unterwegs sind. Wir müssen uns beim Alfred-Wegener-Institut bedanken, stellvertretend für viele andere in der Wissenschaft, die dort forschen und uns begreiflich machen, was für ein Naturraum das ist und dass wir selber das Ganze dort schützen müssen.
Ich will, da ich als Erster reden darf, mich bei denjenigen bedanken – das machen gleich andere auch noch –, die dieses Anliegen auf den Weg gebracht haben. Ich will mal Steffi Lemke namentlich nennen: Du hast in dem Bereich doch eine Menge initiiert. – Aber ich glaube, wir haben das gemeinsam getan, auch wenn auf dem Antrag jetzt nicht alle Fraktionen draufstehen. Das ist aber ein Bereich und ein Thema, bei dem wir uns hier fraktionsübergreifend einig sind, dass wir die Initiative weiter vorantreiben wollen, dieses Weddellmeer unter Schutz zu stellen.
Ein Nebensatz sei mir dann allerdings schon auch noch gestattet. Es ist natürlich vor dem Hintergrund, dass wir dort keine offensichtlichen, direkten Interessen haben, verhältnismäßig leicht, an andere Staaten zu appellieren, sich um den Meeresschutz zu kümmern. Das wird schon viel komplizierter, wenn wir dann über die Ostsee oder die Nordsee und über die Frage reden, wie wir eigentlich all das voranbringen, was uns an Fischerei, an der Förderung von erneuerbaren Energien und Ähnlichem wichtig ist, insbesondere vor dem Hintergrund der Ausbeutung von Bodenschätzen; das muss man heute zumindest mal sagen. Es ist gut, dass wir hier gemeinschaftlich stehen. Aber es wäre eben auch gut, wenn wir uns in anderen Meeresschutzdebatten, wo es um den direkten Einflussbereich dieses Parlaments geht, entsprechend auch einig wären. Das ist durchaus eine schwierige Debatte.
({0})
Viele sind im Bereich des Schutzes des Weddellmeeres international unterwegs. Das Landwirtschaftsministerium ist federführend. Das Umweltministerium ist unterwegs. Der Dank geht durchaus auch an das Bundeskanzleramt und an das Außenministerium. Aber wir wissen: Am Ende reicht es nicht, dass diese dort international unterwegs sind, entsprechende Allianzen zu bilden. Wir haben es in den letzten Jahren versucht. Es gab Versuche der Unterschutzstellung des Weddellmeeres; sie sind gescheitert. Ich kann, glaube ich, für die SPD zusagen, dass das Auswärtige Amt alles tut, was in seiner Macht steht, solche Allianzen entsprechend zu bilden. Deswegen geht das nicht anders: Am Ende wird es nur gehen, wenn es Chefsache ist, wenn die Bundeskanzlerin in den internationalen Gesprächen neben anderen multilateralen Fragen, auch solchen der Menschenrechte, und vielem anderen, was mir auch am Herzen liegt, dieses Thema mit auf die Tagesordnung bringt. Dann, glaube ich, haben wir eine gute Chance, dass wir, ausgehend von der Europäischen Union und auch von diesem Hohen Haus und der deutschen Position, das Weddellmeer unter Schutz stellen können.
Das wäre superwichtig, und es ist heute noch möglich. In zehn Jahren wird es jedenfalls viel schwieriger werden, als es heute ist. Deswegen noch mal danke an das gesamte Haus für die gemeinsame starke Position, die wir da haben.
Glück auf.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Schwabe. – Eine freundliche Ermahnung des Präsidenten: Wenn Sie das Pult verlassen und zu Ihrem Platz gehen, setzen Sie freundlicherweise die Mund-Nase-Bedeckung auf. In der nächsten Sitzungswoche, wie gesagt, wird aus der freundlichen Ermahnung was Böses.
Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Andreas Bleck.
({0})
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! 1822 machte sich der britische Seefahrer James Weddell auf, in der Antarktis neue Jagdgründe zu erschließen. 1823 überschritt er 74 Grad südlicher Breite: ein Rekord. So weit südlich war vor ihm wohl noch keiner. Dabei segelte er in einem Abschnitt des Südlichen Ozeans, der später nach ihm benannt werden sollte: das Weddellmeer.
Ich erwähne das deshalb, weil die Gründe, die damals zur Entdeckung des Weddellmeers geführt haben, die gleichen Gründe sind, warum das Weddellmeer heute noch nicht geschützt ist: Es geht einzig und allein um wirtschaftliche Interessen, die im Übrigen durchaus legitim sind; das muss man sagen. Die Bundesrepublik Deutschland hat erklärtermaßen keine Gebietsansprüche und keine wirtschaftlichen Interessen in der Antarktis, andere Staaten mit gestellten oder zurückgestellten Gebietsansprüchen hingegen schon. Es ist also nicht verwunderlich, dass ausgerechnet Deutschland das Weddellmeer unter anderem mit großflächigen Nullnutzungszonen schützen möchte.
Ich frage mich jedoch, wie eigentlich Deutschland reagieren würde, wenn andere Staaten großflächige Nullnutzungszonen in der deutschen Nordsee fordern würden. Sie wissen alle, dass diese Forderung naturschutzfachlich noch nicht einmal unberechtigt wäre. Sie wissen alle, dass die deutsche Nordsee in keinem guten ökologischen Zustand ist. Und Sie wissen alle, dass in den Naturschutzgebieten der Fischfang nicht verboten, sondern nur eingeschränkt ist. Das Meeresschutzzeugnis der Bundesregierung ist, wenn man nicht mit zweierlei Maß misst, also mangelhaft.
({0})
Und was machen Regierungen, wenn der Erfolg in der Heimat ausbleibt? Sie suchen den Erfolg in der Ferne, und genau das findet hier statt. Es bleibt also auch ein fader Beigeschmack. Während insbesondere Christdemokraten und Sozialdemokraten wenig Probleme damit haben, vor der eigenen Tür die deutsche Nordsee mit dem Ausbau von Windkraftanlagen zum Industriegebiet zu erklären, setzt man sich am anderen Ende der Welt, im Weddellmeer, für den Umweltschutz ein. Das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist nicht konsequent.
({1})
Bisher war das Weddellmeer durch das Meereis gut geschützt. Treib-, Pack- und Schelfeis bildeten oder bilden einen natürlichen Panzer. Deshalb haben und hatten es Fischfangflotten schwer, in das Weddellmeer vorzudringen. Doch der Temperaturanstieg in der Antarktis führt dazu, dass das Meereis schmilzt. Das hat, anders als es im Antrag impliziert wird, wenig mit der globalen Klimaerwärmung zu tun.
Eine aktuelle Studie der Universität von Wellington kommt zum Ergebnis, dass der Temperaturanstieg in der Antarktis im Wesentlichen nicht auf die globale Klimaerwärmung, sondern auf regionale Klimaschwankungen zurückzuführen ist. Im Übrigen ist die Route, die Weddell damals wählte, um in der Antarktis neue Jagdgründe zu erschließen, heute nur noch mit Eisbrechern passierbar.
Als konservative Partei tritt die AfD für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen unter Berücksichtigung technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen ein.
({2})
Da das Weddellmeer mit über 14 000 Tierarten ein einzigartiges Ökosystem mit wichtigen Ökosystemleistungen ist, muss es auch geschützt werden. Das ist völlig richtig und wichtig.
2018 scheiterte jedoch der Antrag der deutschen Delegation bei der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis. Russland, China und Norwegen stellten sich damals dagegen. Ich hoffe, dass man die Lehren aus dem gescheiterten Antrag gezogen hat.
Statt die Brechstange gegen Staaten einzusetzen, die ihre wirtschaftlichen Interessen wahren möchten, müssen Klinken geputzt werden. Dafür sind auch Fingerspitzengefühl und Flexibilität notwendig. Wenn der Bundesregierung der Schutz des Weddellmeeres so wichtig ist, wie sie behauptet, dann erwarte ich auch, dass die Bundeskanzlerin das zur Chefsache macht.
({3})
Und das, werte Kolleginnen und Kollegen, hätte man im Antrag durchaus auch fordern können. Trotzdem werden wir Ihrem Antrag selbstverständlich zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Bleck. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Planet ist zu mehr als zwei Dritteln von Meeren bedeckt. Sie verbinden seit jeher die Menschen dieser Welt miteinander, sind Quelle für Nahrung und Rohstoffe und von zentraler Bedeutung für die Stabilität unseres Klimas und unserer Ökosysteme. Das jahrhundertelang geltende Prinzip „Freiheit der Meere“ verdeutlicht den besonderen Stellenwert. Doch genau dieser unbegrenzte Zugang und Zugriff auf die Ressourcen der Meere hat zu umfassenden Problemen geführt: Raubbau an Rohstoffen und Fischbeständen sowie Verschmutzung durch Schifffahrt und Abfälle, insbesondere durch Mikroplastik.
Die Weltmeere sind erschöpft. Aus diesem Grund brauchen wir Schutzgebiete, in denen die Natur sich selbst überlassen bleibt und sich von schädlichen menschlichen Einflüssen erholen kann. Damit können wir zwar nicht die Erwärmung der Meere infolge des Klimawandels oder deren Verschmutzung durch Plastik eindämmen; denn beides ist grenzenlos. Wir können jedoch durch das Unterbinden der Fischerei, des Rohstoffabbaus und durch die Einschränkung des Schiffverkehrs dafür sorgen, dass Schutzgebiete zu einem Erholungsraum für die marine Flora und Fauna werden und die Ökosysteme intakt bleiben. Genau darum geht es bei der Einrichtung eines 2,2 Millionen Quadratkilometer großen Meeresschutzgebietes im antarktischen Weddellmeer. Es handelt sich dabei um unberührte Gebiete mit hoher Biodiversität.
Wenn Sie, Herr Bleck, hier kritisieren, dass Deutschland dort keine Interessen hat,
({0})
sich aber trotzdem für den Schutz einsetzt, kann ich nur sagen: Wir haben es vor drei Jahren, glaube ich, geschafft, das Rossmeer unter Schutz zu stellen. Die Forschungsergebnisse, die durch das Alfred-Wegener-Institut im Rossmeer erzielt wurden, waren einer der entscheidenden Gründe dafür, dass die Unterschutzstellung erfolgreich war. Auch wenn sie für das Rossmeer zunächst auf 30 Jahre festgesetzt ist, ist das richtig. Es geht also nicht nur Deutschland darum, dort ein Schutzgebiet zu etablieren, sondern auch vielen anderen Ländern, auch Ländern, die wirtschaftliche Interessen in der Antarktis haben; das muss man ganz einfach wissen.
Mit unserem interfraktionellen Antrag möchten wir der Bundesregierung nun Rückenwind für die anstehenden Verhandlungen geben und sie in ihren Bemühungen unterstützen, auf der diesjährigen oder der nächsten Jahrestragung der zuständigen Antarktis-Konferenz die Einrichtung eines Meeresschutzgebietes zu realisieren. Mut macht dabei, dass Norwegen, das in der Vergangenheit noch dagegengearbeitet hat, jetzt als Unterstützer auftritt. Nun müssen wir nur noch Russland und China überzeugen, ihre Blockadehaltung aufzugeben.
Eine Schlüsselstellung im Ökosystem des Weddellmeeres nimmt Krill ein. Krille sind Krebstiere, die in großen Schwärmen im Meer leben. Sie stellen einen zentralen Pfeiler des Nahrungsnetzes im Weddellmeer dar. Aufgrund des hohen Gehaltes an Omega-3-Fettsäuren ist Krill jedoch zunehmend in den Fokus der Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln geraten. Sie möchten die Krillbestände unter anderem gerne dafür nutzen. Es besteht aber die Möglichkeit, alternativ Omega 3 zu beschaffen, indem man beispielsweise Mikroalgen nutzt.
({1})
Es wäre also eine Möglichkeit, Pflanzen wie Lein oder Raps Gene von Mikroalgen zuzusetzen, um so deren Produktion von Omega-3-Fettsäuren zu unterstützen. Hier könnten moderne Züchtungsmethoden wirksam für den Natur- und Umweltschutz eingesetzt werden.
Der diesjährige Nobelpreis für Chemie wurde gestern zwei Wissenschaftlerinnen verliehen – eine aus den USA und eine Französin, die aber in Deutschland arbeitet –, die die CRISPR/Cas9-Genschere methodisch vorbereitet und umgesetzt haben. Hiermit ist eine Technologie vorhanden, die dabei zum Beispiel zum Einsatz kommt.
Ich bin der Ansicht, wir sollten solche modernen Technologien nicht gleich von Anfang an aus ideologischen Gründen ablehnen, sondern versuchen, den Rechtsrahmen für den Einsatz von CRISPR/Cas9 in der Europäischen Union zu setzen.
({2})
Mittlerweile wird rund um die EU auf dieser Basis intensiv geforscht. Und wenn man überlegt, dass wir diese Forschung, die in Deutschland durch die Französin vorangebracht wurde, noch mit eigenen Steuermitteln unterstützt haben, aber jetzt diese Technologie ablehnen, dann, sage ich, meine Damen und Herren, ist das Steuerverschwendung. Das sollten wir nicht tun.
({3})
Zuletzt möchte ich noch kurz auf das eingehen, was Kollege Schwabe angesprochen hat. Wir sollten wirklich nicht nur in 15 000 Kilometer Entfernung schauen, sondern auch bei uns vor der eigenen Haustür. Ich möchte das, was ich schon in der letzten Rede zu dem Thema „Ausbau der Windkraft auf dem Meer“ angesprochen und gefordert habe, noch einmal sagen: Wir brauchen erst eine maritime Raumordnung,
({4})
die alle Belange – ob das Natur- und Artenschutz ist oder Rohstoffe, Fischerei, Schiffsverkehr und natürlich die regenerativen Energien betrifft – abwägt und auf Grundlage dieses Planes dann Entscheidungen trifft, wie viele Offshoreanlagen wir noch einrichten können.
({5})
Abschließend möchte ich mich bei meinen Kollegen aus den beteiligten Fraktionen und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Büros ganz herzlich bedanken.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schulze. – Nächster Redner ist der Kollege Hagen Reinhold, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Millionen von Jahre brauchen ökologische Systeme, um zu wachsen, um in den Zustand zu kommen, den wir heute auf unserem Planeten entdecken können. Da erscheinen zwei Jahre und noch mal zwei Jahre und noch mal zwei Jahre fast wie ein Wimpernschlag.
Selbst die Zeit von 1959 bis heute, die wir uns als Weltgemeinschaft schon genommen haben, um die Antarktis in den Blick zu nehmen und für schutzwürdig zu erklären, erscheinen wie ein Wimpernschlag, und trotzdem werde ich ungeduldig. Ich hoffe, das geht uns allen so. Deshalb ist dieser Antrag genau richtig; denn er soll dafür sorgen, dass das Weddellmeer – und nicht nur das – geschützt wird.
Ich glaube aber, mit der Unterschutzstellung wird es nicht getan sein. Wir brauchen innovative Systeme, um diese Schutzgebiete zu überwachen. Dafür ist Technologie und Forschung eminent wichtig. Deshalb will ich darauf auch einen Fokus legen, und zwar aus zweierlei Gründen:
Zum Ersten. Ja, viele richten ihren Blick auf die Ressourcen, die es in der Antarktis gibt. Aber wer Ressourcen in sensiblen Ökosystemen schützen will, muss auch dafür sorgen, dass wir uns technologisch weiterentwickeln, Innovation zulassen, um Ressourcen an Land, wo wir sie schon seit Jahrhunderten bergen können, vielleicht effektiver zu bergen. Wenn ich an Land vielleicht viel tiefer graben kann, Ressourcen viel besser erarbeiten kann und Recycling viel besser umsetzen kann, dann kann ich sensible ökologische Systeme in Ruhe lassen. Deshalb muss derjenige, der Schutz auf der einen Seite will, auch Innovation und Fortschritt auf der anderen Seite zulassen.
({0})
Der zweite Punkt, den ich erwähnen muss, ist: Wir haben bestimmt alle mit gespannten Blicken auf die Videos von der „Polarstern“ gewartet. Wir haben sie uns in den letzten Monaten angeguckt. Sie sind von genialer Qualität – glücklicherweise. Sie wurden nicht mit einer Kamera aus den 80ern – das Schiff ist aus dieser Zeit –, sondern mit einer modernen Kamera aufgenommen. Aber das Schiff ist ein Problem; das habe ich beim letzten Mal schon angesprochen.
Die Ausschreibung für die „Polarstern 2“ haben wir gerade aufgehoben und sind noch keinen Schritt weitergekommen. Das können wir den Wissenschaftlern, die die Grundlage dafür legen, dass wir heute über dieses Thema reden können, eigentlich nicht weiter zumuten. Es braucht jetzt eine neue Ausschreibung und eine neue „Polarstern“, damit es den Wissenschaftlern in nächster Zeit gelingt, auch weitere Systeme zu erforschen.
({1})
Ich würde mir im Übrigen wünschen, wir würden aufhören, das Schiff in der Ausschreibung von der letzten Schraube bis zum Mast im Detail beschreiben zu wollen. Es wäre viel besser, wenn wir Funktionen beschreiben würden, die die Wissenschaftler brauchen. Ich glaube, das hilft ihnen weiter. Auch da ist Innovation und Forschung wichtig. Ob das Schiff dann rund, viereckig oder flügelförmig ist, sollten wir der Innovationsfähigkeit der Werften überlassen. Wir sollten nur beschreiben, welche Funktionen gebraucht werden. Ich glaube, damit würden wir ein Stückchen weiterkommen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({2})
Ich bin dem Kollegen Schulze dankbar; denn er hat eine andere Innovation angesprochen: Für die Entwicklung der Genschere wurde der Nobelpreis vergeben. Auch das hilft. Deshalb fordere ich uns alle auf: Wer es ernst meint, der sollte Innovation und Zukunft da unterstützen, wo er es kann.
Zum Schluss will ich einen Dank aussprechen, weil mir eines gut gefallen hat: Die Debatte hier und auch der Antrag zeigen, dass lebendige Demokratie funktionieren kann. Es wurden fast keine Farbenspiele betrieben. Uns eint ein großes Ziel – ich will jetzt mal weg vom Weddellmeer; wer den Antrag gelesen hat, weiß, dass es um deutlich mehr geht –: Es geht um 108,3 Millionen Quadratkilometer Fläche dieses Planeten, 30 Prozent der Meeresfläche. Das sind 302‑mal Deutschland. Wer glaubt – das sage ich für die interessierten Zuhörer, die gerade dazugekommen sind –, es gehe hier nur um das Weddellmeer, der irrt. Mit diesem Antrag geht es um deutlich mehr. Und diesen Antrag beschließen wir heute gemeinsam – fraktionsübergreifend. Ich wünschte mir mehr von dieser lebendigen Demokratie –
Kommen Sie zum Schluss bitte.
– und mehr Zusammenarbeit abseits von Farbenspielen; denn dann gelingen uns ganz offensichtlich – auch wenn das manchmal still und heimlich passiert – große Schläge in der Politik, und das gefällt mir ausgezeichnet.
Ich danke allen, die daran mitgearbeitet haben.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Reinhold.
Herr Präsident, meine Rede ist zu Ende, und ich erspare Ihnen die Ermahnung.
Ich habe über Ihre innovative Idee nachgedacht, kugelförmige Schiffe aufs Meer zu bringen. Ich werde mal in Kiel nachfragen, ob das geht.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva-Maria Schreiber, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Am 29. Oktober beginnt die Jahrestagung der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis. Sie bietet die historische Chance, das Weddellmeer, ein Randmeer des Atlantiks, zu einem der größten Meeresschutzgebiete der Welt zu machen. Das ist seit Langem geplant, bislang jedoch leider am Veto Chinas und Russlands – Norwegen hat ja mittlerweile eingelenkt – gescheitert. Deutschland hat das immer schon unterstützt. Der Bundestag hat das letzte Mal vor zwei Jahren dieses Vorhaben geschlossen unterstützt. Deshalb stimmen wir auch dem heutigen Antrag gerne zu.
({0})
Wie mein Vorredner schon gesagt hat: Der Antrag geht deutlich weiter. Mir kommt ein Punkt in der Debatte um Meeresschutz zu kurz: Einerseits ringt die internationale Staatengemeinschaft derzeit auf verschiedenen Ebenen um den dringend benötigten Schutz der Meere. So bringt sich die Bundesregierung derzeit konstruktiv in die Verhandlungen für ein internationales Abkommen ein. Dieses soll den Schutz von Biodiversität außerhalb nationaler Rechtsprechungen regeln. Das kann man nicht genug unterstützen.
({1})
Andererseits treibt die gleiche Bundesregierung mit Hochdruck den Tiefseebergbau in verschiedenen Teilen der Welt voran.
({2})
Sie unterstützt politisch und finanziell eine Reihe von Industrie- und Forschungsinitiativen für die Erkundung von Lagerstätten in der Tiefsee. Es geht unter anderem um die Erschließung von Manganknollen. Diese enthalten wertvolles Kupfer, Nickel und Kobalt – Rohstoffe, auf die beispielsweise die deutschen Automobilhersteller begierig schauen. Wir alle wissen, was passiert, wenn die Automobilindustrie im Wirtschaftsministerium anklopft.
Tiefseebergbau wird zu gravierenden Störungen der Ökosysteme und einem massenhaften Artensterben führen. Es ist zudem vollkommen unklar, wie er sich auf die Klimafunktionen der Meere, die Nahrungsketten und die Menschen an den Küsten genau auswirken wird. Die Risiken sind enorm. Tiefseebergbau bohrt tief in die Büchse der Pandora, und die Bundesregierung spielt bereitwillig den Dosenöffner für die Wirtschaftsinteressen der Industrie. Das ist grob fahrlässig.
({3})
Eine wirklich nachhaltige Ressourcenpolitik geht nur über die Senkung des absoluten Rohstoffverbrauchs. Hierfür braucht es keine mühseligen internationalen Verhandlungen mit China und Russland. Damit können wir gleich morgen hier vor der eigenen Haustür beginnen.
Außerdem: Wenn wir das UN-Nachhaltigkeitsziel 14, „Leben unter Wasser“, erreichen wollen, dürfen wir nicht beim Weddellmeer stehen bleiben. Auch die Tiefsee muss als gemeinsames Erbe der Menschheit vor Ausbeutung und Zerstörung geschützt werden.
({4})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin!
Unsere Kinder und Enkel werden uns danken.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schreiber. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Steffi Lemke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag und der Verabschiedung des Antrages geht ein wichtiges internationales Signal aus: Meeresschutz ist ein zentraler Baustein im Kampf gegen die Klimakrise und gegen das Artensterben. Wir wollen mit diesem Antrag die Bundesregierung erneut unterstützen in ihrem Bestreben, das Weddellmeer als internationales Meeresschutzgebiet auszuweisen, aber auch noch einmal den Finger in die Wunde legen, dass das bereits völkerrechtlich vereinbarte Ziel, 10 Prozent der Weltmeere bis Ende 2020 unter Schutz zu stellen, wohl nicht erreicht werden wird, und damit auch Druck auf die Verhandlungen bei der CCAMLR-Konferenz ausüben.
({0})
Dieses Ziel und die hoffentlich erfolgreiche Verabschiedung des Weddellmeer-Schutzgebietes Ende Oktober ist so etwas wie ein Rettungsring für die Antarktis. Die Meere befinden sich in einer historischen Krise durch Versauerung, durch Überhitzung. Sie werden gerade zum Endlager für Mikroplastik. Die Studie, dass sich längst viel mehr am Meeresgrund abgelagert hat als bisher vermutet, hat uns in dieser Woche, glaube ich, alle erreicht. Deshalb ist Handeln für den Meeresschutz dringender denn je.
Es ist absolut richtig, dass wir jetzt über die Antarktis reden. Dass wir damit aber natürlich auch die Nord- und Ostsee meinen, dass wir damit auch Verantwortung übernehmen, den Schutz vor der eigenen Haustür zu verstärken, dass es dabei nie nur um die Antarktis und das Weddellmeer gehen kann, das haben alle Vorredner schon betont.
({1})
Deshalb haben wir auch festgelegt, dass sowohl in der Nordsee als auch in der Ostsee Nullnutzungszonen entstehen müssen und es nicht angeht, dass in den Schutzgebieten in Nord- und Ostsee wie vorher Rohstoffabbau und Fischerei betrieben werden können.
In meinen Augen ist dieser Antrag – und dass wir ihn interfraktionell verabschieden – deshalb von so hoher symbolischer Bedeutung, weil wir massive Interessen in der Antarktis verfolgen, nämlich Schutzinteressen. Die Bundesregierung und der größte Teil der internationalen Staatengemeinschaft haben gesagt: In diesem Gebiet, einem der letzten unberührten Naturgebiete der Erde mit wunderbaren Biotopen, mit Wäldern unter See, 14 000 bisher erforschten Tierarten, die dort leben, einer faszinierenden Schönheit, die wir, glaube ich, gar nicht erfassen können, weil wir in der Regel nur das Meereis sehen, geben wir dem Schutz Vorrang vor der wirtschaftlichen Ausbeutung. Das ist das Symbol in dieser Debatte und in diesem Antrag.
Natürlich ist es dort leichter zu machen als hier, im am dichtesten besiedelten Gebiet der Welt. Das heißt, dass wir es dort schaffen sollten, interfraktionell in einen Diskurs zu treten. Da schließe ich sehr gerne an den Kollegen von der FDP an. Wir sollten uns ermutigen, auch hier offener über Nutzungskonflikte zu reden. Wir sollten nicht darüber reden, wer in der Vergangenheit ein Band an irgendeiner Autobahn durchgeschnitten hat, sondern darüber, wie wir in Zukunft diese Nutzungskonflikte auflösen, die wirtschaftliche Kraft erhalten und trotzdem die notwendigen Schutzinteressen vorantreiben.
({2})
Deshalb wollen wir als Deutscher Bundestag der Bundeskanzlerin Rückenwind geben; so kann man es nennen. Wir müssen aber auch Druck ausüben, um interfraktionell dieses gemeinsame Ziel zu erreichen.
Wenn Sie mir den Satz noch gestatten, Herr Präsident, möchte auch ich mich gerne bei den Kollegen Frank Schwabe, Hagen Reinhold, Klaus-Peter Schulze, aber auch bei Michael von Abercron, –
Frau Kollegin.
– der ja beim ersten Antrag sehr intensiv mitgearbeitet hat, aufs Herzlichste für die extrem angenehme Zusammenarbeit bedanken.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lemke. – Als letzten Redner in dieser Debatte rufe ich auf den Kollegen Dr. Michael von Abercron, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 1980 ist das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, im Gebiet des Weddellmeeres umfangreich mit Forschungsarbeiten aktiv. Diese außerordentliche Kompetenz war ein Grund dafür, warum die internationale Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis die Bundesregierung beauftragt hat, einen Antrag zum Schutz des Weddellmeeres vorzubereiten. Das war 2016. Gestatten Sie mir eine interessante Anmerkung: Unsere Forschung scheint an der Stelle nicht die schlechteste zu sein. Darauf möchte ich einmal hinweisen.
({0})
Dieser Weg erwies sich als steinig. Der Kommission gehören 24 Staaten an, und auch die EU ist dabei. Natürlich herrscht hier das Einstimmigkeitsprinzip. So müssen natürlich alle Bedenken abgewogen werden. Trotz umfangreicher Daten und sehr guter Argumente ist es in den alljährlichen Konferenzen bisher nicht gelungen, die gewünschte Schutzwirkung für das Weddellmeer herzustellen. Wir haben acht Mal getagt, und acht Mal ist es gescheitert. Zuletzt lag es in der Tat an Widerständen aus China und Russland. Ob und in welchem Format in diesem Jahr, im Oktober, die Tagung überhaupt stattfindet, ist noch nicht ganz sicher; denn die Russen haben Bedenken gegen die virtuelle Ausgestaltung der Tagung.
Norwegen – das ist sehr interessant – haben wir inzwischen überzeugen können, genauer gesagt: Unsere Bundeskanzlerin hat wohl mit der norwegischen Ministerpräsidentin sehr intensiv geredet. Ihr sei dafür außerordentlicher Dank ausgerichtet.
({1})
Das zeigt aber auch, dass Gespräche auf höchster Regierungsebene durchaus Erfolg haben können. Es ist also einen Versuch wert, Russland und China auch in ein solches Konzept einzubeziehen.
Was sind denn eigentlich deren Argumente? Russland geht es hier natürlich in erster Linie um fischereiwirtschaftliche Interessen, um Krill, um den Seehecht. Bei China ist es dagegen eher ein formales Argument, sie wollen nämlich die Daten im Vorwege der Unterschutzstellung erreichen.
Wenn man darüber nachdenkt, so finde ich, kommt man zu dem Ergebnis, dass dies keine unüberwindbaren Hürden sind. Man könnte ja den Russen anbieten, auch mal über fischereiwirtschaftliche Nutzung weit im Vorfeld des Südpazifiks und über den MSY dort zu reden. Mit den Chinesen könnte man darüber reden, ob es möglich ist, eine gute wissenschaftliche Zusammenarbeit zu organisieren, um deren Sorgen dann ein wenig obsolet werden zu lassen.
Erfolge im internationalen Umweltschutz wären zurzeit ja durchaus eine sehr gute Sache, um die international sehr abgekühlten Bedingungen aufzutauen. Das UN-Ziel, 10 Prozent der Weltmeere bis 2020 unter Schutz zu stellen, ist ein gutes Ziel, und das Weddellmeer könnte dabei sehr wohl helfen.
Übrigens, interessant ist, dass auch Russland und China nicht unerhebliche Flächen ihres Landes unter Schutz gestellt haben: Russland 12 Prozent – über 200 Millionen Hektar – und China immerhin 15 Prozent. Das lässt uns doch hoffen.
Warum liegt uns eigentlich diese ferne und so kalte Gegend so sehr am Herzen? Das AWI hat dazu acht Gründe genannt, die uns eigentlich sehr erwärmen sollten:
Erstens. Die Unberührtheit des Weddellmeeres.
Zweitens. Das Meereis als Nahrungsquelle, Krill, Fischvorkommen, Nahrung für Meeressäuger und dergleichen.
Drittens. Die Uhren gehen da sehr viel langsamer. Hier leben extrem empfindliche Organismen, die sich sehr langsam reproduzieren.
Viertens. Eine große Artenvielfalt – es wurde schon angesprochen – von 14 000 Tierarten.
Fünftens. Ein Rückzugsort für kaltlebende Arten.
Sechstens. Die Heimat der Kaiserpinguine, 15 Kolonien, und auch von Sturmvögeln, 300 000 Brutpaare.
Siebtens. Die Speisekammer der Meeressäuger, zum Beispiel für sechs Robbenarten und zwölf Walarten.
Achtens. Eine Fischart und viele Jäger. Die Fischart ist der arktische Silberfisch, der als Grundnahrungsmittel für das Leben dort überall eine ganz große Rolle spielt.
Um es noch klarer zu fassen: Eine Klimaveränderung könnte in der Tat die Schelfeiskante weiter zurückweichen lassen. Das würde die Fischereimöglichkeiten erweitern, und das, meine Damen und Herren, gilt es in jedem Fall zu verhindern.
({2})
Es ist und muss im Interesse aller nachfolgenden Generationen auf unserem Globus sein, dass wir diese besondere Region für immer schützen und erhalten.
({3})
Ich bin unserer Bundesministerin, Julia Klöckner, und auch allen anderen im Kabinett außerordentlich dankbar, dass sie diesen gemeinsamen Antrag mittragen. Unser Antrag soll helfen, sie zu unterstützen, und wir wollen hoffen, dass uns ein möglichst schneller und guter Schutz des Weddellmeeres bestmöglich gelingt.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege von Abercron. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eingangs aus dem Sitzungsprotokoll vom 25. März dieses Jahres zitieren, und ich zitiere den Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble:
Aber vor allem gebührt unser Dank und unsere Anerkennung den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegekräften und den Gesundheits- und Sicherheitsbehörden, die täglich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gehen. ...
Ich denke, dass wir uns einig sind, dass wir in diesen Dank auch ausdrücklich diejenigen einbeziehen, die tagtäglich trotz erhöhten Ansteckungsrisikos die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen.
({0})
Weiter steht in dem Plenarprotokoll: „Langanhaltender Beifall im ganzen Hause – Die Anwesenden erheben sich“.
Das ist jetzt etwas mehr als sechs Monate her. Jetzt hört sich das von Arbeitgeberseite aus so an: „Überzogene Forderung“, „maßlos“, „zu teuer“, „unverhältnismäßig“ usw., usw. Können Sie sich eigentlich die Wut und die Enttäuschung der Kolleginnen und Kollegen vorstellen? Das hat nämlich mit Respekt vor ihrer Arbeit wirklich gar nichts mehr zu tun.
({1})
Dann hört man – häufig auch hier in diesem Hause –: Jetzt in der Krise sei nicht der richtige Zeitpunkt für Lohnerhöhungen. Ja, meine Damen und Herren: Wann ist der denn?
({2})
Ich habe selber über 20 Jahre Tarifverhandlungen geführt, und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Wenn es nach den Arbeitgebern geht, gibt es nie den richtigen Zeitpunkt für Lohnerhöhungen. Deswegen sagen wir: Der richtige Zeitpunkt für Lohnerhöhungen ist genau jetzt. Jetzt wird das Geld benötigt, um Konjunktur und Nachfrage anzukurbeln.
({3})
Der Gipfel der Unverschämtheit ist, dass nun versucht wird, die Interessen der Beschäftigten gegen die Interessen der Allgemeinheit auszuspielen. Der Verband der kommunalen Arbeitgeber argumentiert, dass durch die Lohnerhöhungen weniger Mittel für die nötigen Investitionen in Klima, Bildung und Digitalisierung vorhanden sind und Investitionen somit verhindert werden. Die Löhne der Beschäftigten sind in der Vergangenheit nur sehr bescheiden gestiegen, dennoch liegt der Investitionsstau in den Kommunen bei weit über 100 Millionen Euro. Aber das ist doch nicht die Verantwortung der Kolleginnen und Kollegen, sondern die Verantwortung einer völlig verfehlten Politik.
({4})
Diese Bundesregierung weigert sich, die Kommunen finanziell besser auszustatten und die Vermögenden zur Finanzierung der Vorhaben heranzuziehen. Ich finde es unerträglich, dass die Krankenschwester verzichten soll, aber die Reichsten in diesem Land verschont bleiben.
({5})
Die Auseinandersetzung der Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst ist mehr als eine reine Tarifrunde. Es geht um die gesamtgesellschaftliche Frage: Was ist uns die Betreuung unserer Kinder, die Pflege unserer Angehörigen oder die öffentliche Müllabfuhr wert? Die Linke hat diese Frage klar beantwortet: Wir stehen für eine gut finanzierte öffentliche Daseinsvorsorge, und unser Platz ist an der Seite der kämpfenden Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ferschl. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Moin, verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Ferschl, erlauben Sie mir eine Anmerkung. Ich verweise auf den 3. Juni. Damals haben wir aufgrund der Coronasituation ein Riesenpaket für die Kommunen auf den Weg gebracht. Das ist aber nicht das Einzige. Klar ist: Wir lassen die Kommunen nicht allein.
({0})
Wenn wir von der aktuellen Tarifrunde sprechen, dann sprechen wir von 2,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Bundes, der Kommunen und weiterer Bereiche, auf die dieser Tarifvertrag direkte Auswirkungen hat. Die Verhandlungen betreffen aber auch die rund 225 000 Bundesbeamten; denn die verhandelten Erhöhungen der Bezüge, die eventuell beschlossen werden, werden – das ist für mich eine Selbstverständlichkeit – zeit- und systemgerecht auf die Bundesbeamtinnen und ‑beamten, Richterinnen und Richter und auf die Soldatinnen und Soldaten übertragen. Verhandelt werden aber nicht nur die Entgelte der 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Vielmehr geht es um weitere Maßnahmen, die die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verbessern sollen. Kurzum: Es geht um die Wertschätzung der Tarifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Bundesbeamtinnen und Bundesbeamten. Ihr täglicher Einsatz ist von unschätzbarem Wert. Ihre Arbeit ist ein zentraler Beitrag für unser Gemeinwohl. Als Gesellschaft müssen wir – und das tun wir auch – dieses Engagement würdigen.
Ich gebe Ihnen recht: Applaus alleine reicht nicht. Die Beschäftigten müssen die Veränderungen spüren: in ihrem Portemonnaie, auf ihrem Zeitkonto und in ihrem Arbeitsumfeld. Doch ob nun jede Forderung im Einzelnen auch berechtigt oder in der Höhe angemessen ist, das entscheidet nicht der Deutsche Bundestag, sondern das entscheiden die Sozialpartner unter sich. Wir mischen uns da ganz klar nicht ein, und ich möchte Ihnen sagen: Das ist auch gut so. Schließlich haben wir eine in Artikel 9 des Grundgesetzes garantierte Tarifautonomie. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben ebenso wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht, sich zu Arbeitgeberverbänden oder zu Gewerkschaften zusammenzuschließen.
({1})
Sie haben auch das Recht, ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen frei von staatlichen Vorgaben in eigener Verantwortung zu regeln. Sie sind nicht abhängig von politischen Zusammensetzungen im Bundestag oder in den Landesparlamenten oder von anderen politischen Erwägungen. Ich bin stolz auf diese lang und gut bewährte Konzeption. Sie dient dem Wohl der Beschäftigten und den Interessen der Arbeitgeber gleichermaßen.
So stehen sich auch bei dieser Einkommensrunde wieder zwei Seiten gegenüber. Auf der einen Seite haben wir die Gewerkschaften. Sie fordern unter anderem eine Entgelterhöhung von 4,8 Prozent, mindestens 150 Euro pro Monat, monatlich 100 Euro mehr für die Auszubildenden, Studierenden und für die Praktikanten. Sie fordern auch, dass die Arbeitszeit durch zusätzliche freie Tage verkürzt werden soll. Zugleich soll die Arbeitszeit in Ostdeutschland auf Westniveau angeglichen werden. Auf der anderen Seite haben wir den Bund und die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände.
({2})
Wir Abgeordnete wissen nur allzu gut, wie angespannt die finanzielle Lage in den meisten Kommunen und bei den meisten kommunalen Arbeitgebern nach wie vor ist. Lassen Sie uns kurz auf die Zahlen schauen. Alleine die Entgeltforderung der Gewerkschaften, ohne die weiteren Forderungen zu berücksichtigen, würde Mehrkosten für die kommunalen Arbeitgeberverbände in Höhe von 5,7 Milliarden Euro bedeuten. Der Bund rechnet bei den Tarifbeschäftigten des Bundes mit Mehrkosten in Höhe von 460 Millionen Euro, und zusätzlich kämen dann noch mal 1,7 Milliarden Euro für die Beamten hinzu. Angesichts der schwierigen Finanzlage und der Herausforderungen, die noch kommen könnten, kann ich beide Seiten verstehen. Als Deutscher Bundestag sollten wir uns aber zurücknehmen. Wir sollten den Verhandlungen den Raum geben, der benötigt wird, um ohne Druck von außen zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der öffentliche Dienst ist und bleibt gesellschaftlich von herausragender Bedeutung. Ich kann diejenigen verstehen, die jetzt sagen: Angesichts von Kurzarbeit, Existenzängsten, Export- und vielleicht auch Konsumrückgang sollte man mit Entgelterhöhungen im öffentlichen Dienst, wo das Entgelt und die Arbeitsplätze vergleichsweise sicher sind, zurückhaltender sein.
({4})
Für mich steht jedoch außer Frage, dass sichere Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen sowie ein faires Entgelt den öffentlichen Dienst attraktiv machen. Das ist richtig so, und das soll auch so bleiben. Dennoch halten wir uns an die Regelung: Wir als Bundestag halten uns raus, insbesondere wegen der Tarifautonomie. Wir werden uns aber darum kümmern, die notwendigen Finanzmittel in den Haushaltsplänen abzubilden. Das ist unser Beitrag für den öffentlichen Dienst.
({5})
In diesem Sinne: Lassen Sie mich abschließend kurz etwas zur vergangenen Tarifrunde sagen. Bei dieser haben alle Beschäftigten bis 2020 ein Plus von mindestens 6,8 Prozent erhalten. Ich denke, das ist ein gutes Fundament für die kommenden Verhandlungen am 22. und am 23. Oktober.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Darauf können die Verhandlungspartner aufbauen, den Rest machen wir. Ich wünsche dabei viel Erfolg.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolaisen. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer an den TV-Geräten! Tarifautonomie ist eines der höchsten Güter der sozialen Marktwirtschaft. Falls Sie, liebe Kollegen der Linken, nicht wissen, was soziale Marktwirtschaft bedeutet – das vermute ich nach Ihrem Antrag –, will ich Ihnen noch einmal das Motto nennen, das Ludwig Erhards Handeln zum Wohle Deutschlands bestimmte: So wenig Staat wie möglich – –
Herr Kollege Witt, ich stoppe Ihre Redezeit. – Herr Kollege Riexinger, auch für Sie gilt die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung beim Betreten des Plenarsaals. Ich weise Sie nur vorsorglich darauf hin.
Herr Kollege Witt, Sie dürfen fortfahren.
Danke, Herr Präsident. – Doch in Ihrem Antrag spiegelt sich wie immer in Ihren Anträgen die Regierungserfahrung und staatliche Regelungswut Ihrer Vorgängerpartei in der DDR, der SED, wider. Noch einmal für Sie: Tarifautonomie ist das in Deutschland in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz verankerte Recht der Tarifpartner, Vereinbarungen frei – ich betone noch einmal: frei – von staatlichen Eingriffen über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, insbesondere Tarifverträge über Arbeitsentgelt und Arbeitszeit, abzuschließen.
Bei allem Verständnis für das Anliegen, möglichst gute Ergebnisse bei Tarifverhandlungen für Arbeitnehmer egal in welcher Branche herauszuholen: Der Staat oder in diesem Fall die Regierung hat kein Recht, sich zu positionieren, geschweige denn, in Tarifstreitigkeiten einzugreifen.
Der öffentliche Dienst hatte schon immer eine Sonderposition inne. Im Gegensatz zur freien Wirtschaft, die sich tagtäglich den Herausforderungen des Wettbewerbs stellen muss, ist der öffentliche Dienst mit seinen Dienstleistungen quasi konkurrenzlos und der verlängerte Arm des Staates, damit aber auch abhängig vom Wohlwollen der politisch Verantwortlichen.
Diese sind in den letzten Jahrzehnten nicht gerade zimperlich mit ihren Bediensteten umgesprungen. Es wurde kaputtgespart; es wurden ganze Dienstleistungsbereiche ausgelagert; es wurde sozusagen das Tafelsilber versilbert.
({0})
Diese verfehlte Politik der Regierung hat die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft ausgehöhlt und die Rahmenbedingungen geschaffen, die heute diskutiert werden.
Wenn Sie nun aber eine bestimmte Beschäftigtengruppe, die zweifellos einen hervorragenden Job abgeliefert hat – wie viele andere Berufsgruppen auch –, bei den Tarifverhandlungen bevorzugen wollen, so schaffen Sie damit eine Zweiklassengesellschaft: auf der eine Seite die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die auch in der Krise einen gesicherten Arbeitsplatz und damit auch ein verlässliches Einkommen hatten, auf der anderen Seite die Verlierer der Coronakrise: die Industriearbeiter, die mit Kurzarbeitergeld über die Runden kommen müssen, die Mitarbeiter aus der Gastronomie, die arbeitslos geworden sind,
({1})
die Hunderttausende Soloselbstständigen und Kunstschaffenden, die vor dem existenziellen Nichts stehen.
Es darf keine staatliche Bevorzugung des öffentlichen Dienstes bei Tarifverhandlungen geben. Daher werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Thomas Hitschler ist für die SPD-Fraktion der nächste Redner.
({0})
Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst der Linken danken, dass sie sich den Argumenten von Olaf Scholz angeschlossen hat. Er hat ja erst letzte Woche an dieser Stelle angemerkt, dass die Coronahelden keine Orden, sondern ein ordentliches Gehalt wollen. Schön, dass wir das im Grundsatz ähnlich sehen.
({0})
Unstrittig ist die Bedeutung, die ein funktionierender öffentlicher Dienst für unsere Gesellschaft hat, auch als einer der wichtigsten Kontaktpunkte der Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Staat. Es ist daher selbstverständlich, dass diese verantwortungsvollen Aufgaben eine anständige Bezahlung verdienen. Weniger verständlich ist Ihre Forderung, in laufende Tarifverhandlungen einzugreifen. Ich garantiere Ihnen: Wenn Sie die Tarifautonomie aushöhlen wollen,
({1})
werden wir dem mit erbittertem Widerstand begegnen.
({2})
Lassen Sie uns den Gewerkschaften lieber gemeinsam den Rücken stärken, als ihnen im Bundestag das Misstrauen auszusprechen. Denn genau das tun Sie mit diesem Antrag; es ist tatsächlich so.
Kolleginnen und Kollegen, die Zukunftsfestigkeit des öffentlichen Dienstes werden wir in den kommenden Monaten und Jahren weiter thematisieren. Der demografische Wandel und die dadurch steigende Konkurrenz zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern werden den Wettbewerb um die besten Köpfe noch verschärfen. In den nächsten 10 Jahren werden etwa 25 Prozent, in den nächsten 20 Jahren etwa 61 Prozent der Angehörigen des öffentlichen Dienstes altersbedingt ausscheiden. Diese Stellen sind nicht so einfach nachzubesetzen. Es wird auch nicht reichen, einfach ein bisschen an der Gehaltsschraube zu drehen.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, damit unser Staat, damit unsere Gesellschaft weiter funktionieren kann, müssen wir echte Konzepte entwickeln, um den öffentlichen Dienst zu stärken. Das müssen wir zusammen mit denjenigen machen, die wir meinen, wenn wir Danke sagen. Die richtig guten Ideen und Konzepte für einen zukunftsfesten öffentlichen Dienst entstehen bei den Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Die müssen wir in unsere Überlegungen einbeziehen. Wir dürfen nicht über ihre Köpfe hinweg diskutieren, sondern müssen mit ihnen an einem Tisch gemeinsam sitzen und sie in die Diskussion mit einbeziehen.
({4})
Ich nenne mal ein paar Beispiele. Aus- und Weiterbildung: Wir brauchen eine massive Ausbildungsoffensive. Genau da wurde in der Vergangenheit einiges versäumt, und das werden wir in Zukunft leider deutlich spüren. Weiteres Beispiel: Die fortgesetzte Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muss vorangetrieben und flexibler gestaltet werden. Wir geben den Angehörigen des öffentlichen Dienstes so Langzeitperspektiven und sorgen für mehr Durchlässigkeit für die Karriereentwicklung.
Wir müssen es aber auch ermöglichen, die Chancen der Digitalisierung für einen effizienten, für einen bürgernahen öffentlichen Dienst zu nutzen. Ich meine, da besteht an vielen Stellen noch erheblicher Nachholbedarf.
Auch in den Besoldungsstrukturen gibt es trotz aller Modernisierung, die auch diese Koalition vorgenommen hat, immer noch genügend Ansatzpunkte, um sinnvolle Verbesserungen durchzuführen. Vielleicht brauchen wir an der einen oder anderen Stelle auch radikalere Änderungen, um unsere Vergütungsstrukturen ins Jahr 2020 zu holen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nur ein kleiner Ausschnitt der Hausaufgaben, die wir als Gesetzgeber, die aber auch die Dienstherren auf allen Ebenen erledigen müssen. Wir dürfen nicht mehr lange warten, sondern müssen reagieren, und zwar mit mehr als nur mit populistischen Anträgen, Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ein Punkt, den ich am vorliegenden Antrag aber anerkennend hervorheben möchte, ist die Forderung nach einer besseren finanziellen Ausstattung unserer Kommunen. Ein gutes Drittel aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes arbeitet bei den Städten und Gemeinden, also dort, wo wir alle leben. Deshalb fällt es an dieser Stelle besonders auf, wenn etwas nicht funktioniert. Hier sind wir im Rahmen des Coronakonjunkturpakets schon tätig geworden, und darauf müssen weitere Maßnahmen folgen. Wir müssen beispielsweise unsere Kommunen bei der Bewältigung der Altschulden unterstützen. Hier wird die SPD weiterhin alles dafür tun, um auch unseren Koalitionspartner von dieser Notwendigkeit zu überzeugen.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, Alexis de Tocqueville hat vor knapp 200 Jahren geschrieben, dass fast überall in Europa der Souverän auf zwei Arten herrsche: Den einen Teil der Bürger lenke er durch ihre Furcht vor seinen Beamten, den anderen durch die Hoffnung, seine Beamten zu werden. – In unserem Land muss heute glücklicherweise niemand mehr Angst vor Behördengängen haben. Der im Titel dieses Antrags leicht verächtlich dargestellte Applaus der Bürgerinnen und Bürger kam von Herzen. Er war Ausdruck der Anerkennung menschlicher und bisweilen auch übermenschlicher Leistung in einer wirklich schweren Krise. Die sollten wir auch als solche verstehen, und dafür sage ich Danke.
({7})
Abschließend noch ein Gedanke zur Attraktivität des öffentlichen Dienstes: Hier sind wir als politische Entscheidungsträger, als Wegbereiter, aber auch als Vordenker gefragt. Wie schaffen wir es, dass der öffentliche Dienst attraktiv bleibt – nicht nur als Arbeitgeber, sondern auch für die Karriere, als Herausforderung?
Ich bin davon überzeugt, dass hoheitliche Aufgaben in der Hand des Staates bleiben müssen und dass wir einige Bereiche auch wieder zurückholen müssen. Der öffentliche Dienst hat gezeigt, was er kann. Zeigen wir, dass wir ihn fit für die Zukunft machen können, mit echten Konzepten und nicht mit Schaufensteranträgen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege, auch für die präzise Einhaltung der Redezeit. – Als Nächstes spricht die Kollegin Sandra Bubendorfer-Licht für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Erfahrungen des Lockdowns sind uns allen noch in frischer Erinnerung. Das Land wurde in den Stillstand gefahren, Gewohntes haben wir schmerzlich vermisst. Trotz dieser Entbehrungen haben wir auch erfahren dürfen, dass das öffentliche Leben, die öffentliche Sicherheit und Infrastruktur nicht zum Erliegen kamen. Klar, manches wurde eingeschränkt, aber der Strom kam weiterhin aus der Steckdose, das Wasser aus dem Wasserhahn, der Müll wurde abgeholt, Busse und Bahnen sind gefahren, und auch die Arbeit in Krankenhäusern und der Notbetrieb in Bildungseinrichtungen liefen.
Schnell wurden die Frauen und Männer, die diesen Erfolg ermöglichten, zu Coronahelden.
({0})
Aber sie sind nicht nur die Coronahelden, sondern sie sind Alltagshelden. Klar ist doch für uns alle: Ohne die Frauen und Männer im öffentlichen Dienst besteht keine staatliche Ordnung.
({1})
Daher ist es richtig, dass auch sie ihre Erwartungen gegenüber ihren Dienstherren artikulieren. Die Tarifparteien mit ihren unterschiedlichen Positionen müssen in den Dialog treten. Und wir, die FDP-Bundestagsfraktion, sind der Überzeugung, dass sich die Tarifautonomie in der Vergangenheit bewährt hat und höchst schützenswert ist.
({2})
Und ja, auch Warnstreiks, so ärgerlich sie manchmal sind, müssen ertragen werden. Aber in dieser aufgeheizten Stimmung hilft es nicht, wenn Die Linke hier ohne Rücksichtnahme auf die öffentlichen Haushalte unhaltbare Versprechungen macht.
({3})
Die vergangene Haushaltswoche hat uns doch allen gezeigt, dass wir uns bereits jetzt auf Kosten der nachkommenden Generationen hoch verschulden.
({4})
Auch wenn es für Die Linke sehr schwer zu verstehen ist: Das Geld wächst eben nicht auf Bäumen.
({5})
Es geht hier nicht in erster Linie um den Bund; denn die meisten öffentlich beschäftigten Bediensteten sind bei den Kommunen angestellt. Viele Kommunen in unserem Land sind in tiefroten Zahlen
({6})
und müssen das verringerte Gewerbesteueraufkommen von geschätzten – lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen – 15 Milliarden Euro erst einmal verkraften.
({7})
Liebe Linke, auch wir als FDP wollen, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine faire und angemessene Bezahlung erhalten; aber es muss eben alles auch vertretbar und machbar sein.
({8})
Im Grunde geht es Ihnen hier doch um das symbolische Beklatschen; denn eine Verbesserung wollen Sie nicht wirklich. Sie verweigern sich nicht nur der Anerkennung der Tatsache, dass nach jeder Tariferhöhung schmerzlich festgestellt wird, dass netto kaum mehr bleibt, sondern auch der Einsicht, dass eine Wertschätzung nicht nur eine Frage des Geldes ist.
({9})
Natürlich muss nicht jede Amtsstube aussehen wie ein Co-Working-Space in Kreuzberg; dennoch wäre es schön, wenn zukünftig die IT-Ausstattung zeitgemäß ist und man sich nicht beim Behördenleiter rechtfertigen muss, wenn man nach 25 Jahren einen neuen Bürostuhl will. Und wenn man sich die Länder anschaut, in denen Die Linke regiert, an der Regierung beteiligt ist wie hier in der Bundeshauptstadt, sieht man: Dort gibt es massiven Nachholbedarf.
({10})
Ich wage die Prognose, dass die Behebung dieser Defizite mehr zur Steigerung der Motivation beitragen würde als die nächste 3-prozentige Lohnerhöhung.
Die Trends der gesellschaftlichen Entwicklungen und die Digitalisierung werden am Staat als Arbeitgeber nicht vorbeigehen. Die Aufgaben werden in Zukunft komplexer und benötigen daher auch die entsprechenden Fachkräfte, und zuletzt macht auch der demografische Wandel nicht vor dem öffentlichen Dienst halt. Zusätzlich ist es geboten, dass wir eine Regelung schaffen, die einerseits ein attraktives Weiterarbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus ermöglicht und die andererseits dafür sorgt, dass wir den öffentlichen Dienst nicht mehr als abgekapselten Lebensweg sehen. In dieser Zeit ist es erforderlich, dass es einen flexiblen Wechsel zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst gibt.
({11})
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und darauf, dass Die Linke es vielleicht mal schafft, endlich in der Realität anzukommen.
Herzlichen Dank.
({12})
Es macht sich als Nächstes bereit die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister, Respekt, dass Sie heute da sind!
({0})
Kolleginnen und Kollegen! Bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst geht es um rund 2,3 Millionen Beschäftigte im Bund und in den Kommunen. Ihre Arbeit ist unverzichtbar, und das muss sich auch in der Personalausstattung und natürlich auch bei der Entlohnung widerspiegeln. Es geht also um Wertschätzung und um Anerkennung, und beides haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wahrlich verdient.
({1})
Die Beschäftigten halten das gesellschaftliche Leben am Laufen, und zwar nicht nur in Zeiten von Corona. Und was machen die Arbeitgeber momentan? Sie haben erst einmal das Angebot der Gewerkschaften abgelehnt, die Tarifverhandlungen wegen Corona in das nächste Jahr zu verschieben, haben zwei Verhandlungsrunden lang kein Angebot auf den Tisch gelegt, und jetzt empören sie sich darüber, dass die Beschäftigten in Zeiten von Corona streiken. Diese Taktik geht gar nicht. Natürlich dürfen die Beschäftigten auch in Zeiten von Corona streiken.
({2})
Dafür wünschen wir den Beschäftigten und den Gewerkschaften einen langen Atem und am Ende vor allem auch viel Erfolg.
({3})
Am Anfang der Pandemie waren die Beschäftigten noch Heldinnen und Helden. Jetzt, in den Tarifverhandlungen, geht es nicht mehr um Wertschätzung, sondern jetzt geht es nur noch um die Kosten. Das können die Beschäftigten zu Recht nur sehr schwer nachvollziehen. Sie haben doch in der Pflege, in der Familienhilfe, im betreuten Wohnen, in den Gesundheitsbehörden, in der Flüchtlingsarbeit, in Wohngruppen alles versucht, um die Menschen in dieser schwierigen Zeit nicht alleine zu lassen. Diese Arbeit ist wertvoll, sie ist unverzichtbar und muss deswegen aufgewertet werden.
({4})
Und Aufwertung und Wertschätzung bedeutet auch, die Beschäftigten angemessen, fair und gerecht zu entlohnen.
({5})
Bei den Tarifverhandlungen geht es aber nicht nur um die Coronazeit; es geht auch ganz grundsätzlich darum, dass der öffentliche Dienst als Arbeitgeber attraktiv ist. Wir brauchen gerade im sozialen Bereich gute und motivierte Beschäftigte. Deshalb darf es nicht sein, dass beispielsweise Pflegehilfskräfte auf einen Zweitjob angewiesen sind, um über die Runden zu kommen. Und es darf nicht sein, dass 30 Jahre nach der Einheit in ostdeutschen Kommunen immer noch länger gearbeitet werden muss als im Westen. Das muss sich unbedingt ändern.
({6})
Und schließlich darf es auch nicht sein, dass im öffentlichen Dienst Arbeitsverträge immer noch überproportional häufig befristet werden; gerade junge Menschen werden lange hingehalten, und sie wechseln dann natürlich in die Privatwirtschaft. Mit Blick auf den demografischen Wandel und auch auf die Altersstruktur im öffentlichen Dienst ist das fatal. Deshalb habe ich auch vor Kurzem bei der Bundesregierung noch mal nachgefragt, wann denn eigentlich das Gesetz zur sachgrundlosen Befristung kommt. Die Antwort war eindeutig – auch wenn es versprochen war –: Ein Gesetz wird es in dieser Legislaturperiode nicht mehr geben. – Hier fehlt einfach der politische Wille – ich denke, von der Union –, und das ist bitter.
({7})
Wir bleiben dabei: Für die Beschäftigten bedeutet die sachgrundlose Befristung Willkür und ein hohes Maß an Unsicherheit. Die Menschen aber brauchen soziale Sicherheit, gerade jetzt in Zeiten von Corona.
Mein Fazit. Die Arbeitgeber müssen jetzt einen sehr guten Tarifvertrag abschließen, und Sie, die Regierungsfraktionen, müssen endlich die sachgrundlose Befristung abschaffen.
({8})
Beides wäre für den öffentlichen Dienst wichtig.
Vielen Dank.
({9})
Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, nachdem Sie gestern trotz Ihres bedeutenden Geburtstages diese Rede vorbereitet haben, spricht alles dafür, dass Sie eine echte Vollblutpolitikerin sind. Alles Gute nachträglich zu Ihrem runden Geburtstag!
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Applaus allein genügt nicht! Es ist aber ebenso richtig, und da sollten wir keinem falschen Eindruck erliegen, dass unsere Regierungskoalition für deutlich mehr als für Applaus ist, nämlich für einen starken öffentlichen Dienst. Und ganz in diesem Sinne führen wir heute auch diese Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Der Antrag der Linksfraktion hat zwei Fehler: Er kommt zur falschen Zeit, und er kommt am falschen Ort. Ich möchte Ihnen sagen: Es ist berechtigt, und es ist legitim, dass man sich für die Wertschätzung insbesondere derjenigen einsetzt, die in diesen Krisenzeiten unseren Staat, unsere Gesellschaft am Laufen halten. Ich finde es auch als ostdeutscher Abgeordneter sehr richtig, dass man sich im 30. Jahr der deutschen Einheit dafür einsetzt, Unterschiede zwischen Ost und West zu nivellieren. Aber hier und jetzt ist trotzdem der falsche Ort und die falsche Zeit; denn wir sind mitten in Tarifverhandlungen, die der Bund, die Kommunen und die Gewerkschaften führen. Der Bundestag ist der falsche Ort für diese Tarifverhandlungen; denn sie sind nicht Angelegenheit des Parlaments. Man kann hier über alles diskutieren, aber für uns steht die Tarifautonomie im Vordergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Es ist uns natürlich auch wichtig, dass diese Verhandlungen ausgewogen geführt werden. Sie machen es sich ziemlich leicht. Sie sagen: Stimmt doch einfach den Forderungen der Gewerkschaft zu. – Hierzu muss ich sagen: Sie blenden einen Punkt ganz entscheidend aus: Es geht nämlich darum, dass der Bund und die Kommunen nicht nur ein großes Herz haben, sondern auch berechtigte Anliegen in Form solider Staatsfinanzen. Auch wenn in Ihren Wunschvorstellungen das Geld aus dem Füllhorn kommen mag, ist für uns klar: Wir agieren hier mit dem Geld der Steuerzahler, das nicht vorschnell nach unserem Belieben verteilt werden soll. Wir haben treuhänderisch die Verantwortung auch für künftige Generationen. Darauf müssen wir setzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Gerade weil wir das ernst nehmen, wissen wir auch: Wahrscheinlich werden nicht alle Wünsche erfüllt werden, auch weil wir in einer besonderen Situation sind. Wir bewegen uns in einer ernsthaften wirtschaftlichen Krise. Wir haben in den letzten Monaten schwere Hypotheken für die Zukunft aufgenommen. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Den Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst, den wir finden, müssen wir dann auch erklären: den Klein- und Kleinstunternehmen, den Mittelständlern in unseren Wahlkreisen, die im Moment Mitarbeiter in Kurzarbeit haben, die nicht sichere Jobs haben wie im öffentlichen Dienst, die um ihre Jobs fürchten. Ich glaube, diese Abwägung müssen wir verlangen, und das ist ganz wichtig. Ich sage: Maß und Mitte müssen in dieser Tarifrunde für uns der Ausgangspunkt sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Maß und Mitte in der Diskussion der Tarifpartner – das ist die richtige Tonlage. Arbeitskampfrhetorik, glaube ich, hilft in dieser Diskussion nicht. Unser Anspruch ist, diese Diskussion am Verhandlungstisch sachlich zu führen. Darauf wollen wir setzen.
Aber ich sage Ihnen auch noch eines: Was mich an Ihrem Antrag besonders gestört hat, ist nicht so sehr, dass man jetzt die Tarifverhandlungen zum Anlass nimmt, um politische Akzente zu setzen – das ist alles schön und gut; das kennen wir von Ihnen –, sondern dass Sie dieses Märchen vom schlechten Verhältnis von Bund und Kommunen bedienen und hier erzählen, die Kommunen seien unterfinanziert durch den Bund. Da kann ich Ihnen nur sagen: Diesem Märchen müssen wir klar entgegentreten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Sie sollten sich fragen, wenn Sie von einer chronischen Unterfinanzierung der Kommunen reden, wen Sie mit diesem Vorwurf eigentlich adressieren. Ich kann Ihnen sagen: Zuständig für die Finanzierung der Kommunen sind die Länder. Sie sollten einmal mit Ihren Länderchefs reden, mit Herrn Ramelow zum Beispiel, aber sicherlich nicht mit dem Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wir haben hier Akzente gesetzt wie keine Koalition zuvor. Wir haben in den letzten Monaten und auch im vergangenen Monat das Grundgesetz über Gebühr hinsichtlich der Finanzverfassung geändert, um die Kommunen besonders in der Coronalage zu unterstützen. Wir haben – nur um ein paar Zahlen zu nennen – die Kommunen entlastet: beim Umsatzsteueranteil, bei den KdU im SGB II, seit 2017 jährlich ungebunden mit 3,4 Milliarden Euro, insgesamt im Sozialbereich strukturell mit 20 Milliarden Euro. Weitere Stichworte: Gute-KiTa-Gesetz, sozialer Wohnungsbau, ÖPNV, Ganztagsschule. Das ist die Leistung dieser Regierungskoalition.
Wenn man eine besser finanzierte kommunale Seite will, dann hilft vor allem eines: weniger linke Landräte, weniger linke Landesminister und der von uns eingeschlagene Kurs für starke Kommunen. Und genau das werden wir auch fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Der nächste Redner macht sich bereit. Es ist für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 15 Millionen Nettosteuerzahler in Deutschland bezahlen jede Ausgabe, die wir hier beschließen. Geld wächst nicht auf Bäumen, Geld muss hart erarbeitet und verdient werden. Die Linken fordern, dass die 15 Millionen Nettosteuerzahler, die weltweit schon die höchsten Abgaben und Steuern zahlen müssen, doch bitte noch stärker belastet werden, damit der Staat mehr Geld bekommt und mehr Geld von der freien Wirtschaft in die staatliche Bürokratie fließt.
Es geht in diesem Antrag nur am Rande um die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die selbstverständlich ein Gehalt verdient haben, das ihrer Leistung gerecht wird. Es geht in diesem Antrag vor allem um Sozialismus. Das zeigt sich auch darin, dass man auf Kosten der Steuerzahler die Kommunen dauerhaft mit noch mehr Steuergeld ausstatten möchte und dass anstelle von Tarifverhandlungen die Gewerkschaften künftig definieren sollen, welcher Lohn denn gezahlt wird. Es ist eine grundsätzliche Frage, die sich in diesem Antrag zeigt und die sich jede Gesellschaft stellen muss: Wollen wir in einer freiheitlichen oder in einer sozialistischen Gesellschaft leben?
({0})
Sozialismus ist grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, weil er Leistung und Eigeninitiative bestraft. Sozialismus wird aber von den Herrschenden oft angestrebt, weil er ihnen die volle Kontrolle über die Bevölkerung ermöglicht und ihnen uneingeschränkte Macht verleiht. Sozialismus bedeutet am Ende immer Armut für alle, weil durch staatliche Lenkung der Wirtschaft, wie in diesem Antrag, und durch massive Bürokratie jegliche Wettbewerbsfähigkeit verloren geht.
({1})
Meine Kollegen und ich wurden vor drei Jahren in den Bundestag gewählt, weil immer mehr Bürger erkannt haben, dass Freiheit und Wohlstand massiv gefährdet sind. Und die Unverfrorenheit, mit der Sie hier gemeinsam Freiheit und Wohlstand vernichten, um dem Traum des absoluten Sozialismus näherzukommen, ist tatsächlich unfassbar. Nicht nur ich, sondern auch viele Mitbürger fühlen sich inzwischen an 1933 erinnert.
({2})
Im Frühjahr hat man eine Notlage ausgerufen, mit der man über Verordnungen alle Grundrechte außer Kraft setzen kann. Nach Aussage von Herrn Drosten gibt es aktuell Überlegungen, diese Notlage auf ewig zu verlängern. Spätestens wenn das geschieht, gibt es keinerlei Unterschied mehr zwischen einer epidemischen Notlage nationaler Tragweite und Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933.
({3})
Die Opposition gegen die Einschränkung der Bürgerrechte wird seit Jahren systematisch ausgegrenzt und sozial geächtet. Alle großen Medien haben jegliche Neutralität verloren und agieren wie Handlanger der Regierenden. Bürger werden dazu aufgerufen, andere öffentlich bloßzustellen oder gar zu melden, die sich nicht an jede Regelung halten, egal wie schwachsinnig sie sein mag. Und letzte Woche hat hier im Bundestag die SPD-Abgeordnete Tack unter dem Applaus von SPD und Union eine Rede gehalten, bei der es mir eiskalte Schauer über den Rücken gejagt hat. Sie hat wortwörtlich gesagt – ich zitiere:
Deswegen ist diese ganze Mär vom schlanken Staat, wie wir sie in den letzten Jahren immer wieder gehört haben, jetzt, denke ich, auch nur noch von Traumtänzern aufrechtzuerhalten, und wir hoffen sehr, dass wir diese Debatte jetzt endlich überwinden und sagen können: Nur ein handlungsfähiger, starker und sozialer Staat ist in der Lage, auf Krisen mit Schutz und Sicherheit für die Menschen und für die Unternehmen in diesem Land adäquat zu reagieren. Deshalb ist es gut, dass wir ihn stark gehalten und noch gestärkt haben.
Den schlanken Staat als Traumtänzerei, den starken Staat als Ziel – bei dieser Rede hätte jeder Diktator der Welt begeistert Applaus geklatscht. Wenn hier unter Ihnen jemand ist, der noch einen Funken Anstand und Verantwortungsbewusstsein hat:
({4})
Schließen Sie sich uns an! Lassen Sie uns den vorgezeichneten Weg in eine sozialistische Gesellschaft beenden! Geben wir stattdessen den Menschen Freiheit und Eigenverantwortung zurück.
Vielen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss auch Meinungen aushalten, die man nicht teilt.
({0})
Ich bitte wirklich darum, dass man zuhört. Man muss nicht alles teilen, aber in diesem freien Parlament müssen auch Meinungen möglich sein, die der Mehrheit nicht gefallen.
Der Kollege Bernd Rützel hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede von Herrn Sichert von der AfD in Bezug auf die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst müssen die 4 Millionen Menschen, die derzeit für bessere Löhne streiten, bewerten. Die 82 Millionen Menschen in Deutschland sollten wissen, dass es die Sozialdemokraten mit Otto Wels an der Spitze waren, die gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben, die dagegen gekämpft haben und ihr Leben riskiert haben.
({0})
Eine Rede über Tarifverhandlungen in einem solchen Kontext zu halten, gehört sich nicht. Ich bitte Sie, noch einmal darüber nachzudenken und solche Dinge auch nicht zu vermischen.
({1})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, als überzeugter Gewerkschafter will ich grundsätzlich sagen: Tarifverhandlungen gehören in die Hände der Sozialpartner. Tarifautonomie ist ein ganz, ganz hohes Gut, und die Mütter und die Väter des Grundgesetzes haben das auch in Artikel 9 manifestiert. Bei den aktuell laufenden Verhandlungen ist der Arbeitgeber die öffentliche Hand, der Staat; deswegen sollten wir etwas tun.
Deswegen bin ich der Fraktion Die Linke dankbar dafür, dass sie diesen Antrag eingebracht hat, sodass wir heute darüber diskutieren können. Es wäre schön, wenn auch der zuständige Minister, Horst Seehofer, dieser Debatte beiwohnen könnte;
({2})
denn dann würde er die Zusammenhänge erkennen. Ich bin froh, dass Hubertus Heil, unser Sozialminister, anwesend ist.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst“ hört sich abstrakt an. Was verbirgt sich dahinter? Dahinter verbergen sich 3 bis 4 Millionen Menschen: Menschen, die den Bus fahren, die die Straßenbahn fahren, die die S‑Bahn fahren, die unseren Müll wegbringen, die im Ordnungsamt arbeiten, die im Gesundheitsamt arbeiten, Leute in den Verwaltungen, in den Arbeitsagenturen, in den Jobcentern, Beschäftigte bei der Polizei und den Rettungsdiensten, Menschen, die im Zivil- und Katastrophenschutz tätig sind, die vielen Erzieherinnen und Erzieher und viele Menschen, die in der Pflege und im Gesundheitswesen tätig sind; auf diese Gruppe wird Heike Baehrens in ihrem Redebeitrag eingehen. Es geht um die Menschen in all diesen Applaus-Berufen.
Diese Menschen haben viel, viel mehr als Applaus verdient. Wenn sich jetzt jemand als Hüter des schlanken Staates darstellt und sagt: „Applaus ist gut, aber jetzt muss es eine Nullrunde geben“, dann sage ich: Das ist eine Frechheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wir haben doch gesehen, dass gerade in Krisenzeiten – das gilt aber grundsätzlich immer – ein starker Staat, einer starker Sozialstaat gebraucht wird. Und diese Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die halten diesen Sozialstaat zusammen.
Liebe Beate Müller-Gemmeke, sei versichert, dass die SPD bis zum Ende der Legislatur, so wie es im Koalitionsvertrag steht, vehement und stark dafür eintritt, dass die sachgrundlose Befristung zurückgedrängt wird. Dafür bin ich 1986 auf die Straße gegangen, und das will ich hier vollenden.
({5})
Drei Dinge sind mir wichtig:
Erstens. Es muss eine kräftige Lohnerhöhung geben.
Zweitens. 800 000 Kräfte gilt es in den nächsten zehn Jahr im öffentlichen Dienst zu ersetzen. 800 000! Dafür muss er attraktiv sein; das hat Thomas Hitschler schon gesagt.
Drittens. Wir müssen die Leute schützen. Es werden sehr viele angegangen, körperliche Gewalt erfahren sie, sie werden beleidigt und beschimpft, aber auch Leib und Leben werden bedroht. Deswegen brauchen wir Gesetze, Schulungen, mehr Personal, und vor allem braucht es uns alle. Die Politik allein schafft das nicht; dafür müssen wir alle sorgen. Wir können damit anfangen, dass wir es gut finden, wenn demnächst gestreikt wird, dass wir die Leute unterstützen und unsere Solidarität zeigen.
Vielen Dank.
({6})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle hier sind uns einig: Beschäftigte in Kliniken oder Kitas, im Gesundheitswesen generell, ganz gleich, ob öffentlich oder privat, sie alle müssen fair und angemessen bezahlt werden.
({0})
Es war der großartige Einsatz der Beschäftigten in den systemrelevanten Bereichen, der uns bislang vergleichsweise gut durch die Pandemie gebracht hat. Dafür sind wir alle zu Dank verpflichtet.
({1})
Und ja, auch darin sind wir uns einig: Bloßer Applaus reicht nicht.
({2})
Aber, meine Damen und Herren,
({3})
was auch nicht reicht, das ist die monetäre Seite des Applauses in Form der einmaligen Coronaprämie:
({4})
chaotisch in der Darreichung; Steuerfreiheit bis heute nicht eindeutig geklärt.
Wir Freien Demokraten fordern seit Langem eine spürbare steuerliche Entlastung für kleine und mittlere Einkommen;
({5})
denn von Steuererleichterungen hätten nicht nur die Beschäftigten im öffentlichen Dienst etwas. Da möchte ich an den Anfang anschließen: Der richtige Zeitpunkt für Steuererleichterungen scheint in diesem Parlament irgendwie nie gegeben zu sein.
({6})
Auch der Kassierer im Supermarkt oder die Altenpflegerin eines ambulanten Dienstes hätten durch weniger Steuern mehr Geld im Portemonnaie.
({7})
Dafür zu sorgen, das wäre die Aufgabe der Bundesregierung, und nicht etwa, in laufende Tarifverhandlungen einzugreifen und sich auf eine Seite zu stellen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf nicht unser Verständnis von Tarifautonomie sein.
({8})
Doch zurück zu den Betroffenen, insbesondere den Pflegenden. Diese wünschen sich eben nicht nur mehr finanzielle Anerkennung, sondern auch dringend bessere Arbeitsbedingungen, mehr Kolleginnen und Kollegen, damit die Arbeit auf mehr Schultern verteilt wird und mehr Zeit für Zuwendung bleibt. Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz hat gezeigt, dass es nicht ausreicht, zusätzliche Stellen zu finanzieren, wenn diese Stellen dann nicht besetzt werden können.
Auch der vorliegende Antrag fordert die Finanzierung von mehr Personal, ohne zu sagen, wo es herkommen soll.
({9})
Pflegende wollen verlässliche Dienstpläne und nicht ständig aus dem „Frei“ geholt werden.
({10})
Einige Kliniken wirken dem bereits mit kreativen Ideen wie einem flexiblen Personalpool entgegen.
({11})
Hier müssen wir ansetzen. Auch die betriebliche Gesundheitsförderung sollte weiter ausgebaut werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Applaus allein genügt nicht. Wenn wir Beschäftigte, insbesondere Pflegende, und zwar nicht nur im öffentlichen Dienst, behalten und gewinnen und ihnen die Anerkennung verschaffen wollen, die sie verdienen, braucht es weitaus mehr. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten!
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Pascal Meiser.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 2,5 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst beim Bund und in den Kommunen kämpfen zurzeit für eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Dafür haben sie aus meiner Sicht die größtmögliche Unterstützung, die man sich vorstellen kann, mehr als verdient.
({0})
Diese Beschäftigten, das sind diejenigen, die bei der Stadtreinigung jeden Tag unser aller Müll entsorgen, das sind die Krankenpflegerinnen in den Krankenhäusern, die Erzieher in den Kitas oder diejenigen, die in den Arbeitsagenturen in einem großen Kraftakt dafür gesorgt haben, dass Millionen Menschen ihr Kurzarbeitergeld erhalten haben.
({1})
Sie alle und noch viele mehr, sie haben dafür während der Coronapandemie viel Applaus erhalten, und das zu Recht. Ich wünsche mir wirklich, dass sie alle erfahren, wie verächtlich insbesondere die AfD heute über sie und ihre Arbeit hier gesprochen hat.
({2})
Von Applaus allein kann man weder seine Familie ernähren noch seine Miete bezahlen.
({3})
– Ja, getroffene Hunde bellen. – Ich war in den vergangenen Tagen persönlich auf mehreren Streikkundgebungen, und ich kann Ihnen sagen: Viele von diesen Heldinnen und Helden des Alltags haben die Schnauze gestrichen voll davon, wie jetzt mit ihnen umgesprungen wird.
({4})
Wenn sich der Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber, der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge, leider von der SPD, hinstellt und sinngemäß sagt, die Beschäftigten sollten froh sein, dass ihnen in der aktuellen Krise nicht gekündigt werde, dann ist das einfach eine Respektlosigkeit ohnegleichen.
({5})
Wenn die Arbeitgeberseite es auch nach mehreren Wochen und zwei Verhandlungsrunden nicht hinbekommt, überhaupt nur ein Angebot vorzulegen, wenn sie jetzt sogar faktisch mit Lohnkürzungen droht, dann ist das ein Schlag ins Gesicht all derer, die im öffentlichen Dienst den Laden in den letzten Monaten am Laufen gehalten haben.
({6})
Deshalb sage ich auch hier klipp und klar: Die Verantwortung für die Warnstreiks der letzten Wochen und die damit für viele Bürgerinnen und Bürger einhergehenden Unannehmlichkeiten, die trägt einzig und allein die Arbeitgeberseite und damit auch Herr Minister Seehofer als Verhandlungsführer des Bundes.
({7})
Nun argumentieren die Kommunen ja damit, dass ihnen aufgrund der Coronakrise das Geld für Lohnerhöhungen fehle. Sie aber, meine Damen und Herren von der Koalition, haben heute hier wieder behauptet, Sie hätten den Kommunen die coronabedingten Lasten abgenommen. Ja, was stimmt denn nun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD?
({8})
Entweder Sie stellen sich jetzt hierhin und sagen: „Die Kommunen sagen die Unwahrheit und sollen in den laufenden Tarifverhandlungen endlich ihre Blockadehaltung aufgeben“, oder aber Sie haben der Öffentlichkeit bisher Sand in die Augen gestreut; dann müssen Sie aber jetzt dafür sorgen, dass alle Kommunen tatsächlich finanziell so abgesichert werden, dass sie anständige Lohnerhöhungen auch über den Tag hinaus finanzieren können.
({9})
Und wenn Sie nicht wissen, wie Sie das finanzieren sollen: Holen Sie das Geld einfach dort, wo es ist: bei den Milliardären und Multimillionären in unserem Land. Wir haben gestern wieder erfahren: Die sind auch in der Krise reicher geworden und haben genug, um abzugeben.
({10})
Klar ist: Die Verantwortung dafür, wie es mit dem öffentlichen Dienst nicht nur beim Bund, sondern auch in den Kommunen weitergeht, trägt in diesen schwierigen Zeiten ganz zuvorderst die Bundesregierung. Und deswegen sind auch Ihre Hinweise auf die Tarifautonomie hier völlig fehl am Platz. Das Besondere am öffentlichen Dienst ist doch, dass der Staat, die Bundesregierung und damit, ja, die Politik mit am Verhandlungstisch sitzt; das unterscheidet ihn doch von der Privatwirtschaft.
Herr Kollege, die Redezeit ist abgelaufen.
Deswegen ist es doch auch tatsächlich so, dass wir hier darüber diskutieren müssen, was der richtige Weg ist, wie die Bundesregierung mit den Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst umgeht. Die Linke garantiert: Wir stehen weiterhin an ihrer Seite.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Stefan Schmidt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend um 19 Uhr applaudieren für Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. – Sicherlich haben auch Sie während des Lockdowns solche Nachrichten bekommen. Das war eine schöne Aktion. Aber schon damals habe ich mir gedacht: Mensch, Applaus allein reicht nicht. Es gibt noch eine wichtigere Form der Anerkennung, nämlich höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.
({0})
Mit den Tarifverhandlungen können den warmen Worten jetzt endlich Taten folgen. Denn Corona hat den öffentlichen Dienst ins Scheinwerferlicht gerückt. Das ist gut für die Beschäftigten, und höhere Löhne sind auch gut für die Binnennachfrage und damit für die Konjunktur und damit für uns alle.
({1})
Höhere Löhne kosten die öffentliche Hand aber selbstredend auch viel Geld. Das ist gerade in diesen Zeiten eine große Herausforderung, insbesondere für die Städte und Gemeinden. Aber eins darf nicht vergessen werden: Sie haben zurzeit historische Einnahmeausfälle und hohe Mehrausgaben. Vor diesem Hintergrund muss mehr vom Bund und vor allem von den Ländern kommen; denn die Unterschiede in der Finanzausstattung einzelner Kommunen nehmen zu, und das nicht erst jetzt, sondern auch schon vor der Krise.
Wir Grüne setzen uns ein für gute Lebensbedingungen überall. Was bedeutet das konkret? Wir brauchen endlich eine Altschuldenhilfe für die Kommunen. Wir brauchen eine Gemeindefinanzreform, die die Mittel und Transfers zwischen Bund, Ländern und Kommunen auf sinnvolle Weise neu sortiert. Wir müssen aufräumen mit dem Förderdschungel, und wir müssen kurzfristig für Städte und Gemeinden Planbarkeit herstellen, zum Beispiel, indem wir klarmachen, wie es mit den Steuerausfällen nach 2020 weitergehen soll.
({2})
Also: Nutzen wir die Chance, statten wir die öffentlichen Arbeitgeber so aus, dass sie auch Politik machen können, und geben wir den Beschäftigten ein deutlich größeres Stück vom Kuchen! Denn die Beschäftigten des öffentlichen Diensts müssen unsere besondere Anerkennung haben. Da kann ich an dieser Stelle nur sagen: Vielen herzlichen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz und für die geleistete Arbeit und alles Gute für die Verhandlungen! Faire Ergebnisse wünsche ich mir da für uns alle gemeinsam.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist der Kollege Alexander Krauß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Wertschätzung für den öffentlichen Dienst zeigt sich in der Tat nicht nur an Worten, was wir jetzt ganz gut hinbekommen haben, sondern eben auch an den Taten. Da kann man einfach mal schauen, wie die Bundesländer – und in den Bundesländern wird ja unterschiedlich regiert – mit ihren eigenen Beamten und Beamtinnen umgehen. Da gibt es eine sehr schöne Statistik des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Da steht der Bund mit der Bezahlung seiner Beamten ganz gut da. Es gibt nur zwei Bundesländer, die besser bezahlen als der Bund. Das ist der Freistaat Bayern, und das ist der Freistaat Sachsen, zwei unionsregierte Länder. Also: Taten, meine sehr geehrten Damen und Herren, darauf kommt es an.
({0})
Aber Geld ist nicht alles; ich will das ganz deutlich sagen. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber hinter seinen Leuten steht. Die Kernfrage ist: Stärkt die politische Führung eines Landes ihren Polizisten den Rücken, oder fällt sie den eigenen Polizisten in den Rücken? Denn die Polizisten sind eine ganz, ganz wichtige Gruppe im öffentlichen Dienst, die dafür sorgt, dass dieser Staat funktioniert. Und da sind wir alle gefordert.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, täglich werden in unserem Land über 100 Staatsdiener – Polizistinnen und Polizisten – angegriffen, jeden Tag über 100. Das kann uns nicht kaltlassen. Polizisten halten Leib und Leben hin für unsere Freiheit. Ich denke da an verschiedene Ereignisse wie Leipzig-Connewitz und den G-20-Gipfel in Hamburg: knapp 700 Polizisten von Linksextremisten verletzt. Da kommt dann der grüne Landesvorsitzende aus Sachsen hin und sagt: Die Gewalt ging von den Polizisten aus. – Es gab 700 verletzte Polizisten. Der Hamburger Polizeichef sagte: Diese Angriffe hatten die Qualität eines Terrorangriffs, weil man Gehwegplatten aufs Dach gelegt hat, wo man Polizisten erschlagen wollte.
Ein ganz eklatantes Beispiel kommt aus Leipzig – da bitte ich jetzt mal die Linken ums Zuhören –: Da forscht eine linke Landtagsabgeordnete aus, wie stark die Polizeireviere in Leipzig-Connewitz besetzt sind, damit man weiß, wie die Polizeistärke und die Bewaffnung aussehen, damit man dann genau weiß, wann man dieses Polizeirevier überfallen kann.
({2})
Zu Silvester gab es Ausschreitungen von Linksextremisten in Leipzig mit ganz vielen verletzten Polizisten, wo mit größtmöglicher Brutalität vorgegangen worden ist: menschenverachtend, durch Ihre Leute gedeckt und unterstützt.
({3})
Sie haben die Polizisten dann noch verantwortlich gemacht für die Gewalt.
({4})
Sie haben null Respekt für die Arbeit der Polizisten, null Respekt!
({5})
Und dann kommen Ihre Linksfreunde auch noch aus Leipzig her und fordern die Abschaffung der Polizei. Das setzt dem wirklich noch die Krone auf. Sie können Ihren Fraktionskollegen übrigens fragen, der Fraktionsvorsitzender im Stadtrat von Leipzig ist. Da wird dann gefordert, dass auf Stadtkosten ein Graffiti angebracht wird mit der Aufschrift: No cops. – Keine Polizisten.
({6})
Das ist der Hintergrund. Das ist Ihre Denke. Sie treten den Polizisten richtig in den Hintern mit Ihrer Politik, die Sie betreiben.
({7})
Mit der Debatte, zu der Sie heute ausgeholt haben, wollen Sie sich als Vorkämpfer für den öffentlichen Dienst erweisen. Aber wenn die Polizisten auf der Straße stehen, dann treten Sie denen kräftig in den Rücken und beschimpfen sie. Sie unterstützen die linksradikalen Gewalttäter in der ganzen Bundesrepublik. Das müssen die Beamten wissen, und deswegen haben die null Vertrauen zu Ihnen als Linkspartei.
({8})
Leider – das gehört zur Wahrheit dazu – ist Leipzig oder Hamburg kein Einzelfall. Schauen wir uns das Polizeigesetz in Berlin von Rot-Rot-Grün an.
({9})
– Es geht um die Wertschätzung für Polizisten.
({10})
Gucken wir uns das Polizeigesetz in Berlin an: Da haben die anderen Innenminister gesagt: Wir schicken nur Polizisten nach Berlin, wenn klar ist, dass das Polizeigesetz für unsere Polizisten nicht gilt, weil Sie damit ein Misstrauen den Polizisten gegenüber aussprechen. Sie haben eine Beweislastumkehr gemacht, indem der Polizist nachweisen muss, dass er niemanden zum Beispiel wegen seines Aussehens diskriminiert hat.
({11})
Nicht der andere muss nachweisen, dass der Polizist eine Straftat begangen hat, sondern der Polizist muss nachweisen, dass er nicht straffällig geworden ist. Was ist das denn für eine Respektlosigkeit gegenüber den Polizistinnen und Polizisten hier in Berlin?
({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das gehört zur Wahrheit und muss gesagt werden: Wenn die SPD-Parteivorsitzende von latentem Rassismus bei der Polizei spricht, dann ist das leider auch ein Problem. Ich finde: Gerade von den großen Volksparteien kann man erwarten, dass wir uns hinter die Polizei stellen, weil die Polizisten ihren Kopf für uns hinhalten. Die übergroße Mehrzahl unserer Polizisten stehen treu zum Gesetz, stehen für unseren Staat ein, und deswegen haben sie unsere volle Rückendeckung verdient.
({13})
Das hat nicht nur was mit anständigem Gehalt zu tun, meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern das hat was mit Respekt und Anerkennung der Arbeit der Polizei zu tun. Da können Sie auf der Seite der Linken ganz viel dazulernen, wie Sie das noch besser hinbekommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Die Kollegin Heike Baehrens hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kommen wir zurück zu den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst.
({0})
In den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes geht es ganz zentral um das Thema Pflege; denn der TVöD ist der Leittarif für die Pflege, und zwar nicht nur für die kommunalen Krankenhäuser und die Universitätskliniken oder die kommunalen Pflegeeinrichtungen. Nein, insgesamt orientieren sich die Anbieter in der Pflege und vor allem die großen Anbieter wie Diakonie und Caritas am TVöD und legen oft noch etwas drauf. Darum brauchen wir jetzt gute Fortschritte bei diesen Tarifverhandlungen.
({1})
Ordentliche Tarife brauchen wir im öffentlichen Dienst und überall da, wo wichtige Aufgaben im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge wahrgenommen werden. Gute Bezahlung in der Pflege gelingt nur über verbindliche Tarife und über eine Stärkung der Arbeitnehmervertretungen in den Tarifverhandlungen. Deshalb appelliere ich an alle, die in der Pflege arbeiten – egal wo und in welchen Berufen –: Werdet Mitglied bei Verdi! Stärkt die Verhandlungsbasis der Gewerkschaften in der Tarifrunde und für die Zukunft!
({2})
Nur so kann dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes des bpa die Argumentationsgrundlage entzogen werden. Wenn Herr Brüderle immer noch sagt: „Unsere Mitarbeiter wollen keine Tarife“, dann irrt er. Deshalb sage ich: Werdet Mitglied in den Gewerkschaften, und vertretet eure Interessen nachhaltig!
({3})
Die Metall- und Elektroindustrie zeigt es seit Jahrzehnten: Wo es viel Tarifbindung gibt, gibt es bessere Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Das ist der Schlüssel, mehr Personal zu gewinnen für eine gute Pflege. Wir als SPD haben die Voraussetzungen für einen Pflegetarifvertrag geschaffen. Unser Bundesminister Hubertus Heil hat dafür gekämpft, das Gesetz für bessere Löhne tatsächlich auf den Weg zu bringen. Jetzt kann es gelingen. Aber da sind auch die Arbeitgeber gefragt.
({4})
Nicht einem Gesetzentwurf, sondern der „Bild am Sonntag“ konnten wir entnehmen, dass auch unser Gesundheitsminister jetzt dafür plädiert: Tarifbezahlung muss in der Pflege Standard werden.
({5})
Gut, dass wir jetzt an diesem Punkt angekommen sind.
Gerade weil ein Pflegetarif in greifbare Nähe gerückt ist, müssen wir ein zweites Ziel erreichen, das uns als SPD besonders wichtig ist, nämlich: Die Eigenanteile in der Pflege müssen gedeckelt werden
({6})
Auch das hat der Minister jetzt verstanden. Doch seine Finanzierungsvorschläge überzeugen nicht.
({7})
– Jetzt geht es um den Gesundheitsminister. – Denn circa 9 Milliarden Euro liegen im Pflegevorsorgefonds brach und 37,6 Milliarden Euro bei der privaten Pflegeversicherung auf der hohen Kante.
({8})
Da muss nicht zuallererst in die Taschen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gegriffen werden.
({9})
Wir wollen gute Tarifgehälter für alle, die in der Pflegebranche arbeiten. Deshalb stehen wir solidarisch an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Tarifrunde. Wir wollen gute Pflege für alle, die auch bezahlbar ist für alle. Darum streiten wir als SPD für eine Pflegereform, die die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen begrenzt und die Finanzierung der Pflegeversicherung solidarisch umgestaltet.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Zum Abschluss hören wir, was Frau Kollegin Emmi Zeulner dazu sagt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Baehrens, die Arbeit muss Hubertus Heil dann schon noch selbst machen; die kann der Jens Spahn ihm nicht abnehmen.
({0})
Aber statt eines Blicks in die „Bild am Sonntag“ würde tatsächlich ein Blick in den Koalitionsvertrag oder auf die Konzertierte Aktion Pflege reichen;
({1})
denn da haben wir uns darauf verständigt, dass wir natürlich selbstverständlich hinter diesem Thema stehen.
Aber zum Thema. Liebe Fraktion Die Linke, ich frage mich manchmal: Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Vor genau einer Woche stand hier an diesem Platz der Bundesinnenminister Horst Seehofer, der bekannterweise der letzte echte Sozialdemokrat des Freistaats Bayern ist, und hat zu den aktuellen Tarifverhandlungen gesagt: Seien Sie gespannt! – Da muss ich natürlich sagen: Sie haben recht. Wir sind gespannt. Aber natürlich weiß auch unser Bundesinnenminister gerade nach den letzten Monaten, dass es nicht bei einem reinen Applaus für unsere Beschäftigten im öffentlichen Dienst bleiben kann.
Aber glauben Sie mir auch: Wir haben die Krise vielleicht gebraucht, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens dafür zu bekommen, dass die Produktion von Schutzausrüstung wie zum Beispiel Masken, deren Produktion aus Lohnkostengründen ins Ausland verlagert wurde, wieder zurück nach Deutschland geholt werden muss.
({2})
Aber wir haben die Krise sicher nicht gebraucht, um zu erkennen, was unser öffentlicher Dienst tagtäglich leistet, seien es die Männer und die Frauen der Müllabfuhr, seien es die Pflegekräfte, Kindergärtnerinnen oder die Personengruppe, die Sie in Ihren Anträgen immer wieder bewusst nicht erwähnen, unsere Polizistinnen und Polizisten von Bund und Land.
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben in den letzten Jahren, schon vor der Krise, immer wieder Tarifsteigerungen erhalten. Aber es ist schon bezeichnend, wenn Sie in Ihrem Antrag zur jetzigen Zeit eine Neiddebatte aufmachen. Sie vergleichen lediglich Lohnsteigerungen der unterschiedlichen Tarifabschlüsse miteinander und verschweigen dabei anscheinend bewusst die Vorzüge, die die Anstellung im öffentlichen Dienst mit sich bringt. Sie erwähnen keine Altersvorsorge. Sie erwähnen keine Zulagen und auch nicht den Vorteil einer krisensicheren Beschäftigung. Und ja, gerade in der jetzigen Zeit muss das ein Schlag ins Gesicht derjenigen sein, die Schausteller, Reisebürobetreiber, Stewardessen sind oder im Zuliefererbereich arbeiten, um nur einige Beispiele zu nennen.
({3})
Diese hatten wirkliche Nullrunden, stehen vor einer unsicheren Zukunft oder bangen eben weiterhin um ihre Existenz. Deshalb wünsche ich mir, dass die aktuellen Tarifverhandlungen mit sehr viel Sensibilität geführt werden. Und ich bin mir sicher, dass unser Bundesinnenminister und die Vertreter der Kommunen ebenfalls die Sensibilität gerade mit Blick auf die unteren Besoldungsgruppen haben werden.
Es ist sehr zu begrüßen, dass es einen Extratisch zur Pflege und zum öffentlichen Gesundheitsdienst in den Tarifverhandlungen geben wird. Diese haben sich in den letzten Wochen und Monaten in den Dienst unseres Landes gestellt – das wurde hier vielfach betont –, und sie werden es weiterhin tun müssen. Und auch hier gilt: Wir als Große Koalition haben die Leistungen der Pflegekräfte auch außerhalb des öffentlichen Dienstes schon vor der Krise anerkannt und sind hier aktiv geworden. Die komplette Refinanzierung von Tarifsteigerungen beispielsweise für Pflegekräfte in Krankenhäusern haben wir durchgesetzt. Dass in der häuslichen Pflege Tarifbezahlung von den Kostenträgern nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden darf, das kam von uns. Und im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege haben wir auch klar den Auftrag an die Verhandlungsparteien gegeben, dass ein Tarifvertrag ausverhandelt werden soll, der bundesweit für gültig erklärt wird.
({4})
Wir senden als Politik also hier ein klares Signal – das hat die Kollegin Baehrens schon angesprochen –, dass wir eine Stärkung der Pflege in allen Bereichen wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die Kommunen eingehen. Sie als Linke müssen uns als Große Koalition ja nicht loben; das verlangen wir gar nicht. Aber zumindest müssen Sie, finde ich, die Fakten anerkennen. Wir haben zur Stärkung der Kommunen gerade erst das Grundgesetz geändert. Allein hier gibt der Bund 6,1 Milliarden Euro für die Kommunen zur Kompensation der Gewerbesteuerausfälle aus.
({5})
Wir entlasten die Kommunen im Sozialbereich bei der Grundsicherung im Alter und den Kosten der Unterkunft um fast 20 Milliarden Euro.
({6})
Wir haben die Regionalisierungsmittel um weitere 2,5 Milliarden Euro erhöht. Wir unterstützen die Länder und die Kommunen beim sozialen Wohnungsbau, beim Kitaausbau und beim DigitalPakt Schule, und das mit mehreren Milliarden Euro. Und ich habe manchmal einfach den Eindruck, dass manche vergessen, wie viele Millionen eine Milliarde hat. 1 000 Millionen hat 1 Milliarde. Das Geld können wir nicht einfach mit dem Füllhorn ausschütten.
Der Bund verzichtet weiterhin ab 2021 auf rund die Hälfte des Soliaufkommens – sprich: auf rund 10 Milliarden Euro –, während die Länder davon überhaupt nicht betroffen sind. Und nein, wir können nichts dafür, wenn die Länder diese Gelder tatsächlich nicht weitergeben, und wir können auch nichts dafür, wenn die Länder nicht die nötigen Strukturen in den Kommunen schaffen, dass am Ende dieses Geld ankommt und wirkt. Aber es gibt keine Koalition – es gab auch keine Koalition vorher –, die mehr für die Kommunen und auch mehr für die Pflege getan hat. In diesem Sinne lehnen wir Ihren Antrag ab und freuen uns auf die weiteren Beratungen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das war die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fünf Jahre lang hat die CSU die Verkehrspolitik in Deutschland damit lahmgelegt, dass sie ein Mautsystem schaffen wollte, bei dem es nicht etwa um Klimaschutz, Verkehrswende, soziale Gerechtigkeit, nicht einmal um zusätzliche Einnahmen gehen sollte. Nein, es sollte ausschließlich darum gehen, Ausländerinnen und Ausländer zu diskriminieren. Meine Damen und Herren, nachdem der Bundestag das hier zweimal mit der Koalitionsmehrheit beschlossen hat, möchte ich an der Stelle noch mal dem Europäischen Gerichtshof danken, dass er vor über einem Jahr dieses Irrsinnsprojekt gestoppt hat.
({0})
Wer nun dachte, damit könnte das Kapitel Ausländermaut im Ordner der CSU-Skurrilitäten abgeheftet werden, der, meine Damen und Herren, hat nicht mit Andi Scheuer gerechnet. Was wir im Untersuchungsausschuss erleben, ist das Sittengemälde eines Ministeriums, in dem alles egal war. Es ging jahrelang nur und ausschließlich darum, diese Maut durchzusetzen. Und darüber muss hier gesprochen werden, meine Damen und Herren.
({1})
Ich möchte es klar sagen: Andreas Scheuer hat gegen Haushalts- und Vergaberecht verstoßen; das steht fest. Er hat wahrscheinlich sogar mehrfach das Parlament belogen, und er hat infolge seiner persönlichen Entscheidungen beim Steuerzahler einen Schaden von mehreren Hundert Millionen Euro verursacht.
({2})
Ich frage: Frau Merkel, Herr Söder, wie lange wollen Sie dem Land und der Republik das noch antun, was dort auf der Regierungsbank sitzt, meine Damen und Herren?
({3})
Was wir letzte Woche im Untersuchungsausschuss erlebt haben, das sucht in der deutschen Politik seinesgleichen. Dort sagen drei Zeugen glasklar und unzweifelhaft, dass sie dem Verkehrsminister Andreas Scheuer angeboten haben, die Maut bis zum EuGH-Urteil zu verschieben. Sie sagen klar und deutlich, dass er das mit Verweis auf die Bundestagswahl abgelehnt hat und darauf bestanden hat, dass das vorher schnell fertig werden muss.
({4})
Meine Damen und Herren, damit ist klar: Andreas Scheuer trägt unmittelbar die persönliche Verantwortung. Das ist im Untersuchungsausschuss letzte Woche geklärt worden.
({5})
Meine Damen und Herren, was macht die Koalition? Sie tut etwas – wir haben das überprüfen lassen –, was in Untersuchungsausschüssen in den letzten zehn Jahren noch nie vorgekommen ist: Sie beantragt am Tag der Befragung, einen weiteren Zeugen zu befragen. Ein völlig ungewöhnlicher Vorgang! Es ist der Ex-Staatssekretär Schulz, im Ministerium – das ist nicht meine Wortwahl – „Mister Maut“ genannt. Dieser Mann kann sich hervorragend – darum heißt er wahrscheinlich auch „Mister Maut“ – an alle möglichen Dinge, an alle Details der Maut erinnern. Nur an eines
({6})
– er war bei dem Geheimtreffen dabei – kann er sich interessanterweise nicht erinnern. Er sagt nämlich, er könne sich nicht erinnern, ob es ein solches Angebot, die Maut zu verschieben, von den Betreibern gegeben habe, er wolle es aber auch nicht ausschließen. Meine Damen und Herren, wer von der Koalition solche Entlastungszeugen einlädt, der braucht eigentlich gar keine Belastungszeugen mehr von der Opposition.
({7})
Meine Damen und Herren, das muss man an der Stelle auch mal sagen: Dieser „Mister Maut“ ist nicht mehr Staatssekretär; er ist jetzt hochbezahlter Manager des von Herrn Scheuer verstaatlichten Unternehmens Toll Collect.
({8})
Das, meine Damen und Herren, ist ein Sittengemälde, bei dem ich sage: Das kann man fast als Drehbuch für eine Vorabendserie an das ZDF verkaufen – „House of Scheuer“ oder so ähnlich –; so hätte man wenigstens ein paar Einnahmen.
({9})
Die Geschichten im Untersuchungsausschuss werden immer mehr. Es stellt sich heraus, dass die Berater davon abgeraten haben, sofort zu kündigen, dass dadurch der Schaden vergrößert worden ist und, und, und. Es wird jede Sitzung – jede Sitzung – mehr. Und dieser Mann ist immer noch im Amt. Da stellt man sich die Frage: Warum macht der Koalitionspartner SPD das eigentlich die ganze Zeit mit, wo der doch in einer Koalition ist, die er gar nicht will. Wir erinnern uns ja noch: „Nikolaus ist GroKo aus“. Was haben wir nicht alles gehört!
({10})
Da gibt es jetzt welche, die sagen: Na ja, Herr Scholz soll nicht so hart angepackt werden von der Union im Untersuchungsausschuss Wirecard. – Das mag sein; Herr Scholz hat ja auch einigen Dreck am Stecken. Aber ich glaube, es ist viel profaner – und das hat man in der Aktuellen Stunde gestern hier gemerkt –: Das Grundproblem ist, dass Andreas Scheuer genau die Verkehrspolitik aus den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts macht, die die SPD will. In Wahrheit finden Sie das genau richtig, was Herr Scheuer tut und treibt. Deshalb stützen Sie ihn. Das ist der politische Grund.
({11})
Herr Kollege, die Redezeit ist abgelaufen.
Meine Damen und Herren, der letzte Satz. Ich habe mich hier 2017 geirrt. Damals habe ich gesagt: Nach Ramsauer und Dobrindt kann’s nicht schlimmer kommen.
({0})
Nein, es kam schlimmer, mit Herrn Scheuer.
({1})
Ich sage: Frau Merkel, Herr Söder, machen Sie Schluss damit, entlassen Sie endlich diesen Minister!
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Es fällt einem wirklich schwer, am Anfang „Liebe Kollegen!“ zu sagen. Einen solchen Tag, eine solche Themenaufsetzung und auch eine solche Rede hat dieses Haus wirklich selten erlebt. Schon der Titel dieser Aktuellen Stunde – „Auftritt des Bundesministers“ – entlarvt die gesamte Inszenierung, die die Opposition hier veranstaltet. Sie wollten diesen Untersuchungsausschuss, obwohl wir der Auffassung waren, die Aufklärung hätte anders erfolgen können. Sie wollten die Geschäftsordnung bemühen, damit wir in diesen Untersuchungsausschuss gehen. Jetzt tun Sie genau das Gegenteil: Sie behindern die Arbeit des Untersuchungsausschusses, Sie führen sie ad absurdum. Warum? Weil Sie den Zirkus wollen und nicht die Suche nach der Wahrheit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({0})
Es geht um einen „Auftritt“ – das muss man sich einmal vorstellen! –, weil der Pulverdampf, den der Untersuchungsausschuss hervorruft, nicht ausreicht. Nach Wochen, nach Monaten, nach ordnerweisem Durchkämmen auf der Suche nach der angeblichen Wahrheit sind bisher null, keine Verstöße
({1})
des Ministeriums gegen das Vergaberecht, keine haushaltsrechtlichen Unregelmäßigkeiten, kein Fehlverhalten des Ministers feststellbar.
({2})
Selbst der so hochgelobte Tag, an dem der Minister Rede und Antwort stehen musste, ging nach hinten los, weil bestenfalls noch klar ist, dass Aussage gegen Aussage steht.
Dann sind wir bei dieser hoch umwundenen Aussage. Es ist vollkommen klar – das hat der letzte Tag im Untersuchungsausschuss schon erbracht bei der Suche nach der Motivation –: Warum soll denn eigentlich ein Unternehmen, das in Verluste zu geraten droht, weil jeder Tag an Verzögerung Unmengen an Geld bedeutet, ein solches Angebot machen? Vier Wochen vor dem angeblichen Gespräch, in dem dieses Angebot zur Verschiebung wegen des fragwürdigen EuGH-Urteils gefallen sein soll,
({3})
wurde noch deutlich gemacht: Nein, wir wollen unter keinen Umständen irgendeine Verzögerung, irgendeine Verspätung, weil das Geld kostet. – Und dann soll dieses freimütige, unternehmerisch so selbstlose Angebot gekommen sein?
Zwei Zeugen sagen übereinstimmend – zusätzlich zum Minister –: Das ergibt überhaupt keinen Sinn. – Der Hauptbelastungszeuge ist an dieser Stelle einer, der gar nicht dabei war. Und das nimmt man zum Anlass, nicht etwa im Untersuchungsausschuss weiter zu forschen? Interessanterweise findet das hinter verschlossenen Türen statt, weil es um ein laufendes Schiedsgerichtsverfahren geht. Und welch Wunder: Jetzt reden wir über die Motivation, warum ein Unternehmen, dem ein Geschäft in Millionenhöhe durch die Lappen ging, plötzlich Interesse daran hat, die Arbeit der Bundesregierung, die Arbeit dieses Ministers zu diskreditieren. Da mag man an Interessenspolitik denken. Und ganz ehrlich: Zwischen 500 Millionen Euro und null, da liegt für Herrn Schulenberg und Kollegen die Wahrheit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist die wahre Motivation, warum man plötzlich, ein paar Monate nach einem angeblichen Gespräch, eine Notiz fingiert; darum geht es.
({4})
Wer macht jetzt im Augenblick daraus Politik? Nicht der Untersuchungsausschuss, nicht die Suche nach der Wahrheit. Nein, nein, der Zirkus muss hier stattfinden. Sie behindern die Arbeit sogar noch: Gerade eben sollte der Untersuchungsausschuss weiterlaufen, gerade eben sollten weitere Zeugen vernommen werden. Nein, wir machen hier eine Aktuelle Stunde. Herr Präsident, das ist eine äußerst fragwürdige Auslegung der Geschäftsordnung.
Ich kann es nur noch einmal sagen: Sie haben betont, dieser Geschäftsordnungsausschuss muss als Untersuchungsausschuss tagen, weil der Verkehrsausschuss das nicht aufarbeiten kann. – Jetzt sind Sie mit den Ergebnissen unzufrieden, jetzt muss der Zirkus ins Plenum getragen werden. Sie sollten sich schämen an dieser Stelle wegen dieser überbordenden Auslegung der Geschäftsordnung!
({5})
Das ist der eigentliche Skandal im Verlauf dieses Untersuchungsausschusses.
Am Ende des Tages bin ich einmal gespannt, ob Sie die Geduld aufbringen werden und auch die notwendige Haltung.
({6})
Bei so viel Doppelmoral muss man selbst bei diesem Niveau schon sagen: Sehr, sehr niedrig. „Sind Sie bereit, am Ende des Tages wirklich sehenden Auges die Wahrheit zu akzeptieren?“, diese Frage stellt sich für mich als einzige in diesem Untersuchungsausschuss.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das Projekt Pkw-Maut stand als politische Obsession einer kleinen Partei von Anfang an unter einem schlechten Stern.
Grundlage des Projekts ist der Koalitionsvertrag von 2013, dessen Formulierung voll auf Kollisionskurs mit EU-Recht ist. Ob das EU-Recht übergriffig ist und die Souveränität der Mitgliedstaaten über Gebühr einschränkt, ist eine eminent wichtige politische Frage, die auch untersucht werden muss.
({0})
Der betreffende Text im Koalitionsvertrag war Chefsache der damaligen Parteivorsitzenden Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel.
({1})
Wir haben im Untersuchungsausschuss neben Herrn Seehofer auch schon den früheren Verkehrsminister Ramsauer gehört, mit diametral unterschiedlichen Aussagen über die Motivation der Beteiligten dieses Kuhhandels.
({2})
Wie kam dieser Text mit seiner eingebauten Hypothek zustande? Wenn wir das aufklären wollen, müssen wir auch Frau Merkel und Herrn Gabriel als Zeugen hören. So weit geht der Aufklärungswille der anderen Fraktionen bislang aber leider nicht. Sie bleiben eingeladen, unsere Initiative doch noch zu unterstützen. Wir von der AfD-Fraktion fühlen uns vor allem zwei Dingen verpflichtet: der Wahrheit und dem Geld der deutschen Steuerzahler.
({3})
In der vergangenen Sitzung des Untersuchungsausschusses stand ein Treffen von Verkehrsminister Scheuer mit Vertretern des Bieterkonsortiums im Mittelpunkt. Wurde im November 2018 angeboten, den Vertrag über die Mauterhebung erst viel später zu unterschreiben, nämlich nach dem EuGH-Urteil? Hat Minister Scheuer den Bundestag belogen, als er im September 2019 dazu befragt wurde? Auffällige Erinnerungslücken des Ministers hinterlassen ein peinliches Bild. Der Wahrheit dient das sicher nicht.
Die Aussagen der Firmenvertreter ergänzen sich: Es gab einen Vorschlag, den Vertrag später zu schließen. Aber es ging dabei nicht um das EuGH-Urteil selbst, wie jetzt gerne erzählt wird, sondern es ging einfach ums Geld. Das Prozessrisiko schätzten die Anbieter nämlich als gering ein. In der zusätzlichen Zeit sollte der Minister vielmehr ein höheres Budget in den Haushalt stellen lassen.
Am Ende reichte das Budget dann doch, wie wir wissen, allerdings unter Anwendung von hanebüchenen Methoden. Ich erinnere an die vorher kategorisch ausgeschlossene Mithilfe von Toll Collect und die Übernahme von Portokosten durch den Bund. Vergaberechtlich und haushaltsrechtlich war das ein Ritt auf der Rasierklinge.
Warum wurde das Budget für die Pkw-Maut nicht in gleicher Höhe in den Haushalt 2019 eingestellt? Der Minister hat sich damit selbst Fußfesseln angelegt und, unter Zeitdruck gesetzt, den Zwang erzeugt, noch am Sonntag, 30. Dezember 2018, mit dem Mautvertrag zum Notar zu gehen. Eine befriedigende Erklärung dafür habe ich bis heute nicht gehört.
({4})
Abenteuerlicher Umgang mit Recht und Gesetz gehört vielleicht in bestimmten CSU-Kreisen zum Repertoire; die bayerische Coronapolitik steht mit den Grundrechten der Bürger ja auch auf Kriegsfuß.
({5})
Substanzlose Showeinlagen wie der Aktenwagen mit angeblich vollständigen Mautordnern qualifizieren vielleicht für das Amt des CSU-Generalsekretärs. Aber als Bundesminister ist Herr Scheuer für die Regierung eine tonnenschwere Last.
({6})
Die SPD hat mit Olaf Scholz jetzt aber auch einen Minister, auf den ein Untersuchungsausschuss zukommt. Sichern sich die Koalitionspartner da gegenseitig Unterstützung zu, um Rücktritte zu vermeiden?
Uns von der AfD würde das Abtreten eines Ministers als Antwort auf den Mautskandal nicht reichen. Wir wollen wissen: Wie kam es 2013 zu dem Koalitionsvertrag mit dem undurchführbaren Mautauftrag? Warum stand das Geld für die Maut nicht im Haushalt 2019? Hat sich keiner in der Regierung um den Umgang mit Vergabe- und Haushaltsrecht im BMVI gekümmert?
Wir schützen die Interessen der Steuerzahler, und wir wollen die ganze Wahrheit erfahren.
({7})
Ich verspreche Ihnen wie den Bürgern unseres Landes: Die AfD-Fraktion wird vorher keine Ruhe geben!
({8})
Der Kollege Udo Schiefner ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich an dieser Stelle gefragt: Was bleibt von dieser Pkw-Maut? Meine Vermutung war: viel politischer Streit, viele offene Fragen, schwerwiegende Vorwürfe. Ein Jahr später können wir über die abschließenden Kosten noch nichts sagen, und auch die Vorwürfe stehen nach wie vor im Raum und sind nicht abschließend zu bewerten.
Sagen kann ich allerdings als Ausschussvorsitzender, dass die bislang weitgehend produktive Zusammenarbeit zunehmend vom Theaterdonner übertönt wird.
({0})
Das zeigt auch diese Aktuelle Stunde. Ich hatte im letzten Jahr gehofft – auch als Politiker muss man Hoffnungen haben –, Opposition, Koalition und alle Zeugen wirken konstruktiv zusammen. Es sollte eben keine politische Showbühne werden; aber die Personality-Show gehört offenbar für manche zwingend dazu. Dies gibt aber für einen Untersuchungsausschuss kein gutes Bild ab, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wer da glaubt, Filmchen im Internet dienen der Wahrheitsfindung, markige Worte in einer Aktuellen Stunde dienen der Wahrheitsfindung, der unterscheidet auch nicht zwischen „heute-show“ und „heute journal“, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Im Gegensatz zu anderen geht es mir nicht darum, einen der am Entstehen oder Scheitern der Pkw-Maut Beteiligten zu beschädigen. Unsere Aufgabe im Ausschuss ist eine faire Verhandlung der Sachlage. Wir sind weder Ankläger noch Verteidiger, möchte ich in Erinnerung rufen, und es geht mir darum, das Handeln des Verkehrsministeriums und desjenigen an der Spitze in diesem Ausschuss zu überprüfen.
({3})
Artikel 44 des Grundgesetzes dient doch nicht vor allem der Strafe oder Bestrafung, sondern dient der Aufklärung. Es ist ein wichtiges, im Grundgesetz verankertes Recht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um Fragen zu klären. Wenn dieser Untersuchungsausschuss arbeitet und der Minister letzte Woche da war, dann, denke ich, kann man das durchaus bewerten.
Aber ich muss ehrlich sagen: Es geht selbstverständlich auch um politische Verantwortung. Allerdings sind noch viele Fragen offen: Wurde Vergaberecht gebrochen? Wurde Haushaltsrecht gebrochen? Hat er die Unwahrheit gesagt? Daran sollten wir arbeiten, anstatt hier in einer Aktuellen Stunde irgendeine Show abzuziehen. Ich wünsche mir, dass wir dies auf jeden Fall zukünftig machen.
({4})
„Der Untersuchungsausschuss ist eine Chance, um die Debatte zu versachlichen“, sagte Minister Scheuer einmal selbst. Daran müssen wir Ihre erste Aussage im Untersuchungsausschuss auch messen, Herr Minister. Bei Ihrer nächsten Vernehmung, die im Januar stattfinden wird, sollten Sie diesem Anspruch auch dringend gerecht werden. Das, was letzten Donnerstag dort im Raum stand und von Ihnen erklärt wurde, reicht da bei Weitem nicht aus.
Nach allem, was man vom Minister im Vorfeld hörte, dachte ich, dass er sich seiner Sache sehr sicher ist. Die erwartete Sicherheit, Klarheit und überzeugende Wirkung ließ der Minister leider dann bei entscheidenden Fragen jedoch schon vermissen. Ich denke, er hat auch die Chance, dazu noch mal Stellung zu nehmen. Ich muss ehrlich sagen: Das hat mich schon ein Stück weit überrascht. Die fünf Stunden mit Minister Scheuer und 18 Stunden insgesamt am letzten Donnerstag brachten nicht ausreichend Licht ins Dunkel. Die widersprüchlichen Aussagen zwischen Managern und Ihnen, Herr Minister, haben leider noch nicht die notwendige Klarheit gebracht, und belastende Vorwürfe stehen weiter im Raum.
Meine Hoffnung und Forderung ist, dass die Führung des Bundesministeriums in Zukunft verlässlichere und noch transparentere Aussagen bringt. Ich möchte auch hier dazu aufrufen, dass dies geschieht und wir endlich wieder zu sachlicher Arbeit zusammenkommen.
Ich danke Ihnen mit dieser Hoffnung für Ihre Aufmerksamkeit und danke an dieser Stelle vor allen Dingen dem Kollegen Kühn, der ja jetzt nach Dresden geht und diesem Ausschuss nicht mehr angehören wird. In diesem Sinne: Viel Erfolg, Herr Kollege, und uns weiterhin eine gute Arbeit!
({5})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Christian Jung.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ausschussvorsitzender Schiefner, vielen Dank für Ihre am Ende geäußerten klaren Worte. Ich glaube, wir müssen versuchen, hier die Wahrheit herauszufinden, und ich freue mich, wenn sich die SPD jetzt endlich von der CDU/CSU, vor allem von der CSU, löst und uns hilft, dass wir ein Kreuzverhör gegen den Minister durchbekommen, weil doch viel zu viele Fragen offen sind, die wir gemeinsam mit der SPD klären müssen. Haben Sie keine Angst wegen Wirecard oder Herrn Scholz. Wir müssen in diesem Ausschuss dazu beitragen, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt.
({0})
Was wir in der vergangenen Sitzung des Maut-Untersuchungsausschusses erleben durften, war leider keine Sternstunde für die parlamentarische Demokratie.
({1})
Wir mussten einen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer erleben, der offenbar das Selbstbild hat, er stehe über dem Gesetz und wisse sowieso immer alles besser. Was ich persönlich, Herr Minister, von Ihnen eigentlich erwartet hatte, war, dass Sie auch mal Fehler eingestehen. Insgesamt haben Sie viele Fehler gemacht, und könnte man auch mal dazu stehen; auch dazu ist der Untersuchungsausschuss da.
Bei der Vergabe der Pkw-Maut wurden Vergaberecht, Haushaltsrecht und Europarecht von Herrn Scheuer massiv missachtet.
({2})
Außerdem hat er mehrfach gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien und die Registraturrichtlinie verstoßen. Diverse Gespräche mit den Betreibern nach deren finalem Angebot und den Nachverhandlungen hat der noch amtierende Bundesminister nicht protokollieren lassen. Damit sind wesentliche Entscheidungsprozesse bei dem Desaster um die Pkw-Maut nicht nachvollziehbar. Es herrscht totale Intransparenz.
Wir haben drei Zeugen gehört, die als Betreiber des Mautsystems Herrn Scheuer angeboten haben wollen, er hätte die Verträge mit ihnen erst nach dem EuGH-Urteil unterzeichnen können. Wir erinnern uns, dass mein Fraktionskollege Oliver Luksic an dieser Stelle am 25. September 2019 bei der Regierungsbefragung Herrn Minister Scheuer dahin gehend befragte, ob er mit den Betreibern exakt über dieses Angebot einer Verschiebung der Vertragsunterzeichnung gesprochen habe. Hier im Parlament sagte Herr Scheuer auf Nachfrage von Herrn Luksic, er habe nicht mit den Betreibern über dieses Angebot gesprochen.
Deshalb steht der Vorwurf der Lüge im Raum, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen wäre es – glaubt man den Betreibern – so, dass Herr Minister Scheuer hier im Plenum, aber auch im Untersuchungsausschuss nicht die Wahrheit gesagt hätte; das ist der Knackpunkt. Zum anderen hat Herr Minister Scheuer nach der Sitzung des Untersuchungsausschusses getwittert, nicht er, sondern Herr Luksic lüge, und das sei die Wahrheit.
({3})
Ich bin deshalb, ehrlich gesagt, über Herrn Scheuer schockiert. Wie kann es sein, dass ein Minister in seiner Befragung den Vorwurf, er habe das Parlament belogen, aufgrund von Erinnerungslücken nicht aus dem Weg räumen konnte und dann als Erstes nach der Sitzung am frühen Morgen einen unserer Kollegen der Lüge bezichtigt?
({4})
Die Betreiber haben gegenüber dem Ausschuss erklärt, sie hätten die Wahrheit gesagt. Herr Scheuer hingegen konnte sich seinerseits beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob die Betreiber ihm angeboten hätten, die Verträge erst nach dem EuGH-Urteil zu unterzeichnen.
({5})
– Sie brauchen jetzt hier nicht rumzuheulen, liebe CSU,
({6})
sondern bleiben Sie hier mal bei den richtigen Fragen, bei dem Knackpunkt der Lüge. Das wird ja auch in Ihrer Partei intern intensiv diskutiert.
({7})
Herr Minister Scheuer, Sie konnten nicht beweisen, dass Sie das Parlament und den Untersuchungsausschuss nicht belogen haben.
({8})
Daher fordere ich Sie nunmehr auch persönlich auf, vom Amt des Bundesverkehrsministers sofort zurückzutreten.
({9})
Frau Bundeskanzlerin Merkel und auch Herr Söder müssen umgehend dem Bundespräsidenten Ihre Entlassung vorschlagen.
Zum Abschluss noch einige persönliche Worte an Herrn Söder. Lieber Herr Ministerpräsident, Sie zeigen jeden Tag kraftvoll, dass Sie respektiert und ernst genommen werden wollen. Wer aber nach Höherem strebt, muss auch die Kraft haben, unangenehme Entscheidungen wie die Entlassung von Andreas Scheuer durchzuführen.
({10})
Sonst würden Sie ja zeigen, Herr Ministerpräsident, dass Sie der Vorsitzende einer unseriösen Partei sind, die Probleme nicht löst, sondern aussitzt.
({11})
Beweisen Sie mir und auch der deutschen Bevölkerung das Gegenteil.
({12})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Keine ganz einfache Debatte heute. – Herr Andreas Scheuer hat sich am vergangenen Donnerstag im Untersuchungsausschuss darauf zurückgezogen, sich an das von drei Zeugen bestätigte Angebot, mit der Vertragsunterzeichnung für die Erhebung der Pkw-Maut bis nach dem Urteil des EuGH zu warten, nicht erinnern zu können.
({0})
Aus meiner Sicht gibt es mehr als einen Grund, Herrn Minister Scheuer nicht zu glauben. Im Bundestag hatte er am 25. September 2019 – darüber ist schon gesprochen worden – noch ausgeschlossen, dass über eine Verschiebung der Vertragsunterzeichnung gesprochen worden sei. Nun zieht er sich darauf zurück, dass dies „natürlich“ nur nach seiner Erinnerung so gewesen sei.
({1})
Ja, formal hat er damit noch nicht gelogen. Aber im Gespräch mit Freunden, Bekannten oder dem ein oder anderen Pressevertreter traf diese feine Note auf wenig Verständnis. „Der lügt doch, wie er’s braucht“, war da noch die freundlichste Reaktion.
Minister Scheuer und sein Staatssekretär führten diese Gespräche zu allem Überfluss noch vergaberechtswidrig. Dies hatte auch schon der Bundesrechnungshof in Bezug auf das gesamte Vergabeverfahren im vergangenen Jahr festgestellt. Ich sage ganz klar: Mit rechtsstaatlichem Verwaltungshandeln hat das nichts mehr zu tun.
({2})
Es zeigt sich ein Verständnis von Regierungstätigkeit wie in einem schlechten Mafiafilm – „morallose Mittelmäßigkeit“ nannte das die „Frankfurter Rundschau“.
({3})
Herr Scheuer, mit Ihrem Auftritt im Untersuchungsausschuss haben Sie dieses Bild bestärkt. Entweder Sie sind ein Minister, der es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nimmt, oder einer, der sich selbst einfachste Dinge nicht merken kann. Die Menschen in diesem Land haben es nicht verdient, von einer wandelnden Gedächtnislücke regiert zu werden.
({4})
Wäre Andreas Scheuer nicht Verkehrsminister, sondern Angestellter in einem Unternehmen, er säße längst auf der Straße. Wer ohne Rechtssicherheit millionenschwere Aufträge vergibt, dabei Vergabe- und Haushaltsrecht missachtet und nach dem großen Knall auch noch versucht, den Auftragnehmern die Schuld zuzuschieben, hat in einer Führungsposition schlicht nichts zu suchen.
({5})
Ein Minister, der nicht erkennen lässt, dass er bereit ist, die Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen, der auf Fragen und Kritik einfach damit antwortet, er habe immer alles richtig gemacht, und der sich nicht einmal daran erinnern kann, was er mit den Partnern seines wichtigsten politischen Projekts der gesamten Legislaturperiode besprochen hat, ist einfach eine peinliche Erscheinung.
({6})
Ohnehin ist Andreas Scheuer ja auch so etwas wie der kuriose Zwilling von König Midas: Was er anfasst, geht in die Hose – nicht nur die CSU-Ausländermaut mit möglicherweise bis zu 600 Millionen Euro Schadenersatz. Die Autohersteller für den Dieselbetrug in die Pflicht zu nehmen und zur Nachrüstung der betroffenen Fahrzeuge zu verpflichten: Fehlanzeige. Reform der Verwaltung der Autobahnen: in der Sackgasse. Flächendeckender Mobilfunkausbau und schnelles Internet: ein politisches Funkloch.
({7})
Die neue Straßenverkehrs-Ordnung: ein Konvolut an Rechtsfehlern. Abschließend dann auch noch der für mich wirklich schäbige Versuch, mit einer Veränderung der Schiffssicherheitsverordnung Schiffe privater Rettungsorganisationen, die täglich Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten, am Auslaufen zu hindern: zum Glück, kann man sagen, vor Gericht gescheitert.
({8})
Der von Minister Scheuer angerichtete Schaden geht aber über den möglichen Schadenersatz an die Betreiberfirmen der Pkw-Maut weit hinaus. Herr Scheuer hat die Glaubwürdigkeit dieser Regierung schwer beschädigt und tut dies mit jedem weiteren Tag, den er weiter im Amt bleibt. Das muss mich als Oppositionspolitiker nicht scheren. Aber dieser Verlust an Glaubwürdigkeit schädigt selbstverständlich das Vertrauen vieler Menschen in die Politik insgesamt.
Herr Scheuer, Sie hätten im vergangenen Sommer mit Anstand und Würde die politische Verantwortung für das Scheitern der Pkw-Maut übernehmen können. Offensichtlich sind das keine Kategorien, die für Ihr politisches Handeln eine Rolle spielen. Vielmehr scheinen Sie darauf zu vertrauen, dass in dieser Situation selbst in der CSU niemand bereit ist, das Ministerium zu übernehmen und die von Ihnen eingebrockte Suppe auszulöffeln.
({9})
So harren sie dem Ende der Legislaturperiode entgegen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Bundeskanzlerin, Herr Ministerpräsident Söder, liebe SPD-Fraktion, bitte setzen Sie diesem Spuk ein Ende.
({0})
Die Kollegin Nina Warken ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Möglichkeit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist eine große Errungenschaft, um die Exekutive zu kontrollieren und um Sachverhalte zu erforschen. Dieser Untersuchungsausschuss ist, denke ich, wichtig für die Bürger, die sich beim Thema Maut fragen: Wie kann das sein? Wie konnte das passieren?
Aber das alles wird entwertet von billigem Aktionismus von Leuten, denen nichts an Aufklärung gelegen ist, deren einziges Ziel es ist, einen Minister zu diskreditieren.
({0})
Ein bräsiges YouTube-Video eines Kollegen in der Bibliothek, eine vorweggenommene Beweiswürdigung, bevor man die Zeugen überhaupt angehört hat: Wie tief kann man eigentlich sinken? Wo bleiben die Leute in der FDP und bei den Grünen, die an den Rechtsstaat und an echte Sachverhaltsaufklärung glauben? Die hat es nämlich einmal bei Ihnen gegeben.
({1})
Bereits im Vorfeld der Sitzung des Untersuchungsausschusses in der vergangenen Woche haben die Oppositionsfraktionen in der Öffentlichkeit einen solchen Erwartungsdruck aufgebaut, der nach der Sitzung dann wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist.
({2})
Mit dieser Situation haben sie nun ein Problem. Weil die Opposition ihrem vorgefassten Ziel keinen Schritt nähergekommen ist, wollen sie nun heute unbedingt, dass politische Konsequenzen gezogen werden.
Liebe Grünenfraktion, mit staatspolitischer Verantwortung hat diese Aktuelle Stunde heute nun gar nichts zu tun. Sie zeigt nur, dass Ihnen überhaupt nicht an Aufklärung gelegen ist, sonst wären wir nämlich nicht hier, sondern wir würden drüben im Anhörungssaal weiter die Zeugen befragen.
({3})
Ich würde mich auch freuen, wenn der Kollege Krischer sich vielleicht die Zeit nehmen würde, auch mal bei der einen oder anderen Sitzung zugegen zu sein. Dann müsste er hier nicht so ein Zeug reden.
({4})
Der Opposition geht es also einzig und allein um die Diskreditierung des Ministers und nicht um Sacharbeit und Sachaufklärung. Wer aber so agiert, der diskreditiert vor allem sich selbst.
Die Ausschusssitzung vom vergangenen Donnerstag sollte aus Oppositionssicht einen vorläufigen Höhepunkt des Untersuchungsausschusses markieren und nur noch das vorgefertigte Ergebnis zutage fördern: die Amtsniederlegung. Und weil Sie jetzt eben mit leeren Händen dastehen und völlig hinter Ihren Erwartungen zurückgeblieben sind, was die mediale Wirkung des Auftritts und der Aussagen von Bundesminister Scheuer vor diesem Untersuchungsausschuss anbelangt, muss es jetzt eben diese Aktuelle Stunde richten.
Wir sind mit den Zeugenaussagen in der letzten Sitzung sehr gut in der Sache vorangekommen. Klar, viele Fragen sind offengeblieben, insbesondere aufseiten der Betreiber, und es gibt einige Ungereimtheiten. Eine möchte ich auch hervorheben, nämlich die kurzfristige Vorlage eines Erinnerungsprotokolls: erstellt am 19. September 2020, vorgelegt am 23. September 2020, zu einem Gesprächstermin am 29. November 2018 – jetzt kommt es –, von einem Menschen, der überhaupt nicht selbst an dem Gespräch teilgenommen hat.
Dieses Gedächtnisprotokoll hat der Zeuge also knapp zwei Jahre nach dem besagten Gespräch und damit zu einem höchst ungewöhnlichen Zeitpunkt erstellt, als er nämlich bereits als Zeuge für den Untersuchungsausschuss geladen war. Darüber, dass wir als Ausschussmitglieder von der Existenz dieses Gedächtnisprotokolls zunächst aus der Presse erfahren haben, kann, glaube ich, sich jeder selbst ein Bild machen. Seriosität sieht meiner Meinung nach anders aus.
({5})
Welcher Beweiswert den Aussagen dieses Zeugen und seines Gedächtnisprotokolls zukommt, darüber wird noch zu sprechen sein.
Ich kann verstehen, dass die Betreiberfirmen als Vertragspartei eigene Interessen und Ziele verfolgen. Wir müssen auch bedenken, dass es bei den Aussagen um erhebliche finanzielle Interessen geht, die Gegenstand des laufenden Schiedsverfahrens sind.
({6})
Was aber aus meiner Sicht wirklich bemerkenswert ist, ist, dass die Opposition sich während eines laufenden Schiedsverfahrens so uneingeschränkt auf die Seite der Betreiberfirmen stellt. Das ist schon ein starkes Stück. Wir werden den Minister in einem weiteren Termin im Untersuchungsausschuss befragen können und gegebenenfalls auch noch einmal die Vertreter des Betreiberkonsortiums.
Meine Damen und Herren, der Untersuchungsausschuss ist das schärfste Schwert, das dem Parlament zur Verfügung steht, und stellt zugleich ein Minderheitenrecht dar. Das bedeutet aber nicht, dass man schon vorher genau weiß, was am Ende herauskommt, wie es hier einige Kollegen anscheinend tun. Die Opposition hat mit diesem Recht eine ganz besondere Verantwortung, die Sie aber bisher vermissen haben lassen. Uns geht es um Sachaufklärung, der Opposition um Vorverurteilung und Herabwürdigung – um nichts anderes.
Genau in dieses Bild passt auch die neueste Rücktrittsforderung der FDP vom gestrigen Tag, die höchst unterhaltsam ist: falsche Prioritätensetzung und Vernachlässigung des dringenden und notwendigen Ausbaus der digitalen Infrastruktur. Liebe Kollegen der FDP, Sie waren mal eine staatstragende Partei. Das haben Sie ad acta gelegt. Kehren Sie doch auf den Boden der Tatsachen zurück! Hören Sie mit dem Klamauk auf, und kommen Sie dem Untersuchungsausschussauftrag nach! Im Übrigen darf ich hier auf die Erfolge in der Digitalisierungspolitik verweisen: Besserer, flächendeckender Mobilfunkausbau, Breitbandbauausbau
({7})
sind hier die Stichworte.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Genau das zu bestreiten, macht deutlich, in welcher aussichtslosen Situation Sie sind. In die haben Sie sich selber hineinmanövriert. Ich lade Sie ein: Kommen Sie wieder zur Sacharbeit zurück!
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt für die Fraktion der AfD der Kollege Andreas Mrosek.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen eine Maske tragen, wenn Sie zum Pult kommen. Bitte.
({1})
So ist richtig. Prima!
({2})
Ausgezeichnet!
So, jetzt haben Sie das Wort. Sie können sie jetzt wieder absetzen; jawohl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Die Pkw-Maut – eigentlich wollte ich meine Rede beginnen mit: Es war einmal …
({0})
Aber diese Einleitung träfe nicht zu, weil es nämlich kein Märchen ist. Nein, es ist Wirklichkeit, es ist bittere Realität, der Inbegriff für Vergeudung von Steuergeldern, ein Beleg für diese Misswirtschaft. Die Regierung, vertreten durch das BMVI, ist kontinuierlich, ja fast schon chronisch darauf bedacht, grundsätzlich alle Schuld von sich auf andere zu schieben.
({1})
Selbst dem Bundesrechnungshof unterstellte das BMVI im November 2019, man habe – ich zitiere wörtlich – „fehlerhafte Schlussfolgerungen“ gezogen.
Die Taktik bei den Befragungen im Untersuchungsausschuss ist immer die Gleiche: Gedächtnislücken, Lügen, Verschleierungen bestehender Aktenlagen. Ein exzellentes Beispiel für dieses umtriebige Verschleiern sind die Handydaten, ja, die Handydaten eines Ministers. Das kommt Ihnen doch bekannt vor: Von der Leyen erwähne ich hier nur.
({2})
Auch im Untersuchungsausschuss Pkw-Maut das gleiche gezielte Verschleierungsmanöver. Die dem Ausschuss zugesagten Daten eines Diensthandys verschwanden plötzlich – trotz der Aussage, man bereite diese gerade vor, und ohne jegliche Konsequenzen für die Beteiligten –: Tut uns leid, Handydaten letztens noch da, jetzt leider weg. – Ich nenne das eine bewusste Vorenthaltung von Beweismaterialien.
({3})
Allerdings möchte ich nicht alles schlechtreden; denn die Erinnerungslücken der hochdotierten Regierungsbeamten sind schon bemerkenswert und wurden gekonnt vorgespielt. Mir kam es immer so vor, als ob diese vorher ganz deutlich gebrieft worden sind: Alles möglichst im Dunkeln lassen; denn im Dunkeln lässt es sich ja gut munkeln.
({4})
Alles möglichst im Dunkeln lassen: Diese Art von Machenschaften und Einflussnahmen sowie Irreführungen haben in diesem Hohen Hause eine unübertroffene Kontinuität.
Wie kann man nun grundsätzlich alle Schuld am besten von sich weisen? Das Zauberwort heißt „Beraterverträge“. Man vergibt einfach Beraterverträge, die den Steuerzahler dann teuer zu stehen kommen. Wenn man nun meint, es geht nicht schlimmer, wird dann noch seitens des BMVI im ersten Quartal 2018 eine neue Vergütungsobergrenze dieser Verträge vereinbart. Diese Vergütungsobergrenze ist nicht um 1 Million, um 2 Millionen oder um 3 Millionen Euro erhöht worden; nein, das BMVI hat die Obergrenze für den Gesamtbetrag mehr als verdoppelt, und zwar auf einen zweistelligen Millionenbetrag. Und dann lässt das BMVI den Vertrag mit diesem Beratungsunternehmen circa ein Jahr später auslaufen und bedient sich eines neuen Unternehmens, schließt neue teure Beraterverträge ab, um dann nach dem Bekanntwerden des EuGH-Urteils auf den alten Berater zurückzugreifen. In einem Irrenhaus geht es geordneter zu.
({5})
Das neue Beratungsunternehmen hatte es doch tatsächlich gewagt, auf ein nicht unerhebliches Risiko für ein eventuell negatives EuGH-Urteil hinzuweisen. Und noch schlechter: Man wagte auch noch, dieses Risiko in einer Sitzung der Gesamtprojektleitungsgruppe am 26. Juni 2018 zu bewerten und sogar zu protokollieren. Was für ein Fauxpas! Das Risiko war immer da. Wieder etwas, was diese Bundesregierung nicht geschafft hat; aber das kennen wir ja. Seriöse Beraterfirmen sind nur solche, die die Meinung der Bundesregierung vertreten.
Als alter Seebär meine letzten Worten dazu: Ein Kapitän ist leicht verstimmt, wenn sein Kiel oben schwimmt. – Meine Damen und Herren, hier schwimmt nichts mehr; das ganze Ding ist abgesoffen.
({6})
Schlucken müssen es die Steuerzahler. Es gibt aber eine Lösung für die Maut: Kompetenzen aus Brüssel zurück nach Deutschland holen, und wir klären das dann selber.
Danke.
({7})
Setzen Sie bitte Ihren Mundschutz schön auf. – Prima.
({0})
Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kollegin Kirsten Lühmann.
({1})
Würden Sie das Mikro bitte auch desinfizieren? Da war die Maske dran.
Prima. – Aus diesem Grunde verzichten wir bitte künftig darauf, die Maske an das Mikro zu hängen. – Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Krischer, Sie haben das Grundproblem angesprochen. Ich glaube, das Grundproblem ist, dass Sie eine selektive Wahrnehmung haben, als Sie davon redeten, wer der Pkw-Maut zugestimmt hat und wer nicht. Denn im Bundesrat gab es grün regierte und mitregierte Länder, die zugestimmt haben.
({0})
Es gab SPD- und CDU-regierte Länder, die abgelehnt haben; das ist die Wahrheit. Aber die Wahrheit lässt sich nun mal nicht skandalisieren.
({1})
Darum lassen Sie uns lieber bei der Wahrheit bleiben!
({2})
Die Frage heute hier ist: Was hat die Vernehmung am Donnerstag für Folgen für den Minister? Die Frage bei der Vernehmung war: Hat er gelogen, das heißt wissentlich die Unwahrheit gesagt? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist völlig egal, was Sie über die Aussage denken oder was ich über die Aussage denke; der Kollege Schiefner hat dazu schon einiges gesagt. Wichtig ist nur: Was hat der Minister gesagt? Und der Minister hat gesagt, er kann sich nicht mehr genau erinnern. Er meint, das Angebot hat es nicht gegeben. Er kann es aber auch nicht zu hundert Prozent ausschließen. Das heißt, der Vorwurf der Lüge kann sich aus dieser Aussage nicht herleiten, und wiederholte Rücktrittsforderungen ändern daran auch nichts.
({3})
Aber ich sage auch ganz klar in die Richtung des Koalitionspartners:
({4})
Die Aussagen von Herrn Schulenberg und Herrn Kapsch waren absolut glaubhaft. Sie sagten, sie brauchten mehr Zeit für eine Verhandlung, weil sie nämlich das Angebot noch um 1 Milliarde Euro runterhandeln mussten, und sie hatten nur noch 14 Tage Zeit. Sie haben nicht geglaubt, dass das in dieser verbliebenen Zeit klappt. – Wir wissen alle: Es klappte. Das ist auch eine Frage, die wir in diesem Untersuchungsausschuss stellen werden: Wie kann es möglich sein, dass innerhalb von 14 Tagen ein Angebot um ein Drittel – um eine ganze Milliarde Euro! – runtergehandelt werden konnte?
({5})
Der Minister hat uns in diesem Zusammenhang gesagt, er hatte nur 2 Milliarden Euro vom Bundestag zur Verfügung gestellt bekommen; darum durfte er nicht mehr ausgeben. Das ist die zweite Frage, die wir uns noch stellen; denn er hat tatsächlich 163 Millionen Euro mehr ausgegeben, für die keine Haushaltsmittel zur Verfügung standen, die erst im Haushalt 2020 eingestellt wurden: Standen nur die 2 Milliarden Euro zur Verfügung, oder war es mehr? Wenn es mehr war, dann hätte der Vertrag nicht so schnell abgeschlossen werden müssen, liebe Kollegen und Kolleginnen.
Aber – da gebe ich dem Kollegen Krischer recht – die Schlussfolgerungen der Vernehmung zu dieser Frage vom letzten Donnerstag hat nicht die Opposition zu ziehen, die hat nicht die SPD zu ziehen, die hat ganz allein der Minister oder sein Parteichef Herr Söder zu ziehen, meine Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Aber ich habe eine Frage: Warum sind Sie so fixiert auf diese Frage, die wir letzten Donnerstag besprochen haben?
({7})
Wir haben in diesem Untersuchungsausschuss ganz viele Erkenntnisse gewonnen, die wir noch weiter untersuchen müssen und wozu wir vor allen Dingen den Minister auch noch hören werden.
Zum Beispiel geht es um die Frage: Gab es eine angemessene Risikoabschätzung, wie viel wir eigentlich, wenn der EuGH doch gegen uns entscheidet, zahlen müssen, und zwar vor Vertragsabschluss? Die erste Anfrage an die Berater war 14 Tage nach Vertragsabschluss.
({8})
Die nächste Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wer hat eigentlich gesagt, dass wir garantiert vor dem EuGH gewinnen?
({9})
Der Minister hat uns letzten Donnerstag gesagt: Da gab es zwei Gutachter, die haben das eindeutig gesagt. – Wir haben von Zeugen etwas anderes gehört. Wir haben sogar gehört, dass aus dem Haus nach den mündlichen Verhandlungen, also vor Vertragsabschluss, die Bewertung kam: Es ist alles offen. – Und auch die Unterzeichnung noch in 2018 war – das haben wir von Zeugen gehört – nicht alternativlos. Also stellt sich uns in der Folge die Frage: Wer kann uns Antworten liefern? Die haben wir noch nicht alle.
({10})
Im Januar, wenn wir den Minister vernommen haben, müssen wir zwei Fragen beantworten: Was wusste der Minister? Und was hätte der Minister wissen müssen? – Das werden wir aber erst im Januar klären können. Ich freue mich sehr auf die Vernehmung an diesem Tag. Bis dahin werden wir alle anderen Zeugen eingehend befragt haben, auch noch mal den ehemaligen Staatssekretär Schulz. Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir eine Bewertung vornehmen, und auf die freue ich mich.
Danke sehr.
({11})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Cem Özdemir.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute auch um das Vertrauen der Öffentlichkeit in unsere demokratischen Institutionen und um das Vertrauen zwischen Parlament und Regierung. Das ist für die Demokratie – Sie alle wissen das – essenziell. Das CSU-Mautdebakel hat in diesem Sinne – da kann es kein ernsthaftes Vertun geben – großen Schaden angerichtet.
({0})
Die Frage, die sich stellt, ist doch: Was muss ein Minister denn überhaupt noch tun in unserem Lande, um in Zukunft zurückzutreten?
({1})
Wer im Untersuchungsausschuss die Wahrheit gesagt hat – ob der Minister oder die Betreiber –, das kann am Ende nur ein Kreuzverhör klären. Aber etwas verwundert bin ich schon darüber, wie Sie hier über Unternehmen und Unternehmer reden, denen Sie Lügen unterstellen. Da muss man sich ja schon fast Sorgen über das Verhältnis der Unionsfraktion zur deutschen Wirtschaft machen.
({2})
Meine Damen, meine Herren, von allen Seiten bestätigt ist zumindest der Satz, den der Minister zu einem der Mautbetreiber gesagt haben soll – ich darf zitieren –: „Sie müssen was für Deutschland tun.“ Ganz in diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass der Minister in sich geht und sich fragt, ob er unserem Land damit gerade einen Gefallen tut. Ich hatte beim Zuhören der Debatte das Gefühl, dass der eine oder andere Kollege, die eine oder andere Kollegin bei der Union insgeheim nicht anders denkt.
Meine Damen, meine Herren, aber auch Andreas Scheuer verdient Fairness. Zur Wahrheit gehört auch: Wer über das CSU-Mautdebakel spricht, der darf die Namen Seehofer, Dobrindt und Söder bitte schön nicht unterschlagen.
({3})
Sie sind mitverantwortlich für die vielleicht teuerste Wahlkampfparole, die es jemals in einen Gesetzestext der Bundesrepublik Deutschland geschafft hat. Sie alle stecken mindestens genauso tief im CSU-Mautmorast.
Bei den halbgaren, halbherzigen Verteidigungsreden heute ist mir noch etwas aufgefallen: Zu der Sache, die das eigentliche Anliegen, der eigentliche Grund für das Führen dieser Debatte war, sagt keiner mehr was;
({4})
denn mittlerweile haben, glaube ich, alle eingesehen, dass der eigentliche Grund – eine Maut, die offensichtlich nur Ausländer diskriminieren soll – von Anfang an eine Schnapsidee war.
({5})
Die CSU mit ihrer Schnapsidee der Maut hat die Bürger bereits fast 80 Millionen Euro gekostet. Dieses Geld – das weiß man heute schon – ist sicher weg. Höchstwahrscheinlich kostet das Ganze noch viele Millionen weitere Euro. Auch dazu hätte ich heute gerne etwas von Ihnen gehört. Ich glaube, man muss kein Schwabe sein, um sich vorzustellen, wie man das Geld sinnvoll für dringende Projekte in dieser Republik hätte einsetzen können.
({6})
Was mir am meisten Sorge in dieser Debatte bereitet: Während wir über das Thema reden, schreitet die Klimakrise voran. Während wir Debatten über das Geschäftsmodell Auto, das für viele Regionen in Deutschland konstitutiv ist, weil es ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor ist, über die Automobilwirtschaft, die vor dramatischen Umbrüchen steht, und über die Beschäftigten, die sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen, weil es dramatische Umbrüche gibt – die Stichworte kennen wir alle: automatisiertes Fahren, vernetztes Fahren und zunehmend auch emissionsfreies Fahren –, führen müssten, beschäftigt sich das CSU-geführte Verkehrsministerium mit der von ihm selbst angerichteten absurden Maut. Das richtet Schaden bei Jobs und für den Standort Deutschland an.
({7})
Was wir jetzt brauchen, ist ein Verkehrsminister, der den Stier bei den Hörnern packt, sich an die Spitze der Transformation stellt, Wirtschaft, Beschäftigte und Klimaschutz zusammenbringt und dafür sorgt, dass wir mit all den Partnern zusammen die Verkehrswende gestalten.
Es ist doch bemerkenswert: Der Chef von Volkswagen, Herbert Diess, kündigt an, dass VW auf E-Mobilität setzt. Was fällt dem Minister dazu ein? Er sagt, das sei total falsch. Wenn mittlerweile die Mehrheit unserer Bevölkerung für ein Tempolimit auf Autobahnen ist und sogar der ADAC, man höre und staune, nicht mehr hart dagegenhält: Was fällt dem CSU-geführten Verkehrsminister ein? Man wittert Verrat. Wenn dann auch noch der Deutsche Städtetag für weniger Autos in unseren Städten wirbt, merkt man: Die CSU ist in der Verkehrspolitik aus der Zeit gefallen. Sie verstehen unser Land nicht mehr, Sie verstehen nicht, was da draußen passiert: dass die Bürgerinnen und Bürger längst die Verkehrswende gestalten wollen.
({8})
Am Anfang dieser Legislaturperiode hat die Koalition das Innenministerium um die Abteilung Heimat erweitert. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber sind Sie nicht der Meinung, dass das eigentliche Heimatministerium das Verkehrsministerium hätte sein müssen? Dort wird über die wesentliche Infrastruktur dieses Landes entschieden. Ich finde, es ist Zeit, dass das Verkehrsministerium künftig nicht mehr als eine Art CSU-Strafbataillon dieser Republik behandelt wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Kießling.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Özdemir, ich wundere mich nicht über Ihren Redebeitrag. Ich habe Sie nie im Untersuchungsausschuss gesehen. Darum war das gerade wahrscheinlich auch eine Themaverfehlung, vor allem zum Schluss Ihrer Rede.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten lieber Politik betreiben, als polarisieren. Wir sollten im Untersuchungsausschuss etwas weniger twittern und eher für Aufklärung sorgen. Ich habe eine Empfehlung an die FDP.
({1})
– Nein, ich habe eine Empfehlung an die FDP: Ihr bisheriger Beitrag ähnelt den Proben für eine Dramaserie. Wie Sie sich teilweise in den Beratungen im Untersuchungsausschuss verhalten, ist grenzwertig. Da geht es eher um Show als um tatsächliche Aufklärung, und das ist schade.
({2})
In der heutigen Aktuellen Stunde sprechen Sie vom Vertrauen der Bürger gegenüber der Politik. Das Verfahren des Untersuchungsausschusses ist noch nicht abgeschlossen. Wir sind mittendrin. Sie kommen schon zu Schlussfolgerungen, obwohl der abschließende Bericht noch gar nicht vorliegt. Wo sind wir denn? Wie seriös ist denn das?
Sehr geehrter Herr Kollege von der AfD, Sie sprechen über Beraterverträge. Wir könnten heute einiges aufklären, wenn wir nicht hier sitzen würden, sondern im Untersuchungsausschuss.
({3})
Das ist schade. Ich finde, das ist verlorene Zeit. Wir bringen heute noch offene Punkte auf den Tisch. Es gibt noch einiges zu klären, aber Sie haben sich Ihre Meinung schon gebildet. Das ist einfach schade.
({4})
Dann zu den Zeugen. Ich bitte darum, bei den Betreibern, die letzte Woche ausgesagt haben, die gleichen Maßstäbe anzulegen. Wer im Untersuchungsausschuss war, dem ist vielleicht aufgefallen: Sie haben alle den gleichen Rechtsberater.
({5})
Es gab auch noch zwei unabhängige Zeugen, Staatssekretäre aus dem Ministerium, die anders ausgesagt haben, und trotzdem stufen Sie die Aussagen der Zeugen unterschiedlich ein. Ich bitte in unserem Einsatz um etwas mehr Objektivität.
({6})
Die Beweggründe von Unternehmen, entsprechend auszusagen, wenn parallel ein Schiedsverfahren läuft, dürften auch klar sein. Ich würde Sie bitten, auch das in Ihre Überlegungen und Ihre Beurteilung aufzunehmen.
Liebe Opposition, wenn Sie sich schon so oft mit den Federn der Strafprozessordnung schmücken und sich zu Richtern hochstilisieren, dann beachten Sie dabei bitte auch den Grundsatz der Fairness und der Sachlichkeit. Dies lassen Sie etwas vermissen.
Zurück zum Thema Zeugen. In der letzten Woche gab es einen Zeugen, den Sie geladen und als Kronzeugen präsentiert haben, dabei war er bei den Gesprächen gar nicht dabei. Trotzdem wurde nachträglich ein Protokoll verfasst. Das soll Ihr Kronzeuge sein? Das hat nicht wesentlich zur Wahrheitsfindung beigetragen, sondern eher zu Verunsicherung.
({7})
Dann wurden noch zwei Betreiber vorgeladen. Es ist klar, dass sie gemeinsame Interessen vertreten. Es wurde deutlich: Die angeblich geheimen Besprechungen waren nicht geheim. Das waren keine Geheimtreffen, es waren Kennenlerntermine. Auch das muss man hier einmal sagen.
({8})
– Es ist schön, dass alle schon ihre Schlussfolgerungen ziehen. Warten Sie doch bitte die weiteren Befragungen ab. Es gibt noch einige Punkte zu klären. Im nichtöffentlichen Teil wird sicherlich noch einiges geklärt werden, worüber wir heute noch nicht haben sprechen können. Ich bitte Sie wirklich, zur Sachlichkeit zurückzukommen.
Wenn Sie über die Infrastrukturabgabe des Ministers reden, dann gebe ich zu bedenken, dass Bundestag und Bundesrat dem Vorhaben zugestimmt haben. Es ist also nicht die Maut der CSU oder des Ministers, sondern des Parlaments und des Bundesrates. Der Minister hatte den Auftrag, die Infrastrukturabgabe entsprechend umzusetzen, und dem ist er auch nachgekommen.
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie doch die Show weg.
({9})
Lassen Sie uns die Vorgänge aufklären. Diese Aktuelle Stunde hat die Aufklärung zeitlich etwas verzögert. Lassen Sie uns zusammenarbeiten. Kommen Sie zur Sachlichkeit zurück. Herr Krischer, es ist schade, dass von Ihnen eine Vorverurteilung kommt. Sie spielen sich als moralische Partei auf, aber können nicht einmal das Ende des Verfahrens abwarten. Das ist typisch grüne Politik.
Noch einmal mein Appell: Kehren Sie zur Sachlichkeit zurück. Lassen Sie uns den Untersuchungsausschuss abschließen und dann zu einer Beurteilung kommen.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Bela Bach.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zur Mautaffäre ist schon viel gesagt worden. Wir können weiter über Erinnerungslücken von Einzelpersonen sprechen und uns kollektiv fragen, wo Gedächtnisleistung einsetzt und wo sie endet. Ich behaupte aber: Das ist bis zu einem gewissen Maß individuell. Was aber nicht der individuellen Gedächtnisleistung unterliegt, das ist die Historie der sogenannten Ausländermaut, die Sie euphemistisch in „Infrastrukturabgabe“ umgetauft haben.
Die Ausländermaut ist nichts anderes als ein Sinnbild des kollektiven Versagens der CSU.
({0})
Dazu müssen wir ins Jahr 2013 zurückgehen, als das Debakel seinen Anfang genommen hat. Im Jahr 2013 lagen die Termine für die Wahl des bayerischen Landtags und für die Bundestagswahl eine Woche auseinander. Damals habe ich Wahlkampf für den SPD-Spitzenkandidaten Christian Ude gemacht. Pünktlich zu den Sommerferien kam aus der Parteizentrale der CSU der Vorschlag einer Ausländermaut. Damaliger Generalsekretär der CSU waren Sie, Herr Dobrindt.
({1})
Jeder weiß, dass sich der Vorschlag de facto gegen Österreich gerichtet hat, einfach weil zwischen beiden Ländern gerade im Sommer ein erhöhter Reiseverkehr besteht. Ihr damaliger Parteivorsitzender Horst Seehofer hat daraus übrigens überhaupt keinen Hehl gemacht. Ich zitiere aus einer Wahlkampfveranstaltung in Amberg im Jahr 2013, über die auch der „Spiegel“ berichtet hat. Da hat Seehofer gesagt: „Die Deutschen zahlen in den meisten europäischen Ländern.“ Daher sollten die Ausländer jetzt auch in Deutschland zahlen, „aus Gerechtigkeitsgründen“.
({2})
Das Gerechtigkeitsempfinden von Horst Seehofer ist maximal selbstbezogen; das wissen wir alle. Das haben wir auch bei der Debatte um Moria gesehen, als er ganze 150 Geflüchtete aufnehmen wollte. Erst auf Druck der SPD wurden es dann 1 500.
({3})
Bei der Maut wurde aber auch noch ganz viel in einen Topf geworfen, was eigentlich total unverträglich ist. Denn mit ausgleichender Gerechtigkeit hat es überhaupt nichts zu tun, wenn Inländer hintenherum über die Kfz-Steuer entlastet werden, EU-Ausländer aber,
({4})
die in ihren Heimatstaaten systemisch ganz andere Finanzierungsinstrumente haben, nicht. Das ist ein klarer Fall der mittelbaren Diskriminierung. Das hat der EuGH für Sie sehr folgenreich festgestellt.
({5})
Einigermaßen erschreckend ist es aber, wenn man sich die damaligen Einschätzungen aus Ihrer eigenen Fraktion vor Augen führt. Bis Dezember 2013 hieß der Verkehrsminister nämlich Peter Ramsauer. Herr Ramsauer hat bereits zu Beginn vor der sogenannten Ausländermaut gewarnt. Nach Gesprächen mit dem EU-Verkehrskommissar hat er klargestellt, dass es keine Verbindung zwischen der Erhebung einer Pkw-Maut und der Absenkung der Kfz-Steuer geben darf. Dies sei europarechtswidrig. Exakt so hat der EuGH dann auch geurteilt: Weil Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen überwiegend deutsche Staatsangehörige sind, ist das de facto eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit.
Als darauffolgender Verkehrsminister haben Sie, Herr Dobrindt, die technische Umsetzung der Maut bis 2015 gewollt. Gleichzeitig wurde im Koalitionsvertrag festgehalten, dass durch die Maut kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird als heute. Damit haben Sie Ihrem eigenen Haus eine rechtliche Unmöglichkeit ans Bein gebunden.
({6})
Es gab also aus den eigenen Reihen, vonseiten des damaligen Verkehrsministers Ramsauer, eine eindeutige Warnung, dass es keine Verbindung zwischen Maut und Kfz-Steuer geben darf. Gleichzeitig stellte aber sein Nachfolger Dobrindt exakt diese Verbindung her, weil vorher ein Ziel in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt worden ist, das kaum eine andere Lösung zugelassen hat.
Aber die Umsetzung von rechtlichen Unmöglichkeiten und der Bruch von Wahlversprechen durch die CSU sind definitiv nicht das Problem der SPD. Was aber überhaupt nicht geht, ist die Hypothek, die Sie dem Steuerzahler hinterlassen. Es drohen nämlich Schadensersatzforderungen in Höhe von 560 Millionen Euro, weil die CSU unter der Führung von Horst Seehofer und damals Alexander Dobrindt eine absolute Mehrheit bei der bayerischen Landtagswahl zurückgewinnen musste. Dafür sind Sie nicht nur bereit, den europäischen Gedanken zu verkaufen, sondern auch, dieses Land seit 2013 in Geiselhaft zu nehmen, mit einem nachweislich falschen politischen Versprechen,
({7})
über das Ihre eigene Kanzlerin gesagt hat: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“
({8})
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn Sie stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen,
({9})
der seit 2013, seit sieben Jahren, vorprogrammiert war und den Sie jetzt auch im Kollektiv zu verantworten haben.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Ulrich Lange für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner in einer solchen Debatte erlauben Sie mir zunächst eine Vorabbemerkung: Das Niveau und das Verständnis von Rechtsstaat waren hier heute an mancher Stelle, sorry, wirklich schwierig – ganz, ganz schwierig. Es war ein Missbrauch des Plenums – das sage ich so deutlich –;
({0})
davon konnten wir uns an dieser Stelle überzeugen.
Meine Damen und Herren der Grünen, der Einzige, der im Untersuchungsausschuss immer da ist und arbeitet, durfte bei Ihnen nicht reden. Geredet haben die mit einer großen Klappe, die noch keinen Fetzen Arbeit geleistet haben.
({1})
Lieber Kollege Krischer, es ist immer das Gleiche: Hier reißen Sie den Mund auf, und wenn es um die Akten geht und wenn es um die Details geht, dann sieht man Sie nicht.
({2})
– Ja, das ist ein gewisses Verständnis, das einfach schwierig ist.
Sie haben so oft das Wort „Wahrheit“ bemüht. Ich fange jetzt auch mal mit der Geschichte an: Natürlich haben die Grünen der Maut mit zugestimmt, und auch die Linken waren dabei. Ich sage nur: Thüringen. Das will man immer alles nicht wissen, gehört aber zur Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Und, liebe Kollegin – Sie kenne ich noch nicht,
({3})
aber das macht nichts –, ich darf Ihnen einfach erklären: Die Kollegin Lühmann,
({4})
mit der ich jetzt einige Jahre immer wieder ganz gut zusammenarbeite, der Kollege Bartol, mit dem ich auch immer wieder ganz gut zusammenarbeite, haben zusammen diese Maut mitverhandelt. Der Herr Justizminister Maas, seines Zeichens Außenminister, hat die Maut abgesegnet. Der Fraktionsvorsitzende – ich weiß nicht, welcher es gerade war, wir hatten immer wieder Wechsel bei Ihnen erlebt – hat die Maut mitgezeichnet. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, den Sie nicht mehr kennen wollen, hat auch mitgezeichnet. Schauen Sie in die Geschichte Ihrer Partei, dann wissen Sie, dass Sie ein Teil dieser Infrastrukturabgabe sind. Die SPD sollte stolz darauf sein und sie heute hier nicht angreifen.
({5})
Meine Damen und Herren, dass das Ganze heute hier ein Showmanöver ist, ist ja wohl offensichtlich: 3 000 Ordner, 1 Million Blatt, 10 200 Dateien der Betreiber, vier Zettel öffentlich, und über die unterhält sich die Republik; über den Rest unterhält sich die Republik nämlich nicht, insbesondere nicht über 10 200 Dateien der Betreiber, die ja der Öffentlichkeit gar nicht zugänglich sind. Also: Wer hier meint, mit einem Zettel oder zwei Zetteln Politik machen zu können und Wahrheit finden zu können, der – sage ich ganz offen noch einmal – missbraucht heute dieses Plenum.
({6})
Meine Damen und Herren, das Ganze hat etwas von Vorverurteilung, und Vorverurteilung ist uns als Parlamentariern eigentlich unwürdig. Ich verwende ausdrücklich das Wort „unwürdig“.
({7})
Wenn ich in die Reihen der FDP schaue: Ich hatte einmal wirklich Respekt vor dieser Partei.
({8})
Vielleicht habe ich Sie als Anwalt sogar mal gewählt, weil ich an die Rechtsstaatspartei FDP geglaubt hatte.
({9})
– Ich habe gesagt: vielleicht. – Wenn ich Richtung Grüne schaue, dann wird es zur Bezeichnung „Rechtsstaatspartei“ nicht reichen.
Liebe Kollegen der FDP,
({10})
§ 33 PUAG besagt, dass wir einen Abschlussbericht zu machen haben. Genau den haben wir abzuwarten, und das wollen Sie nicht. § 24 PUAG sagt Ihnen, was eine Gegenüberstellung ist. Verwenden Sie nicht fälschlich das Wort „Kreuzverhör“. Ein Kreuzverhör gibt es bei den Amerikanern, und die Amerikaner leben zurzeit leider von Fake News.
({11})
Lieber Kollege Özdemir, mit dem Untersuchungsausschuss haben Sie ja wirklich nichts zu tun, aber anscheinend mit der Wirtschaft. Und Sie glauben, dann beurteilen zu können, wer die Wahrheit spricht und wer lügt? Es ist schon bemerkenswert, dass Sie heute hier ausgerechnet für diejenigen Partei ergreifen und sie verteidigen wollen, die Gegenstand einer Kleinen Anfrage Ihrer Partei im Bayerischen Landtag vom 30. September 2016 wegen eines Strafverfahrens aufgrund des Verkaufs von Schwarzmarkttickets waren.
({12})
Wer über ehrenwerte Kaufmänner redet, der muss sich die gesamte Geschichte der einzelnen Personen anschauen, meine Damen und Herren; auch das gehört zur Bewertung, wenn man so selbstsicher sagt: Einer lügt, und einer spricht die Wahrheit.
({13})
Meine Damen und Herren, auch die Aussage des Zeugen Schulz – lieber Kollege Krischer, der Zeuge Schulz hat Ihnen eines kaputtgemacht: die Show – war rechtsstaatlich in Ordnung. Es gehört zum Rechtsstaat, dass diejenigen als Zeugen aussagen dürfen, die an einem Termin teilgenommen haben.
({14})
Und wenn Sie einen Zeugen nicht wollen, dann zeigt es, dass dieser Zeuge vielleicht eine Aussage bringt, die Ihnen nicht passt.
({15})
Aber wer an der Wahrheit arbeitet, muss alle hören. Das ist unsere Aufgabe; dafür gehen wir jetzt wieder aus dem Plenum zurück in den Untersuchungsausschuss. Wir suchen die Wahrheit, und die finden wir definitiv nicht hier in dieser Aktuellen Stunde. Sie war leider ein klassisches Beispiel für den Missbrauch des Plenums.
Danke schön.
({16})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen zur Aktuellen Stunde liegen nicht vor. Ich schließe diesen Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz kürzen wir die Direktzahlungen der Landwirte im Haushaltsjahr 2021 um 6 Prozent und schichten dieses Geld von der erste in die zweite Säule der GAP um. Im Jahr 2022 stehen dann damit insgesamt 295 Millionen Euro für die Förderung der ländlichen Räume zur Verfügung. Die Länder können damit ihre Förderprogramme im Bereich des Natur- und Umweltschutzes mit ausreichenden Finanzmitteln ausstatten. „Mehr Maßnahmen für Umweltschutz und Klimaschutz“, so lautet die zentrale Forderung der Öffentlichkeit. Wir setzen hiermit ein wirksames Zeichen.
Wichtig ist uns aber, dass die Gelder an die landwirtschaftliche Mittelvergabe gebunden bleiben.
({0})
Denn dieser Betrag, den wir aus der ersten Säule entnehmen und der unserer Umwelt zugutekommen soll, wird erst mal auf den Höfen, in den Betrieben fehlen, sowohl für die Einkommenssicherung wie auch für die Risikoabsicherung.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch darauf hinweisen, dass es in der ersten Säule der GAP bereits viele Maßnahmen gibt, die unsere Bäuerinnen und Bauern ergreifen, um Artenvielfalt und ökologische Lebensräume zu schützen. Dafür gebühren ihnen unsere Anerkennung und unser Respekt.
({1})
Keinen Respekt vor den Bauern zeigt dagegen die FDP mit ihrem Antrag.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie verschaukeln die Bauern mit Ihrem Antrag für einen ergebnisoffenen Dialog zur Düngeverordnung. Es kann doch keinen ergebnisoffenen Dialog mehr geben, nachdem wir rechtskräftig vom Europäischen Gerichtshof verurteilt wurden und nach 29 Jahren und mehreren Anläufen endlich eine Düngeverordnung auf den Weg gebracht haben. Da gibt es keinen ergebnisoffenen Dialog; da gibt es eine Umsetzung.
({3})
Zu behaupten, dass es noch Alternativen gibt, um ein Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden, ist einfach unredlich. Sie benutzen die Bauern, um daraus politisch irgendwie Nektar zu saugen. Das geht so gar nicht.
({4})
Zum Antrag der Linken für eine Weidetierprämie – er wird ja immer wieder eingebracht – möchte ich Folgendes sagen:
({5})
Wir lehnen gekoppelte Zahlungen grundsätzlich ab, weil sie in der Vergangenheit in Europa zu Marktverzerrungen, aber auch zu Fehlanreizen geführt haben. Die meisten Schäferinnen und Schäfer verfügen über Grünlandflächen. Sie profitieren von den Direktzahlungen in der ersten Säule, wo die Prämien ja deutlich gestiegen sind. Aber genauso profitieren sie von den Zahlungen in der zweiten Säule, die ja gerade heute durch diese Umschichtung finanziell gestärkt wird.
({6})
Wir haben in diesem Zusammenhang, ehrlich gesagt, einen ganz anderen Eindruck. Die immer wiederkehrende Forderung nach einer Weidetierprämie scheint uns eher mit einem Versprechen bestimmter Gruppierungen an die Schäfer verbunden,
({7})
und zwar mit dem Versprechen, für diese Weidetierprämie das eigentlich große Problem, nämlich die zunehmende Bedrohung durch die Wolfsrisse, zu verschweigen. Das tragen wir nicht mit.
({8})
Ich bin aber durchaus bereit, mit Ihnen einen Vollerwerbsbetrieb mit Schafhaltung zu besuchen, unter der Voraussetzung, dass dann auch alle Zahlen auf den Tisch kommen, dass die Zahlen alle komplett offengelegt werden. Allerdings müssen Sie dann umgekehrt mit mir auch in einen Betrieb gehen, der durch Wolfsrisse geschädigt ist.
({9})
Und dann schauen wir, was dabei herauskommt.
Wir stimmen für den Gesetzentwurf der Bundesregierung, lehnen aber den Antrag der FDP und den Entschließungsantrag der Linken ab.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Stephan Protschka.
({0})
Herr Präsident! Habe die Ehre, liebe Kolleginnen und Kollegen! Gott zum Gruße, liebe Gäste im Hohen Haus und zu Hause vor dem TV-Gerät! Liebe Kollegen von der CDU/CSU, mit dieser Rechtsverordnung verarscht ihr aber schon eure Wähler nach Strich und Faden, oder? Bäuerliche Familienbetriebe – das wisst ihr ja wohl selbst – denken in Generationen und brauchen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Aber auf was sollen sich die deutschen Bauern eigentlich noch verlassen, wenn Sie hier jedes Mal Ihr Wort brechen und die heimische Landwirtschaft regelmäßig mit einer neuen Auflagen- und Verbotsflut überziehen?
Wir erinnern uns: Genau vor einem Jahr haben Sie die Direktzahlungen umgeschichtet und damit die deutschen Bauern um 75 Millionen Euro beraubt. Das sind wichtige Mittel, die nun erneut auf den Höfen fehlen. Sie, Herr Färber, haben damals im Ausschuss hoch und heilig versprochen, dass das eine einmalige Aktion sei und nur für das Jahr 2020 gelten würde.
({0})
Ja, und Ihr Herr Kollege Max Straubinger von der CSU – er stand damals genau hier – hat im Hohen Hause noch betont, dass er zur Vertragstreue und zur Zuverlässigkeit gegenüber unseren Bauern stehen und die Umschichtung deshalb ablehnen würde. Trotzdem hat er dann der Umschichtung zugestimmt, und trotzdem wollen Sie nun, entgegen Ihren ganzen Versprechungen, nochmals umschichten.
({1})
Bekommen Sie eigentlich nicht mit, dass die Landwirte seit einem Jahr regelmäßig zu Zehntausenden gegen Ihre verfehlte und fachfremde Agrarpolitik auf die Straße gehen? Die Bauern haben die Schnauze gestrichen voll von Ihnen.
Und was ist das eigentlich für ein Zeichen für unsere Landwirte, wenn Sie ihnen angesichts der von Ihnen verursachten Lockdown-Krise und der jetzt auftretenden Afrikanischen Schweinepest nun abermals tief ins Portemonnaie greifen? Mit der Alternative für Deutschland ist dies auf jeden Fall nicht zu machen. Wir stehen fest hinter der deutschen Wirtschaft; wir stehen fest hinter der deutschen Landwirtschaft.
({2})
Wenn sich ein Hoftor erst einmal geschlossen hat, dann geht es nie wieder auf. Ich glaube, das wissen die Kollegen von der Union am besten; es sind ja viele Landwirte dabei. Vernünftige Agrarpolitik muss deshalb die wirtschaftliche Existenz der bäuerlichen Landwirtschaft schützen. Für die AfD ist es selbstverständlich. Wir lehnen daher Ihre Verordnung ab.
Liebe Frau Klöckner – heute leider nicht da –, lieber Herr Fuchtel, liebe CDU/CSU, ich kann es ja verstehen, dass Sie sich den Grünen schon anbiedern müssen,
({3})
weil es der Koalitionspartner für die nächste Wahlperiode ist, ganz nach dem Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, Hauptsache, der dicke BMW oder Mercedes bleibt draußen stehen, damit ich weiterfahren kann – aber doch bitte nicht auf Kosten unserer Wirtschaft und nicht auf Kosten unserer Landwirtschaft!
({4})
Ich danke hier noch mal allen deutschen Landwirten,
({5})
die trotz der Arbeit dieser Regierung durchhalten und für uns alle hochwertige Lebensmittel produzieren. Mit mir als Landwirtschaftsminister wird es in Zukunft wieder Verlässlichkeit und Vernunft geben;
({6})
denn nur mit der AfD funktionieren Landwirtschaft, Umweltschutz und Tierschutz.
Danke, meine Damen und Herren.
({7})
Für eine Regierungserklärung war es noch ein bisschen früh, würde ich sagen.
({0})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Rainer Spiering für die Fraktion der SPD.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Protschka, in Abwandlung eines Wortes bei uns zu Hause: Gott schütze uns vor Eis und Schnee – und vor Ihnen als Landwirtschaftsminister.
({0})
Und übrigens – das meine ich jetzt ganz ernst –: Wenn ich deutscher Landwirt wäre und Sie im Rücken hätte, würde ich ausgesprochen vorsichtig sein und immer einen Rückspiegel in der Hand haben.
Zur Sache. Wir haben die Möglichkeit, 15 Prozent der Mittel in die zweite Säule umzuschichten. Ich persönlich hätte das gut gefunden; aber es gehört zum demokratischen Gebaren, zu akzeptieren, dass wir eine zweite Kammer haben. In dieser zweiten Kammer sitzen nahezu alle Parteien, die hier im Bundestag vertreten sind. Man hat sich auf 6 Prozent der Direktzahlungsmittel verständigt, und damit ist das für uns gut und in Ordnung, und wir werden dem selbstverständlich zustimmen.
Eines hat mich ein bisschen traurig gemacht: Es gab vom Bundesrat die Empfehlung, Geld für die Weidetierprämie zur Verfügung zu stellen. Das ist von hohem Interesse. Gerade der Kollege Dirk Wiese aus dem Hochsauerlandkreis, in dem eine starke Weidetierhaltung vorhanden ist, hätte das sehr gerne gesehen. Ich glaube, wir haben eine Chance vergeben, den Milchviehwirten und den Schäfern in Deutschland eine Hilfe für den Erhalt ihrer Höfe zu geben. Eine solche Hilfe ist nun leider nicht mehr möglich. Ich bedaure das sehr.
({1})
Für mich ist aber entscheidender als das Durchführungsgesetz, das wir heute verabschieden werden: Wie geht es mit der GAP 2021 weiter? Wir haben gestern Abend einen sehr interessanten Vortrag vom Deutschen Verband für Landschaftspflege gehört. In diesem ging es um einen Vorschlag, GAP-Mittel zu verwenden. Viele von denen, die hier heute vortragen, haben ihn gestern gehört.
({2})
– Herr Protschka nicht. – Der Vorschlag des Deutschen Verbandes für Landschaftspflege – ihn würde ich sehr ernst nehmen – verausgabt GAP-Mittel für Leistungen gegenüber dem Gemeinwohl. Ich fand an dem Vorschlag ausgesprochen spannend und charmant, dass die Mittel regional einsetzbar sind. Es sind 19 Punkte, die auch in Euro dotiert werden und die die Möglichkeit schaffen, je nach regionalen Unterschieden – unser Land ist ja landwirtschaftlich regional sehr unterschiedlich aufgestellt – den einzelnen Landwirt für seine Arbeit zu entlohnen. Ich fand das total spannend. Es ist die Möglichkeit, Kolleginnen und Kollegen, GAP-Mittel sinngerecht einzusetzen.
Bevor ich mich auf die Verteilung dieser Mittel konzentriere, noch mal die grundsätzliche Frage: Worüber verfügen wir hier? Das sind Steuermittel aus Deutschland für Europa, die zurückfließen. Für diese Steuermittel hat dieses Haus Verantwortung. Was machen wir mit dem Geld? Wir geben das Geld in die Fläche. Bis auf die 6 Prozent, die in die zweite Säule fließen – es kommt noch ein bisschen was dazu –, machen wir Flächenförderung.
Was ist die Folge davon? Ein Hof, der sich um Weidetiere kümmert, der kleinteilige Arbeit macht, der rackert und macht und tut, aber leider nur 15 Hektar hat, kriegt 4 500 Euro pro Jahr. Ein Grundbesitzer, der 1 000 Hektar hat, bekommt 300 000 Euro. Wenn mir jemand diese Systematik erklären kann, und zwar so, dass für mich einsehbar ist, dass es einen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Sinn hat, dann wäre ich dankbar. Aber ich kann die Erklärung nicht finden, beim besten Willen nicht.
({3})
– Hermann, ich komme ja gleich dazu. Wir machen ja hier keine Zwiesprache.
Was ich an der Geschichte besonders schlimm finde: Nicht ganz ohne Grund beklagen sich viele Landwirtinnen und Landwirte über die Macht des deutschen Lebensmitteleinzelhandels. Wenn ich jetzt in die neuen Bundesländer schaue und mir dort angucke, wer aufkauft, dann finde ich sie alle, besonders die Lidl-Gruppe und die Aldi-Gruppe. Das, was Sie hier protegieren, hilft den Lebensmitteleinzelhändlern, ihre Kapitalmacht noch stärker zu machen. Kolleginnen und Kollegen im ganzen Haus: Das können wir nicht wollen.
({4})
Wenn Sie diesen Widerspruch auflösen wollen, dann tun Sie etwas, was klassisch sozialdemokratisch ist: Belohnen Sie Arbeit. Belohnen Sie gute Arbeit.
Jetzt zu den 19 Punkten des Deutschen Verbandes für Landschaftspflege. Je nach Region aufgeteilt – ob Lehmboden, Sandboden, Steinboden oder, oder; mit einer Klassifizierung – wird dort tätige Arbeit belohnt. Dann können Sie ein System entwickeln, bei dem Sie auch kleinere Höfe mit harter Arbeit viel, viel besser belohnen als die Schwarz-Gruppe, zu der auch Lidl gehört, oder wie sie alle heißen. Da hätte ich Sie gerne an meiner Seite.
({5})
Ich komme jetzt zu einem Thema, das mir besonders am Herzen liegt. Die Klassifizierung, die Sie vorgeschrieben haben, ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie schnell wirksam ist. Das heißt, nicht 1 000 Blätter ausfüllen, nicht Ordner füllen, sondern den Landwirtinnen und Landwirten mit ganz einfachen Mitteln die Möglichkeit geben, die Daten in einen Rechner einzugeben, digital an eine Behörde zu schicken, und zwei Stunden nachdem sie sie abgeschickt haben, bekommen sie eine digitale Antwort und wissen, wie viel Euro sie in ihrer Tasche haben. Dafür zu sorgen, das wäre Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland und nicht der Landwirte.
({6})
Abschließend: Ich hatte heute Morgen den französischen Agrarattaché bei uns im Haus. Ich habe gefragt: Wie macht ihr das in Frankreich? Er gab eine erstaunliche Antwort: Kappung bei 100 000 Euro. – Ich habe gefragt: Was macht ihr mit dem übriggebliebenen Geld? – Und jetzt kommt für Sie alle die erstaunliche Antwort: Sie geben es in Tierhaltung und Biodiversität. Genau das muss unser Ansatz sein. Wenn wir die Borchert-Kommission am Leben halten wollen, wenn wir das Geld zur Verfügung stellen wollen, dann brauchen wir genau dasselbe, was die Franzosen haben: Kappung, keine Belohnung von Fläche, sondern Geld in die Arbeit und die Tierhaltung mithilfe der Digitalisierung. Wir können das schaffen. Hier sind die Franzosen ein sehr gutes Beispiel. Ich wäre sehr froh und dankbar, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen würden.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Dr. Gero Clemens Hocker.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat vor etwa einem halben Jahr Landwirtschaft erstmals als systemrelevant bezeichnet. Wir haben das damals ausdrücklich begrüßt, weil wir genauso wie viele Tausend Betriebe in Deutschland damit die Hoffnung verbunden haben, dass Landwirte endlich tatsächlich honoriert werden für ihre Arbeit und dafür, dass sie uns in Krisen- und auch in Nichtkrisenzeiten hochwertigste Lebensmittel zu niedrigen Preisen anbieten.
Aber Wertschätzung alleine reicht nicht aus. Mit dem Begriff der Systemrelevanz sollte eigentlich verbunden sein, dass solche Branchen in Krisenzeiten nicht noch zusätzlich mit Auflagen belegt werden. Doch das ist in diesem Bereich nicht gelungen. Der Koalitionsausschuss selber hat noch am 22. April 2020 davon gesprochen, dass es ein Belastungsmoratorium für besonders relevante Branchen geben muss. Trotzdem ist die Düngeverordnung beschlossen worden; trotzdem diskutieren wir hier in diesem Hohen Hause über zusätzliche Auflagen für Nutztierhalter durch Insektenschutzprogramme, Ackerbaustrategien und viele andere Dinge mehr. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, es ist unerträglich, wie wenig von Begriffen wie „Systemrelevanz“ oder „Belastungsmoratorium“ tatsächlich bei der Landwirtschaft in Deutschland ankommt.
({0})
Auch Ihre Vorschläge zur Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes verstoßen gegen den Grundsatz, Betriebe nicht mit zusätzlichen Auflagen zu belegen; denn wenn Sie Gelder aus der ersten in die zweite Säule umschichten, dann hat das nur einen Effekt: dass der Landwirt künftig für das gleiche Einkommen mehr arbeiten muss, mehr Auflagen erfüllen muss, mehr Bürokratiearbeit, mehr Dokumentation leisten muss. Und dazu sage ich Ihnen ganz ehrlich: Es ist unredlich, von „Systemrelevanz“ und „Belastungsmoratorium“ zu sprechen und gleichzeitig Landwirte mit zusätzlichen Auflagen zu belegen, meine Damen und Herren.
({1})
Ich sage Ihnen das ganz ausdrücklich: Wenn Sie tatsächlich vorhaben, verehrter Herr Staatssekretär, verehrte Kollegen der Bundesregierung, Gelder aus der ersten in die zweite Säule umzuschichten, dann kann das nur passieren, nachdem sie die Landwirte umfänglich von Bürokratie entlastet haben. Diese Bürokratie nutzt häufig genug nur denjenigen, die die Einhaltung bürokratischer Vorgaben kontrollieren dürfen; aber sie leistet häufig genug einen Bärendienst für Boden, Luft, Wasser und Tierwohl.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um die sogenannte erste Säule der EU-Agrarförderung, auch Direktzahlungen oder Flächenprämie genannt. Das sind für Deutschland jährlich immerhin mehrere Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt. Für die Verwendung von so viel Steuergeld haben wir in der Tat auch als Gesetzgeber eine große Verantwortung.
Formal sollen vor allem drei Probleme gelöst werden: Erstens sollen Einkommen und Risiken abgesichert werden, zweitens sollen die zum Teil erheblichen Schwankungen der Agrarpreise abgesichert werden, und drittens sollen gesellschaftliche Leistungen, die nicht über den Markt bezahlt werden, ausgeglichen werden. Das sind für viele Agrarbetriebe in der Tat sehr ernsthafte, oft sogar existenzielle Risiken. Nur, die Probleme werden auf diese Weise überhaupt nicht gelöst. Im Gegenteil: Das Geld landet zwar rechnerisch bei den Agrarbetrieben, aber real profitieren ganz andere davon, zum Beispiel Bodenspekulanten, die die Bodenpreise explodieren lassen, oder Saatgut-, Verarbeitungs- oder Handelskonzerne, die das Geld abschöpfen. Das ist ein Fehler im System; das muss dringend geändert werden.
({0})
Sonst bleibt es nämlich dabei, dass Fördermittel letzten Endes bestenfalls Symptome lindern. Aber geheilt werden muss doch die Krankheit.
({1})
Also: Schluss mit der konzernfreundlichen Agrarpolitik! Es muss das Prinzip gelten: Öffentliches Geld für öffentliche Leistungen.
({2})
Dieses Prinzip muss nicht nur, aber eben auch in der Agrarförderung gelten.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft muss für die kommende Förderperiode endlich die richtigen Weichen stellen; denn es geht um viel. Es geht um die Sicherung unserer Ernährungssouveränität, um den Schutz von Wasser, Boden, Luft und Klima. Eine nachhaltige Landwirtschaft ist doch in unser aller Interesse.
({3})
Ohne Einigung zur neuen EU-Förderperiode gilt das alte Regelwerk. Aber auch mit diesem wäre deutlich mehr Nachhaltigkeit möglich, als Union und SPD heute liefern. Dieses erneute Versagen hinterlässt ausgerechnet die Schaf- und Ziegenhaltenden in einer bedrückenden Situation. Eigentlich machen sie alles richtig: Sie halten die Tiere so, wie die Gesellschaft das erwartet. Sie pflegen Kulturlandschaft und Deiche. Sie erhalten das Grünland. Sie schützen die biologische Vielfalt und das Klima. Sie kümmern sich um den Herdenschutz. Sie produzieren mit Wolle einen nachwachsenden Rohstoff. Sie produzieren nachhaltig Lebensmittel. Aber: Das Schaf nährt eben längst nicht mehr seine Hirten. Freiwillige Programme ändern an der Selbstausbeutung leider sehr wenig. Deshalb fordert Die Linke heute erneut eine Weidetierprämie, nicht als Almosen, sondern weil die Arbeit dieser nachhaltigen Landnutzung endlich ernsthaft bezahlt werden muss.
({4})
Leider wird die Mehrheit heute aus dogmatischen Gründen ihre Zustimmung wieder verweigern. Aber es gibt Möglichkeiten zur Wiedergutmachung, und zwar sehr bald. Wir als Linke werden für den Bundeshaushalt 2021 erneut ein Bundesprogramm „Schafhaltung“ beantragen, das den Namen auch wirklich verdient. Das sollte und muss uns die Schaf- und Ziegenhaltung wirklich wert sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen stimmen der Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen im Rahmen des Coronapaketes ausdrücklich zu. Wir stimmen auch dem Entschließungsantrag der Linken, den Weidetierhaltern, den Schaf- und Ziegenhaltern, endlich zu helfen, ausdrücklich zu.
({0})
Bei der Abstimmung über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes, betreffend den GAP-Übergangszeitraum 2021, enthalten wir uns. Dieses Gesetz gäbe uns die Möglichkeit, wie schon der Kollege Spiering ausführlich darstellte, substanzielle Änderungen jetzt vorzunehmen. Aber Ministerin Klöckner und CDU/CSU zeigen null Bereitschaft – wie immer, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Stattdessen bauen Sie Potemkinsche Dörfer, hinter denen die vielen Probleme der Landwirtschaft verschwinden. Traurig, hinter der Showkulisse gibt es nur Stillstand und keine Entwicklung.
Das ist Ihre Arbeitshaltung zur GAP. Sie lassen zum Beispiel – leider – die Möglichkeit verstreichen, 15 Prozent der Gelder aus der ersten Säule – das ist diese unsinnige Verteilung nach Fläche – in die zweite Säule umzuschichten, so wie immer. Wieder brutalstmögliche Zurückhaltung bei Ihnen, statt voranzugehen, sich endlich für eine Weiterentwicklung der GAP mit wirksamen Zukunftsperspektiven einzusetzen.
({2})
Zum Glück ist es ja nur eine Übergangslösung für 2021, okay. Aber: Wie soll denn je der Umbau der GAP zu einem Zukunftsinstrument gelingen, wenn Sie schon die kleinsten Möglichkeiten nicht wahrnehmen? Es geht um die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland. Wir brauchen endlich eine Neuausrichtung der Agrarpolitik. Sie aber lassen wieder alles offen. Wir brauchen eine deutliche Regionalisierung der Erzeugung, eine Ausrichtung auf Qualität statt Masse für den Weltmarkt. Das müssen Sie endlich angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Wir brauchen die Neuausrichtung der Tierhaltung. Die Kuh muss raus aus dem Stall; sie muss wieder auf der Weide sichtbar werden.
({4})
Nur so können wir den großen Graben zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft wieder schließen. Aber nichts, gar nichts tun Sie dafür.
Wir brauchen endlich Lösungen für die vielen, vielen Probleme bei Umwelt, Klima und Biodiversität. Wir brauchen deshalb hohe Ambitionen für die GAP nach 2021, die auch die Gestaltungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene endlich nutzt.
Wir brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine neue Agrarpolitik mit starken Eco-Schemes, den sogenannten Umweltleistungen, und eine Honorierung von Gemeinwohlleistungen durch eine Gemeinwohlprämie. Wer das gestern Abend nicht verstanden hat, der wird es, glaube ich, nicht mehr verstehen.
({5})
Wir brauchen eine starke Konditionalität: mit Moor- und Grünlandschutz, mit vielen ökologisch wirksamen Verbundflächen für Artenvielfalt. Wir brauchen eine starke zweite Säule für eine zielgenaue Förderung einer bäuerlichen Landwirtschaft.
Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann es eine Zukunftsperspektive für die bäuerliche Landwirtschaft geben. Gehen wir es endlich an!
({6})
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dieter Stier für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Landwirte in Deutschland wurden bereits vor Beginn der Coronapandemie sehr hart geprüft. Scharfe Urteile, raue Töne und offene Anfeindungen sind leider Alltag für fast jeden Tierhalter und Betriebsinhaber. Leider hat das Verständnis für ihre tägliche Arbeit seitdem weitere Rückschläge einstecken müssen. Ich möchte daher zu Beginn meiner Anmerkungen unseren Landwirten die oft versagte Anerkennung aussprechen, die sie dringend nötig und verdient haben und die – lassen Sie mich das bitte ergänzen – von diesem Haus nur selten überzeugend von allen hier vertretenen Fraktionen übermittelt wird.
({0})
Wir sollten mit der Fehlbeurteilung aufräumen. Landwirtschaft ist mehr als nur stinkende Gülle und mehr als laute staubverursachende Traktoren. Deswegen sage ich einen Dank an all jene in der Landwirtschaft und Tierhaltung, die bis heute trotz dieser massiven Widerstände, trotz teilweise anhaltender Trockenheit, trotz ständig steigender Bodenpreise und anderer Widrigkeiten unsere Ernährungsgrundlagen sichern, auch in Zeiten einer Pandemie. Wir alle sollten diese Leistung vorurteilsfrei anerkennen.
({1})
Für mich ist klar: Nur ein Mindestmaß an Respekt kann die Grundlage für alle weiteren Diskussionen sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute stehen mehrere Dinge zur Beratung an: das Direktzahlungen-Durchführungsgesetz, die Änderung agrarmarktrechtlicher Bestimmungen, welche insbesondere europarechtliche Umsetzungen beinhalten, aber auch ein Antrag der FDP-Fraktion vom Januar, dessen heutige Beratung aus meiner Sicht eigentlich schon durch den langen Zeitablauf entbehrlich gewesen wäre.
Zum Direktzahlungen-Durchführungsgesetz und zur Umschichtung der Mittel von der ersten in die zweite Säule hat der Kollege Färber schon die bedeutendsten Punkte ausgeführt, die Vor- und Nachteile abgewogen. Es liegt jetzt bei den Ländern, bei der Umsetzung der Förderprogramme die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
Ja, als Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt kann ich Ihnen sagen, lieber Artur, dass bei uns die Vorgewende sicherlich etwas weiträumiger sind als in Süddeutschland. Deshalb ist es richtig, dass die Länder auch unterschiedliche Förderschwerpunkte bei der Umsetzung setzen können.
Ja, ich verstehe nicht, warum in meiner Heimatstadt Weißenfels zwar ein hochmoderner Schlachtbetrieb arbeitet, aber seit dem Fall der Mauer die Tierhaltung dort immer mehr schwindet. Ich kann denen, die das zuständige Ressort in Sachsen-Anhalt verantworten, nur zurufen: Setzen Sie andere Förderschwerpunkte! Unser Gesetzentwurf macht es möglich.
({2})
Lassen Sie mich auch zum Antrag der FDP einige Anmerkungen machen. Ich stimme Ihnen vollkommen zu,
({3})
dass Landwirte selbstbestimmte und wirtschaftlich eigenverantwortliche Unternehmer sind und auch künftig bleiben.
({4})
Das sehe ich genauso, und dafür müssen wir alles tun, und das ist auch unser Leitbild.
Ich teile weiterhin Ihre Überzeugung, die uneingeschränkt richtig ist, dass zur Ausrichtung der Betriebe verlässliche und langfristige Rahmenbedingungen erforderlich sind. Hier gibt es überhaupt keine Unterschiede in der Betrachtungsweise. Aber Ihr abenteuerlicher Vorwurf, wir würden uns bewusst jeglichem ernstgemeinten Dialog verweigern, den kann ich für mich, aber sicherlich auch für die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition so nicht im Raum stehen lassen.
({5})
Diese Behauptung, liebe Freunde, ist einfach falsch. Sie lässt sich auch leicht widerlegen. Als die Landwirte vor knapp einem Jahr in zahlreichen Städten, insbesondere auch hier in Berlin, ihren Unmut zum Ausdruck brachten, war es da draußen vorm Brandenburger Tor Ministerin Klöckner, die sich den 40 000 geduldig zum Dialog gestellt hat. Verweigerungshaltung, lieber Kollege Hocker, sieht anders aus. Dafür haben selbst Kritiker Anerkennung gehabt.
Gestatten Sie denn dem Kollegen Hocker eine Zwischenbemerkung?
Aber selbstverständlich gestatte ich dies dem Kollegen Hocker.
Vielen Dank, verehrter Herr Kollege, dass ich diese Zwischenfrage stellen darf. – Sie haben eben ja ausgeführt, dass ein Dialog zwischen der Bundesregierung und den Landwirten stattfindet. Würden Sie mir zustimmen, dass zu Beginn dieses Dialogs, zu dem ja über 40 Gruppen und Organisationen eingeladen wurden, schon Referentenentwürfe kursiert haben, in denen es darum ging, wie in Zukunft Düngeverordnungen und weitere maßgebliche Regelungen für Landwirtschaft auszusehen haben? Und wollen Sie tatsächlich an Ihrer Aussage festhalten, dass es ein Dialog auf Augenhöhe ist, wenn die Ergebnisse zu Beginn dieses Dialogs eigentlich schon festgestanden haben?
Lieber Herr Kollege Hocker, vielen Dank für die Frage. Die beantworte ich ganz kurz: Bei uns kursieren ständig Entwürfe, weil wir nämlich ständig arbeiten und deshalb fortdauernd Ideen entwickeln. Die werden wir auch mit den Gruppen rechtzeitig besprechen; und das haben wir zu dieser Zeit auch getan.
({0})
Was, meine Damen und Herren – damit komme ich noch einmal zum Antrag der FDP –, unterscheidet uns von Ihrem Antrag? Die Ministerin verspricht eben nichts, was falsche Hoffnungen weckt, sondern sie sagt ganz schlicht, was möglich ist.
({1})
Spätestens hier treten die großen Unterschiede zwischen Ihnen und uns in Sachen Herangehensweise auch zutage. Ihr Antrag stellt Scheinlösungen ins Schaufenster, die Sie dann natürlich nicht verantworten müssen. So kommen wir nicht voran.
Übrigens – noch ein letzter Satz –: Der Dialog auf Augenhöhe, den Sie uns absprechen, hat längst stattgefunden.
({2})
Auch die Bundeskanzlerin – Herrn Hoppenstedt habe ich hier gerade gesehen; das kann er ihr ja ausrichten – hat sich im November letzten Jahres auf dem extra anberaumten Agrargipfel mit Landwirten und Vertretern von Branchenverbänden persönlich ausgetauscht, weil wir eben erkennen, dass die Lage der grünen Branche nicht einfach ist. Sie sehen also, meine Damen und Herren: Der von Ihnen angemahnte Dialog hat längst stattgefunden. Er findet täglich statt. Er wird auch künftig sachorientiert stattfinden,
({3})
und er wird auch ständig fortgeführt werden. Ihr Antrag hilft uns dabei, mit Verlaub, leider nicht weiter.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen sind nicht vorgesehen. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung der Bildung ist in der Krise weit vorangeschritten. Viele Hochschulen haben ja zum ersten Mal ihre Seminare und Vorlesungen vollständig online angeboten. Diesen Innovationsschub wollen wir Freie Demokraten nutzen und nach der Krise nicht in die Lehre von 2019 zurückfallen. Es ist jetzt an der Zeit für bildungspolitische Visionen. Eine solche große Vision hat Emmanuel Macron in seiner Grundsatzrede vor drei Jahren an der Pariser Sorbonne-Universität formuliert: europäische Hochschulen mit europäischen Semestern und Abschlüssen. Die deutsche Bundesregierung und andere Bedenkenträger haben diese wirklich große Vision danach zusammengedampft zu einem reinen Fördertopf für Netzwerke nationaler Hochschulen. Besser als nichts, aber die eigentliche Idee ist doch viel größer. Deshalb schlagen wir Freie Demokraten Ihnen heute eine echte Europäische Digitale Universität vor.
({0})
Lassen Sie uns die beste Lehre Europas allen Europäerinnen und Europäern zur Verfügung stellen. Das Wissen der Welt ist heute schon in wenigen Sekunden auf jedem Smartphone verfügbar. Aber die akademische Einordnung und Orientierung erhalten meist nur wenige immatrikulierte Studierende vor Ort. So wie vor einigen Jahrhunderten der Buchdruck erstmals das Wissen in die Welt getragen hat, wollen wir Freie Demokraten im 21. Jahrhundert die akademische Lehre für alle öffnen, flexibel und in jeder Lebenssituation.
({1})
Die 45-jährige Chemikerin aus Warschau zum Beispiel soll ganz einfach per App auf die Vorlesung der Uni Maastricht zu neuen Forschungserkenntnissen zugreifen können. Der 21-jährige Maschinenbaustudent aus Berlin soll sein Onlinestudium ganz flexibel aus Lehrangeboten der renommiertesten Professorinnen und Professoren ganz Europas zusammenstellen können. Und die 52-jährige Erzieherin aus Paris soll ganz einfach auf dem Heimweg in der Straßenbahn ihrer Leidenschaft zur Kunstgeschichte mit einer Onlinevorlesung der Uni Rom nachgehen können. Bringen wir die Lehre der über 4 000 Hochschulen Europas endlich zu ihnen nach Hause!
({2})
Das Erasmus-Austauschprogramm hat ja bereits für über 1 Million Erasmus-Babys gesorgt. Aber für viele Menschen kommt ein komplettes Auslandssemester gar nicht infrage.
({3})
Das scheitert nicht nur am Geldbeutel. Es scheitert oft auch an anderen Dingen: das Alter, die Kinder, der Beruf, das Ehrenamt, vielleicht Heimweh, gesundheitliche Einschränkungen, der Freundeskreis … Aber all das darf doch im digitalen Zeitalter nicht ernsthaft noch ein Grund sein, an der besten Bildung nicht teilhaben zu können.
({4})
Wer Bildungsmobilität ernst nimmt, muss den digitalen Zugang für alle schaffen. Und genau das schlagen wir Ihnen heute vor.
Die Europäische Digitale Universität ist aber weit mehr als ein reines E-Learning-Portal; so viel zu dem Zwischenruf aus der SPD-Fraktion eben. Sie stärkt nämlich den gemeinsamen, grenzüberschreitenden Debattenraum und die europäische Identität. Onlinekurse kann sie, wie im Antrag ja beschrieben, ganz flexibel durch dezentrale, auch hybride Veranstaltungen ergänzen. Sobald das Europäische Parlament irgendwann einmal den Sitz von Straßburg nach Brüssel verlegt, wird dort in Straßburg, im Herzen Europas, doch ein idealer Campus für Präsenzeinheiten frei. Auch internationale Studiengänge zu European Law oder European History mit einer bunten Mischung aus Professorinnen und Professoren aus ganz Europa wären dort möglich. Wer zusammen lernt, wächst auch zusammen. Und deshalb investieren wir Freie Demokraten mit diesem Antrag auch in die Zukunft Europas.
({5})
Die Bundesregierung sollte die EU-Ratspräsidentschaft jetzt endlich nutzen, um ein neues Kapitel in der Bildungsgeschichte Europas aufzuschlagen. Ein konkretes Beispiel, wie das in den Hochschulen gelingen kann, haben wir Ihnen heute vorgelegt. Lassen Sie uns die beste Lehre Europas für alle öffnen. Es geht um dein Talent, deine Zukunft! Und ich freue mich sehr auf die Beratung.
({6})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Andreas Steier.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grenzüberschreitende Bildung ist ein Grundstein Europas. Gerade als Abgeordneter einer Grenzregion weiß ich nur zu gut, dass dieser erste Satz im FDP-Antrag grundsätzlich richtig ist. Junge Menschen sind heute nicht nur in Europa, sondern weltweit unterwegs. Das ist eine wichtige Errungenschaft der EU. Dass sie ohne große Hürden in anderen Ländern lernen und studieren können, ist ebenfalls ein Verdienst des geeinten, friedlichen Europas. Unser Land ist hierbei einer der international angesehensten Standorte. Deutschland ist beliebtestes nichtenglischsprachiges Gastland für international Studierende.
({0})
Wir liegen auf Platz 4 hinter den USA, Großbritannien und Australien, direkt gefolgt von Frankreich.
Ein paar Zahlen und Fakten zum Verständnis. Im Wintersemester 2017/2018 gab es 13,2 Prozent ausländische Studierende hier bei uns. Dies waren circa 375 000 Personen, davon rund 42 000 internationale Studienabsolventen. Für Deutschland bieten sich dabei zwei entscheidende Vorteile.
Erstens. Hier liegt ein bedeutendes und immer mehr wachsendes Potenzial zur Deckung unseres Fachkräftebedarfs.
Zweitens. Die vielen klugen Köpfe hier haben positive Auswirkung auf die Forschungslandschaft in Deutschland. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl ausländischer Wissenschaftler an deutschen Hochschulen nahezu verdoppelt. Das bedeutet: Deutschland zieht immer mehr Studierende und Forscher in unser Land aus dem Ausland an. Unser Hochschulwissenschaftsstandort wird international immer attraktiver; darauf können wir stolz sein.
Auch deutsche Studenten sind äußerst mobil. Regelmäßig streben knapp 150 000 Deutsche einen Studienabschluss an einer Hochschule im Ausland an. Etwa ein Drittel aller deutschen Studierenden absolviert während des Studiums einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt. Diese internationale Bildungsmobilität kommt nicht von ungefähr. Sie war Kernziel des Bologna-Prozesses. Internationale Mobilität war auch Kern der von den europäischen Bildungsministern beschlossenen Strategie „Europa 2020“. Wir sehen: Deutschland und Europa sind auf einem guten Weg. Aber natürlich sollten wir uns auf den Lorbeeren und Errungenschaften nicht ausruhen.
({1})
Eine europäische Hochschule für Digitalisierung, wie die FDP sie vorschlägt, ist aus meiner Sicht aber der falsche Weg; denn sie schafft mehr Bürokratie, mehr Verwaltung und parallele Strukturen.
({2})
Von daher ist das Konstrukt abzulehnen.
({3})
Besser, wir nutzen die bestehenden Strukturen. Wir sollten die bestehenden Strukturen internationaler Partnerschaften zwischen den Hochschulen weiter ausbauen und beleben. Konkrete Projekte und Initiativen vor Ort sind sinnvoll und notwendig; gerade die sollten wir fördern. Weiterhin sollten wir unsere Universitäten und Hochschulen international noch stärker vernetzen. Genau das passiert mit den Europäischen Hochschulnetzwerken, die – und da lagen Sie richtig – auf eine Idee von Emmanuel Macron zurückgehen.
Im September 2017 schlug der französische Staatspräsident in seiner Sorbonne-Rede vor, ein Netzwerk von Universitäten aus mehreren Ländern Europas zu bilden. Dafür bekam er richtigerweise Zuspruch von den Staats- und Regierungschefs.
Die erste Pilotausschreibung gab es bereits im Oktober 2018. Das Ergebnis: 17 Hochschulnetzwerke werden mit 85 Millionen Euro gefördert. Aus Deutschland sind 15 Hochschulen in 14 Netzwerken beteiligt. Die zweite Pilotrunde fand in diesem Jahr statt. Das Ergebnis: 24 Europäische Hochschulallianzen, an denen 165 Hochschulen aus 26 Ländern beteiligt sind. Darunter sind 20 Hochschulen aus Deutschland, die sich an 18 Netzwerken beteiligen. Dabei gab es eine große Unterstützung der Initiative durch das BMBF von Beginn an: Das Ministerium fördert die beteiligten deutschen Hochschulen über den DAAD zusätzlich zu der europäischen Förderung.
Diese Netzwerke über Grenzen hinweg sind genau der richtige Weg; denn Lehre und Forschung müssen über Grenzen hinweg geschehen; sie dürfen keine Grenzen haben. Deutschland ist also auf dem richtigen Weg, auf einem sehr guten Weg. Von daher lehnen wir Ihren Antrag ab und unterstützen die aktuellen Netzwerke, die wir schon angestoßen haben.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Marc Jongen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „The medium is the message“, das Medium ist die Botschaft. Diese schillernde These des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan trifft jedenfalls auf viele Anträge der AfD
({0})
– der FDP – in letzter Zeit zu mit ihrer geradezu fetischhaften Fixierung auf das Digitale. Was haben Sie zuletzt nicht alles gefordert: Digitalisierung der Energiewende, des Gesundheitswesens, des Arbeitsrechts, Smart Germany und heute eben „Europäische Hochschullehre im digitalen Zeitalter – Gründung einer European Digital University“.
({1})
All diese Anträge, die auf das digitale Medium fokussieren, sind im wörtlichen Sinn inhaltslos. Sie sprechen zwar davon, dass die digitale Universität die „beste Lehre“ niederschwellig zur Verfügung stellen soll. Sie sagen aber mit keinem Wort, was die Kriterien für diese beste Lehre sein sollen. Ihr Begriff von Bildung bleibt völlig undefiniert.
({2})
Allenfalls wo Sie fordern, dass „Professor/innen an der EDU primär als Studiengangsentwickler und ‑manager eingestellt“ werden sollen, schimmert durch, dass Sie sich jedenfalls vom humanistischen Bildungsideal, das die umfassende Bildung der Persönlichkeit zum Ziel hatte, vollständig verabschiedet haben, und zwar zugunsten eines durchmodularisierten Kompetenzvermittlungsbetriebs, dessen Organisation sich nicht am Menschen, sondern an den neuesten Tools der Softwareindustrie orientiert – also der Bildungsverfall des Bologna-Prozesses, auf den Sie sich ja auch zu Recht berufen, zur Potenz erhoben.
Der Mensch – um noch mal McLuhan zu zitieren – wird in dieser schönen neuen Bildungswelt zum „Servomechanismus“ der Medientechnologie. Auf etwas zugreifen zu können, bedeutet eben noch längst nicht, es verstanden und verinnerlicht zu haben. Die Studenten werden zu standardisierten Usern an den Endgeräten, und ihr Hauptzweck besteht darin, die digitale Bildungsmaschinerie durch ihr Klickverhalten zu ölen und zu optimieren. Content ist Nebensache.
({3})
Dieser Verzicht auf die Inhalte wird sich aber bitter rächen, werte FDP, insbesondere weil Sie diese Universität ja eher als eine digitale Volkshochschule mit kostenlosem Zugang für alle europäischen Bürger und einem starken Anteil an „Wissenschaftskommunikation“ konzipiert haben. So werden Sie zur Serviceopposition für den linken Mainstream.
({4})
Der wird nämlich dieses Volkserziehungstool mit Inhalten der Klimareligion, des Gender-Gaga und anderen politischen Korrektheiten füllen; so viel ist garantiert, meine Damen und Herren.
({5})
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Möglichkeiten des digitalen Fernunterrichts sind natürlich fantastisch. Der weltweite Erfolg des – zufällig auch kanadischen – Psychologen Jordan Peterson und seiner Onlinevorlesungen ist ein wunderbares Beispiel. Aber es ist doch kein Zufall, dass Petersons freies und übrigens zutiefst humanistisches Denken an den Planungen aller Studiengangmanager vorbei sein begeistertes Auditorium weltweit findet. Wer glaubt, dass ausgerechnet das EU-Parlamentsgebäude in Straßburg, wo Sie ja das Hauptquartier der EDU unterbringen wollen, ein Hort des freien akademischen Geistes werden könnte, der würde wahrscheinlich auch ein ehemaliges Bordell in ein Kloster umfunktionieren wollen.
({6})
Nach EU-Recht und in Trägerschaft der EU wollen Sie die Universität einrichten – Macron lässt grüßen. Unterrichtssprache: selbstverständlich nicht Deutsch, sondern Englisch. Diese geradezu euphorische Selbstaufgabe unserer bildungspolitischen Souveränität ist ein weiterer Grund, weswegen wir Ihre Initiative äußerst kritisch sehen.
Und weil Sie Ihre Digitaluni explizit als Post-Corona-Institution vorstellen: Gerade der Lockdown an den Schulen und Universitäten hat doch gezeigt, dass der Mensch als soziales Wesen auf reale Präsenz und Austausch auch beim Lernen nicht verzichten kann.
({7})
Nutzen wir also die digitalen Möglichkeiten klug, wo sie wirklich der Bildung dienen, aber machen wir keinen Fetisch daraus!
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Wiebke Esdar.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss ehrlich sagen: Ab und zu ist die Opposition, sind Sie, Kolleginnen und Kollegen der FDP, zu beneiden, und zwar dann, wenn Sie einfach die eierlegende Wollmilchsau in einen Antrag packen können, ohne jeglichen Realitätscheck oder Machbarkeitscheck darüber zu setzen, und das einfach ins Plenum einbringen können, weil Sie wissen, dass es eh nicht beschlossen wird.
({0})
Ich glaube, dass wir uns alle von den demokratischen, ernstzunehmenden Parteien hier einig sind, dass wir für mehr Europa in der Hochschulbildung sind. Wir sind auch für ein Mehr an digitalen Angeboten. Aber Ihr Antrag lässt viel zu viele Fragen offen.
Er lässt zum Beispiel die Frage unbeantwortet, wer diese „beste Lehre für alle“ auswählen soll, was die beste Lehre für alle ist. Denn wer sich mit Hochschullehre beschäftigt, der weiß, dass wir gerade im digitalen Bereich nicht zu wenig Angebote haben, sondern dass die Herausforderung darin besteht, herauszufiltern und sie zielgerichtet einzusetzen. Das ist eine Riesenherausforderung, die Sie nicht adressieren.
({1})
Die Frage der Interoperabilität bleibt auch völlig unbeantwortet. Denn wer sich mit Digitalisierung an Hochschulen auseinandersetzt, der weiß, dass die große Herausforderung darin besteht, dass unterschiedliche Systeme benutzt werden und dass wir Schnittstellen brauchen, um sie zu übertragen. Wir haben bisher keine deutschen, also keine nationalen, und schon gar keine europäischen Standards.
({2})
Wer so etwas wie eine European Digital University einführen will, der sollte sich meines Erachtens auch mit dieser Herausforderung beschäftigen.
({3})
Sie lassen zudem die Frage unbeantwortet, wie attraktiv eigentlich der Status als Professor bzw. Professorin an dieser Universität sein soll, wenn die Hauptbeschäftigung, so wie Sie es im Antrag schreiben, die eines Studiengangmanagers und ‑entwicklers ist. Ich würde gerne die Frage beantwortet haben, was das für die Einheit von Forschung und Lehre bedeutet; denn Professorinnen und Professoren brauchen nach meinem Verständnis von Hochschulbildung auch entsprechende Infrastruktur, um forschen zu können.
({4})
Zum Dritten ist Ihr Antrag – und das ist das, was es uns mit Abstand am einfachsten macht, ihn abzulehnen – finanziell auf Sand gebaut. Bei Ihrem Vorschlag, die Finanzierung aus den Erasmus+-Mitteln zu leisten, dachte ich erst, ich hätte mich verlesen.
({5})
Sie wissen, dass die Verdreifachung der Erasmus+-Mittel eine Forderung ist, die wir erhoben haben, die aber von den anderen Regierungen abgelehnt wurde. Das heißt, wir wissen: Sie wird de facto momentan nicht kommen.
Sie schlagen vor, diese Universität aus Erasmus+-Mitteln zu gründen. Das heißt, Ihre Universität geht zulasten der reellen Auslandserfahrung, der Begegnung, die nach meiner Erfahrung – und ich glaube, auch der der Erasmus-Babys, die Sie angesprochen haben, oder, besser gesagt, der Eltern dieser Babys – so viel ausmacht. Mehr Europa in der Hochschulbildung, das lebt vor allem vom persönlichen Austausch, das lebt von Begegnung, die nicht vor Bildschirmen stattfindet.
Darum, meine Damen und Herren, werden wir nicht weiter Fantasiewesen wie eierlegenden Wollmilchsäuen hinterherjagen, sondern Politik für die Menschen machen, also das, was umsetzbar ist.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Nicole Gohlke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Pandemie ist die digitale Lehre an den Hochschulen zu einem großen Thema geworden. Ich finde, wir sollten da erst mal den Studierenden und den Dozentinnen und Dozenten danken, die in der Pandemie ziemlich alleingelassen wurden und trotzdem so viel auf die Beine gestellt haben.
({0})
Mit ihrer Mehrarbeit haben sie in den letzten Monaten die Hochschullehre abgesichert. Das muss hier gesagt werden.
Die Forderung nach einer europäischen digitalen Universität hat die FDP jetzt schon ein paarmal erhoben. Und jetzt wissen wir, was Sie darunter verstehen: eine Hochschule in europäischer Trägerschaft mit Fokus auf der digitalen Lehre, zu der alle Europäerinnen und Europäer ortsunabhängig über einen Onlineaccount Zugang erhalten sollen.
Kolleginnen und Kollegen, ich finde, eine internationale Modelluniversität ist eine schöne Vision. Das, was uns die FDP hier präsentiert, ist aber doch auch ein bisschen eine Mogelpackung. Denn Sie wollen doch eigentlich gar keine neue Hochschule gründen, sondern Sie beschränken sich im Kern auf die Vernetzung von bestehenden Hochschulen. Was Sie wollen, erinnert mich, ehrlich gesagt, ein bisschen an einen europäischen Bildungsserver. Und ich finde, das ist etwas wenig für so eine große Idee, wie Sie sie hier beschreiben.
({1})
Durch Ihre Fixierung auf die Digitalisierung als Allroundlösung wirklich für alles und jedes produzieren Sie auch immer wieder ziemliche Schieflagen. Professorinnen und Professoren, Studierende fordern gerade die Rückkehr zum Präsenzunterricht. Denn ausschließlich digitale Lehre und Lehrformate haben ja ihren Preis: Es kommt zu neuen sozialen Spaltungen. Die Mehrzahl der Beschäftigten beklagt gerade eine Verschlechterung der Lehre. Und Studierende klagen mitunter teilweise über solche Erschöpfungszustände, dass mit „Zoom Fatigue“ sogar schon ein neues Wort geprägt wurde. Es beschreibt sozusagen die Erschöpfung durch diese Onlineformate. Ich finde, es ist bezeichnend, dass die ganzen Fragen, bei denen es um so handfeste Dinge wie Arbeitsbedingungen, soziale Rahmenbedingungen usw. geht, von Ihnen, von der FDP, immer völlig unbeantwortet bleiben.
Natürlich ist es richtig, der digitalen Lehre mehr Gewicht beizumessen. Aber dafür muss man aus meiner Sicht einen Schritt vorher ansetzen: Die Vermittlung digitaler Kompetenzen im Studium und der Aufbau digitaler Lehrformate müssen doch erst mal überhaupt als eine gesellschaftliche Aufgabe anerkannt werden, betrachtet werden und dann auch entsprechend gefördert werden.
({2})
Das versäumt die Bundesregierung nämlich wirklich konsequent. Es bräuchte dringend eine Digitalisierungsoffensive in der Hochschulbildung.
Was es also an erster Stelle braucht, sind verlässliche Finanzen. Aber statt sich dafür starkzumachen, planen Sie das Budget von Erasmus+ zur Finanzierung Ihrer Uni ein und torpedieren damit, ehrlich gesagt, Ihre eigene und eine fraktionsübergreifend geteilte bildungspolitische Initiative. Sorry, da fühle ich mich als jemand, der diese Initiative unterschrieben hat, auch ein ganz kleines bisschen verarscht.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, ohne echte Investitionen in die Hochschulen, ohne Verbesserungen bei den Arbeitsverhältnissen und bei den Studienbedingungen wird die digitale europäische Universität ein Luftschloss bleiben. Also lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Anna Christmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von Smart Germany nun einfach zu Smart Europe – immerhin schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, finde ich. Die Dinge grundsätzlich europäisch zu denken, finde ich erst mal positiv. Insofern freue ich mich, dass wir heute über Hochschule und Wissenschaft auf europäischer Ebene sprechen.
Sie stellen da zwei wichtige Fragen: Wie unterstützen wir die Hochschulen bei der Digitalisierungswelle im Zusammenhang mit Corona? Und wie kommen wir zu einer noch stärkeren europäischen Zusammenarbeit bei der Hochschullehre? Das sind auch für uns wichtige Prioritäten. Die Digitalisierung und Europäisierung unserer Hochschulen sind dringend notwendig, um unsere Innovationskraft zu sichern.
({0})
Wir müssen zweifelsohne die digitale Infrastruktur der Hochschulen stärken, und auch Forschung und Lehre dürfen natürlich nicht an Landesgrenzen haltmachen. Auch die aktuellen Nobelpreise, die vor allem auch auf internationaler Zusammenarbeit beruhen, haben das übrigens noch mal gezeigt. Das müssen wir stärken. Herzlichen Glückwunsch auch von dieser Stelle noch mal!
({1})
Der konkrete Vorschlag der europäischen Digitaluniversität ist insofern irgendwie charmant, aber aus unserer Sicht dann doch eher ein Umweg zum Ziel, weil er den Aufbau unnötiger zusätzlicher Strukturen vorsieht und auch einige Fehlkonstruktionen aufweist, die zum Teil auch schon benannt worden sind. Wir sagen: Digitalisierung und Europäisierung unserer Hochschulen bitte sofort und nicht erst nach dem Aufbau einer so aufwendigen Struktur!
({2})
Zur Digitalisierung vor allem noch ein wichtiger Punkt: Wir befinden uns ja nun gerade noch mitten in der Coronapandemie, und da würde es den Hochschulen mehr helfen, über die Situation bei uns und darüber zu sprechen, wie wir sie aktuell unterstützen können, als über eine europäische digitale Infrastruktur, die im Moment eben noch überhaupt nicht vorhanden ist. Wir haben die Schnittstellenfragen etc. geklärt. Punkt ist doch, dass der Bund die Hochschulen in dieser Coronapandemie, was die Digitalisierung angeht, total alleingelassen hat. Die Hochschulen hätten Unterstützung vom Bund gebraucht, um das jetzige Digitalsemester und die folgenden hinzukriegen. Das ist nicht passiert. Wir sagen: Bitte endlich die Digitalisierungspauschale der Expertenkommission Forschung und Innovation aufgreifen! Das ist, was die Hochschulen jetzt brauchen.
({3})
Zur Europäisierung. Ich habe schon gesagt, dass wir eine Europäisierung natürlich unterstützen. Aber auch da ist natürlich fatal, dass der Bereich Forschung und Innovation angesichts der aktuellen Krise auf europäischer Ebene eben nicht gestärkt wird, sondern gerade schrumpft. Auch da frage ich mich: Wo bleibt denn der Aufschrei unserer Forschungsministerin? Wo bleibt die Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft für eine Erhöhung der Mittel für Horizon Europe, für Erasmus+ und für all die anderen Programme? Sie bleibt aus. Sie geben sich damit zufrieden, dass die Programme jetzt mit gekürztem Budget starten. Das ist deutlich zu wenig. Wir brauchen mehr Geld für Forschung und Innovation auf europäischer Ebene und nicht weniger.
({4})
Insofern haben wir Einigkeit, was die Themen angeht: Digitalisierung und Europäisierung sind im Hochschulbereich für uns zentrale Themen. Da freue ich mich auf die Debatte. Bei der Umsetzung zeigen sich, was Ihr Modell angeht, doch einige Differenzen. Nichtsdestotrotz erwarten auch wir sehr viel mehr Initiative der Bundesregierung in diesen Bereichen.
({5})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Ronja Kemmer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie der Großteil dieses Hauses stehe ich hier vorne als überzeugte Europäerin. Mich haben in meinem Studium maßgeblich zwei Auslandsaufenthalte an europäischen Universitäten in Schweden und Italien geprägt, und ich bin dankbar dafür, Teil der Generation Erasmus zu sein. Das waren fachlich, aber auch ganz persönlich Erfahrungen, die gut waren, die lehrreich waren und wahrscheinlich sogar die besten bis dato. So wie mir ging es ganz vielen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die im Ausland waren. Deswegen bin ich auch überzeugt davon. Und natürlich: Für den Grundgedanken, dass die Generation Erasmus den europäischen Gedanken stärkt, weiterträgt, auch in die Nationalstaaten zurückträgt, dass hier gerade gegen Spaltung in Europa gewirkt wird, können wir gar nicht genug tun, gerade in Zeiten von erstarktem Populismus. Deswegen ist es auch richtig, dafür einzutreten.
({0})
Deswegen kann ich, liebe FDP, den Grundgedanken des Antrags wirklich gut nachvollziehen. Das Anliegen, dass möglichst viele junge Europäer den Zugang zu einem hochwertigen Austausch von guter Hochschulbildung bekommen sollen, ist richtig. Und es ist auch richtig, digitale Formate zu stärken. Doch so schön die Idee eben auf den ersten Blick klingt, hat sie doch viele Fehler – ganz wesentliche Punkte wurden hier auch schon genannt –: zum einen, dass viele der Maßnahmen bereits im Rahmen bestehender Initiativen angegangen werden bzw. bereits umgesetzt sind, zum anderen natürlich, dass die EU mit Blick auf die Finanzierung klare Prioritäten setzen muss.
Insofern muss man einmal festhalten: Die Verzahnung der Hochschulen in einem europäischen Netzwerk hat schon längst begonnen. Die gab es schon vor 2017. Die gab es aber jetzt auch noch einmal verstärkt und anders, als Sie es in Ihrem Antrag behaupten. Nach den Forderungen von Macron in seiner Rede 2017 hat die EU entsprechend reagiert. Seit 2019 werden jetzt zusätzlich insgesamt 114 Hochschulen in 17 Netzwerken gefördert, und 24 Mitgliedstaaten sind dabei, plus Norwegen. In Deutschland – der Kollege Steier hat es bereits erwähnt – beteiligen sich zahlreiche Hochschulen in insgesamt 14 Netzwerken.
In diesen Netzwerken werden schon innovative, standortübergreifende Konzepte entwickelt. Es werden natürlich auch digitale Lernformate entwickelt. Und es werden neue Studiengänge aufgesetzt, Lehrinhalte abgestimmt. Es wird auch dafür gesorgt, dass Studienleistungen insgesamt besser anerkannt werden. Seit Ende September gibt es den Vorschlag der Kommission für einen Aktionsplan für digitale Bildung zur Stärkung eines europäischen Bildungsraums. Auch darin finden sich zahlreiche Ideen, die Sie sich bei Gelegenheit vielleicht einmal näher anschauen sollten.
Da ist zunächst die Idee von Erasmus-Akademien für Dozenten, dann die einer „EU Student eCard“ – dass während eines Auslandssemesters besser auf Onlinedienste der Gastuni zugegriffen werden kann – und dann – ganz zentral, glaube ich – die der Schaffung von noch mehr und besser europäisch verzahnten Abschlüssen; auch da hat der Aktionsplan entsprechende Schwerpunkte.
Auch die Bundesregierung hat diesem Thema jetzt hohe Priorität gegeben und sich gemeinsam mit Portugal und Slowenien im Rahmen der Triopräsidentschaft das Ziel gesetzt, das Thema Forschung neu auszurichten. Deswegen stimmt es eben nicht, dass, wie Sie schreiben, die Regierung hier nicht aktiv wäre, sondern man muss, glaube ich, auch klar sehen: Dieses Thema steht ganz oben auf der Tagesordnung; das darf man in so einer Debatte auch einmal hervorheben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Der zweite Punkt, der auch angesprochen wurde: Sie wollen das Ganze auf Kosten von Erasmus+ finanzieren. Ich glaube, wenn wir uns im Kern einig sind, dass wir die digitalen Formate nach Corona natürlich nicht nur halten, sondern sie weiter ausbauen wollen und müssen, so kann das doch nicht zulasten der persönlichen Begegnung gehen. Die persönliche Begegnung vor Ort, der Spracherwerb vor Ort, die Tatsache, dass aus Kommilitonen am Ende internationale Freunde werden – die erwähnten Erasmus-Babys entstehen auch nicht digital –: Von daher muss ich Ihnen an der Stelle leider sagen, Ihr Antrag ist einfach nicht zu Ende gedacht. Die Bundesregierung hat das Thema Erasmus+ im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch ganz oben auf der Tagesordnung.
Deswegen gilt abschließend: Im Ziel sind wir uns einig – aber bitte mit fokussierten Maßnahmen statt mit Gründungsaktionismus oder Luftschlössern. Deswegen werden wir den Antrag ablehnen.
({1})
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, als ich Ihren Antrag las, musste ich an selige sozialliberale Zeiten denken
({0})
und an einen Peter Glotz, der das mit begleitet hat und unter anderem damals sagte, Bildung der Zukunft würde humanistisch, nachhaltig und europäisch sein. Und er würde sicherlich jetzt sagen: auch analog und digital in einer hybriden Form. Aber was er nicht sagen würde, ist, dass Bildung der Zukunft nicht mehr die Einheit von Forschung und Lehre im Blick hätte. – Leider haben Sie diesen Blick verloren.
({1})
Er würde nicht sagen: entweder Studieren oder zusammen Lernen, sondern er würde ein Plädoyer für die Campusuniversität halten.
({2})
Was er nicht machen würde, ist, Erasmus real zu einem Erasmus virtuell verkommen zu lassen.
({3})
Das ist doch die Qualität von Erasmus: die Begegnung, das Erspüren von anderen Kulturen und anderen Sprachen – 80 haben wir in Europa – etc. Das vernachlässigen Sie, weil Sie sehr flach werden in dem, was Sie hier vorschlagen im Sinne einer allgemeinen digitalen Universität.
({4})
Selbst wenn ich Herrn Jongen nicht viel beispringen kann, eines nehme ich ihm wirklich übel: Die Volkshochschulen sind eine respektable Institution; das muss ich sagen dürfen.
({5})
Wir sollten sie auch nicht abwerten gegenüber anderen Institutionen. Ich glaube, Sie haben es nicht so gemeint; aber das musste ich hier sagen.
Aber was wichtig ist in Bezug auf den FDP-Antrag, ist – noch einmal –:
Das Erste. Wenn man sich so weit vorwagt, dann muss es auch sauber durchbuchstabiert sein. Soll es eine Weiterbildungsstätte akademischer Art werden, oder soll es eine reale Hochschule werden, wo man seinen Master machen kann? Das ist zweierlei, das sind ganz verschiedene Dinge.
Das Zweite. Wenn es ein Master sein soll, auf welcher Rechtsgrundlage soll der eigentlich bestehen? Was soll denn das europäische Konstrukt sein, welches bei einer europäischen Hochschule einen Master mit vergibt und das gleich für alle beteiligten Länder?
Das Dritte. Sie sagen – nur um eine Kleinigkeit zu nennen –, es soll Studiengebühren geben, die nachgelagert durch entsprechende Einkommen refinanziert werden sollen. Gleichzeitig wollen Sie noch Stipendien ausgeben. Wie soll ich nachgelagerte Studiengebühren mit Stipendien in einen geistigen Zusammenhang bringen?
({6})
Das Vierte, was einem auffällt, ist, dass Sie in Bezug auf die Umsetzung die europäische Rechtslage tatsächlich ausblenden. Ich habe mir heute extra noch aus der Bibliothek ein wunderschönes dickes Buch kommen lassen, „Staat und Hochschule im Gewährleistungsstaat“ von einem Herrn Krausnick, der sagt: §§ 165, 166 des AEUV-Vertrages – Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – lassen es gar nicht zu, dass die Europäische Union Träger einer Hochschuleinrichtung wird in Bezug auf Lehre und anderes.
({7})
Wollen Sie erst noch die Verfassung ändern? Haben Sie das für sich mal durchbuchstabiert? Denn Sie haben dazu ja schon 2018 eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Bundesregierung war so fein, darauf überhaupt nicht einzugehen, was die europäische Universität angeht. Aber Sie hätten ja selber auch einmal weiter graben können, statt das hier einfach so zu erklären.
({8})
Deshalb geben wir eine Empfehlung. Frau Kemmer, Sie haben schon angesprochen, was jetzt die reale Agenda der Europäischen Kommission ist. Sie haben die 25 Erasmus-Akademien für die Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung angesprochen. Wir treten zusammen dafür ein, dass die Hochschulnetzwerke, von denen es eine deutlich größere Zahl gibt – nämlich, wie ich gelesen habe, 41 Allianzen, an denen 280 Hochschulen in Europa beteiligt sind, 35 in Deutschland –, auskömmlich finanziert werden; denn die kriegen bisher nur ein klein wenig Schwarzbrot: 400 000 Euro, 500 000 Euro, auf drei Jahre bezogen. Sie bräuchten deutlich mehr und auch mehr aus Erasmus-Mitteln.
Sie müssen zum Schluss kommen.
Die Europäische Kommission hat in der Erklärung weiter gesagt, dass sie einen Rahmen für Berufsabschlüsse finden und den Rechtsstatus von Hochschulallianzen prüfen möchte. Nicht einmal der Rechtsstatus von Hochschulallianzen ist bisher sauber definiert. Und da wollen Sie uns schon ein Wolkenkuckucksheim in Form einer europäischen virtuellen Universität in den Himmel hängen. Nein! Erst einmal das Schwarzbrot mit ein bisschen Butter drauf und dann das Nächste.
Vielen Dank.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Relativ komplizierter Titel und noch kompliziertere Unterüberschriften: DBA – Doppelbesteuerungsabkommen. Was ist das eigentlich? Da geht es eigentlich um faire Verabredungen. Ich nenne ein Beispiel: Jemand wohnt in Deutschland und arbeitet in Frankreich. Jetzt wird natürlich der deutsche Fiskus sagen: Du wohnst in Deutschland, wir wollen dein Einkommen besteuern. Und der französische Fiskus wird vielleicht sagen: Du arbeitest in Frankreich, auch wir wollen dein Einkommen besteuern. – Im Ergebnis wird das Einkommen dieser Person in Frankreich und Deutschland besteuert. Das nennen wir eine Doppelbesteuerung, und das soll nicht sein, weil es unfair ist. Es soll nur einmal besteuert werden, entweder in Deutschland oder in Frankreich. Oder man teilt die Besteuerungsrechte fair auf. Darum geht es bei Doppelbesteuerungsabkommen.
Jetzt gibt es natürlich auch Leute, die sagen: Ich wohne in Deutschland, arbeite aber in Frankreich, und weil ich in Frankreich arbeite, muss ich in Deutschland keine Steuern zahlen. – Der Gleiche könnte aber sagen: Ich arbeite zwar in Frankreich, wohne aber in Deutschland, also muss ich in Frankreich keine Steuern zahlen. – Dann bräuchte er in beiden Ländern keine Steuern zu zahlen. Das würden wir die doppelte Nichtbesteuerung nennen. Auch das soll vermieden werden. Es soll gerecht und fair zugehen.
Heute kümmern wir uns um alle mehr als 90 Doppelbesteuerungsabkommen mit vielen Ländern in der Welt, die wir simultan in eine Richtung entwickeln wollen, um eben die doppelte Nichtbesteuerung, aber auch die doppelte Besteuerung zu vermeiden. Da folgen wir den Empfehlungen unseres großen Anti-BEPS-Projekts, in dem es darum geht, Steuergestaltung, Steuerhinterziehung, Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung zu vermeiden.
Um dieses multilaterale Instrument, mit dem wir gleichzeitig alle über 90 Doppelbesteuerungsabkommen anpacken, geht es heute. Und ich muss sagen: Wir haben eine sehr interessante Debatte gehabt. Übrigens ist es eine ganz seltene Sache, dass das Gesetz so als Entwurf in den Bundestag kam, wie wir es heute auch beschließen. Fritz Güntzler hat im Ausschuss gesagt: Das Struck’sche Gesetz ist hier sozusagen außer Kraft gesetzt.
Aber wir hören trotzdem Kritik. Es heißt zum Beispiel: Das ist ein toller Ansatz, dass man alle Doppelbesteuerungsabkommen überschreiben will, aber jetzt überschreibt ihr doch nur 14 von über 90 Doppelbesteuerungsabkommen. – Das ist ein kleiner Nachteil, das stimmt. Man kann aber auch sagen: Es ist das zweistufige Verfahren: Erst machen wir einen völkerrechtlichen Vertrag, und dann wird es noch Anwendungsgesetze geben, die im Grunde im alten Verfahren bilateral abgewickelt werden. Das ist jedoch langsam, man verfehlt die Beschleunigung. Und dann kann man noch kritisieren: In dem multilateralen Instrument sind ganz viele Artikel, die viele Einzelheiten regeln, und auch davon übernehmen wir nicht alle, genau genommen nur acht von 39.
Nun hört sich das alles dramatisch an. Ich finde die Kritik trotzdem falsch, weil unser Ziel gleichwohl ist, die BEPS-Empfehlungen gegen Abkommensmissbrauch umzusetzen, und wenn das unser Ziel ist, dann brauchen wir auch einzelne Verabredungen. Für die simultane Anwendung aller Artikel des multilateralen Instruments müssen die einzelnen Artikel komplett übernommen werden. Aber man muss sagen: Aufgrund der DBAs besteht keine ausreichende Flexibilität, und deshalb ergibt sich diese Zweistufigkeit. Es wäre noch nicht mal möglich, durch eine Protokollerklärung diesen Mangel der mangelnden Flexibilität zu heilen.
Deshalb ist klar: Das MLI passt nicht für alle DBAs, nicht für alle Vertragspartner. Gleichwohl, die Diktion des MLI, die Idee des MLI machen wir uns zu eigen; das ist unsere Orientierung, unsere Richtschnur. Sie legen wir auch über alle Regelungen; aber wir modifizieren sie so, dass eine Anpassung unserer DBAs möglich ist. Und so kombinieren wir unser Vertragsnetzwerk mit den Zielsetzungen des MLI.
Die bilateralen Vereinbarungen werden in der zweiten Stufe bei den Anwendungsgesetzen definiert. Das ist eine sehr gute Sache, weil wir dadurch auf die Spezialbelange Deutschlands und die Spezialbelange all derer Rücksicht nehmen können, mit denen wir Verträge machen; denn mit denjenigen, mit denen wir Verträge machen, ist ja genau verabredet, dass wir das MLI nicht automatisch anwenden.
Und vielleicht, um noch kurz anzudeuten, wie komplex ein solches System ist: Wir nehmen mal an, ich habe eine deutsche Gesellschaft, die Anteile an einer französischen Gesellschaft hält. Nun verkauft die deutsche Gesellschaft Anteile der französischen Gesellschaft. Dann ist klar: Deutschland hat das Besteuerungsrecht, weil es aus dem Verkauf Gewinne in Deutschland gibt. Das ist eigentlich gar kein Problem.
Jetzt setzen wir mit dem MLI aber Dinge in Kraft – das ist eins deiner Lieblingsthemen oder deiner Beschwernisse gewesen –, nämlich in Artikel 13 Absatz 4 des OECD-Musterabkommens – das ist ganz wichtig, das muss sich jeder merken –, und plötzlich verschiebt sich das Besteuerungsrecht von Deutschland nach Frankreich, ohne dass überhaupt irgendjemand etwas gemacht hat bei den Unternehmen. Wenn sich eine solche Besteuerungsberechtigung verschiebt, dann nennen wir das eine Entstrickung. Das heißt, das Besteuerungsgut verlässt den deutschen Rechtsraum, geht nach Frankreich. Der deutsche Fiskus weiß nichts mehr davon. Allerdings müsste er dann, wenn jetzt plötzlich das Objekt in Frankreich ist, die an der Grenze entstehenden fiktiven stillen Reserven heben und versteuern. – Es hat aber gar keiner etwas gemacht.
Um diese Effekte zu vermeiden, dass man, ohne dass ein Mensch irgendetwas macht, nur durch Übernahme dieses MLI in unser deutsches Recht plötzlich zu einer Besteuerung herangezogen wird, nutzen wir ein Zauberwort: Diese Steuerpflichten werden gestundet, in unterschiedlicher Form. Daran merkt man schon, dass wir uns sehr detailliert damit auseinandersetzen, wie wir die zweite Stufe umsetzen, gleichwohl mit dem Ziel: keine doppelte Besteuerung und keine doppelte Nichtbesteuerung. Das ist Fairness im internationalen Vertragswesen. Deshalb ist das ein sehr gutes Gesetz, und ich bedanke mich bei allen, die hier zustimmen.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Albrecht Glaser.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das in Rede stehende Übereinkommen wurde im November 2016 von 100 Staaten verabschiedet und anschließend im Juni 2017 von Deutschland und 67 anderen Staaten unterzeichnet. Es umfasst wichtige Punkte eines Aktionsplanes der OECD und der G-20-Staaten, um Gewinnverlagerungen aus steuerlichen Gründen zwischen Staaten möglichst zu verhindern.
Was soll nun durch dieses Übereinkommen erreicht werden? Erklärtes Ziel ist die Verhinderung einer gezielten Ausnutzung der bestehenden abkommensrechtlichen Regelungen durch multinationale Konzerne. Wurde dieses Ziel erreicht? Leider nein. Warum bleibt aber das Übereinkommen, das immerhin rund 80 Seiten umfasst, trotz aller Lobpreisungen des Finanzministers wirkungslos?
Erstens. Durch das Übereinkommen nimmt die Komplexität des internationalen Steuerrechts zu und die Rechtssicherheit in erheblichem Umfang ab – ein Umstand, der von Sachverständigen deutlich bestätigt worden ist. Darüber hinaus ist die Streitbeilegung nur sehr unzureichend geregelt, was insbesondere für deutsche Unternehmen außerordentlich kompliziert und unbefriedigend ist.
Zweitens. Das Abkommen sollte dazu führen, dass die zahlreichen Doppelbesteuerungsabkommen – immerhin rund 100 Stück allein für Deutschland – in kürzerer Zeit im Rahmen eines Vertragsnetzwerks effizient angepasst werden können. Leider auch hier kein Erfolg: Seit drei Jahren warten wir auf die Umsetzung. Übriggeblieben sind lediglich 14 Vertragsstaaten, die durch das Übereinkommen erfasst werden. Mit allen anderen Staaten muss wie bisher bilateral verhandelt werden.
Ein Grund für diese magere Ausbeute ist die Tatsache, dass nur diejenigen Vertragsstaaten unter das Abkommen fallen, die auch ihrerseits Deutschland als Vertragsstaat auswählen. Noch dürftiger wird das Ergebnis, wenn man bedenkt, dass jeder Vertragsstaat die identischen Klauseln des Staates anerkennen muss, der mit ihm kontrahiert.
Drittens und am wichtigsten: Das Übereinkommen geht am Kern des Problems vorbei; denn es gibt Staaten, die zur Steigerung ihrer wirtschaftlichen Attraktivität besondere Anreize steuerlicher Natur offerieren, damit sich dort Unternehmen ansiedeln, häufig in Form sogenannter Patentboxen. Damit können große Unternehmen, beispielsweise auch US-amerikanische Konzerne, ihre Steuerlast minimieren. Das alles passiert intensiv – auch und gerade innerhalb der EU. Hier werden zum Teil abenteuerlich niedrige Steuersätze offeriert, die den medial aufgebauschten Äußerungen zur europäischen Einigkeit und Solidarität Hohn sprechen. Frankreich bietet für Patentbox-Unternehmen einen Steuersatz von 10 Prozent, Spanien von 8, Niederlande von 7, Irland von 6 und Belgien von 4 Prozent. Und wie verhält sich Deutschland dazu? Bei uns gibt es diese Lösung gar nicht. Es geht dabei immerhin um forschungsintensive Unternehmen. Wir haben überhaupt keine vergleichbare Landschaft.
Aber auch verbindliche Vereinbarungen mit den lokalen Steuerbehörden, sogenannte Steuerrulings, die hier überhaupt nicht vorkommen, sind ein Problem. Wie in Irland: Dort hat Apple, wie Sie alle wissen, durch ein Steuerruling 0,005 Prozent Steuern auf den Gewinn bezahlt und damit gegenüber dem regulären Steuersatz insgesamt 13 Milliarden Euro Steuern eingespart. Schon seit Jahren sind diese Probleme innerhalb der EU bekannt; eine Lösung ist nicht in Sicht.
Wir kommen also zu dem Schluss, dass viel Aufhebens um Maßnahmen gemacht wird, die die Rechtsunsicherheit und die Komplexität fördern, während naheliegende und innerhalb der EU lösbare Probleme überhaupt nicht angegangen werden. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden wir bei allem Anerkennen der guten Absicht, aber angesichts der schlechten Durchsetzung uns der Stimme enthalten.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Fritz Güntzler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der steuerrechtlichen Vorlesung meines hochgeschätzten Kollegen Lothar Binding kann ich es etwas kürzer machen und muss nicht mehr auf alle Inhalte eingehen; er hat die wesentlichen Punkte benannt.
Es ist ein sehr technisches Gesetz. Das merkt man auch so ein bisschen, wenn man hier in die Gesichter schauen darf; der Spannungsbogen steigt. Aber es ist ein wichtiges Gesetz, weil es ein Teil des BEPS-Projektes ist. Das ist das Projekt auf OECD-Ebene gegen aggressive Steuergestaltung und Gewinnverschiebung, das der damalige Minister Wolfgang Schäuble auf den Weg gebracht hat. Dieses Projekt enthält 15 sogenannte Aktionspunkte, und einer ist eben die Verabschiedung eines solchen MLIs, eines Multilateralen Instrumentes.
Das Ganze ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Mittlerweile haben von den 94 Staaten, die ihn unterzeichnet haben, 47 ihn ratifiziert. Wir haben dadurch die Möglichkeit geschaffen, lange bilaterale Verhandlungen bezüglich der Doppelbesteuerungsabkommen zu vermeiden.
Deutschland hatte zunächst vor, dieses Instrument 35‑mal zu nutzen. Es sind 14 Fälle übergeblieben. Das verwundert zunächst; Kollege Binding hat schon darauf hingewiesen. Aber in den anderen Fällen ist man zu guten bilateralen Verträgen gekommen, weil man dieses MLI als Diskussionsgrundlage hatte, sodass eben auch die Verhandlungen beim Doppelbesteuerungsabkommen schneller gingen.
Weltweit gibt es insgesamt 3 000 Doppelbesteuerungsabkommen. Man geht davon aus, dass durch das MLI ungefähr die Hälfte geändert wird. Die Unterzeichnung erfolgte bereits im Juni 2017; zum 1. Juli 2018 ist es in Kraft getreten. Da haben wir uns ein bisschen Zeit gelassen; aber wir machen das ja alles sehr genau: Sorgfalt vor Eile. Von daher kommt dieser Prozess heute zu einem gewissen Ende. Wir haben hier ein zweistufiges Verfahren.
Nach dem Umsetzungsgesetz, das wir heute beschließen werden, wird es eine Modifizierung durch sogenannte Anwendungsgesetze geben. In diesem Umsetzungsgesetz hat Deutschland die Mindeststandards selbstverständlich umgesetzt, aber auch Auswahlentscheidungen getroffen und entsprechende Erklärungen abgegeben. Es hat also die Optionen genutzt. Es geht um hybride Gestaltungen, Abkommensmissbrauch, die Betriebsstättendefinition sowie die Verbesserung bei der Streitbeilegung und den Schiedsverfahren. Das alles ist insgesamt ein weiterer guter Schritt gegen aggressive Steuerplanung und Gewinnverschiebung.
Uns waren zwei Dinge wichtig, die sich aus der Anhörung ergeben haben, die ansonsten sehr freundlich verlaufen ist. Es ist ja nicht immer so, dass die Gesetze die Zustimmung aller Sachverständigen finden; in diesem Fall war das so.
({0})
Ein Punkt war die Frage, ob die Auswahlentscheidungen, die durch die Bundesrepublik Deutschland jetzt getroffen worden sind, geändert werden können, ohne dass das Parlament beteiligt wird. Es ist klargestellt worden, dass es den Parlamentsvorbehalt gibt, sodass wir weiterhin eingebunden sein sollten, wenn die Bundesrepublik Deutschland zu einer anderen Auffassung gelangen sollte.
Zweiter Punkt – nicht ganz unwichtig –, das sind die Grundstücksgesellschaften, die der Kollege Binding schon angesprochen hat. Hier besteht die Gefahr, dass alleine durch dieses Anwendungsgesetz, welches dann zum Tragen kommt, eine sogenannte passive Entstrickung entsteht, dass also stille Reserven aufgedeckt und in Deutschland versteuert werden müssen, obwohl es keinen Liquiditätszufluss gibt, weil gar keine Veräußerung getätigt wurde. Dort haben wir die Zusage der Bundesregierung, bei den Anwendungsgesetzen Stundungsregelungen vorzusehen, um das zu verhindern. Wir haben das auch in den Ausschussbericht aufgenommen. Wir erwarten, dass das dann eingehalten wird.
Wir freuen uns, nachdem das Umsetzungsgesetz heute beschlossen ist, auf die Anwendungsgesetze, und die werden wir dann auch weiter debattieren. Ich freue mich auf die Diskussion zu diesen Gesetzen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Katja Hessel für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Güntzler hat es schon gesagt: Es ist ein sehr technisches Gesetz. Es ist ein Gesetz mit einem zweistufigen Verfahren. Wir haben jetzt noch nicht das Anwendungsgesetz, sondern wir haben die grundlegende Entscheidung.
Da ist zum einen Freude, weil das BEPS-Projekt ein Stück weiterkommt, weil es wichtig ist, Maßnahmen gegen eine Gewinnverlagerung und für eine gleichmäßige Besteuerung zu finden. Aber andererseits ist natürlich schon viel Wasser in den Wein gegossen worden. Wir brauchen vier Jahre, um allein die Grundlage zu ratifizieren. Wir brauchen noch länger, um dann das Anwendungsverfahren zu haben.
Der Bürokratieabbau, der damit verbunden wäre, wenn alle DBA-Verfahren auf einmal geändert werden könnten, und der eigentlich ein Grund zur Freude wäre, ist auch nicht so richtig groß. Denn – auch das ist heute schon gesagt worden –: Von den 96 Abkommen, die die Bundesrepublik Deutschland getroffen hat, sollten 35 unter das MLI gestellt werden; 14 bleiben übrig. Dementsprechend ist der Bürokratieabbau und der Erfolg, der damit erreicht wird, durchaus übersichtlich.
({0})
Ich hätte mir schon gewünscht, dass das Bundesfinanzministerium oder die Bundesrepublik Deutschland ein wenig mehr Ehrgeiz an den Tag gelegt hätte, was die Verhandlungsgeschicke angeht. Alle anderen werden geändert, aber natürlich im Einzelvertragsverfahren. Das heißt: Der Effekt ist gar nicht so groß, wie man ihn gebraucht hätte.
Dazu gibt es noch das eine oder andere Problem, das wir sehen, zum Beispiel bei den Schiedsgerichtsverfahren und der Rechtssicherheit, die die Unternehmen brauchen, die international tätig sein wollen. Das BEPS-Projekt ist ein gutes Projekt. Aber wir brauchen für die Unternehmen die Rechtssicherheit, was die Schiedsgerichtsverfahren, aber auch die einheitliche Rechtsanwendung angeht. Wenn jetzt wieder alle DBA-Verfahren einzeln geändert werden, ist diese Rechtssicherheit einfach nicht gegeben. Auch hier hätte mehr Ehrgeiz gutgetan.
({1})
Wichtige Sachen sind geklärt worden. Es ist heute wirklich ein sehr technisches Gesetz. Wir haben wenigstens den Parlamentsvorbehalt; das ist auch geklärt. Wir warten auf die Anwendungsgesetze. Es ist auch wichtig, dass das Parlament an Änderungen beteiligt wird. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir die Intention gut finden, dass man einmal versucht, mit einem multilateralen Verfahren viele Einzelverfahren abzuändern und eine Grundlage zu haben.
Wir wünschen uns für die nächsten multilateralen Verfahren und für die BEPS-Projekte, die dann umgesetzt werden, mehr Ehrgeiz von der Bundesregierung, damit wir nicht mit einem großen Rahmen anfangen, den wir immer weiter zusammenschrumpfen lassen, und zum Schluss 14 DBAs übrig bleiben, für die dann auch noch unterschiedliche Regelungen angewandt werden. Vielleicht geht es das nächste Mal ein Stück weit besser und vor allem schneller.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn die sogenannte unsichtbare Hand des Marktes machen kann, was sie will, dann versteckt sie für internationale Konzerne deren Gewinne, verschiebt sie von einem Land ins andere, nur damit diese nicht wie normale Leute Steuern bezahlen müssen.
Nun haben sich die Regierungen von 100 Ländern abgesprochen, die das nicht mehr länger erlauben wollen. Sie wollen künftig eine gemeinsame Linie verfolgen, was Besteuerung betrifft, um diesen Diebstahl – anders kann man es nicht nennen – zu verhindern. Ja, dafür braucht es die fühlbare und starke Hand des Staates.
({0})
Das Abkommen, über das wir gleich entscheiden werden, versucht das. Das ist überfällig, das ist gut, und dazu kann man nicht Nein sagen, und das werden wir auch nicht.
({1})
Aber das war es auch schon mit dem Lob. Ich habe drei Kritikpunkte:
Erstens. Was Sie uns hier vorlegen, kommt viel zu spät. 2017 wurde unterschrieben. Über die Hälfte der Länder hat das Abkommen bereits ratifiziert und setzt es um. Jetzt kommt endlich auch Deutschland. Ich habe im Ausschuss gefragt: Warum hat es so lange gedauert? Da wurde gesagt, das sei halt so kompliziert.
Zweiter Kritikpunkt. Was Sie uns hier vorlegen, ist viel zu wenig. Nur 14 von 100 Ländern, mit denen Sie sich geeinigt haben. So wird das nichts mit der starken Hand; das ist eher ein weiches Pfötchen.
({2})
Drittens. Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der leider viel zu wenig eine Rolle spielt. Internationale Zusammenarbeit, die Allianz der Multilateralisten, Globalisierung, alles das ist offenbar für die Bundesregierung nur so lange wichtig, wie es der deutschen Exportwirtschaft nützt. Der Sachverständige Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit – Herr Güntzler, es gab auch Kritik in der Anhörung
({3})
– hat das in der Anhörung wie folgt übersetzt: „… wenn ein Entwicklungsland zu uns kommt und mehr Besteuerungsrechte haben möchte, dann kriegen sie die nicht, denn sie haben nicht die nötigen Druckmittel.“ Das ist Egoismus, und so wird das international auch bewertet.
({4})
Vor wenigen Tagen hat die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, UNCTAD, ihren diesjährigen Bericht zur wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika veröffentlicht: Durch grenzüberschreitende Finanzflüsse gehen den Ländern des Kontinents 90 Milliarden US-Dollar verloren. Das ist fast genauso viel wie die Summe aller ausländischen Investitionen und der gesamten offiziellen Entwicklungshilfe. Auch Deutschland stiehlt hier Steuereinnahmen, und das hat tödliche Konsequenzen. In Sierra Leone beispielsweise, einem der Länder mit der höchsten Kindersterblichkeit, könnten wir, wenn wir diesem Land genug Steuern lassen würden, jedes Jahr 2 322 Kindern das Leben retten. Diese „Finanzströme berauben Afrika und seine Menschen ihrer Perspektiven“, hat UNCTAD-Generalsekretär Mukhisa Kituyi gesagt. Und die deutsche Steuerpolitik trägt massiv dazu bei, nur um die deutsche Exportwirtschaft zu unterstützen – das kann nicht unsere Zustimmung finden.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Uwe Kekeritz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: BEPS ist eine gute Idee, die wir natürlich unterstützen. Auch der vorliegende Gesetzentwurf enthält durchaus Positives. Und damit fasse ich mich noch kürzer als Herr Liebich; denn das war es eigentlich auch schon mit dem Lob.
Der Gesetzentwurf kommt zu spät – das ist schon mehrfach gesagt worden –, aber vor allem schafft er es nicht, die dringend nötige multilaterale einheitliche Lösung voranzubringen. Im Gegenteil, ich glaube, er blockiert eher. Das Übereinkommen gilt gerade einmal – wir haben es oft genug gehört – für 14 Abkommen.
Mich macht es auch stutzig, wenn Experten in der Anhörung die Meinung vertreten, dass der Gesetzentwurf technische Defizite habe, insbesondere mit Blick auf die mehrstufigen Verweisketten, die darüber hinaus nicht immer präzise formuliert seien; das Gleiche gelte auch für verschiedene Sprachfassungen und die daraus resultierenden Unschärfen.
Unschärfen? Das ist das Signal an unsere Finanzämter. Die wissen nämlich dann ganz genau: Hier wird es so manchen Kampf mit den Steuerexperten der Großkonzerne geben. Und die Erfahrung der Finanzämter ist eben auch einfach die, dass sie meistens verlieren werden.
Als Entwicklungspolitiker interessieren mich insbesondere 42 Doppelbesteuerungsabkommen mit den sogenannten Entwicklungsländern. Für diese ist der OECD-Ansatz der Versuch, eine Zeitenwende einzuläuten. Wir begrüßen das. Das hat aber nichts mit dem jetzigen Gesetzentwurf zu tun. Bei den Entwicklungsländern geht es nicht um die Frage der Doppelbesteuerung von Unternehmen, sondern – genau umgekehrt – es geht um die Frage, die doppelte Nichtbesteuerung zu beenden, die zur massiven illegitimen Steuervermeidung führt.
({0})
Das schädigt erheblich die Entwicklungsländer, reduziert ihr Entwicklungspotenzial und fördert die Korruption. Und genau das könnten wir angehen.
Es gibt viele Problemfelder steuerrechtlicher Art durch die Doppelbesteuerungsabkommen. Eines davon ist die restriktive Definition des Begriffs „Betriebsstätte“ mit der Konsequenz, dass sie die Besteuerungsrechte der Länder unnötig und unfair einschnürt. Die Verträge müssen ermöglichen, dass Wertschöpfung dort besteuert wird, wo sie entstanden ist.
({1})
Nur das führt zu einer gerechten und fairen globalen Besteuerung der Unternehmen und zu gesicherten Einnahmen der Länder.
Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass von Deutschland abgeschlossene entwicklungsschädliche Besteuerungsabkommen mit den Ländern des Globalen Südens ersetzt und wirklich erneuert werden. Das wird die Aufgabe von BEPS 2.0 sein. Die doppelte Nichtbesteuerung muss endlich beendet werden. Die Länder müssen das Recht haben, selbst zu entscheiden, wo sie ihre Steuern ansetzen, auch an der Quelle. Und: Wir brauchen eine Betriebsstättendefinition, die nicht den Konzernen dieser Welt dient, sondern den Menschen vor Ort.
({2})
Vor allem aber gilt auch, dass es keine geheimen Schiedsgerichtsverfahren in zukünftigen Regelungen mehr geben darf. Das ist ganz besonders wichtig für Entwicklungsländer. Davon hätte man schon einiges in BEPS 1.0 einfließen lassen können. Deswegen ist es notwendig, dass BEPS 2.0 möglichst schnell folgt. Wir müssen zeigen, dass wir die Entwicklungsländer und damit auch die Agenda 2030 ernst nehmen. Das tun wir nämlich momentan noch nicht.
Kollege Kekeritz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun Dr. h. c. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg hin zu einer fairen Besteuerung von Unternehmen. Es wird als Vorläufer dazu beitragen, der aggressiven Steuergestaltung etlicher transnationaler Konzerne einen Riegel vorzuschieben.
Google, Amazon, Apple, Microsoft und viele andere Konzerne haben über Jahre hinweg ihre Steuerzahlungen zum Wohle der eigenen Bilanz kleingerechnet. Sie haben sich damit gegenüber anderen Marktteilnehmern, vor allem gegenüber kleinen und mittelständischen Firmen, einen unfairen Vorteil gesichert. Meine Damen und Herren, diese Praxis muss beendet werden. Sie widerspricht allen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, die den fairen Leistungswettbewerb als Grundprinzip beinhaltet.
Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich G 20 und OECD auf einen Maßnahmenkatalog mit insgesamt 15 Aktionsfeldern gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen, kurz BEPS genannt, verständigt haben. Deutschland hat unter Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble am Zustandekommen dieses Katalogs maßgeblich mitgewirkt. Wir haben in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen gegen Steuergestaltung, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung ergriffen und damit nach meiner Ansicht viel erreicht.
Heute, meine Damen und Herren, geht es darum, mit der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf einen weiteren Schritt hin zu einer fairen Unternehmensbesteuerung zu gehen. Es geht darum, ein einfacheres Verfahren für die Änderung von Doppelbesteuerungsabkommen zu installieren. Jedes dieser Abkommen einzeln zu überarbeiten, wäre wegen der Vielzahl sehr zeitaufwendig und sicher nicht zielführend. Deshalb wurde das neue Instrument einer Modifikation bilateraler Steuerabkommen durch ein mehrseitiges Übereinkommen entwickelt.
Meine Damen und Herren, uns muss aber auch klar sein, dass es mit solchen richtigen Schritten allein nicht getan ist. Wenn Deutschland auf Dauer konkurrenzfähig bleiben will, braucht unser Land auch ein international wettbewerbsfähiges Unternehmensteuerrecht. Und darum geht es: Unsere Kapitalgesellschaften sind mit über 30 Prozent plus Soli belastet; der Durchschnitt in der Europäischen Union liegt bei unter 22 Prozent. Noch problematischer sind die Personengesellschaften dran. Deshalb wird dringlich eine rechtsformneutralere Form der Besteuerung von Kapital- und Personengesellschaften als Beitrag zu mehr Chancengleichheit am Markt benötigt.
({0})
Dazu gehört eine Reform der Hinzurechnungsbesteuerung. Da werden Kosten besteuert. Für eine Reduzierung des Zinssatzes für Steuernachzahlungen müsste eine Lösung gefunden werden. Ein durchgreifender Bürokratieabbau wäre ebenfalls sicher dringlich,
({1})
damit Unternehmen mehr Freiräume bekommen für Investitionen, für innovative Ideen, für Forschung, für Entwicklung, für neue Technologien und natürlich für neue Arbeitsplätze. Nur so entstehen neue Arbeitsplätze: indem diese Freiräume im Steuerrecht geschaffen werden, meine Damen und Herren.
Zu dem, was ich hier vom Kollegen Kekeritz von den Grünen gehört habe, kann ich Ihnen als Entwicklungshilfepolitiker nur sagen: Das, was Sie vorhaben, ist ein Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.
({2})
Wenn Sie die Wirtschaft in Deutschland nicht stärken, werden Sie auch keine Finanzmittel für die Entwicklungshilfe in Drittstaaten geben können. Ohne dass die deutsche Wirtschaft stark bleibt, ist die Entwicklungshilfe nicht möglich, meine Damen und Herren.
({3})
Deswegen ist das völlig falsch, was Sie hier darstellen.
({4})
– Ja, meine Damen und Herren, Sie können Ihre Ideologie haben, wie Sie wollen. Eins und eins ist zwei und nicht drei und nicht fünf und nicht sonst etwas. Sie müssen ganz klar sehen, dass hier die Grundlagen für unseren Wirtschaftsstandort nicht vernachlässigt werden können.
Ich habe an unseren Koalitionspartner die Bitte: Lassen Sie sich davon überzeugen, dass der Soli für Kapitalgesellschaften falsch ist, dass es diese Modernisierung des Unternehmensteuerrechts geben muss. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass dies letzten Endes doch noch stattfindet. Wir werden nicht nachgeben, weil es dringlich ist – für die Arbeitsplätze, für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich kann nicht mehr zählen, die wievielte Rede das zum Thema Wahlrecht ist. Aber wir kommen heute zu einem Abschluss.
({0})
Dieser Abschluss gefällt nicht jedem.
Aber ich will noch mal grundsätzlich anfangen. Das deutsche Wahlrecht ist unserer Verfassung, aber vor allem der staatlichen Ordnung geschuldet,
({1})
also föderalen Elementen wie auch nationalen Elementen. An dieses Gleichgewicht beim Wahlrecht, zu dem man sich am Ende durchgerungen hat,
({2})
sollten wir keine Axt anlegen.
({3})
Deshalb sollte ein Kompromiss, der in den letzten Jahren durch die Wahlreformkommission beim Präsidenten, aber auch durch viele Diskussionen gefunden wurde, nicht so schlechtgeredet werden, wie er ist.
({4})
Er muss nicht jedem gefallen.
({5})
– Erheiterung und Lärm waren noch nie ein Indiz für Sachkenntnis, meine sehr verehrten Damen und Herren. Vielleicht hören wir mal zu!
({6})
Die entscheidende Grundlage ist, dass wir die föderalen Elemente, die nationalen Elemente, das grundsätzliche Prinzip der Verhältniswahl, aber auch der Direktmandate nicht wesentlich antasten.
({7})
Es ist Auftrag der Verfassung, dass es hier zu einem Ausgleich kommt.
Wir als Koalition legen Ihnen einen Kompromiss vor.
({8})
Ich darf sagen: Große Bereitschaft der Opposition, sich darüber zu unterhalten, habe ich bisher noch nicht gespürt,
({9})
obwohl es genug Ansätze dazu gegeben hätte.
({10})
Der Kompromiss läuft darauf hinaus, dass wir einen Versuch unternehmen, an mehreren Stellschrauben zu drehen.
({11})
Das bedeutet in erster Linie, das Wahlrecht in seinen Grundsätzen zu belassen und nicht mit der Axt willkürlich viele Direktmandate wegzuschlagen. Am Ende des Tages ist das wesentliche Element dieser Wahl, den direkten Kontakt des Bürgers, der Wählerin, des Wählers vor Ort zu ermöglichen.
({12})
Wir versuchen durch die Dämpfung im ersten Zuteilungsschritt, der übrigens nicht unsere Erfindung ist, sondern der eine Reaktion auf das Wahlrecht ist, bei dem die Union, die SPD, die Grünen und die FDP dabei waren, am System zu schrauben.
Dieses Wahlrecht können wir aufgrund dessen, was uns das Verfassungsgericht vorgegeben hat, heute nicht einfach ändern.
({13})
Das bedeutet, wir müssen diesen mit Blick auf die Verteilung auf Regionen im Land notwendigen ersten Zuteilungsschritt erhalten. Daran mangelt es bei Ihrem Entwurf. Eine Dämpfung ist aber unser Ansinnen.
In zweiter Linie ist die Frage zu beantworten: Können wir sehr maßvoll die Zahl der Direktmandate verringern, um den Spread bei den abgegebenen Stimmen im Verhältniswahlrecht bei den Direktmandaten zu reduzieren? Dagegen gibt es natürlich Vorbehalte. Ich habe es schon gesagt: Der wesentliche Grundsatz beim Thema Direktmandate ist nun mal der direkte Kontakt zu den Bürgern. Ich halte niemandem vor, dass er keinen Kontakt zu den Bürgern hätte.
({14})
Aber ein wesentliches Element unserer Verfassung ist – das ist der entscheidende Punkt –, dass ein Direktmandat auch ein Teil der repräsentativen Demokratie ist.
({15})
Insofern, glaube ich, sind wir gut beraten, das maßvoll zu tun, es durch die Dämpfung des ersten Zuteilungsschrittes überhaupt erst sinnvoll zu machen und eben nicht die blanke Axt zu schwingen.
Nächster Punkt. Sie werden noch wahnsinnig viele Ausführungen zum Thema „ausgleichslose Überhangmandate“ hören. Was haben wir uns in diesem Land an Gefälligkeitsgutachten über die Frage, was das bedeutet, zumuten müssen.
({16})
Die Katastrophe scheint zu nahen, weil drei ausgleichslose Überhangmandate da sind.
({17})
Selbst das Verfassungsgericht sagt, dass man
({18})
etwa in Höhe einer halben Fraktion dieses Bundestages damit leben kann, dass Mandate unausgeglichen bleiben. Warum? Weil es ein konstitutives Element ist. Auf der einen Seite stehen die Direktmandate, die im Grunde die Rechnung für das Problem des Ausgleichs zahlen sollen, das auf der Seite des Verhältniswahlrechts entsteht. Insofern ist es wirklich ein sehr mäßiger, sehr geringfügiger Eingriff,
({19})
der sich proportional noch nicht mal auswirkt.
Glauben Sie doch diesen Unsinn nicht über die Berechnungen, die im Augenblick angestellt werden. Wenn wir das alles so leicht berechnen könnten,
({20})
dann hätten wir das in der Wahlreformkommission getan. Der Bundeswahlleiter – zufällig jemand im Land, der was davon versteht – sagt Ihnen, dass alles Hochgerechnete, Skalierte
({21})
keine wirkliche Auskunft darüber geben kann, wie die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages aussieht.
Deshalb – getragen vom gemeinsamen Willen in der Koalition, diesen Bundestag nicht über ein Ziel hinausschießen zu lassen, ihn nicht in irgendeiner Art und Weise unkontrolliert anwachsen zu lassen –
({22})
haben wir uns zusammengefunden, um eine moderate, in zwei Schritten aufgesetzte Reform anzustoßen.
({23})
Wir laden immer noch ein, sich diesem Ansinnen anzuschließen, statt irgendwelchen Ideen, die am Ende mindestens verfassungstechnisch fragwürdig sind, hinterherzulaufen.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Macht hat, braucht keinen Verstand,
({0})
hat ein kluger Mensch gesagt;
({1})
denn die Macht dominiert den politischen Prozess. Das Drama Wahlrechtsreform in dieser Legislaturperiode ist beredter Beleg hierfür. Die ausgefallene Wahlrechtsreform ist symptomatisch für das gesamte Regierungshandeln seit 2017: keine Reform.
Drei Jahre haben die Regierungsparteien erfolgreich jede Reform verhindert, und das jetzt zusammengenagelte Stückwerk ist keine Reform.
({2})
Der Verhinderungshebel war stets der Mythos um das Direktmandat. Obwohl insbesondere die Union nichts mit direkter Demokratie anfangen kann,
({3})
erklärt sie das Direktmandat zum demokratischen Kultgegenstand – also pure Taktik.
Wie funktioniert das Direktmandat? Während die FDP zum Beispiel für ein Listenmandat 70 000 Stimmen benötigt, benötigt die CDU für ein Direktmandat nur 35 000 Stimmen. Wenn es sich bei dem CDU-Mandat um ein Überhangmandat handelt und die gleichen Wähler mit der Zweitstimme die CDU wählen, haben sie ein doppeltes Stimmgewicht, und da sie das Direktmandat zum halben Stimmzahlpreis erhalten hat, haben sie sogar ein dreifaches Stimmgewicht.
({4})
Ein professoraler Gutachter schreibt: „Diese … Direktmandate sind also diejenigen Mandate … hinter denen die mit Abstand geringste Anzahl von Wählern steht“. – So viel zu dem Mythos!
({5})
Der Teufel steckt in der relativen Mehrheit, die ausreicht, um ein Direktmandat zu gewinnen. Als es in Deutschland nur drei Parteien gab – in den 50er-Jahren bis etwa in die 80er-Jahre – und nur zwei davon Direktmandate erwerben konnten, war alles anders. Damals hatte jeder erfolgreiche Direktbewerber eine einfache Mehrheit. Heute gilt das nur noch für 13 Direktmandate, und 60 Prozent der Direktmandate wurden mit weniger als 40 Prozent der Wahlkreisstimmen vergeben, also gegen eine Mehrheit der Wahlkreiswähler von 60 Prozent.
Der Kollege Heveling lässt medial verbreiten, durch den Vorschlag der Koalition würde der nächste Bundestag eine merkliche Dämpfung des Wachstums erfahren.
({6})
Eine Dämpfung des Wachstums, nicht eine Größenreduktion!
Ich zitiere die Sachverständigen. Einer der Sachverständigen schreibt: „Nach aktueller Umfragelage … könnte der vorliegende Gesetzentwurf … zu einer Bundestagsgröße von bis zu 750 Mandaten führen“. Ein anderer erklärt, dass er bereits eine Wette abgeschlossen hat, dass der Bundestag 2021 nach der Regierungsnovelle mehr Sitze haben wird als der heutige. Ein dritter schreibt: „Der Gesetzentwurf ist auf ganzer Linie als gescheitert zu betrachten“. Eine sehr renommierte vierte Gutachterin schreibt: „Der vorliegende Gesetzentwurf unterliegt an mehreren Stellen … verfassungsrechtlichen Bedenken“. Noch klarer resümiert ein Kollege: „Eine weitere Verfolgung des vorliegenden Gesetzentwurfes kann … nicht empfohlen werden …“.
In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes von vor zwei Tagen steht drin, das negative Stimmgewicht drohe auch wieder, und es sei überhaupt gar nicht rechenbar, weil schon die Gesetzesformulierung gar nicht rechenbar sei.
Einen solchen Totalverriss einer Gesetzesnovelle durch Sachverständige habe ich – und vielleicht viele andere auch – während der letzten drei Jahre nicht erlebt.
({7})
Was tun? Ein professoraler Sachverständiger führt aus: Wer die personalisierte Verhältniswahl beibehalten will – und das wollen eigentlich alle –, der muss das Anrecht auf ein Bundestagsmandat von Bewerbern, hinter denen nur eine deutliche Minderheit der Wähler eines Wahlkreises steht, einschränken.
Damit sind wir beim beigefügten Gesetzentwurf der AfD. Der AfD-Vorschlag löst alle Probleme. Nach ihm gibt es keine Überhang- und keine Ausgleichsmandate mehr, alle Wahlkreise bleiben erhalten, und der Bundestag hat, wie im Gesetz schon heute festgelegt, 598 Mandate.
Nebenbei – Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz – geht es auch um viel Geld. Rund 200 Millionen Euro Einsparung für die nächste Legislaturperiode sind gegenüber der Schuldenpolitik zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, für das politische Ansehen unserer Demokratie jedoch ein Meilenstein.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Özdemir das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute entscheiden wir endlich. Wir haben oft genug darüber gesprochen und debattiert, ob der Bundestag zu groß ist. Wenn es eine einfache Lösung geben würde, dann hätten wir alle, glaube ich, auch leicht einen Konsens gefunden und uns einvernehmlich daran beteiligen können.
Wir wollen eine Reform haben, die wirksam, verfassungssicher und verfassungstreu ist und sich harmonisch ins Gefüge unseres Rechts und unserer Gesetze einfügt.
({0})
Über das Ob haben wir hier in diesem Haus keine Diskussion mehr, über das Wie streiten wir allerdings trefflich.
({1})
Die drei Oppositionsfraktionen aus FDP, Grünen und Linke sowie die AfD und auch wir als Regierungsfraktionen haben jeweils eine eigene Lösung.
Bei allem Getöse und gekünsteltem Aufregen
({2})
und auch bei allem schauspielerischen Talent
({3})
wünsche ich mir eine strukturierte Betrachtung hier in diesem Hause. Lassen Sie uns das mal versuchen.
({4})
Was ist das Ziel? Das Ziel ist, die Verkleinerung des Deutschen Bundestages – gemessen an der Zahl von heute – herbeizuführen.
({5})
Dabei verschweigen Sie, dass es ferner präzise darum geht, die Sollgröße einzuhalten.
({6})
Es geht darum, die Dämpfung der Selbstvergrößerung herbeizuführen.
Dabei verkennen Sie völlig – damit komme ich zum zweiten Aspekt – die Rahmenbedingungen, und Sie tun so, als wenn das einfach wäre. Sie verkennen die Rahmenbedingungen und sind nicht bereit, diese zu würdigen. Der verengte Spielraum aufgrund dieser Rahmenbedingungen entsteht, weil wir das personalisierte Verhältniswahlrecht nicht antasten wollen.
({7})
Wir respektieren die Verfassungsrechtsprechung,
({8})
die Sie einfach unter den Tisch kehren. Sie sagen: Man kann ein Gesetz machen; dann kann das Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls ein neues Urteil sprechen. – So einfach geht es dann auch nicht bei unserem Rechtsstaatsverhältnis.
({9})
Das Entstehen von Überhangmandaten durch eine Unterdeckung von Zweitstimmen und dessen Ausgleich: Diese Ausprägung von Recht und Gesetz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist Ausfluss der Erfolgswertgleichheit und der Erfolgschancengleichheit. Das hat zur Folge, dass jede Stimme, die eine Wählerin oder ein Wähler abgibt, am Ende des Tages auch die Sitzzuteilung auf diesen Plätzen hier zu beeinflussen hat. Das sind wir den Wählerinnen und Wählern draußen schuldig, und das kehren Sie unter den Tisch.
({10})
Die Mechanismen und die Berechnungen mögen kompliziert sein, aber all diese Verrenkungen machen wir als Große Koalition, damit keine Stimme für einen direkt gewählten Abgeordneten oder eine direkt gewählte Abgeordnete und keine Stimme für Listenmandate unter den Tisch fällt. Es geht um die Machbarkeit.
Die Opposition aus Grünen, FDP und Linke hat sich der Diskussion mit einem eigenen Vorschlag entzogen und sich teilweise auch in – –
({11})
– Ich erkläre Ihnen das. Ich hoffe, das kriege ich auf meine Redezeit obendrauf.
({12})
Ich erkläre Ihnen das: Sie haben sich der Diskussion dadurch – –
({13})
Überwiegend hat der Kollege Özdemir das Wort.
({0})
Ich erkläre Ihnen das: Sie haben sich der Diskussion entzogen, indem Sie einen Vorschlag auf den Tisch gelegt haben, der überhaupt nicht mit der Diskussion kompatibel ist, die wir in diesem Haus oder in der Kommission führen. Jetzt seien Sie doch bitte nicht so scheinheilig!
({0})
Sie sagen: Man kann alles machen, aber auf keinen Fall bei den Listenmandaten kürzen; das machen wir mal schön bei den Direktmandaten. Das ist auch nicht schön. – Bei der CDU hieß es dann: Wir machen das so nicht mit, aber bei den Direktgewählten oder bei den Wahlkreisen wollen wir auf jeden Fall kürzen. – Meine Fraktion hat statuiert: Wir wollen bei den Direktgewählten nicht kürzen. – Hier hatten wir ja Schützenhilfe, die ich nicht erwartet habe:
({1})
von der CSU; das hat mich auch ein bisschen gewundert. Streckenweise habe ich auch gedacht: Machen wir gerade vielleicht was falsch?
({2})
Wir als SPD sind aber auf dem richtigen Weg gewesen, und die CSU hat sich dazugesellt.
({3})
Der Machbarkeit eines gemeinsamen Vorschlages war damit der Boden entzogen, wenn der Wille dazu überhaupt jemals da war. Wenn die einen sagen: „Nicht bei der Liste“, die anderen sagen: „Nicht bei den Direktgewählten“, und wieder andere sagen: „Aber auf keinen Fall bei den Überhangmandaten“, dann stelle ich mir die Frage, wie wir überhaupt zu einer Lösung kommen sollen.
Ich würde gerne mal all den Kollegen von den Oppositionsfraktionen hier im Bundestag einen Multiple-Choice-Test – das würde mir schon völlig reichen – geben und sagen: Erklären Sie bitte Ihren Wählerinnen und Wählern zu Hause doch mal, wie ein Wahlergebnis am Ende des Tages in eine Sitzzuteilung mündet und wie Überhangmandate entstehen. – Auf die Ergebnisse wäre ich gespannt.
({4})
Wir haben ein Ergebnis vorgelegt und einen Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt, über den heute abgestimmt wird. Wir begnügen uns nicht mit der Feststellung, dass alles so kompliziert sei. Wir lassen uns nicht von dem Vorwurf treiben, dass es ein Blähbundestag ist. Wir lassen uns auch nicht von dem Vorwurf treiben, dass wir als Bundestag maßlos wären und dass er so viel kosten würde. Unsere Demokratie darf auch was kosten. Das kann man auch draußen gegenüber den Wählerinnen und Wählern offen vertreten, finde ich.
({5})
Es ist an uns, verbindlich und verlässlich den Bürgern die Größe des Deutschen Bundestages zu erklären: wie sie zustande kommt, wo wir eingreifen, welche Stellschrauben wir nutzen und auch, welche Stellschrauben wir nicht zu nutzen gewillt sind.
Wir haben ein gestuftes Verfahren vorgelegt – das ist mehrmals gesagt worden –: Ausgleich bei Überhangmandaten erst ab dem dritten Mandat, interne Verrechnung von Wahlkreismandaten und Listenmandaten. Zur übernächsten Bundestagswahl, wann immer sie auch stattfindet – ob vorgezogen oder nicht; selbst dafür haben wir Vorkehrungen getroffen –, gibt es 280 Wahlkreise, und eine Reformkommission wird ins Gesetz aufgenommen.
Uns als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sind die Parität und das Wahlalter ab 16 besonders wichtig. Das sind Punkte, über die wir diskutieren wollen. Wir wollen diese Punkte auch in diesem Hause würdigen und endlich zu einer Entscheidung bringen.
({6})
Das Gesetz gewinnt keinen Schönheitspreis.
({7})
Es gewinnt keinen Preis für einfache Sprache. Nicht jeder Satz gefällt jedem der Verhandelnden, und auch mich persönlich befriedigt nicht jeder einzelne Satz in diesem Gesetzentwurf.
({8})
Aber genau deshalb, wenn man diese Analyse für sich trifft, muss es doch eine ehrliche Lösung sein, weil sie den geringsten Schaden anrichtet und weil sie wirksam, verbindlich und verständlich ist. Jeder, der ein Interesse daran hätte, überhaupt eine Lösung herbeizuführen, würde das erkennen und dieser Aussage zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bitte für meine Fraktion um Zustimmung.
({9})
Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem ersten Tag dieser Legislaturperiode ist doch klar, dass dieses Parlament eine Entscheidung treffen muss. Entweder wir verändern das geltende Wahlrecht und der nächste Deutsche Bundestag wird kleiner, oder wir lassen das Wahlrecht so, wie es ist, und laufen Gefahr, dass der nächste Deutsche Bundestag noch größer wird.
Das, was Sie jetzt hier vorhaben, hätten sich aber wohl nicht mal die hartgesottenen Wahlrechtsberichterstatter aus den Fraktionen vorstellen können; denn Sie wollen das Wahlrecht verändern, und der nächste Deutsche Bundestag wird trotzdem größer.
({0})
Deswegen ist Ihre Reform objektiv ungeeignet, auf das drängende Problem eines XXL-Bundestages zu antworten. Ihre Vorlage ist ein absoluter Schuss in den Ofen, und Sie sollten sie lieber zurückziehen, als sie heute hier zur Abstimmung zu stellen, meine Damen und Herren.
({1})
Dass das Ganze objektiv nicht dazu führt, dass der nächste Deutsche Bundestag kleiner wird, haben alle Expertinnen und Experten in der Anhörung am Montag bestätigt.
({2})
Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat es bestätigt. Deswegen müssen Sie anerkennen, dass das hier kein sinnvoller Vorschlag ist, meine Damen und Herren. Und das liegt in erster Linie daran, dass der entscheidende Hebel für die Verringerung der Größe des Deutschen Bundestages in der nächsten Legislaturperiode von Ihnen erst 2025 ins Werk gesetzt wird, und das ist die Verringerung der Wahlkreiszahl.
Es liegt aber heute ein Entwurf von FDP, Grünen und Linkspartei vor, der genau das vorsieht: eine Verringerung der Wahlkreiszahl für die nächste Bundestagswahl. Damit könnten wir vor die Bürgerinnen und Bürger treten und sicherstellen, dass der Bundestag sich bei der nächsten Bundestagswahl schon selber reformiert hat, meine Damen und Herren.
({3})
Jetzt werden manche von Ihnen sagen: Wie soll das denn gehen? Die Wahl findet ja schon im September 2021 statt. – Ja, meine Damen und Herren, da müssen die Bürgerinnen und Bürger aber auch wissen, dass Sie diese Situation bewusst herbeigeführt haben,
({4})
weil Sie es den Sommer über verschleppt haben,
({5})
weil Sie mit Absicht abgewartet haben, bis die ersten Aufstellungsversammlungen beginnen, um dann zu sagen: Die Reduzierung der Wahlkreiszahl können wir aber erst 2025 machen. – Das ist schäbig, meine Damen und Herren, und das trägt nicht dazu bei, dass das Ansehen dieses Parlaments steigt, sondern es trägt eher dazu bei, dass das Ansehen dieses Parlaments abnimmt.
({6})
Das Wahlrecht zur Bundestagswahl kann schon heute von Wahlrechtsexpertinnen und ‑experten kaum erklärt werden. Sie müssen doch einsehen, dass die rechtliche Grundlage für die Zusammensetzung der Volksvertretung auch etwas damit zu tun hat, wie die Legitimation der Volksvertretung in der Bevölkerung aussieht.
({7})
Kollege Kuhle, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Glaser?
Ich würde gerne im Zusammenhang vortragen. – Meine Damen und Herren, statt hier einen Akt der Vereinfachung auf den Weg zu bringen, machen Sie unter dem Applaus der SPD auch noch eine Extrawurst für CDU und CSU fertig.
({0})
Sie braten eine Extrawurst für die Union: Bonusmandate für CDU und CSU, die verfassungsrechtlich umstritten sind, die kein Mensch erklären kann und bei denen am Ende eine Verzerrung des Wählerwillens im Deutschen Bundestag herauskommt.
({1})
Das kann nicht das Ergebnis dieser Wahlrechtsreform sein, die wir uns hier gemeinsam am Anfang der Legislaturperiode vorgenommen haben.
({2})
Wir werden heute gegen den Entwurf von CDU/CSU und SPD stimmen, weil er objektiv ungeeignet ist, den Bundestag zu verkleinern, weil er verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die völlig ungeklärt sind, und weil wir uns gewünscht hätten, dass man das hier gemeinsam – Regierung und Opposition – im Konsens auf den Weg bringt.
({3})
Ich will noch eine abschließende Bemerkung machen.
Kollege Kuhle, es ist nichts mehr mit Zusammenfassung. Ihre Redezeit ist zu Ende.
Es wäre schön gewesen, wenn sich dieser Bundestag in Zeiten von Pandemie und Wirtschaftskrise nicht nur mit sich selbst beschäftigt,
({0})
sondern wenn in Zeiten, in denen das Land den Gürtel enger schnallen muss, auch das Parlament den Gürtel enger schnallt. Sie verhindern das, und dagegen stimmen wir.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Abseits einer politischen Bewertung des Gesetzentwurfes muss sich unsere Arbeit hier im Bundestag daran messen lassen, ob sie zwei Kriterien erfüllt. Erstens: Sind die Gesetze verfassungskonform? Und zweitens: Lösen sie das Problem, vor dem wir stehen?
Für den Koalitionsgesetzentwurf zur Wahlrechtsreform lassen sich beide Fragen mit Nein beantworten,
({0})
und das sehen nicht nur meine Fraktion und ich so. Das mussten Sie sich in der Anhörung am Montag von sechs der sieben Sachverständigen anhören. Selbst der Sachverständige der SPD fand kaum etwas Positives über den vorgelegten Gesetzentwurf anzumerken.
({1})
Die Kritikpunkte wogen hingegen schwer und waren zahlreich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Wenn Sie sich schon ausgewiesene Experten mit Expertise einladen, dann machen Sie was daraus, und stimmen Sie diesem Unsinn hier nicht zu!
({2})
Völlige Einigkeit bestand bei allen Sachverständigen, dass Ihr Entwurf absolut sein Ziel verfehlt. Der Bundestag wird nach Ihrem Wahlrechtsreförmchen und mit der Zahlengrundlage aller aktuellen Umfragen noch deutlich weiter wachsen, auf über 800 Abgeordnete. In der Schule nennt man so etwas Themaverfehlung, und man bekommt – in Ihrem Fall völlig zu Recht – die Note „ungenügend“.
({3})
Es bestanden bis vor Kurzem die ungeschriebenen Gesetze, dass für das Wahlrecht breite Zustimmung gesucht wird und dass das Wahlrecht Sache des Parlaments ist. Mit beiden Grundsätzen haben Sie gebrochen, als Sie die Eckpunkte des Wahlrechtsreförmchens in der Klüngelrunde Koalitionsausschuss festgelegt haben. Dem gehören mehrere Personen an, die nicht im Bundestag sitzen. Die waren es sogar, die die Einigung verkünden durften. Über Inhalte wollten Sie dann mit uns nicht einmal mehr reden. Das ist einfach nur arrogant.
({4})
Die Sachverständigen in der Anhörung am Montag unterschieden sich insbesondere darin, an wie vielen Stellen sie Ihren Gesetzentwurf für verfassungswidrig hielten. Manche stellten auf das vom Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit bereits eindeutig abgeurteilte negative Stimmgewicht ab, das durch Ihren Vorschlag nun wieder auftreten könnte. Andere griffen die drei nicht ausgeglichenen Überhangmandate auf, die sich nur mit einer enormen Verkürzung der vergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründen ließen. Kaum ein Sachverständiger hielt so eine Auslegung für juristisch vertretbar. Wieder andere betonten, dass das Gesetz handwerklich so schlecht gemacht sei, dass es dem Grundsatz der Normenbestimmtheit nicht genügen würde. Dass Sie formal wie inhaltlich so mit dem Wahlrecht umgehen, das unmittelbar unser demokratisches Zusammenleben regelt, ist absolut unter jeder Würde.
({5})
Mal völlig unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung: Selbst der Sachverständige der Union sieht die Stimmgewichtsgleichheit durch Ihren Vorschlag verletzt. Wir können es nicht hinnehmen, dass durch Ihren Vorschlag hinsichtlich der Bundestagsgröße Stimmen in bestimmten Bundesländern mehr wert sind, weil sie nicht mit anderen Bundesländern verrechnet werden. Genauso wenig ist es hinnehmbar, dass große Parteien gegenüber kleinen Parteien bevorzugt werden. So funktioniert Demokratie nicht. Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen, da er große Teile der Wählerinnen und Wähler aufgrund ihres Wohnortes benachteiligt.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Britta Haßelmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie kann man als SPD hier so einen Beitrag bringen!
({0})
Ich habe den Eindruck, Ihnen ist nicht mehr zu helfen. Sie verabschieden sich mit dieser Wahlrechtsreform von dem Erfolgswert Gleichheit und vom Wahlgrundsatz des Vollausgleiches. Ich frage Sie mal: Geht es Ihnen eigentlich so gut, das hier so schönzureden, meine Damen und Herren?
({1})
Als Zweites. Für diejenigen, die die Einbringung des Gesetzentwurfs nicht mitgekriegt haben, meine Damen und Herren: Heute gab es schon mal eine kleine Änderung. Haben Sie das bemerkt? Heute wird vom Kollegen Frieser nur noch darum gebeten, den Gesetzentwurf bitte nicht so schlechtzureden.
({2})
Am 18. September hörte sich das Ganze noch anders an. Da hieß es, diese Reform solle sich als eine der besten erweisen,
({3})
die in letzter Zeit auf den Weg gebracht wurden.
({4})
Man überschlug sich förmlich.
Herr Frieser war nicht in der Anhörung,
({5})
sonst hätte er wahrscheinlich mitbekommen, meine Damen und Herren, wie dieser Gesetzentwurf verrissen wurde, und zwar unisono. Bis auf einen Sachverständigen haben alle Expertinnen und Experten diesen Gesetzentwurf verrissen: Das Gesetz ist verfassungsrechtlich „prekär“; das Gesetz, das Verrückte macht; ein Schleudertrauma bei der Berechnung; das Gesetz schadet der Akzeptanz unseres Wahlrechts usw., usf. – Herr Frieser, das haben Sie sich erspart, aber mitgekriegt haben Sie es anscheinend doch, sonst hätten Sie das so nicht relativiert.
({6})
Meine Damen und Herren, die Kritik am Entwurf des Wahlgesetzes ist vernichtend. Der Gesetzentwurf ist schlecht. Er ist eine Zumutung. Der Entwurf ist handwerklich grottenschlecht. Auch das, meine Damen und Herren, bringen Sie noch nicht mal zustande. Inhaltlich ist er völlig ungeeignet, den Bundestag zu verkleinern. Es wird keinen Dämpfungseffekt geben! Sagen Sie doch den Bürgerinnen und Bürgern mal, dass Sie in diesem Thema überhaupt nicht handlungsfähig sind und alles Schein statt Sein ist, meine Damen und Herren.
({7})
Sie brechen mit dem Wahlgrundsatz des Vollausgleichs. Damit stellen Sie das personalisierte Verhältniswahlrecht infrage. Es hat keinen Dämpfungseffekt.
({8})
Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich lasse keine Fragen zu. – Es hat keinen Dämpfungseffekt. Mit dieser Wahlrechtsreform sind Sie kläglich gescheitert. Und das Verrückte ist: Draußen merkt man das. Erzählen Sie doch den Leuten nicht einen vom Pferd, meine Damen und Herren!
({0})
Für diese Flickschusterei tragen Union und SPD gemeinsam Verantwortung. Das Schlimme ist: Sie sorgen sich nicht um die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages. Ihnen sind die Frage der Akzeptanz in der Bevölkerung und die Frage des Ansehens und des Vertrauens in Politik offenkundig ganz egal,
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ihr wollt die Wahlkreise abschaffen!
sonst hätten Sie so was hier nicht vorgelegt, meine Damen und Herren.
({1})
Das Wort hat der Kollege Marco Bülow.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist leider ein Schauspiel, das für diese Regierungszeit schon ein bisschen typisch ist, aber leider auch immer mehr fürs Parlament – das ist das Problem, das dann alle mitzutragen haben –: Drei Jahre – drei Jahre! – haben Sie gebraucht, um diese noch nicht mal in Ansätzen wirksame Reform des Bundestages auf den Tisch zu legen. Drei Jahre Diskussionen!
Es war ja klar: Irgendwann wird wieder gewählt. Der Tag stand eigentlich fest. Drei Jahre haben Sie gebraucht, um eine Reform zu machen, die keine Reform ist, sondern mit der der Bundestag weiter wächst, weshalb man dann noch mal zu einer Reform kommen muss. Wer weiß, ob Sie beim nächsten Mal dazu in der Lage sind.
Genau das ist es, was Menschen von Politik abschreckt. Genau das ist es, womit man Menschen von Politik wegtreibt, obwohl man sie eigentlich anziehen müsste. Genau das funktioniert damit eben nicht!
({0})
Ich will auch das noch mal sagen – das ist heute ein paarmal gesagt worden –: Da gibt es eine Anhörung mit Expertinnen und Experten. Man macht das eigentlich so – ich weiß ja, wie Anhörungen funktionieren –: Da stellt man eigentlich nur Leute hin, die die eigene Meinung vertreten. Aber selbst da passiert es, dass die Mehrheit eindeutig sagt: Das ist eben nicht die Reform, die uns weiterbringt. Das ist nicht die Reform, die demokratisch ist und die diesem Haus zugutekommen wird, sondern es ist genau das, was wir nicht machen sollen. – Aber Sie beharren auf Ihrer Reform. Da frage ich mich: Warum macht man Anhörungen und Kommissionen mit Expertinnen und Experten, wenn man am Ende nicht auf das hört, was die dort sagen, sondern bei seiner Meinung bleibt, egal wie falsch sie ist?
({1})
Ja, es gibt Themen wie zum Beispiel dieses hier, bei dem sowieso jeder nach sich selbst guckt und bei dem natürlich die Parteitaktik das Ende der Fahnenstange vorgibt. Es gibt andere Themen, etwa Lobbyismus oder Wahlalter, was angesprochen worden ist. Auch ich denke, dass wir eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre brauchen.
Diese anderen Themen sind ebenfalls besonders wichtig. Ich glaube, dass der Bundestag da nie zu einer besonders guten Einigung kommt. Solche Themen muss man auslagern. Ich glaube, wir brauchen so was wie eine Bürgerinnen- und Bürgerversammlung, in der Menschen zum Beispiel darüber urteilen, wie dieser Bundestag aussieht, in der sie auch zu Schlussfolgerungen kommen. Diese werden schlauer, weiser und fortschrittlicher sein als das, was die GroKo hier zustande bekommen hat.
Ich glaube, das ist das, was wir in Zukunft brauchen. Dann haben wir wieder einen Fortschritt in der Politik. Dann wird der Bundestag darüber entscheiden und vielleicht weiser entscheiden als aufgrund der Parteitaktik, die die GroKo hier vorgegeben hat.
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis zum Aufruf der namentlichen Abstimmung dauert es noch einige Minuten. Daher bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, noch auf ihren Plätzen zu bleiben. Sie haben nachher für die Teilnahme an der namentlichen Abstimmung in der Westlobby wieder 30 Minuten zur Verfügung.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Mario Mieruch.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Demokratie lebt von Vielfalt und von breiter aktiver Beteiligung. Eine Sperrklausel sorgt regelmäßig dafür, dass gültige Stimmen einer Bundestagswahl keine Berücksichtigung finden. Auch unser Bundesverfassungsgericht zweifelt die Konformität der seit Jahren bestehenden Fünfprozenthürde erheblich an und hat mit der Festschreibung einer Hürde von 3 Prozent zu den Europawahlen eine der heutigen gesellschaftlichen wie auch politischen Entwicklung angemessene Regelung erlassen.
({0})
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, der Berliner Rechtswissenschaftler Ulrich Battis oder auch der Grünenpolitiker Hans-Christian Ströbele plädieren schon lange für eine solche Absenkung und begründen dies mit unserer gewachsenen und stabilen Demokratie. Dass sie damit richtigliegen und die Furcht vor Weimarer Verhältnissen völlig unbegründet ist, beweist dieses Haus, der 19. Bundestag, gleich selbst: Auch mit derzeit sechs fraktionslosen Abgeordneten ist eine Regierungsbildung problemlos möglich gewesen, und der Parlamentsbetrieb läuft einwandfrei.
Meine Damen und Herren, im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft wäre eine entsprechende Änderung der vorliegenden Anträge nicht nur eine Angleichung der Rechtsnorm, sondern Deutschland würde zusätzlich zu seiner Vorreiterrolle in Klimaschutz und Energiewende auch ein wichtiges europäisches Zeichen zur Förderung von mehr Demokratie setzen. Weil das Ganze nur einen einzigen Satz betrifft, haben wir den entsprechenden Änderungsantrag vorbereitet, und ich möchte ihn gerne der Präsidentin geben.
({1})
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Opposition uns das Gegenteil sagen wollte: Was lange währt, wird endlich gut.
({0})
Und die monatelange, jahrelange Diskussion um die Verkleinerung des Bundestages wird heute beendet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Trotz aller Kritik will ich Ihnen noch mal sagen, was die Erfolge dieses Gesetzentwurfes sind, damit das hier nicht in Vergessenheit gerät. Wir dämpfen erstens die Größe des Deutschen Bundestages. Wir haben zweitens – anders als Sie – ein verfassungskonformes Modell dafür gefunden. Wir tun das drittens nicht auf Kosten der Wahlkreise. Wir begrenzen viertens den uferlosen Ausgleich von Überhangmandaten. Fünftens. Wir schaffen es, dass derjenige, der ein Direktmandat gewinnt, auch in den Deutschen Bundestag einzieht. Das sind die Erfolge dieser Koalition und dieses Vorschlages, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wenn Sie sagen, das sei ein Erfolg von CDU/CSU und SPD, so kann ich nur das wiederholen, was ich in der ersten Lesung gesagt habe: Sieger dieser Reform ist nur einer: die Demokratie in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn sie ist weiter bürgernah ausgestaltet.
({3})
Ich sage Ihnen dann auch: Man kann an unserem Vorschlag Kritik üben und sagen: Das personalisierte Verhältniswahlrecht, das wir haben, hat auch Schwächen. – Das stimmt. Eine dieser Schwächen
({4})
ist – und das ist dem Ausgleich von Erst- und Zweitstimme geschuldet –: Man kann vor der Bundestagswahl nicht genau voraussagen, wie viele Abgeordnete der Deutsche Bundestag haben wird.
({5})
Das liegt im System, und ich kann Ihnen auch sagen: Wir haben einmal sogar einen Systemwechsel diskutiert. Sie hätten mit dem echten Zweistimmenwahlrecht, mit dem Grabenwahlrecht, die Zahl genau festlegen können. Das wollten Sie nicht. Das gehört hier zur Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Diesen Mangel lasse ich noch durchgehen, aber nicht die anderen Dinge, die Sie uns hier vorwerfen.
({7})
Dann höre ich immer, die Erfolgswertgleichheit sei nicht gegeben. Frau Haßelmann trägt ja immer leidenschaftlich vor, eine Stimme aus Bielefeld sei nicht so viel wert wie eine Stimme aus Altötting.
({8})
Ich sage Ihnen: Das ist Unsinn. – Die ist sogar so viel wert wie eine Stimme aus Ueckermünde. Denn wir haben es geschafft, dass die Erfolgswertgleichheit gesichert ist durch den bundesweiten Proporz.
({9})
Darauf kommt es an. Das haben wir in der Anhörung gehört, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Zum Vorwurf der Unbestimmtheit. Dann heißt es immer: Ja, unser Wahlrecht ist zu kompliziert; es ist zu unbestimmt.
({11})
Ich sage Ihnen: Das ist verfassungsrechtlich ganz kleines Karo. Klar, man kann sagen: Unser Wahlrecht ist jetzt nicht sonderlich unkompliziert,
({12})
aber wir machen jetzt aus zwei Rechenschritten vier Rechenschritte; wir haben eine neue Norm mit fünf Sätzen. Ich glaube, das kann man alles nachvollziehen. Da sollten wir uns hier nichts vormachen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Dann der Vorwurf, dass man davon redet, unsere drei ausgleichslosen Überhangmandate seien Bonusmandate. Das finde ich wirklich besonders unverschämt. Das sind keine Bonusmandate.
({14})
Das klingt so, als würde man die in der Lotterie oder beim Glücksspiel gewinnen.
({15})
Die bekommt man nicht durch Glücksspiel
({16})
und nicht durch einen Bonus, sondern dadurch, dass Menschen in einem Wahlkreis diesen Kandidaten wählen als direkten Wahlkreissieger.
({17})
Das sind keine Bonusmandate; da sind Wähler; das ist Wählerwillen.
Dann habe ich das Argument gehört, ja, diese Anhörung sei so katastrophal gewesen.
({18})
Sieben Sachverständige haben gesagt: Das ist ein schlimmer Gesetzentwurf.
({19})
Da kann ich Ihnen sagen: Es gibt einen alten schönen Grundsatz, der heißt: Iudex non calculat. Und das heißt: Ein Urteil entsteht nicht durch die Summe von vorgebrachten Argumenten, sondern durch deren Qualität. Und die ist auf unserer Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({20})
Und deswegen sehen wir auch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung entspannt entgegen.
({21})
Dann will ich Ihnen noch sagen: Die Kirsche auf der Sahne war dann Ihre Bemerkung, Herr Straetmanns, in der Innenausschussdebatte.
({22})
Sie haben gesagt – das fand ich besonders schön –, Sie könnten gar nicht nachvollziehen, dass die SPD zustimmt;
({23})
denn – ich zitiere das – für die SPD fällt dabei doch gar nichts ab.
({24})
Da kann ich Ihnen nur eines sagen: Das unterscheidet unsere Regierungskoalition von der Opposition. Uns geht es um die Sache.
({25})
Und Sie haben sich als Beutegemeinschaft gesehen,
({26})
die in dieser Wahlrechtsdebatte versucht hat, sich am Büfett der Mandate zu bedienen,
({27})
einseitig für die Listenmandate. Darauf haben wir uns nicht eingelassen. Wir haben stattdessen ein faires, ein verfassungskonformes Modell gefunden,
({28})
und dem werden wir heute aus voller Überzeugung zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({29})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Iran ist neben Saudi-Arabien der schwierigste Akteur im gesamten Nahen Osten. Seine aggressive Regionalpolitik ist zerstörerisch, die Aufrüstung brandgefährlich, und die unverhohlenen Drohungen Richtung Israel sind schlicht unerträglich.
({0})
Die amerikanische Politik des maximalen Drucks führte aber bislang nur dazu, dass die iranische Bevölkerung wirtschaftlich in die Knie gezwungen wurde. Worüber allerdings viel zu wenig gesprochen wird, ist die verheerende Menschenrechtslage im Land selbst. Die Verantwortung dafür tragen nicht die Amerikaner.
Jede Kritik, jeder Aufschrei, jeder friedliche Protest gegen die vielen Ungerechtigkeiten wird brutal niedergeschlagen. Das Grassieren der Pandemie, gepaart mit Korruption und Misswirtschaft, macht die Lage noch unerträglicher. Wenn Kinder exekutiert werden, Frauen, die das Kopftuch verweigern, gefoltert, Homosexuelle verfolgt, Naturschützer verhaftet werden, Kurdinnen und Kurden das Lehren ihrer eigenen Sprache verboten, Belutschen die humanitäre Hilfe nach Naturkatastrophen verweigert und Bahai systematisch der Zugang zu Bildung verwehrt wird, gewinnt nur noch das Unrecht. Im Unrecht wird das Justizsystem ein Instrument der Unterdrückung und Willkür. Unrechtmäßige und gnadenlose Urteile gegen Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalisten, Aktivistinnen überbieten sich schon in der Anklageschrift in ihrer Perversität.
Meine Damen und Herren, der Iran befindet sich derzeit nicht nur in der dritten Welle der Pandemie, sondern auch immer noch in der massiven Repressionswelle nach den Novemberprotesten vom letzten Jahr. Neben den circa 1 800 Getöteten wurden nach Angaben von Amnesty mindestens – wir wissen es nicht genau – 7 000 Menschen verhaftet und brutal gefoltert. Viele Todesurteile sind noch anhängig. Politische Gefangene sind darüber hinaus derzeit schutzlos der grassierenden Pandemie in den Gefängnissen ausgeliefert.
Meine Damen und Herren, wir stehen weiterhin zum Atomabkommen, auch weil weder eine iranische Atombombe noch ein atomares Wettrüsten in der Region die Lage der Menschen im Iran verbessern würden.
({1})
Was aber nicht geht, ist, dass viele europäische Staaten, aber auch unsere Bundesregierung, aus Angst, das Abkommen zu verlieren, die Augen vor der katastrophalen Menschenrechtslage im Iran verschließen.
({2})
Deshalb bringen wir Grüne den ersten Antrag seit zehn Jahren zum Thema „Menschenrechte im Iran“ im Deutschen Bundestag ein und fordern die Bundesregierung auf, sich deutlich auf die Seite der Iranerinnen und Iraner zu stellen, die systematischen sowie willkürlichen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen; 25 haben wir in unserem Antrag aufgeführt.
({3})
Ich bin für jeden Tweet der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung dankbar; wir schätzen ihre Arbeit. Aber was muss eigentlich noch passieren, damit die Bundesregierung endlich diejenigen, die für all diese Gräueltaten zuständig sind, persönlich für das, was sie dort tun, belangt?
({4})
Meine Damen und Herren, den Menschen im Iran geht so langsam die Kraft aus. Es wäre für sie ein bedeutendes und starkes Signal, wenn der Deutsche Bundestag die Menschenrechtslage im Iran verurteilt. Wir haben einen Antrag dazu eingebracht; das haben auch andere getan.
Ich würde mich sehr freuen, wenn wir in den Ausschussberatungen dazu kämen, gemeinsame Formulierungen zu finden – wir sind dazu bereit –; denn Menschenrechte sind nicht teilbar, auch nicht im Iran. Die Menschen im Iran haben Freiheit verdient; sie haben unsere Aufmerksamkeit verdient. Unsere Aufmerksamkeit haben aber auch diejenigen verdient, die nicht mehr da sind: Pouya Bakhtiari, Neda Agha-Soltan, Navid Afkari, Sattar Beheshti, Sohrab Arabi und all die Hunderttausende von Menschen, die leiden, und die Zehntausende, die unrechtmäßig hingerichtet worden sind. Auch die Menschen im Iran verdienen Freiheit. Azaadi baraye mardome Iran!
({5})
Das Wort hat der Kollege Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die hier vorliegenden Anträge sind wichtig, und wir werden sie, lieber Kollege Nouripour, intensiv in den Ausschüssen beraten.
Wichtig ist auch, mit den Bildern über den Iran aufzuräumen. Der Iran ist nicht vor allem Partner, etwa im Atomabkommen. Im Iran herrscht ein mittelalterliches Regime, das über 80 Millionen Menschen brutal unterdrückt. Dieses Regime der Mullahs fördert internationalen Terrorismus als Waffe gegen friedliche Gesellschaften. Die Mullahs führen Kriege, offen und verdeckt. Sie wollen weder Frieden noch Stabilität. Sie wollen durch Destabilisierung und Chaos – im Irak, in Syrien, im Libanon und in anderen Ländern – ihre fundamentalistischen Ziele durchsetzen.
Auch innerhalb des Iran verfolgen die Mullahs jeden Gedanken an Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde. Sie verfolgen brutal alles und alle, die ihrem korrupten Regime gefährlich werden. Sie bereichern sich um Milliarden, während die Bevölkerung – während der Pandemie umso mehr – um das nackte Überleben ringt.
Die Verfolgung richtet sich gegen Muslime, gegen Christen, gegen Bahai, Kurden und andere. Sie richtet sich gegen mutige, friedliche Aktivisten für Demokratie und Menschenrechte. Das Regime der Mullahs setzt nicht auf die alte Zivilisation des Landes. Es setzt auf Primitivität, brutale Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Ermordung von unschuldigen Zivilisten.
({0})
Diesen Bruch mit der Zivilisation, diese Verbrechen gegen die Menschenrechte verurteilen wir. Die Täter und die Taten verachten wir. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Täter härter verfolgen, wo immer wir können.
({1})
Unser Respekt und unsere Empathie dagegen gelten denen, die sich unter großen persönlichen Risiken für die Menschenrechte und die Demokratie im Iran einsetzen. Dies gilt, als Beispiel für viele, für die Rechtsanwältin und Trägerin des Menschenrechtspreises des Europaparlamentes, aktuell auch des Alternativen Nobelpreises. Es gibt hier eine Parlamentsgruppe „Alternativer Nobelpreis“, die sich fraktionsübergreifend für Menschenrechtsverteidiger weltweit einsetzt und auch für diese besondere Frau, für Nasrin Sotoudeh, die für ihren mutigen Einsatz zu 33 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt wurde und die im Gefängnis wiederholt in Hungerstreik getreten ist, um gegen die Misshandlung politischer Gefangener zu protestieren. Sie steht als Symbol nicht nur für Menschenrechte im Iran. Sie ist eine Ikone an Mut und Haltung weltweit. Als Parlament einer großen Demokratie und eines Rechtsstaates verneigen wir uns vor der Haltung dieser tapferen Frau.
({2})
Vom Regime fordern wir auch hier und heute ihre sofortige Freilassung. Sie hat als Anwältin unter anderem Frauen verteidigt, die sich gegen den Zwang, sich zu verschleiern, wehren. Und wir fordern das Ende der Verfolgung weiterer unschuldiger Menschen, die nichts anderes verlangen als die Achtung der Menschenwürde, wozu sich auch der Iran völkerrechtlich verpflichtet hat. Wir alle – Bundestag und Bundesregierung – sind aufgerufen, gegenüber dem Regime die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern. Weder das Atomabkommen noch lukrative Geschäfte dürfen das zum Schweigen bringen.
Eines ist sicher: Dieses Regime wird nicht ewig halten. Dazu ist der Widerstand in der iranischen Gesellschaft, vor allem von den jungen Menschen, inzwischen zu stark. Nach dem Ende dieser Schreckensherrschaft aber werden auch wir gefragt werden: Was habt ihr getan? Auf welcher Seite habt ihr gestanden? Für die große Mehrheit des Deutschen Bundestages kann ich feststellen: Wir stehen auf der Seite der Verfolgten. Wir stehen auf der Seite der Menschenrechte. Wir wollen, dass die Menschen im Iran den Sieg der Menschenrechte über die Tyrannei erleben. Wir wollen und wir werden den Tag der Freiheit für die Menschen feiern, und dafür werden wir kämpfen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Iran ist einer der größten Verletzer von Menschenrechten weltweit. Die AfD hat das Thema Iran nach der Hinrichtung Navid Afkaris als Aktuelle Stunde ins Plenum gebracht, hier in den Bundestag. Heute sprechen wir über einen Antrag der Grünen. Sie sind aber sehr spät dran.
Nach China, wo die Zahl in die Tausende geht, finden im Iran die meisten offiziellen Hinrichtungen statt. 2019 waren das allein 251 getötete Menschen. Auch nach der Hinrichtung von Navid Afkari läuft die Tötungsmaschinerie in der Islamischen Republik Iran ungebremst weiter – mindestens neun Hinrichtungen seit Afkaris Tod; darunter war auch ein weiterer Demonstrant gegen Korruption und Misswirtschaft, Mostafa Salhi.
Amnesty International nennt einige der Foltertechniken: „geschlagen, getreten und ausgepeitscht, mit Stöcken, Gummischläuchen, Messern, Schlagstöcken und Kabeln geschlagen, aufgehängt“. – Dazu Hunger, Durst, monatelange Einzelhaft und obendrein die Verweigerung lebensnotwendiger medizinischer Versorgung. – Folter in der Islamischen Republik Iran.
Dieses Terrorregime wird von den Grünen bis heute immer wieder hofiert. Claudia Roth hüllt sich zu Ehren der Mullahs regelmäßig gerne in ein Kopftuch. Dem iranischen Parlamentspräsidenten Laridschani läuft sie mit ausgestreckten Armen und freudig strahlend entgegen. Den iranischen Botschafter grüßt sie kumpelhaft mit einem „High five“. Dieser Botschafter, damals noch Gouverneur Chomeinis, ließ Hunderte kurdischer Oppositioneller ermorden.
Die gesamte deutsche Linke paktiert seit über 40 Jahren mit dem Mullah-Regime, und zwar von grün-links bis blutrot. Der linke Bundespräsident Steinmeier als Außenminister: einer der großen Freunde des Teheraner Regimes.
({0})
Fleißig schickt er auch heute noch Glückwunschtelegramme in die Islamische Republik Iran, und sei es auch nur aus Versehen.
Ein typischer Linker: Bahman Nirumand, der alte Kampfgefährte Rudi Dutschkes, heute im grünen Sumpf gelandet, von Chomeinis Machtergreifung begeistert; die Abschaffung von Freiheit und Marktwirtschaft ganz nach seinem sozialistischen Geschmack.
({1})
Solange die Bürgerlichen hingerichtet wurden, hat es Nirumand nicht gestört. Aber als es seinen sozialistischen Genossen an den Kragen ging, ist er flugs nach Deutschland zurückgeflüchtet. So sind sie, die links-grünen Verharmloser islamischer Regime.
({2})
Iran, der Todfeind der Juden. Das Mullah-Regime möchte das Land Israel von der Landkarte tilgen. Ajatollah Khamenei bezeichnet Israel im Mai als „Krebsgeschwür“. Weltweit verbreiten die Mullahs den politischen Islam und fördern den Terrorismus.
({3})
Nur ein Beispiel: In Hamburg betreibt der Iran eine riesige Hasspredigerzentrale,
({4})
das Islamische Zentrum Hamburg, und die Altparteien schweigen.
Die Bundesregierung gibt sich als Wahrer von Menschenrechten; aber sie ist kein Deut besser als die grünen Mullah-Freunde.
({5})
Mit dem undurchsichtigen Handelssystem INSTEX wird das Regime der Mullahs stabilisiert. Die Profiteure des Regimes können sich dadurch bereichern auf Kosten des iranischen Volkes. Berlin ist unterwürfig. Anbiederung an die Mörder-Mullahs. Irans Opposition wird verraten von den Grünen und der Bundesregierung.
({6})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Claudia Roth das Wort. – Aber bevor sie es nimmt: Ich habe Zwischenrufe von der linken Seite des Hauses eben akustisch nicht verstehen können. Aber ich behalte mir vor, nach Einsicht in das Vorabprotokoll gegebenenfalls dort auch etwas zu rügen.
({0})
Bitte, Frau Roth.
Frau Präsidentin! Ich richte meine Worte an die Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen hier in diesem Haus
({0})
und möchte versichern, dass wir uns seit den 80er-Jahren sehr intensiv mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen bemühen, die Menschenrechtslage im Iran zu verbessern, und auch auf einzelne Menschen unser Augenmerk richten, so wie wir es wahrscheinlich zum Beispiel nicht zuletzt mit dieser Debatte mit beeinflussen konnten, dass Narges Mohammadi freigelassen worden ist.
({1})
Das ist ein Erfolg von vielen Kollegen aus den unterschiedlichsten Fraktionen, die sich auf den unterschiedlichen Ebenen für die Menschenrechte einsetzen, beispielsweise für die Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi, die ich in der Funktion als Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung mehrmals getroffen habe, auch im Iran. Aber als es darum ging, sie treffen zu können, ging es mir nicht um die Frage, ob ich jetzt ein Kopftuch trage oder nicht, sondern es ging mir darum, mich mit Menschen wie Schirin Ebadi und auch Nasrin Sotoudeh zu treffen, mit ihnen zu sprechen und ihnen natürlich zu versichern, dass wir sie nicht vergessen, weil Vergessen tötet.
({2})
Wir waren mit dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik des Deutschen Bundestags unter Vorsitz von Peter Gauweiler im Iran. Und mit Herrn Gauweiler zusammen haben wir uns dafür eingesetzt,
({3})
dass einzelne Personen freigelassen werden, und zwar indem wir mit Vertretern des iranischen Regimes, der iranischen Regierung gesprochen haben, die dann regelmäßig das Gespräch abgebrochen haben. Aber ich lasse mir von einer Fraktion, die mit Menschenrechten herzlich wenig am Hut hat,
({4})
nicht sagen, wer für Menschenrechte eintritt und wer nicht und welche Mittel dafür einzusetzen sind.
({5})
Menschenrechte sind unteilbar und universell gültig. Deswegen rede ich auch – Peter Beyer war dabei – auf internationalen Konferenzen mit Vertretern, –
Kollegin Roth.
– mit denen wir nichts, aber auch gar nichts am Hut haben. Aber es ist meine Aufgabe als Leiterin einer deutschen Delegation, auch mit solchen Vertretern zu sprechen, mit dem Ziel, Menschenrechte anzusprechen und die betroffenen Menschen nicht zu vergessen; denn Vergessen tötet, mit oder ohne Kopftuch.
({0})
Zu den Zurufen von der rechten Seite des Hauses: Seien Sie versichert, wir haben hier eine Uhr, und das Präsidium kann daran die Redezeit exakt ablesen.
({0})
– Herr Brandner! – Im Moment wird erst einmal geklärt, ob Herr Braun sein Recht zur Erwiderung wahrnimmt. – Das ist der Fall.
Wir haben uns geeinigt, dass wir in dieser Legislaturperiode auch bei Antworten zu Kurzinterventionen stehen können.
({1})
– Dann tun wir das auch, genau. – Das ist eine Änderung zur Praxis in den vergangenen Legislaturperioden.
Wenn jetzt die notwendige Aufmerksamkeit hergestellt ist, hat Herr Braun das Wort.
Ich hoffe, dass ich die gleiche Zeit zur Verfügung habe.
({0})
Ich kann zunächst nur feststellen auf Ihre Reaktion, verehrte Kollegin Roth: Getroffene Hunde bellen.
({1})
Und Sie sprechen von unteilbaren Menschenrechten.
({2})
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das auch tatsächlich umsetzen würden.
Ich frage Sie: Haben Sie den iranischen Parlamentspräsidenten Laridschani mit ausgestreckten Armen freudestrahlend begrüßt, wie das in verschiedenen Zeitungen geschildert wurde? Haben Sie mit dem iranischen Botschafter „High five“ ausgetauscht, kumpelhaft?
({3})
Ist das notwendig – um Diplomatie zu pflegen –, dass man sich diesem islamischen Regime so unterwirft?
({4})
Ist das notwendig, dass man sich kumpelhaft gibt mit den Diktatoren dieser Welt? Ist das so erforderlich? Ist das Einsatz für Menschenrechte?
({5})
Ich finde es unglaublich, diese unerträgliche Heuchelei, die hier herrscht,
({6})
von den Grünen, die 1979 gejubelt haben – genauso wie viele andere deutsche Linke –, als Chomeini die Macht ergriffen hat.
({7})
Und Sie waren ruhig, als die bürgerlichen Oppositionellen hingerichtet worden sind. Sie haben geschwiegen. Sie haben abgelenkt davon.
({8})
Sie haben sich nicht um die Menschenrechte gekümmert. Ich finde das beschämend. Aber ich finde es sehr gut, dass Sie sich zu Wort gemeldet haben, Frau Roth. Damit kann jeder sehen, wie die Realität in unserem Land ist, wer zu den Menschenrechten steht und wer nicht. Wir kämpfen für die Menschenrechte überall auf der Welt, auch in islamischen Ländern.
({9})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Aufmerksamkeit für einen Hinweis: In fünf Minuten endet die Zeit für die namentliche Abstimmung. Wer daran bisher noch nicht teilnehmen konnte, kann dies nun tun, ohne zu drängeln. Vergessen Sie bitte Ihre Mund-Nase-Bedeckung nicht!
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Josephine Ortleb für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage der Menschenrechte beschäftigt uns, nicht nur heute, sondern immer und nicht nur hier, sondern weltweit. Das zeichnet uns und unsere Außenpolitik aus. Dafür steht auch Bundesaußenminister Heiko Maas, der konsequent die Einhaltung der Menschenrechte im Iran und weltweit einfordert,
({0})
genau wie unsere Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler.
({1})
Die Wichtigkeit, über Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen im Iran zu sprechen, zeigt sich auch aktuell in Teheran. Als ich heute Morgen Twitter öffnete, zeigte das erste Video in meiner Timeline, wie staatliche Spezialeinheiten im Stadtzentrum Teherans auf Menschen einschlugen. Staatliche Gewalt gegenüber Bürgerinnen und Bürgern ist Teil der iranischen Einschüchterungspolitik. Und diese Politik muss ein Ende haben.
({2})
Wenn wir wie heute über die Menschenrechtslage im Iran sprechen, dann sprechen wir eben zu Recht über massive Eingriffe in die Rechtsstaatlichkeit, über Missachtung von Menschenrechten und über staatliche Willkür. Und dann sprechen wir auch zu Recht über Frauen wie Zeinab Sekaanvand. Zeinab war 15 Jahre alt, als die Heirat mit ihrem Ehemann stattfand. Von Anfang an bestimmte Gewalt die Ehe. Sie hat die iranischen Behörden mehrfach um Hilfe gebeten. Diese reagierten nicht. Wenig später wurde ihr Ehemann unter ungeklärten Umständen ermordet. Zeinab wurde verdächtigt, verhört, gefoltert und gestand schließlich die Tat, ohne die Chance auf anwaltlichen Beistand. Im Prozess widerrief die 17-Jährige ihr unter Folter zustandegekommenes Geständnis. Trotz erheblicher Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrens stand das Todesurteil schnell fest. Zeinab war 24 Jahre alt, als sie unter großem internationalen Protest hingerichtet wurde. Zeinab und der Ringer Navid Afkari stehen dabei stellvertretend für die mindestens 500 Menschen, die seit 2018 im Iran hingerichtet wurden. All ihre Schicksale machen uns klar, dass sie von Anfang an keine Chance hatten. Deshalb ist die Debatte heute und in Zukunft in den Ausschüssen so wichtig, eine Debatte, bei der wir über den Umgang mit dem Iran und über unsere Iran-Politik sprechen, eine Debatte, die auch in einen europäischen und internationalen Kontext gebracht werden muss.
Mir ist wichtig – und das macht diese Debatte klar –: Unsere Ablehnung der Todesstrafe ist unverhandelbar.
({3})
Egal ob heute hier im Parlament oder am Welttag gegen die Todesstrafe übermorgen, wir haben die Pflicht, international für die Abschaffung der Todesstrafe einzustehen, Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger bei ihrer Arbeit zu unterstützen und bei der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen mitzuwirken.
({4})
Eine Pflicht, die wir Zeinab schuldig sind! Denn Zeinab wäre heute 26 Jahre alt. Sie hätte noch viel in ihrem Leben vor sich gehabt, wenn sie die Chance dazu bekommen hätte.
({5})
Das Wort hat der Kollege Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei jeder außenpolitischen Debatte in diesem Haus betonen wir, dass die deutsche Außenpolitik werteorientiert und interessengeleitet sein soll. Im Zusammenhang mit der Iran-Politik der Bundesregierung kann ich aber weder Werte noch Interessen erkennen.
({0})
Uns geht es bei dieser Debatte nicht um Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irans. Wir sagen auch nicht, welche Politik für den Iran richtig oder falsch ist. Uns geht es bei dieser Debatte allein um das Thema Menschenrechte. Gegenüber einem Regime, das seine Bevölkerung demütigt, unterdrückt, foltert und hinrichtet, darf aus unserer Sicht nicht geschwiegen werden, meine Damen und Herren.
({1})
Dieses Regime verletzt die Menschenrechte nicht nur im Iran, sondern auch außerhalb des Irans. Dieses Regime tötet seine eigene Bevölkerung im Inland und Ausland. Dieses Regime tötet durch seine Milizen und Söldner Menschen im Irak, im Jemen und im Libanon. Dieses Regime tötet und vertreibt Menschen an der Seite des syrischen Diktators Assad. Was der Iran in seiner Nachbarschaft betreibt, steht unseren Werten und Interessen komplett entgegen.
({2})
Wir beobachten im Nahen und Mittleren Osten derzeit grundlegende, ja historische Veränderungen. Dass die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen, ist ein Meilenstein für Frieden und Stabilität in der gesamten Region.
({3})
Allein die Bilder der Außenminister Israels und der Vereinigten Arabischen Emirate vor einigen Tagen in Berlin sind wohltuend und zeigen die Sehnsucht einer ganzen Region, ja einer ganzen Generation nach Frieden. Das Regime in Teheran hingegen steht nicht für eine solche friedliche Zukunft, das Regime in Teheran ist dagegen.
Die Menschen im Iran, meine Damen und Herren, unterscheiden sich aber von ihrem Regime, und das müssen wir bei dieser Debatte deutlich herausarbeiten.
({4})
Wir wollen nicht die Menschen im Iran verurteilen, sondern diejenigen, die für Menschenrechtsverletzungen im Iran verantwortlich sind. Das ist der große Unterschied.
({5})
Die Menschen im Iran demonstrieren für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in ihrem Land. Sie wollen nicht, dass ihr Land eine Bedrohung für andere Staaten ist. Sie wollen eine friedliche Zukunft und wollen Bürgerrechte.
Ich kann die Bundesregierung nur bitten, sich an die Seite der iranischen Zivilbevölkerung zu stellen. Dieses kulturreiche Land hat eine sehr gut ausgebildete, junge, freiheitsliebende Mittelschicht. Die Bundesregierung sollte daher die iranische Zivilgesellschaft stärken, anstatt Vertreter des Regimes zu hofieren.
({6})
Es tut mir natürlich leid, dass ich die Bundesregierung kritisiere, wenn Niels Annen hier sitzt, weil ich seine Arbeit sonst schätze; aber er muss sich das stellvertretend für die Bundesregierung natürlich anhören.
Ich kann der Bundesregierung nur empfehlen, sich ein genaues Bild der katastrophalen Lage der Menschenrechte im Iran zu machen. Sie sollte sich ansehen, wie perfide die iranische Führung mit der eigenen Bevölkerung umgeht.
An die Adresse der Bundesregierung kann ich hier nur noch einmal sagen: Beenden Sie Ihren Kuschelkurs mit diesem Regime! Sorgen Sie endlich dafür, dass Menschenrechte auch für Iranerinnen und Iraner zu mehr als nur einem leeren Versprechen werden!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 16. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist abgelaufen. Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Letzte Woche beging Mohammed Moradi, der Vater des zum Tode verurteilten Amir Hossein Moradi, im Iran Selbstmord. Amir Hossein Moradi wurde im Februar gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männern wegen Brandstiftung bei den Protesten 2019 zum Tode verurteilt. Alle drei gaben an, während der Ermittlungen keinerlei Zugang zu Rechtsbeiständen gehabt zu haben und gefoltert worden zu sein.
Wie auch nach der Hinrichtung des iranischen Ringers Navid Afkari im vergangenen Monat sagen wir als Linke in aller Deutlichkeit: Die Todesstrafe ist bestialisch und inakzeptabel.
({0})
Kein Mensch darf sich zum Richter über Leben und Tod eines anderen erheben, nicht im Iran, aber auch nicht in den USA oder Saudi-Arabien,
({1})
denen Sie noch vergangenes Jahr als Bundesregierung uneingeschränkte Solidarität erklärt haben.
({2})
Meine Damen und Herren von den Grünen, viele Ihrer Forderungen sind vollkommen richtig, und zwar dort, wo sie sich gegen die Einschränkung der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit richten, gegen Internetsperren, Folter und die Todesstrafe, gegen die Unterdrückung von Frauen, Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten und LGBTIQ. Nur wundern wir uns als Linke, wieso Sie völlig zu Recht im Feststellungsteil die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran kritisieren, aber dann die Regierung nicht auffordern, diese endlich zu beenden. Wirtschaftssanktionen sind ein stiller Krieg, und sie treffen eben nicht zuallererst die Regierenden, sondern die Ärmsten der Armen.
({3})
Durch die Sanktionen sind im Iran die Nahrungsmittelpreise um fast zwei Drittel gestiegen. Laut Human Rights Watch gefährden diese Sanktionen massiv die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte der Iranerinnen und Iraner, besonders im Gesundheitsbereich. Lebensnotwendige Medikamente, zum Beispiel gegen Krebs oder Epilepsie, können nicht mehr beschafft werden.
Die Politik des maximalen Drucks von Trump hat die konservativen Kräfte im Iran nicht geschwächt, im Gegenteil. Schon damals im Irak haben Wirtschaftssanktionen eine halbe Million Kinder ermordet. Madeleine Albright, die damalige Außenministerin der USA, hat damals gesagt – Zitat –, dies sei ein angemessener Preis –, die Madeleine Albright, die Sie als Grüne noch vergangenen Monat auf Ihrer Fraktionsklausur bejubelten. Das ist beschämend.
({4})
Der UN-Generalsekretär António Guterres fordert, insbesondere jetzt, in der Coronazeit – und den Iran trifft es besonders hart –, die Wirtschaftssanktionen endlich auszusetzen. Hunger als Waffe darf eben niemals Mittel der Politik sein.
({5})
Streiten wir gemeinsam gegen Menschenrechtsverletzungen, gegen grausame Todesstrafen, aber auch gegen Wirtschaftssanktionen, unter denen ganze Bevölkerungen leiden müssen!
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Frank Heinrich das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wofür würden wir unser Leben einsetzen? Welche Sache ist uns so wichtig, dass wir bereit wären, dafür zu sterben? Ist es unsere Familie, unser Glauben, die Freiheit, ein besseres Leben für die Schwächsten der Gesellschaft? Was ist so wertvoll, dass man alles dafür einsetzen würde? Wir haben das Glück, den Segen, das Privileg, diese Frage in Deutschland sehr theoretisch und in warmen Räumen diskutieren zu dürfen. Im Iran jedoch ist das keine theoretische Diskussion; Sie haben diese Debatte verfolgt. Im Iran ist diese Frage für viele Menschen alltäglich und lebensbedrohlich.
Erst vor zwei Wochen standen wir hier und haben über dieses Thema im Zusammenhang mit der Hinrichtung des Ringers Navid Afkari diskutiert und darüber berichtet. Mehrere von uns haben das inzwischen wahrgenommen. Es war eine Hinrichtung, die mich tief schockiert hat und sprachlos lässt, auch weil sich mehrere Kollegen von uns wie die Bundesregierung im Vorfeld für ihn eingesetzt haben – in diesem Fall ohne Erfolg.
Und doch ist das kein Einzelfall. Wir haben die Zahlen gehört: 500 Hinrichtungen hat es in den letzten drei Jahren gegeben. Ich habe hier Listen mit Namen, und mit Erlaubnis der Präsidentin möchte ich sie nur kurz zeigen. Da sind 12 politische Gefangene, die zum Tode verurteilt wurden. Da sind 16 Personen, die aufgrund ihres Glaubens zum Tode verurteilt wurden. Da sind 21 Kinder, Minderjährige, die auf die Vollstreckung eines staatlichen Todesurteils warten. Das sind Menschen, mitunter eben Kinder, die aufgrund ihrer Überzeugung oder aufgrund ihres Glaubens sterben oder schon gestorben sind. Das sind keine Einzelfälle, und es sind nicht immer nur Todesurteile. Aber wer nicht zum Tode verurteilt wird, hat eben andere völkerrechtswidrige Repressalien – auch der Iran hat völkerrechtliche Vereinbarungen unterschrieben – zu befürchten.
Wir haben den Namen Nasrin Sotudeh mehrfach gehört, die Rechtsanwältin, die gerade geehrt wurde; Kollege Brand und andere haben es angesprochen. Sie ist, weil das iranische Regime ihr Widerstand, Propaganda gegen das System und Verschwörung zum Schaden der nationalen Sicherheit vorwirft, 2010 als Mutter von zwei Kindern zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Dann gab es öffentlichen Druck und öffentliche Meldungen. Bei ihr war es anders: Sie wurde freigelassen. Ja, öffentlicher Druck kann einen Unterschied machen.
({0})
Das Beeindruckende – und ich bin dankbar, dass wir das durch Ihren Antrag in die Mitte stellen können; ich sage wie mein Kollege zu, dass wir hier konstruktiv im Ausschuss arbeiten werden – sind der Mut und die Unerbittlichkeit dieser Frau, die stellvertretend für so viele andere steht, die sich im Iran für einen besseren Iran einsetzen. Im Juni 2018 ist sie wieder verhaftet worden, verurteilt zu 33 Jahren Gefängnis – wir haben es vorhin gehört – und 148 Peitschenhieben. Menschen wie sie machen mir trotzdem Mut, dass es Veränderung geben kann, Menschen wie Nasrin Sotudeh und Navid Afkari, die ihr Leben einsetzen, um die Welt um sie herum zu verändern.
Ich freue mich über jede Debatte, die wir in diesem Kontext auch hier in diesem Hohen Haus führen dürfen. Und ich finde es bemerkenswert, was diese Männer und Frauen tun. Ihr Engagement trotz der statuierten Exempel in ihrem Land ist für mich ein Vorbild. Die Art und Weise, wie Christen und Christinnen, Bahai und Gläubige anderer Religionen trotz Diskriminierung und Verfolgung ihren Glauben leben und dafür einstehen, ist inspirierend. Deshalb finde ich es gut, dass wir sie hier benennen, dass Sie sie in dem Antrag benennen, dass sie als Vorbilder benannt und bekannt werden, dass wir ihre inspirierenden Geschichten hier zu Gehör bekommen. Ich möchte hier die Werte, für die sie kämpfen – exemplarisch im Iran –, in den Mittelpunkt stellen; denn es sind auch unsere Werte.
({1})
Und die Frage ist – ich komme zurück zum Anfang –: Sind wir bereit, für sie zu sprechen, auch wenn es hier im warmen Wohnzimmer passiert? Sind uns diese Werte – Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit – so wertvoll, dass wir bereit wären, so viel einzusetzen wie sie, oder wenigstens, uns für sie einzusetzen, auch wenn es nicht unbedingt den Tod bedeuten würde?
Ich danke, dass so viel Solidarität in diesem Raum vorhanden ist, und freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen“, sagte einst George Orwell. Die Menschen im Iran genießen also kaum Freiheit.
Sehr gut kann ich mich noch an die damaligen Fernsehbilder aus Teheran im Jahre 1979 erinnern: Chomeini stieg nach dem Sieg der Islamischen Revolution aus dem Flugzeug. Er wurde von vielen Menschen jubelnd empfangen, darunter auch viele junge, lächelnde Frauen. Viele dieser Frauen leben heute nicht mehr. Getrieben und entflammt von der Hoffnung auf ein besseres Leben, haben sie die Revolution mitgetragen, allerdings im Unwissen darüber, dass sie nach der Machtübernahme des religiösen Flügels vieles verlieren würden. Sie kämpften für Freiheit, für die Freiheit vom Schah-Regime, aber was folgte, waren Erniedrigung, Gewalt und Kopftuchzwang. Die Scharia wurde wieder eingeführt. Diese reaktionäre Revolution entpuppte sich als Antimoderne. Aufklärung, Humanismus und Gleichberechtigung wurden verbannt, und die beschriebenen Gräueltaten, für deren Erwähnung ich Omid Nouripour sehr dankbar bin, waren leider die Folge. All dies, lieber Omid, liebe Kolleginnen und Kollegen, verurteilen wir aufs Schärfste.
({0})
Gerade Frauen stellen aber auch überproportional die Bildungsschicht im Iran dar. Und deshalb ist es wichtig, dass wir Bildung und Aufklärung immer auch stärken. Bildung und Aufklärung waren nämlich immer, gerade auch für Frauen, ein subversives Mittel und gefährdeten stets die autokratischen Regime, so auch im Iran.
({1})
Denken, tragen und sagen zu dürfen, was man will – das steht Frauen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Den Mut und den Freiheitswillen der iranischen Frauen haben die Islamisten – ich will sagen: gottlob – bis heute nicht brechen können. Nur ein Beispiel ist die iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh, die erst kürzlich für ihr Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Wir sollten ihr und all den politischen Gefangenen im Iran Mut zusprechen und ihre Freiheit fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
40 Jahre nach den Aufständen bleiben die Iranerinnen meine treibende Hoffnungskraft. Und wir stehen an der Seite der Zivilbevölkerung. Ich bin davon fest überzeugt: Selbstbewusste, gebildete Frauen, die ihre Rechte einfordern, werden zwangsläufig zum Sturz des Regimes im Iran beitragen. Frauenrechte sind uns Verpflichtung. Seien wir doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Position einheitlich! Machen wir uns stark für die Umsetzung der Resolution 1325, wie es auch der Außenminister tut. Wir werden zum 20-jährigen Bestehen dieser Resolution hier auch noch debattieren können. Und ich bin fest davon überzeugt, dass sich dann alle demokratischen Kollegen daran beteiligen, den Chauvinismus im Iran und den Machismo in der Welt zu verurteilen.
Haben wir den Mut, immer laut zu sagen, was ist! Menschenrechte sind immer auch Frauenrechte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marina Nemat hat in einer Schülerzeitung einen Artikel gegen die Regierung geschrieben und einen Streik ausgelöst; das warf ihr der Revolutionswächter im Verhör vor. Nun wollte er die Namen der Komplizen wissen. Marina Nemat schweigt. Sie lauscht der Stimme ihres Peinigers, der ihr, einer Christin, aus dem Koran vorliest. Dann wird sie geschlagen, bis sie die Besinnung verliert. Als sie erwacht, hat ein Schnellgericht ihr Todesurteil schon unterschrieben. 16 Jahre alt war Marina Nemat.
Am 10. Oktober ist Welttag gegen die Todesstrafe, und wir blicken mit Schrecken auf den Iran. Die hohe Zahl der Hinrichtungen – offiziell 223 im Jahr 2018, 235 im Jahr 2019 – ist schockierend. Iran ist nach China das Land mit den meisten Hinrichtungen weltweit und an der Bevölkerungszahl gemessen sogar das Land mit den meisten Hinrichtungen. 2020 sind bereits etwa 150 Hinrichtungen bestätigt worden, darunter drei Hinrichtungen von Minderjährigen. Unter den Verstorbenen ist auch der 27-jährige Ringer Navid Afkari, der sich für Frieden und Demokratie im Iran eingesetzt hat.
Mindestens 7 000 Menschen wurden im Rahmen der Unterdrückung der Proteste im November 2019 festgenommen. 40 Menschen sind aktuell von der Todesstrafe bedroht, die unmittelbar vollstreckt werden soll. Sie sitzen im Gefängnis Evin in Teheran. Und Evin ist nicht irgendein Gefängnis. Evin ist das Symbol für brutale politische Unterdrückung, für Folter, massenhafte Todesurteile und Hinrichtungen. Dafür gibt es in dem Gefängniskomplex, in dem Tausende meist politische Häftlinge sitzen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen weggesperrt werden, auch gleich einen Gerichtssaal und einen Hinrichtungsplatz. Evin ist das iranische Symbol für Horror.
In Evin sitzt auch die Anwältin Nasrin Sotudeh, die aus Protest gegen die Zustände in den iranischen Gefängnissen, gerade in der Zeit von Corona, in den Hungerstreik getreten ist. Sie hat als Rechtsanwältin die Richterin und Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi verteidigt und viele inhaftierte Menschen in der Todeszelle, genauso wie der Anwalt und Träger des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises Abdolfattah Soltani, der Gott sei Dank nach sieben Jahren Haft, übrigens fast ausschließlich in Einzelhaft, im Jahr 2018 entlassen wurde, weil wir gemeinsam auf seinen Fall aufmerksam gemacht haben und zusammen geholfen haben, ihn freizubekommen. Nasrin Sotudeh wurde in diesem Jahr für ihr Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Im Iran wird sie für dieses Engagement mit 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben bestraft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand, kein Regime in dieser Welt, hat das Recht, über das Leben anderer zu entscheiden.
({0})
Deswegen wollen wir heute von diesem Bundestag aus ein Zeichen gegen die Todesstrafe weltweit und insbesondere im Iran setzen, gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen im Iran. Wir fordern die Freilassung der politisch Inhaftierten, die Freilassung von Nasrin Sotudeh und die Freilassung ihrer Mitstreiter und Mitstreiterinnen.
({1})
Lassen sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier weiter aufmerksam machen und den mutigen Menschen im Iran beistehen. Wir stehen an Ihrer Seite! Wir lassen Sie nicht alleine!
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Europäische Sozialcharta ist schon ziemlich alt. Bereits 1961 ergänzte der Europarat mit ihr die Menschenrechtskonvention um Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rechte wie das Recht auf Arbeit, das Ziel der Vollbeschäftigung oder das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Schutz, das Recht auf Gesundheitsschutz oder das Recht der Menschen mit Behinderung auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, das Diskriminierungsverbot aufgrund von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht. 1996 wurde die Charta an die aktuellen Entwicklungen angepasst. Ehrlich gesagt, das ist jetzt auch schon lange her.
({0})
Aber wenn es um Sozialrechte geht, dann gibt es – vorsichtig formuliert – sehr unterschiedliche Auffassungen in der Großen Koalition; ich komme noch darauf.
Trotz allem ist es sehr wichtig und gut, dass wir heute die revidierte Europäische Sozialcharta ratifizieren; denn das, was darin aufgeschrieben ist, das ist für uns in Europa identitätsstiftend, es ist grundlegend für unser Selbstverständnis und für das, was unser europäisches Gesellschaftsmodell einzigartig macht: dass wir neben Freiheitsrechten eben auch soziale Rechte verwirklichen.
({1})
Und die wollen wir nicht nur in Deutschland verwirklicht sehen, sondern von Albanien bis Zypern, von Finnland bis Moldau.
Wir beschließen heute die Ratifizierung mit Vorbehalten. Vorbehalte werden dann angebracht, wenn man im Status quo die Anforderungen der Charta an die eigene Gesetzeslage nicht gewährleistet sieht und auch nicht vorhat, das zu ändern.
Da komme ich wieder auf die unterschiedlichen Auffassungen in der Koalition. Wenn es nach uns ginge, dürften wir durchaus etwas selbstbewusster sein, zum Beispiel, wenn es um die Vorbehalte 30 und 31 geht; da geht es um das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung und das Recht auf Wohnen. Da muss ich, wenn ich einmal in die anderen Länder des Europarats schaue, sagen: Da kann sich der deutsche Sozialstaat durchaus sehen lassen. Aber gleichzeitig steht es einem Land wie Deutschland gut an, das Thema Armutsbekämpfung als ein dauerhaftes zu betrachten. Diese Vorbehalte sind mir also unverständlich.
({2})
Genauso sehe ich es bei den Artikeln 21 und 22, wo es um das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Unterrichtung und Anhörung und auf Beteiligung an der Verbesserung ihrer Arbeitsumwelt geht. Bisher haben diese Rechte nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Betrieben mit Betriebsrat. Wir leben aber in Zeiten der Transformation in weiten Teilen unserer Industrie und in Zeiten großer Anforderungen an unseren Sozialstaat und an alle, die darin arbeiten. 2018 hatten aber nur 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Betriebsrat. Im Gesundheitssektor – wir wissen alle um die Belastungen dort – sind es auch nur 51 Prozent. Ich finde es absolut nicht zu viel verlangt, auch dann, wenn es keinen Betriebsrat gibt, eine Betriebsversammlung zu machen und die Beschäftigten über Dinge, die sie nun wirklich unmittelbar angehen, zu informieren.
({3})
Die Entwicklung der europäischen Sozialstaaten wird noch einen langen Weg gehen, ob in der EU oder im Europarat. Aber gerade in Zeiten des Wandels sind starke Sozialstaaten die Grundlage für Sicherheit und eine starke Wirtschaft, sie sind Grundlage für unseren Wohlstand. Deswegen ist es wichtig, trotz des einen oder anderen Vorbehalts die Europäische Sozialcharta heute zu ratifizieren.
An die Linkspartei.
({4})
Auch mit den Vorbehalten ist die Ratifizierung ein wichtiges europäisches Signal und Bekenntnis. Der Ratifizierung nicht zuzustimmen, Europa nur zu wollen, wenn es genau so ist, wie man es selber möchte, das ist das Ende von Europa.
Deswegen bitte ich um eine breite Zustimmung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
– Ich darf euch aber bitten.
({6})
Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Sichert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa ist bunt, Europa ist vielfältig, und wir wollen, dass Europa bunt und vielfältig bleibt.
({0})
Sie hingegen streben nach Gleichschaltung in Europa.
({1})
Diesen Geist der Gleichschaltung lebt auch die Europäische Sozialcharta, sie greift direkt unsere Souveränität an. Deutsche Gerichte ziehen die Charta für die Urteilsfindung heran, wenn es beispielsweise um den Ausschluss von Sozialleistungen für EU-Bürger geht. Der deutsche Sozialstaat wird durch die Sozialcharta zu einem europäischen Sozialstaat, finanziert von den deutschen Steuerzahlern.
({2})
Dabei ist Sozialpolitik eine nationale Aufgabe. Jedes Land hat andere Probleme, die es lösen muss. Es ist Unsinn, eine Charta zu unterzeichnen, in der ein Recht auf Arbeit und ein Recht auf Wohnung festgeschrieben werden, wenn weder die Arbeitsplätze noch die Wohnungen vorhanden sind.
({3})
Statt irgendwelche Papiere mit wohlfeilen Absichtserklärungen zu unterschreiben, müssen wir die Arbeitsplätze schaffen und den Wohnraum. Schluss mit der verfehlten Wohnungsbaupolitik von Mietendeckel und Mietpreisbremse! Schluss mit dem ideologischen Kampf gegen deutsche Schlüsselindustrien! Schluss mit Berufsverboten und Lockdown!
({4})
Wir sind gegen die Unterzeichnung der Europäischen Sozialcharta und gegen die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum Sozialpakt der Vereinten Nationen; denn diese Vereinbarungen bedeuten, Sozialpolitik und zugehörige Rechtsprechung auf europäische oder gar globale Ebene zu übertragen. Rechtsprechung und Sozialpolitik sind aber elementare nationale Aufgaben.
({5})
Wir brauchen keine europäische oder gar globale Sozialpolitik, keine Pakte und Chartas, sondern eine Politik, die die sozialen Probleme in Deutschland löst; das sind wir alle unseren Mitbürgern schuldig.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Aumer.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ratifizieren wir die revidierte Europäische Sozialcharta. Wir setzen damit ein Zeichen für das Miteinander und die Solidarität in Europa. Wir bekennen uns zu einem zentralen Ziel des Europäischen Rates, und zwar zu dem Ziel der Förderung sozialer Rechte und des sozialen Zusammenhalts in Europa.
({0})
Warum haben wir 24 Jahre gebraucht? Wenn man sich die Anträge der Linken und der AfD ansieht, dann sieht man, warum: Bei den einen haben wir hundert Prozent Ablehnung der Charta, bei den anderen hundert Prozent Zustimmung zur Charta.
({1})
Was brauchen wir dann für eine Politik? Eine Politik von Maß und Mitte, die es nach 24 Jahren hinbekommt, diese Europäische Sozialcharta in der revidierten Form umzusetzen.
Wenn man den Antrag der Linken liest, findet man aber Zitate, dass wir in einem „unsozialen … beschäftigungsfeindlichen Status quo der hiesigen Rechtslage“ existieren in Deutschland. Da stellen sich schon Fragen. Und wenn die AfD schreibt: „Wir müssen die Sozialcharta von 1961 kündigen“, dann ist es genauso der falsche Weg. Wir wollen nichts wie die AfD.
({2})
– Das ist mir schon klar. Aber Sie haben Ihren Weg, der nicht unserer ist, und auch der Weg der AfD ist nicht unserer. – Wir wollen ein starkes Europa mit einem sozialen Rahmen – anders als die AfD –, und wir wollen anders als die Linken, dass in Europa auch Freiheit und Solidarität der Nationalstaaten weiterhin gewährleistet werden.
Wir ratifizieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese europäische Sozialcharta mit Vorbehalten; denn das entspricht unserem Verständnis von Europa. Ein Kernprinzip Europas ist das Subsidiaritätsprinzip.
({3})
– Selbstverständlich hat das damit etwas zu tun. Das, was ein Land selber regeln kann, das soll es auch selber regeln. – Die Vorbehalte in der Sozialpolitik sind auch sehr klar. Man hat auch bei der Gründung der Europäischen Union sehr klar festgestellt, dass Sozialpolitik vor allem Politik der Nationalstaaten sein muss und auch bleiben muss, und wir können diese Charta nicht zu 100 Prozent umsetzen.
Wir haben ein einmaliges ausdifferenziertes Sozialsystem mit hohen Sozialstandards in Deutschland, und das soll auch so bleiben. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat der erfolgreiche Weg Deutschlands auch einen Namen. Der heißt soziale Marktwirtschaft, der ist eng mit CDU und CSU verbunden. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren auch der Linken, sollten Sie bitte anerkennen.
({4})
Ich möchte das an einem Beispiel klarmachen. Der Vorbehalt beim Recht auf Wohnen ist vorher schon einmal angesprochen worden. Wir wollen das nicht deshalb nicht aufgenommen haben, weil wir es nicht wollen, sondern unser Weg ist ein anderer. Unser Weg ist der Weg von Anreizen und von Mechanismen, die Wohnraum schaffen, die keine ideologischen Debatten in den Mittelpunkt stellen, sondern die den Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen.
({5})
Die Bundesregierung hat den Weg auch so eingeschlagen. Wenn man jetzt in den nächsten Jahren 5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau auf den Weg bringt, bedeutet das 100 000 Wohnungen mehr in Deutschland, und das sollten Sie auch zur Kenntnis nehmen. Dies soll ab 2024 mit 1 Milliarde Euro verstetigt werden.
Wir als CSU haben das Baukindergeld auf den Weg gebracht, natürlich in der Koalition; aber es war unser Impuls. Hiermit haben 233 000 Familien in Deutschland in den letzten Jahren ein Eigenheim schaffen können, in dem man wohnen und leben kann, und das ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Auch beim Wohngeld hat die Bundesregierung seit dem 1. Januar 2020 nicht nur die Ansprüche erhöht, sondern auch die Beträge. 11 Prozent der Haushalte in Deutschland profitieren von Wohngeld. Auch das ist ein Weg zum Recht auf Wohnen. Uns ist es wichtig, dass die Menschen wohnen können und Wohnungen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa ist Vielfalt, Europa ist Einheit. Das Gesetz, das wir heute zur Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta beschließen werden, spiegelt genau das wider: Europa in Einheit und Vielfalt. Deswegen bitten wir Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Peter Aumer. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Freien Demokraten begrüßen, dass Deutschland die Revision der Europäischen Sozialcharta im Jahr 2007 unterschrieben hat und nun endlich, nach vielen Jahren, auch ratifizieren will. Die, sagen wir mal, Verzögerung führe ich wohlwollend darauf zurück, dass die Regierungskoalition rücksichtsvoll so lange mit der Ratifizierung gewartet hat, bis die Freien Demokraten hier im Deutschen Bundestag aktiv daran mitwirken können. Dafür vielen Dank!
({0})
Zu den Anträgen der AfD. Die AfD will nicht nur die Ratifizierung verhindern, sie will die Sozialcharta gleich ganz kündigen. Was das soll, erschließt sich nicht. Es gibt doch gar keinen rechtlichen Anpassungsbedarf. Unter dem Deckmantel der nationalen Souveränität wird versucht, Deutschland aus dem Multilateralismus herauszulösen. Ich will Ihnen mal etwas sagen: Wer Deutschland mit Abschottung in die Isolation treibt, der erntet nicht mehr Souveränität, sondern weniger.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wohl und Wehe von Wirtschaft und Beschäftigung hängen vom Außenhandel ab. Mehr Abschottung heute bedeutet weniger Exporte morgen. So etwas kann nur eine Fraktion wollen, die auch will, dass es Deutschland schlecht geht, wie Ihr Ex-Pressesprecher neulich noch hat verlautbaren lassen.
Zu den Anträgen der Fraktion Die Linke. Sie wollen die Sozialcharta nicht aufkündigen, sondern im Gegenteil alle Vorbehalte und Auslegungen streichen, die Sozialcharta sozusagen als Hintertür, um Ihre nicht mehrheitsfähigen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorstellungen umzusetzen. Das ist ebenfalls falsch.
({2})
Es ist falsch, weil es dem bewährten Prinzip der Subsidiarität widerspricht; Kollege Aumer hat ausführlich dazu ausgeführt. So schützt zum Beispiel die Auslegung zu Artikel 4 Absatz 1 die Tarifautonomie, eine tragende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft. Vergessen Sie nicht: Subsidiarität und Solidarität sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer Subsidiarität missachtet, der setzt Solidarität aufs Spiel. Das gilt in der Sozialpartnerschaft, im Föderalismus, in der EU und auch eben im Völkerrecht.
({3})
Die Vorbehalte und Auslegungserklärungen der Bundesregierung, liebe Dagmar Schmidt, sind richtig und wichtig. Auch deshalb werden wir dem Gesetz zustimmen. Nur stellt uns die Coronakrise vor ganz andere soziale und wirtschaftliche Herausforderungen. Die Sozialcharta zu ratifizieren, ist richtig, hilft aber hier nicht. Es ist jetzt die Zeit für mutige Reformen. Nur dann gehen wir gestärkt aus der Pandemie hervor.
Für mehr Resilienz in der Krise und mehr Wachstum nach der Krise brauchen wir solide Finanzen, fairen Umgang mit Selbstständigen, weniger Bürokratie, bessere Infrastrukturen und attraktive Anreize für Investitionen. Die Vorschläge der FDP liegen auf dem Tisch. Das darf nicht wieder 13 Jahre dauern. Es ist Zeit, zu handeln.
({4})
Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Inkraftsetzung der Europäischen Sozialcharta, das heißt die völkerrechtlich verbindliche Konvention von souveränen europäischen Staaten, im Jahr 1965 war ein zivilisatorischer Meilenstein. Es ist eine Errungenschaft, und es ist richtig, dass heute endlich auch die revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert wird.
({0})
Damals, 1965, war Deutschland Vorreiter. Es war fünftes Land, und nach der deutschen Ratifizierung trat die Europäische Sozialcharta in Kraft. Sie beinhaltet das Recht auf Arbeit – das ist hier schon ausgeführt worden –, viele wichtige soziale Rechte. Heute ist Deutschland Nachhut, fast Schlusslicht. 34 europäische Staaten haben die 1999 in Kraft getretene und aktualisierte revidierte Sozialcharta schon ratifiziert, und heute, 24 Jahre nach der Verabschiedung, kommt endlich auch die Bundesregierung dazu, diese revidierte Europäische Sozialcharta zu ratifizieren. Diese Verzögerung ist aus unserer Sicht völlig unakzeptabel.
({1})
Aber nicht nur das – das ist hier schon ausgeführt worden –: 16 Ausnahmen werden beansprucht. Sie betreffen etwa das Recht auf Wohnung, das Recht auf Beteiligung an den Arbeitsbedingungen, das Recht auf Schutz bei Kündigung oder das Recht auf Schutz gegen Armut. All das wird ausgenommen, und auch das finden wir völlig inakzeptabel. So weit gehende Ausnahmen sind nicht hinzunehmen.
({2})
Es ist ja keine linksradikale Forderung, die Sozialcharta ohne Wenn und Aber, wie wir das in unserem Antrag fordern, zu ratifizieren. Frankreich hat am Anfang dieser Legislatur sehr viel von der deutsch-französischen Zusammenarbeit geredet. Frankreich hat alle Artikel ratifiziert – übrigens auch das Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden –, und das sollte ein Vorbild sein.
({3})
Ganz deutlich wird in dieser Debatte der Charakter der AfD. Die AfD möchte die Sozialcharta direkt abschaffen. Der antisoziale Charakter der AfD wird hier sehr deutlich.
({4})
Wir haben zwei Anträge gestellt, einmal zur Ratifizierung ohne Wenn und Aber und zur Ratifizierung des Zusatzprotokolls. Das nämlich ermöglicht zum Beispiel Gewerkschaften und kollektiven NGOs, beim zuständigen Ausschuss Beschwerde einzulegen, wenn soziale Rechte verletzt werden. Soziale Rechte sind nur dann wirkungsvoll, wenn es auch ein Umsetzungsinstrumentarium gibt. Also bitte: Stimmen Sie diesen Anträgen zu!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Andrej Hunko. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht nur in diesen Zeiten wichtig – es ist schon lange wichtig; 1961 wurde die Sozialcharta verabschiedet –, aber gerade in diesen globalisierten Zeiten, Sozialpolitik und soziale Rechte nicht nur national zu denken, wie das die AfD macht, sondern auch international über Ländergrenzen hinweg.
Erstens. Wir haben das in der Europäischen Union. Wir haben vor Kurzem die Europäische Säule sozialer Rechte verabschiedet. Das war ein wichtiger Schritt, weil die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsunion ist, sondern auch eine soziale Union.
({0})
Es ist jetzt wichtig, diese Säule auszufüllen, zu konkretisieren. Deswegen hatte ich jetzt auch die Maske zur EU-Präsidentschaft Deutschlands angelegt, weil das eigentlich ein wichtiges Projekt dieser Präsidentschaft sein müsste. Aber darüber werden wir an anderer Stelle noch einmal diskutieren.
Zweitens. Die Europäische Sozialcharta geht darüber hinaus. Da geht es nicht nur um die Europäische Union, sondern um Europa in den geografischen Grenzen. Da ist dann auch die Türkei dabei; da ist Russland dabei. Es ist wichtig, gerade auch mit diesen Ländern über soziale Rechte zu diskutieren. Wir sind da eigentlich sehr viel stärker, und es ist wichtig, gerade mit diesen anderen Ländern ein gemeinsames Fundament an sozialen Rechten zu finden, damit auch dort soziale Menschenrechte gelten.
({1})
Wir haben – drittens – vor Kurzem, vor wenigen Wochen, hier in diesem Bundestag die SDG diskutiert, die globalen Nachhaltigkeitsziele: 17 Ziele, von denen 7 Ziele soziale Ziele sind, auf globaler Ebene vereinbart und geltend für alle Länder, also auch für Deutschland. Nun sagt der Bundesrat zu Recht in der Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf, dass wir uns doch den meisten Zielen, bei denen die Bundesregierung Vorbehalte hat, in der Europäischen Säule sozialer Rechte und auch bei den SDG schon verpflichtet haben. Er sagt insbesondere, dass vor diesem Hintergrund der Ausschluss der Artikel 30 und 31 weder für schlüssig begründet noch für sachgerecht gehalten wird. Dem können wir uns voll und ganz anschließen. Auch Kollegin Dagmar Schmidt von der SPD hat diese Artikel angesprochen. Artikel 30, der Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung, findet sich in Ziel 1 der SDG, und Artikel 31 – das Recht auf Wohnen – taucht in Ziel 11 der SDG auf, taucht aber auch in der Europäischen Säule sozialer Rechte auf.
Also: Es wäre Ihnen überhaupt kein Zacken aus der Krone gefallen, zumindest diese beiden Vorbehalte nicht zu machen
({2})
und die revidierte Europäische Sozialcharta tatsächlich komplett zu ratifizieren; das wäre vorbildlich gewesen. Auch deswegen werden wir die beiden Anträge der Linken unterstützen.
Wir werden aber auch den Gesetzentwurf unterstützen; denn es ist wichtig, 24 Jahre nach der Revision tatsächlich ein Zeichen zu setzen und – auch wenn wir da spät dran sind; aber besser spät als nie – die revidierte Europäische Sozialcharta zu ratifizieren. Deswegen werden wir dem zustimmen. Vorbildlich war das leider nicht; aber es ist trotzdem ein wichtiger Schritt.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Angelika Glöckner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde mehrfach gesagt: Wir beschließen heute die revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta. Was sich so abstrakt und technisch anhört, ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der sozialen Grundrechte, für die Menschen in Deutschland, für die Menschen in der Europäischen Union und weit darüber hinaus. Auch mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen ist dies von großer Bedeutung. Ich will hier den Klimawandel, Veränderungsprozesse in der Arbeitswelt, die Bewältigung der Pandemie nennen.
Wir werden das alles nur erfolgreich bewältigen können, wenn es uns gelingt, in diesem Prozess die Gesellschaft beieinanderzuhalten. Genau dieser Effekt tritt ein, wenn etwa Familien nicht um ihre Existenzen bangen müssen, wenn Beschäftigte von Arbeit leben können, wenn Arbeit nicht krankmacht. Mit der heutigen Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta werden wir uns als deutsches Parlament dazu verpflichten, künftig noch mehr auf diese Rechte zu achten.
({0})
Ich sage auch: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist das sehr zentral. Denn soziale und wirtschaftliche Absicherung schafft den notwendigen Zusammenhalt in Deutschland und in Europa, den wir gerade jetzt in diesem Wandel brauchen; wir haben es ja auch mit internationalen Problemen zu tun.
Konkret will ich noch einmal darauf hinweisen, dass beispielsweise der Schutz vor Diskriminierung gestärkt wird. Als behindertenpolitische Sprecherin meiner Fraktion betone ich auch, dass es gut ist, dass wir damit die Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen weiter stärken. Mehr Diskriminierungsschutz heißt aber auch: Wir verpflichten uns, mehr zu tun für die Gleichbehandlung von Frauen, für mehr Bildungsgerechtigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten, unabhängig vom Elternhaus und auch unabhängig davon, ob man in Deutschland in einer Großstadt wohnt oder im ländlichen Raum.
Wahr ist aber auch, dass wir mit der Ratifizierung nicht alle Punkte der Sozialcharta des Europarats als verbindlich anerkennen.
({1})
Ich will auf einen Punkt eingehen, den ich sehr schade finde. Es ist der Artikel 22, den wir ausklammern. Hier geht es um die Beteiligungsrechte von Beschäftigten in ihren Betrieben. Gerade mit Blick auf die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und ihrer Arbeitsumwelt wäre das sehr wichtig.
Ich will auch hier noch einmal an den Koalitionspartner CDU/CSU appellieren: Werfen Sie Ihre Bedenken über Bord oder vielleicht auch die Bedenken der Arbeitgeberverbände. Es ist wichtig, dass wir allen Beschäftigten mehr Beteiligungsrechte einräumen. Gerade die Wirtschaftskrise 2009/2010 hat gezeigt, wie wertvoll die Ideen und Impulse von Beschäftigten in Betrieben sein können.
({2})
Ich will auch sagen, dass nicht zuletzt das Recht der Beschäftigten, so früh wie möglich zu erfahren, wie es um den eigenen Betrieb steht, von enormer Bedeutung ist. Jeder Beschäftigte hat einen Anspruch darauf, zu wissen, wie es wirtschaftlich um seinen Betrieb steht, egal ob es sich um einen großen oder einen kleinen Betrieb handelt.
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihre Anträge können wir nicht akzeptieren; wir müssen sie ablehnen. Sie wissen auch: Es ist momentan schlicht nicht durchsetzbar.
({3})
Dennoch wollen wir das, was wir erreicht haben, was uns wichtig ist, heute umsetzen und revidieren.
({4})
Die AfD entlarvt sich einmal mehr mit ihrem Antrag. Sie legen es darauf an, dass es den Menschen in Deutschland möglichst schlecht geht.
({5})
– Da können Sie gerne lachen. – Denn zu nichts anderem würde es führen, wenn wir, wie Sie es beantragen, als Exportnation nicht das Interesse hätten, dass es den Menschen in Europa gut geht und sie Geld in der Tasche haben, um unsere Produkte zu kaufen.
({6})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich behaupte auch, dass Ihr Antrag nicht schlüssig ist.
Frau Kollegin.
Ja, ich komme zum Schluss. – Denn auch wenn wir das Völkerrecht als verbindlich für uns erklären, bleibt der Souverän hier. Wir werden die Gesetze auch in Zukunft beschließen. Ich werbe ausdrücklich um die Zustimmung zu unserem Gesetz.
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Danke schön.
({0})
Danke schön. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Norbert Kleinwächter.
({0})
Wertes Präsidium! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, heißt es im Volksmund. Die Europäische Sozialcharta ist deutlich älter. Die erste Version wurde 1961 erarbeitet, die revidierte Version 1996; Deutschland hat sie noch nicht ratifiziert. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, legt uns die Bundesregierung dieses Dokument zur Ratifikation vor. Da muss ich schon sagen: Es hatte natürlich seine Gründe, warum weder die Regierung Kohl noch die Regierung Schröder noch die Regierungen von Merkel – vor dieser – dieses Dokument je ratifiziert haben. Denn dieses Dokument schreibt umfangreiche Rechte fest, die den Interessen der deutschen Arbeitnehmer zuwiderlaufen.
({0})
Deutschland unterwirft sich einem Sachverständigenrat, der vom Ministerkomitee eingesetzt wird, dessen Empfehlungen dann umgesetzt werden müssen. Dieser Sachverständigenrat hat im Übrigen bereits kritisiert, dass wir schon mit der 1961er-Charta nicht konform sind. Dann frage ich mich: Warum wollen Sie eigentlich unsere Lage noch verschärfen und verschlechtern? Es macht überhaupt keinen Sinn, die 1996er jetzt zu ratifizieren.
({1})
Die Rechte, die dort festgeschrieben sind, werden dann auch beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einklagbar. Welche Rechte sind das? Jetzt wird es interessant: Da gibt es das Recht auf Arbeit – das kennen wir aus der DDR –,
({2})
das Recht auf Wohnen, das Recht eines jeden Bürgers eines Vertragsstaates auf Erwerbstätigkeit in einem anderen Land, genauso wie das Recht aller Bürger der Vertragsstaaten auf Zugang zu Sozialsystemen in einem anderen Land. Und da sind wir bei des Pudels Kern.
({3})
Mit diesem Beschluss, mit diesen Regelungen kann ein Bürger aus Island genauso in Deutschland hartzen wie einer aus Armenien, Aserbaidschan oder der Türkei. Das sind alles Mitgliedsländer des Europarats. Deswegen sagen wir ganz deutlich: Sozialpolitik ist eine nationale Aufgabe; sie muss national sein, weil wir sie ja schließlich auch bezahlen. Deswegen müssen die Steuerzahler auch darüber diskutieren und entscheiden können.
({4})
All denjenigen, die immer von einem sozialen Europa träumen, gebe ich noch eines mit auf den Weg: Wir haben nicht nur ein starkes Sozialsystem zu bieten, wir haben auch eines zu verlieren.
({5})
Danke schön. – Letzter Redner in dieser Aussprache: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner hat man manchmal die Chance, den Blumenstrauß zusammenzufassen. Vieles wurde bereits gesagt; auch wenn die 60, 80 Seiten dieses – wie Sie, Frau Kollegin, gerade gesagt haben – abstrakten und technischen Werkes in einer halben Stunde natürlich nicht debattierbar sind.
Für mich als Sozialpolitiker, aber auch als Menschenrechtspolitiker ist wichtig: Wir stimmen heute über die Ratifizierung der Revidierten Europäischen Sozialcharta ab. Ich halte das für einen Erfolg. Wenn man der letzte Redner ist, dann kann man – sie kennen das von Google und sonstigen Maps – noch einmal herauszoomen und das Werk von oben betrachten. Ich bin sehr dankbar, dass wir das heute machen; auch wenn der eine oder andere sagt: „Das hätte schneller gehen können“ oder: Wir hätten das überhaupt nicht machen sollen.
Drei Gedanken dazu:
Erster Gedanke: Warum ist das gerade aus menschenrechtlicher Sicht ein Erfolg? Die Charta wurde, wie wir jetzt mehrfach gehört haben, 1961 vom Europarat initiiert – viele von uns im Haus sind dort Stellvertreter; Sie auch, Herr Kleinwächter – und von der Mehrheit der Mitglieder dort beschlossen. Das ist ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen und garantiert der Bevölkerung innerhalb der Unterzeichnerstaaten und damit allen, die es unterzeichnen, nicht nur den EU-Staaten, umfassende soziale Rechte. 1965 ist es in Kraft getreten. 1969 wurde die heute vorliegende revidierte Fassung ausgearbeitet,
({0})
die dann 1999 in Kraft trat und seither gültig ist.
Die Europäische Sozialcharta garantiert die in der Europäischen Menschenrechtskonvention – für die wir alle, die wir dieses Haus repräsentieren, hoffentlich stehen – nicht festgehaltenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und ist somit in gewisser Hinsicht das europäische Pendant zum Internationalen Pakt der UN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
Die Europäische Sozialcharta ergänzt die Europäische Menschenrechtskonvention – dafür schlägt mein Herz als Menschenrechtler –, die viele Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit garantiert, aber wenige soziale Rechte. Diese Charta bindet die Vertrags- und Mitgliedstaaten des Europarates an die darin verankerten sozialen Menschenrechte. Es geht also darum, den Grundwasserspiegel für die Rechte zu heben, die bis jetzt noch nicht ausreichend repräsentiert sind. Mit der Ratifizierung erkennt Deutschland diese an und wird seiner Rolle als Vorbild für europäische Arbeits- und Sozialstandards gerecht – mit Maß und Mitte, wie mein Kollege Peter Aumer vorhin gesagt hat. Einer der Gründe dafür, warum es so lange gedauert hat, ist, dass wir uns so lange nicht auf diesen Kompromiss einigen konnten.
Der zweite Gedanke: die Bedeutung der Europäischen Sozialcharta im europäischen und internationalen Kontext. Die Vertragsstaaten des Europarates – das sind mehr als die 27 – haben sie zu beachten. Wenn Verstöße festgestellt werden, dann hat sie zwar nicht die gleiche Bindungswirkung wie zum Beispiel Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes. Die Ratifizierung bedeutet auch nicht automatisch – ich glaube, das haben Sie von der AfD nicht richtig verstanden –, dass die sozialen Menschenrechte auch tatsächlich umgesetzt sind. Umgekehrt gibt es in manchen Staaten, die die Charta nicht ratifiziert haben, sogar höhere Arbeits- und Sozialstandards. Trotzdem steht diese Charta für einen sozialpolitischen Rechtsrahmen, der nach dem Ausschöpfen nationaler Rechtsmittel einen internationalen Beschwerdeweg möglich macht. Damit erhöhen wir den Grundwasserspiegel.
Mit der Ratifizierung gehen Berichtspflichten, Follow-up-Verfahren einher, in denen dargelegt werden muss, was bei Verstößen konkret zur Behebung unternommen wurde. Wir sind rechenschaftspflichtig. Wir erwarten hin und wieder von anderen Ländern – auch in unserem Umfeld, auch in der EU –, Rechenschaft für das abzulegen, was sie versprochen, aber nicht gemacht haben. Damit verpflichten wir uns ebenfalls dazu.
Ein Beispiel für die Bedeutung dieser Charta aus der jüngeren Zeit ist Frankreich. Mitte 2019, letztes Jahr, wurde nicht zuletzt auf Druck des Europarates und anderer Vertragsstaaten und mit Berufung auf diese Charta das sogenannte Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, untersagt. Sehr wohl getan!
Dritter Gedanke: Die Europäische Sozialcharta ist ein Baustein für die Durchsetzung globaler sozialer Rechte. Als Menschenrechtspolitiker – das habe ich gerade gesagt – beschäftigen uns transnationale Unternehmen und internationale Organisationen und auch, wie diese rechtlich und politisch zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie demokratische oder menschenrechtliche Standards verletzen. Zu diesen Standards gehören auch die Rechte, die im UN-Sozialpakt und in der Europäischen Sozialcharta verankert sind. Deshalb unterstütze ich dankbar jede Stärkung der Europäischen Sozialcharta ausdrücklich. Das hat perspektivisch Implikationen für stärkere globale soziale Rechte weit über unseren Mitgliedstatus und den der Mitgliedstaaten hinaus.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung – ich habe gerade gesagt: wir zoomen aus –, dass der Grundwasserspiegel generell gehoben werden kann. Zoomen wir wieder hinein, raus aus der Abstraktheit: Viele Einzelne können sehr wohl davon profitieren: mit Klagerechten oder auch weil ihre persönlichen Lebensbedingungen in den Ländern verbessert werden.
Deshalb halte ich es für einen guten Tag: zum einen für den Zusammenhalt in der EU – das haben Sie gerade vorhin gesagt – und zum anderen für globale soziale Rechte, auch wenn wir noch nicht fertig sind.
Ich danke Ihnen.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier in Berlin haben sich die Mieterinnen und Mieter von über 200 Häusern zusammengetan und eine Initiative gegründet. Sie befürchten, bald aus ihren Wohnungen zu fliegen, weil diese in Eigentumswohnungen umgewandelt werden.
Diese Angst ist berechtigt; denn in den letzten vier Jahren wurden alleine in Berlin über 270 000 Wohnungen umgewandelt.
({0})
Für die betroffenen Mieterinnen und Mieter heißt das nicht selten auf kurz oder lang, dass sie ihre eigenen vier Wände verlassen müssen.
({1})
Das muss man sich mal vorstellen! Und in vielen anderen deutschen Städten sieht es nicht besser aus. Die massenhafte Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen ist zu einem Geschäftsmodell geworden, und das müssen wir endlich stoppen.
({2})
Das hatte Herr Seehofer – er ist heute bei der Debatte nicht dabei – den Mieterinnen und Mietern als Ergebnis des Wohnungsgipfels vor zwei Jahren versprochen.
({3})
Ich kann mich selber noch sehr gut daran erinnern, dass die damalige Justizministerin, Frau Barley, rausgekommen ist und den Mieterinitiativen, die vorm Kanzleramt demonstriert haben – drinnen eingeladen waren sie ja nicht –, versprochen hat, dass das Umwandlungsverbot – endlich – kommt.
Deswegen haben wir uns, ehrlich gesagt, auch gefreut, dass beim ursprünglichen Referentenentwurf von Seehofer das Umwandlungsverbot vorgesehen war. Nicht so, wie wir als Linke es uns konsequent vorgestellt hätten; aber immerhin ein erster wichtiger Schritt. Aber wie so oft ist die Immobilienlobby Sturm gelaufen, und wie so oft hat sie damit bei der Union Erfolg.
({4})
Insbesondere der Abgeordnete Herr Luczak hat sich zum Fürsprecher der Immobilienlobby gemacht, und unter seinem Druck hat die Union, hat Herr Seehofer nachgegeben, obwohl er im Ausschuss selber noch gesagt hat, dass er das Problem aus München nur zu gut kennt. Jetzt den Lobbyisten nachzugeben, meine Damen und Herren, ist ein Schlag ins Gesicht der Mieterinnen und Mieter und einfach unverantwortlich.
({5})
Dass das ausgerechnet ein Berliner Abgeordneter – aus der Mieterstadt Berlin! – macht, Herr Luczak, finde ich wirklich ein starkes Stück. Ich hätte es gut und anständig gefunden, sich heute dieser Debatte zu stellen,
({6})
anstatt einfach nur auf Twitter irgendwelche Tweets abzusetzen. Das auch noch als Erfolg zu feiern und jetzt nicht da zu sein, ist wirklich ein starkes Stück.
({7})
Ich kann nur jedem Abgeordneten der Union empfehlen, insbesondere Herrn Luczak – vielleicht hört er sich das an –: Treffen Sie sich mit den Betroffenen! Treffen Sie sich zum Beispiel mit der Initiative aus den 200 Häusern. Dann hören Sie auch auf, eine solch abgehobene Politik zu machen.
({8})
Denn das perfide Argument lautet, dass man mehr Familien den Traum vom Eigenheim ermöglichen will. Aber, meine Damen und Herren, das darf ja wohl beim besten Willen nicht auf Kosten von anderen Familien gehen, die schon eine Wohnung haben und die einfach nicht so viel Geld haben. Das geht einfach nicht.
({9})
Dieses Argument verschleiert eben auch, dass diese Massenumwandlung inzwischen zu einem Geschäftsmodell der Immobilienlobby geworden ist. Dahinter stehen richtig große Unternehmen wie die Accentro Real Estate oder die Fortis Group. Das zieht nicht nur die Mieterinnen und Mieter über den Tisch, das halst auch den Käufern völlig überteuerte Preise auf. Und am Ende profitieren davon Vereinigungen wie die Zahnärztekammer Schleswig-Holstein. Das, meine Damen und Herren, kann so nicht weitergehen. Wir müssen endlich diese Gesetzeslücken schließen. Wir müssen im Bundestag ein Umwandlungsverbot beschließen.
({10})
Dann wird gesagt: Die Mieterinnen und Mieter sollen es selber kaufen. – Also, ehrlich gesagt, das ist ein völlig weltfremdes Argument. Von 18 000 umgewandelten Wohnungen in Berlin haben gerade mal 0,3 Prozent der Mieterinnen und Mieter das Geld aufbringen können, ihre Wohnung zu kaufen. Das ist ein völlig weltfremdes, abgehobenes Argument der Union.
({11})
Und zu guter Letzt, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren: Wir Linke fordern nicht nur ein Umwandlungsverbot, sondern auch ein besseres und ein preislimitiertes Vorkaufsrecht für die Kommunen. Denn die Kommunen haben zu wenig Möglichkeiten, das Vorkaufsrecht zu ziehen. Die Fristen sind zu kurz, und dann müssen sie auch noch die hohen Preise der Spekulanten bezahlen. Das kann nicht gehen. Vorkaufsrecht muss für die Kommunen bezahlbar sein.
({12})
Vielen Dank, Caren Lay. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Torsten Schweiger.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Frau Lay, ich weiß nicht, wo Sie die Zahlen herhaben. Eigentlich wollte ich ein Stückchen anders anfangen, aber mir sind Zahlen aus dem Berliner Senat bekannt, wonach es im niedrigen einstelligen Bereich und nicht im Bereich von 200 000er-Schritten – oder wie auch immer – um Umwandlungen geht. Das, was Sie sagen, ist mir so nicht bekannt, aber wir können uns gerne im Nachgang auch noch mal zu den Daten und den Grundlagen austauschen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Lay?
Nein, jetzt nicht; ich würde gerne zu Ende reden.
({0})
Bevor ich auf den vorliegenden Antrag zu sprechen komme, möchte ich vielleicht ein Stückchen aus dem Koalitionsvertrag zitieren. Ich denke, es tut gut, wenn man ab und zu da reinschaut. Da haben wir nämlich vereinbart, dass wir eine große Wohnungsbauoffensive fahren, und zwar ist das die größte in den letzten 30 Jahren.
Wir haben ein ehrgeiziges Ziel: 1,5 Millionen neue Wohnungen und Eigenheime, frei finanziert oder öffentlich gefördert oder in Kombination. Damit wollen wir den Bedarf an bezahlbarem Wohnraum, insbesondere in wachsenden Städten und Ballungsräumen, decken.
({1})
Mit einem größeren Angebot an bezahlbarem Wohnraum können wir das Problem der explodierenden Mieten in den Griff bekommen.
Um dieses ambitionierte Wohnungsbauziel zu erreichen, haben wir eine Vielzahl von Maßnahmen beschlossen und auch schon umgesetzt. Die Grundprinzipien, die dabei gelten, sind folgende: Wir wollen so wenig wie möglich behördliche Vorgaben machen, also keinen Einstieg in eine Interventionsspirale, keine Regulierungs- und Eingriffswelle in Bezug auf das Eigentum. Wir wollen eher auf Anreizsysteme setzen, so wie wir das auch beim Baukindergeld oder bei der Sonder-AfA, die wir schon beschlossen haben, gemacht haben. Wir wollen Erleichterungen durch Lockerung der Regelungen, das heißt Erleichterungen bei Bebauungsplanverfahren; wir wollen sie beschleunigen und überflüssige Vorschriften abschaffen, die das Bauen teuer und zeitaufwendig machen. Und, ja, es gilt auch, weiter in die soziale Wohnraumförderung zu investieren. Das machen wir aber auch.
Aktuell befassen wir uns mit der Novelle des Baugesetzbuches zur Mobilisierung von Bauland. Die entscheidende Aussage im Koalitionsvertrag dazu ist, dass die Kommunen bei der Aktivierung von Bauland unterstützt werden sollen. Allerdings wird eine weitere Verschärfung der Eingriffsmöglichkeiten bis hin zum Eigentumsvorbehalt durch Gestaltung auf Bundesebene von uns nicht angestrebt.
Das Ziel, ein novelliertes Baugesetz, soll den Kommunen also die entsprechenden Instrumente in die Hand geben, damit sie die Flächen leichter erwerben und diese für den Bau von bezahlbaren Wohnungen verwenden können. Gleichzeitig sollen die staatlichen Interventionen in den Wohnungsmarkt aber so gering wie möglich gehalten werden.
Nun zu den Forderungen des Antrages, der uns vorliegt.
Die Erweiterung des Vorkaufsrechts wird angestrebt. Die kommunalen Rechte sollen ausgedehnt werden. Die Frist soll auf eine Zeit von bis zu sechs Monaten ausgeweitet werden, und es sollen preislimitiert auf der Grundlage eines sozialverträglichen Ertragswerts Preise gebildet werden. Die Rechte der Mieter sollen gestärkt werden, indem dieses preislimitierte Vorkaufsrecht sozialverträglich in einen Ertragswert mündet. Schließlich soll es ein konkretes und generelles Verbot der Umwandlung von Mietwohnungen geben.
Wir denken, dass diese Positionierung, die im Antrag deutlich wird, einfach eine zu große Reglementierung ist und dass dadurch nicht mehr, sondern weniger Wohnungen gebaut werden.
Eine Verlängerung der Ausübungsfrist im Baugesetzbuch ist von uns bereits vorgesehen. Das Vorkaufsrecht dient in erster Linie als Mittel zur Sicherung der kommunalen Bauleitplanung. Die bestehenden Regelungen zum Milieuschutz greifen bereits jetzt stark in die Rechte der Vermieter ein. Beispielsweise dürfen Immobilienbesitzer schon jetzt ihre Mietshäuser nicht ohne behördliche Genehmigung verkaufen.
({2})
Auch potenzielle Käufer von Mietimmobilien haben strenge Vorgaben hinsichtlich der Miethöhe und Modernisierungsmaßnahmen zu befolgen. Eingriffsrechte in die Vermieterrechte, wie beispielsweise der Mietendeckel in Berlin – das sehen wir ganz deutlich –, führen bei den betroffenen Vermietern zu einem dauerhaften Verlust. Warum sollte der Besitzer in sein Mietobjekt investieren? Warum soll er auf den Kosten sitzen bleiben? Warum sollten potenzielle Investoren in Mietimmobilien investieren, wenn im Verkaufsfall kein Marktpreis gezahlt wird?
All dies spricht unserer Meinung nach gegen das preislimitierte Vorkaufsrecht. Das wäre faktisch eine Enteignung. Wir lehnen eine weitere Verschärfung dieser Rechte ab; denn eine Geldanlage in Immobilienbesitz wird dadurch völlig unattraktiv und damit ad absurdum geführt.
({3})
Damit vernichten wir am Ende des Tages Wohnraum, anstatt neuen zu schaffen.
({4})
Ein generelles Umwandlungsverbot führt zu weniger Mietwohnungen und nicht zu mehr Wohnungen.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Torsten Schweiger. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Udo Hemmelgarn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen und an den Bildschirmen! Noch vor wenigen Tagen haben linke Aktivisten hier in Berlin unter dem Motto „Wir haben Platz“ für die Aufnahme aller Flüchtlinge aus Moria demonstriert.
({0})
Mit Datum vom 10. September 2020 stellte Die Linke einen entsprechenden Antrag zur Flüchtlingsaufnahme. Mit Datum vom 16. September – ganze sechs Tage später – stellte Die Linke den Antrag, über den wir heute debattieren, und sie beklagt darin Mietsteigerungen und Verdrängung in den Städten. So viel Platz haben wir dann wohl doch nicht, liebe Linke.
({1})
Anstatt die wirklichen Probleme für den Wohnungsmarkt anzugehen, wie die Binnenmigration, die Landflucht, die Migration innerhalb der EU, den ungehemmten Zuzug von illegalen Wirtschaftsmigranten,
({2})
zu wenig Wohnungsbau in den Ballungszentren und die Zinspolitik der EZB, machen die Linken natürlich andere, realitätsferne Vorschläge, die – gewollt – Neiddebatten auslösen sollen.
Das kommunale Vorkaufsrecht soll preislimitiert ausgeübt werden.
({3})
Mit anderen Worten: Das Vorkaufsrecht soll unterhalb des Marktpreises ausgeübt werden – zulasten des Verkäufers, versteht sich. Und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen soll nach Gutdünken der Kommunen verboten werden.
({4})
Im Klartext: Einigen will man das Eigentum wegnehmen, und bei anderen will man verhindern, dass sie Eigentum erwerben können. – Genau das ist das Weltbild der Linken.
Anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie neue Wohnungen entstehen können, will Die Linke die Knappheit an Wohnungen dadurch lindern, dass sie mehr oder weniger offen enteignet. Die Maske der Gutmenschen fällt und lässt Schlimmes befürchten.
({5})
30 Jahre nach dem Ende der DDR feiert der Sozialismus in den Anträgen der Linken fröhliche Wiederauferstehung.
({6})
Dass die Linken mit den Gesetzen des Marktes nicht wirklich vertraut sind, haben sie in der Vergangenheit immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Ein Beispiel dafür: Im Jahr 2004 hat der rot-rote Berliner Senat mehr als 65 000 Wohnungen an private Investoren – auch von Ihnen gerne „Heuschrecken“ genannt – verkauft. Der Kaufpreis betrug 405 Millionen Euro bei Übernahme von 1,56 Milliarden Euro Schulden durch die Käufer. Pro Wohnung wurde im Schnitt also ein Preis von circa 30 000 Euro bezahlt. Da kann ich nur sagen: Traumpreise für gewinnorientierte Investoren!
Heute versucht man in Berlin, Wohnungen zu Höchstpreisen zurückzukaufen. Wenn die Wohnungen billig sind, verkauft man sie, und wenn sie teuer sind, kauft man sie zurück – alles mit Steuergeld und ohne eine einzige Wohnung neu geschaffen zu haben. Das ist an Dummheit kaum zu überbieten.
({7})
Liebe Linke, wir haben ein paar ernst und gut gemeinte Ratschläge für euch:
Erstens. Hört endlich auf, gedanklich zu plündern! Anderen etwas wegzunehmen, löst keine Probleme. Wenn Dinge knapp sind, dann muss man davon mehr produzieren. Wenn man sie anderen nur wegnimmt, bleiben sie immer noch knapp.
({8})
Zweitens. Versucht endlich, das Prinzip der Marktwirtschaft zu verstehen! Wenn es nicht anders geht, dann lest das mal bei Marx nach, aber hört auf, Probleme immer nur selektiv lösen zu wollen.
({9})
Drittens. Legt euren Hochmut ab! Ihr seid nicht die besseren und klügeren Menschen.
({10})
Eure Rezepte haben vor 30 Jahren nicht funktioniert, und sie funktionieren auch heute nicht.
({11})
Wohin linke Politik in der Vergangenheit geführt hat, haben wir 1989 gesehen. Wohin linke Politik heute führt, werden wir morgen früh bestaunen können, wenn in Berlin das besetzte Haus Liebigstraße 34 geräumt wird. Tausende von Polizisten aus mehreren Bundesländern werden notwendig sein, um ein Haus mit sage und schreibe 40 Bewohnern zu räumen und dem Rechtsstaat wieder Geltung zu verschaffen.
({12})
Meine Damen und Herren, auch das ist letztendlich ein Sinnbild dafür, wie viele Ressourcen es unser Land kostet, die Fehler einiger weniger zu korrigieren, die sich mit geringem Aufwand und Verständnis hätten vermeiden lassen.
Vielen Dank.
({13})
Danke schön, Udo Hemmelgarn. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernhard Daldrup.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hemmelgarn, wir haben im Fachausschuss – das wissen Sie auch – eigentlich eine fraktionsübergreifende Vereinbarung, die besagt, dass man Ihnen eigentlich nicht mehr argumentativ, sondern nur noch therapeutisch helfen kann. Das machen wir aber heute nicht.
({0})
In dem Antrag der Linken steht nichts wirklich Neues. Es ist nicht falsch, aber es ist nicht wirklich neu. Die Tatsache, dass wir explodierende Baulandpreise und überhitzte Immobilienmärkte mit dramatischen sozialen Folgen haben, kennen wir alle.
({1})
Dass wir über die Instrumente reden müssen, wie hier angesprochen wurde, ist auch klar. Aber wir glauben: Für beides brauchen wir ein Baugesetzbuch, und dafür brauchen wir einen Baugesetzbuchentwurf, und zwar hier im Plenum. Das ist wichtig.
({2})
Das sehen wir gemeinsam so, und wir wissen auch, dass es dazu einen abgestimmten Referentenentwurf gibt.
Der Antrag konzentriert sich auf wenige Punkte, ohne zu sagen, was denn eigentlich unsere gemeinsame Bilanz ist. Ich weiß, das gefällt nicht allen: Die Bilanz der GroKo an dieser Stelle ist relativ gut. Ich will sie jetzt aber aus Zeitgründen nicht im Einzelnen darstellen, sondern ich will auf den Referentenentwurf zu sprechen kommen. Er ist nämlich eigentlich das Ergebnis des Wohngipfels, an dem alle beteiligt waren. Er ist das Ergebnis der Bodenkommission, und er ist das Ergebnis eines Koalitionsausschusses. Kurzum: Er ist das Ergebnis eines ziemlich konstruktiven Arbeitsprozesses in der Regierung mit vielen Beteiligten, und er enthält viele gute Vorschläge, angefangen beim sektoralen Bebauungsplan bis hin zur Stärkung von Vorkaufsrechten, und selbstverständlich auch Anpassungen beim Umwandlungsrecht und Baugebot. Das alles ist darin enthalten.
Es gibt eine gute Grundlage, und ich hoffe sehr, dass es jetzt keine Rolle rückwärts gibt.
({3})
Diese Sorge treibt uns, und zwar deswegen, weil wir den Eindruck haben, dass sozusagen die Immobilienlobby hier eingreift.
Ich will hier Michael Fabricius von der „Welt“ zitieren; das ist kein sozialistisches Kampfblatt, wie Sie wissen. Er schreibt: „Bekannt ist …, dass sich 49 größtenteils kleine Berliner Immobilienunternehmen in einem Schreiben unter anderem an … Peter Altmaier … gegen die Umwandlungsbremse im BauGB starkgemacht haben.“ Und am Ende heißt es dann, dass der CDU-MdB Luczak als „starker Akteur“ der Immobilienlobby wirkt. – Das geht so nicht, wie wir finden. Das ist nicht in Ordnung.
({4})
Der Trick, der dahintersteckt, ist ganz einfach. Er lautet nämlich: Wir bauen Luftschlösser bei der Eigentumsbildung. Dies funktioniert nicht; das wissen wir. Bei 80 000 Umwandlungen – ich muss das sagen, Kollege Schweiger; das ist das Ergebnis einer offiziellen Anfrage hier in Berlin – ist die Zahl derjenigen, die gekauft haben, nicht mal ansatzweise vierstellig; sie ist also ganz gering. Warum ist das so? Weil laut Bundesbank die deutschen Miethaushalte im Jahr 2018 im Schnitt ein Barvermögen von kaum mehr als 10 000 Euro und noch nicht einmal 10 Prozent mehr als 50 000 Euro gehabt haben. Das Modell funktioniert also überhaupt nicht. Deswegen ist es auch kein tragfähiges Modell, Herr Luczak. Sie sollten das nicht immer behaupten. Es ist ein ideologisches Luftschloss.
({5})
Der zweite Trick ist, zu sagen, das Baugebot und die Verschärfung des Umwandlungsrechts seien irgendwie Zwang. Nein, es ist die Freiheit der Kommunen, dies machen zu können. Warum sind Sie gegen diese Freiheit? Das verstehen wir nicht.
({6})
Letzter Punkt und letzter Satz. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, dass wir hier mit Horst Seehofer einen Baugesetzbuchentwurf auf der Basis des ersten Referentenentwurfs hinkriegen, und dann werden wir auch eine konstruktive Debatte zu den Punkten führen, die hier angesprochen worden sind.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen herzlichen Dank. – Nächster Redner: Daniel Föst für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen uns hier mal ehrlich machen: Diese Debatte um das Umwandlungsverbot und um das Vorkaufsrecht ist eine inszenierte Scheindebatte.
({0})
Es geht hier gar nicht so sehr um den Mieterschutz, um Gentrifizierung und Verdrängung.
({1})
Hier steht ein anderer Elefant im Raum, nämlich die schlichte Tatsache, dass die Unionsparteien und die SPD die Reform des Baugesetzbuches, das einzige große baupolitische Projekt dieser Legislaturperiode,
({2})
völlig in den Sand gesetzt, völlig vergeigt haben.
({3})
Fakt ist: Die so hoch beschworene Wohnraumoffensive ist gescheitert.
({4})
Es fehlen nach wie vor Millionen Wohnungen. Dieses fehlende Angebot treibt nach wie vor die Mieten. Eine Reform des Baurechts muss her. Es muss einfacher und schneller gebaut werden können.
Aber wieder einmal scheitert eine große Weichenstellung an dem Streit innerhalb der Großen Koalition. Wieder einmal haben Union und SPD nichts Besseres zu tun, als Schwarzer Peter zu spielen und die beleidigte Leberwurst zu geben. Das ist unverantwortlich, es ist fahrlässig, und es ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, denen die Miete die Luft zum Atmen nimmt.
({5})
Mich macht das genauso wütend wie den Kollegen Kühn.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Mindrup?
Wenn die Unionsfraktion und die SPD den Mut haben, das BauGB im Bauausschuss zu diskutieren, dann akzeptiere ich Zwischenfragen, sonst nicht.
({0})
Erst mal sollten Sie auf meine Frage mit Ja oder Nein antworten.
Okay, Entschuldigung, Frau Präsidentin. – Das war ein klares Nein.
Es war ein Nein. Gut, danke schön.
({0})
Von wegen „feige“! Wer duckt sich denn weg um diese wichtige Debatte?
({0})
Wer hat das denn im Bauausschuss verhindert?
({1})
Am Ende – diese Legislaturperiode ist ja bald vorbei – werden wir sehen, dass die Mieten weiter explodiert sind, dass nach wie vor Millionen Wohnungen fehlen, dass Sie die Baurechtsreform nicht auf den Weg gebracht haben und dass die Mieten den Menschen nach wie vor die Luft zum Atmen nehmen. Also, nennen Sie mich nicht feige, sondern machen Sie Ihren Job, und regeln Sie das im Baugesetzbuch!
({2})
– Ja, ich komme zu den Eigentümern. Denn da hat die Union in der Tat recht. Das IW Köln hat relativ klar festgestellt, dass ein Umwandlungsverbot den Mietern so gut wie gar nichts bringt, dass aber die Nebenwirkungen verheerend sind: steigende Kaufpreise, Konzentration der Wohnungen bei großen Konzernen und am Ende auch steigende Mieten.
Mit einem Umwandlungsverbot schießen Sie auf Spatzen. Sie treffen auch unheimlich viel – aber nur nicht die Spatzen. Der beste Mieterschutz sind nach wie vor die eigenen vier Wände; die eigenen vier Wände sind der beste Mieterschutz. Ich weiß, dass Sie das lächerlich finden; aber 80 Prozent der Mieterinnen und Mieter wollen gar nicht zur Miete wohnen. 80 Prozent der Mieterinnen und Mieter wollen ins Eigenheim. Also müssen wir endlich dafür Sorge tragen, dass das Eigenheim erschwinglich wird und dass die Menschen die Möglichkeit haben, ihre Träume zu verwirklichen.
({3})
Die Unionsfraktion, SPD und Grüne machen dafür nichts.
({4})
Deswegen, sehr geehrte CDU/CSU und SPD: Erleichtern Sie den Menschen den Weg ins Eigentum, und hören Sie auf mit dem kindischen Schwarzer-Peter-Spiel! Die Menschen brauchen Lösungen, und sie haben sie auch verdient.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Daniel Föst. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gezerre um die Novelle zum Baugesetzbuch ist absurd, und es ist schädlich.
({0})
Die Baulandkommission hat 2019 ihre Vorschläge vorgelegt, mit vielbeachteten Maßnahmen. Bauminister Seehofer hat sich öffentlich zu einer Begrenzung der Umwandlung bekannt – aus guten Gründen. Die Umwandlung zu erschweren, wurde auf dem Wohngipfel 2018 vereinbart – aus guten Gründen.
Meine Damen und Herren, die Bauwirtschaft, die Wohnungswirtschaft brauchen Planungssicherheit, die Bürgerinnen und Bürger Gewissheit, dass die Regierung ihre Ankündigung umsetzt, den Ausverkauf der Innenstädte bremst und dass das BauGB als Instrument einer gemeinwohlorientierten Boden- und Baupolitik zum Wohle aller genutzt wird.
({1})
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie Verbesserungen im Bauplanungsrecht vereinbart, zum Beispiel Bauland aktivieren und bezahlbares Wohnen sichern. Die Instrumente sind im Baurecht ja bereits angelegt: Baugebot, Bauvorkaufsrecht, Milieuschutz und Schutz vor Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen müssen verbessert werden. Keine Frage; das bestreitet auch niemand mehr. Und: Die Kommunen brauchen mehr Zeit bei der Durchführung des Vorkaufsrechts und mehr Rechtssicherheit bei Schrottimmobilien.
({2})
Baugebote müssen erleichtert werden, Milieuschutzgebiete gestärkt werden. So wird Bauland mobilisiert und bezahlbarer Wohnraum gesichert.
Nach anfänglicher Einsicht hat der Minister dann den neuen Paragrafen, mit dem Sie die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen unter Genehmigungsvorbehalt stellen wollten, wieder kassiert.
({3})
Dabei hätte dieser Paragraf nicht mal zu einem Lockdown der Umwandlungen geführt. Hinreichende Genehmigungstatbestände waren enthalten. Es war nicht eine radikale Kehrtwende, und selbst das wenige ist jetzt gefährdet.
Unsere Berichtsbitte zum Sachstand der BauGB-Novelle wurde von der Koalition abgesetzt. Sie verschleppen den Gesetzgebungsprozess immer weiter, weil Sie sich nicht einig sind; denn offenbar sind der CDU und der CSU das Geschäftsmodell weniger Markthaie wichtiger als der Erhalt bezahlbarer Wohnungen für viele Mieterinnen und Mieter.
Um kein Missverständnis hier im Haus aufkommen zu lassen: Wir haben nichts gegen Wohneigentumsbildung. Aber wir haben etwas gegen manche Wege dahin, Umwandlungsprozesse, an deren Ende eine für die Mieter niemals erschwingliche Wohnung steht; eine Eigenheimzulage, die mehr Steuermittel verschlingt als der geförderte Wohnungsbau, Mitnahmeeffekte generiert und kaum zusätzlichen Wohnraum schafft. Das alles, meine Damen und Herren, sind Instrumente, die mehr Schaden als Nutzen anrichten. Deswegen lehnen wir sie ab; aber wir lehnen nicht Eigentum ab.
({4})
Deswegen machen Sie bitte das einzig Richtige: Bringen Sie die BauGB-Novelle endlich auf den Weg. Tun Sie etwas für die Erhaltung von bezahlbarem Wohnraum für viele, statt einige wenige mit ihren miesen Geschäftsmodellen zu bedienen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Daniela Wagner. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Emmi Zeulner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen zu dem, was in Berlin los ist, wurden gerade von den Kollegen der Linken bemüht. Ich kann Zahlen aus Bayern, aus München, liefern. Da sind bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen tatsächlich ganz andere Zahlen im Spiel. Wir hatten im Jahr 2017 in München 66 bewilligte Umwandlungen von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Wir hatten 2018 45 und 2019 330 Bewilligungen zur Umwandlung. Auch das IW Köln sagt: Im Jahr 2019 sind bundesweit rund 7 000 Wohnungen umgewandelt worden. Deswegen frage ich mich schon, wo die Zahlen herkommen, die Sie hier in Ihrem Antrag liefern.
({0})
– Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
({1})
Frau Zeulner, machen Sie einfach weiter, bitte.
Ich möchte gerne meine Rede weiterführen. – Man kann sich aufregen, wie man will. In Berlin wird vieles mit eingerechnet: Wenn beispielsweise eine Wohnung oder ein Haus vererbt wird, dann wird auch das als Umwandlung gesehen, obwohl das klassischerweise gar keine Umwandlung ist.
Gleichzeitig ist es auch nicht so, wie immer wieder suggeriert wird, dass jede Mietwohnung, die zu einer Eigentumswohnung wird, es am Ende des Tages mit sich bringt, dass die Mieter rausgedrängt werden.
({0})
Vielmehr gibt es verschiedenste Konstellationen für die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen, etwa zwecks Altersvorsorge oder zur Eigennutzung.
Damit möchte ich zum Kern meiner Ausführungen kommen. Wir haben einfach einen anderen Schwerpunkt. Wir sind uns zwar alle einig, dass das Wohnen die soziale Frage unserer Zeit ist. Aber wir sind uns eben in den Schwerpunkten, die wir setzen, uneinig. Insofern hat der Kollege Luczak zu Recht den Schwerpunkt Eigentumsbildung genannt. Auch ich möchte, dass mehr Familien, mehr junge Leute, auch mehr Alleinerziehende, wenn es geht, tatsächlich zu Eigentum kommen. Deswegen haben wir beispielsweise so etwas wie das Baukindergeld auf den Weg gebracht. Jetzt wird das natürlich belächelt.
({1})
Aber es hilft ja nichts: Am Ende des Tages sieht man an den Zahlen, dass rund 60 Prozent der Antragsteller des Baukindergeldes ein Haushaltseinkommen von rund 40 000 Euro im Jahr haben. Das sind keine Großverdiener; das sind kleine Leute. Trotzdem haben sie mit der Unterstützung durch das Baukindergeld die Möglichkeit bekommen,
({2})
einen weiteren Schritt hin zu Wohneigentum gehen zu können.
Ich glaube, wir haben hier in der Großen Koalition in den letzten Jahren wirklich viel gemacht. Deswegen ist der Advokat der Mieter nicht, wie Sie das suggerieren, Die Linke, sondern das sind wir.
({3})
Wir haben in der Gesetzgebung beispielsweise die Mietpreisbremse verschärft und ihre Geltungsdauer verlängert. Wir haben beispielsweise den Betrachtungszeitraum beim Mietspiegel von vier auf sechs Jahre verlängert. Wir sind aber auch beim Wohngeld nach oben gegangen: Wir haben die Reichweite des Wohngeldes erhöht und für mehr Städte möglich gemacht. Wir haben es ausgeweitet, um die Möglichkeit zu schaffen, dass wir nicht nur einen Ansatz im Bereich der Objektförderung, also von Wohngebäuden, haben, sondern auch im Bereich der Subjektförderung.
Bei der Objektförderung stellen wir seit mehreren Jahren – das geht bis 2021 – den Ländern 5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. Ich habe es heute bei meiner vorherigen Rede zu einem anderen Thema schon mal gesagt – ich habe immer das Gefühl, dass die Leute mittlerweile vergessen haben, wie viel Millionen denn 1 Milliarde sind –: 1 Milliarde sind 1 000 Millionen. Das sollten wir nicht vergessen. Wir übernehmen hier eigentlich originäre Aufgaben der Länder,
({4})
indem wir eben sagen: Wir geben für den sozialen Wohnungsbau Geld, und das, wie gesagt, nicht zu wenig: Es sind 5 Milliarden Euro.
({5})
Beim Thema der Umwandlung brauchen wir, wenn es im Rahmen bleibt – dafür gibt es ja auch Schutzmechanismen –, grundsätzlich erst mal eine Legitimation in unserem Land, damit die Umwandlung stattfinden kann, weil sonst eben kein Eigentum mehr möglich ist.
Um noch weiterzugehen, komme ich zu Ihrem zweiten Punkt: Da fordern Sie die Ausweitung der Frist für Vorkaufsrechte für Kommunen auf sechs Monate. Es kann aber doch in der jetzigen Zeit – davon bin ich fest überzeugt – nicht die Antwort sein, dass wir, um das Bauen zu ermöglichen, Fristen verlängern, sondern das Gegenteil muss doch der Fall sein. Es muss möglich sein, dass wir schneller zum Bauen kommen. Deswegen macht es für uns keinen Sinn, zu sagen: Wir verlängern die Frist auf sechs Monate. Wir haben da mit der SPD einen guten Kompromiss im Entwurf des Baugesetzbuches gefunden. Wir haben da nämlich gesagt: Maßvoll ist es, wenn wir die Frist auf drei Monate verlängern, um den Kommunen ihre Chance zu geben und gleichzeitig die Verfahren nicht endlos zu verlängern.
In diesem Sinne ist es in Ordnung, wenn Ihr primäres Ziel ist, dass Menschen in Mietwohnungen leben. Sie wollen somit eine Abhängigkeit schaffen; das ist mein Eindruck. Ich möchte das nicht. Unser primäres Ziel als Union muss es einfach sein, dass wir mehr Menschen in Wohneigentum bringen. Darauf werden wir weiterhin alle Anstrengungen verwenden.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Emmi Zeulner. – Könnten die Herren – es sind wirklich alles Herren – ihre Debatten draußen führen? Sie reden so laut, dass wir hier vom eigentlichen Tagesordnungspunkt abgelenkt werden. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollegin Caren Lay. Bitte, Frau Lay.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie meine Kurzintervention zulassen. – Ich darf feststellen, dass beide Redner der Union mich persönlich angesprochen und mich in ihren Reden gefragt haben, woher die Zahlen stammen. Als ich mich dann gemeldet habe, um die Antwort zu geben, haben sie keine Frage zugelassen. Ich muss erstens feststellen, dass ich das ganz schön feige finde.
({0})
Das Zweite ist: Ich möchte Ihnen jetzt die Frage beantworten. Ich beziehe mich auf die Drucksache 18/24196 aus dem Berliner Abgeordnetenhaus, eine Anfrage der Abgeordneten Gaby Gottwald. Die Antwort vom Berliner Senat ist, dass in den Jahren 2015 bis 2019 72 629 Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden. Übrigens hat die Bundesregierung auf eine ähnliche Kleine Anfrage von mir dieselbe Zahl noch mal zitiert und bestätigt und auch nicht angeführt, dass sie falsch ist.
({1})
In dieser Anfrage steht drittens – das ist ein entscheidender Punkt –, dass davon 18 000 Wohnungen in Milieuschutzgebieten umgewandelt werden mussten. Eines weiß ich mit Sicherheit: Die meisten Berliner Baustadträte wollten diese Umwandlungen nicht genehmigen. Frau Zeulner, Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Baugesetzbuch sie dazu zwingt, weil es die Siebenjahresregelung gibt, weil es Schlupflöcher gibt.
Aus diesem Grunde muss ich sagen: Es ist unsere Aufgabe hier im Bundestag, diese Schlupflöcher endlich zu schließen und das Umwandlungsverbot in angespannten Wohnungsmärkten endlich zu verhindern. Das geht nicht gegen Eigentümerinnen und Eigentümer. Es geht schlichtweg darum, dass Familien, dass Mieterinnen und Mieter in den Wohnungen bleiben können, in denen sie wohnen.
({2})
Vielen Dank, Frau Lay. – Jetzt hat das Wort zur Erwiderung Emmi Zeulner.
Erstens muss ich sagen: Ich habe Ihnen keine Frage gestellt.
Zweitens. Es gibt einen zehnjährigen Kündigungsschutz für Mieter. Es wird hier suggeriert, jeder Mieter müsste ab dem Erwerb sofort seine Wohnung verlassen. Das ist in Berlin nicht der Fall.
({0})
Es gibt viele andere Städte, wie beispielsweise München, Nürnberg, Erlangen, wo dies auch der Fall ist. Man hat sogar einen erweiterten Kündigungsschutz; er wurde nämlich auf zehn Jahre verlängert.
Zu den Zahlen, die Sie genannt haben. Auf Grundlage der Daten wird anscheinend etwas ganz anderes gemacht. Wie erklären Sie sich denn das? Ich kann es mir eben nicht erklären, dass das IW Köln auf 7 000 kommt und dass beispielsweise die Stadt München – das bezieht sich auf die Anfragen, die ich gestellt habe – auf 300 kommt. Aber Sie kommen irgendwie auf über 70 000. Wenn Sie sich die Modalitäten anschauen, was tatsächlich erfasst wird, dann müssen auch Sie feststellen und zugeben, dass beispielsweise das Erben mit einfließt. Wenn also eine Erbengemeinschaft etwas erbt, dann fließt auch das in die Verteilung ein.
({1})
Oder: Ein Verkauf wird immer wieder als der erste gezählt. Wenn also ein weiterer Verkauf stattfindet, dann wird dieser Verkauf sozusagen als Verkauf eins gezählt.
Das sind die verschiedenen Themen. Mir ist es einfach ein Anliegen. Wir haben einfach unterschiedliche Auffassungen.
Ich möchte zum Schluss noch sagen: Ich finde es mittlerweile einfach unerträglich, dass die Linken hier in Berlin ihrer Verantwortung in keiner Weise nachkommen – in keiner Weise, ja.
({2})
Frau Lay, ich schätze Sie persönlich. Sie sind mit Sicherheit auch die bessere Rednerin. Aber dass man der bessere Redner ist, bedeutet nicht, dass man auch tatsächlich besser in der Umsetzung ist. Und deswegen: Schauen Sie nach Bayern, wo wir versuchen, wirklich einen Unterschied zu machen, und gehen Sie in Berlin endlich in die Verantwortung.
({3})
Danke schön, Frau Zeulner. – Letzte Rednerin in der lebendigen Debatte: Ulli Nissen für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es natürlich toll, dass Sie alle Frankfurt mögen – ich auch, ganz besonders. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vorletzten Sitzungswoche waren die SDGs, die Nachhaltigkeitsziele, unser Schwerpunkt. Ziel 11 fordert nachhaltige Städte und Gemeinden.
({0})
Dazu gehört auch bezahlbares Wohnen.
Ich bin seit vielen Jahren auf der Seite der Mieterschaft und erlebe, dass deren Situation immer dramatischer wird. Viele Mietshäuser werden verkauft und sollen umgewandelt werden, auch in Frankfurt.
({1})
4 000 Wohnungen allein in den letzten fünf Jahren. Das ist bei uns fast ein ganzer Stadtteil. Häufig drangsalieren die neuen Eigentümer, die ich Miethaie nenne, die Mieterschaft. Als Beispiel nenne ich heute die Firma WPS. Sie stellt Gerüste ans Haus, die auch nach Monaten gar nicht genutzt werden. Aber diese Gerüste tragen zur Unsicherheit bei und nehmen den Menschen zusätzlich Tageslicht. Haustürschlösser werden ausgebaut, sodass jeder ins Haus kommen kann. Völlig überzogene Mieterhöhungsankündigungen nach Modernisierungen flattern ins Haus, die den Menschen große Sorgen machen.
Aus meiner Sicht sind das alles Maßnahmen, um die Wohnungen zu entmieten und sie dann sehr teuer weiterzuverkaufen. Zum Glück gibt es bei uns die großartige Stabsstelle Mieterschutz, die die Menschen unterstützt. Auch möchte ich die Mieterinitiative NBO loben, die den Betroffenen Rückhalt bietet. Sie bekommt zu Recht in diesem Jahr die Walter-Möller-Plakette. Aber beide Institutionen müssen mit geltenden Gesetzen leben.
Auf dem Wohngipfel, der schon erwähnt worden ist, wurde vereinbart, dass künftig Mieterinnen und Mieter vor Umwandlung geschützt werden sollen. Ich erinnere mich an meine große Freude, als ich den Referentenentwurf des Baulandmobilisierungsgesetzes im Juni gelesen habe. Ich saß neben dem Stenografentisch als Schriftführerin und hatte Zeit, ihn in Ruhe zu lesen. Ich war begeistert.
({2})
In § 176 dieses Entwurfs war unter anderem ein Baugebot für angespannte Wohnungsmärkte festgeschrieben. Super, das hätte dringend benötigte zusätzliche Bauflächen gebracht. Der Schutz vor Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen stand im ganz neuen § 250 dieses Entwurfs. Die Kommune hätte dafür die Genehmigung verweigern können. Der Frankfurter Planungsdezernent Mike Josef sagte mir, dass dies extrem wichtig sei, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten. Für Investoren wäre es nicht mehr lukrativ gewesen, überteuerte Häuser aufzukaufen, weil sie dann keine Gewinne mehr durch den Verkauf von Eigentumswohnungen machen können. Deshalb bin ich ziemlich entsetzt, dass dies jetzt alles nicht mehr gilt. Auch die Sozialverbände, mit denen ich gesprochen habe, sind erschüttert. Ich bin wirklich erschüttert, dass § 250 des damaligen Referentenentwurfs weg ist.
({3})
Das muss ich wirklich deutlich sagen. Die Ministerinnen und Minister von der SPD haben bereits angekündigt, dem neuen Referentenentwurf so nicht zuzustimmen. Gut so!
({4})
Lieber Volkmar Vogel, ich kann nur deutlich an euch appellieren: Mieterinnen und Mieter brauchen unseren Schutz. Bringen Sie den Umwandlungsschutz und das Baugebot zurück in das Baugesetzbuch. Die Kommunen benötigen dringend mehr Möglichkeiten des Einflusses auf ihre Wohnungsmärkte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Nur als kurze Ergänzung. Ich hatte vorne neben dem Stenografentisch nichts zu tun, weil ich leider nicht neben dem Präsidenten sitzen konnte. Deshalb konnte ich den Referentenentwurf des Baulandmobilisierungsgesetzes ordentlich lesen. Das als Ergänzung dazu. Das, was dort stand, habe ich mit großer Freude gelesen.
({5})
Vielen Dank, liebe Ulli Nissen. – In der Tat haben die Schriftführerinnen und Schriftführer auch andere Tätigkeiten, als Gesetzentwürfe zu lesen. -
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Rahmen dieser Gesetzesberatung zur Fortentwicklung des Pfändungsschutzkontos stellen Sie sich einmal folgende Situation vor: Sie haben gemeinsam mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin ein Konto bei einer Bank oder Sparkasse eingerichtet. In Zeiten von hohen Kontoführungsgebühren sind Gemeinschaftskonten eine gute Einsparmöglichkeit für jede Haushaltskasse. Das Arbeitseinkommen beider Partner wird auf dieses Konto überwiesen, das Kindergeld und eventuell das Arbeitslosengeld bzw. das Geld für andere Sozialleistungen.
Am Wochenende planen Sie einen Einkauf oder einen Kinobesuch mit den Kindern, und Sie wollen sich vorher noch ein bisschen Bargeld abholen, oder Sie wollen direkt an der Kasse bargeldlos bezahlen. Völlig fassungslos stehen Sie dann vor Ihrem Bankautomaten oder gegenüber der Kassiererin oder dem Kassierer – fassungslos deshalb, weil Ihnen kein Bargeld ausbezahlt wird oder die Karte nicht funktioniert und Sie sich überhaupt nicht erklären können, was da wohl schiefgelaufen sein könnte. Eine Möglichkeit: Der Geldautomat oder Ihre Karte spinnt, und Sie schimpfen auf den Service Ihrer Bank. Zweite Möglichkeit: Das Konto wurde gepfändet! Auch dann bekommen Sie kein Geld, und schimpfen vermutlich auch über den schlechten Service Ihrer Bank.
Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass der zweite Fall eingetreten ist und die Karte gesperrt wurde. Wie können wir hier als Gesetzgeber helfen? Wie können wir sicherstellen, dass jedem Einzelnen auch im Falle einer Pfändung noch sein Existenzminimum verbleibt und er nicht vor solch überraschenden Ereignissen steht? Eine erste Vereinfachung und Hilfe für die Schuldner erfolgte 2010 durch das Gesetz zur Reform des Kontopfändungsschutzes mit Einführung eines sogenannten P-Kontos, also eines Pfändungsschutzkontos.
Damit das Ganze nicht so abstrakt bleibt, möchte ich einmal den Ablauf einer Pfändung skizzieren: Jeder hat schon etwas davon gehört, dass es sogenannte Pfändungsfreibeträge gibt. Man kann dann, wenn man vielleicht ein bisschen viele Schulden gemacht hat und Pfändungen drohen, mit einer Bank vereinbaren, dass ein P-Konto geführt wird. Seit 2010 ist das möglich. Dann kann ohne gerichtliche Freigabe erlaubt werden, im Rahmen der gesetzlichen Freibeträge über das Guthaben auf dem Konto zu verfügen. Dafür müssen der Bank bestimmte Bescheinigungen vorgelegt werden. Wird dann dieses P-Konto gepfändet, erhält der Kontoinhaber automatisch Pfändungsschutz in Höhe seines Grundfreibetrages.
Dieser automatische Grundfreibetrag kann sich je nach Lebenssituation des Kontoinhabers noch weiter erhöhen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man jemandem Unterhalt schuldet, und zwar gesetzlichen Unterhalt, wenn das also gesetzlich geregelt ist. Dann kann dieser Grundfreibetrag, der zurzeit 1 179 Euro beträgt, weiter erhöht werden. Dazu muss man bei der Bank einen Leistungsbescheid über Sozialleistungen vorlegen, Lohnbescheinigungen mit Pfändungsberechnung des Arbeitgebers. Welche Stellen das machen dürfen, steht auch im Gesetz.
Grundsätzlich hat sich dieses P-Konto bewährt. Es soll aber in Teilen weiterentwickelt werden, weil sich in zehn Jahren gezeigt hat, dass es an der einen oder anderen Stelle doch immer mal wieder hakt. Probleme sind hier unter anderem Gemeinschaftskonten. Das heißt, es gibt einen Schuldner, aber auch jemanden, der für die Schulden nicht mithaftet, aber Mitkontoinhaber ist und dessen Gehalt bzw. Einkünfte genauso von der Pfändung betroffen sein können. Da sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir reagieren müssen. Die Banken werden jetzt verpflichtet, die Möglichkeit anzubieten, auch bei einer Pfändung noch ein P-Konto einzurichten. Das heißt: Das Konto wird separiert. Dann kann der Schuldner verlangen, dass für ihn ein P-Konto eingerichtet wird mit dem Guthaben auf dem Gemeinschaftskonto, das nur ihn betrifft. Ebenso gut kann aber der Mitkontoinhaber, der nicht von den Schulden betroffen ist, verlangen, dass er geschützt wird und dass für ihn oder sie ein entsprechendes Konto eingerichtet wird.
({0})
– Das ist eben eine sehr trockene Materie. Ich versuche jetzt einfach mal, das ein bisschen praktisch aufzubereiten.
Ist das pfändungsgeschützte Guthaben – das ist eine weitere Regelung – bis zum Ende des Kalendermonats nicht aufgebraucht, konnte das bisher nur einen weiteren Monat übertragen werden. Das heißt, wenn der Schuldner besonders sparsam war und diesen Pfändungsfreibetrag nicht genutzt hat, konnte er ihn übertragen. Diesen Zeitraum haben wir jetzt verlängert. Diese Verlängerung auf bis zu drei Monate kann ein Anreiz sein, Geld zu sparen, ohne dass der Gläubiger gleich darauf zugreifen kann, damit auch mal größere Anschaffungen getätigt werden können.
({1})
Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir noch darauf verzichtet, eine weitere Regelung mit aufzunehmen. Wir haben sehr breit darüber diskutiert, ob man auch faktische Unterhaltsverhältnisse schützen sollte im Rahmen einer Pfändung.
({2})
– Ja, darüber haben wir ja auch schon diskutiert, Herr Straetmanns. – Ich sehe das Problem aber nicht im Pfändungsrecht, das heißt nicht in der Zivilprozessordnung, sondern ich sehe das Problem hauptsächlich als Herausforderung für das Familien- und das Sozialrecht an. Ich bin der Meinung: Daran müssen wir zukünftig arbeiten.
Faktische Unterhaltsverhältnisse entstehen zum Beispiel in Patchworkfamilien. Wenn ich für die Kinder des neuen Lebenspartners mit aufkomme, wenn ich tatsächlich Miete, Unterhalt, Essen, Trinken, Vereinsbeiträge, Urlaub bezahle, bei einer Pfändung aber nur die gesetzlichen Unterhaltsansprüche berücksichtigt werden, die ich gegenüber meinen eigenen Kindern habe, die vielleicht gar nicht bei mir leben, und nicht das, was ich tatsächlich zusätzlich zahle, dann ist das ein Problem.
({3})
Das ist aber, wie gesagt, kein Problem des Pfändungsschutzes, sondern die Probleme kommen ja woanders her, und ich finde, dann müssen sie auch da geregelt werden. Ich hoffe, dass wir dazu noch gute Vorschläge ausarbeiten werden.
Ich hätte es falsch gefunden, das an dieser Stelle zu regeln; aber wir haben in die Gesetzesbegründung geschrieben, dass wir vorhaben, das zu regeln. Das bleibt also noch eine große Aufgabe. Denn nicht in allen Patchworkfamilien finden ja Pfändungen statt, aber in vielen Patchworkfamilien werden faktische Unterhaltsleistungen erbracht. Deswegen brauchen wir da auch eine viel weitere Regelung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das gemeinsam angehen.
Ich freue mich auf die weitere Arbeit an diesem Gesetz zum Pfändungsschutz. Wir sind damit sicherlich noch nicht zu Ende.
Vielen Dank.
({4})
Sehr gut, sehr gut erkannt! – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz zur Fortentwicklung des Rechts des Pfändungsschutzkontos, das heute verabschiedet werden soll, hat einen langen Weg hinter sich: von dem 2016 vorgelegten Schlussbericht der vom Ministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung über diverse Entwurfsfassungen bis zu der jetzt vorliegenden Ausschussfassung.
Auf diesem Weg sind nicht alle, aber doch so viele der ursprünglichen Mängel behoben worden, dass da inzwischen mehr Licht als Schatten ist, die Fortschritte für die von diesem Gesetz Betroffenen die verbleibenden Unzulänglichkeiten überwiegen. Wir werden dem Gesetz also gleich zustimmen.
Nicht alle Unzulänglichkeiten sind beseitigt worden. Einen Punkt habe ich bereits an dieser Stelle in der ersten Lesung angesprochen, und das ist die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet wird und zu diesem Zeitpunkt das Konto gepfändet ist. Durch die Insolvenzeröffnung entfällt zwar das Verwertungsrecht des Pfändungsgläubigers, nicht aber die Beschlagnahmewirkung der Pfändung. Dementsprechend kommt immer wieder die Situation vor, dass sich Geld auf dem Konto befindet, das entweder an den Insolvenzverwalter oder aber an den Kontoinhaber auszuzahlen wäre, die kontoführende Bank aber unter Verweis auf die fortbestehende Beschlagnahme die Auszahlung verweigert. Dann bedarf es einer gerichtlichen Entscheidung. Unklar und umstritten ist jedoch, was genau das zuständige Gericht in diesem Fall entscheiden kann. Es gibt dazu inzwischen zahlreiche voneinander abweichende Entscheidungen von Amtsgerichten.
Das hört sich jetzt nach einer sehr speziellen technischen Einzelfrage an, was es auch ist. Allerdings ist die Konstellation „Pfändungsschutzkonto plus Insolvenz“ eine, die häufig vorkommt, und das macht es für die betroffenen Kreise durchaus relevant für ihre tägliche Arbeit. Schuldnerberatungen, Bankmitarbeiter, Insolvenzverwalter, Gerichte müssen sich immer wieder damit auseinandersetzen und jede Menge Arbeitszeit und Papier darauf verwenden.
Es wäre nun ein Leichtes, dieses akute Problem der Praxis mit einer kleinen gesetzlichen Klarstellung zu beseitigen; das ist auch von mehreren Seiten während der Beratung eingefordert worden. Erstaunlicherweise wurde es aber auch in der letzten Runde von Änderungen des Gesetzentwurfs wieder nicht berücksichtigt. Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen enthielt nur einen dürren Satz, der sinngemäß lautete: Ja, liebe Leute, wir haben eure Probleme bei eurer täglichen Arbeit gesehen, wir lassen das aber mal weiter liegen; vielleicht befassen wir uns ja später irgendwann mal damit.
Es ist kein Grund ersichtlich, das nicht, wie von den betroffenen Berufsgruppen verlangt, im Rahmen dieses Gesetzes zu erledigen. Wir als AfD-Fraktion haben deshalb im Rechtsausschuss einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, um diese erforderliche gesetzliche Klarstellung noch einzufügen. Kritik an unserem Änderungsantrag gab es nicht. Er wurde von allen anderen Fraktionen abgelehnt.
({0})
Nun hat Herr Luczak von der CDU hier einmal gesagt – im Februar war das wohl –, dass man niemals nicht irgendeinem Vorschlag, den die AfD jemals macht, zustimmen werde, ganz egal, was es auch sei.
({1})
Das hier war dann wohl ein Anwendungsbeispiel für diesen denkwürdigen Grundsatz.
({2})
Wie gesagt: Wir werden Ihrem Gesetzentwurf gleich zustimmen, weil er trotz dieses Mangels insgesamt mehr sinnvoll ist als nicht. Interessanterweise wollten vor Kurzem „Neues Deutschland“ und die „Süddeutsche Zeitung“ uns genau dies, dass wir nämlich nicht automatisch und unbesehen alles ablehnen, was von anderen kommt, als Luschigkeit ankreiden. Nach deren Vorstellung sollten wir uns also wohl genauso unsachlich verhalten wie die eben zitierte CDU. Das ist natürlich grundfalsch. Richtig ist das Gegenteil. Besser für die Demokratie wäre es allemal, wenn der Rest des Hauses sich die AfD zum Vorbild nehmen
({3})
und öfter sachlich entscheiden würde.
({4})
In diesem Sinne: Vielen Dank, auch für die mehr oder weniger qualifizierten Zwischenrufe.
({5})
Vielen Dank. – Nächster Redner: Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen: Wir werden heute im Anschluss an diese Debatte über den Entwurf zum Pfändungsschutzkonto-Fortentwicklungsgesetz abstimmen. Das sogenannte P-Konto ist damit nach zehnjähriger Laufzeit sehr intensiv überprüft worden. Der Schlussbericht der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beauftragten Evaluierung beurteilt die Einführung des P-Kontos insgesamt als Erfolg, hat uns in einigen Bereichen aber auch Verbesserungspotenziale aufgezeigt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung und den Änderungsanträgen der CDU/CSU und SPD kommt es nun – Ihre Zustimmung vorausgesetzt – zu weiteren Verbesserungen und praxisgerechten Ausgestaltungen.
Die Unbill des Lebens kann jeden treffen. Deswegen sollte sich niemand vorschnell ein Urteil über Menschen in derartigen Notlagen erlauben. Ob der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod des Partners, eine Scheidung, eine schwere Krankheit – Schicksalsschläge, die in einer Überschuldung münden können, sind fast immer vielschichtig und in jedem Fall persönlich herausfordernd. Es spielt zunächst auch gar keine Rolle, ob man verschuldet oder unverschuldet in Not geraten ist. Denn egal, was zu einer schwierigen Situation geführt hat: Lebensmittel, Kleidung, ein Dach über dem Kopf – ein Existenzminimum muss immer gesichert werden.
({0})
Das Pfändungsschutzkonto ist seit zehn Jahren auch ein Stück gelebte christliche Soziallehre, meine sehr geehrten Damen und Herren: Hilfe zur Selbsthilfe. In diesem Fall geht es darum, einem Schuldner Zeit zu geben, seine Existenz zu sichern, bis seine eigenen Schultern wieder stark genug sind. Das Konto gibt darüber hinaus dem Schuldner, der keine guten Aussichten hatte, überhaupt ein Konto zu bekommen, die Möglichkeit, am Zahlungsverkehr teilzunehmen und selbstständig über einen pfändungsfreien Betrag zu verfügen.
Die bestehenden Regelungen zum P-Konto werden wir mit den heute zur Abstimmung stehenden Regelungen insgesamt übersichtlicher, systematischer und auch verständlicher gestalten.
({1})
Dazu trägt zunächst auch die Schaffung eines eigenen Abschnitts für das Pfändungsschutzkonto in der ZPO, in der Zivilprozessordnung, bei. Damit wird ihrer verbraucherpolitischen Bedeutung in angemessener Weise Rechnung getragen.
({2})
– Ja, da hätten Sie schon längst mal klatschen können. Herr Müller-Böhm, da können Sie mitklatschen; das wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen.
({3})
Wirtschaftet ein Schuldner darüber hinaus sparsam, so hat er künftig die Möglichkeit des Ansparens von nichtverbrauchten Guthaben für Anschaffungen jenseits des täglichen Bedarfs. Damit setzt man letztlich einen positiven Ansatz, und es ist auch ein Ausfluss der Menschenwürde in Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz: Es entspricht dem Selbstbestimmungsrecht, etwas ansparen zu können und sich ein Stück weit so am wirtschaftlichen Leben zu beteiligen wie jemand, der nicht in dieser prekären finanziellen Situation ist.
Ferner wird es eine Verkürzung des Anpassungszeitraums für die Pfändungsfreigrenzen auf ein Jahr geben; bisher waren es zwei Jahre. Damit wird es künftig viel schneller möglich sein, die Erhöhung des einkommensteuerrechtlichen Freibetrages anzupassen.
Eine weitere Änderung ist die Ausweitung des Pfändungsschutzes auf Kultusgegenstände, die zur Ausübung der Religion und der Weltanschauung dienen. Diese Ergänzung geht im Übrigen auf ein Petitum des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages zurück, in dem ich fast 15 Jahre lang als Mitglied mitwirken durfte.
({4})
Die gleichzeitige Schaffung einer Wertgrenze von 500 Euro wirkt möglichen Missbräuchen entgegen.
Darüber hinaus planen wir eine Reduzierung der Informationspflichten der Kreditinstitute. Banken und Sparkassen werden so zum Beispiel bei der IT-technischen Umsetzung entlastet.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, Überschuldung ist ein äußerst vielschichtiges und ernstzunehmendes Problem. Die Schaffung des P-Kontos war ein richtiger und wichtiger Schritt, um es Menschen zu ermöglichen, trotz dieser Umstände ein menschenwürdiges Leben zu führen; ich habe bereits darauf hingewiesen.
({5})
– Du kommst gleich, Matthias.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und dem Änderungsantrag der Koalition entwickeln wir dieses bewährte Instrument konsequent weiter. Ich bitte Sie deshalb nachher bei der Abstimmung um Ihre breite Zustimmung. Dieser Gesetzentwurf ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen den Interessen des Gläubigers auf der einen Seite und den Interessen des Schuldners auf der anderen Seite, und zwar durch die Wiederherbeiführung menschenwürdigen Lebens durch Teilnahme am Geschäftsverkehr.
Es gibt ja viele Parteien hier im Bundestag, die derzeit nicht regieren, die aber hoffen, nächstes Jahr nach der Bundeswahl auch wieder mal regieren zu können.
({6})
Regieren ist immer auch Gestalten, Verbesserung des Lebens unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es kann sich nachher bei der Abstimmung zeigen, wer bereit ist – Matthias, ich habe gehört, ihr wollt nicht mitstimmen –, konstruktiv und positiv an diesem Gesetz mitzuwirken.
({7})
Gerade von der Linken erwarte ich es. Von den anderen Parteien würde ich es mir auch wünschen.
Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
({8})
Vielen Dank, Paul Lehrieder. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut. Das ist ein Grundsatz, der für die Arbeit der Bundesregierung selten gilt.
({0})
Für den heute vorliegenden Gesetzentwurf gilt aber zumindest: Was lange währt, währt ganz in Ordnung.
({1})
Die FDP-Fraktion hat das Gesetz zur Reform des Kontopfändungsschutzes im Jahr 2009 aus der Opposition heraus mitgetragen. Das war richtig. Das Pfändungsschutzkonto ist im Großen und Ganzen ein Erfolg. Schon 2013 hat die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger eine Evaluation beauftragt, um Verbesserungspotenzial auszuloten. Das Ergebnis lag 2016 vor. Das rote Justizministerium hat dann vier Jahre gebraucht, um die Ergebnisse in Form eines Gesetzentwurfs umzusetzen. Ehrgeizige Politik sieht anders aus.
({2})
Der Gesetzentwurf war zudem zunächst in den Details wirklich wenig durchdacht. Es macht viel Sinn, den Anpassungszeitraum für die Pfändungsfreigrenzen von Arbeitseinkommen von zwei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen und eine raschere Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Auch die Verlängerung der Möglichkeit der Übertragung von nichtverbrauchtem pfändungsfreien Guthaben von einem Monat auf drei Monate, um Betroffenen zu ermöglichen, für nötige größere Haushaltsanschaffungen anzusparen, ist selbstverständlich richtig.
Aber beispielsweise die vorgesehene Regelung zur Pfändung in Gemeinschaftskonten war eine Katastrophe. Natürlich dürfen sich die Wirkungen von Pfändungen und Überweisungen von Guthaben nicht an dem Guthaben fortsetzen, das der Nichtschuldner auf sein Einzelkonto überträgt. Der Ursprungsentwurf war da geradezu absurd. Der Nichtschuldner ist ja gerade – na? – nicht der Schuldner! Mal ganz abgesehen davon, welche Bürokratie es bedeutet hätte, händisch – denn automatisiert wäre das ja wohl nicht möglich gewesen – auseinanderzudröseln, woher welches Geld auf dem Konto des Nichtschuldners nun gekommen ist! Wahnsinn nach Art der Bonpflicht wäre das gewesen.
({3})
Immerhin: In diesem Fall waren Sie belehrbar und haben über Änderungsanträge auf den letzten Drücker nachgebessert, sodass der vorliegende Gesetzentwurf nun akzeptabel ist, nicht ehrgeizig – man hätte noch mehr machen können –, aber akzeptabel. Dementsprechend werden wir zustimmen.
({4})
Aber, liebe Bundesregierung, ein verbesserter Schuldnerschutz ist eine Sache. Die eigentlich Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist, dass die Leute gar nicht erst in die Schuldenfalle geraten,
({5})
gerade in Coronazeiten. Vernünftige Überbrückungshilfen für Soloselbstständige und Kleinstunternehmer, echter Bürokratieabbau, die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags und eine Senkung der Unternehmensteuern wären dringend nötige Impulse für einen Neustart der sozialen Marktwirtschaft, um nur einige Schlagworte zu nennen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Katrin Helling-Plahr. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das 2009 auch auf Druck der Linken eingeführte Pfändungsschutzkonto hat sich bewährt.
({0})
Es war auch richtig, diese Einführung im Jahr 2016 zu evaluieren, die Erfahrungen auszuwerten und in das Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen. Positiv ist auch, dass die Empfehlungen der Schuldner- und Verbraucherverbände zum Teil aufgegriffen worden sind. Jedoch muss ich feststellen: Hier war es möglich, auf die Erfahrungen der Betroffenen zurückzugreifen. Bei den zahlreichen Strafrechtsverschärfungen der letzten Zeit sind Sie hierzu jedoch nicht in der Lage. Die Regierung verschärft im Bereich des Strafrechts, ohne die Auswirkungen absehen zu können oder zumindest die Absicht zu haben, eine spätere Evaluation durchzuführen.
({1})
Im Bereich des Strafrechts haben wir eine Neigung der Regierung zur Bedienung populistischer Law-and-Order-Auffassungen. So aber darf Gesetzgebung nicht erfolgen.
({2})
Umso besser, dass es hier auch anders geht. Wir begrüßen daher, dass der Auswertungsbericht des Jahres 2016 Grundlage dieser Gesetzesinitiative war, und das zeigt sich auch bei den beabsichtigten Änderungen.
Vom Grundsatz her ist der Gesetzentwurf in Teilen positiv zu bewerten. Dennoch weisen wir auf konkrete Lücken hin, die verbesserungsbedürftig sind.
Erstens. Es besteht eine Lücke zwischen sozialrechtlicher Einstandspflicht und dem Pfändungsrecht. So müssen Schuldner, die in einer Patchworkkonstellation leben, zwar sozialrechtlich, zum Beispiel bei Hartz-IV-Ansprüchen, für Partnerinnen und Partner sowie deren Kinder einstehen. Zwangsvollstreckungsrechtlich wird dies aber nicht durch Anhebung der Pfändungsfreigrenzen berücksichtigt. Das ist eine innerfamiliäre Katastrophe und belastet vor allem die Lebenssituation gerade der Kinder.
({3})
Der Änderungsantrag der Koalition verschärft die Situation noch, da gerichtliche Ausnahmen nun gesetzlich ausgeschlossen sind. Dabei hatten die Sachverständigen der Schuldnerberatung gefordert, dass eine Klarstellung erfolgt, dass eben keine Regelung hierzu getroffen wird.
Zweitens. Kritisch sehen wir auch die Verkürzung der Schutzfrist bei Pfändung eines Gemeinschaftskontos von zwei Monaten auf einen Monat. Die Schuldnerberater haben hier um eine längere Frist gebeten und gekämpft, um unpfändbare Beträge sichern zu können. Diese wurde nun wieder gestrichen.
Drittens. Ein Thema, das in engem Zusammenhang mit den Regelungen über Pfändungsschutz steht, ist auch die Möglichkeit, dass die Banken ein solches Konto kostenfrei anbieten. Die EU-Richtlinie gäbe hierzu die Möglichkeit. Die Regierung nutzt diese Handlungsoption aber nicht. Das halten wir für falsch.
({4})
Gerade wenn Banken durch Steuergelder gerettet worden sind, haben sie auch die Verpflichtung, diese kleine Belastung auf sich zu nehmen.
Zu guter Letzt möchte ich noch auf das allgemeine Thema der Verschuldung in Deutschland zu sprechen kommen. In Deutschland sind über 7 Millionen Menschen überschuldet. Die Gründe sind vielfältig: Scheidung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, prekäre Bezahlung. Es ist eben nicht ein ausschweifender Lebensstil, der dazu führt. In dieser Situation kommt den Verbraucherverbänden und Schuldnerberatungen eine besondere Aufgabe zu. Wir sollten im Interesse des sozialen Friedens in unserem Land diese Institutionen besonders finanziell fördern, stärker als es bisher geschehen ist.
Die Linke wird auf jeden Fall weiter für die Interessen der Menschen in diesem Land kämpfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Stefan Schmidt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf bringt tatsächlich einige Verbesserungen. Die Vorrednerinnen und Vorredner haben das schon sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Wir kommen damit dem Ziel, Schuldnerinnen und Schuldner und ihren Familien auch nach einer Pfändung ein Leben in Würde zu ermöglichen und zu sichern, ein gutes Stück näher.
Umso unverständlicher ist für mich, weshalb Sie die Schlechterstellung von Patchworkfamilien und Stiefkindern zementieren.
({0})
Warum gehen Sie die längst überfällige Harmonisierung von Sozialrecht und Zwangsvollstreckungsrecht nicht endlich an? Wo vor einer Pfändung sozialrechtliche Einstandspflichten gegenüber nicht leiblichen Kindern bestehen, wird nach einer Pfändung so getan, als gäbe es diese faktischen Unterhaltsansprüche nicht. Dem Schuldner oder der Schuldnerin wird nur sein bzw. ihr persönlicher Grundfreibetrag eingeräumt. Dem Rest der Familie bleibt nur der Gang zum Sozialamt. Dabei heißt es auf der Webseite des Justizministeriums – ich zitiere –:
Es wäre widersinnig, wenn staatliche Organe den Schuldnern zugunsten des Gläubigers etwas wegnehmen, was anschließend der Staat mit Leistungen der sozialen Sicherungssysteme wieder ausgleichen müsste.
({1})
Aber genau das passiert hier doch. Das hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme kritisiert. Auch Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer, Schuldnerberater haben diese Kritik vorgebracht. Schade, dass Sie das nicht umgesetzt haben. Aber, Frau Dilcher, ich habe Ihre Ankündigung mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen.
Neben dem P-Konto stimmen wir heute auch über den Antrag meiner Fraktion zum Basiskonto ab. Mit dem Basiskonto sollen sozial schwächere Menschen
({2})
wie Obdachlose, Geflüchtete oder Menschen mit niedrigen Einkommen Zugang zu einem Konto bekommen; denn nur wer ein eigenes Konto hat, kann Miete und Strom bezahlen und auch Zahlungen empfangen. Kurz: Ohne ein Konto ist man heutzutage aufgeschmissen. Vor der Einführung des Basiskontos wurde diesen Verbraucherinnen und Verbrauchern oft ein Konto verweigert. Sie waren für die Banken wirtschaftlich nicht interessant. Insofern war der Rechtsanspruch auf ein Konto für alle ein wichtiger Meilenstein.
({3})
Aber was nutzt ein Rechtsanspruch auf ein Konto, wenn man es sich schlicht und ergreifend nicht leisten kann? Basiskonten kosten noch immer bis zu 250 Euro im Jahr und häufig auch mehr als ein normales Girokonto bei der gleichen Bank. Es kann doch nicht sein, dass Banken für ärmere Menschen höhere Gebühren nehmen als für Sie und für mich.
({4})
Das ist ungerecht. Das unterläuft ganz klar die Intention des Gesetzes, das wir vor vier Jahren verabschiedet haben. Und auch die Europäische Kommission überprüft bereits, ob Deutschland hier gegen europäisches Recht verstößt. Wir als Gesetzgeber müssen hier dringend nachbessern: Basiskonto zumindest immer als das günstigste Girokonto der jeweiligen Bank. Höhere Gebühren sind nicht angemessen.
Nutzen Sie die Chance, unterstützen Sie unseren Antrag, und sorgen Sie dafür, dass Menschen durch zu hohe Kontogebühren nicht länger von der Teilhabe am Wirtschaftsleben ausgeschlossen sind!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Und der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pfändungsschutzkonto ist seit seiner Einführung ein voller Erfolg. Und auch dieses Gesetz ist ein gutes Gesetz, und ich glaube – ich hoffe es zumindest –, es wird breite Zustimmung erhalten.
({0})
Rund 2,5 Millionen Menschen nutzen in Deutschland das sogenannte P-Konto. Und es gibt ihnen die Chance, einen Grundfreibetrag von knapp über 1 000 Euro, genau 1 178,59 Euro, zurückzubehalten. Das ist gut so. Das ist gut zur eigenen Lebensgestaltung. Und deswegen haben wir es auch fortgeschrieben.
Und es ist richtig, was die FDP sagt: Es hat eine Evaluation gegeben. – Es ist auch gut, dass Gesetze evaluiert werden und geschaut wird, wie die Lage ist.
({1})
Und dabei sind ganz, ganz vielfältige, Herr Kollege Straetmanns, Anregungen rausgekommen. Und diese Anregungen sind in ganz viele Punkte dieses Gesetzes auch wirklich eingeflossen. Viele sind genannt worden. Ich will mal einige nennen, die in dem ganz neuen Abschnitt der ZPO jetzt dargestellt werden.
Es gibt die Möglichkeit, größere Anschaffungen zu tätigen, indem nicht verbrauchte Guthaben über drei Monate gesammelt werden können. Das ist einmal gut für Gläubiger, weil Forderungen beglichen werden können. Man kommt so außerdem nicht in eine Spirale der Forderungen. Zum anderen können auch Anschaffungen getätigt werden, die zum Beispiel den beruflichen Fortgang und viele andere Dinge betreffen, die auch dem Schuldner dann etwas bringen.
Es geht aber auch um die Ausstellung von Bescheinigungen durch Behörden. Es war doch ein Irrsinn, dass man von Behörde zu Behörde rennen musste und teilweise keine Bescheinigungen ausgestellt kriegte. Nun müssen Bescheinigungen verpflichtend von den unterschiedlichen Behörden – hoffentlich zügig – für die entsprechenden Personen ausgestellt werden.
Es werden aber auch Fragen des Gemeinschaftskontos angesprochen. Jetzt besteht die Möglichkeit, ein eigenes separates Einzelkonto zu eröffnen. Hier gelten klare Regelungen.
All das ist gut, und damit schaffen wir Klarheit bei dem, was in der Evaluation herauskam und gefordert wurde.
({2})
– Ganz herzlichen Dank, Herr Kollege Lehrieder.
({3})
Guter Mann, der Lehrieder.
So kann man auch ein bisschen helfen, dass nicht immer nach oben geguckt werden muss, um zu erkennen, wo der einzelne Beifall herkam.
Es ist aber auch eine Frage der Berechnung, dass man zum Beispiel nicht immer erst im Zweijahresrhythmus die steuerlichen Grundfreibeträge anpasst, sondern dass das jetzt im Jahresrhythmus erfolgt. Das ist nach meiner Meinung auch eine Frage der Gerechtigkeit. Die stärker und klarer differenzierte Berücksichtigung der entsprechenden Freigrenzen und der Pfändungsschutz für Kultusgegenstände, also des Glaubens in diesem Fall, sind, glaube ich, auch eine sehr kluge Anpassung an die heutige Zeit. Das sind viele, viele Aspekte – ich könnte noch mehrere ergänzen –, die dieses Gesetz wirklich zu einem guten Gesetz machen.
Insgesamt ist dieses Gesetz nach meiner Meinung eine Win-win-Situation; denn es schließt sehr viele Personen mit ein, die von diesem Gesetz profitieren: die Schuldner, die Gläubiger, aber auch Banken, denen klar gesagt wird, was eben auch nicht geht, wo sie sich in Zurückhaltung üben müssen. Insgesamt bin ich der Meinung, dass hier ein sehr gutes Gesetz als Ausdruck einer guten Rechtspolitik vorliegt, dem wir, glaube ich, alle zustimmen können. Ich bin gespannt, ob dies auch gelingt.
Ich freue mich, nach meinen guten Vorrednern – Frau Dilcher, das war ja fast eine Vorlesung, die man auch Studierenden zeigen könnte –
({0})
zu sehen, ob wir jetzt auch alle diesem Gesetz zustimmen können. Ich kann Ihnen allen ungefähr mindestens eine Minute schenken.
Danke schön.
({1})
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich habe keinen Gemüseladen mehr um die Ecke, muss aber 4 Euro für die Tasse Kaffee zahlen.“ Diese Klagen von Anwohnerinnen in Berlin, aber auch in vielen anderen deutschen Städten habe ich oft gehört. Der Späti im Prenzlauer Berg und das Modeinstitut in Friedrichshain wurden schon verdrängt, viele weitere sind aktuell von Verdrängung bedroht, meine Damen und Herren. Aktuell droht der Rauswurf der Buchhandlung Kisch & Co. in der Oranienstraße in Kreuzberg.
All diese Fälle eint, dass Gewerbetreibende, Handwerkerinnen,
({0})
Kulturschaffende und soziale Einrichtungen mit zum Teil horrenden Mietforderungen konfrontiert sind, die sie nicht bezahlen können, oder ihr Vertrag wird nicht verlängert. Da es im Bürgerlichen Gesetzbuch kein Gewerbemietrecht gibt, sind sie Kündigungen und unbegrenzten Mietforderungen schutzlos ausgeliefert. Das wollen wir als Bündnis 90/Die Grünen ändern.
({1})
Diese Mieterinnen haben seit Eröffnung ihrer Geschäfte oft Tag und Nacht gearbeitet und ihr gesamtes Geld investiert, um sich bzw. ihren Familien eine Existenz aufzubauen. Durch ungerechtfertigte Mieterhöhungsverlangen und Kündigungen werden sie in ihrer Existenz bedroht bzw. ihrer Existenzgrundlage beraubt, und zwar ganz legal. Das können wir doch nicht wirklich zulassen, meine Damen und Herren!
({2})
Denn dadurch bestimmen immer mehr Ketten und ähnliche Geschäftsmodelle das Bild unserer Innenstädte. Einkaufsstraßen von Ketten – Geschäftsmodelle, die wir so nicht unterstützen wollen. Das sind die Letzten, die sich die hohen Mieten noch leisten können.
Dass diese Entwicklung zu einer Verödung der Innenstädte führt, bestreitet heute fast niemand mehr. Deswegen haben sich in meinem Wahlkreis Initiativen von Anwohnerinnen wie „Bizim Kiez“ oder „GlorReiche“ und Gewerbetreibendeninitiativen wie „Ora Nostra“ zusammengeschlossen, um sich dagegen zu wehren, und sich an mich gewandt. Mithilfe des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages habe ich mal dokumentiert, dass es in anderen europäischen Ländern sehr wohl so etwas wie ein Gewerbemietrecht gibt und dass man den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb in seinem Bestand sehr wohl schützen kann. Und so wie man sich Demokratie idealtypisch vorstellt, habe ich die Initiativen eingeladen, und wir haben mit Expertinnen diskutiert.
Herausgekommen ist das vorliegende Gesetz, mit dem ich auch bei Ihnen darum werben will, dass wir uns darum kümmern, dass die Gewerbetreibenden und die Mieterinnen geschützt werden.
({3})
Es ist nicht so, dass ich einen Antrag geschrieben habe nach dem Motto „Die Bundesregierung soll mal was tun“. Nein, das ist ein konkretes Gesetz, und wenn wir es wollen, dann kann es demnächst, in einigen Wochen schon, in Kraft gesetzt werden. Dann wären wir in der Lage, die Gewerbemieterinnen zu schützen, meine Damen und Herren.
Das Gesetz differenziert auch danach, dass es zum Beispiel in den Innenstädten wirklich einen ganz großen Handlungsbedarf gibt, weil die Mieten zu hoch sind, dass es aber auch Regionen in Deutschland gibt, wo das Problem nicht so drängend ist. Das kann das Bundesland jeweils selber entscheiden, indem es das Gesetz dann anwendet oder eben auch nicht, meine Damen und Herren.
({4})
Existenzsicherheit wollen wir durch die Kündigungsschutzregelung und durch Obergrenzen bei den Mieten schaffen.
Ich bitte Sie, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen, sodass wir Gewerbemieterinnen vor Verdrängung schützen können, damit sie, damit wir alle auch in Zukunft in so schönen und lebenswerten Innenstädten wohnen, arbeiten und einkaufen können. Mit der Einführung dieses historischen Gewerbemietrechts können Sie Teil der Lösung statt des Problems sein, meine Damen und Herren. Geben Sie sich einen Ruck!
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einen Antrag der Fraktion Die Linke.
Das Ziel des Gesetzentwurfs, meine Damen und Herren, nämlich gewerbliche Vielfalt in den deutschen Innenstädten zu ermöglichen, ist zwar ehrenhaft, die Methode aber leider falsch.
({0})
Was hier zeitgleich mit dem 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung auf den Tisch gelegt wird, kann man nur als Reminiszenz an die sozialistische Planwirtschaft der DDR bezeichnen.
({1})
– Ich erkläre es Ihnen gleich, Frau Bayram.
Die Grünen fordern Kündigungsschutzvorschriften, Vertragsverlängerungsrechte und Mietpreisbremse zugunsten von Kleingewerbetreibenden und wollen Instrumente schaffen, um eine örtliche Vergleichsmiete für kleine Gewerbeeinheiten bestimmen zu können. Sie sind vom Gedanken fehlgeleitet, dass Vermieter von Gewerbeflächen in Innenstadtlagen ausschließlich an Gewinnmaximierung interessiert seien und Kleingewerbetreibende angeblich nicht auf Augenhöhe verhandeln könnten.
Meine Damen und Herren, die Realität sieht aber anders aus. Dies hat nämlich die Bundesregierung bereits Anfang 2019 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen festgestellt. Auch wenn unbestritten Gewerbemieten in Innenstadtlagen in den letzten zehn Jahren angestiegen sind – im Durchschnitt übrigens in ähnlicher Höhe wie Lebenshaltungskosten, Löhne und Gehälter –, gibt es keine belastbaren Daten, „die auf ein strukturelles und erhebliches Ungleichgewicht zwischen Vermietern und Mietern … schließen lassen“.
Vielerorts – das wurde gerade eben auch schon zugerufen – gibt es inzwischen leider auch relevante Leerstände, und deswegen gibt es keinen gesetzgeberischen Regelungsbedarf. Die gleichwohl geforderten Gesetzesänderungen würden in die Privatautonomie der Vertragsparteien eingreifen und würden das Eigentumsrecht der Vermieter aus Artikel 14 Grundgesetz berühren. Die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht damals bewogen haben, die Regelungen zur Wohnraummiete mit Artikel 14 Grundgesetz als vereinbar einzustufen, greifen bei der Miete von Gewerberäumen nicht. Der Aspekt der hohen Bedeutung der Wohnung für den Einzelnen als Mittelpunkt seiner privaten Existenz liegt bei der Ausgestaltung von Gewerberaummietverträgen gerade nicht vor. Eine Sozialbindung des Eigentums ist zwar grundsätzlich anzuerkennen – ganz klar! –, eine solche kann aber nicht zugunsten von Kleingewerbetreibenden zur Anwendung kommen, die dann aus eigenem wirtschaftlichen Interesse in besten Innenstadtlagen niedrige Mieten oder langfristige Mietverhältnisse gegen den Willen des Vermieters beanspruchen.
({2})
– Hören Sie zu, ich erkläre es Ihnen gleich.
Auch wenn das in der Begründung des Gesetzentwurfs formulierte Motiv, eine soziokulturelle Durchmischung der Innenstädte zu erreichen und gewerbliche Vielfalt zu ermöglichen, durchaus nachvollziehbar ist – gar keine Frage! –, ist es im Übrigen nicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers, insoweit tätig zu werden. Dieser hat sich nämlich nicht um die gewerbliche Zusammensetzung deutscher Innenstädte zu kümmern, schon gar nicht mit Gesetzen, die enteignende Wirkung auf Vermieter haben.
({3})
Vielmehr ist die Unterstützung von Kleingewerbetreibenden klassische Aufgabe kommunaler Wirtschaftsförderung und obliegt kommunaler Selbstverwaltung. Dazu gehören natürlich auch bauplanungsrechtliche Möglichkeiten der Kommune, um gewerbliche Nutzungen zu steuern, und dies wird ja immerhin in der Begründung des Gesetzentwurfs angesprochen.
Neben diesen grundsätzlichen Erwägungen, meine Damen und Herren, ist der Gesetzentwurf aber auch im Konkreten nicht durchdacht und geht an der Realität vorbei. Zunächst mal gibt es viele sogenannte Kleingewerbetreibende mit hohen Umsätzen, die problemlos in der Lage sind, in guten Innenstadtlagen auch hohe Mieten zu zahlen. Auch kann man bei 250 Quadratmetern Mietfläche übrigens nicht wirklich von Kleingewerbe sprechen. Überhaupt gibt es auch in Eins‑a-Lagen in Ballungsräumen vergleichsweise wenige Gewerbeflächen, die überhaupt weniger als 250 Quadratmeter haben. Außerdem sind ja Branchen oft viel zu unterschiedlich, als dass eine Grenze von neun Arbeitnehmern und 2 Millionen Euro Umsatz ein sinnvoller Indikator für ein Kleingewerbe sein könnte.
Innenstadtgebiete als Bereiche mit einem angespannten Gewerbemietmarkt zu definieren, fällt zudem schwer, weil zuvor die Gefahr für Kleingewerbemieter bestehen müsste, keine Mietverträge zu angemessenen Bedingungen zu erhalten. Und da stellt sich natürlich die Frage: Was ist eigentlich angemessen, wer stellt das eigentlich fest und nach welchen Kriterien? Alles ungelöst!
Innenstadtbereiche sind außerdem viel zu inhomogen – das wissen Sie, glaube ich, aber alle auch selbst –, als dass sich Preise für Gewerberäume allgemein bestimmen ließen. Wenige Meter entscheiden ja oft über erhebliche Unterschiede in der Kundenfrequenz und führen zu großen Mietpreisunterschieden.
Letztlich vollkommen inakzeptabel wäre aber die beabsichtigte Regelung, dass ein Kleingewerbemieter noch zwei Monate vor Ablauf seines befristeten Mietverhältnisses eine Verlängerung des Mietvertrages um bis zu zehn Jahre Mietzeit geltend machen kann. Den Vermietern würde da wirklich jegliche Planungsmöglichkeit genommen werden, und ein Widerspruchsrecht mit Beweislastumkehr, das im Gesetzentwurf eingeräumt wird, wäre mit Blick auf den Nachweis eines berechtigten Interesses ein wirklich stumpfes Schwert.
Das Ergebnis von all diesen Punkten, die in den Entwurf reingeschrieben worden sind, wäre schließlich, dass Vermieter mit Kleingewerbemietern überhaupt gar keine Mietverträge mehr abschließen würden und damit wieder genau das Gegenteil dessen bewirkt würde, was eigentlich gewünscht wird.
({4})
Dem Antrag der Fraktion Die Linke ist nach wie vor die direkte Unterstützung von in Schieflage geratenen Gewerbetreibenden vorzuziehen, anstatt unzulässig in Eigentumsrechte der Vermieter einzugreifen und geradezu staatsdirigistisch den Gewerbemietmarkt regulieren zu wollen, indem ein gesetzlich angeordneter, 30-prozentiger Mietverzicht gefordert wird. Dadurch würden nämlich viele Vermieter ihrerseits in finanzielle Schieflage geraten und ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber Banken oder Stadtwerken oft nicht mehr Folge leisten können.
Stattdessen ist deshalb dem der Vorzug zu geben, was vielerorts bereits erfolgreich praktiziert wird, meine Damen und Herren, nämlich dass viele Vermieter derzeit bereit sind, mit den Mietern konkrete Regelungen der Stundung, des Verzichts zu treffen, weil ja oft ein beiderseitiges Interesse daran besteht, langjährige, gute Mietverhältnisse aufrechtzuerhalten und gemeinsam durch die Coronakrise zu kommen.
Deswegen lehnen wir den bestenfalls gutgemeinten Gesetzentwurf der Grünen, Frau Bayram, ebenso wie den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Grünen, der hier heute in der ersten Lesung beraten wird, stammt ja wohl von Frau Canan Bayram.
({0})
Frau Bayram ist über ein Direktmandat in den Bundestag gekommen, ihr Direktmandat hat sie im Wahlkreis 83 erworben. Er besteht aus Berlin-Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg Ost. Auf Platz zwei landete da der Kandidat der Linken. Und genau auf diese Klientel hat Frau Bayram ihren Entwurf ausgerichtet. Der links-grünen urbanen Subkultur will man helfen, von der wurde man ja auch gewählt.
({1})
Zu Berlin-Friedrichshain wäre zu bemerken, dass dort morgen früh die Räumung eines besetzten Hauses in der Liebigstraße 34 ansteht.
({2})
Mehrere Tausend – Tausend! – Polizisten befinden sich im Einsatz, um den Räumungstitel durchzusetzen. Es wurden Straßensperren errichtet. Es scheint so, als wäre dort ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Da stellt sich doch die Frage, Frau Bayram: Brauchen diese Leute, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf unterstützen wollen, überhaupt Ihre Hilfe, brauchen die ein Gesetz? Ihre Freunde, diese modernen Raubritter im rot-grünen Gewand, nehmen sich doch, was sie brauchen, und pfeifen auf den Rechtsstaat.
({3})
Bei den Grünen ist Frau Bayram auch nicht unumstritten. Laut einer Ausgabe von „Der Freitag“ aus dem Jahr 2017 wird Frau Bayram aufgrund ihrer Mietpolitik von einigen Parteifreunden bei den Grünen wahlweise als „linkspopulistische Sprücheklopferin“,
({4})
„eine Zumutung“ oder als „unwählbar“ bezeichnet. Dieser Bewertung kann man sich als Nicht-Grüner, als Außenstehender nach Lektüre des hier vorliegenden Gesetzentwurfs nur anschließen.
({5})
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs stehen die Mietpreisregulierung und die Ausweitung des Kündigungsschutzes bei der Vermietung von Gewerberäumen. Man will also allen Ernstes die Höhe der Gewerberaummiete nicht mehr den Verhältnissen des Marktes überlassen, wie bisher, sondern ähnlich wie bei der Wohnraummiete eine Art soziales Mietrecht für Kleingewerbetreibende einführen. Dieser Entwurf greift in der Sache auf, was bereits im Jahr 2018 über das Land Berlin an den Bundesrat herangetragen wurde. Da kann ich nur sagen: Eine Regulierung des Marktes bei der Vermietung von Gewerberäumen lehnen wir von der AfD strikt ab, da machen wir nicht mit.
({6})
Wir halten es für unsachgerecht, für schlicht unpraktikabel. Und es würde zu ungerechten Ergebnissen führen. So soll nach dem Gesetzentwurf die Landesregierung ermächtigt werden, Gebiete mit einem angespannten Gewerbemietmarkt auszuweisen.
({7})
Ein angespannter Markt liegt vor, wenn es
als schützenswert erachteten Kleinstunternehmen oder sozial/kulturelle Zwecke verfolgenden Einrichtungen nicht mehr möglich ist, Gewerbemietraum zu angemessenen Bedingungen anzumieten.
Alles klar, alles verstanden? Das strotzt nur so von unbestimmten Rechtsbegriffen. Damit ist der Willkür bei der Auswahl der angeblich zu schützenden Gebiete Tür und Tor geöffnet.
({8})
Daran erkennt man, dass es in der Sache den Grünen nicht – wie vorhin dargestellt – um den Tante-Emma-Laden an der Ecke geht, sondern nur darum, die Migrantifa-Subkultur in den Großstädten zu konservieren – eine Kultur also, die so etwas wie die Liebigstraße 34 in Friedrichshain hervorbringt. Das wollen wir nicht.
({9})
Die vorgeschlagenen Änderungen im Bereich des Wohnraummietrechts, die eine Verschärfung der Mietpreisbremse und eine Erweiterung des Kündigungsschutzes vorsehen, sind fast ausnahmslos abzulehnen. Interessant ist, dass ein von der AfD am 2. Juli dieses Jahres erstmals ins Plenum eingebrachter Gesetzentwurf offenbar von den Grünen aufgegriffen wurde: So soll auch nach den Vorstellungen der Grünen den Wohnraummietern eine Schonfristzahlung bei ordentlichen Kündigungen ermöglicht werden. Das ist zu begrüßen.
Der Antrag der Linken ist abzulehnen.
({10})
Er stellt einen weiteren Versuch dar, die Coronakrise zulasten der Vermieter auszunutzen und das Wohnraummietrecht nach sozialistischen Regeln umzugestalten. Wer will so etwas? Wir nicht.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Maier, Herr Wellenreuther, als Erstes kann ich Ihnen sagen: Wir wollen die Regulierung des Gewerbemietmarktes.
({0})
Und das eine möchte ich Ihnen jetzt schon sagen: Erst beraten, dann entscheiden! Und vor allen Dingen: Was sind wir alle doch reich; wir haben einen Schal und eine Maske!
({1})
Ja, wir müssen über die grundsätzliche Frage zur Regulierung von Gewerbemieten sprechen, und ich bin dafür, dass wir Regelungen schaffen, um bei Gewerben eine Begrenzung der zulässigen Miethöhe bei Mietbeginn zu ermöglichen und gegebenenfalls auch Mieten abzusenken. Wir brauchen ein Äquivalent zur Mietpreisbremse auch für Gewerbe.
({2})
Der Landesvorstand der Berliner SPD hat erst kürzlich einen entsprechenden Beschluss zur Einführung einer Gewerbemietpreisbremse für angespannte Gewerberaummärkte gefasst. Ich denke, das ist führend und wegweisend.
({3})
Denn ich wünsche mir einen vielfältigen Kiez mit vielen Kulturschaffenden, Gewerbetreibenden, Handwerkern und auch Gastronomen. Wir müssen der Verdrängung einfach wirksam entgegentreten!
({4})
Eines ist klar – egal an welche Seite es gerichtet ist –: Hüten Sie sich davor, den Immobilienhaien auch bei den Gewerbetreibenden schlicht und ergreifend nur zu folgen; sonst wird – ich schaue Herrn Luczak dezidiert an –
({5})
auch unser Bezirk nachher nur noch durch Ketten, Sportstudios und Wettbüros bestimmt. Herr Wellenreuther,
({6})
Ihnen sei gesagt – weil Sie sich da vorhin auch politisch geäußert haben –: Ich liebe den demokratischen Sozialismus und finde ihn auch weiterhin gut.
({7})
Angesichts der Coronapandemie wollen wir etwas für den Einzelhandel und das Gastgewerbe in besonderem Maße tun. Wir wissen: Die Umsatzeinbrüche sind enorm, und die Mieten sind der größte Ausgabenposten. Gerade die großen Immobilienunternehmen streiken häufig, wenn es um Vertragsanpassungen nach § 313 BGB geht. Derzeit tragen die Mieter alleine die Last in der Pandemie, und das ist einfach unfair.
({8})
Ich sehe keinen Grund, einfach nur die Gewerbemieterinnen und ‑mieter für die Einschränkungen aufkommen zu lassen. Auch die Vermieterinnen und Vermieter müssen ein Risiko tragen.
({9})
Wir müssen gemeinsam die Auswirkungen der Pandemie bewältigen. Deshalb brauchen wir ein Signal des Gesetzgebers, dass die Risikoverteilung nicht einseitig zulasten der Gewerbemieterinnen und ‑mieter vorgenommen werden kann.
Ich bin daher froh, dass das BMJV gerade prüft, wie Gewerbemieterinnen und ‑mieter hier entlastet werden können. Es gibt auch schon positive Beispiele aus unseren europäischen Nachbarländern. Wir wissen allerdings auch: Eine pauschale Lösung allein hilft uns nicht weiter; denn dafür sind die Vertragsverhältnisse zu unterschiedlich, die Situationen zu individuell.
Wenn wir es den Mietern aber leichter machen können, ihre Rechte auf Vertragsanpassung durchzusetzen, wäre schon viel gewonnen. Wir beugen den drohenden Insolvenzen vor. Damit retten wir Existenzen. Vor allen Dingen tun wir etwas für den Zusammenhalt, für unsere Kieze und für unsere Innenstädte.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Katharina Willkomm für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen stellen uns heute ihren Masterplan zum Mietrecht vor. Dabei stellt sich gleich die Frage: Warum eigentlich? Auf Landesebene deckeln Sie doch schon fleißig die Mieten nach staatlich festgelegten Sätzen.
Schauen wir einmal, was uns das Gesetz bringen soll: Neuvermietungen nur noch 5 Prozent über dem Mietspiegel. Der Mietspiegel selbst soll auf 20 Jahre alten Daten basieren. Eine höhere Vormiete soll bei Neuvermietung irrelevant sein. Kappungsgrenze auf 9 Prozent runter. Und die Rügepflicht des Mieters entfällt.
Das alles ist wenig kreativ und sieht mehr nach Abschreiben bei der GroKo aus – nur dass die Grünen bei ihrer Mietpreisbremse überall noch etwas drauflegen, wie ein guter Marktschreier.
Sie beschweren sich auch über den ausgelaufenen Kündigungsschutz im Zusammenhang mit Corona. Aber dass er wieder eingeführt wird, fordern Sie nicht. Vielleicht war das ein Versehen, vielleicht eine Erkenntnis – im Ergebnis ist es besser so.
({0})
Es gibt weiteren Klärungsbedarf. Die Länder müssen zunächst die Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten per Verordnung bestimmen. Laut Ihrem Entwurf soll ein Wohnungsmarkt aber bereits dann angespannt sein, sobald die Mieten den Bundesdurchschnitt auch nur um 1 Cent übersteigen. Da fehlt doch jegliches Maß, Sie erklären automatisch die halbe Republik zur Problemzone. Mit einer lokal ausgerichteten Wohnungspolitik hat das nichts zu tun.
({1})
Freuen werden sich darüber nur die sehr gut verdienenden Pärchen in Potsdam oder in Köln oder in München; die mieten ihre Innenstadtwohnung dann noch günstiger und stechen andere Wohnungssuchende weiterhin aus.
Auch Ihr Sondermietrecht für Kleingewerbemieter ist unnütz. In Ihren Überlegungen kommen die Kleingewerbevermieter nicht einmal vor. Erwartbar einseitig sehen Ihre Vorschläge aus. Und was ein angespannter Gewerbemietmarkt überhaupt sein soll, scheinen Sie auch nicht zu wissen. Ihrer Definition nach muss eine „besondere Gefahr“ bestehen, „dass es … nicht möglich ist, einen Gewerbemietvertrag zu angemessenen Bedingungen zu schließen“. Ein Erkenntnisgewinn ist damit jedenfalls nicht verbunden.
Sparen wir uns lieber diesen schalen Aufguss einer weiteren Mietpreisbremse.
({2})
Wir wissen doch: Die Mietpreisbremse taugt nichts, sie schafft nur erhöhten Aufwand für Vermieter und zieht Mieter vor die Gerichte. In Hamburg hat eine Studie erst vor Kurzem belegt, dass sie die Mieten sogar treibt. Schaffen wir sie endlich ab!
({3})
Lösen wir die Probleme an ihrer Quelle: Wir brauchen erstens mehr Neubau in den Gemeinden, zweitens mehr Geld in den Taschen der Steuerzahler und drittens: Es muss für die Menschen einfacher werden, Wohneigentum aufzubauen.
({4})
Das macht Menschen unabhängig und sichert ihnen ein selbstbestimmtes Leben ohne Mietschulden.
Vielen Dank.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits vor Ausbruch der Coronapandemie gab es allen Grund, ein echtes Gewerbemietrecht einzuführen, das insbesondere kleine Gewerbemieter besser vor der Willkür ihrer Vermieter schützt; denn für Gewerbemieter gibt es leider bisher keinen speziellen Schutz, keinen Anspruch auf eine Mindestvertragslaufzeit für ihre Mietverträge und auch keinerlei Begrenzungen der zulässigen Miete. Für kleine Handwerksbetriebe und Einzelhändler, aber auch für Kultur- und Sozialeinrichtungen in Innenstadtlage hatte dies schon vor Ausbruch der Coronapandemie nicht selten existenzgefährdende Folgen.
Wir sehen heute nochmals sehr deutlich, dass CDU/CSU, FDP und natürlich auch die AfD nicht auf der Seite der betroffenen Kleingewerbetreibenden stehen, und ich hoffe, dass viele der Betroffenen das mitbekommen.
({0})
Ich bin auch tatsächlich stolz darauf, aus dem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost zu kommen, in dem die AfD keinerlei Stich bekommt, und das wird auch so bleiben; das verspreche ich Ihnen.
({1})
Ich könnte Ihnen zahllose Beispiele aus meinem Wahlkreis nennen, wo wirtschaftlich intakte Kleinunternehmen durch die Willkür ihrer Vermieter ihre Existenz verloren haben. Bereits im Januar haben wir als Linke wegen solcher Fälle einen Antrag zum Schutz von Gewerbemietern vorgelegt, und es ist gut, dass jetzt auch andere nachziehen.
({2})
Aber ich frage mich wirklich, wie lange die Bundesregierung bei diesem Thema noch die Augen verschließen will.
Mit Sozialismus, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, hat das übrigens überhaupt nichts zu tun, zumindest solange nicht, wie Sie nicht auch Ihren Parteikollegen Herrn Diepgen als Sozialisten bezeichnen, der ja schon Anfang der 90er-Jahre eine entsprechende Bundesratsinitiative aus Berlin gestartet hat.
({3})
Aber selbst wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, nicht bereit sein sollten, kleine Gewerbemieter generell besser vor der Willkür der Immobilienwirtschaft zu schützen, dann sorgen Sie wenigstens jetzt in der Coronakrise dafür, dass Gewerbemieter besser geschützt werden; denn viele Einzelhändler, Reisebüros, Kneipen oder Klubs sind trotz staatlicher Hilfen aktuell nicht mehr in der Lage, ihre Mieten zu zahlen. Und das ist angesichts drastischer Umsatzeinbußen oder anhaltender Schließungen einfach auch kein Wunder.
Eine Klubbetreiberin aus meinem Wahlkreis berichtete in diesem Zusammenhang schon im Juli von über 50 000 Euro minus alleine aufgrund der anhaltenden Mietverpflichtungen. Auch der Handelsverband HDE warnte gestern erneut vor einer riesigen Pleitewelle im Handel, insbesondere weil auch die Umsätze weiter unter dem Vorkrisenniveau bleiben.
Sie können jetzt natürlich sagen, das wollen Sie alles mit Steuermitteln ausgleichen. Wir als Linke sagen klar und deutlich: Es ist nicht gerecht, wenn die Immobilienbranche an diesen Krisenlasten nicht beteiligt wird.
({4})
Deshalb fordern wir in unserem Antrag als Sofortmaßnahmen die Wiederherstellung des Kündigungsmoratoriums bei pandemiebedingtem Zahlungsverzug für die gesamte Dauer der Pandemie,
({5})
eine Minderungsmöglichkeit um mindestens die Hälfte der geschuldeten Miete im Falle behördlicher Schließungen oder anderer Beschränkungen und einen gesetzlich garantierten Anspruch auf Absenkung der Miete für notleidende Gewerbemieter, die aktuell von erheblichen Umsatzverlusten betroffen sind.
({6})
Eine solche gesetzliche Klarstellung ist dringend notwendig. Handeln Sie, unterstützen Sie unseren Antrag und schützen Sie damit die kleinen Gewerbetreibenden, die jetzt in existenzieller Not sind!
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir gegen Ende der Debatte drei Anmerkungen:
Anmerkung Nummer eins. Ich glaube, dass wir alle, wie wir hier sitzen, was die Pandemie angeht, das Ziel haben, dass wir auch gewerbetreibende Mieter schützen und ihnen helfen. Was uns allerdings unterscheidet, würde ich mal sagen, sind die unterschiedlichen Lösungsansätze. Da gibt es die einen – ich will das gar nicht werten –, die, wenn sie merken: „oh, es wird bei der Miete schwierig“, auf die Idee kommen: Wir regulieren mal den Mietmarkt. – Da bin ich an mancher Stelle erstaunt, dass der eigene Koalitionspartner auch in die Richtung denkt, wie ja die Kollegin deutlich gemacht hat.
({0})
Wir glauben aber von der Philosophie her nicht, im Übrigen auch als Partei der sozialen Marktwirtschaft, dass wir den Markt durchregulieren sollten, sondern wir glauben, dass wir mit Instrumenten wie Überbrückungshilfe, Soforthilfe, KfW-Hilfen, Steuerstundungen und eben auch der Solidarität von Marktteilnehmern – sie gibt es nämlich auch; es gibt auch Vermieter, die im Interesse, ihren Mieter zu halten, bereit sind, Mieten zu stunden –
({1})
gute Lösungen auf dem Markt ermöglichen können.
({2})
Ich glaube, wir liegen mit dieser Strategie richtig; denn die homogene Problemlage, wie Sie sie beschrieben haben, ist eben doch nicht so homogen. Wir haben nämlich Konstellationen, wo es Gewerbetreibenden durchaus gut geht, auch während der Pandemie. Wir haben andere, die Probleme haben, aber dafür versichert sind. Wir haben wiederum andere, die eine Steuerstundung in Anspruch nehmen, eine Soforthilfe in Anspruch nehmen und damit über den Berg kommen. Deswegen ist es viel zu weitreichend, wenn Sie trotz dieser inhomogenen Situation einfach den ganzen Markt durchregulieren wollen.
Der Gesetzentwurf von den Grünen hat vor allem den Schwachpunkt, dass er eine völlig willkürliche Unterscheidung vornimmt. Ich lasse mir gefallen, meine Damen, meine Herren, dass man sagt, man will da als Gesetzgeber helfen. Aber der Maßstab bei den Grünen sind nicht Arbeitsplätze, sondern da wird dann völlig willkürlich entschieden: Wir schützen jetzt mal Kleingewerbetreibende, und wir schützen Kultur- und soziale Einrichtungen. – Dem kann ich auch etwas abgewinnen. Aber Sie können nicht erklären, warum Sie den einen so behandeln und den anderen so behandeln, und das sollte man als Jurist durchaus können.
({3})
Zweite Anmerkung. Wenn wir in der Pandemie Entscheidungen treffen wollen, Politik in der Pandemie machen wollen, dann glaube ich, dass wir immer Entscheidungen treffen sollten, die das Vertrauen in den Staat stärken. Das bedeutet. Nicht heute so und morgen so.
Vor drei Wochen haben wir hier an dieser Stelle über die Verlängerung der Aussetzung der Pflicht zur Insolvenzanmeldung debattiert, und da kam gerade von den Linken: Das ist ein falsches Signal, weil wir damit eigentlich die Pleitewelle nur vor uns herschieben.
({4})
– Selbstverständlich, ich habe es im Protokoll noch mal nachgelesen.
Heute legen Sie einen Antrag vor, der letztlich bei manchen Unternehmen unter Umständen nur künstlich das Leiden verlängert und die Pleitewelle auch nur vor sich herschiebt.
({5})
Und – das haben Sie vorhin nicht gesagt; ich habe sehr aufmerksam bei Ihrer Rede zugehört – Sie verlagern nur die Zahlungspflicht des Staates. Was Sie jetzt vorhaben, ist, dass Sie den Mietmarkt runterregulieren, und zwar so, dass auch die Vermieter in Not kommen, und wenn sie dann in Not sind, dann helfen Sie ihnen mit einem staatlichen Fonds.
({6})
Damit verunsichern Sie aber letztendlich den ganzen Markt.
Beim dritten Punkt, der mir wichtig ist, mit der dritten Anmerkung möchte ich an Frau Bayram anknüpfen, die vorhin dazu aufgefordert hat, dass wir doch unbedingt Teil der Lösung sein wollen. Ja, unbedingt. Es geht aber auch darum, Frau Bayram, nicht Teil des Problems zu werden.
({7})
Das ist genau der dritte Punkt, der wichtig ist: Ich glaube, dass es falsch ist, wenn wir jetzt die Pandemie nutzen, um über die Hintertür Ideologien durchzusetzen. Und über die Hintertür versucht letztendlich Ihr Gesetzentwurf, die Mietpreisbremse zu verschärfen.
Da würde ich mir wünschen, dass Sie am realen Leben, wie Sie es hier in Berlin im Moment skizzieren, mit der Mietpreisbremse und vor allem mit Ihrem Mietendeckel, mal lernen, weil Sie – und das sieht man sehr eindrücklich – mit all diesen Instrumenten Teil des Problems werden. Wir haben mittlerweile Zahlen, die deutlich machen, dass die Investitionen in den Wohnungsbau in Berlin deutlich zurückgegangen sind.
Und jetzt kommt das Allerneueste. Ich habe Ihnen einen Zeitungsausschnitt mitgebracht: Die Mieten im Berliner Umland explodieren, weil Sie einen Verdrängungswettbewerb mit Ihrem Mietendeckel in Gang setzen.
({8})
Deswegen sage ich: Bei Ihnen sieht man, wie man es nicht macht. Sie werden damit nämlich Teil des Problems; wir wollen Teil der Lösung sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei uns in Frankfurt
({0})
gehen die Gewerbemieten durch die Decke. Unter anderem Bäckereien, Gemüseläden und Nähstuben schließen wegen zu hoher Mieten. Schade ist, dass dabei auch alteingesessene Familienbetriebe verschwinden, die das Stadtbild prägen und das Quartier liebenswert machen.
In meinem Frankfurter Wahlkreis habe ich aktuell zwei Fälle, wo eine solche Vertreibung droht.
({1})
Den Blumenladen des Ehepaares Knapp in der Berger Straße kenne und schätze ich schon seit 33 Jahren. Ihnen wurde zum Jahresende gekündigt. Ich habe eine Unterschriftensammlung zum Erhalt des Ladens mitinitiiert, an der sich schon gut 1 000 Bürgerinnen und Bürger beteiligt haben.
({2})
Ein ähnlicher Fall ist die schon fast 100 Jahre alte Buchhandlung Schutt; auch diese soll verschwinden. Zu deren Erhalt läuft eine Onlinepetition.
Das Kleingewerbesterben wird durch Corona noch einmal verstärkt. Die Frage ist: Wollen wir wirklich künftig durch Innenstädte laufen und nur noch Telefonläden, Spielotheken oder Ähnliches sehen?
({3})
Ich sage Nein!
({4})
Die SPD will schon lange Städte der kurzen Wege mit wohnortnaher Versorgung. Auch für das Klima und die Gesundheit ist es gut, wenn Besorgungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt werden. Mit dem Kündigungsmoratorium, das bis zum 30. Juni 2020 galt, hatten wir eine gute Lösung, auch für Gewerbetreibende. Die SPD wollte eine Verlängerung; die Union hat dies leider verhindert.
({5})
Nun müssen wir andere Lösungen finden.
Für die SPD gibt es keinen Grund, warum nur Gewerbemieterinnen und ‑mieter alleine für die Folgen der Einschränkungen aufkommen und die Vermieter sich daran nicht beteiligen.
({6})
Schon nach heutiger Rechtslage ist eine Vertragsanpassung nach § 313 BGB möglich.
({7})
Der vorgelegte Antrag der Linken fordert darüber hinaus eine rechtliche Klarstellung, der die Covid-19-Bekämpfung als schwerwiegende Veränderung der Vertragsgrundlagen definiert. Das halte ich grundsätzlich für eine vernünftige Lösung.
({8})
Gleichzeitig prüfen wir Modelle zu einem Solidarfonds Mieten. Schön ist es natürlich, wenn Mieterinnen und Mieter sowie Vermieterinnen und Vermieter eine gemeinsame Lösung finden, zum Beispiel, wenn für einen gewissen Zeitraum die Mietkosten zwischen Gewerbemieter und Vermieter aufgeteilt werden.
Wir müssen über Veränderungen beim Mietrecht nachdenken. Zum Beispiel halten wir eine Heilungswirkung der verspäteten Mietzahlung auf eine ordentliche Kündigung für sinnvoll; dies gilt natürlich auch für Mietwohnungen. Außerdem brauchen wir einen effektiven Kündigungsschutz und eine Begrenzung zulässiger Mieterhöhungen bei Gewerbemietverhältnissen.
({9})
Dazu benötigen wir die Einführung eines Gewerbemietspiegels. Die Mietpreisbremse, die ich klasse finde, sollte auch für Kleingewerbemieterinnen und ‑mieter gelten.
Auch die Kommunen sollten handeln. Zum Beispiel ermöglicht unsere Wohnungsbaugesellschaft, die ABG Frankfurt Holding, durch geringe Gewerbemieten, dass sich auch Familienbetriebe halten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns eine gemeinsame Lösung finden – nicht nur für Frankfurt, sondern für ganz Deutschland!
({10})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute zu später Stunde in zweiter und dritter Lesung die Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes zur marktgestützten Beschaffung von Systemdienstleistungen – eine Gesetzesnovelle, die zugegebenermaßen auf den ersten Blick nicht gerade sehr spannend erscheint, die nicht, sage ich mal, stark diskutiert wurde, die sehr technisch ist und im Detail sicherlich nur einen ganz, ganz kleinen Teilbereich des Energiewirtschaftsgesetzes und damit der Energiepolitik betrifft.
Aber dieses Gesetz ist durchaus sehr wichtig für das Gelingen der Energiewende und auch für die Versorgungssicherheit in unserem Land. Denn mit diesem Gesetz wollen wir die an sich schon sehr hohe Versorgungssicherheit und Netzstabilität trotz der riesigen Herausforderungen weiterhin auf sehr hohem Niveau halten und damit für Versorgungssicherheit in unserem Land sorgen.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch mal in aller Deutlichkeit betonen: Deutschland ist enorm erfolgreich, wenn es darum geht, den Ausbau von erneuerbaren Energien zu gestalten. Wir haben in der ersten Hälfte dieses Jahres 50 Prozent unserer Stromversorgung aus erneuerbaren Energien beschafft. Damit sind wir Spitzenreiter nicht nur in Europa, sondern weltweit. Als Industrieland sind wir Vorreiter in der Frage des Ausbaus erneuerbarer Energien und sind damit bei der Energiewende sehr gut unterwegs.
({0})
Wir haben das Ziel von 40 Prozent CO2-Reduktion dieses Jahr anvisiert und werden es voraussichtlich auch erreichen. Auch in der Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch sind wir in Deutschland sehr gut und damit als Industrienation in der Weltspitze; auch das ist unser Erfolg.
Aber ich möchte in aller Deutlichkeit sagen, dass wir die nächsten Jahre noch vor ganz, ganz großen Herausforderungen stehen. Denn die nächsten 50 Prozent in der Energiewende werden noch einmal ein ganz großes Thema sein, nicht nur im Hinblick auf die Frage des absoluten Zubaus von erneuerbaren Energien, bei der Windenergie, beim PV-Zubau, was wir derzeit bei der EEG-Novelle diskutieren. Ich glaube, dass es ganz entscheidend sein wird, die System- und Marktintegration zu bewerkstelligen und damit Energiesicherheit, Bezahlbarkeit sowie Wirtschaftlichkeit für Industrie, Wirtschaft und den ganz normalen Verbraucher zu gewährleisten.
Deshalb ist das Gesetz, das wir heute beschließen, ein sehr wichtiger Baustein. Wir schaffen dadurch ganz konkret ein Beschaffungsverfahren für Systemdienstleistungen, die gebraucht werden. Wir schaffen damit Transparenz, Diskriminierungsfreiheit und eine marktbasierte Lösung. Damit werden Systemdienstleistungen für den Markt geschaffen, und die Netzstabilität wird entsprechend gesichert.
Damit setzen wir den Rahmen für einen offenen Markt, der nicht nur klassische Energieerzeuger mit einschließt, sondern auch die Speicher und Verbraucher mit einbindet und damit auch einen größeren Teil der Energiewirtschaft mit einbinden kann. Das ermöglicht einen viel größeren Markt, der technische Potenziale weckt, Innovation anreizt und damit auch noch mal ganz neue Möglichkeiten durch neue Anbieter und neue Techniken eröffnet. Auch das macht Energiewende konkret technologisch erlebbar. Dadurch schaffen wir einen Wettbewerb um Innovationen, mit dem die Netzsicherheit gewährleistet wird und kostengünstige Lösungen favorisiert werden. Auch das kommt ganz konkret im Geldbeutel der Menschen an.
Auch die Wirtschaft und die Industrie werden davon profitieren. Nur ein Beispiel: Allein im Bereich der Spannungsregelung, die durch dieses Gesetz noch einmal neu ausgeschrieben werden kann, gehen wir vom Bundeswirtschaftsministerium davon aus, dass man bis zu 1 Milliarde Euro jährlich sparen kann und damit ganz konkret die Energiewende und die Energiewirtschaft noch einmal günstiger gestalten kann.
({1})
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz machen wir die Energiewende wirtschaftlicher, versorgungsicher und führen sie damit zum Erfolg. Auch das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Baustein einer erfolgreichen Regierungspolitik.
Ich bitte um Zustimmung und freue mich über das weitere Gelingen der Energiewende.
Herzlichen Dank und Ihnen dann noch einen schönen Abend.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bareiß, die Versorgungssicherheit steigt nicht, sondern sie sinkt kontinuierlich mit dem Ausbau der instabilen erneuerbaren Energien.
({0})
Weltspitze? Wenn das so weitergeht, sind wir bald Weltspitze bei den Strompreisen, sonst nirgends, nur bei den Kosten für unser Energiesystem.
Der Gesetzentwurf, der uns hier vorliegt, offenbart, dass die instabilen erneuerbaren Energien von minderer Qualität sind. Sie leisten nicht das, was konventionelle Stromerzeugung leistet. Bisher stellen ja die Kraftwerke diese Systemdienstleistung sicher. Sie bieten im Betrieb diese quasi Nebenleistungen an; das funktioniert integriert, das funktioniert aber nicht bei Windenergie- und Photovoltaikanlagen. Natürlich kann man Leistungselektronik dazuschalten; das regelt einiges, aber eben nicht alles. Wenn kein Wind weht, dann haben wir überhaupt keine Leistung, keinen Strom und natürlich auch keine Systemdienstleistung. Damit haben wir keine gesicherte Versorgung.
({1})
Wie soll so ein Windrad auch schwarzstartfähig sein, wenn kein Wind weht? Wie soll das funktionieren? Das funktioniert nicht.
({2})
Die geplante Gesetzesänderung setzt die im Erneuerbare-Energien-Gesetz verankerte Diskriminierung und Planwirtschaft fort. Obwohl darin steht, dass man nicht diskriminieren möchte, obwohl darin steht, dass man Marktlösungen möchte, ist genau das Gegenteil leider der Fall: Die konventionelle Stromerzeugung wird nämlich diskriminiert und teilweise aus dem Markt herausgedrängt. In der Begründung des Gesetzentwurfes steht es ja auch, dass man diskriminiert: Wenn eine Lösung besser ist und daraus folgt, dass die instabilen Erneuerbaren reduziert werden, dann ist diese Lösung ausgeschlossen. – Das ist natürlich ganz klar eine Diskriminierung. Das wollen wir nicht. Und von Effizienz kann da überhaupt nicht die Rede sein; auch wenn das behauptet wird.
({3})
Alte bewährte Technologien sollen ausgeschlossen werden. Es soll also unbedingt, es soll krampfhaft etwas Neues her, etwas sogenannt Zukunftsweisendes, neue, zukunftsweisende Technologien. Aber wenn Neues staatlich verordnet wird, obwohl Existierendes sich schon bewährt hat, dann sind wir in der Planwirtschaft. Und das lehnen wir ab, meine Damen und Herren!
({4})
Mit diesen instabilen erneuerbaren Energien gibt es ohne entsprechende Speicher keine Stabilität. Es gibt diese Speicher nicht, und der Umweg über die Wasserstofftechnologie wird uns kosten und kosten und kosten. Dann landen wir vielleicht bei 40 Cent pro Kilowattstunde oder darüber hinaus. Dann sind wir beim Strompreis endgültig Spitzenreiter in der Welt.
Aber, meine Damen und Herren: Statt für die Energiewende Wälder abzuholzen, Natur zu zerstören, statt den schlechten rot-grünen Strom teuer zu bezahlen und statt Wirtschaft und Bevölkerung durch den Blackout zu gefährden, investieren wir doch in eine zukunftsweisende Technologie: in Kernenergie!
({5})
Viele, viele Länder um uns herum kehren ihre abgewandte Politik wieder um und beschreiten den Weg der Kerntechnologie. Das beste Beispiel sind die Niederlande. Sie planen jetzt bis zu zehn neue Kraftwerke. Sie sind also von diesem Irrweg abgekommen, aus der Kernenergie auszusteigen, und das ist gut, meine Damen und Herren.
({6})
Wir werden das auch dereinst irgendwann machen; ich hoffe nur, nicht zu spät, dass es dann nicht schon zu teuer ist. Nehmen Sie endlich mal Ihre rot-grünen Tomaten von den Augen! Mit moderner Kerntechnologie sind geologische Endlager Geschichte. Die brauchen wir dann nämlich nicht mehr.
({7})
Die Reststoffproblematik kann gelöst werden. Das ist wahrer Umweltschutz, und das ist zukunftsfähig, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Umsetzung einer EU-Richtlinie realisiert. Es geht um die marktgestützte Beschaffung von Systemdienstleistungen für Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber im Stromnetzbereich. Das ist komplizierter Kram. Man musste in der Vorbereitung aufpassen, dass man seine Rede nicht zu einer technischen Vorlesung werden lässt. Trotzdem kann ich uns hier einige technische Details nicht ersparen.
Herr Kotré, ich hatte mir fest vorgenommen, heute nicht über das zu sprechen, worum es in diesem Gesetzentwurf eigentlich geht, nämlich Blindleistungen, weil das so kompliziert ist; aber Kollege Lenkert hat das Wort eben zugerufen.
({0})
Jetzt geht es gar nicht anders, als über Blindleistungen zu sprechen, allerdings nicht aus elektrotechnischer Sicht, sondern aufgrund Ihrer Rede, die Sie hier gehalten haben.
({1})
Es ist insgesamt komplizierter Kram – keine Frage. Aber in Ostfriesland sagt man: Beter stuur, as neet to begriepen, also, besser schwierig, als nicht zu verstehen.
Die EU möchte eine marktgestützte, diskriminierungsfreie Beschaffung von Systemdienstleistungen mit der Möglichkeit, Ausnahmen zuzulassen. Mit diesem Gesetzentwurf kümmern wir uns um die Ausnahmen. Genau diese Ausnahmen regeln wir im vorliegenden Gesetzentwurf absolut sinnvoll. Damit wird wieder einmal eines deutlich: Der Markt regelt eben nicht alles. Der Markt ist nicht überall die Lösung.
({2})
Zum Beispiel sind wir im Bereich der erneuerbaren Energien 2017 in Ausschreibungen eingestiegen in der Annahme, der Markt täte den erneuerbaren Energien gut. Heute sehen wir leider niedrige Ausbaumengen und eine Windenergieindustrie in Deutschland, die dringend Hilfe braucht, damit sie nicht das Schicksal der Solarindustrie ereilt.
({3})
Es geht hier um Arbeitsplätze, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht um Tausende von Menschen, die um ihre Existenz bangen. Diese Menschen haben es verdient, dass wir hier vernünftige Energiepolitik für sie machen.
({4})
Und wir hätten die Chance dazu. Vielleicht gelingt uns ja in den anstehenden Verhandlungen zum EEG eine Kehrtwende – eine Kehrtwende aus energiepolitischen Gründen, eine Kehrtwende aus klimapolitischen Gründen und eine Kehrtwende aus industriepolitischen Gründen.
({5})
Die Menschen hätten es verdient. Vielleicht schaffen wir es hier und dort auch, Ausnahmen zu definieren – Stichwort: die EU-zulässige De-minimis-Regelung, also keine Ausschreibung für kleine Windparks bis zu 18 Megawatt.
Wenn wir über Netze sprechen, dann müssen wir uns vor Augen halten, welche Effizienzpotenziale wir derzeit auf den Leitungen liegen lassen, also welche Kostenreduktionspotenziale für die Bürgerinnen und Bürger derzeit nicht realisiert werden. Dazu gehören leider einige technische Beispiele.
Zum Beispiel die Interkonnektivität der Verteilnetze: Das heißt, wenn es einem Verteilnetz nicht so richtig gut geht, also wenn es zu viel oder zu wenig Strom im Netz hat, und ein anderes genau das gegenteilige Problem hat, dann können sie sich nicht direkt miteinander verbinden, sondern müssen das Übertragungsnetz nutzen, um diese Ausgleiche stattfinden zu lassen. Das ist nicht vorteilhaft. Die Verteilnetze müssen miteinander verbunden werden.
({6})
Zum Beispiel das Temperaturmonitoring: Eine Stromleitung kann unterschiedlich viel Strom transportieren, je nach Außentemperatur. Wenn es kalt ist und der Wind weht, ist eine Leitung viel höher auszulasten, als wenn es 20 Grad sind und es windstill ist. Aber dafür braucht man Temperatursensoren an den Leitungen. Das heißt, man braucht ein flächendeckendes Temperaturmonitoring. Das haben wir in Deutschland aber nicht.
Zum Beispiel Hochtemperaturleiterseile: Das sind die gleichen Masten, die gleichen Seile – sie sehen jedenfalls so aus –, aber sie können wesentlich mehr Strom auf vorhandenen Trassen transportieren.
Zum Beispiel digitalisierte und automatisierte Betriebsführung. Wir reden hier über Effizienz. Das deutsche Übertragungsnetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird derzeit zu 27 Prozent genutzt – 27 Prozent, nicht mehr! Das hat etwas damit zu tun, dass wir es nicht effizient betreiben.
Zum Beispiel ungewollte europäische Ringflüsse; dazu hätte jetzt mein Kollege Ralph Lenkert viel sagen können. Das lasse ich dir fürs nächste Mal, Ralph; dann kannst du dazu etwas erzählen.
Zum Beispiel Netzbooster und innerdeutsche Phasenschieber, also Weichen, die man in Deutschland benutzt, um im Netz dafür zu sorgen, dass der Strom dahin transportiert wird, wo man ihn tatsächlich braucht. Diese beiden Dinge sollen und müssen bis 2022, 2023 kommen, und es wird sehr teuer, wenn das länger dauert. Ich hoffe, dass uns das gelingt.
({7})
Das sind nur einige technische Beispiele, die wir jetzt dringend angehen müssen, die genauso wichtig sind wie die Regelungen in diesem Gesetzentwurf. Wir müssen im Bereich Netz künstliche Intelligenz und Digitalisierung anreizen und nicht Beton und Kupfer wie in der Vergangenheit. Dadurch sparen wir mehr Geld für die Bürgerinnen und Bürger. Aber durch vermeintliche Vorteile, durch Markteinführung, wo kein Markt ist, sparen wir eben nicht, sondern wir geben im Zweifel mehr Geld aus.
Da wir gerade beim Übertragungsnetz sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen und über die Rolle des Staates beim Bau und beim Betrieb von Stromnetzen im Übertragungsbereich sprechen. Die KfW hält – die meisten von uns wissen das – einen Anteil an 50Hertz, dem Übertragungsnetz im Osten der Bundesrepublik. Die Bundesregierung verhandelt derzeit mit dem niederländischen Staat über einen Anteil an TenneT.
({8})
Das finde ich absolut notwendig und richtig. Wir Sozialdemokraten wollten ja schon immer die Deutsche Netz AG, aber damals hat die Mehrheit der Koalition die Privatisierung für besser gefunden.
({9})
Da haben wir ihn wieder, den Glauben an den Markt. Wir Sozialdemokraten wollen mehr staatlichen Einfluss auf die Übertragungsnetze als kritische Infrastruktur; das wollen wir an dieser Stelle mal festhalten.
({10})
Das wäre auch beim Ausbau der Breitbandnetze sinnvoll gewesen; aber die damalige Koalition hat sich für etwas anderes entschieden. Jetzt liegen wir beim Breitbandausbau weltweit auf Platz 33.
({11})
So ist es, wenn man an den Markt glaubt.
({12})
Der Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist technisch, aber er ist gut ausbalanciert, und wir Sozialdemokraten stimmen ihm zu.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Sandra Weeser das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir hier schlicht eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorlage. Wenn es um eine saubere Umsetzung einer EU-Vorlage geht, dann – da können Sie sich sicher sein – haben Sie immer die Unterstützung der Freien Demokraten. Wir werden dem Gesetzentwurf hier zustimmen. Deswegen schon mal vorab unser Entgegenkommen.
Aber ich habe ja noch ein bisschen Redezeit,
({0})
und ich als Oppositionspolitikerin möchte sie dazu nutzen, noch ein bisschen in die letzten drei Jahre der Energiepolitik von Herrn Altmaier einzusteigen. Er liefert immer nur Pflichtübungen; ich habe noch keine Kür von ihm gesehen. Wir haben keine zukunftsweisenden Lösungen für eine echte Energiewende.
({1})
Ich habe es an dieser Stelle schon mehrfach gesagt, und ich werde auch nicht müde, es immer wieder zu wiederholen: Wir brauchen eine sichere und eine nachhaltige Stromversorgung, und wir brauchen vor allen Dingen bezahlbare Energiepreise, meine Damen und Herren.
({2})
Wir sind abhängig von einem stabilen Stromnetz. Wir brauchen Versorgungssicherheit jederzeit und überall. Bei der Versorgungssicherheit darf die Politik nicht durch klima- oder energiepolitische Maßnahmen alles aufs Spiel setzen, sondern Versorgungssicherheit ist für uns Freie Demokraten nicht verhandelbar. Deshalb brauchen wir mehr Effizienz bei der Nutzung der Netze. Wir müssen aber auch über die Verteilung der Kosten nachdenken. Die Netzentgelte müssen gesenkt werden, damit unser Standort hier in Deutschland attraktiv bleibt.
({3})
Sie liefern heute wieder nur Stückwerk und keinen umfassenden Ansatz für die Energie- und letztendlich auch für die Klimawende. Sie setzen hiermit einfach nur wieder kurz vor Schluss eine EU-Vorgabe um; aber Sie haben keinen klaren Kompass, und Sie haben leider auch kein Konzept, meine Damen und Herren.
({4})
Deutschland hat nach wie vor die höchsten Energiepreise in Europa, fast sogar weltweit. Unternehmen, Familien, Haushalte werden hier über Gebühr belastet; stattdessen sollten wir sie doch lieber entlasten.
({5})
Das heißt, wir brauchen bezahlbare Energiepreise. Indem Sie Kostenbestandteile wie die EEG-Umlage und künftig Teile der Netzentgelte in den Haushalt verschieben, wollen Sie doch nur die Ineffizienz des gesamten Systems kaschieren.
({6})
Stattdessen brauchen wir einen Aufbruch in eine neue Energiepolitik. Wir brauchen mehr Marktwirtschaft
({7})
– ja –, und nicht nur in Gesetzentwürfen, in denen der Begriff „Marktwirtschaft“ im Titel steht. Dazu braucht es aber mehr Mut, liebe Bundesregierung. Beenden Sie endlich die Dauersubventionen! Lassen Sie mehr Markt zu! Beenden Sie das EEG!
({8})
Senken Sie die Stromsteuer, und reformieren Sie endlich die Netzentgelte! Das ist schon mal ein guter Weg.
Ich danke Ihnen.
({9})
Den Beitrag des Kollegen Ralph Lenkert nehmen wir zu Protokoll.
({0})
Das Wort hat nun Dr. Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bareiß, Sie haben darauf hingewiesen, dass dieses Thema sehr wichtig für die Energiewende ist. Damit haben Sie voll und ganz recht. Das Problem ist bloß, dass die Umsetzung dieser Novelle zeigt, dass Sie die Energiewende einmal mehr nicht ernst genommen haben, sondern diese Chance verpasst haben. Denn genau diese Novelle wäre die Chance gewesen, die wichtigen Systemdienstleistungen, die man für die Energiewende braucht, künftig aus erneuerbaren und anderen nicht fossilen Quellen zu beschaffen. Diese Chance haben Sie leider verpasst.
({0})
Das ist ein weiteres Puzzleteil im Bild, wie Sie mit Klimapolitik umgehen. Minister Altmaier hat erst vor Kurzem wieder mit großen Worten mehr Klimaschutz – Stichwort: Klimapakt – verkündet. Was hat er seitdem konkret vorgelegt? Eine EEG-Novelle, die in ihren Ausbauzielen meilenweit hinter dem zurückbleibt, was er mit seinen eigenen Worten eigentlich gefordert hat. Und heute Abend die nächste verpasste Chance: Heute Abend hätten Sie endlich auch die Systemdienstleistungen durch Erneuerbare auf den Weg bringen können, und Sie haben es nicht geschafft.
({1})
Es war Ihre Verantwortung, hier einen sinnvollen Entwurf vorzulegen. Herr Bareiß, Sie waren durchaus ganz ehrlich, als Sie gesagt haben, es ging Ihnen darum, einen kostengünstigen Entwurf hinzubekommen. Ja, aber es ist doch sehr naiv, es ist doch sehr kurzsichtig, zu glauben, kostengünstig ist das, was kurzfristig am kostengünstigsten ist. Bei Ihnen ist das abgeschriebene Kohlekraftwerk kostengünstig, das einfach weiter die Systemdienstleistungen liefert, bis man das Kohlekraftwerk abschalten will. Und dann – oh Wunder – schießen nicht über Nacht die anderen Optionen plötzlich wie Pilze aus dem Boden, sondern man hat dann ein Problem. Das ist nicht kostengünstig, sondern das ist kurzfristig gedacht. Langfristige Kostengünstigkeit ist etwas vollkommen anderes.
({2})
Und dann spinnt sich das Problem ja noch einen Dreh weiter. Sie selbst haben im Kohleausstiegsgesetz festgelegt, dass es eine Prüfung gibt, bevor ein Kohlekraftwerk abgeschaltet wird, die zeigen soll, ob es die Systemsicherheit gefährdet, dieses Kraftwerk abzuschalten. Ab 2026, wenn die Systemsicherheit an dieser Stelle in Gefahr zu sein scheint, bleiben die Kohlekraftwerke einfach im Markt; sie werden nicht abgeschaltet. Genau dafür legen Sie jetzt den Grundstein; denn jetzt müssten Sie dafür sorgen, dass die Systemsicherheit anders bereitgestellt werden kann. Jetzt hätten Sie die Zeit. Wenn Sie im Jahre 2026 sagen: „Huch, wir haben das nicht gemacht“, dann ist das kein Wunder. Heute und hier hätten Sie die Chance gehabt. Dass Sie diese Chance nicht genutzt haben, ist das Problem.
({3})
Ich muss allerdings auch sagen: Dass die Kollegen von SPD und FDP zwei Drittel ihrer Redezeit über ganz andere Themen geredet haben, zeigt, dass auch bei Ihnen nicht die Leidenschaft da ist, zu erkennen, dass Themen im Zusammenhang mit Systemdienstleistungen wirklich wichtig für die Energiewende sein können und dass man sich darum kümmern muss. Deswegen ist es höchste Zeit, dass hier wieder jemand mitregiert, der tatsächlich diese Leidenschaft für die Umsetzung der Energiewende hat. Denn es geht um Klimaschutz, es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft, aber auch unserer Industrie, die auf diese Versorgung angewiesen ist.
Herzlichen Dank.
({4})
Den Beitrag von Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion, nehmen wir zu Protokoll.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun.“ Dieses Zitat von Johann Wolfgang von Goethe lässt sich in einem Wort resümieren:
({0})
Anpacken! – Es geht um das Anpacken, und vielmehr noch um die Förderung unserer deutschen Unternehmerinnen und Unternehmer, die für uns anpacken.
Mit dem vorliegenden ERP-Wirtschaftsplangesetz 2021 wollen wir als CDU/CSU-Fraktion, als Union, wie auch in den Jahren zuvor wichtige Impulse geben für mehr Innovationen, für mehr Gründungen und vor allen Dingen für eine Modernisierung unserer Wirtschaft. Das ist gerade jetzt ein wichtiges Signal für unsere kleinen und mittleren Unternehmen, die für fast 50 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts und für 60 Prozent der Arbeitsplätze stehen.
({1})
Für diejenigen, die nicht zu den Fachpolitikern gehören, kurz erklärt: ERP steht für European Recovery Program. Die Finanzmittel stammen aus den Geldern des damaligen Marshallfonds, der den schnellen Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft begleitete. Und auch heute, nach über 70 Jahren, steht das hierfür eingesetzte Sondervermögen als Synonym für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik.
Durch zielgenaue staatliche Förderung und Kreditprogramme schnell aus der Krise kommen – meine Damen und Herren, was damals zum Erfolg führte, ist auch in diesen Tagen aktueller denn je. Wir in der Union sind der festen Überzeugung, dass die Förderung des deutschen Mittelstandes aus dem Sondervermögen in Kombination mit den zahlreichen anderen beschlossenen Hilfsmaßnahmen ein weiterer Baustein zur Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie sein wird.
Denn wie die aktuellen Zahlen zeigen, sind wir noch lange nicht über den Berg. Aus diesem Grund war es auch richtig, eine Verlängerung der Überbrückungshilfen durchzusetzen. Genauso entscheidend war die Anpassung der Hilfen durch die Absenkung der Zugangsschwellen, zum Beispiel bei den Mitarbeiterzahlen, oder die modifizierte Berechnung der Umsatzeinbußen. Ich hoffe einfach – ich denke, Sie alle tun dies –, dass die Mittel jetzt zügig an die entsprechenden Branchen, an die Unternehmen, die sie brauchen, fließen.
Ein kleiner Schlenker sei mir noch erlaubt. Dass wir die Soloselbstständigen mit dem Gang zur Arbeitsagentur abspeisen, wird diesen in ihrem unternehmerischen Denken und Handeln nicht gerecht. Ich bin dem Wirtschaftsminister dankbar, dass er sich für einen anderen Lösungsansatz beim Koalitionspartner einsetzt. Wir brauchen hier eine Diskussion; denn wir brauchen dringend eine angepasste Förderung für Soloselbstständige.
„Anpassungen“, meine Damen und Herren, ist genau das richtige Stichwort. Die ständige Weiterentwicklung macht auch das ERP-Programm so erfolgreich. Im Laufe der Zeit wurde das Förderinstrumentarium immer weiter entwickelt. Heute unterstützt es Gründerinnen und Gründer. Es steht für den innovativen Mittelstand, und das ist natürlich ein ganz zentrales Ziel; denn nur so werden wir Raum für Ideen und auch Innovationen schaffen und den Grundstein für einen auch in der Zukunft erfolgreichen Mittelstand legen. Dafür werden allein im kommenden Jahr 734 Millionen Euro bereitgestellt. Damit werden Darlehen und zinsverbilligte Kredite mit einem Gesamtvolumen von bis zu 7,9 Milliarden Euro generiert werden.
Gerade in der jetzigen Krise spielen Impulse für Innovationen eine wichtige Rolle; denn wir müssen es schaffen, aus dem Krisen- in den Wachstumsmodus zu schalten.
({2})
Hervorheben möchte ich als Beispiel in der kurzen Zeit nur die ERP-Innovationsfinanzierung, die 2017 ja neu strukturiert worden ist: auf der einen Seite die Förderprogramme im ERP-Mezzanine für Innovation und auf der anderen Seite der ERP-Digitalisierungs- und Innovationskredit.
Wir haben 2 Milliarden Euro als Gesamtkreditvolumen zur Verfügung, um Digitalisierungsvorhaben voranzutreiben, und das ist natürlich gut so; denn in diesem Bereich müssen kleine und mittlere Unternehmen trotz oder gerade wegen der Pandemie weiter investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir begleiten sie gerne mit dem notwendigen Invest.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Unterstützung durch ein umfassendes Förderinstrumentarium ist auch im Bereich der Beteiligungsfinanzierung elementarer Bestandteil der ERP-Wirtschaftsförderung. Durch die Ausgründung der KfW Capital, einer 100-prozentigen Tochter der KfW, geben wir zudem einen wichtigen Impuls für diese notwendige Verbesserung der Wagnis- und Wachstumskapitalversorgung für Start-ups und auch für innovative Unternehmen. Hier – das wissen wir alle – brauchen wir in Deutschland viel mehr Dynamik.
({3})
2019 gab es 34 VC-Fonds-Zusagen im Wert von 600 Millionen Euro. Wir blicken jetzt auf ein gesamtes Geschäftsjahr zurück. Insgesamt beläuft sich das Fondsvolumen auf 7 Milliarden Euro, und aus diesem Fonds konnten bisher insbesondere 800 Unternehmen finanziert werden. Ich denke, das ist eine gute Bilanz und eine wertvolle Unterstützung, die wir auch weiterentwickeln sollten.
({4})
Zum Schluss meiner Rede ein letzter Punkt. Zur Bewältigung der Pandemie stehen seit März 2020 die KfW-Kredit-Sonderprogramme zur Verfügung. 90 000 Kreditzusagen mit einem Gesamtvolumen von 54 Milliarden Euro: Ich denke, das ist ein Wahnsinnskraftakt. Auch wenn diese Mittel nicht aus dem ERP-Programm, sondern aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, nutzen wir doch unter anderem die vorhandenen Strukturen, nämlich die der KfW.
Deshalb möchte ich tatsächlich ausdrücklich Danke sagen in Richtung KfW und auch dem Wirtschaftsministerium. Für uns als Union ist dies unbedingt ein Grund mehr, diese Förderstruktur zu erhalten, sie weiterzuentwickeln und vor allen Dingen diesem ERP-Wirtschaftsplangesetz 2021 zuzustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Enrico Komning das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bareiß! Ich finde es etwas schade, dass der Wirtschaftsminister zu dieser späten Stunde nicht selbst gekommen ist. Ich finde es auch schade, dass dieses sehr wichtige Thema heute zu später Stunde hier so stiefmütterlich behandelt werden muss, und ich finde es auch schade, dass vier Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben; denn das Thema ist doch sehr wichtig.
Die Situation des Mittelstandes in Deutschland ist nämlich desaströs. Sie hat sich durch den unnötigen und in vielen Branchen ja immer noch anhaltenden Lockdown weiter dramatisch verschlechtert. Deshalb ist Mittelstandsförderung heute so wichtig wie nie, und es ist gut und richtig, dass die KfW mit dem ERP-Sondervermögen gerade jetzt ihr Engagement ausweitet.
Die Zahlen belegen den Bedarf: allein 70 000 Kreditanträge bei der KfW im ersten Halbjahr, mehr als 99 Prozent davon von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Die Nachfrage ist hoch, private Banken scheuen aber das Risiko. Hier müssen wir gegensteuern,
({0})
und zwar nicht nur mit Krediten, sondern natürlich auch mit Wagniskapital. Die Start-ups, die Kreativen brauchen in diesen Zeiten risikobereite Partner – gerade in diesen Zeiten, in denen Zukunftsprognosen angesichts einer orientierungslos daherkommenden politischen Führung kaum möglich sind.
Anstatt in dieser Krise aber wirklich Zeichen zu setzen und sich dem zuzuwenden, was in Deutschland noch Zukunft hat, nämlich unserem innovativen Mittelstand, werden Rettungsschirme für Großunternehmen wie TUI und Sixt aufgespannt. Allein Adidas bekommt von der KfW 3 Milliarden Euro – mehr als das ganze Coronamaßnahmenpaket für Start-ups und Mittelstand zusammen. Ihr Wunsch, Herr Altmaier, der heute nicht da ist – Herr Bareiß, nehmen Sie es mit –, nach globalen Champions zulasten des Mittelstandes ist ein Irrweg.
({1})
137 Millionen Euro investierte die KfW Capital im ersten Halbjahr in Venture-Capital-Fonds – zugegeben, deutlich mehr als im vergangenen Jahr, aber eben deutlich zu wenig, um Deutschlands Technologierückstand abzubauen. Das Eigenlob des selbsternannten Exportweltmeisters verkommt zu einer hohlen Phrase, wenn man im Digitalbereich ein Handelsbilanzdefizit von 36 Milliarden Euro hat. Daraus folgt: Deutschland muss weitaus mehr für den Mittelstand, weitaus mehr für Unternehmensgründer, weitaus mehr für Start-ups und weitaus mehr für Forschungs- und Innovationsnetzwerke tun,
({2})
und zwar technologieoffen. Ansonsten wird die große Pleitewelle mit Sicherheit kommen, und diese gilt es abzuwenden.
Es kann doch nicht sein, dass die KfW dem bodenlosen Fass der Energiewende noch Abermillionen hinterherwirft, sich aber bei der Förderung von zukunftsfähiger Kernkrafttechnologie vollständig verweigert. Hier muss ein Umdenken erfolgen.
({3})
Wenn wir uns aus ideologischer Verblendung aus ganzen Forschungsbereichen zurückziehen, wenn Deutschlands angestammte Stärken wie der Maschinenbau weiter an die Wand gedrückt werden, wenn alles, wo „Chemie“ draufsteht, als Teufelswerk gebrandmarkt wird, dann werden Start-up-Szene und unser Mittelstand trotz ERP-Sondervermögen am Ende vor China, Indien und den Vereinigten Staaten die Segel streichen müssen.
Ich hoffe sehr, dass wir im Ausschuss die eine oder andere Justierung – vielleicht auch Entideologisierung – hinbekommen. Wir als AfD wollen das – für unseren Mittelstand.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Michael Theurer für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde diskutieren wir hier ein wichtiges Thema. Die Grundvoraussetzungen für Investitionen und für Wachstum von Unternehmen sind ja gerade in der Coronakrise Liquidität und Eigenkapital. Sowohl bei gesunden Unternehmen als auch bei insolvenzgefährdeten Unternehmen ist daher eine Rekapitalisierung ein zentrales Thema.
({0})
In einer aktuellen Unternehmensbefragung von mehr als 15 000 Unternehmen haben nur 7 Prozent der Unternehmen den Zugang zu Fremdkapital als problematisch thematisiert. Mehr als 30 Prozent der befragten Unternehmen berichten aber von einem Rückgang der Eigenkapitalquote.
Heute ist festzustellen: Für den Zeitraum von sechs Monaten – vom Beginn der Coronapandemie bis Ende September 2020 – ergibt sich bei mittelständischen Unternehmen eine zu füllende Eigenkapitallücke von circa 2,4 Milliarden Euro. Deshalb stellt sich heute Abend auch die Frage – die ERP-Kredite fließen ja nicht komplett ab –, ob wir die Thematik der Eigenkapitalausstattung von Unternehmen nicht in den Mittelpunkt unserer Überlegungen rücken müssten. Genau hier könnten nämlich die ERP-Förderprogramme, die nicht vollständig ausgeschöpft werden, eine Lücke füllen.
({1})
Wir sagen: Um gesamtwirtschaftlich wieder durchstarten zu können, müssen wir die bisherigen Liquiditätskreditbrücken in nachhaltige Solvenzkapitalbrücken für den Mittelstand ausbauen. Wir stimmen dem Wirtschaftsplan des ERP-Sondervermögens heute zu, aber wir sagen: Es ist notwendig, dass wir eine Eigenkapitalstärkung voranbringen.
Vom 1. Oktober 2020 an müssen die Unternehmen es den zuständigen Amtsgerichten melden, wenn sie Rechnungen nicht mehr pünktlich bezahlen können und damit zahlungsunfähig sind. Nur noch überschuldete Unternehmen bleiben bis Ende des Jahres von der Antragspflicht zur Insolvenz ausgenommen.
Zahlungsunfähigkeit ist bei weit über 90 Prozent aller Pleiten der Insolvenzgrund. Deshalb schlage ich heute hier für die FDP-Bundestagsfraktion vor, das ERP, also dieses Marshallplan-Programm, in ein neues Instrument umzuwandeln, das im Schutzschirmverfahren die Zugangsmöglichkeiten für insolvenzgefährdete Unternehmen zu einer Eigenkapitalfinanzierung ausbaut; denn wir brauchen dringend ein Instrument, mit dem wir in Not geratene mittelständische Unternehmen in Zukunft retten können,
({2})
sodass vor allen Dingen die Arbeitsplätze gesichert werden. Wenn an dieser Stelle darüber diskutiert wird, warum wir diese Unternehmen retten wollen, dann geht es nämlich nicht um Wirtschaftspolitik in dem Sinne, dass nur Unternehmen gerettet werden, sondern darum, dass auch Arbeitsplätze gerettet werden.
Wir sagen: Hier muss die Bundesregierung dringend handeln; denn wir haben hier eine Lücke bei der Finanzierung von Eigenkapital. Kredite allein reichen nicht aus. Wir brauchen also nicht nur Liquiditätsbrücken, sondern auch Solvenzbrücken.
Das ist unser Vorschlag, und wir bitten dringend, dass die Bundesregierung hier endlich handelt.
Vielen Dank.
({3})
Danke. – Die Reden von Frank Junge, SPD, Thomas Lutze, Linke, Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU, nehmen wir zu Protokoll.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren jetzt im Folgenden über die Kostenvorschriften im Bereich der Entsorgung radioaktiver Abfälle.
({0})
– Ja, gut. Soll ich jetzt weiterreden?
({1})
– Gut, genau. – Was steht da drin?
Wir haben bisher zwei Verfahren zur Ermittlung dieser Kosten, geregelt in zwei verschiedenen Gesetzen. Das ist nicht sinnvoll. Deswegen wird mit diesem vorliegenden Gesetzentwurf das Ganze vereinheitlicht und auf ein Verfahren reduziert. Das ist der eine Punkt; das ist vernünftig.
Das Zweite, was geregelt wird, ist das Verfahren zur Sicherung von Gebieten, die für die oberirdische Erkundung reserviert werden sollen, damit diese oberirdische Erkundung nicht gestört wird. Das wird vereinfacht. Auch das ist vernünftig.
Was nicht vernünftig ist, ist, dass die AfD für diese vernünftige, einfache Lösung eine eigene Debatte anzetteln möchte.
({2})
Da fragt man sich: Warum wohl?
({3})
Wir haben, glaube ich, alle gemeinsam die Vermutung, dass es der AfD mal wieder darum geht, eine solche Gelegenheit zu nutzen, um ihre Vorstellung von der Kernenergiepolitik in Deutschland vorzustellen und uns mal wieder zu erklären, warum es völlig sinnlos ist, dass wir aus der Atomenergie aussteigen.
({4})
Sie wissen natürlich, dass Sie so etwas durch eine Gesetzesänderung erreichen könnten. Das wollen Sie; das ist auch legitim. Es ist aber nicht mehrheitsfähig
({5})
und deswegen witzlos. Und weil es auch in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig ist,
({6})
versuchen Sie, uns diese ganze Geschichte durch einen Trick schmackhaft zu machen, sozusagen durch die Hintertür, indem Sie den Leuten weismachen, man könnte das mit einem Verzicht auf Endlager verbinden.
({7})
Dieses Thema hatten wir ja schon mehrfach. Das Dumme ist nur: Es funktioniert nicht. Auch wenn Sie uns das zehnmal erzählen, funktioniert es nicht. Sie wollen es über die Partitionierung und Transmutation erreichen, das heißt die Separierung von Teilen des radioaktiven Abfalls und die Umwandlung in weniger stark strahlendes Material, das schneller zerfällt und nicht 1 Million Jahre, sondern vielleicht nur ein paar Tausend Jahre aufbewahrt werden muss. Damit wollen Sie uns bzw. der Bevölkerung das schmackhaft machen. Es stimmt aber nicht.
Es funktioniert deswegen nicht, weil die technischen Verfahren dafür nach wie vor nicht existieren. Es gibt zwar Ansätze dafür, es wird auch geforscht – dagegen kann man nichts sagen –: Aber was wollen Sie damit erreichen?
Schauen wir mal auf das von Ihnen in vielen anderen Fällen hochverehrte Russland: Die Russen machen so etwas zum Teil aus dem Uran, das in den radioaktiven Abfällen nach der Verbrennung in den abgebrannten Brennelementen übrig bleibt. Sie ziehen es heraus und machen daraus neuen Brennstoff. Sie haben zwei Reaktoren, in denen sie das weiterverwenden.
Was machen die Russen aber noch? Sie suchen einen Endlagerstandort.
({8})
Sind sie blöd, oder haben sie vielleicht die Idee, dass das trotzdem notwendig ist? Warum sind denn die Finnen so weit, dass sie ein Endlager bauen? Warum sind die Franzosen und die Schweizer so weit, dass sie einen Endlagerstandort suchen? Und wir haben ein Suchverfahren entwickelt und suchen ebenfalls einen Standort. Sind die alle bekloppt, und nur Sie haben den Stein der Weisen?
({9})
Nein, natürlich nicht. In Wirklichkeit geht es gar nicht um diese Frage, sondern darum, mit der Kernenergie wieder loszulegen.
Dazu sage ich Ihnen eins: Selbst dann, wenn Sie recht hätten und Partitionierung und Transmutation die Lösung des Problems wären, würden wir doch nicht auf eine Endlagersuche verzichten. Wir wissen doch gar nicht, was dabei herauskommt. Sie lassen forschen – mit einem Ergebnis in vielleicht 20, 30, 40 oder 50 Jahren. Wenn Sie dann eine Lösung haben, dann müssen Sie das Material, das Sie über Transmutation in eigenen Reaktoren noch mal aufbereiten wollen, immer noch über mehrere Jahre lagern, und zwar dann in Zwischenlagern.
Wir haben aber schon Zwischenlager. Und die Leute, die an den Zwischenlagern wohnen, warten darauf, dass sie das Zeug vor der Haustür endlich loswerden. Wollen Sie denen allen erzählen: „Vielleicht haben wir eine bessere Lösung, und deswegen müsst ihr noch ein paar Jahrzehnte damit leben“? Das ist doch Quatsch,
({10})
vor allen Dingen deswegen, weil immer noch strahlendes Material übrig bleibt, das eingelagert werden muss, und weil es immer noch über Jahrhunderte oder auch Tausende von Jahren, wenn auch vielleicht nicht für 1 Million Jahre, sicher gelagert werden muss.
Deswegen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, können wir feststellen: Diese Debatte ist überflüssig.
({11})
Ich bedanke mich bei meinen Berichterstatterkollegen, die ihre Reden zu Protokoll geben.
Ich wünsche uns einen schönen Abend.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Werte Kollegen! Verehrte Gäste! Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung der Kostenvorschriften im Bereich der nuklearen Entsorgung vor. Viele Änderungen sind sinnvoll – ja, da haben Sie recht, Herr Möring –, aber eben nicht alle. Wir reden jetzt über die, die es nicht sind.
Die für die nun ausgewiesenen Gebiete nicht mehr zulässige Anwendung von § 21 Absatz 2 des Standortauswahlgesetzes greift in die unternehmerische Freiheit derjenigen ein, die dort bereits bergmännisch aktiv sind. Bislang durften diese in möglichen Auswahlgebieten bergmännisch ausbauen, wenn im Untergrund bereits ähnliche Vorhaben vorhanden waren. Dies ist ihnen nun untersagt. Wir haben es mit einer Enteignung unter Tage zu tun.
Womit wir auch schon beim Thema der untertägigen Erschließung wären. In manchen Bundesländern sind Vorhaben in Teufen unterhalb von 100 Metern eben nicht genehmigungspflichtig. Diese Vorhaben sollen nun ebenfalls den Sicherungsvorschriften des § 21 Standortauswahlgesetz unterworfen werden. Die zuständigen Landesbehörden werden somit verpflichtet, diese Vorhaben dem Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung anzuzeigen. Das ist nicht nur ein Eingriff in den Föderalismus, das ist auch ein offensichtlicher bürokratischer Mehraufwand.
Umso erstaunlicher ist es dann, wenn uns im Gesetzentwurf mitgeteilt wird, dass für die Länder und Kommunen eine finanzielle Entlastung erwartet wird. 175 000 Euro sollen durch die Änderung von § 21 Standortauswahlgesetz eingespart werden, obwohl damit ein zusätzlicher Verwaltungsakt geschaffen wird. – Liebe Regierung, das ist ja nicht mal ansatzweise plausibel.
({0})
Damit sind wir auch schon beim Zwischenbericht der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Fast halb Deutschland ist nun potenzielles Endlager, und sofort hat der Streit begonnen. Überhaupt zeigt sich in der Art und Weise des Umgangs mit den nuklearen Wertstoffen die falsche Herangehensweise an das Thema. De facto, Herr Möring, wird nämlich in § 1 des Standortauswahlgesetzes die Endgültigkeit erst in 500 Jahren eingefordert.
({1})
Bis dahin ist die Möglichkeit einer Bergung gesetzlich vorgeschrieben.
({2})
Die Thematik soll also für 500 Jahre am Kochen gehalten werden. Sie wollen die Kerntechnik mit der ewigen Suche nach dem perfekten Standort, der dann doch nie gefunden wird, künstlich verteuern. Sie erzeugen damit eine künstliche gesellschaftliche Stigmatisierung.
Was wir brauchen – da haben Sie recht –, ist ein sicheres Zwischenlager, bis die soliden nukleartechnischen Methoden praxiserprobt sind, um das Endlagerproblem ein für alle Mal zu lösen.
({3})
Und ja, diese Technologie gibt es derzeit in Deutschland nicht. Es ist unter anderem Ihre Schuld, dass in den vergangenen 35 Jahren sämtliche Forschungsvorhaben heruntergefahren wurden und Deutschland seine Technologieführerschaft eingebüßt hat.
({4})
Das Beispiel Russland, das Sie angesprochen haben: Ja, Russland nutzt diese Technologie bereits für abgerüstete Plutoniumsprengköpfe und erzeugt damit Strom. Auch in den abfällig als „Müll“ bezeichneten deutschen Reststoffen ist Plutonium vorhanden. Diesen könnte man verstromen, anstatt ihn zu verscharren. Statt Kosten und Streit zu verursachen, könnte man Wertschöpfung betreiben. Diese wäre dann – das sage ich, weil das einigen von Ihnen extrem wichtig ist – nahezu CO2-frei.
({5})
Auch wenn Ihnen die Vision eines geschlossenen Brennstoffkreislaufes abgeht, wird dieser unter Garantie in den kommenden 500 Jahren irgendwo in der Welt entwickelt. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen Sie sich die technologischen Entwicklungen und die technologischen Quantensprünge der vergangenen 500 Jahre an.
({6})
– Schauen Sie mal, Herr Lenkert: Der Plenarbereich hier im Bundestag ist circa 20, 25 Jahre alt, und wir haben überall Telefonzellen. Benutzt die nach 25 Jahren noch jemand? Nein.
({7})
Sie spalten die Gesellschaft mit dem sehr teuren Versuch, ein Loch zu finden, in das Sie die nuklearen Wertstoffe werfen wollen. Ihr kindischer grüner Trotz, diese Werte vor der sich weiterentwickelnden Technik zu verstecken, ist ein Irrweg.
Nutzen Sie den immensen Zeitraum von 500 Jahren, den Sie sich übrigens selbst gegeben haben, um die technologischen Möglichkeiten zu entwickeln, die eine Endlagerung in den räumlichen und zeitlichen Größenordnungen, die Sie dem Volk immer vermittelt haben, komplett überflüssig machen!
({8})
Nehmen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab, und stellen Sie sich der gesellschaftlichen Verantwortung, um dieses Land technologisch vorwärts und nicht rückwärts zu entwickeln!
({9})
Im Übrigen bin ich dafür, dass die esoterische Maskenpflicht in Deutschland wegen fehlender Wirksamkeit sofort beendet wird.
({10})
Die Reden der Abgeordneten Carsten Träger, SPD, Judith Skudelny, FDP, Ralph Lenkert, Die Linke, und Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.