Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle haben in den letzten Wochen die dramatischen Ereignisse um Alexej Nawalny verfolgt. Ich will zu Beginn etwas sagen, was in der ganzen Debatte vielleicht zu oft in den Hintergrund gerät.
Wir alle sind sehr froh und erleichtert, dass er das, was geschehen ist, überlebt hat. Das ist vor allen Dingen eine ganz großartige Leistung der Ärztinnen und Ärzte der Berliner Charité, aber auch der Ärzte, die ihn zunächst in Omsk behandelt haben. Deshalb verdienen diese Medizinerinnen und Mediziner vor allen Dingen unseren großen Dank.
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Meine Damen und Herren Abgeordnete, inzwischen wissen wir, was der Grund für den Todeskampf von Alexej Nawalny gewesen ist. Drei Speziallabore in Deutschland, Frankreich und Schweden haben unabhängig voneinander und ohne jeden Zweifel bestätigt, dass er mit einem chemischen Nervenkampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe vergiftet worden ist.
Als Mitgliedstaat des Chemiewaffenübereinkommens haben wir daraufhin unverzüglich die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW, über den Einsatz eines solchen international geächteten Nervenkampfstoffes unterrichtet. Wir haben die OVCW gebeten, in eigener Zuständigkeit entsprechende Untersuchungen durchzuführen. Ein Expertenteam der OVCW hat daraufhin vor Ort biomedizinische Proben von Herrn Nawalny entnommen und diese durch designierte OVCW-Referenzlabore analysieren lassen. Die OVCW bestätigt nun völlig unzweideutig, dass im Blut und Urin von Herrn Nawalny Substanzen gefunden wurden, die nach ihrer Struktur zur Nowitschok-Gruppe gehören. Eine Zusammenfassung des Berichtes hat die OVCW gestern auf ihrer Webseite veröffentlicht; dieser ist damit für alle einsehbar.
Im Übrigen konnten auch die Mitgliedstaaten der OVCW die Ergebnisse bereits auf dem aktuell tagenden OVCW-Exekutivrat in Den Haag diskutieren. Dabei sind viele Fragen gestellt worden, vor allen Dingen viele Fragen an Russland, ebenfalls ein Mitglied der OVCW, Fragen, die auch wir und unsere Partner in den letzten Wochen immer wieder gestellt haben und die nach unserer Einschätzung bis heute nicht beantwortet worden sind, zum Beispiel: Warum wurde ein hochgefährlicher und international geächteter chemischer Kampfstoff wie Nowitschok nicht längst deklariert und auch vernichtet? Warum hat Russland in seinem Speziallabor noch keine eigenen Untersuchungen eingeleitet, obwohl das Krankenhaus in Omsk über Blut- und Gewebeproben von Herrn Nawalny verfügt? Warum wurden bis heute auch keine strafrechtlichen Ermittlungen in Russland eingeleitet, um zu klären, durch wen, unter welchen Umständen und auch warum Alexej Nawalny vergiftet worden ist? Denn, meine Damen und Herren, schon allein die Entwicklung, die Herstellung und der Besitz chemischer Waffen stellen einen eklatanten Bruch des Völkerrechtes dar. Russland selbst müsste eigentlich nach unserer Auffassung – das habe ich auch dem russischen Außenminister in einem Telefonat noch einmal persönlich gesagt – ein großes Interesse an der vollständigen Aufklärung dieses Verbrechens haben. Schließlich reden wir über die Vergiftung eines namhaften russischen Oppositionellen auf russischem Territorium.
Bisher sind dazu allerdings nach unserer Auffassung keine erhellenden Sachverhalte in Russland ans Licht gekommen. Es werden eher absurde Vorwürfe gegen Deutschland und auch gegenüber der OVCW erhoben – bis hin zu dem Vorwurf an Herrn Nawalny, sich selbst mit Nowitschok vergiftet zu haben.
Wir sind der Auffassung, dass das alles nicht zur Aufklärung des Falles beitragen wird. Wir gehen davon aus, dass endlich Licht ins Dunkel dieses Falles gebracht werden muss und dabei insbesondere von den russischen Behörden Fragen, die auch im Exekutivrat der OVCW gestellt worden sind, entsprechend beantwortet werden müssen. Wenn das nicht der Fall ist, wird kein Weg an einer eindeutigen und klaren internationalen Reaktion vorbeiführen.
Diese Tat, verübt mit einem chemischen Nervenkampfstoff, ist ein schwerer Bruch des Völkerrechtes. So etwas kann nach unserer festen Überzeugung nicht ohne Konsequenzen bleiben. Deshalb werden wir in den nächsten Tagen mit unseren Partnern innerhalb der Europäischen Union, aber auch innerhalb der OVCW eine gemeinsame Reaktion abstimmen.
Klar ist, dass dann, wenn die Vorgänge nicht aufgeklärt und die dafür notwendigen Informationen nicht zur Verfügung gestellt werden, zielgerichtete und verhältnismäßige Sanktionen gegen Verantwortliche auf russischer Seite unvermeidlich sein werden. Russland täte gut daran, es nicht so weit kommen zu lassen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
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Jetzt beginnen wir mit der Regierungsbefragung. Die erste Frage stellt der Kollege Petr Bystron, AfD.
Herr Präsident! Herr Minister, vor wenigen Tagen wurden auf Lesbos in Griechenland 26 deutsche Staatsbürger, alle Mitarbeiter deutscher NGOs, von den griechischen Behörden verhaftet. Das ist eigentlich eine Blamage ohnegleichen für uns. Die Anklage lautet: Schlepperei und Bildung einer kriminellen Vereinigung – und das nur wenige Tage, nachdem in Griechenland wiederum Deutsche bzw. Mitarbeiter deutscher NGOs verdächtigt wurden, Feuer in dem Lager Moria gelegt zu haben.
Sie rühmen sich immer, dass Sie diese Migrationsfragen in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern international lösen wollen, und fordern, dass man die Griechen dabei unterstützen sollte. Also, wann fangen Sie als Bundesregierung endlich an, mit unseren europäischen Partnern tatsächlich zusammenzuarbeiten, also mit den griechischen Behörden, mit den Italienern, mit den Maltesen? Wann unterbinden Sie endlich diese Schlepperei, die dort von Deutschen bzw. von deutschen NGOs betrieben wird?
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Herr Minister.
Vielen Dank für die Frage. – Ich kann zu dem Sachverhalt, da mir dazu nicht ausreichend Informationen zur Verfügung stehen, aktuell nichts sagen. Ich kann Ihnen nur sagen: Licht ins Dunkel Ihrer Frage könnten bringen Griechenland, Italien oder die Malteser – auch die dortigen Behörden –, die Sie angesprochen haben. Diese würden Ihnen nämlich mitteilen – Sie können das dort auch gerne selber nachfragen –, dass wir uns in einem sehr intensiven Dialog befinden. Wir haben nach dem Brand in Moria auf unterschiedliche Art und Weise mit der griechischen Regierung zusammengearbeitet: im Rahmen von Sofortmaßnahmen, mit dem THW, mit dem Roten Kreuz. Das ist dort auf große Dankbarkeit gestoßen.
Wir haben innerhalb der Bundesregierung die Entscheidung getroffen, anders als andere europäische Mitgliedstaaten, Menschen, die in diesem Lager gewesen sind, in Deutschland aufzunehmen. Wir werden auch im Rahmen unserer Ratspräsidentschaft innerhalb der Europäischen Union nicht müde werden, darauf hinzuwirken, dass die Migrationsfragen und die grundsätzlichen Fragen auf der Basis dessen zu beantworten sind, was die Kommission vor wenigen Tagen vorgelegt hat, nämlich ein Papier mit Vorschlägen, wie das Gemeinsame Europäische Asylsystem verändert werden muss. Dies ist mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den kommenden Wochen und Tagen zu beraten.
Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege Bystron.
Wenn die Zusammenarbeit mit den ausländischen Kollegen so gut ist, warum fallen sie Ihnen dann in den Rücken? Schauen Sie: Niederlande und alle anderen Länder haben in den letzten drei, vier Jahren alle diese Schlepperboote entflaggt. Sie haben die Beflaggung verweigert, weil sie alle sehen, dass dort kriminell gearbeitet wird, dass hier Ausländer nach Europa eingeschleust werden.
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Wenn die deutsche Bundesregierung – das Ganze untersteht dem Verkehrsministerium – mit den anderen Ländern so gut zusammenarbeitet: Warum fahren dann diese Boote jetzt plötzlich unter deutscher Flagge? Wir sind der letzte Staat, der diese Schlepperei unterstützt.
Ich will mich gegen etwas verwahren, nämlich gegen den Eindruck, den Sie hier vermitteln, dass die private Seenotrettung aus einer Ansammlung von kriminellen Subjekten bestehen würde. Das ist ja letztlich das, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollen. Das weise ich in aller Deutlichkeit zurück.
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– Nein, wir sind mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Dialog, im Übrigen auch dann, wenn ein Schiff der privaten Seenotrettung einen Hafen anläuft.
Ich will ganz grundsätzlich sagen, dass ich diesen Vorgang nicht für zufriedenstellend halte, dass es aber in der Vergangenheit, auch in den letzten Tagen, immer wieder gelungen ist, mit anderen europäischen Staaten dann, wenn Schiffe mit Flüchtlingen vor der Küste Maltas oder Italiens liegen, eine Vereinbarung darüber zu erzielen, wer wie viele dieser Flüchtlinge aufnimmt.
Bedauerlicherweise werden wir, da es keinen Ad-hoc-Mechanismus gibt, wie in Europa Flüchtlinge, die etwa auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden, verteilt werden, darauf angewiesen sein, auch in Zukunft so zu agieren. Aber ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung wird zusammen mit anderen Mitgliedstaaten, die dazu bereit sind, immer daran festhalten, in solchen Fällen Menschen in Deutschland aufzunehmen.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Manfred Grund, CDU/CSU.
Vielen Dank. – Herr Minister, im Südkaukasus ist Krieg. Bergkarabach wird bombardiert aus Haubitzen, von Flugzeugen und von Drohnen. Wenn nicht auf die Hauptkonfliktpartei Aserbaidschan eingewirkt wird, werden zum Jahresende 140 000 Armenier aus Bergkarabach vertrieben oder getötet sein – wir können dazu vielleicht in 50 Jahren eine Gedenkstunde veranstalten –, wenn die Bundesrepublik nicht viel stärker als bisher auf die Konfliktparteien – hier im Wesentlichen auch auf Aserbaidschan und die Türkei – einwirkt.
Meine Frage: Sehen Sie außer Telefongesprächen, die schon geführt worden sind, andere Möglichkeiten, dass Dritte nicht zu Konfliktparteien werden, sondern sich aus diesem Konflikt heraushalten und wir zu einer baldigen Waffenruhe kommen?
Das ist ja nicht nur das Ziel der Bundesregierung, sondern das ist auch das Ziel der Europäischen Union, das ist das Ziel der Nachbarstaaten. Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass im Moment vor allen Dingen viel miteinander gesprochen wird. Ich werde heute Nachmittag um 17 Uhr mit dem aserbaidschanischen Kollegen auch noch einmal ein Gespräch haben.
Die Gespräche, die geführt worden sind, haben es zumindest möglich gemacht, dass man auf der armenischen Seite grundsätzlich Bereitschaft signalisiert hat, einer Waffenruhe beizutreten. Dass allerdings die Zusage für eine etwaige Waffenruhe von Aserbaidschan nicht zu bekommen ist, wird heute auch das Thema eines Gespräches mit dem Kollegen dort sein.
Sollten wir eine Situation haben, dass eine Seite sich zur Waffenruhe bereit erklärt, die andere sich aber nicht, dann wird man auch innerhalb der Europäischen Union sicherlich darüber reden müssen, wie sich das auswirkt, um den Druck insbesondere auf die aserbaidschanische Seite weiter zu erhöhen. Gleichzeitig sprechen wir aber auch mit den Ländern aus der Nachbarschaft oder mit denen, die an diesen Fragen beteiligt sind – von Russland bis hin zur Türkei – und die sicherlich noch größeren Einfluss auf die Konfliktparteien haben. Wir werden da auch nicht nachlassen.
Aber im Moment erwarten wir vor allen Dingen von der aserbaidschanischen Seite, dass sie sich genauso wie Armenien grundsätzlich bereit erklärt, einer Waffenruhe zuzustimmen. Wenn eine Seite dazu nicht bereit ist, bin ich der Auffassung, dass der Druck aus der Europäischen Union auf sie erhöht werden muss.
Nachfrage, Herr Kollege Grund?
Vielen Dank schon mal. – Waffenruhe ist noch nicht die Lösung des Problems, eines Problems, das seit 30 Jahren oder seit 100 Jahren nicht gelöst ist. Eine Lösung wäre, wenn überhaupt, Land gegen Frieden oder Land gegen Souveränität oder Selbstbestimmung.
Wenn es dazu kommen sollte oder könnte, würde das wahrscheinlich bedeuten, dass internationale Friedenstruppen in Bergkarabach diesen Prozess überwachen müssten. Ist für die Bundesregierung vorstellbar, dass so ein Prozess in Gang gesetzt werden könnte?
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Frau Kollegin Gminder, wir haben eine Maskenpflicht. Gegen die verstoßen Sie gerade. Wenn Sie so liebenswürdig sind, eine Maske aufzusetzen, bis Sie auf Ihrem Platz sitzen. Sonst muss ich Sie zur Ordnung rufen – was ich hiermit noch nicht getan habe; ich belasse es bei der Ermahnung. Aber ersparen Sie uns das.
Jetzt hat der Bundesminister des Auswärtigen das Wort.
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– Frau Kollegin von Storch, hiermit rufe ich Sie zur Ordnung, weil man bekanntermaßen den Präsidenten nicht kritisieren soll.
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Sie haben das Wort, Herr Bundesminister; ich bitte um Entschuldigung.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Normalerweise gehe ich auch davon aus, dass in der Befragung der Bundesregierung die Regierung in die Mangel genommen wird und nicht der Bundestagspräsident.
Zu der Frage von Herrn Grund. Ob internationale Schutztruppen – unter Mandat der Vereinten Nationen oder welchem Mandat auch immer – dort eine Rolle spielen können, das bedarf der Zustimmung beider Seiten. Das ist bisher nie möglich gewesen. Im Moment haben wir eine Situation, dass jeden Tag Menschen sterben. Deshalb ist unser erster Ansatz im Moment, dafür zu sorgen, dass eine Waffenruhe und natürlich daraus folgend auch ein Waffenstillstand geschlossen wird.
Vielleicht ist die Eskalation dieses Konfliktes auch geeignet, dafür zu sorgen, dass über neue Wege gesprochen wird, die bisher nicht möglich gewesen sind. Ich würde das grundsätzlich nicht ausschließen wollen. Ich halte es in der gegenwärtigen Situation aber auch nicht für wahrscheinlich, dass so etwas unmittelbar absehbar ist, weil es jetzt zunächst leider erst einmal darum geht, diesen Konflikt zu deeskalieren und das Töten vor Ort zu beenden.
Danke sehr. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich hat jetzt die nächste Frage Graf Lambsdorff, aber zu einem anderen Thema. Ich habe zu diesem Thema insgesamt vier Fragen und würde diese gerne – ich bitte Sie um Ihr Einvernehmen – der Reihe nach aufrufen.
Zunächst hat die Kollegin Sevim Dağdelen zu diesem Thema eine Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Maas, laut USA und Frankreich hat Aserbaidschan mit der Unterstützung der Türkei, aber auch mit Unterstützung islamistischer Söldner die Angriffe in Bergkarabach jetzt verstärkt.
Aserbaidschans Verteidigungsministerium berichtet heute von Gefechten entlang der gesamten Front und dem Beschuss von Dörfern und Städten. Behördenvertreter in Bergkarabach berichten, rund die Hälfte der Bevölkerung sei mittlerweile auf der Flucht vor den Kämpfen, darunter etwa 90 Prozent aller Frauen und Kinder. Insgesamt rund 70 000 bis 75 000 Menschen sind demnach betroffen. Amnesty International bestätigt jetzt Berichte, dass Aserbaidschan Streumunition gegen die Zivilbevölkerung in Bergkarabach eingesetzt hat.
Inwiefern teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass ein Land wie die Türkei, das sich für den Fortgang des Krieges in Bergkarabach einsetzt – der Präsident selbst ruft zum weiteren Krieg auf –, nicht gleichzeitig glaubwürdiger Vermittler in der Minsk-Gruppe zur Lösung dieses Konfliktes mehr sein kann?
Frau Dağdelen, die Türkei selbst empfindet die Minsk-Gruppe als kein geeignetes Format, um diesen Konflikt aufzulösen; das hat mir der Kollege in einem Telefonat gesagt. Deshalb wird möglicherweise auch unter dem Dach der OSZE, aber auch möglicherweise in anderen Formaten im Moment fieberhaft überlegt, mit welchen Parteien, die für die Auflösung dieses Konfliktes nötig wären, sich zusammenzusetzen sinnvoll wäre. Vor allen Dingen gilt es, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Insofern ist im Moment das Minsk-Format gar nicht das Format, über das ernsthaft gesprochen wird. Im Moment wird zunächst einmal auf die Länder eingeredet, die großen Einfluss in den beiden Ländern haben. Das ist ein Diskussionsprozess, der nicht abgeschlossen ist. Insofern erübrigt sich, glaube ich, Ihre Frage, weil die Türkei selber das Minsk-Format nicht als das geeignete Gremium empfindet, hier eine vermittelnde Rolle einzunehmen.
Nachfrage? Wobei ich bei der Fülle der Fragen bitte, die 30 Sekunden etwa einzuhalten. – Frau Dağdelen.
Danke sehr. – Herr Minister Maas, der Deutsche Bundestag hat im Juni 2016 in einem Antrag zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern beschlossen – ich zitiere –:
Eine Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien ist auch für die Stabilisierung der Region des Kaukasus wichtig.
Insofern würde ich schon gerne wissen: Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands, auch im Hinblick auf die historische Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern, angesichts dessen, dass jetzt Armenier, Kurden, Aleviten aus der Region vertrieben werden? Denken Sie, dass die von der Bundesregierung zugesagten Vergünstigungen bei der Erweiterung der Zollunion und Erleichterungen im Handel mit der Türkei tatsächlich zur Entspannung und zur Verbesserung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien beitragen könnten?
Also, grundsätzlich bin ich für alles, was zur Entspannung von Beziehungen beiträgt, auch zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Ob die Punkte, die Sie angesprochen haben, dazu geeignet sind, sei einmal dahingestellt.
Aber grundsätzlich hat auch die Europäische Union ein Interesse daran, dass es eine vernünftige Partnerschaft mit der Türkei gibt. Es ist Ihnen aber sicherlich nicht unverborgen geblieben – auch aufgrund des aktuell vorliegenden Berichts der Kommission ist sehr, sehr klar und öffentlich darauf hingewiesen worden –, dass die Entwicklungen in der Türkei etwa auch mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit keine sind, die auch nur im Ansatz dem entsprechen, was wir innerhalb der Europäischen Union unter Rechtsstaatlichkeit empfinden. Insofern werden wir uns weiterhin darum bemühen, vernünftige Beziehungen zur Türkei zu haben. Geografie lässt sich nicht ändern; die Türkei trennt die Europäische Union vom Iran, von Syrien, vom Irak. Insofern gibt es ein grundsätzliches Interesse.
Das ist aber kein Interesse, das darauf hinausläuft, dass man alles, was in der Türkei geschieht, billigt oder billigend in Kauf nimmt, nur um gute Beziehungen zu haben. Ich glaube, die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei so angespannt sind, hat auch etwas damit zu tun, dass das innerhalb der Europäischen Union sehr, sehr klar und deutlich angemahnt wurde.
Danke sehr. – Die nächste Frage zu diesem Thema stellt der Kollege Stefan Keuter. Ich lasse dann zu dem Thema noch die Fragen der Kollegin De Ridder und des Kollegen Gysi zu und komme dann zu den Fragen von Graf Lambsdorff und Manuel Sarrazin; nur, damit eine gewisse Ordnung vorhersehbar ist.
Aber jetzt: Kollege Keuter.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Herr Bundesminister, Bergkarabach war bereits im ersten und zweiten Jahrhundert Provinz des armenischen Reiches. Es wurde unter Stalin als autonomes Gebiet Aserbaidschan zugeschlagen. Nach Zerfall der Sowjetunion entstand das Problem, dass wir ein armenisches Volk, ein christliches armenisches Volk, auf aserbaidschanischem Boden hatten. Die Bevölkerung sieht sich als christlich und als Teil Armeniens.
Hinter diesem Vorgeschickten möchte ich Sie fragen: Wie sieht die Bundesrepublik die Situation mit Blick auf das Völkerrecht, aber insbesondere auch auf das Völkergewohnheitsrecht? Wie beurteilt die Bundesregierung die Einmischung der Türkei in diesen Konflikt? Sind der Bundesrepublik Sachverhalte bekannt, dass islamistische Kämpfer eingeschleust worden sind, die gegebenenfalls aus Syrien oder der Türkei stammen, um die christliche Bevölkerung in Bergkarabach zu bekämpfen? Und die letzte Frage: Ist Ihnen bekannt, dass deutsche Drohnen oder Drohnenbestandteile im Kampf gegen die Zivilbevölkerung in Bergkarabach bzw. der Republik Arzach eingesetzt werden?
Nein, das ist mir nicht bekannt. Ich kenne die Informationen, dass es dort auch Söldner gibt, die aus Syrien dorthin verbracht worden sind. Ich weiß, dass es dazu eine Diskussion gibt. Ich habe selber keine Informationen, die das belegen.
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– Ich habe nur gesagt: Ich habe keine eigenen Informationen, die das belegen.
Ganz grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass dieser Konflikt, den es schon über Jahrzehnte gibt, nur mit diplomatischen und politischen Mitteln in der Zukunft bearbeitet werden kann, damit ausgeschlossen wird, dass er zu dem führt, was wir gerade erleben, nämlich zu einem Militärkonflikt, der nicht nur Soldatinnen und Soldaten, sondern mittlerweile auch viele Zivilistinnen und Zivilisten das Leben gekostet hat. Deshalb bemühen wir uns zusammen mit anderen, in einer nicht ganz einfachen Situation einen Beitrag dazu zu leisten, dass wir Schritt für Schritt dieser politischen Lösung näher kommen.
Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Herr Bundesminister, auf meine Fragen zur Beurteilung der Einmischung der Türkei sind Sie nicht eingegangen, darum würde ich Sie noch bitten, und dann auch um die Bewertung der Situation der autonomen Republik Arzach, ehemals Bergkarabach, insbesondere im Hinblick auf das Völkerrecht bzw. das Völkergewohnheitsrecht. Das ist eine Zwickmühle, in der wir uns befinden. Die Bundesrepublik Deutschland hat Bergkarabach ja so auch nicht anerkannt.
Ich bleibe dabei, dass es, um diesen Konflikt zu lösen, eine politische Lösung gibt. Darum wird schon viele, viele Jahre gerungen, bedauerlicherweise ergebnislos. Im Moment konzentrieren wir uns darauf, die militärische Eskalation in diesem Konflikt zu beenden. Wie sich das auswirken wird, wird man sehen, und was das dann anschließend für politische und diplomatische Bemühungen nach sich zieht, eben auch.
Die Frage der türkischen Beeinflussung ist eine, die wir außerordentlich kritisch sehen; auch das haben wir bereits der türkischen Seite mitgeteilt. Und wir wollen darauf hinwirken, dass auch von der Türkei mit dem Einfluss, den sie in Aserbaidschan hat, ein Lösungsbeitrag geliefert wird, indem dort Einfluss genommen wird, dass dem Angebot, das es aus Armenien gibt, einer Waffenruhe zuzustimmen, auch von Aserbaidschan entsprochen wird.
Danke sehr. – Jetzt stellt die nächste Frage zu diesem Thema die Kollegin Daniela De Ridder, SPD.
Vielen Dank, Herr Minister. Ich freue mich vor allem, Sie wieder hier zu sehen, und offensichtlich haben Sie ja die Quarantäne gut hinter sich gebracht.
Wir haben heute im Auswärtigen Ausschuss über Bergkarabach gesprochen, und dort wurde die These aufgestellt – dazu möchte ich Sie fragen, ob Sie sie teilen –, dass das Bombardement, das zurzeit dort stattfindet, auch dazu dient, die Aufmerksamkeit auf diesen Konflikt zu lenken, und dass das ein Test für die Weltöffentlichkeit sein soll. Wie würden Sie diese These bewerten?
Na ja, bedauerlicherweise muss man fast befürchten, dass an dieser These etwas dran sein könnte. Wir haben insbesondere die Befürchtung, dass ein solcher Konflikt nicht nur ein Konflikt zwischen den beiden Konfliktparteien wird, sondern ein regionaler Konflikt in einer Region wird, in der es auch noch andere Unsicherheiten und Konfliktherde gibt. Deshalb muss alles dafür getan werden, dass die gegenwärtige Eskalation beendet wird. Das ist, glaube ich, etwas, was auf der internationalen Staatenebene von vielen so gesehen wird; denn eine Verstetigung des militärischen Konfliktes bzw. der militärischen Auseinandersetzung beinhaltet immer die Gefahr, dass dieser Konflikt eben auch über die beiden Länder hinaus übergreift.
Aber natürlich kann man nicht in irgendeiner Weise durch militärische Aktionen, durch die die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf einen Konflikt gerichtet werden soll, bewirken, dass anschließend die internationale Staatengemeinschaft dem in der Weise nachkommt, dass von ihr die Forderungen, die von einer Seite damit verbunden sind, auch übernommen werden.
Vielen Dank.
Also, wir betrachten das als außerordentlich schwierig und sicherlich kein geeignetes Mittel, die Staatengemeinschaft auf einen ungelösten Konflikt aufmerksam zu machen.
Nachfrage, Frau De Ridder?
Ja, sehr gerne, wenn ich darf.
Sie dürfen.
Werden heute Nachmittag in Ihren Gesprächen auch die Madrid-Prinzipien eine Rolle spielen, die ja ausgehandelt wurden, um diesen Konflikt zu lösen? Das ist natürlich bei einem eingefrorenen Konflikt sehr schwierig. Und: Welche Rolle mögen Sie dabei der OSZE oder anderen Allianzen, etwa dem Europarat, zuerkennen? Wird das auch in Ihren Gesprächen eine Rolle spielen?
Auch die Madrid-Prinzipien sind bisher schon mit beiden Seiten besprochen worden – bedauerlicherweise, ohne dass das besonders vertieft worden ist. Es geht, glaube ich, beiden Seiten im Moment auch vor allen Dingen um eine militärische Analyse der Situation. Im Moment sieht sich Aserbaidschan im Vorteil und ist deshalb eher weniger geneigt, einer Waffenruhe zuzustimmen, weil man einfach glaubt, militärisch bestimmte Fragen lösen zu können. Das dürfen wir, wie ich finde, nicht zulassen. Und deshalb, finde ich, müsste der Druck auf Aserbaidschan erhöht werden, wenn es dabei bleibt, dass man dort keiner Waffenruhe zustimmt.
Die Frage, welche Organisation, welches Format: Ich glaube, dass es bei der OSZE Möglichkeiten gäbe. Ich glaube, dass auch die Europäische Union Möglichkeiten hat wie auch die Vereinten Nationen, aber schließlich auch der Europarat eine nicht unwichtige Organisation wäre. Ich glaube, jede Organisation oder jedes Format, die oder das es gibt, worin unterschiedliche Akteure zusammenkommen, könnte einen Beitrag leisten, um die militärische Eskalation zu beenden. Nach all den Gesprächen, die wir mit diesen Organisationen geführt haben, würde ich sagen: Die stehen alle zur Verfügung. Nur müssen sich die beiden Konfliktparteien darauf verständigen, wo ein solcher Vermittlungsprozess stattfinden könnte.
Danke sehr. – Noch zu diesem Thema der Kollege Gregor Gysi, Die Linke.
Herr Bundesaußenminister, es ist ja schon darauf hingewiesen worden, dass Bergkarabach von Stalin als autonomes Gebiet Aserbaidschan zugeschanzt worden ist, um es mal so zu formulieren. Es ist auf den Beschluss des Bundestages hingewiesen worden, der den Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern durch die Türkei verurteilt hat. Jetzt meine Frage: Wollen Sie sich in dem Konflikt im Kern neutral verhalten, beide Seiten zur Waffenruhe und zu Gesprächen aufrufen, oder ist die Bundesregierung bereit, Solidarität mit Armenien zu zeigen und die Türkei für die militärische Einmischung auch einmal deutlich zu verurteilen?
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Herr Bundesminister.
Ich glaube, nicht nur wir, sondern auch viele andere Staaten, auch internationale Organisationen, die gerade erwähnt worden sind, sind bereit, eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Diese Vermittlerrolle setzt in der Regel voraus, dass man ein Mindestmaß an Neutralität wahrt; sonst wird man als Vermittler nicht anerkannt werden.
Im Moment – das habe ich jetzt mehrfach erwähnt – gibt es allerdings aus Armenien ein Angebot, eine Waffenruhe anzunehmen, aus Aserbaidschan nicht. Sollte es dabei bleiben, müsste man sich tatsächlich die Frage stellen, inwieweit man unter solchen Rahmenbedingungen noch in der Lage ist, sich komplett neutral gegenüber beiden Staaten zu verhalten.
Eine kurze Nachfrage.
Bitte.
Hat denn das NATO-Mitglied Türkei die anderen NATO-Partner vorher informiert und es abgestimmt, dass sie militärisch dort mit eingreifen, oder machen die das völlig von sich aus ohne jede Konsultation mit anderen NATO-Partnern?
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Es gibt in dieser Frage keinerlei Konsultationen der Türkei mit anderen NATO-Partnern.
Danke sehr. – Jetzt stellt die nächste Frage der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Auch namens meiner Fraktion: Wir sind froh, Sie hier gesund und munter zu sehen. Man muss sich ja da Sorgen machen.
Ich habe sehr gut zugehört bei dem, was Sie in Ihren einführenden Bemerkungen gesagt haben. Es geht um die Vergiftung von Alexej Nawalny, und da gibt es ja eine gewisse Zeitabfolge. Am 2. September hat das Labor der Bundeswehr sein Ergebnis bekannt gegeben. Franzosen, Schweden, die OVCW – Sie haben sie zitiert – haben das inzwischen bestätigt.
Es gibt einen unwidersprochenen Medienbericht vom 11. September, in dem ein hochrangiger Vertreter der Bundesregierung mit den Worten zitiert wird, die Bundesregierung gehe davon aus, dass russische staatliche Stellen an dem Anschlag beteiligt seien. Am 30. September wiederum hat sich dann allerdings der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder wie folgt geäußert – und ich zitiere das mal –:
Was gegenwärtig gemacht wird, sind ja … Spekulationen, weil … gesicherte Fakten gibt es ja nicht.
Darauf hat Herr Nawalny wirklich mit Bestürzung reagiert, kann man heute in einer großen deutschen Zeitung nachlesen.
Meine Fraktion geht davon aus, dass die Äußerungen der Bundesregierung und der Bundeswehr die Wahrheit abbilden. Und deswegen frage ich Sie: Trifft der Medienbericht zu, dass nach Auffassung der Bundesregierung staatliche russische Stellen an dem Anschlag beteiligt waren? Stimmen Sie mir zu, dass die Äußerungen von Gerhard Schröder bewusst darauf abzielen, die Wahrheit zu verschleiern, und stimmen Sie mir ebenfalls zu – –
Graf Lambsdorff, auch die Dauer, die Sie warten mussten, bis Sie aufgerufen wurden, rechtfertigt nicht, dass Sie die Redezeit völlig überschreiten.
Ich bitte um Entschuldigung. Ich schließe nur die letzte Frage noch ab. – Stimmen Sie mir ebenfalls zu, dass die Äußerungen von Gerhard Schröder dazu geeignet sind, bei allen demokratischen Kräften in Russland und darüber hinaus dem Ansehen Deutschlands Schaden zuzufügen?
Aussagen von Gerhard Schröder, glaube ich, muss ich hier nicht kommentieren, auch nicht im Namen der Bundesregierung.
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Für die Bundesregierung ist wichtig, dass aufgrund der Erkenntnisse, die wir haben, davon auszugehen ist, dass die Verwendung dieses Giftstoffes, der schon einmal verwandt worden ist, nämlich in Salisbury, auf russischem Territorium stattgefunden hat, und deshalb für uns keine andere Erklärung plausibel ist, dass das nicht in irgendeiner Weise auch in der Verantwortlichkeit von welchen Stellen auch immer in Russland geschehen ist.
Das ist kein Gerichtsprozess, es gibt keine Beweiserhebungsmöglichkeiten und schon gar keine Möglichkeiten, diese dann auch durchzusetzen. Deshalb haben wir die russische Seite sehr oft aufgefordert, ihre Beiträge vielleicht etwas mehr zu qualifizieren und auf den Tatbestand abzustimmen. Das kann nur in Russland selber aufgeklärt werden. Und wenn es, wie von der russischen Seite behauptet, keine Involvierung russischer Stellen gibt, dann wäre es auch sinnvoll, Informationen darüber zu bekommen, die das belegen oder die uns einen Hinweis geben könnten, welche Stellen auch immer daran beteiligt sind.
Alle Indizien, die wir haben, sprechen aber dafür, dass hier Russland Erklärungsbedarf hat, und solange dieser Erklärungsbedarf nicht erledigt wird, stellen wir uns auch die Fragen: Wieso? Weshalb? Warum? Und deshalb werden wir auch nach den Ergebnissen, die die OVCW vorgelegt hat, jetzt mit unseren europäischen Partnern darüber sprechen, wie die Reaktion der EU darauf aussehen kann.
Vielen Dank. – Nachfrage, Graf Lambsdorff?
Ja. – Es geht um das Rechtshilfeersuchen der Russischen Föderation an die Bundesrepublik Deutschland, das nach russischer Darstellung bisher von der Bundesregierung nicht bearbeitet wurde. Zwei Fragen dazu: Wie beurteilen Sie dieses Rechtshilfeersuchen? Und können Sie im Zuge der Durchführung des Rechtshilfeersuchens eine Gefährdung von Alexej Nawalny ausschließen, dass dadurch also keine Gefahr für Herrn Nawalny entsteht?
Es gibt mittlerweile vier Rechtshilfeersuchen, die von Russland gestellt worden sind. Bedauerlicherweise ist noch kein eigenes Strafverfahren in Russland auf den Weg gebracht worden. Bei diesen Rechtshilfeersuchen geht es um unterschiedliche Sachverhalte, zum Beispiel die Zurverfügungstellung von medizinischen Untersuchungsergebnissen. Das alles betrifft personenbezogene Daten, die ohnehin nur mit der Zustimmung des Betroffenen herausgegeben werden können.
Ansonsten würden wir uns wünschen, dass nicht ständig neue Rechtshilfeersuchen gestellt werden, für die es ohnehin der Zustimmung des Betroffenen bedarf, wenn wir sie genehmigen. Wir haben unsererseits – und das haben wir auch der russischen Seite mitgeteilt – erklärt, dass wir alle zur Genehmigung erforderlichen Schritte unternehmen werden. Aber im Ergebnis wird Herr Nawalny die Frage zu beantworten haben, wie er damit umgeht, also ob er zulässt, dass seine Daten herausgegeben werden, oder ob er befragt werden will. Und er ist anscheinend nicht der Auffassung, dass das seinen Sicherheitsinteressen entspricht.
Danke sehr. – Ich habe jetzt zu diesem Thema wieder sechs Fragen. Ich nenne mal alle Fragesteller, damit Sie Bescheid wissen. Weitere nehme ich zu dem Thema dann auch nicht an, sonst kommen wir überhaupt nicht mehr weiter. Die erste Frage stellt der Kollege Sarrazin, dann kommt der Kollege Kraft, dann kommt der Kollege Thomae, dann kommt der Kollege Droese, dann kommt der Kollege Neu, und dann kommt der Kollege Hampel. Damit hat es dann mit Nachfragen zu diesem Thema ein Ende.
Kollege Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, Anfang September sagten Sie mit Bezug auf den Fall Nawalny – Zitat –: „Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern.“ Gerade in Ihren einführenden Bemerkungen haben Sie nur von zielgerichteten und verhältnismäßigen Sanktionen gegen Verantwortliche mit Bezug auf diesen Fall gesprochen. Sie haben damit gerade in Reaktion auf die Meldung, dass das OPCW Nowitschok als Befund bestätigt hat, von sich selbst aus eine Sanktionierung im Zusammenhang mit Nord Stream 2 offensiv vom Tisch genommen.
Ich möchte Sie fragen: Was hat die russische Regierung seit Ihrer Aussage Anfang September unternommen, dass Sie nun diese mögliche Sanktionierung von Nord Stream 2 vom Tisch nehmen? Welchen Forderungen der Bundesregierung oder von Ihnen im Fall Nawalny ist die russische Seite seitdem nachgekommen?
Herr Minister.
Die russische Seite ist in keinem einzigen Fall – zumindest in dem Umfang, wie wir uns das erhofft haben – den Forderungen nachgekommen oder hat die Fragen, die wir haben, beantwortet. Wir haben in den vergangenen Wochen natürlich mit anderen europäischen Staaten darüber gesprochen: Wie kann eine geschlossene Reaktion der Europäischen Union aussehen? Das Ergebnis dieser Diskussion ist, dass es möglich sein würde, sehr, sehr schnell Individualpersonen, die etwa im Umfeld der Entwicklung von chemischen Kampfstoffen bekannt sind, zu sanktionieren. Das ist eine Diskussion, die wir jetzt in den kommenden Tagen innerhalb der Europäischen Union zu führen haben.
Danke sehr. – Nachfrage, Herr Sarrazin?
Haben denn Sie oder hat die Bundesregierung in diesen Diskussionen auf europäischer Ebene oder bilateral der Ankündigung, dass im Falle Nawalny gegebenenfalls auch eine Sanktionierung von Nord Stream 2 für die Bundesregierung oder für Sie persönlich sozusagen eine Maßnahme sein könnte, Nachdruck verliehen oder gegenüber den europäischen Partnern positiv angesprochen, dass man sich als Deutschland auch Nord Stream 2 in so einem Sanktionspaket vorstellen könnte? Oder gab es da eine enthaltende oder eine ablehnende Meinung?
Wir haben immer gesagt, dass wir alle Optionen auf dem Tisch lassen wollen, aber dass wir diese Reaktion in der Europäischen Union abstimmen wollen. Für uns ist nämlich eines ganz besonders wichtig: Es handelt sich bei diesem Fall um keinen deutsch-russischen bilateralen Konflikt. Wir sind nur der Überbringer der schlechten Nachricht gewesen, weil Herrn Nawalny in Berlin in der Charité das Leben gerettet wurde und wir alles unternommen haben, damit das auch gelingt. Dafür musste auch analysiert und festgestellt werden, um welches Gift es sich handelt. Dabei ist uns diese Information, dass es sich um ein Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe handelt, bekannt geworden, und wir haben das dann in die Hände der OVCW übergeben und haben das auch mit europäischen Partnern besprochen.
Die Diskussion um Nord Stream 2 hat ja auch etwas damit zu tun, dass ein sogenanntes deutsches Projekt davon betroffen wäre. Es gibt in der Europäischen Union auch andere Länder, etwa Österreich oder die Niederlande, die an diesem Projekt beteiligt sind; es gibt über 100 europäische Firmen, die an diesem Projekt beteiligt sind. Nach unserer Auffassung, nach den Diskussionen, die wir geführt haben, ist es am wahrscheinlichsten, die Geschlossenheit der Europäischen Union zu wahren, indem wir die Listung von Individualpersonen sehr schnell auf den Weg bringen.
Danke sehr. – Der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD, hat die nächste Nachfrage.
Vielen Dank. – Herr Außenminister, im Jahr 2012 war Alexej Nawalny zu Gast in einem Polittalk der Ukraine mit Jewgenij Kisseljow. Er hat dort folgende Aussage getroffen – ich zitiere –: Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Ukraine und Weißrussland die wichtigsten geopolitischen Alliierten Russlands sind. Unsere Außenpolitik soll maximal auf die Integration mit der Ukraine und Weißrussland ausgerichtet werden. Eigentlich sind wir eine Nation. Wir sollten die Integration vorantreiben. – Zitat Ende.
Der ehemalige Präsident der Ukraine Leonid Kutschma hat daraufhin gesagt, dass es mit dem Demokratieverständnis der vom Westen hofierten Demokraten in Russland immer dann vorbei ist, wenn es um die Souveränität der westlichen Nachbarstaaten, also der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums, geht. Ich frage Sie daher: Wie bewerten Sie diese Aussage von Alexej Nawalny?
Die zweite Frage wäre: Wie wollen Sie Ihr massives Eintreten für Ihren Champion der Demokratie in Russland, für Alexej Nawalny, eigentlich den Partnern in der Ukraine und der weißrussischen Oppositionsbewegung erklären? Wie wollen Sie erklären, dass Sie für diesen russischen Nationalisten Partei ergreifen?
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Herr Minister.
Ich will nur noch einmal an das erinnern, was wir gemacht haben. Wir haben uns nicht mit Herrn Nawalny in einem politischen Dialog befunden, sondern er ist nach Deutschland gebracht worden und ist ein Vergiftungsopfer. Wir haben uns bemüht, sein Leben zu retten – das ist Gott sei Dank gelungen –, und dabei festgestellt, dass er mit einer verbotenen Chemiewaffe vergiftet worden ist. Der ganze Prozess, der danach entstanden ist, hat diese Grundlage.
Wir wollen daraus keinen bilateralen Konflikt zwischen Deutschland und Russland machen. Deshalb haben wir es in die Hände einer internationalen Organisation gegeben, die dafür, nämlich für die Überwachung des Chemiewaffenübereinkommens, auch zuständig ist. Das hat nichts mit den politischen Ansichten von Herrn Nawalny zu tun. Es ist auch nicht meine Aufgabe, diese zu beurteilen.
Wir haben das Leben eines Menschen gerettet, und wir haben dabei Dinge erfahren, die ein Verstoß gegen internationales Recht sind, und diese Informationen haben wir dort, wo das dann auch zu ahnden ist, nämlich bei der OVCW, abgeliefert. Alles Weitere wird innerhalb der Europäischen Union zu besprechen sein, also die Frage, ob der Verstoß gegen dieses internationale Recht nicht auch Konsequenzen haben muss.
Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege?
Nein, danke.
Nein, danke. – Dann stellt die nächste Nachfrage der Kollege Siegbert Droese, AfD.
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Herr Präsident, vielen Dank. – Herr Außenminister, meine Frage zielt auf Folgendes ab: Ich werde oft im Wahlkreis gefragt, wer die enormen Kosten für Herrn Nawalny trägt und welchen Status er hier besitzt. Also, ist er Gast der Bundesregierung, Ihres Hauses, des Außenministeriums? Das würde mich zunächst mal interessieren.
Ja, er ist unser Gast. Wir sind für seine Sicherheit zuständig, und wir sind auch für seine medizinische Betreuung zuständig. Ich bin der Auffassung, dass das, was wir da gemacht haben, Deutschland auch gut zu Gesicht steht.
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Nachfrage?
Gerne eine Nachfrage, Herr Präsident. – Sie sagten ja, Nawalny ist auf dem Weg der Besserung. Ich glaube, wir freuen uns alle darüber. Aber er ist sogar in so guter Verfassung, dass er sich gestern sehr stark mit mehreren Interviews in die innerdeutschen Angelegenheiten eingemischt hat. Wann signalisieren Sie Herrn Nawalny gegenüber, dass er hier Gastrecht besitzt, aber sich bitte nicht in innerdeutsche Angelegenheiten einzumischen hat?
({0})
Und eine sehr wichtige Frage: Ab welchem Zeitpunkt werden Sie Herrn Nawalny empfehlen, sozusagen die Rückreise in seine russische Heimat anzutreten, um den deutschen Steuerzahler zu entlasten? – Danke.
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Herr Minister.
Also, ich glaube, es würde auch Deutschland gut zu Gesicht stehen, wenn wir Herrn Nawalny all diese Fragen, die Sie gestellt haben wollen, nie stellen. Herr Nawalny befindet sich in einer Rekonvaleszenzphase. Er ist auch dazu in Deutschland willkommen, und ich hoffe, dass er vollständig genesen wird.
Da Sie ja anscheinend die Interviews mit Herrn Nawalny sehr aufmerksam lesen, werden Sie wahrscheinlich auch gelesen haben, dass er von sich aus entschieden hat, wieder nach Russland zurückzukehren.
Und da er kein Vertreter einer Regierung eines anderen Staates ist, kann ich ihm auch nicht vorwerfen, dass er sich in innere Angelegenheiten einmischt. In Deutschland ist es so, dass auch die Gäste unseres Landes in den Genuss der Meinungsfreiheit kommen.
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Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Alexander Neu, Die Linke.
Vielen Dank. – Ich habe ein wenig mit Befremden zur Kenntnis genommen, dass Herr Nawalny nur begrenztes Aufklärungsinteresse signalisiert, dass er eben keine Kooperation demonstriert.
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Meine Frage ist aber: Es gab – so haben wir es ja gerade gehört – vier Rechtshilfeersuchen seitens der Russischen Föderation an die Bundesregierung. Könnten Sie kurz erläutern, um welche Gegenstände es sich da jeweils gehandelt hat? Also: Was waren die konkreten Anliegen der Russischen Föderation?
Es geht im Wesentlichen immer darum, dass die Untersuchungsergebnisse zur Verfügung gestellt werden, dass Blutproben genommen werden können, was natürlich auch nicht ganz einer gewissen Komik entbehrt; denn wenn man jetzt Blutproben von ihm nimmt, ist sicherlich nichts mehr im Blut nachzuweisen, weil auch Giftstoffe abgebaut werden. Es geht um die Befragung durch Vertreter russischer Behörden, die in Deutschland stattfinden soll. Insofern haben wir außenpolitisch dem ganz sicherlich nichts entgegenzusetzen und haben das auch immer signalisiert.
Aber Herr Nawalny ist kein Beschuldigter in irgendeinem Verfahren, der verhört werden muss, sodass wir die Aufgabe hätten, dafür zu sorgen, dass ein anderer Staat auch in den Genuss eines entsprechenden Verhörs kommt. Herr Nawalny ist das Opfer eines schweren Verbrechens
({0})
und ist als solcher auch nicht verpflichtet, sich Fragen von Behörden auszusetzen, insbesondere von Behörden, die seiner Auffassung nach für diese Tat verantwortlich sind.
Danke sehr.
Es gibt keine außenpolitischen Gründe, die dagegen sprechen. Aber das sind letztlich höchstpersönliche Daten und höchstpersönliche Güter, um die es geht, und wenn Herr Nawalny das ablehnt, ist es nicht unsere Aufgabe, ihn dazu zu animieren, es doch zu tun.
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Nachfrage?
Es verwundert mich insofern, als doch die Bundesregierung größtes Interesse an einer umfassenden Aufklärung haben müsste. Das heißt, es gibt keinerlei Bereitschaft der Bundesregierung, auf Herrn Nawalny einzuwirken, sich an einer Befragung zu beteiligen. Oder verstehe ich das falsch?
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Was erwarten Sie von uns? Dass wir jemanden, der in Russland vergiftet wurde, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen ist, auch noch davon überzeugen, dass er sich von denjenigen befragen lässt, die in Russland noch nicht mal ein Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt haben?
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Zumal die Personen, die beauftragt worden sind, Aufklärung in Russland herbeizuführen – so würde ich einmal zurückhaltend sagen –, nicht unbedingt Experten dieses Faches sind. Und auch er selber sieht sicherlich die ganze Zeit – da müssen wir seine Einschätzung teilen –, dass es überhaupt keine Beiträge von der russischen Seite gegeben hat. Wenn einem Opfer gesagt wird: „Na ja, der hat sich wahrscheinlich selber vergiftet“, ist es, glaube ich, auch nicht zu erwarten, dass es das Mindestmaß an Vertrauen auf der Seite des Opfers gibt, sich von denjenigen verhören oder befragen zu lassen, die solche Absurditäten in die Welt setzen.
Danke sehr. – Die letzte Frage zu diesem Thema stellt der Kollege Hampel, AfD.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, Sie müssen sich jetzt schon entscheiden, bei welcher Version Sie bleiben wollen. Einmal sagen Sie: Es gibt kein Ermittlungsverfahren. – Wenn Sie Anfragen der russischen Staatsanwaltschaft haben, dann interpretiere ich als Nichtjurist das so: Die wollen ermitteln, sonst würden sie ja nicht fragen. Das ist das Erste.
Das Zweite. Sie hatten im Ausschuss unlängst uns gesagt, dass Sie diese Anfragen aus Russland bekommen haben, das werde jetzt den rechtlichen Gang gehen, werde bearbeitet werden. Aber Sie haben nicht gesagt, dass Sie sie nicht beantworten wollen.
Last, not least: Sie haben dann darauf hingewiesen, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen ja zuständig sei, eine internationale Organisation, und denen würden wir alle Informationen zuspielen. Nun hat die Ständige Vertretung Russlands genau bei dieser Organisation genau diese Informationen abgefragt. Warum liefern Sie über diesen Weg, den Sie ja selber als den richtigen beschrieben haben, nicht das notwendige Informationsmaterial?
Allgemein gefragt: In jedem Ermittlungsverfahren, Herr Bundesminister, werden Daten ausgetauscht, die zur Aufklärung eines Falles führen. Ich habe noch nie gehört, dass in einem Mordfall irgendjemand Einspruch erheben und sagen konnte: Nein, das sind persönliche Angelegenheiten, da wollen wir nicht ermitteln.
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Herr Minister.
Die Regeln, die angewandt werden, sind die Regeln der OVCW. Wir haben alles der OVCW zur Verfügung gestellt, was die OVCW braucht, um diese Analyse durchzuführen. Das ist in einem Abkommen geregelt, dem sich alle Mitgliedstaaten der OVCW unterworfen haben. Diese Regeln haben wir angewandt. Alle Mitglieder der OVCW haben sich verpflichtet, das Prozedere innerhalb der OVCW auch anzuerkennen. Insofern ist uns dieser Bericht zugeleitet worden. Die OVCW hat ihre Ergebnisse auf ihrer Website im Internet veröffentlicht. Insofern weiß ich nicht, was es da jetzt an Mangel an Transparenz geben soll. Das ist alles in den Regularien der OVCW festgelegt.
Danke sehr. – Nachfrage?
Ja, Nachfrage. Danke, Herr Präsident. – Ich gehe davon aus: Wenn ich Sie richtig verstehe, heißt das, diese Anfrage der Ständigen Vertretung Russlands ist von Ihnen in direkter Form über die Organisation erteilt worden, oder haben da andere –
Ich weiß nicht, welche Anfrage Sie meinen, Herr Hampel.
– was gefunden und Sie haben die deutschen Informationen nicht an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen weitergeleitet?
Herr Hampel, wenn Sie das vielleicht etwas spezifizieren könnten. Ich weiß nicht, von welcher Anfrage Sie gerade sprechen. Es gab viele.
Die Ständige Vertretung Russlands bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen hat Deutschland, ebenfalls ein Mitglied, um Informationen gebeten. Haben Sie diese Informationen der Organisation geliefert, ja oder nein, oder hat die eigene Ermittlungen angestellt?
Die OVCW – das ist ein Prinzip der OVCW – verlässt sich aus Gründen der Beweiskette nicht auf Informationen, die ihr von Dritten geliefert werden, –
Von Mitgliedern.
– sondern die OVCW hat zertifizierte Labore auf der ganzen Welt. Der OVCW werden keine Laborergebnisse von uns zur Verfügung gestellt, sondern wir lassen die OVCW selber Proben nehmen – Sie haben Blut von Herrn Nawalny, als er in der Charité im Krankenhaus gewesen ist, genommen –, und dann geht ein Prozess innerhalb der OVCW los. Es werden von den zertifizierten Laboren, die es gibt, zwei Labore ausgesucht. Denen werden diese Proben anonymisiert zur Verfügung gestellt. Das Ergebnis wird der OVCW mitgeteilt. Das haben alle Mitgliedstaaten der OVCW anerkannt, dass dies dann auch für laufende Verfahren als ein unabhängiges Ergebnis anerkannt wird.
Insofern: Wir stellen der OVCW Dinge zur Verfügung; die macht diese Untersuchungen selber. Wir haben zur Sicherheit in einem schwedischen und einem französischen Labor unsere Ergebnisse bestätigen lassen. Aber wir haben uns damit einverstanden erklärt, dass wir natürlich die offiziellen Ergebnisse der OVCW abwarten, bevor wir über weitere Konsequenzen sprechen.
Danke sehr.
Das ist aber das Prozedere, das so in der OVCW festgelegt ist.
Vielen Dank. – Die nächste Frage kommt jetzt von dem Kollegen Timon Gremmels, SPD.
Herr Minister, ich habe mich zu Wort gemeldet bezüglich Nord Stream, und zwar im Hinblick darauf, was Ted Cruz und weitere amerikanische Senatoren Anfang letzten Monats Richtung Sassnitz auf Rügen an Sanktionsdrohungen auf den Weg gebracht haben. Wie schätzen Sie als Bundesaußenminister das ein? Und welche Entgegnungen haben Sie und die Bundesregierung sozusagen zur amerikanischen Einmischung in die europäische und deutsche Energiesouveränität?
Wir halten diese sogenannten extraterritorialen Sanktionen für einen Bruch internationalen Rechtes – das vorneweg.
Die Aktionen, die es dann aber noch begleitend gegeben hat – drei amerikanische Senatoren haben Briefe nach Sassnitz geschrieben, in denen nicht nur Rechtsauffassungen wiedergegeben wurden, sondern in denen man sich auch, wenn man sie gelesen hat, unverhohlenen Drohungen ausgesetzt sah –, sind auch politisch nicht akzeptabel. Nachdem das öffentlich geworden ist, habe ich meinen amerikanischen Amtskollegen Mike Pompeo angerufen und habe ihm noch einmal gesagt, wie wir rechtlich diese Sanktionen einschätzen, allerdings auch, wie wir es politisch einschätzen, dass vor Ort entsprechende Drohungen ausgesprochen werden. Mike Pompeo hat dann noch einmal darauf hingewiesen, dass das keine Initiative der amerikanischen Regierung ist, sondern im Senat einige Senatoren das aus eigenem Antrieb gemacht haben.
Grundsätzlich lehnen wir diese Form von Sanktionierungen ab, mit Blick auf dieses Projekt, aber vor allen Dingen auch ganz generell. Deshalb haben innerhalb der Europäischen Union sich die EU-Botschafter in Washington da ganz mehrheitlich zusammengetan und das auch gegenüber der amerikanischen Seite noch einmal deutlich gemacht. Das war nicht auf das Beispiel Nord Stream bezogen. Aber sie haben insgesamt die rechtliche Qualität bewertet und extraterritoriale Sanktionen als nicht konform mit internationalem Recht bezeichnet.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Heike Hänsel, Die Linke.
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Danke schön, Herr Präsident. – Herr Außenminister, Sie haben den Fall Nawalny heute als eigentlich einziges Thema prominent im außenpolitischen Bericht genannt. Gesundheitlich gesehen gibt es einen anderen sehr prekären Fall. Es geht um den international bekannten Journalisten Julian Assange, der sich unter ganz schwierigen gesundheitlichen Bedingungen in Auslieferungshaft, die ja eigentlich zum Großteil nicht im Gefängnis verbracht werden muss, im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh befindet, in dem Schwerverbrecher und Terroristen einsitzen. Der UN-Berichterstatter für Folter, Nils Melzer, dessen Berichte dem Auswärtigen Amt ja vorliegen, spricht davon, dass er ganz typische Anzeichen von psychischer Folter aufweist. Sind Sie und die Bundesregierung der Meinung, dass diese Behandlung von Julian Assange gegen die UN-Antifolterkonvention verstößt?
Wir verfolgen diesen Fall natürlich schon seit Langem. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, dass uns Informationen vorliegen, aus denen hervorgeht, dass es sich um Verstöße gegen internationales Recht sowohl bei der Unterbringung als auch bei der Behandlung von Julian Assange handelt.
Nachfrage?
Ja, gerne. – Ich möchte Sie aber noch mal daran erinnern, Herr Außenminister, dass das Auswärtige Amt selber bestätigt hat, dass Ihnen die Berichte des UN-Sonderbeauftragten zum Thema Folter, Nils Melzer, vorliegen. Genau in diesen Berichten wird beklagt, dass die Behandlung von Julian Assange gegen die Antifolterkonvention verstößt. Meine Frage: Teilen Sie die Einschätzung, dass Julian Assange auch aus humanitären Gründen endlich aus der Haft entlassen werden muss, und würden Sie sich so einer Forderung anschließen und vielleicht auch ein Angebot machen, dass er hier in der Charité behandelt wird?
Nein, weder das eine noch das andere. Ich bin der Auffassung, dass Herr Assange ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren verdient hat, und das ist auch die Haltung der Bundesregierung. Auch an der wird sich nichts ändern.
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Danke sehr. – Jetzt gibt es dazu eine Nachfrage des Kollegen Bystron, AfD.
Dass Herr Assange ein – ich zitiere Sie – „rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren verdient“, darin sind wir uns, glaube ich, alle einig.
Das ist doch schön.
Aber die Nachfragen der Kollegin zielten darauf, ob er so eines auch bekommt. Vor allem: Er wird in Belmarsh in einem Hochsicherheitsgefängnis in Einzelhaft gehalten. Er hat gegen kein geltendes Recht in England verstoßen. Es gibt keinen Grund, um ihn in Einzelhaft in einem Hochsicherheitsgefängnis gefangen zu halten. Wie können Sie dann noch davon ausgehen, dass es da ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren geben wird?
Die Frage, ob er gegen Recht verstoßen hat – wo auch immer –, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann und auch nicht beantworten will. Das müssen diejenigen tun, die dafür zuständig sind, insbesondere die Justizbehörden. Darüber hinaus gehen wir natürlich davon aus, dass für die Zeit, die diese Verfahren dauern, Herr Assange Anspruch hat auf eine Behandlung und eine Unterbringung, die nationalem wie internationalem Recht genügen.
Danke sehr. – Die Kollegin Dağdelen hat noch eine Nachfrage dazu.
Herr Minister, das teilen wir alles. Meine Frage ist erstens, inwieweit Sie als Bundesregierung hier auf Großbritannien einwirken, um dieses rechtsstaatliche Verfahren tatsächlich sicherzustellen. Und zweitens: Inwiefern sieht die Bundesregierung in diesem Auslieferungsverfahren gegen einen Journalisten, dem vorgeworfen wird, Kriegsverbrechen der US-Amerikaner in Afghanistan und im Irak veröffentlicht zu haben – so wie die „Times“, „Guardian“, „Le Monde“ und der „Spiegel“ das getan haben –, letztendlich einen Angriff auf den investigativen Journalismus?
Und inwieweit sehen Sie in diesem Angriff auf den Journalismus auch eine Bedrohung für alle Menschen? Denn wenn es eine Auslieferung gemäß dem Espionage Act von 1917 gibt, auf dessen Grundlage dieses Verfahren stattfindet, kann es jeden weltweit treffen, ausgeliefert zu werden, ohne dass man jemals in den USA war. Sieht die Bundesregierung eine Gefahr, dass mit dieser Auslieferung ein Präzedenzfall geschaffen wird?
Das sehen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass das nationale Recht, das es in unseren Partnerländern gibt, ein Recht ist, das auf demokratische Weise in den dortigen Parlamenten zustande gekommen ist. Grundsätzlich gehen wir davon aus – das ist auch der Gegenstand von Gesprächen, die wir mit unseren britischen Partnern führen –, dass das Verfahren natürlich auch mit Blick auf internationale Verpflichtungen abläuft. Ich kann Ihnen nicht bestätigen – zumindest nicht in der Dramatik, wie Sie das geschildert haben –, dass dieser Fall derartige Auswirkungen hat.
Natürlich spielen die Themen „Pressefreiheit“ und „Meinungsfreiheit“ eine ganz besondere Rolle. Es ist auch wichtig, dass die Länder, in denen einerseits entsprechende Verfahren gegen Einzelne geführt werden und die sich andererseits bei anderen Ländern für die Einhaltung der Pressefreiheit aussprechen, diese Punkte immer berücksichtigen. Aber ich habe keinen Grund, insbesondere unseren britischen Partnern in diesem Fall Versagen oder was auch immer vorzuwerfen.
Danke sehr. – Eine ganz kurze Nachfrage der Kollegin Dağdelen.
Ich finde es bedauerlich, dass Sie diese Dramatik nicht sehen.
Das ist ja meistens so.
Vielleicht könnte die Bundesregierung sich dann intensiver damit befassen, so wie es über 150 Prominente gemacht haben. Diese Prominenten aus Politik, Kunst, Literatur sowie viele ehemalige Bundesminister – beispielsweise der Justiz, des Auswärtigen oder des Innern – sagen: Diese Auslieferung muss verhindert werden!
Vielleicht könnten Sie uns zumindest die Zusage geben, dass man sich mit diesem Fall etwas intensiver im Auswärtigen Amt beschäftigt, so wie es viele in den Medien, aber auch in der Literatur tun, damit es nicht noch andere Fälle nach sich zieht.
Wir können uns gerne weiterhin damit beschäftigen. Ich kann Ihnen aber sagen: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich öffentlich entsprechend zu Wort gemeldet haben, und ich werde auch in Zukunft nicht zu denjenigen gehören.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Minister, in Thailand demonstrieren momentan Zehntausende von Menschen für mehr Demokratie und gegen die Militärjunta. Die Militärjunta hatte nach den Wahlen die größte Oppositionspartei einfach verboten. Die Europäische Union hat vor einiger Zeit die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Thailand eingefroren wegen des Verhaltens der Junta. Nach der Ankündigung von Wahlen wurden, um auch diesen Prozess der Rückkehr zur Demokratie zu fördern, die Verhandlungen wieder aufgenommen. Sind Sie bereit, sich jetzt in dieser Situation im Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass diese Verhandlungen wieder eingefroren werden, solange die Junta den Weg zur Demokratie in Thailand weiter blockiert?
Ich halte das tatsächlich für eine Option, die wir uns innerhalb der Europäischen Union offenhalten. Ich halte es aber für richtig, darüber auch noch einmal einen Dialog mit der thailändischen Seite zu führen. Wir haben auch die Möglichkeit, weil es, wie ich finde, ein großes thailändisches Interesse an einem entsprechenden Abkommen gibt, das als Druckmittel einzusetzen. Aber ich würde nicht ausschließen wollen, dass wir, wenn es bei dem Verhalten bleibt, das wir dort zurzeit zur Kenntnis nehmen müssen, einen solchen Schritt gehen können.
Ich hätte noch eine Nachfrage. Der thailändische König hält sich ja oft und lange in Deutschland auf; er besitzt hier eine Villa. Das ist auch in Ordnung so. Aber er macht auch von Deutschland aus direkt Politik. Unter anderem hat er öffentlich seiner Schwester verboten, als Spitzenkandidatin für die größte Oppositionspartei anzutreten. Warum toleriert die Bundesregierung seit Monaten dieses äußerst ungewöhnliche und meines Erachtens auch rechtswidrige Verhalten eines ausländischen Staatsoberhauptes, von deutschem Boden aus Politik zu machen?
Wir haben deutlich gemacht, dass Politik, die das Land Thailand betrifft, nicht von deutschem Boden aus zu erfolgen hat. Ansonsten gibt es, glaube ich, viele skurrile Berichte über das, was da stattfindet. Aber es entspricht nicht der Auffassung der deutschen Bundesregierung, dass – und das ist anders als das, was wir eben bei Herrn Nawalny hatten – Gäste in unserem Land ihre Staatsgeschäfte von hier aus betreiben; dem würden wir immer deutlich entgegenwirken wollen.
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Vielen Dank. – Noch eine Zusatzfrage vom Kollegen der FDP.
Herr Präsident! Herr Minister, „Militärputsch“ oder „Militärregierung“ war gerade das Thema. Wir haben einen Militärputsch auch in Mali gesehen; den haben Sie gleich verurteilt. Aber das war natürlich das absehbare Ende des Niedergangs eines Regimes, begleitet von Protesten und von Verfassungsbruch. Die Korruption hat den Staat Mali mehr oder weniger erwürgt. Und Sie als Bundesregierung haben noch sehr lange an dem alten Regime Keïta festgehalten.
Meine Frage an Sie wäre: Nutzen Sie jetzt das Zeitfenster einer Übergangsregierung, um die neue, halb zivile, militärische Regierung zu unterstützen, um die Gelegenheit zu nutzen, dort vielleicht mehr Transparenz zu schaffen, Korruptionsbekämpfung zu stärken etc., oder bleiben Sie inaktiv wie bisher? Die Anschlussfrage wäre: Wann reisen Sie nach Westafrika? Denn da gibt es noch mehr Probleme.
Zunächst einmal würde ich das zurückweisen. Wenn hier jemand behauptet, dass wir in Mali inaktiv gewesen sind, dann sage ich: Erzählen Sie das mal den Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr und deren Angehörigen.
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Sie können mir alles Mögliche vorwerfen, Inaktivität hier oder da, aber ganz sicher nicht in Mali und auch nicht im Sahel.
Wir sind in einer sehr engen Abstimmung mit Frankreich, auch mit den Regionalorganisationen vor Ort, beispielsweise ECOWAS, um genau das zu bewirken, das Sie fordern: dieses Fenster, das sich bietet, zu nutzen. Die Europäische Union hat EUTM Mali suspendiert und damit eine klare Ansage gemacht, dass auch unser sicherheitspolitisches Engagement – und dem folgt ja im Rahmen des vernetzten Ansatzes auch unser ziviles Engagement – auf der Kippe stehen könnte, wenn wir nicht mehr der Auffassung sind, dass es eine malische Regierung oder Verantwortliche gibt, mit denen vertrauensvoll zusammenzuarbeiten ist.
Deshalb verfolgen wir das mit Druck. Die Europäische Union hat nicht nur mit Worten, sondern auch mit Entscheidungen ihre Position sehr, sehr deutlich gemacht. Wir versuchen mit Frankreich, das auch dort über erheblichen Einfluss verfügt, dafür zu sorgen, dass diese Übergangsregierung wirklich nur eine Übergangsregierung ist und es am Schluss wieder eine zivile Regierung in diesem Land gibt.
Vielen Dank. – Damit beende ich die Regierungsbefragung. Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie zur Verfügung gestanden haben.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was können wir tun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken? Was können wir tun, um Arbeitsplätze in unserem Land zu sichern? Was können wir tun, damit wir die Klimaschutzziele erreichen? Und was können wir tun, damit die Mobilität in unserem Land verbessert wird und wir noch effizienter, noch umweltschonender und noch schneller zu unserem Zielpunkt kommen? Das sind viele Fragen, die sich die Menschen in Deutschland im Moment stellen. In Bayern, in Norddeutschland, in Rheinland-Pfalz, in Sachsen: Überall werden diese Fragen gestellt.
In den vergangenen Tagen mussten wir eine vielleicht etwas erstaunliche Entwicklung feststellen. Es gibt einige Gruppierungen im Land, die sagen: Hört auf, Autobahnen zu bauen, hört auf, in die Infrastruktur in Deutschland zu investieren!
({0})
Es gibt sogar Politiker von den Grünen, die sagen: „Hört auf, Autobahnprojekte weiterzubauen“, obwohl sie sie selber noch vor einigen Monaten oder einigen Jahren unterstützt haben.
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Das ist die Realität im Land.
Ich kann nur sagen: Ein solcher Ansatz wird dazu führen, dass sich Investoren fragen: Leben wir eigentlich in einer Bananenrepublik? Was ist hier in Deutschland eigentlich los?
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Die Grünen haben vor einiger Zeit in der Regierung noch beschlossen: „Baut dieses Autobahnprojekt; wir investieren“, und dann stoppen dieselben Politiker dieses. So kann man doch nicht mit den Menschen umgehen, die hier im Land investieren wollen.
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Auf der anderen Seite wird ein solcher Ansatz auch dazu führen, dass das Land irgendwann deindustrialisiert wird, dass Tausende Arbeitsplätze gefährdet werden und dass der Wirtschaftsstandort Deutschland geschwächt wird. Er wird aber auch dazu führen, dass wir unsere Klimaschutzziele verfehlen.
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Deswegen sagen wir als CDU/CSU ganz klar: Wir brauchen Investitionen in die Infrastruktur. Wir werden den Klimaschutz in Deutschland nur erfolgreich angehen, wenn wir in neue Technologien wie Wasserstoff investieren und wenn wir den Mut haben, in eine klimafreundliche Infrastruktur zu investieren.
({5})
Das ist das Gegenmodell, das wir Ihnen entgegenhalten.
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Deshalb ist es auch richtig, dass das Bundesverkehrsministerium und die CDU/CSU-Fraktion den Weg dafür frei gemacht haben, Rekordinvestitionen für die Schiene – 86 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030 – vorzunehmen. Es ist aber auch richtig, dass wir weiter ins Autobahnnetz Deutschlands investieren. Das ist nicht nur wichtig, weil die ganzen Logistiker und ganz viele Unternehmen in Deutschland sagen: „Wir brauchen natürlich ein funktionierendes Autobahnnetz, sonst können wir nicht Güter von A nach B bringen“, sondern das ist auch wichtig für die Mobilität von ganz vielen im Land, die morgens auf den Wecker kloppen und acht, neun oder zehn Stunden arbeiten und sich danach noch um Familie und Ehrenamt kümmern. Auch die sollten wir hier stärker in den Fokus der Debatte rücken.
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Jetzt gibt es, liebe Kolleginnen und Kollegen, einige von den Grünen, die sagen: Wenn wir jetzt weiter in Autobahnen investieren, dann ist das ja schlecht fürs Klima.
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Das Gegenteil ist der Fall.
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Schauen Sie sich doch mal die ganzen Autobahnprojekte im Bundesverkehrswegeplan an. Schauen Sie sich an, wie wir zum Beispiel mit der Hafenpassage im norddeutschen Raum Schadstoffemissionen reduzieren,
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wie wir Lärm in Wohngebieten reduzieren und wie wir den Verkehr in Deutschland bündeln.
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Deswegen sind Investitionen ins Autobahnnetz genau das, was wir mit Blick auf Klimaschutz, Wirtschaft und Mobilität brauchen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin – das will ich auch sagen – sehr erstaunt und teilweise auch entsetzt, dass Sie von der Linkspartei und von den Grünen sich gerade während der Coronakrise von einem Konsens entfernt haben,
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nämlich dem Konsens darüber, dass wir jetzt Investitionen in die Infrastruktur benötigen.
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Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute vielleicht darüber reden, wie wir Infrastrukturprojekte in Deutschland beschleunigen, wie wir sie schneller planen und bauen können.
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Denn wenn wir im Durchschnitt 20 Jahre für ein Schienenprojekt benötigen, dann müssen wir doch handeln. Deswegen müssen wir genau diese Debatten führen und werden den Weg fortsetzen, den Andreas Scheuer, den wir als CDU/CSU-Fraktion in dieser Legislaturperiode eingeschlagen haben, nämlich mit Planungsbeschleunigung mehr für die Schiene zu tun, mehr für die Autobahn zu tun, mehr für die Wasserstraßen zu tun.
In diesem Sinne: Klimaschutz schaffen wir nur durch Infrastruktur, neue Technologien und indem wir hier Exportschlager entwickeln. Auf geht’s, packen wir es an!
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Dirk Spaniel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Folgendes Szenario – hören Sie gut zu; das wird Sie jetzt überraschen –: In dem Staat, den Sie von den Grünen wollen, werden 86 Prozent des Güterverkehrs auf der Schiene abgewickelt, und nur 10 Prozent entfallen auf den Straßenverkehr. Das ist doch Ihre Wunschvorstellung und übrigens auch die der Linken. Und das wundert mich überhaupt nicht. Das sind nämlich die Zahlen der Verteilung des Güterverkehrs in der DDR 1989.
({0})
Genau dahin wollen Sie zurück, in eine neue DDR,
({1})
mit allen Konsequenzen für Wohlstand und Freiheit!
Die Forderung der Grünen, keine Bundesfernstraßen mehr auszubauen, reiht sich ein in eine lange Liste von Aussagen Ihrer Partei, die der Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land diametral entgegenstehen.
({2})
Sowenig wie Netze Strom speichern können, sowenig wie Kobolde in Batterien ihr Werk verrichten,
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so wenig ist eine moderne Industrienation ohne ein leistungsfähiges Straßennetz überhaupt denkbar.
Die Fernstraßen sind die Lebensadern einer modernen Industrienation, und in den letzten 20 Jahren hat das Verkehrsaufkommen in diesem Land um mehr als 30 Prozent zugenommen. Das Straßennetz wurde jedoch kaum ausgebaut, sagen zumindest Statistiken.
({4})
Das Resultat sehen wir bei den täglichen Staus im ganzen Land. Sie sind auch ursächlich für einen gigantischen volkswirtschaftlichen Schaden. Diese Staus sind keine Folge des Fortschritts, sie sind politisch gewollt. Und wie so oft ist die gute Politik für dieses Land genau das Gegenteil dessen, was die Grünen fordern.
Für die Grünen ist die Schiene das Allheilmittel für die Mobilität der Zukunft. Wie absurd das ist, zeigt ein kleiner Blick in den Haushalt. Während für den Ausbau und den Erhalt von Bundesfernstraßen für den Steuerzahler Kosten in Höhe von ungefähr 3 Euro pro 1 000 Personen- und Tonnenkilometer anfallen, sind es bei der Schiene 100 Euro. Ihre geliebte Bahn kostet den Steuerzahler also 31-mal mehr als eine Straße.
({5})
Ja, wir brauchen einen schienengebundenen Verkehrsträger; das stimmt. Aber dieser Verkehrsträger ist in der von uns gewünschten Qualität – das heißt: Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sicherheit – eben nicht kostendeckend darstellbar. Das beweisen die zahllosen Milliarden, die Sie seit der Bahnreform in das Projekt Bahn gepumpt haben.
({6})
Wenn also die Bahn defizitär ist, frage ich: Was passiert eigentlich, wenn man ein defizitäres System hochskaliert? Ändert sich dann das Vorzeichen? Mit der Lösung dieser mathematischen Grundsatzaufgabe können Sie sich ja mal beschäftigen.
({7})
Grüne Politik ist ja auch nicht, Lösungen anzubieten. Es geht Ihnen immer nur um Wohlfühlpolitik und die weitere Gängelung des selbstbestimmten Lebens, speziell der arbeitenden Bevölkerung und der Autofahrer.
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Fakt ist: Auch in Deutschland leiden derzeit Millionen Menschen unter den Folgen des Lockdowns, und die eigentliche Welle an Insolvenzen steht uns noch bevor. Unter solchen Umständen ist es mir vollkommen unverständlich, wie man sich hier in diesem Haus überhaupt mit Luxusproblemen wie dem Ende des Fernstraßenbaus beschäftigen kann.
({9})
Wir müssen Geld in die Hand nehmen, um Deutschland als einen der attraktivsten Unternehmensstandorte der Welt auszubauen. Das ist momentan nicht der Fall. Gerade am Montag haben wir vom BDI gehört: 72 Prozent der Unternehmen sind unzufrieden mit ihrer Verkehrsanbindung. – Das ist mittlerweile ein erheblicher Standortnachteil. Wir müssen unsere Straßen und Brücken reparieren, Staus beseitigen, Flughäfen modernisieren, Glasfaser verlegen und neue Straßen bauen!
({10})
Die Fortschrittsfeindlichkeit Ihrer sogenannten grünen Partei kann nie die Antwort auf die Probleme der Zukunft dieses Landes sein.
({11})
Abschließend habe ich noch eine Frage an die Union: Freuen Sie sich eigentlich schon auf Ihren neuen Koalitionspartner? Viel Spaß dabei!
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Sören Bartol.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, ich habe es beim letzten Mal an dieser Stelle schon gesagt: Wer vergessen machen will, dass er in diesem Land in Regierungen sitzt und damit Verantwortung trägt, handelt populistisch und unseriös.
({0})
Diese Pressemitteilung hier hat der grüne Verkehrsminister von Hessen vor zwei Wochen herausgegeben – Überschrift: „Bundesstraßenprojekte können beginnen“. Darin feiert sich der Minister dafür, dass sich das Projektvolumen im Straßenbereich mehr als verdoppelt hat.
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Das Land Baden-Württemberg hat 2016 unter einer grünen Regierung über 100 Straßenbauvorhaben für den Bundesverkehrswegeplan 2030 angemeldet, darunter zahlreiche Autobahnen. Haben Sie eigentlich mal mit Ihren grünen Ministerpräsidenten und Verkehrsministern darüber gesprochen, wie sie es fänden, wenn der Bund seine Planungen für den Straßenbau in diesen Ländern auf Eis legen würde? Oder darf Herr Kretschmann Ihre ideologischen Phrasen auf Bundesebene nicht mehr kommentieren, weil sonst deutlich werden würde, wie sehr bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen?
({2})
Im Grunde bin ich Ihnen sehr dankbar für Ihre Forderung, da sie bloßstellt, was von Ihren ganzen Papieren zu Strukturwandel, Transformation und Mobilitätswende zu halten ist. Natürlich brauchen wir einen Umbau unseres Verkehrssystems hin zu mehr Nachhaltigkeit. Wir wollen ein Verkehrssystem, das Mobilität umweltgerecht ermöglicht
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und insbesondere in den Städten auch mit weniger Autoverkehr funktioniert.
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Aber Ihnen geht es in Wahrheit nicht um die Mobilität der Menschen, nicht um den Umbau des Verkehrssystems.
({5})
Sie sind gegen das Autofahren an sich. Das ist die DNA Ihrer Partei!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiteres Beispiel ist Ihr offenbar gestörtes Erinnerungsvermögen in Bezug auf den Ausbau der A 49. Bei der Erarbeitung des Bundesverkehrswegeplans 2003 – das geschah noch unter einer rot-grünen Bundesregierung – haben die Grünen der Aufnahme der A 49 ausdrücklich zugestimmt,
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und ich sage auch: Zu Recht! In beiden schwarz-grünen Koalitionsverträgen für Hessen ist der Ausbau der A 49 ausdrücklich erwähnt. Das hat Ihre Partei beide Male unterschrieben, meine Damen und Herren; das trägt eine grüne Unterschrift. Und bei den Vorbereitungen für den Bundesverkehrswegeplan 2030 hat Hessen sich ebenfalls für die A 49 starkgemacht. Da war ein Grüner Verkehrsminister und Vizeministerpräsident.
Das heißt, Sie haben sowohl auf Bundesebene als auch auf der Landesebene diesem Projekt ausdrücklich zugestimmt. Und heute? Heute leugnen Sie jede Beteiligung, bereisen opportunistisch ein Protestcamp und fordern einen pauschalen Baustopp. Das ist schlicht unseriös.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Notwendigkeit eines ökologischen Umbaus unseres Verkehrssystems ist unstrittig: mehr Schiene, mehr ÖPNV und mehr Elektromobilität. Aber wenn Sie den Straßenbau in Deutschland stoppen wollen, dann torpedieren Sie damit die deutsche Wirtschaft und rauben den Menschen, gerade in den ländlichen Räumen, ihre Mobilität.
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Wenn Sie das wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dann seien Sie wenigstens ehrlich und sagen das auch so.
In den Ländern bauen grüne Verkehrsminister munter Straßen; auf Bundesebene wird das Gegenteil gefordert. Sie sind keine Bürgerinitiative. Sie sind eine Partei im Deutschen Bundestag und regieren in vielen Ländern mit. Da erwarte ich mehr Verantwortung, mehr Redlichkeit.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind als SPD die Schienenpartei; das sage ich mit Selbstbewusstsein, auch im Rückblick auf die vergangenen Jahre. Aber wir müssen klar feststellen, dass die Bahn leider noch nicht da ist, wo wir sie haben wollen.
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Wir haben noch nicht die Kapazitäten bei der Schiene, die wir brauchen, um signifikant mehr Verkehr zu verlagern. Das gilt vor allen Dingen im Güterverkehr. Wir haben darum als Koalition bei den Investitionen eine Fokussierung auf die Schiene vorgenommen, und da haben wir geliefert.
Lieber Kollege Kindler – ich weiß nicht, ob er da ist –, da Sie uns ja immer gern vorhalten, wir würden zu viel in die Straße und zu wenig in die Schiene investieren, will ich noch ein paar Zahlen nennen: Von 2014 bis 2024 erhöhen wir die Investitionsausgaben für die Straße um ungefähr 55 Prozent. Im gleichen Zeitraum steigern wir die Investitionsausgaben für die Schiene um 125 Prozent.
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Und in der Finanzplanung bis 2024 werden erstmals mehr Mittel für die Schiene als für die Straße bereitgestellt. Was Sie bei Ihren Reden immer so gerne weglassen: Hinzu kommen die Reduzierung der Trassenpreise im Schienengüterverkehr über 1 Milliarde Euro, die Erhöhung der Mittel für die Gemeindeverkehrsfinanzierung auf 1 Milliarde Euro, die Erhöhung der Regionalisierungsmittel und – bitte auch nicht vergessen – die Eigenkapitalerhöhung bei der Bahn.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man schon Straße und Schiene vergleicht, sollte man wenigstens richtig rechnen können.
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Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, reden am Ende vom sozialökologischen Umbau. In Wahrheit werden Sie doch die Sache mit der Verbotspartei nicht los.
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Wir bauen unser Verkehrssystem um, aber die Straße braucht es definitiv weiter. Auch Elektroautos werden am Ende nicht fliegen. Ihnen geht es im Kern um die Abschaffung des Autos. Was Sie tun, ist ideologisch gegen die Bürgerinnen und Bürger, gegen die Interessen der deutschen Wirtschaft und damit auch gegen die Interessen der Beschäftigten gerichtet. Auf diesem Weg wünsche ich Ihnen eine wirklich gute Reise.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Oliver Luksic.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesverkehrswegeplan setzt eine ganz klare Priorität auf Erhalt und Sanierung. Wer sich das anschaut, weiß das. Und natürlich gibt es hier und da noch einige Lückenschlüsse. Diese sind sogar notwendig, weil wir in Deutschland ein Transitland in Europa sind.
Es wurde eben zu Recht festgestellt: Wir haben eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dass die Grünen im Bund auf einmal sagen: „Keinerlei neue Baumaßnahmen“, in den Ländern aber das Gegenteil von ihnen erklärt wird. Das ist wirklich ein neuer Höhepunkt grüner Dialektik und grüner Doppelmoral.
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Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen für dieses Verhalten, das wir heute hier diskutieren müssen. Wir haben da die A 49, die eben angesprochen wurde und die anscheinend der Auslöser dieser Forderung ist. Ich habe mir das vor Kurzem angeschaut: Da geht es darum, Nordhessen besser zu erschließen, Dörfer von Verkehr zu entlasten. Der erste und der zweite Bauabschnitt sind fertig, und eine ganze Reihe von Straßen und Brücken ist schon gebaut. Sollen diese Straßen jetzt etwa im Nichts enden?
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Das Problem ist doch relativ einfach: Da gibt es ein paar Berufsdemonstranten; die sind vom „Hambi“ in den „Danni“ gewandert. Und diesen Menschen wollen Sie jetzt nach dem Mund reden. Aber es kann nicht sein, dass Herr Al-Wazir im Landtag den Weiterbau der A 49 immer wieder verteidigt, dass die Grünen im Land Hessen die Autobahn fertigbauen wollen und Sie sich jetzt hierhinstellen und behaupten, Sie hätten mit der A 49 nichts zu tun. Das ist absolut unseriös. Wenn Sie in die Baumhäuser hochkrabbeln, müssen Sie jetzt in Regierungsverantwortung wieder runterkommen.
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Von diesen Beispielen gibt es noch eine ganze Reihe mehr. Dafür kann man sich den Bundesverkehrswegeplan und die Koalitionsverträge dort anschauen, wo die Grünen regieren. Ich kann leider nur einige wenige nennen. Nehmen wir zum Beispiel die Weserquerung in Bremen; die wollen Sie ja. Oder schauen wir mal nach Schleswig-Holstein. In Schleswig-Holstein hat Ihr Bundesvorsitzender einen Koalitionsvertrag unterschrieben, in dem steht, die A 7, die Küstenautobahn, müsse zügig ausgebaut werden und die A 20 Lübeck–Oldenburg solle schnell umgesetzt werden. Jetzt wissen wir ja, dass Herr Habeck es mit der Pendlerpauschale nicht so hat; das haben wir in einem TV-Interview erfahren. Aber deswegen jetzt gleich allen Pendlern das Leben in Schleswig-Holstein schwer machen zu wollen, ist wirklich ein bisschen zu viel.
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Und wenn Sie sich mal die Fehmarnbeltquerung anschauen, ein großes europäisches Infrastrukturprojekt. Ganz Skandinavien soll besser an den europäischen Kontinent angebunden werden. Dazu gibt es einen Staatsvertrag zwischen Dänemark und Deutschland. Darin steht, dass wir zwar den Tunnel von den Dänen mehr oder minder geschenkt bekommen, wir aber dafür zuständig sind, dass es einen Schienen- und Straßenanschluss gibt. Wollen Sie denn, dass für etwa 7 Milliarden Euro ein Tunnel gebaut wird ohne den notwendigen Straßenanschluss? Das wäre wirklich ein Angriff auf die Freundschaft mit Dänemark. Mit dem europäischen Gedanken hat das nichts zu tun. Dass das irgendwelchen Demonstranten oder der AfD egal ist, verstehe ich ja noch. Aber dass rechtsstaatliche Verträge und Verfahren und auch der Europagedanke Ihnen egal sind, das ist wirklich eine neue Erkenntnis dieser Diskussion.
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Im Südwesten geht das weiter: Die B 10 wird vierspurig ausgebaut. Das ist auch notwendig, damit nicht ein Riesenumweg gefahren wird, um in den Süden der Republik zu kommen. Ein absolut sinnvolles Projekt, das Sie auch in der Landesregierung mittragen! Der A-1-Lückenschluss ist seit 40 Jahren ein Thema. NRW und Rheinland-Pfalz packen das gerade an, damit die Lkws nicht durch die Dörfer rollen. Sollen die jetzt weiter durch die Dörfer rollen? Auch da ist Ihre Politik von vorne bis hinten unglaubwürdig. Im Landtag Rheinland-Pfalz hat Ihre Vertreterin gerade gesagt: Wir wollen das auf Landesebene nicht wieder diskutieren. – Ja, was jetzt? Wollen Sie es diskutieren, oder wollen Sie es nicht diskutieren?
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Ich sage Ihnen: Deutschland braucht Planungssicherheit. Wir brauchen Rechtssicherheit.
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Wir in Deutschland können diese Rückfälle in grüne Spontipolitik nicht brauchen.
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Es bleibt dabei: Wir sind Transitland in der Mitte, im Herzen Europas. Verkehrswege sind auch ein Stück Lebensadern. Diese können wir nicht abtrennen. Es gibt da anscheinend ein Stück weit ein Missverhältnis: Bei der Planungsbeschleunigung stehen Sie im Bundesrat auf der Bremse. Damit blockieren Sie übrigens auch, dass Radwege und Schienenwege schneller gebaut werden. Auch Ihr Verhältnis zu Bäumen ist eigenartig. Bei Windkraftanlagen im Wald kann es gar nicht schnell genug gehen; da kann man gar nicht genug Bäume fällen. Beim Straßenbau ist das scheinbar ein bisschen anders.
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Das Kernproblem ist: Sie wollen Fahrverbote, Sie wollen den Verbrenner verbieten, den Verkehr verteuern, den Straßenbau verlangsamen und stoppen. Sie sind wirklich die Partei der Autohasser. Bei Ihnen geht der Hass auf das Auto so weit, dass Sie sogar rechtsstaatliche Verfahren und den Europagedanken ignorieren. Deutschland ist ein Industrieland, Deutschland ist ein Autoland. Wir können uns Grüne in der Regierung nicht leisten.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Sabine Leidig.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Diese Aktuelle Stunde ist ein erster Erfolg der „Wald statt Asphalt“-Bewegung.
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Euch ist es zu verdanken, dass die Republik über den Autobahnausbau diskutiert. Von hier aus die solidarischen Grüße meiner ganzen Fraktion an das Aktionsbündnis gegen die A 49 und an die Baumbesetzerinnen und ‑besetzer in meiner hessischen Heimat. Vielen Dank für eure Aktion.
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Es ist völlig richtig, dass die Rodung des wertvollen Dannenröder Waldes sofort gestoppt werden muss. Und es ist völlig falsch, dass hier ein Natur- und Wasserschutzgebiet für noch mehr Autobahnen und damit noch mehr Verkehr gefährdet wird. Dem Verkehrsminister geht es gar nicht um das Wohl der Region in Mittelhessen. Wenn Sie wirklich lärmgeplagte Anwohnerinnen und Anwohner vom Durchgangsverkehr entlasten wollen,
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wenn Sie wirklich eine bessere Anbindung von Gewerbegebieten oder weniger Stau für Pendlerinnen und Pendler wollen, dann müssen Sie das Geld anders einsetzen. Es gibt konkrete Vorschläge, die mit geringem Aufwand die akuten Probleme lösen können, mit wenigen Ortsumfahrungen und mit ausgebauter Eisenbahn. Davon hätten alle etwas. Das Alternativkonzept würde Hunderte Millionen Euro sparen, Geld, das wir dringend brauchen, um gute Arbeitsbedingungen und bessere Angebote im öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren.
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Sie aber wollen mehr als 1,4 Milliarden Euro für 40 Kilometer A 49 in ein ÖPP-Projekt pumpen. Die öffentlich-private Partnerschaft verspricht dem Kapitalinvestor Millionengewinne, aber auf Kosten der Allgemeinheit. Sie wollen eine weitere Strecke für den transeuropäischen Güterverkehr, damit noch mehr Lkw durch Hessen donnern. Davon profitieren Konzerne, die ihre Produktions- und Vertriebsstrukturen über die ganze Welt verteilen, ohne Rücksicht auf Verluste. Regionales Wirtschaften wird nicht mit Autobahnen gefördert.
In den letzten 30 Jahren wurden Tausende Kilometer Eisenbahngleise abgebaut und stillgelegt und zugleich Tausende Kilometer Bundesstraßen und Autobahnen neu gebaut. Deutschland hat eines der dichtesten Fernstraßennetze Europas, sagt das Ministerium. Das ist doch längst mehr als genug.
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Mehr Straßen führen zu mehr Verkehr; das ist erforscht und bewiesen.
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Tatsächlich ist der Verkehr auf deutschen Straßen in den letzten 30 Jahren krass angeschwollen: von 570 Milliarden gefahrenen Kilometern auf über 750 Milliarden gefahrene Kilometer pro Jahr. Mehr Fahrzeuge fahren mehr Strecke, fast 30 Prozent mehr – mehr Lärm, mehr Schadstoffe, mehr Flächenverbrauch, mehr Zerstörung von Ökosystemen und Klima. Alle technologischen Raffinessen werden aufgefressen. Der einzelne Lkw stößt heute weniger aus, aber die Treibhausgase insgesamt sind um mehr als 20 Prozent gestiegen. Bei den Autos ist es ähnlich. Und obwohl die Motoren heute deutlich leiser sind, ist der lästige Straßenlärm angewachsen, weil die Reifen breiter sind, die Karossen größer und schwerer. Dieses Wachstum ist zerstörerisch; die meisten Menschen haben das längst verstanden.
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Hinzu kommt, dass dieses Verkehrssystem sozial zutiefst ungerecht ist, weil diejenigen am meisten darunter leiden, die am wenigsten davon haben. Das gilt für die Menschen im globalen Süden, und das gilt auch hierzulande; das hat die neue UBA-Studie gerade wieder neu festgestellt.
Auch deshalb fordern wir als Linke ein Moratorium für alle Autobahnprojekte. Die Forderung nach einem generellen Baustopp ist richtig.
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Die 850 zusätzlichen Autobahnkilometer, die bis 2030 noch geplant sind, müssen auf den Prüfstand. Wir brauchen eine soziale und ökologische Verkehrswende, und zwar jetzt. Alles andere ist unzulässige Verschwendung von gesellschaftlichen Ressourcen.
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Zum Schluss noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie haben hier im Bundestag vor zwei Wochen einen Antrag eingebracht, der das Richtige fordert, unter anderem den Baustopp der A 49. Dem haben wir natürlich zugestimmt. Alle anderen Fraktionen waren dagegen; das wussten Sie auch. Trotzdem haben Sie Sofortabstimmung beantragt. Damit haben Sie aber verhindert, dass wir im Verkehrsausschuss darüber diskutieren können und vielleicht eine öffentliche Anhörung dazu organisieren.
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Das ist wirklich bitter. Ich hoffe sehr, dass unser Antrag, den wir jetzt einbringen, diese Funktion erfüllt.
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Ein Letztes. Bitter ist auch, dass Ihr hessischer Verkehrsminister Al-Wazir jetzt den Demonstrantinnen und Demonstranten erklärt, der Kampf sei verloren.
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Ich sage: Nein, der Kampf hat jetzt erst richtig begonnen.
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Und was der „Hambi“ für den Kohleausstieg ist, das kann der „Danni“ für den Autobahnausstieg werden.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Toni Hofreiter.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin insbesondere den Kollegen der CDU/CSU dankbar für diese Aktuelle Stunde und für die Ehrlichkeit. Da wird deutlich, wo Sie stehen und dass Ihr ganzes Wortgeklingel zu Klimaschutz, wenn es darauf ankommt, nichts wert ist. Danke dafür!
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Bei der SPD schaut es noch bitterer aus. Die SPD ist auch eine Betonierer-, eine Asphaltiererpartei.
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Und dann stellt ihr euch hierhin und beschwert euch über die Grünen, dass wir nicht ausreichend verhindert haben, was ihr wollt, insbesondere unter Rot-Grün,
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als ihr 40 Prozent hattet und wir 8 Prozent.
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– Steht doch wenigstens zu eurer Verantwortung! Seid doch wenigstens so ehrlich wie die CDU/CSU!
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2016, im Zusammenhang mit dem Bundesverkehrswegeplan, hat die damalige UBA-Präsidentin festgestellt: Durch den starken Fokus auf die Straßen zementiert dieser Bundesverkehrswegeplan weitgehend die nicht nachhaltige Verkehrspolitik der vergangenen Jahre. – Des Weiteren wurde beim letzten Bundesverkehrswegeplan festgestellt: Von zwölf Umweltzielen wurden elf nicht erreicht.
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Die Kritik von damals stimmt jetzt umso mehr; denn wir haben erlebt, wie sich die Klimakrise verschärft, wir haben doch erlebt, was in Australien los war, wir haben erlebt, was in Kalifornien los ist, und wir haben erlebt, dass es in vielen Regionen drei Dürresommer hintereinander gab. Wir haben gesehen, dass seit 30 Jahren der CO2-Ausstoß im Verkehrsbereich nicht sinkt. Deshalb ist es notwendig, da grundlegend etwas anders zu machen.
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Auf der Homepage des Bundesverkehrsministeriums findet sich die schöne Erklärung, dass das gesamtdeutsche Straßennetz doppelt so lang ist wie die Entfernung zwischen Erde und Mond. Hier haben Sie jetzt behauptet, dass – obwohl wir nach eigener Aussage eines der dichtesten Straßennetze aller Flächenländer weltweit haben – zusätzlicher Straßenbau noch Wohlstand schafft. Wenn wir im Jahr 1960 wären, könnten wir darüber ernsthaft diskutieren – auch wenn es damals klüger gewesen wäre, auch die Bahn mit auszubauen –,
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aber wir sind im Jahr 2020, und in den vergangenen 60 Jahren sind Tausende von Kilometern Autobahn geschaffen worden.
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Angesichts dessen, was in der Autoindustrie los ist, ist es notwendig, auf ganz andere Dinge zu setzen. Wir sehen doch die Megatrends Elektrifizierung, Digitalisierung und Automatisierung. Deshalb brauchen wir einen Ausbau von 5 G, einen Ausbau der Ladesäulentechnologie, einen Ausbau der Batteriekapazitäten und ein schnelles Internet. Kommen Sie endlich im 21. Jahrhundert an! Hören Sie endlich auf mit Ihrer Technologiefeindlichkeit!
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Dieser Bundesverkehrswegeplan, der nicht erkennt, dass es moderne Technologie – 5 G, Internet, Ladesäulen, Batterietechnik – braucht, soll bis zum Jahr 2030 gelten, bis zu dem Jahrzehnt, das so entscheidend dafür werden wird, dass wir die Klimakrise in den Griff kriegen.
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Meinen Sie das wirklich im Ernst? Glauben Sie wirklich, dass dieser Bundesverkehrswegeplan, der völlig aus der Zeit gefallen ist, uns wirklich in das nächste Jahrzehnt führen wird? Ich glaube das nicht. Damit gefährden Sie nicht nur die Mobilität. Mobilität bedeutet, dass alle Menschen mobil sein können und nicht nur diejenigen, die einen Führerschein haben und ein Auto besitzen. Deshalb ist es notwendig, dass Sie endlich Ihre Technologiefeindlichkeit einstellen, dass Sie endlich dafür sorgen, dass unsere Autoindustrie auch in der Zukunft noch eine Chance hat.
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Für den Anschluss von vielen Regionen brauchen wir einen deutlichen Bahnausbau. Am Ende zeigt es die Realität. Es werden hier schöne Reden auf die Bahn gehalten. Im Jahr 2019 sind 232 neue Kilometer Bundesfernstraßen dazugekommen. Und wie viele Kilometer Bahn sind dazugekommen?
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Wie viele Kilometer Bahn sind dazugekommen? Eine einstellige Zahl. Das kann doch wohl nicht wahr sein: 232 Kilometer Bundesfernstraßen und eine einstellige Kilometerzahl Bahnstrecke! So wird das nichts mit der Verkehrswende. Deshalb: Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bahn flottgemacht wird! Sorgen Sie dafür, dass Personal eingestellt wird, dass die Planungsprozesse schneller werden! Sorgen Sie dafür, dass die Verkehrswende endlich in der Realität ankommt!
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Dann wird sich zeigen, ob Bahnkilometer ausgebaut werden oder das bloß behauptet wird.
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Ihr Bundeswirtschaftsminister hat gesagt: Wir haben wegen der Klimapolitik das Vertrauen von vielen Menschen der jungen Generation verloren. Und er hat gesagt: Man muss nicht bloß partiell ein paar Dinge ändern. – Damit hat er recht. Deshalb: Lassen Sie endlich den Worten Taten folgen! Es gibt den schönen alten biblischen Spruch „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“ – das gilt insbesondere für die Regierung.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Bundesregierung der Bundesminister Andreas Scheuer.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Ich habe jetzt ein bisschen nachgedacht, ob ich überhaupt noch reden soll, weil diese Rede einzigartig war.
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Lieber Kollege Hofreiter, vielen Dank für dieses historische Dokument grüner Verkehrspolitik.
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Ich bin der CDU/CSU, also meiner Fraktion, uns sehr dankbar, dass wir das Thema Baustopp, der von den Grünen gefordert wird, hier zum Thema machen; der Kollege Hofreiter hat ja zu allem geredet, aber nicht zum eigentlichen Thema dieser Aktuellen Stunde.
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Ich muss Ihnen sagen: Ich bin glücklich, wenn ich unterwegs bin und neue Infrastrukturprojekte eröffnen kann.
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Zum Beispiel kam an der A 33 in Ostwestfalen ein älterer Herr jenseits der 70 auf mich zu. Er hat sich bedankt und gesagt: Endlich hat die junge Generation hier in unserer Region Chancen, dadurch, dass wir an die Infrastruktur angebunden sind. Und ich darf mich vorstellen: Ich war der erste Vorsitzende der Bürgerinitiative Pro A 33 in Ostwestfalen. Es ist aber leider schon 40 Jahre her, dass sie gegründet wurde. Trotzdem ist es schön, dass heute die Autobahn eröffnet wurde. – Das sind die Investitionen des Bundes.
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Und wenn Ihnen das Chancenargument nicht reicht, dann nehmen Sie bitte das Sicherheitsargument. Die B 12 in Bayern war immer eine Todesstrecke, wo viele Unfälle passiert sind. 40 Jahre wurde für eine neue Autobahn A 94 gekämpft, und wir haben sie eröffnen können. Vor ein paar Monaten, im Jahr 2019, sind die fast 40 Kilometer ans Netz gegangen, und alle Rückmeldungen der Pendlerinnen und Pendler sind: Danke, Bund, dass ihr kräftig investiert habt und wir jetzt eine sichere Autobahn haben und damit für die Pendlerinnen und Pendler und die Handwerker eine gute Infrastruktur im ländlichen Raum.
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Man muss sich auch mal die Fakten anschauen. Der Anteil der Fernstraßen in unserem Netz beträgt 22 Prozent. Der Anteil der Fahrleistungen auf ihnen beträgt 50 Prozent. Das heißt, wir brauchen die Fernstraßen, um in Bezug nicht nur auf Wirtschaftsverkehre, sondern auch zum Thema Verkehrssicherheit die Verkehrsleistung abbilden zu können und Staus auf kleinen Ortsdurchfahrten zu vermeiden.
Wir investieren kräftig – das wurde ja schon angesprochen – in alle Verkehrsträger, wie nie zuvor, und dafür bin ich dankbar. Wir haben die Haushaltsdebatte gehabt. Wenn ich mir die Zahlen anschaue und den Aufwuchs an Investitionen – allein in diesem Ministerium liegt die Investitionsquote bei über 60 Prozent –, so ist festzustellen: Es ist auch ein Ministerium für Investitionen, Wohlstand und Arbeitsplätze.
Sie von den Grünen torpedieren ja alle neuen Verkehrsprojekte. Die Fehmarnbeltquerung wurde ja schon angesprochen; ich bin dem Kollegen Luksic dafür dankbar. Normalerweise hält er ja Reden, die eher auf mich konzentriert sind. Aber ich habe nach dieser Rede Hoffnung, dass er wieder in der Spur ist.
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Auf jeden Fall: Wenn wir kräftig investieren und internationale Verpflichtungen eingehen wollen,
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dann brauchen wir für die bessere Schienenanbindung, aber auch die bessere Straßenanbindung Skandinaviens ans Festland die Fehmarnbeltquerung. Und wir kämpfen dafür, dass sie kommt, weil wir investieren wollen, damit Europa zusammenwächst.
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Wenn das Chancenargument nicht reicht und das Verkehrssicherheitsargument auch nicht, dann nehme ich einfach das Thema Arbeitsplätze. Die Forderung der Grünen nach einem Baustopp hieße Arbeitslosigkeit für Hunderttausende von Bauarbeitern, Hunderttausende im Bereich Planung, der Ingenieure, derer, die jeden Tag auf der Baustelle ihren Dienst tun. Ich sage einen herzlichen Dank an die Baufirmen und an deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unsere Infrastruktur bauen.
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Diese Idee des Baustopps, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur völlig entrückt von der Realität, sondern ist auch verantwortungslos gegenüber dem Wohlstand in unserem Land. Sie ist verantwortungslos gegenüber unserer Wirtschaftskraft; denn wir brauchen die Infrastruktur. Es wurden ja schon einige Projekte angesprochen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, lassen Ihre grünen Verkehrsminister in den Ländern richtig hängen. Ich nenne die A 6 in Baden-Württemberg und zitiere den dortigen Verkehrsminister in einem Grußwort: Damit werde die Stärkung einer der wichtigsten Hauptachsen des Landes weiter vorangetrieben. Das Projekt sei eine enorme Investition in die Zukunft.
({10})
So viel zur A 6, Baden-Württemberg. Richtig so. – Zur A 49. Ja, darum haben wir, lieber Sören Bartol, über Jahrzehnte gerungen. Wir haben durch alle Instanzen die Fragen geklärt. Wir haben Baurecht.
Und wenn das Chancenargument, das Verkehrssicherheitsargument und das Wirtschaftsargument nicht zählen, dann nehmen Sie wenigstens das rechtsstaatliche Argument, dass wir ja keine Bauprojekte über den Daumen hin realisieren. Wir realisieren nach langen Planungsfristen und meistens nach kompletter juristischer Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Einsprüche. Das ist die Realität in unserem Land.
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Es wurde ja schon angesprochen:
Der Landtag wolle beschließen:Der Landtag ist sich der regionalen und überregionalen Bedeutung des Verkehrsprojekts A 49 bewusst und hält an einem Weiterbau unter der Voraussetzung, dass die finanziellen Möglichkeiten gegeben sind, fest.
Das war die Fraktion der CDU mit Bündnis 90/Die Grünen im Hessischen Landtag.
({12})
Und der Bund hat die finanziellen Voraussetzungen erfüllt. Das ist die Realität und die Wahrheit.
({13})
Hinzu kommt die Verantwortung gegenüber der Heimat und dem Umweltschutz. Bei diesem Projekt, der A 49, sind Eingriffe in die Natur – ja, das ist ganz selbstverständlich für einen Neubau – mit 85 Hektar Rodung nötig. Aber die Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen umfassen 750 Hektar. Das heißt, wir kommen unserer Verantwortung nach, Infrastruktur zu realisieren,
({14})
aber den Umweltschutz weiterhin hochzuhalten und sogar noch zu verbessern.
({15})
Ich freue mich, dass ich in ein paar Wochen bei der B 38, der Ortsumfahrung Mörlenbach – 95,2 Millionen Euro –, zusammen mit Tarek Al-Wazir
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den Spatenstich machen kann.
Zur A 20 in Schleswig-Holstein. Der dortige Koalitionsvertrag von 2017 wurde ja schon angesprochen; damaliger Umweltminister: Robert Habeck. Da gab es einen Zwist mit dem SPD-Verkehrsminister, und der wurde wie folgt aufgelöst. Habeck: Artenschutz ist weder Verhinderungsinstrument noch Spielball der Politik. – Und vor ein paar Tagen fordert er den Stopp des Weiterbaus der A 20. Jetzt ist er nämlich auf Bundesebene. Bemerkenswert! Landesebene – Bundesebene.
Ich könnte weitermachen mit der A 14. In Sachsen-Anhalt – dort sind auch die Grünen in der Koalition – haben wir eine Verkehrsfreigabe gehabt, wo sich über 500 Leute gefreut haben, dass 8,5 Kilometer ans Netz gehen, eine Verbindung, die vor allem strukturpolitisch von Bedeutung ist. Sie verläuft von Nord nach Süd in den neuen Bundesländern.
({17})
Ich muss sagen, ich freue mich auf den 16. Oktober, weil es da weitergeht. Mit mehreren Hundert Millionen Euro werden wir Brandenburg und Sachsen-Anhalt mit einer neuen Elbbrücke miteinander verbinden, und wahrscheinlich werden auch wieder Repräsentanten der sachsen-anhaltinischen Grünen da sein und sich genauso freuen wie ich.
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Die A 7 und die A 26, Frau Lemke, in Hamburg – ich habe mich unlängst mit dem neuen grünen Verkehrssenator getroffen – sind ja auch ein Argument dafür, wie wir weiterbauen.
Meine Damen und Herren, die Grünen sind mit der Forderung des Baustopps nicht nur die Partei der Verbote. Sie sind neuerdings auch die Partei der Stopps und die Partei des Stillstands.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Thomas Ehrhorn.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Autofahrer! In einer Zeit, in der wir allein auf deutschen Autobahnen pro Jahr durchschnittlich 1,5 Millionen Staukilometer ertragen müssen – was jeden Autofahrer übrigens jährlich etwa 120 Stunden seiner wertvollen Lebenszeit kostet –, in einer Zeit also, in der sich in aller Deutlichkeit zeigt, dass die Verkehrsinfrastruktur unseres Straßennetzes so jedenfalls alles andere als zukunftsfähig ist, beglückt uns nun die grüne Weltuntergangssekte mit einem weiteren Ideologieprojekt. Sie fordert nun also ein generelles Umdenken in der Verkehrspolitik. Im Klartext heißt das: sofortiger Baustopp der A 49 in Hessen, Planungs- und Baustopp für alle neuen Autobahnen und Straßen, zum Beispiel in Niedersachsen, und möglichst keine weiteren Ortsumgehungen. Ich höre schon den Jubel der Bevölkerung meines eigenen Wahlkreises in Celle, in dem grüne Ideologie in Zusammenarbeit mit dem BUND jahrzehntelang eine dringend benötigte Ortsumgehung verhindert hat.
Die nicht enden wollenden Staus an Autobahnbaustellen, auf denen monatelang gar nicht gearbeitet wird, das kann man noch unter Interesselosigkeit oder Unfähigkeit derer verbuchen, die dieses Land möglicherweise schon etwas zu lange regieren. Die Bestrebungen der Baerbock-Kobold-Fraktion allerdings lassen sich dadurch nicht erklären. Nein, sie stellen eine bewusste Sabotage an der Infrastruktur und damit an der Zukunftsfähigkeit unseres Landes dar.
({0})
Sie sind die direkte Fortsetzung des jahrzehntelangen Kampfes gegen das Automobil. Sie reihen sich ein in all die Schikanen, die der deutsche Autofahrer Gretas erleuchtetem Geist und seinen Jüngern zu verdanken hat. Es ist der Geist derer, die bereit sind, die deutsche Autoindustrie in den nächsten drei Jahren ohne Wenn und Aber mit Ansage gegen die Wand zu fahren, und zwar einschließlich der Zulieferindustrie. Es ist der Geist von Leuten, die nicht mehr verstehen, dass es eigentlich ihre Aufgabe wäre, die Lebensqualität der eigenen – ich betone: der eigenen – Bevölkerung zu erhalten und zu verbessern. Dazu gehören selbstverständlich der Erhalt von Wohlstand, der Erhalt von Arbeitsplätzen, der Erhalt und der Ausbau von Infrastruktur.
({1})
Was wir heute aber erleben, ist leider wieder der Geist einer selbsternannten Elite, die sich anmaßt, die Bevölkerung durch Repression umzuerziehen. Autofahren soll nämlich möglichst unbequem und teuer werden.
({2})
Staus sind in deren Überzeugung offenkundig etwas Gutes; denn sie sollen die Bürger in die eigentlich völlig unterlegenen und langsamen öffentlichen Verkehrsmittel zwingen. Das absichtsvolle Schaffen von roten Wellen statt einer grünen ist inzwischen gelebte Praxis in deutschen Großstädten
({3})
und ebenfalls eine Errungenschaft grüner Verkehrspolitik.
({4})
Sinnlose Tempo-30-Zonen, steigende Parkgebühren, autofreie Innenstädte, Dieselfahrverbote, Verlegung von Bushaltestellen mitten in die Fahrspur etc., etc., etc.
Meine Damen und Herren von der SPD und von der CDU, das alles haben Sie doch fast immer aber auf allen politischen Ebenen widerspruchslos mitgetragen – und nun wird es Ihnen plötzlich zu viel? Ich finde es schon hochinteressant, dass die Koalition und insbesondere die CDU heute in einer Aktuellen Stunde ihren zukünftigen Koalitionspartner an den Pranger stellt. Sollten Sie tatsächlich irgendwo einen Rest von politischer Vernunft, einen Rest von Verantwortung für dieses Land entdeckt haben? Falls ja, dann sollten Sie allerdings auch gleich den nächsten Schritt gehen und sich von der E-Mobilität und der Energiewende verabschieden; denn auch diese Ideologieprojekte führen nirgendwohin – außer in eine lange, totale Sackgasse.
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Den Mut, auch diese Wahrheiten auszusprechen, werden Sie allerdings wohl eher nicht haben; denn diesen Mut haben nur wir, die AfD: die Partei der arbeitenden Menschen.
Vielen Dank
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Vielen Dank, Herr Kollege Ehrhorn. – Nächster Redner ist der Kollege Gustav Herzog, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum gibt es diese Aktuelle Stunde?
({0})
Es geht um Gefühle,
({1})
– ja, Gefühle –, um Liebesentzug. Die Grünen leiden unter Liebesentzug.
({2})
Da geht ein Funktionär der Grünen in den Wald nach Hessen und wird beschimpft.
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Und die Frau Neubauer verkündet: Fridays for Future sieht nicht automatisch nur die Grünen als ihre Partei.
({4})
Da geraten Ihre Parteivorsitzenden in Panik, fallen in ein verkehrspolitisches Koma und verkünden: Wir hören auf mit dem Straßenbau.
({5})
Kommen Sie wieder zurück in die Realität. Ich könnte hier jetzt in fünf Minuten 20 Jahre Verkehrspolitik runterbeten.
({6})
Aber ich will kurz an den Bundesverkehrswegeplan 2003 erinnern, bei dessen Ausarbeitung ich die Ehre hatte, dabei zu sein. Den haben wir zusammen mit den Grünen gemacht.
({7})
Wir haben damals ein Ökosternchen eingeführt,
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eine besondere naturschutzfachliche Überprüfung für Projekte des Vordringlichen Bedarfs, und da war die A 49 dabei. Dann haben wir diese besondere naturschutzfachliche Prüfung vorgenommen. Das Ding war erledigt, die Grünen haben zugestimmt, dass es in den Vordringlichen Bedarf kommt, und in der Zwischenzeit wird fleißig gebaut.
Damals habe ich mit dem Kollegen Albert Schmidt, verkehrspolitischer Sprecher, viel zu tun gehabt
({9})
und habe ihn als Kollegen sehr schätzen gelernt. Er hat 2004 in großer Voraussicht, dass sich die Grünen bis heute nicht geändert haben, zusammen mit Fritz Kuhn und Michaele Hustedt ein Papier veröffentlicht, aus dem „Der Spiegel“ wie folgt zitiert: Verkehrsvermeidung als Programm, Reiselust als Handlungsalltag, das ist die Lebenslüge, das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit, welche das schlechte Gewissen wegen der ausbleibenden Verkehrswende ausmacht.
Das ist Ihr Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit:
({10})
Hier die großen Ideologen spielen, und in den Ländern, wo Sie Verantwortung tragen, machen Sie ganz pragmatisch Politik. Diesen Widerspruch zeigen wir Ihnen hier auf, und da kommen Sie nicht davon.
({11})
Was mich ärgert, ist, dass Sie uns hier hinstellen, als würden wir wirklich in der Vergangenheit festhängen.
({12})
Schon der Bundesverkehrswegeplan 2003 war ein integrierter. Der 2030er hat erstmals Erhalt vor Neubau gestellt.
({13})
Wir haben die Weichen im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur neu gebaut, sondern auch neu gestellt.
Auch darüber hinaus sind wir dabei, diese Politik zu ändern. Der Bundesverkehrswegeplan ging noch von einer Prognose aus, nach der wir bauen. Jetzt sagen wir: Nein, wir legen in der Schiene einen Fahrplan fest und bauen danach die Infrastruktur. – Wir bewegen uns, nur Sie bleiben Ihrer Antiautopolitik verhaftet. Darüber sollten Sie mal kräftig nachdenken.
({14})
Wir haben mit der Überschrift dieser Aktuellen Stunde auch den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Verkehr hergestellt. Es lohnt sich, mal in eine Statistik reinzuschauen, die den Lkw-Maut-Fahrleistungsindex der Wirtschaftskraft gegenüberstellt.
({15})
Das können Sie hier nicht sehen, sich aber auf der Webseite des Statistischen Bundesamts anschauen. Es gibt da einen klaren Zusammenhang, der allerdings über die Strecke geringer wird – das ist Erfolg unserer Politik –: Wir entkoppeln.
({16})
Wir machen das aber auf einem Weg, auf dem unsere Volkswirtschaft erhalten bleibt und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ihrer Arbeit kommen, die Menschen zu ihrem Arzt kommen und auch in den Urlaub fahren können.
({17})
Auf die vielen Widersprüche ist schon hingewiesen worden. Auch die Grünen in Rheinland-Pfalz wollen, dass die A 1 im Lückenschluss gemacht wird; der Kollege Luksic hat darauf hingewiesen.
Es gibt aber ein Projekt in Rheinland-Pfalz, bei dem ich den Eindruck habe, Herr Bundesminister, da sitzt irgendwie so ein grüner Frosch bei Ihnen im Ministerium.
({18})
Auf der A 61 stand ich letztens wieder an einem ganz normalen Wochentag mittags in einem Stau wegen Überlastung.
({19})
Das war im Abschnitt Autobahnkreuz Frankenthal bis Landesgrenze von Baden-Württemberg. Da haben wir seit 2015 in dem oberen Abschnitt Baurecht, seit 2018 in dem anderen Abschnitt. Vergessen Sie das mit ÖPP! Lassen Sie uns das morgen konventionell bauen! Ich lasse mich dann gerne von den grünen Kollegen als Betonpolitiker beschimpfen.
({20})
Ich finde, das ist eine gute Sache. Machen wir das zusammen!
Vielen Dank.
({21})
Vielen Dank, Herr Kollege Herzog. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Markus Uhl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie der Titel dieser Aktuellen Stunde schon besagt, ist die Mobilität Rückgrat unseres Wohlstands. Mobilität ist der Motor unserer Wirtschaft und Ausdruck unserer Freiheit. Sie schafft Wohlstand und ist die Lebensader für einen reibungslosen Personen- und Warenverkehr.
Deutschland ist auch Transitland im Herzen Europas. Deshalb sind wir auf gute und gut ausgebaute Verkehrswege angewiesen. Deshalb sind Baustopps für Autobahnen und Bundesstraßen lebensfremd. Sie führen dazu, dass insbesondere die Menschen im ländlichen Raum abgekoppelt werden. Ein Baustopp zementiert Staus und verursacht Umweltschäden. Wie wollen Sie denn den Menschen erklären, die an der stark befahrenen Bundesstraße wohnen, wo mehr als 20 000 Autos täglich an ihnen vorbeifahren, davon mehrere Tausend Lkw, dass sie weiter in dem Lärm, in dem Dreck, bei den Emissionen wohnen bleiben sollen, weil die seit Jahrzehnten herbeigesehnte Ortsumgehung oder der Autobahnzubringer jetzt einfach nicht mehr gebaut wird? Das ist ein Schlag, meine Damen und Herren, ins Gesicht der Menschen, die dort leben müssen.
Diese Situation haben wir hundertfach in Deutschland, nicht nur in Hessen – in Hessen im Bereich der B 3, wo die A 49 Entlastung bringen soll –, sondern auch bei mir im Wahlkreis, im Saarland, an der B 423 und an anderen Bundesstraßen.
Wenn Sie jetzt die Überprüfung von Baumaßnahmen mit Blick auf die Klimaziele, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit fordern, dann kann ich nur sagen, meine Damen und Herren: Beschäftigen Sie sich mal damit, wie Straßenbau heute wirklich in Deutschland funktioniert! Am Anfang gibt es nämlich ganz detaillierte Verkehrsanalysen.
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Das ist die Grundlage für die Bedarfsermittlung. Dann folgen Untersuchungen hinsichtlich verkehrlicher und physikalischer Wirkungen möglicher Varianten.
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Kriterien sind dabei auch der Kraftstoffverbrauch und die Emissionen. Es erfolgt eine intensive umwelt- und naturschutzfachliche
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– hören Sie mal zu, dann lernen Sie noch was! – Bewertung des Projektes. Schließlich wird ein Kosten-Nutzen-Verhältnis ermittelt, meine Damen und Herren, und nur wenn dieser Wert positiv ist, wird das Projekt überhaupt weiterverfolgt.
Alle Belange werden in diesem Prozess sorgsam abgewogen und im Zweifel in vielen Gutachten separat bewertet. Alle Träger öffentlicher Belange und die Öffentlichkeit werden angehört und beteiligt, und es gibt die Möglichkeit der rechtsstaatlichen Überprüfung. Das, was Sie hier fordern, nämlich der Baustopp, ist einmal mehr Ausdruck des ideologischen Kampfs gegen das Automobil als Verhinderer- und Dagegen-Partei, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen Planungsbeschleunigung statt Baustopp. Wir brauchen moderne Mobilität statt Baumoratorium.
Was tut unsere CDU/CSU-geführte Bundesregierung? Wir haben das Klimaschutzprogramm 2030 aufgelegt. Wir führen den nationalen Brennstoffemissionshandel ein. Wir haben den Masterplan Ladeinfrastruktur. Wir haben mehrere Maßnahmen zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren hier in diesem Hause beschlossen. Wir fördern technologieoffen die Entwicklung sowohl von regenerativen Kraftstoffen als auch von synthetischen Kraftstoffen. Wir haben die Nationale Wasserstoffstrategie mit mehr als 9 Milliarden Euro aufgelegt. Wir haben die Mittel für den Radverkehr massiv erhöht. Wir digitalisieren den Verkehr: Wir verknüpfen Individualverkehr mit ÖPNV mit intelligenter und verkehrsträgerübergreifender Steuerung. Wir haben die Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzmittel auf über 1 Milliarde Euro erhöht und die Regionalisierungsmittel für die Länder für den ÖPNV auf 11,6 Milliarden Euro gesteigert, meine Damen und Herren. Das sind konkrete Maßnahmen, die Mobilität vor Ort stärken.
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Wir haben auch ganz aktuell ein neues Programm zur Förderung der E-Mobilität aufgelegt: Bei der KfW kann man ab 24. November 900 Euro für die Einrichtung privater Ladestationen bekommen. Aber ich sage auch – da Sie ja Tesla-Fahrer sind, wie Sie eben immer betont haben –: Auch E-Autos brauchen Straßen, auf denen sie fahren können.
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Meine Damen und Herren, wir stehen für nachhaltige Mobilität, mehr Mobilität bei weniger Emissionen. Wir brauchen intelligentes Vorgehen mit Innovation statt ideologischer Verbote und Baustopps.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Uhl. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion.
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80 Milliarden Euro. – Herr Präsident! Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Im letzten Jahr haben wir in den 521 000 Staustunden auf unseren Straßen einen volkswirtschaftlichen Schaden von 80 Milliarden Euro verursacht.
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20 Prozent davon resultieren aus den Baustellen, Herr Minister, die wir einfach mehr machen, um mehr zu ertüchtigen, um mehr zu bauen. Wir sind aber auch schneller geworden, herzlichen Dank dafür. Die Baustellen sind eben nicht mehr wochenlang nicht bedient, sondern dort wird an sechs Tagen die Woche gearbeitet. Es wird in der gesamten Zeit gearbeitet, in der wir Tageslicht haben. Darum werden sie auch schneller fertig, und die renovierten Straßen stehen schneller der Allgemeinheit zur Verfügung.
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Der Hauptgrund, liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese Staus sind aber Kapazitätsprobleme. Ein sofortiger Stopp von Aus- und Neubau manifestiert diese Kapazitätsprobleme auf Jahre. Warum fordern Sie das jetzt? Ich kann nur spekulieren.
Das Erste, was Sie wollen, ist Vermeidung von Verkehren. Wir liegen aber im Herzen Europas. Sechs von neun transeuropäischen Strecken führen durch Deutschland, 20 Prozent der Güterverkehre auf unseren Straßen sind Transitverkehre; die können wir gar nicht vermeiden. Und die anderen Verkehre? Wie wollen wir das machen? Ich habe hier schon mal gesagt: Ich brauche keinen Joghurt aus dem Allgäu – ich entschuldige mich bei allen aus dieser Region –, wir haben in Norddeutschland hervorragenden Ökojoghurt; der reicht mir völlig aus.
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Aber wir können ihn, wenn wir keine Planwirtschaft haben – ich sage hier ganz deutlich für die SPD: wir wollen keine Planwirtschaft –,
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den Menschen eben nicht verbieten.
Zweite Möglichkeit: Verlagerung der Verkehre auf die Schiene. Super Idee, wollen wir auch, ganz toll. Aber schauen wir uns doch mal an, ob das geht. Sie suggerieren der Öffentlichkeit, dass es jetzt eine Alternative gäbe zu dem Straßenverkehr, und die lautet Schiene. Das stimmt so nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen,
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und zwar weder für den Personenverkehr – wir können in meine Region Lüneburg/Hamburg schauen: da könnten wir doppelt so viel Nahverkehrszüge einsetzen, schaffen wir aber nicht, weil die Strecke nämlich voll ist – noch für den Güterverkehr.
Ich habe mir mal die Karte mit den Streckenauslastungen der Schiene in Deutschland geholt. Rot ist überlastet: der gesamte Hafenhinterlandverkehr, Frankfurt, Nürnberg, Mannheim, München. Blau ist ausgelastet: die Strecken um Hamburg, Magdeburg, Leipzig, Frankfurt, das gesamte Rhein-Main-Gebiet, Mannheim in Richtung Basel, Stuttgart, München in Richtung Österreich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahrheit ist: Es gibt heute keine Alternative. Die Verlagerung auf die Schiene ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich.
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Aber das interessiert Sie überhaupt nicht. Sie wollen lediglich Schlagzeilen produzieren. Eine ganzheitliche Verkehrspolitik ist gar nicht in Ihrem Sinne. Eine ganzheitliche Verkehrspolitik – das hat der Kollege Herzog nämlich gesagt – haben wir mit dem Bundesverkehrswegeplan 2030 gemacht, wo es zum ersten Mal einen Umweltbericht gegeben hat, wo wir zum ersten Mal eine Netzwirksamkeit betrachtet hatten – also: wie verhalten sich die Baumaßnahmen auf der Straße zu der Schiene? – und wo wir zum ersten Mal alle Schienenprojekte, die wirtschaftlich waren, in den Vordringlichen Bedarf gehoben haben, übrigens ganz entgegengesetzt zu der Straße, da haben wir nämlich ein Limit gemacht, bei der Schiene nicht.
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Wir setzen das auch um.
Der Kollege Hofreiter versucht hier, uns zu unterstellen, wir würden das nicht umsetzen, und nimmt sich – ich habe mir die Zahlen kommen lassen, Herr Hofreiter –
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als Beispiel das einzige Jahr heraus, 2019, wo keine großen Schienenprojekte fertig geworden sind.
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Ich bringe Ihnen andere Zahlen, Herr Hofreiter. 2018: Wie viel Schiene ist denn 2018 fertig geworden? 286 Kilometer neue Schiene sind 2018 in Betrieb genommen worden.
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Das ist dreimal so viel wie Straßenkilometer in dem Jahr. 2017 waren es 213 Kilometer. Warum bringen Sie das einzige Jahr mit null als Beispiel?
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Das hat nichts mit Sachlichkeit zu tun, das hat was mit Polemik zu tun.
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Wir werden weitermachen. Wir werden weiter die Schiene ausbauen, und wir werden es vernünftig machen. Wir werden es mit Bürgerbeteiligung machen. Wir werden hier im Bundestag zusätzliche Gelder für Entlastungsmaßnahmen beim Lärmschutz geben.
Ich werde Ihnen sagen, wozu das führt: Das führt dazu, dass der Bundesverkehrswegeplan 2030 der letzte Bundesverkehrswegeplan war, bei dem es große Straßenneubauprojekte gab, und es wird der letzte Bundesverkehrswegeplan mit 49 Prozent Ausgaben für die Straße sein.
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Dafür legen wir jetzt eine Grundlage, und das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist auch gut so.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der schleswig-holsteinische Abgeordnete Gero Storjohann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche haben wir an 30 Jahre Wiedervereinigung erinnert. Einige haben hier schon von 1960 gesprochen; aber 1990 hatten wir gerade in Schleswig-Holstein eine Verkehrssituation, die von Nord-Süd-Verbindungen geprägt war: von Jütland über Hamburg ins Ruhrgebiet. Aber es gab keine Ost-West-Verbindung, weder bei der Schiene noch bei der Straße. Das gilt es eigentlich aufzuholen.
Das ist im ersten Bundesverkehrswegeplan 1992 auch versucht worden. Es gab vom Land Schleswig-Holstein keine Anmeldung; die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat die A 20 im Vordringlichen Bedarf angemeldet, und so ist es auch erfolgt. Ich bin seit 2002 Mitglied dieses Hauses. Mit dem Kollegen Herzog haben wir 2003 auf unterschiedlichen Seiten den Bundesverkehrswegeplan beschlossen.
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Auch da stand die A 20 wieder im Vordringlichen Bedarf.
Was damals nicht richtig lief, ist, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ nur bis Lübeck führten und nicht bis zur Elbe weitergeführt wurden. Da waren die Bayern etwas schlauer; sie haben die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ weit ins bayerische Land geführt. Da hatten wir Probleme in der Umsetzung. Zuletzt wurde 2009 ein Abschnitt der A 20 bis Geschendorf eröffnet.
Jetzt muss ich lesen, dass der ehemalige Umweltminister von Schleswig-Holstein, Robert Habeck, sagt: Wir wollen ein Moratorium. – Er hat die A 20 davon nicht ausgenommen; sie hat er mit eingeschlossen. Robert Habeck wohnt in Flensburg. Wenn er nach Berlin fährt, fährt er wahrscheinlich nicht mit dem Auto. Er fährt mit dem Zug nach Hamburg, und dann fährt er an allen Problemen vorbei, die man als Pendler oder Handwerker morgens hat: Man steht nicht auf der Autobahn im Stau, sondern auf Bundesstraßen und Kreisstraßen. Das ist unser Problem im Großraum Hamburg. Das wollen wir als Union lösen, und das wollen wir mit der A 20 lösen.
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Es kann sein, dass man sich im Rhein-Main-Gebiet daran gewöhnt hat, alle 20 Kilometer eine Brücke über den Rhein zu haben. Bei uns haben Sie nach 50 oder 70 Kilometern eine Brücke über die Elbe. Das heißt, es gibt Nadelöhre, und das Nadelöhr ist Hamburg. Wenn wir das entlasten wollen, brauchen wir eine Umgehung, und wir brauchen eine zusätzliche Elbquerung bei Glückstadt.
Was ich Robert Habeck übel nehme, ist, dass er Schleswig-Holstein so hängen lässt. Er sagt: Auch bei Bundesstraßen können wir ein Moratorium machen. – Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahrzehnten wir die Bundesstraße B 5 im Westbereich verlängern wollen.
Ich glaube, aus Verkehrssicherheitsaspekten ist es wichtig, nach einer halben Stunde mit dem Auto eine Autobahn zu erreichen – über Kreisstraßen oder Bundesstraßen. Es gibt Abschnitte in Deutschland – in Niedersachsen, aber auch an der Westküste in Schleswig-Holstein –, in denen man das nicht erreicht. Dabei hilft das Projekt A 20. Das kaputt zu machen und zu sagen: „Das stelle ich infrage“, nehme ich ihm persönlich übel.
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Er hat den Koalitionsvertrag 2017 in Schleswig-Holstein unterschrieben, in dem steht, dass das Projekt kommen soll. Wie kann man so etwas sagen? Oder sagt er das einfach nur so, und keiner von seinen Kollegen rettet ihn?
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Nein. Ich höre hier: Genau das ist das, was Sie wollen. – Dem Klimaschutz wird kein bisschen dadurch gedient, dass wir nicht bauen.
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Es wird dadurch weiterhin gefahren, und zwar eher im Stau.
Das diskutieren wir hier kontrovers. Ich freue mich, dass wir heute nach langer Zeit mal wieder diese kontroverse Debatte hatten. Es wurde deutlich, wer wo steht,
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wer für Pendler ist, wer für Handwerker ist, wer für die Entwicklung von Regionen eintritt. Das ist auf alle Fälle die Union. Uns haben Sie an der Seite.
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Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. – Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Alois Rainer, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der ewige Feldzug der Grünen gegen das Auto hat einen neuen Höhepunkt erreicht.
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Wenn man schon das Auto nicht generell verbieten kann, dann müssen jetzt die Straßen dran glauben, und ohne Straßen ist kein Autofahren möglich;
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ganz simple Rechnung von Ihnen von den Grünen.
Für die Grünen ist das Auto offenbar die Wurzel allen Übels. Für uns und für viele Pendler ist es der Kern unseres Wohlstandes. Das Autofahren ist für Millionen Pendler jeden Tag eine absolute Notwendigkeit. Die Straßen bedeuten Teilhabe und Wohlstand für Millionen von Bürgern in unserem Land. Und, nicht zu vergessen, die Autoproduktion sichert Arbeitsplätze von Tausenden von Menschen. Ich kann guten Gewissens sagen: Die heutigen Autos sind die sichersten und saubersten Autos, die wir jemals gehabt haben.
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Mit dem von Ihnen geforderten Straßenbaumoratorium stellen Sie all das infrage. Individuelle Mobilität ist kein Privileg, das die Grünen den Menschen einfach wegnehmen können, sondern ein Grundrecht, das wir entschlossen verteidigen müssen. Statt über einen Baustopp zu debattieren, sollten wir darüber reden, den Ausbau noch schneller voranzutreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, auch ein Elektroauto kann noch nicht fliegen. Baustopp bedeutet Stau und Umweltschäden!
Meine Damen und Herren, Deutschland liegt im Herzen Europas und ist ein wichtiges Transitland. Der Bau von wichtigen Verkehrsadern ist notwendig. Nur so können wir den freien Warenverkehr und Personenverkehr gewährleisten, und nur so können wir Wachstum generieren. Hinzu kommt, dass viele Menschen auch auf das Auto angewiesen sind, insbesondere im ländlichen Raum. Straßen sind daher auch in Zukunft unverzichtbar für unsere Wirtschaft und die dazu notwendige Mobilität.
Anlass der Grünen, ein Moratorium für neue Autobahnen und Bundesstraßen zu fordern, ist insbesondere der Weiterbau der A 49 in Hessen. Dabei wird so getan, als würde dieses Verkehrsprojekt gegen jede Vernunft und an den Interessen der Menschen vorbei realisiert. Dies, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eben nicht richtig. Die A 49 mit dem sogenannten Lückenschluss und dem Anschluss an die A 5 ist eines der wichtigsten Straßenverkehrsprojekte in Hessen. Mit der weiteren Nord-Süd-Route werden Kapazitätsengpässe auf der überlasteten A 7 und der A 5 abgebaut und somit auch Unfallgefahren reduziert.
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Das nachgeordnete Netz, vor allem die Ortsdurchfahrten, werden vom überregionalen Verkehr deutlich entlastet. Das Projekt bietet darüber hinaus bessere Erschließungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für die Kommunen und die gesamte Region. Die hessische Landesregierung hat zudem zugesichert, darauf zu achten, dass der Wald, der für den Ausbau gefällt werden muss, an anderer Stelle – der Minister hat es treffend gesagt – ersetzt wird, dass auf 750 Hektar aufgeforstet wird. Auch an Maßnahmen zur Umsiedlung von geschützten Tierarten wurde gedacht.
Meine Damen und Herren, die Menschen vor Ort leiden schon lange unter der Durchfahrung ihrer Orte. Durch den Ausbau der Straßen wollen wir die Dörfer von Verkehr, Lärm und Schmutz entlasten. Es ist wichtig, dass etwas für die Menschen in den Ortschaften getan wird.
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Den Menschen zu helfen, genau darum geht es beim Weiterbau der A 49. Aber das interessiert die Gegner dieses Projekts relativ wenig; die meisten kommen gar nicht aus dieser Region. Ihnen geht es nur darum, einen grundsätzlichen Feldzug gegen das Auto und gegen neue Straßen zu führen, ähnlich wie die Grünen das auch tun.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir eine solche Engstirnigkeit nicht zu! Nehmen wir stets Menschen, Unternehmen und Klimaschutz gleichermaßen in den Blick; neben Bussen, Bahnen, Fahrrädern gehört auch das Auto dazu. Es kann in Zukunft noch sicherer, noch emissionsärmer, noch besser werden. Wir wollen Lebensqualität und Umweltschutz zusammenbringen.
Herr Rainer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, sofort.
Nein, nicht sofort. „Sofort“ heißt: sofort. Sie sind 30 Sekunden über die Zeit.
Danke. – Es liegt an uns, lassen Sie uns daran weiterarbeiten.
Danke schön.
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Die Aktuelle Stunde ist damit beendet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Alle fünf Jahre legt das Statistische Bundesamt neue Daten über das Ausgabeverhalten in Deutschland vor, die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, EVS. Auf dieser Grundlage müssen die Regelbedarfe sowohl im Sozialgesetzbuch II, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, und im Sozialgesetzbuch XII, der Sozialhilfe, und auch die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz neu festgelegt werden. Es geht also um die Weiterentwicklung der Grundsicherung. Auf diese Grundsicherung können sich die Menschen verlassen. Das hat sich auch und gerade in der Coronapandemie gezeigt,
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und weiterhin gilt, dass die Grundsicherung pünktlich von den Jobcentern ausgezahlt wird. Darauf können sich die Menschen, die Hilfe brauchen, verlassen.
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Drei Punkte sind mir in diesem Gesetzentwurf ganz besonders wichtig:
Erstens. Mit dem von der Bundesregierung hier eingebrachten Entwurf für ein neues Regelbedarfsermittlungsgesetz halten wir an dem bisherigen Verfahren fest. Dieses wurde auch 2014 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Damit stellen wir sicher, dass die sozialen Sicherungssysteme auch in Krisenzeiten ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren und dass sie ein Mindestmaß an Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen. Aber es handelt sich bei dem hier vorliegenden Gesetzentwurf nicht einfach nur um ein Weiter-so, sondern um eine sorgfältige Prüfung der EVS-Daten.
Zweitens. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf haben wir im Unterschied zu den beiden vorausgegangenen Regelbedarfsermittlungen der Jahre 2011 und 2017 eine wichtige Weiterentwicklung vorgenommen. Wir halten damit Schritt mit den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen: Es gibt nämlich mehr Geld für Kommunikation, weil erstmals auch die mobile Kommunikation, also Handykosten, berücksichtigt werden.
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Bislang wurden ausschließlich die Verbrauchsausgaben für eine Flatrate für Festnetzanschlüsse von Telefon und Internet berücksichtigt. Das entspricht nicht mehr dem Standard, und deshalb werden künftig sämtliche Kommunikationsausgaben berücksichtigt. Das ist nicht nur zeitgemäß, sondern wirkt sich auch unmittelbar und sehr deutlich erhöhend auf die Regelbedarfe aus.
Drittens. Wir berücksichtigen die aktuellen Preis- und Lohnentwicklungen. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf steigen die Regelbedarfe bereits deutlich. Die letzte Stufe der Fortschreibung bis zum Inkrafttreten am 1. Januar nächsten Jahres ist dabei aber noch gar nicht enthalten; denn erst jetzt liegen die dafür notwendigen aktuellen Daten vor. Deshalb wird es noch einmal deutliche Erhöhungen der Regelsätze geben. Wir berücksichtigen mit dieser Fortschreibung die aktuelle Entwicklung der Preise und Einkommen bis einschließlich Juni 2020; das ist wichtig, weil damit die Preissteigerungen, die es während der Coronapandemie gegeben hat, berücksichtigt werden. Die Mehrwertsteuersenkung ab 1. Juli dieses Jahres wird allerdings nicht berücksichtigt, und deshalb ergeben sich hier Fortschreibungen, sprich: Erhöhungen; das soll durch einen Änderungsantrag in den Ausschussberatungen eingefügt werden.
Danach werden die Regelbedarfe zum 1. Januar 2021 für alle sechs Regelbedarfsstufen ansteigen. Das heißt zum Beispiel konkret, dass sich der Regelbedarf für Alleinstehende um 14 Euro auf 446 Euro erhöht. Vor allem – das ist mir wichtig zu betonen – sind diese neuen Regelsätze für die Kinder hilfreich. So erhalten 14- bis 17-jährige Kinder künftig 45 Euro mehr – das entspricht einer Erhöhung um 14 Prozent –, und auch für die unter 6-jährigen Kinder gibt es mit 33 Euro mehr eine deutliche Erhöhung von 13 Prozent. Das ist besonders für die Kinder eine deutliche Erhöhung. Die Grundsicherung wird mit diesem Gesetz nicht nur weiterentwickelt und deutlich erhöht – übrigens so hoch wie noch nie –, vielmehr ist sie weiterhin krisenfest.
Ich bitte Sie deshalb um gute Beratung und um Unterstützung des vorliegenden Gesetzentwurfs, damit die Grundsicherung, wie geplant, zum 1. Januar 2021 erhöht werden kann. Die Grundsicherung ist als soziale Sicherung für Menschen, die Hilfe brauchen, ein guter und wichtiger Pfeiler unseres Sozialstaates. Wir sollten sie nicht schlechtreden, sondern weiterentwickeln.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin! – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer an den TV-Geräten! Heute debattieren wir den Gesetzentwurf der Regierung zur Ermittlung der Regelbedarfe für Menschen, die Hartz IV beziehen, die auf Unterstützung nach dem SGB XII, also auf Sozialhilfe, angewiesen sind, und für 1,77 Millionen Asylbewerber, die die Vorzüge des deutschen Sozialsystems zu schätzen wissen.
Eine Anpassung der Regelbedarfe im SGB II und SGB XII ist längst überfällig. Dennoch tue ich mich schwer, die sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, kurz EVS genannt, als sinnvollen Maßstab zu akzeptieren. Sie spiegelt mitnichten die tatsächlich erforderliche Höhe der einzelnen Positionen der Regelbedarfe wider. Während zur früheren Erhebung noch der klassische Warenkorb als Referenzgröße genutzt wurde, ist die EVS eine nackte statistische Größe, die rein gar nichts mit der Realität an der Supermarktkasse zu tun hat.
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Des Weiteren ist es dieser Statistik bzw. der Zeitspanne, die es braucht, diese Statistik zu erstellen, zu verdanken, dass die Regelbedarfe für das Jahr 2021 auf einer Datenerhebung aus dem Jahr 2018 basieren sollen. Da können sich unsere Hartz-IV-Empfänger glücklich schätzen, dass die Jahre 2018, 2019 und 2020 relativ geringe Inflationsraten im Schnitt von 1,2 Prozent aufwiesen, sodass die mühselig ermittelten Regelbedarfe noch einigermaßen up to date sind. Dennoch erstellt das Ministerium von Herrn Heil hier eine Grundlage, die schon vor Inkrafttreten des Gesetzes veraltet ist.
Das Problem bei Ihrem Gesetzentwurf ist wieder einmal die Vermischung unterschiedlichster Gewerke auf einer großen Baustelle. Kein Architekt käme auf die Idee, Elektrikerleistungen zusammen mit dem Dachstuhl auszuschreiben und zu vergeben. Aber genau das machen Sie hier. Sie packen Hartz IV, Sozialhilfe und das Asylbewerberleistungsgesetz in eine Box, schütteln kräftig und heraus kommt eine Melange,
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die niemandem wirklich schmecken wird – außer den Flüchtlingen, die sich über ein üppiges Taschengeld freuen werden.
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Genau hier setzt unser Antrag „Taschengeld für die in Heimen lebenden Bürger“ an.
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Es kann nicht sein, Herr Heil, dass Sie den 1,77 Millionen Flüchtlingen – herzlichen Dank an Frau Jelpke von den Linken für die genauen Zahlen – ein Taschengeld in Höhe von 153 Euro im Monat zahlen, aber circa 200 000 Heimbewohner mit 116,64 Euro abgespeist werden.
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Diese Heimbewohner sind Menschen in Altersheimen, angewiesen auf staatliche Unterstützung, Menschen in Behinderteneinrichtungen, für die das Bundesteilhabegesetz nicht greift – ein kleiner Kreis der Schwächsten unserer Bevölkerung, die wieder einmal durch das Raster fallen sollen.
Natürlich – Herr Heil, da gebe ich Ihnen absolut recht – fühlt sich der Sozialdemokrat als solcher besser, wenn er üppig das Geld anderer Leute verteilen kann. Aber erklären Sie mir bitte, warum Sie diese relativ kleine und überschaubare Personengruppe schlechterstellen wollen! Weil sie keine Lobby haben? Weil sie sich nicht lautstark beschweren? Oder weil sie Ihnen schlichtweg egal sind?
Mir und meiner Partei sind diese Menschen nicht egal. Als behindertenpolitischer Sprecher meiner Fraktion fühle ich mich besonders verpflichtet, unseren Bürgern mit Behinderung die Möglichkeit auf ein freies und selbstbestimmtes Leben zu geben. Und dazu gehört auch ein Barbetrag, und zwar, wie es früher so treffend hieß, ein Barbetrag zur persönlichen Verfügung. Ich nenne es „Taschengeld“.
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Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Unsere Forderung, die Höhe dieses Taschengeldes auf 36 Prozent des Regelsatzes festzulegen,
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ist nichts anderes als die Gleichstellung der Menschen, die vergessen und verdrängt von den Medien und Lobbyisten der Asylindustrie ihr Leben in deutschen Heimen fristen.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Witt.
Noch einmal die dringende Bitte, bis zum Pult die Maske zu tragen und sie auch nach der Rede wieder aufzusetzen. Wir üben das einfach noch. Ich sehe aber auch, dass einige Kolleginnen und Kollegen den Saal betreten oder verlassen und die Mund-Nase-Bedeckung unterhalb der Nase tragen. Dieses Gerät heißt „Mund-Nase-Bedeckung“, weil die Nase auch bedeckt werden soll.
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Ich will nur darauf hinweisen. Das hat schon seinen Sinn.
Nächster Redner ist der Kollege Tobias Zech, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zwei grundsätzliche Anmerkungen machen, bevor ich über das Gesetz spreche. – Wir sprechen hier über die Grundsicherung im SGB XII. Das heißt, wir gehen heute – die Staatssekretärin hat, der Kürze der Zeit geschuldet, sehr schnell die Technik vorgestellt – an die Grenze; denn wir diskutieren alle fünf Jahre darüber, was wir als Parlament und Regierung als das Minimum ansehen, das wir in diesem Sozialstaat Deutschland zum Leben brauchen. Das Minimum! Dieses Minimum muss für alle gelten, die sich auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland befinden.
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Das gilt für die Bezieher von Grundsicherung im Alter. Das gilt auch für die Arbeitsuchenden, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Das gilt aber natürlich auch für die Asylbewerber, die Migranten und die Nichtdeutschen, die auf deutschem Grund und Boden leben. Wir sprechen hier über das Minimum, den untersten Betrag, den wir als Staat jedem zugestehen.
Das ist eine Debatte, die mir auch immer wieder in Erinnerung ruft, welche Verantwortung wir Abgeordnete hier haben. Es gibt sicherlich Gesetze, die in keinster Weise diese Dynamik und diese Auswirkungen haben wie das, über das wir heute sprechen, das zudem so viele Personen betrifft, nämlich fast 6 Millionen im Regelkreis und durch die damit verbundene Neunivellierung der Steuerfreibeträge quasi alle Deutschen, die noch Einkommensteuer zahlen, somit ein Gesetz, von dem ganz viele Personen betroffen sind.
Wir führen keine reine sozialpolitische Debatte, wir führen hier auch definitiv keine finanzpolitische Debatte, sondern wir führen hier vor allem eine ordnungspolitische und werteorientierte Debatte, wenn wir über das Existenzminimum und die Grundsicherung sprechen. Das zu sagen, ist mir wichtig.
Wichtig ist mir auch – ich weiß, dass wir, wenn wir jetzt in die Beratungen gehen, über Systemwechsel, über Höhen, über die Kugel Eis und den Christbaumschmuck diskutieren werden –: Wir leben in einem der besten und sichersten Sozialstaaten der Welt. Wir haben unseren Sozialstaat sicher durch die Krise geführt. Wir können auch in Krisenzeiten immer noch pünktlich Grundsicherung überweisen. Wir haben ein soziales Netz, das international einen Benchmark darstellt und international zu den sichersten und besten der Welt gehört. Das gilt es hier auch mal zu betonen, wenn wir über Grundsicherung, SGB II und SGB XII, sprechen.
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Ich will auf ein paar Kriterien eingehen, die für mich wichtig sind, auch in der Beratung. Wichtig ist: Wir brauchen eine vernünftige Methodik, und wir brauchen eine saubere Transparenz in der Methodik. Das leistet die EVS. Wir können mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe in 60 000 Haushalten, die da mitmachen, feststellen, wie sich die Einkommen, aber auch wie sich die Ausgaben zusammensetzen. Einen Teil dessen nehmen wir transparent als Basis für die dann normative Berechnung und Bewertung der Regelsätze.
Und: Wir brauchen Rechtssicherheit. Das heißt: Wir haben aktuell ein Verfahren, das bei der Herleitung der Methodik transparent ist und das schon mehrfach angewandt, mehrfach höchstrichterlich begutachtet, beklagt und vom Bundesverfassungsgericht als „in Ordnung“ eingestuft worden ist. Ich kann nur davor warnen, vorschnell einen Systemwechsel zu fordern, der sich auch nicht umsetzen lässt.
Ein weiteres Thema ist die Frage der Existenzsicherung. Das heißt: Wie bewerten wir ebendieses Minimum und diese Verantwortung? Alle Regelsätze werden ab 2021 steigen, vor allem bei Jugendlichen zwischen 14 bis unter 18 Jahren; für sie gibt es mit 45 Euro die größte Steigerung. Mit der Fortschreibung zum 1. Januar entsteht ein Mehrbedarf von 1,3 Milliarden Euro. Das ist ein großer Betrag, der hier für die Fortschreibung aufgewendet wird. Er ist richtig angelegt, und er ist klug angelegt.
Ein letzter Punkt – Existenzsicherung, Rechtssicherheit und Transparenz habe ich angeführt – ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die, die im Regelkreis sind. Dann ist Gerechtigkeit nicht, die Grundsicherungsleistung so auszustatten, dass ich möglichst lange in der Grundsicherung bleibe, sondern dass wir alles daransetzen, dass wir die 4 Millionen Arbeitsuchenden aus der Grundsicherung herausbekommen und in den ersten Arbeitsmarkt bekommen,
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dass wir nicht darüber diskutieren, dass sie so lange wie möglich darin bleiben. Gerechtigkeit auch für die, die kurz über der Schwelle sind. Diese Transferleistungen müssen auch verdient werden. Es gibt Menschen im Land, die das mit Steuern finanzieren. Die finanzieren übrigens auch uns. Auch denen schulden wir übrigens Gerechtigkeit.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Es muss klar sein: Jeder, der in diesem Land arbeitet, muss mehr bekommen als jemand, der nicht arbeitet. Das muss klar sein. Wir brauchen ein Existenzminimum, das dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts und des Grundgesetzes gerecht wird. Ich freue mich auf die Debatte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Vorbildlich.
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– Ich meine nicht die Redezeit, sondern die Mund-Nase-Bedeckung.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute in dieser Debatte aus Anlass der Erhöhung der Hartz-IV-Gesetze zum 1. Januar 2021. Ich sage als Freier Demokrat und für meine Fraktion: Wir stellen die Berechnungsmethode ausdrücklich nicht infrage. Was wir allerdings an dieser Regierung kritisieren, ist, dass die zentrale Frage, um die es eigentlich in jeder Hartz-IV-Diskussion und bei jedem Gesetzesvorhaben zu Hartz IV gehen müsste, nämlich wie wir Menschen in Arbeit bekommen, bei dieser Regierung nie im Mittelpunkt der Diskussion steht. Das ist falsch und nicht der richtige Weg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die zweite Frage, die in dieser Regierung keine Rolle spielt, ist die Frage, wie wir es den Menschen, die arbeiten, deren Einkommen aber nicht zum Leben reicht und ihren Bedarf nicht deckt, ermöglichen, sich am Arbeitsmarkt zu qualifizieren und aufzusteigen, um Schritt für Schritt von dem Einkommen, das sie verdienen, selbstständig leben zu können. Auch diese zweite Frage spielt in dieser Regierung leider keine Rolle.
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Die dritte Frage, die in dieser Regierung keine Rolle spielt, ist, wie wir die Vererbung von Armut und Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Das geschieht, indem wir präventiv angreifen und die Kinder so stärken, dass der Einstieg in Ausbildung und Arbeit gelingt und dass sie diesen Weg für sich und ihre Zukunft erfolgreich gehen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die drei Herausforderungen, die eigentlich im Zentrum jeder Hartz-IV-Debatte stehen müssten, die bei dieser Regierung leider keine Rolle spielen.
Wir haben als Freie Demokraten einen Antrag vorgelegt, mit dem wir zeigen, wie man 300 000 Menschen in Arbeit bringen könnte. Dieses Modell, das wir vorgelegt haben und das 300 000 Menschen in Arbeit bringen könnte – das sagen nicht nur wir, das ist vom ifo-Institut nachgerechnet worden –, wirkt. Dieses Modell liegt schon seit einem Jahr vor.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rosemann, SPD-Fraktion?
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Ja, selbstverständlich.
Das ist auch gut für die Redezeit. Die wird in dieser Zeit angehalten.
Herr Kollege Kober, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich frage Sie: Wie kommen Sie eigentlich zu der Behauptung, es spiele in dieser Regierung keine Rolle, die Menschen aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II in Arbeit zu bringen?
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Diese Regierung hat in dieser Legislaturperiode den Eingliederungstitel um insgesamt 4 Milliarden Euro erhöht, nachdem eine Regierung, an der Sie beteiligt waren – die letzte, an der Sie beteiligt waren –, den Eingliederungstitel kaputtgespart hat.
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Herr Kollege Kober, ich frage Sie: Wie kommen Sie zu der Behauptung, es spiele für diese Regierung keine Rolle, Menschen aus dem SGB-II-Leistungsbezug in Arbeit zu bringen, wenn wir gleichzeitig vor zwei Jahren den sozialen Arbeitsmarkt geschaffen haben. Mit dem § 16i SGB II haben wir ein neues Instrument geschaffen, das Menschen unterstützt, die lange aus der Arbeit raus waren, die lange im Leistungsbezug waren, wieder Teilhabe durch Arbeit zu bekommen. Wir unterstützen sie durch begleitendes Coaching.
Wie kommen Sie zu dieser Behauptung, wenn diese Regierung dieses Instrument geschaffen hat und damit über 40 000 Langzeitarbeitslose in Beschäftigung gebracht hat? Ich frage mich: Wie kommen Sie zu dieser Behauptung, diese Regierung tue nichts dafür, Menschen wieder Teilhabe durch Beschäftigung zu geben? Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben den Eingliederungstitel aufgestockt. Wir haben neue Instrumente geschaffen. Wir haben die Qualität in der Vermittlung und Beratung gestärkt. Wir haben das begleitende Coaching eingeführt. Ich frage mich: Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?
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Lieber Herr Kollege Dr. Rosemann, vielen Dank für diese Frage. Sie gibt mir Gelegenheit, Sie von einem historischen Irrtum zu befreien.
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Wenn Sie einmal anhand der Zahlen des Haushaltes der Regierung der Wahlperiode 2009 bis 2013 nachvollziehen wollen, was ich jetzt sage, dann sind Sie dazu gerne eingeladen.
Die Regierung Schwarz-Gelb, 2009 bis 2013, hat im Jahr 2009 die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit auf das historisch höchste Niveau im Hartz-IV-System angehoben
({1})
und hat dann im Zuge des sich wieder belebenden Arbeitsmarktes, des Abflauens der Wirtschaftskrise, diese Mittel sukzessive zurückgefahren.
Sie sind in Ihrem Urteil Opfer der eigenen Parteiwahlkampfpropaganda. Lesen Sie einmal genau nach, wie Sie – nicht Sie persönlich, aber Ihre Kollegen – damals argumentiert haben.
({2})
Sie haben immer die Zahlen von 2010 bis 2013 genommen. Da sank der Eingliederungstitel, allerdings ist das unredlich, weil Sie immer mitbedenken müssen, dass diese Regierung den Eingliederungstitel im Jahr 2009 auf das historische Allzeithoch erhöht hat.
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Am Ende des Jahres 2013, Herr Dr. Rosemann, lag der Eingliederungstitel pro Kopf immer noch höher als zu dem Zeitpunkt, als Sie 2009 die Regierung an Schwarz-Gelb abgeben mussten.
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Herr Dr. Rosemann, das Zweite: Sie sprechen davon, dass Sie den Eingliederungstitel um 4 Milliarden Euro erhöht haben. Da müssen Sie aber auch ehrlicherweise dazusagen, dass diese 4 Milliarden Euro sich auf fünf Jahre erstrecken.
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Sie haben damit ein Instrument geschaffen, das wir, wenn Sie sich an die Debatte erinnern, auch nicht im Grundsatz kritisiert haben. Aber Sie haben ein Instrument geschaffen, von dem Sie von Anfang an selber gesagt haben, Sie wollen nur 120 000 Menschen erreichen, bei 2 Millionen Langzeitarbeitslosen.
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Wenn wir ein Konzept vorlegen, mit dem man zusätzlich 300 000 Menschen erreichen würde, und Sie dieses Konzept nicht übernehmen, dann sage ich Ihnen: Das ist unterlassene Hilfeleistung, dass Sie das nicht tun.
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Deshalb spielt das Schicksal der Langzeitarbeitslosen für Sie in Ihrer Politik eben keine beherrschende Rolle, und das kritisiere ich.
Die dritte Frage – bleiben Sie bitte stehen, Herr Dr. Rosemann –, auf die ich antworten möchte.
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– Gut. – Auch die Hartz-IV-Kinder spielen bei Ihnen keine Rolle; denn wir haben hier einen Antrag eingebracht, dass wir die Leistungen für Bildung auf 170 Euro erhöhen. Da haben Sie um jeden Euro geknausert.
Wir haben eingebracht, dass wir die Bildungs- und Teilhabeleistungen statt von 10 auf 15 auf 30 Euro erhöhen. Da haben Sie um jeden Euro geknausert. Wenn es um die Bildungschancen der Kinder geht, dann hat Hartz IV keine Lobby in dieser Bundesregierung. Das ist die Wahrheit, und das werde ich auch weiter so vertreten, Herr Dr. Rosemann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es darum geht, dass die Menschen mehr Geld in der Tasche haben, dann wäre es das Erste, dass wir die Zuverdienstgrenzen verbessern. Dann würden sie von ihrem eigenen selbstverdienten Geld einfach mehr behalten. Das wäre fair. Das wäre leistungsgerecht. Aber vor allen Dingen würde es vielen Menschen den Weg und den Aufstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen, und das wäre wichtig. Das wäre der richtige Weg. Dieses Konzept liegt Ihnen seit einem Jahr vor. Und Sie verweigern die Umsetzung, weil Sie eben kein Interesse haben an der Verbesserung der Situation der Menschen in diesem Land.
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Meine letzten 15 Sekunden möchte ich nutzen, meiner Wahlkreiskollegin Beate Müller-Gemmeke herzlich zu ihrem 60. Geburtstag zu gratulieren. Liebe Beate, alles, alles Gute
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und Gottes Segen für deinen künftigen Lebensweg.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kober. Das Alter spielt tatsächlich keine Rolle. Geburtstag hätte gereicht.
Insofern will ich darauf hinweisen: Ich rate dringend von weiteren Zwischenfragen ab, weil der Redner die Gelegenheit hat, seine Redezeit zu verdreifachen. Das ist natürlich eine gute Geschichte. Aber wenn wir das alle machen, ist erst um Mitternacht Schluss.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle bisherigen Bundesregierungen haben gezielt kleingerechnet, was der Mensch zum Leben braucht. Wir als Linke haben immer dagegengehalten; denn wir werden uns niemals mit millionenfacher Armut in diesem Land abfinden.
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Wenn die Regierung die Regelbedarfe in Sozialhilfe und Hartz IV kleinrechnet, dann verdonnert sie damit auch Rentnerinnen und Rentner, die auf Grundsicherung angewiesen sind, Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, und Alleinerziehende, die aufstocken müssen, zu einem Leben in Armut und materieller Entbehrung. Aktuell sind 7 Millionen Menschen direkt von der Höhe der Regelbedarfe betroffen. Umso ärgerlicher ist es, dass der aktuelle Sozialminister Hubertus Heil fast alle Methoden zum Kleinrechnen weiter anwendet und es nicht mal für nötig hält, heute hier persönlich vorm Parlament in Erscheinung zu treten.
({1})
Die Bundesregierung legt bei der Berechnung fest, dass Sozialleistungsbeziehende zum Beispiel kein Anrecht auf bestimmte Ausgaben haben. Eine Woche Campingurlaub mit der Familie, ein Weihnachtsbaum, Grabschmuck oder das Führen eines Autos auch im ländlichen Raum – alles nicht vorgesehen. Treffen mit anderen Menschen, so sie nicht komplett gratis sind, sind nicht vorgesehen. Wer zu einem Geburtstag eingeladen ist, möchte doch auch als Hartz-IV-Betroffener vielleicht gerne einen Strauß Blumen mitbringen – nicht vorgesehen. Wer sich mit Freunden in einem Café trifft, muss doch zumindest eine Tasse Kaffee bestellen können. Auch das ist im Regelsatz nicht vorgesehen. So treibt diese Regierung Hartz-IV-Betroffene in Vereinsamung und Isolation. Deren Leben schrumpft dann oft auf die eigene Wohnung zusammen, und das müssen wir ändern.
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Ebenfalls nicht vorgesehen ist übrigens Futter für Haustiere. Das heißt, wer in Hartz IV fällt und womöglich schon unter Vereinsamung leidet, muss dann entweder die Haustiere notentsorgen, notschlachten oder sich deren Futter vom Munde absparen. Eine Gesellschaft, in der Menschen, die schon unter Vereinsamung leiden, auch noch das Futter für Hund oder Katz sich vom Munde absparen müssen, geht vor die Hunde. Auch das müssen wir ändern.
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Es ist ein offenes Geheimnis, dass jede kleine Verbesserung im Bereich Hartz IV und Sozialhilfe für die Union ein No-Go ist und aufs Schärfste bekämpft wird. Insofern ist mit dieser GroKo kein Schutz vor Armut drin. Aber Hubertus Heil – und diesen Schuh muss er sich anziehen – hat nicht einmal versucht, seine Autorität als Sozialminister in die Waagschale zu werfen. Er hat ja nicht mal den öffentlichen Konflikt mit dem Koalitionspartner gesucht, um mehr für die ärmsten 7 Millionen Menschen im Lande herauszuholen. Damit stellt er sich als Sozialminister ein wahres Armutszeugnis aus. Die Ärmsten im Land haben von diesem Sozialminister nichts zu erwarten.
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Wir als Linke haben nachgerechnet: Wenn nur die offensichtlichsten Tricks wegfallen würden, müsste der Regelsatz monatlich bei 658 Euro liegen, plus Strom und Kosten der Unterkunft. Das wäre auch finanzierbar. Um die Ärmsten aus der Armut zu holen, müssen wir einfach Millionenvermögen und Millionenerbschaften stärker besteuern.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kipping.
({0})
– Schön, dass Sie selbst aufpassen. Es freut mich wirklich. Ich habe diese Allgemeinverfügung nicht erlassen; aber wir sollten sie alle befolgen.
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– Weil Rechtsetzung gilt, solange sie besteht, nicht? Wenn man das nicht akzeptieren will, muss man dieses Land verlassen.
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Ich meine jetzt: in geschlossene Einrichtungen.
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Als nächster Redner hat der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten hat dieser Bundestag milliardenschwere Hilfspakete möglich gemacht – richtigerweise –; aber für erwachsene Menschen in der Grundsicherung, für arme Rentnerinnen und Rentner war kein einziger Cent mehr da. Das ist eine bittere Erfahrung für alle, die es betrifft.
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Auch der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ermöglicht wieder kein ausreichendes Existenzminimum. Er koppelt über 7 Millionen Menschen in Deutschland, die Grundsicherung erhalten, von der gesellschaftlichen Teilhabe ab. Das ist inakzeptabel, und das wollen und müssen wir ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Der Regelsatz reicht zum Überleben, aber er reicht nicht zum Leben. Die Regierung orientiert sich in ihrem Gesetzentwurf wieder an den ärmsten Haushalten in Deutschland, die eh schon jeden Cent dreimal umdrehen müssen und die am Ende des Monats oft auf die Tafeln angewiesen sind. Und dann legt sie nachträglich den Rotstift an. Die Liste von Dingen, die Menschen in der Grundsicherung in Deutschland nicht haben dürfen, ist lang: kein Eis im Sommer, keine Schnittblumen, kein Weihnachtsbaum, keine rezeptfreien Medikamente, und sogar Malstifte für Kinder werden centgenau aus dem Regelsatz herausgestrichen. Über 170 Euro Kürzung jeden Monat auf Kosten der Ärmsten: So bleiben Menschen im sozialen Abseits, und das ist einer Grundsicherung unwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Jetzt wird gesagt – so auch eben wieder in der Debatte –: Aber Menschen, die erwerbstätig sind, müssen mehr haben als die, die es nicht sind. – Ja, richtig; natürlich. Aber zu niedrige Löhne dürfen doch kein Argument dafür sein, die Grundsicherung noch niedriger zu halten.
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Sie zäumen das Pferd von der falschen Seite auf, nämlich auf dem Rücken der Schwächsten. Ein höherer Mindestlohn, bessere Tarifbindung, bezahlbare Mieten – das wäre der zentrale Beitrag, um Menschen im unteren Einkommensbereich zu stärken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir Grünen legen heute mit unserem Antrag ein eigenes, wissenschaftlich fundiertes Konzept zur Berechnung der Regelsätze vor. Mit unserer Methode stellen wir sicher, dass das Existenzminimum nicht unbegrenzt von den Lebensbedingungen in der Mitte der Gesellschaft abweichen darf und dass ein Mindestmaß an Teilhabe immer garantiert ist. Keine nachträglichen Streichungen von Ausgabenpositionen, keine verdeckt armen Haushalte in der Referenzgruppe – das ist die zentrale Forderung, die wir mit unserem Antrag erheben. Es ist nämlich Zeit für eine neue Regelbedarfsermittlung.
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Von höheren Regelsätzen würden übrigens alle Menschen durch einen höheren Steuerfreibetrag bei der Einkommensteuer profitieren. Und es muss natürlich klar sein, dass das Existenzminimum vollständig von Sanktionen ausgenommen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich komme zum Schluss. In unserem wunderbaren Grundgesetz steht im wichtigsten Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dort steht nicht: „Die Würde der Erwerbstätigen ist unantastbar“, sondern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Zur Würde gehört sehr zentral, dazuzugehören, und genau das muss der Regelsatz garantieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir entscheiden mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz direkt über die Lebenssituation von 7,2 Millionen Menschen, darunter fast 1,9 Millionen Kinder. Alle diejenigen, die, aus welchem Grund auch immer, gerade nicht selber für ihre Existenzsicherung sorgen können – und das passiert nicht nur in Zeiten der Pandemie manchmal schnell und meist unverschuldet –, können sich in Deutschland auf eine Grundsicherung verlassen. Wie hoch diese ist, entscheiden wir mit diesem Gesetz.
Eine Familie mit einem 13‑jährigen Teenager erhält zukünftig 1 111 Euro und dazu Leistungen für Miete und Heizung bis durchschnittlich 620 Euro. Das macht zusammen 1 731 Euro. Ein Paar mit Kind, das einmal Vollzeit und einmal Teilzeit zum Mindestlohn arbeitet, erhält grob gerechnet einen Bruttoarbeitslohn von 2 188 Euro. Netto mit Kindergeld und Kinderzuschlag sind das 2 077 Euro, circa 350 Euro mehr als die Grundsicherung.
Wir orientieren uns mit der EVS zwar zu Recht an den unteren Einkommen und ihren Ausgaben; durch die Streichungen schaffen wir dann aber eine gesellschaftliche Gruppe, die sich, wie eben beschrieben, außerhalb anderer Milieus, auch der Milieus der niedrigen Einkommensgruppen, befindet. Das ist vor allem hart für Kinder. Kinder können an ihrer Lebenssituation nichts ändern, und deswegen haben Kinder nichts, aber auch gar nichts in der Grundsicherung für Arbeitslose zu suchen.
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In kaum einem anderen Industrieland ist die Abhängigkeit von Einkommen und Bildungserfolg so groß wie in Deutschland. Es darf nicht sein, dass Kinder aus armen Familien schon mit einem Rucksack voller Steine ins Leben starten. Wir wollen eine sozialdemokratische Kindergrundsicherung, die sich an den Möglichkeiten normaler Einkommen orientiert, damit niemand wegen seiner Kinder arm wird, und die für eine soziale und Bildungsinfrastruktur sorgt, die wirklich Chancengleichheit schafft, damit Kinder so sorgenfrei und unbelastet wie möglich ins Leben starten.
({1})
Was sind die Ziele in der Grundsicherung? Alte Menschen und Kranke, die wie Kinder nichts an ihrer Einkommenssituation ändern können, brauchen zum einen eine Geldleistung, die ein gutes Auskommen sichert. Aber auch hier gilt: Das alleine reicht nicht. Auch für ältere Menschen und Kranke braucht es eine soziale Infrastruktur, Unterstützung, um mobil zu sein, und Angebote, um der Einsamkeit zu entkommen. Dafür benötigen wir starke, handlungsfähige Kommunen. Unseren Beitrag vonseiten des Bundes haben wir geleistet. An dieser Stelle ein Danke an Olaf Scholz!
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Wir sichern die Existenz und Teilhabe für Arbeitsuchende, aber nicht nur: Wir wollen auch, dass sie wieder Arbeit finden und ihre Existenz selbstständig sichern können. Deswegen muss die Höhe der Leistung so sein, dass man sich kulturell nicht von denen entfernt, die arbeiten gehen, dass man nicht sein Netzwerk verliert, dass man nicht aus seinen Zusammenhängen gerissen wird und aus dem allgemeinen Leben herausfällt. Aber auch das reicht im Zweifel nicht. Denn auch hier geht es um mehr; es ist bereits gesagt worden.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Es geht um Hilfe und Unterstützung, um Qualifizierung und Fortbildung, wie wir das mit dem sozialen Arbeitsmarkt, mit Coaching und mit der Qualifizierungsoffensive gemacht haben.
Frau Kollegin Schmidt, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen, bitte.
Gut. – Wir richten gemeinsam den Blick nach vorn. Wir wollen die EVS besser machen, vor allem um Familien- und Kinderleistungen besser abzubilden. Vielleicht gelingt uns ja in den Verhandlungen auch noch das eine oder andere. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen.
Glück auf!
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Mir ist es wichtig, zum Abschluss der Debatte eines zu betonen: Wir reden hier über ein sehr sensibles Thema. Es ist eine schwierige Entscheidung, zu bestimmen, wie viel Geld für das Existenzminimum reicht.
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Es ist deshalb eine schwierige Entscheidung, weil wir über die Angemessenheit debattieren müssen. Wir müssen abwägen, wir müssen Werteentscheidungen treffen und dürfen eben nicht kleinrechnen, Frau Kipping, wie Sie das gesagt haben.
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Und es ist schwierig, auch menschlich gesehen, weil wir alle miteinander, die wir hier sitzen, Spitzenverdiener sind. Als Spitzenverdiener entscheiden wir darüber, mit wie viel Geld die wirtschaftlich Schwächsten in unserem Land auskommen müssen. Das ist eine demokratische Herausforderung. Der stellen wir uns in dieser öffentlichen Debatte, und das ist auch gut so.
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Umso mehr enttäuscht der Antrag der FDP, weil Sie sich dieser Aufgabe entziehen. In Ihrem Antrag gibt es viele gute Punkte zur Reform des SGB II. Einiges davon hätten wir sicherlich auch umsetzen können, wenn Sie 2017 nicht kalte Füße bekommen hätten.
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Aber was mich wirklich ärgert, Herr Kober, ist, dass Sie sich bei dieser Debatte mit gerade mal einem Halbsatz dazu äußern, ob Sie die Höhe von Hartz IV richtig finden und warum Sie sie richtig finden. Da hätte ich schon etwas mehr von Ihnen erwartet.
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Ich möchte die grundlegenden Abwägungsprozesse darlegen und auch sagen, wo hier der Unterschied in diesem Haus liegt. Wir streiten darüber, was die richtige Methode ist. Wir bekommen, insbesondere von der Linken, auch heute wieder den Vorwurf zu hören, dass wir den ärmsten Menschen das Geld nicht gönnen; gleichzeitig betonen Sie, dass Sie gerne für mehr Geld kämpfen. Ich glaube, dass es genau umgekehrt ist: Sie machen eine sehr kühle Berechnung über eine statistische Größe, nämlich das Mittlere Einkommen, und berechnen davon ausgehend die Armutsschwelle. Das interessiert Sie, alles andere nicht.
({5})
Wir hingegen gucken mit unserer EVS ganz genau hin, wie die Menschen ihr Geld ausgeben, für was sie es ausgeben und wie sie konsumieren. Wir schauen hin, wie die Lebenswirklichkeit in diesem Land ist, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Whittaker, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping, Fraktion Die Linke?
Gern. Ich verspreche auch, dass ich die Redezeit nicht verdreifache.
Das würde ich jetzt nicht so einfach behaupten. Sie wissen ja gar nicht, was Frau Kipping fragen will.
Vielen Dank, Herr Whittaker, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade eine Unterstellung gemacht, wie wir auf unseren Regelsatz in Höhe von 658 Euro gekommen sind.
({0})
Ich wollte Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir Folgendes getan haben: Wir haben beim Statistischen Bundesamt die Daten für die untersten 20 Prozent der Einkommenshierarchie abgefragt. Wir haben uns dann entschieden, keine Abschläge vorzunehmen. Man muss sich entscheiden: Entweder man legt ein Warenkorbmodell mit den entsprechenden Vorgaben zugrunde, oder man sagt: Wir gehen wirklich nur vom Ausgabeverhalten der Ärmsten aus. Das ist unsere Herangehensweise gewesen, ein klares und sauberes Verfahren.
Wenn man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für die unteren 20 Prozent heranzieht, dann kommt man auf diese Summe. Man hätte auch andere Größen zugrunde legen können. Wir haben nur Aufstockende mit einem Einkommen von maximal 100 Euro rausgenommen.
Fachlich hätten wir ganz andere Summen begründen können,
({1})
aber wir haben uns in Abwägung der Finanzierbarkeit und der Zahlen, die das Statistische Bundesamt liefert, bewusst für die 658 Euro entschieden. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
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Frau Kipping, ich habe mit keinem einzigen Wort kritisiert, dass Sie falsche oder inkorrekte Zahlen benutzt haben, sondern ich habe schlicht und ergreifend die Art und Weise kritisiert, wie Sie dann weiterrechnen und welche Werteabwägungen Sie treffen. Hier liegt der Unterschied zwischen Linke und Union.
({0})
Genau das ist der Punkt, den ich versucht habe deutlich zu machen. Im Verlauf meiner Rede werde ich noch zwei weitere Punkte aufgreifen, um Ihnen das zu verdeutlichen.
({1})
Der zweite Streitpunkt ist, in welchem Umfang wir Leistungen zukünftig weiter erhöhen. Wir haben in der EVS vereinbart, dass jedes Jahr anhand eines Mixes aus Preissteigerungen und der Lohnentwicklung die Hartz-IV-Sätze steigen. Damit nehmen wir nicht nur die SGB-II-Leistungsempfänger in den Blick, sondern wir gucken uns auch und gerade die Gering- und Mittelverdiener an, die wir ebenfalls nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Ich möchte nämlich nicht, dass, weil die Hartz‑IV-Sätze sehr schnell steigen, die Gering- und Mittelverdiener quasi durch die Hintertür als Aufstocker in Hartz IV fallen;
({2})
denn das würde Arbeit entwerten, und dem werden wir uns als Union entgegenstellen, meine Damen und Herren.
({3})
Der dritte Streitpunkt ist, wozu eigentlich das SGB II da ist. Hier besteht der vielleicht wesentlichste Unterschied zwischen uns: Für uns als Christdemokraten ist Arbeit mehr als nur Broterwerb. Aus der Arbeit bezieht der Mensch seine Würde und seine Selbstentfaltung.
({4})
Für uns soll Arbeit der Normalzustand für einen erwachsenen Menschen sein, nicht die Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit soll und muss immer die Ausnahme bleiben. Wenn aber dieser Ausnahmefall eintritt, ist es die Pflicht der Gesellschaft, hier einzustehen und über diese Situation mit einer Brücke hinwegzuhelfen. Wir haben im SGB II alles auf das Ziel ausgerichtet, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen, damit sie über diese Brücke kommen. Sie wollen, dass es keinen Unterschied in der Lebensführung macht, ob man arbeitet oder eben nicht arbeitet.
({5})
Ich finde das unfair gegenüber jedem, der Arbeit hat, und übrigens auch gegenüber jedem, der sich aus Arbeitslosigkeit hart herausgearbeitet hat. Dadurch entwerten Sie Arbeit wirtschaftlich und damit auch menschlich. Das ist der Unterschied: Sie von der Linken wollen Arbeitslosigkeit verwalten, wir wollen Jobs gestalten in unserem Land. Das ist der Unterschied.
({6})
Herr Kollege Whittaker, ganz kleinen Moment, bitte. – Ich würde den Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, der gerade mit seinem Handy beschäftigt ist, bitten, die Maske aufzusetzen. Noch ist das ein freundlicher Hinweis. Das wird demnächst mit einem Ordnungsruf versehen.
Herr Kollege Whittaker, ich habe die Zeit angehalten. Sie haben weiter das Wort. Entschuldigung.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte zum Schluss kommen und einen Ausblick darauf geben, was wir jetzt eigentlich noch leisten müssen. Wenn man wirklich gegen Armut arbeiten möchte, wenn man Armut wirklich nachhaltig und auf Dauer bekämpfen möchte, dann ist das beste Mittel dafür Jobs. Deshalb sind wir gut beraten, in diesem Haus kluge Wirtschaftspolitik zu machen.
({0})
Wir sind auch gut beraten, Arbeitgeber nicht als Gegner der Politik zu begreifen, sondern als Partner, wenn wir Vollbeschäftigung in diesem Land erreichen wollen.
({1})
Das ist unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag, damit wir nämlich diese Jobs überhaupt haben, damit wir Arbeitslose dahin vermitteln können und ihnen eine neue Lebensperspektive eröffnen können.
Wir müssen uns auch darüber unterhalten, ob die Jobcenter dazu in der Lage sind; da habe ich in der Tat auch meine Zweifel. Sie machen gute Arbeit, aber sie könnte besser sein, weil zu viele Menschen notwendig sind, um komplizierte Leistungssätze auszurechnen, damit am Ende des Monats das richtige Gehalt auf dem Konto ist. Das ist komplizierte Bürokratie. Wir brauchen mehr Pauschalierung bei den Leistungen, damit mehr individuelle Beratung möglich ist, damit die Menschen wieder in Arbeit vermittelt werden können.
({2})
Das ist der Unterschied.
Da haben wir übrigens auch einen kleinen Dissens mit den Sozialdemokraten. Ich würde mir, ehrlich gesagt, wünschen, dass wir uns auf das verständigen, was wir auch beim Teilhabechancengesetz gemacht haben, nämlich durch Coaching die Arbeitsvermittlung zu verbessern. Nirgends haben wir so gute Erfolge wie mit dem Teilhabechancengesetz. Das zeigt, dass es geht. Deshalb appelliere ich auch an die SPD, sich zu bewegen und endlich bei den Pauschalierungen im Leistungsrecht voranzukommen, damit wir Menschen in diesem Land eine Perspektive geben können.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker.
Ich muss noch gucken, wo meine Maske ist.
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Ich habe sie nicht.
Da ist sie.
Herr Kollege Whittaker, für solche Fälle haben wir vorgesorgt. Die Bundestagsverwaltung ist in der Lage, Sie auch da auszustatten.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt“: Diesen Satz prägte Gustav Heinemann. Er ist heute so aktuell wie nie. In Coronazeiten erkennt man den Wert einer Regierung daran, wie sie mit den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft verfährt, nämlich unseren Kindern.
Der Schutz der Kinder in dieser Phase geht gegen null. Bei der Festlegung von staatlichen Coronamaßnahmen während der Krise wurden das Kindeswohl und die Rechte von Kindern zu wenig beachtet. Diese Meinung teilen 72 Prozent der Bevölkerung. Das ergab eine Umfrage des Kinderhilfswerks zum Weltkindertag. Ärzte, Verbände und Eltern schlagen Alarm. Kinderärzte und Kinder wurden befragt. 89 Prozent der Pädiater beobachten vermehrt psychische Probleme. Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen – das sind die Leiden unserer Kinder. Die leiden durch die Maske, nicht durch Corona.
({0})
Mehr als 70 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen fühlen sich seelisch belastet. Deshalb fordert die AfD heute, Kinder bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr von der Maskenpflicht und den Abstandsregelungen zu befreien. Zudem fordern wir die Regierung auf, endlich bei allen Coronamaßnahmen die Auswirkungen auf das Kindeswohl mit zu prüfen.
({1})
Ich bitte alle, die diese Rede hören, hier im Hohen Haus und auch an den Bildschirmen: Hinterfragen Sie die Maßnahmen der Regierung! Übernehmen Sie Eigenverantwortung für sich und Ihre Kinder!
Weltweit gibt es keine wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes einen positiven Einfluss auf den Verlauf der sogenannten Coronapandemie hat.
({2})
Selbst Herr Drosten bestätigte dies in einer Anhörung am 9. September 2020 im Gesundheitsausschuss.
({3})
Die Reproduktionszahl, die für den Verlauf einer Pandemie aussagekräftig ist, lag in Deutschland am 11. März 2020 bei 3 bis 4 auf dem Höhepunkt. Die Regierung gab das Ziel aus, diesen Wert auf unter 1 abzusenken. Am 21. März, also zwei Tage vor dem Lockdown, lag dieser Wert bei knapp unter 1. Dieser Wert ist seit Einführung der Maskenpflicht im Mai nicht zurückgegangen. Das Tragen der Maske schützt niemanden.
({4})
Die Regierung schürt Panik mit sogenannten Infektionszahlen, die über die Zahl der Erkrankten nichts aussagt. Ärzte, die dies kritisieren, kommen mittlerweile sogar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Wort. Zurzeit werden circa 440 Personen in Deutschland aufgrund der Infektion mit Corona intensivmedizinisch behandelt. „Infiziert“ ist aber nicht „krank“. Infiziert sind lediglich 0,37 Prozent der Bevölkerung, also 300 000 von 83 Millionen. Das sind die offiziellen Zahlen des RKI.
Das sind eigentlich beruhigende Zahlen, nur nicht für unsere Kanzlerin, die brachiales Durchgreifen empfiehlt.
({5})
Seit sieben Monaten leiden unsere Kinder. Sie leiden unter Maske und sozialer Distanz.
({6})
Die grüne Verbotspartei plakatiert sogar: Masken sind Freiheit! – Meine Damen und Herren, welch ein Schwachsinn!
({7})
Masken, Abstand, Angst sind keine Freiheit; sie rauben den Kindern ihre Freiheit und ihre Gesundheit.
Kinder geben das Virus selten weiter; zu diesem Schluss kommen weltweit 47 Studien. Anstatt sich darauf zu stützen, hat Familienministerin Giffey eine Studie erst am 10. August in Auftrag gegeben, sträflich spät; sie war wahrscheinlich mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt.
({8})
Am 17. August stellt die Landwirtschaftsministerin das „Gassi-Gesetz“ vor: Hunde sollen zweimal täglich Gassi gehen. Kinder in Quarantäne sollen von der Familie separiert werden; sie sollen nicht toben. Vielleicht hätte sich doch besser Frau Klöckner um das Kindeswohl gekümmert und nicht Frau Giffey.
({9})
Vor ein paar Wochen rief mich eine junge Mutter an. Ihr Kleines sieht sie im öffentlichen Raum nur mit Maske. Kleinkinder kommunizieren aber über Gestik und Mimik.
({10})
Ihnen wird durch die Maske Sicherheit, Vertrauen und Lachen genommen. Ich bitte Sie höflich und inständig, im Namen dieser jungen Mutter, im Namen aller Eltern und Kinder:
({11})
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({12})
Geben Sie unseren Kindern Nähe, Lachen und Gesundheit zurück!
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Reichardt. – Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, dann reden wir mal über Verantwortung, über Haltung, über den Schutz unserer Kinder und auch über Angemessenheit in dieser Krise. Reden wir aber auch, mit Blick auf Ihre Rede, Herr Reichardt, über Populismus. Dieser Populismus wird allmählich gefährlich;
({0})
denn es geht um die Gesundheit der Menschen in diesem Land,
({1})
Es ist nicht zu ertragen, wie Sie Unwahrheiten verbreiten; es ist übrigens auch belegt, dass das Unwahrheiten sind, Herr Reichardt.
Ich habe Ihren Antrag gelesen; denn ich lese Ihre Anträge, und ich gucke mir auch die YouTube-Videos an.
({2})
– Ja, da kann ich was lernen. Da kann ich lernen, was der Unterschied ist zwischen einem sogenannten Still Face und dem Tragen einer Maske. Darüber sollten Sie mal nachdenken, wenn Sie alte Videos aus dem Jahre 2009 heranziehen, um gegen die Masken zu wettern. Das ist grober Unfug, und den werden wir auch widerlegen.
({3})
Das ist aber Ihre Masche: „Corona ist vorbei, und Corona wird auch nicht wiederkommen“. Ja, das ist dieser Björn Höcke, Bernd Höcke, wie auch immer.
Natürlich wird Herr Höcke zurückgeholt, klar, weil das die Masche ist:
({4})
Draufhauen, versuchen, ordentlich Leute einzufangen, und dann doch wieder relativieren. Da geht es bei der AfD natürlich um reinen Populismus.
({5})
Und jetzt zur Sache, weil sie wichtiger ist als Ihr Palaver. „Entschlossenheit im Unglück ist immer der halbe Weg zur Rettung“, so hat es Johann Heinrich Pestalozzi mal formuliert. Das ist richtig. Die Frage ist natürlich für uns in dieser schwierigen Situation: Was ist denn die andere Hälfte? – Angemessenheit, Differenziertheit
({6})
– für einen ehemaligen Schüler der Pestalozzi-Grundschule und einen Pädagogen, der eine Ausbildung in diesem Bereich hat, ist Pestalozzi jemand, den man gut zitieren kann –, Verantwortungsbewusstsein, aber auch mal Mut zur Korrektur von Handlungsweisen. Und das ist doch der entscheidende Punkt.
Wie war denn die Situation im März dieses Jahres hinsichtlich SARS-CoV-2?
({7})
Der Virus war zum Zeitpunkt des Ausbruchs völlig unbekannt, und viele Eigenschaften sind es bis heute. Deswegen war es wichtig und richtig, zum Schutz der Kinder zunächst einmal sehr entschlossen zu sagen: Bevor irgendetwas passiert, werden die Kitas und die Schulen geschlossen; denn – ich sage es noch einmal – der Schutz der Kinder steht an allererster Stelle.
({8})
Wir mussten damals davon ausgehen, weil wir es nicht besser wussten – die Forschung nähert sich dem Thema erst allmählich an;
({9})
dank der Island-Studie, der Heidelberg-Studie, der Hamburg-Studie haben wir nun mehr Informationen –, dass sich – das war damals die Vermutung – der Virus verhält wie der Influenzavirus; da sind Kinder übrigens nachgewiesenermaßen die Hauptüberträger.
Deswegen ging es darum, schnell zu entscheiden. Das haben wir getan. Und das ist doch das Ergebnis: Die Ausbreitung des Virus wurde so stark verlangsamt wie in keinem anderen Land. Ja, Kindergärten zu schließen, Schulen zu schließen – das wissen Eltern, das wissen Väter und Mütter besser als jeder andere –, ist immer die letzte Maßnahme.
({10})
Sie war aber zu diesem Zeitpunkt richtig, weil wir es damit hinbekommen haben, dass wir wie kein anderes Land diesen Virus eindämmen konnten.
Die größte Ausbreitung des Virus – das wissen wir – findet immer noch dort statt, wo viele Menschen aufeinandertreffen, übrigens auch im Deutschen Bundestag. Ihre nichtkollegialen Verhaltensweisen sind durchaus bekannt.
({11})
Insoweit: Das Leugnen und Herunterspielen der Risiken, die mit einer Infektion verbunden sind, bringt nur alle anderen in Gefahr. Fast 10 000 Tote in diesem Land, die verschweigen Sie.
({12})
Die Langzeitwirkungen sind in Teilen noch gar nicht erkannt, und wir dürfen eins nicht vergessen: Hätten wir so weitergelebt wie in der Vergangenheit, hätten wir möglicherweise die Gefahr riskiert, überfüllte Intensivstationen oder auch Platzmangel bei der Behandlung von Patienten zu erleben. Das Beispiel Madrid sei genannt.
So, Herr Reichardt, ich habe Ihren Antrag natürlich gelesen.
Erster Punkt. Sie haben ja in einer Rede vorher gesagt, in Deutschland müssten Kinder stundenlang mit Maske im Unterricht sitzen. Das ist – jeder Vater weiß es – ziemlich großer Mist.
({13})
Es gibt differenzierte Maßnahmen und durchaus auch Klassen in gewissen Regionen, in denen die Schulbehörde oder das Kultusministerium tatsächlich angeordnet hat, dass dort die Maske zu tragen ist.
({14})
Trotzdem ist das eine Überspitzung, die den Menschen Angst macht. Und es ist ja Ihre Masche: den Menschen Angst zu machen.
({15})
Unsere Politik muss aber doch sein, den Menschen Sicherheit zu geben und dieser Populismusstrategie entgegenzuwirken. Also, bleiben Sie bitte bei den Fakten.
({16})
Ich komme jetzt mal nur in einer kleinen Sequenz zu dem von Ihnen angedeuteten Experiment von, ich glaube, Dr. Tronick. Sie haben in Ihrem Antrag angeführt, wie Mimik und Gestik wirken, wenn Menschen eine Maske tragen. In diesem Experiment trägt die Mutter aber keine Maske. „Still Face“ heißt vielmehr, dass sie ihr gesamtes Gesicht in diesem Experiment einfriert – „frozen“. Daraus entsteht natürlich eine Reaktion beim Baby.
Selbstverständlich ist es für Kleinkinder, Kleinstkinder und Babys schwierig, wenn die Eltern – auch wenn es nur zeitweise ist – eine Maske tragen müssen. Das wissen die jungen Väter und Mütter, die gerade Kleinkinder zu Hause haben, wenn sie die Maske tragen. Das zu vergleichen, ist aber schlechter Populismus.
({17})
Das ist mies, und das passt einfach nicht. Insoweit ist das ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen.
({18})
Die Forderung einer Befreiung von der Maskenpflicht für Eltern von unter Dreijährigen ist überzogen.
({19})
Das Zweite ist das Thema „Keine Masken für Kinder unter zwölf Jahren“. Natürlich haben Kinder leiden müssen: Homeschooling; sie haben ihre Freunde nicht getroffen; die sozialen Kontakte gingen zurück. Wir haben auch große Defizite im Bildungssystem bei uns in Deutschland erlebt; das ist richtig. Das war psychisch sehr belastend. Das bestreitet keiner.
Aber weil das so ist und weil das so war, ist es doch umso wichtiger, dass wir dafür sorgen, dass die Schulen und Kitas jetzt geöffnet bleiben und nicht wieder geschlossen werden müssen. Das wäre doch die Konsequenz, wenn wir einen Ausbruch – auch wenn er nur regional ist – riskieren würden.
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Es wäre also grob fahrlässig, auf diese Vorsichtsmaßnahme zur Eindämmung des Infektionsgeschehens zu verzichten.
Das heißt, so selten wie möglich, aber so häufig wie nötig müssen Masken getragen werden.
({21})
Jeder kennt das aus seinem Bundesland: Da gibt es für die Kinder gute Lösungen, regionale Lösungen, Lösungen mit speziellem Blick auf das Infektionsgeschehen.
({22})
– Nein, das ist kein Wildwuchs. Wenn es aber in einem Bundesland A einen ganz anderen Infektionsverlauf als im Bundesland B gibt, dann muss man auch differenzierte Lösungen finden.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ja.
Das haben wir getan; das tun wir. Dabei ist nicht immer alles richtig und perfekt gewesen, aber wir haben diesen Grad der Handlungsoptionen, glaube ich, zumindest optimiert, und daran sollten wir weiterarbeiten.
Und bitte nicht mit billigem, miesem Populismus den Menschen Angst machen! Das brauchen sie am allerwenigsten – genauso wie sie Ihre Partei nicht brauchen.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg. – Nächster Redner ist der Kollege Matthias Seestern-Pauly, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unseren Familien – das haben wir gerade schon gehört – wurde in den letzten Monaten extrem viel abverlangt, und ich ziehe an dieser Stelle meinen Hut vor den Familien und den Kindern für das, was sie während des Lockdowns geleistet haben. Sie alle haben unseren Respekt verdient.
({0})
Vor allem unsere Kinder mussten herbe Einschnitte hinnehmen:
({1})
Kitas geschlossen, Schulen geschlossen, Spielplätze geschlossen, Freunde treffen: Fehlanzeige! Dabei haben unsere Kinder ein Recht auf Bildung. Sie haben das Recht auf Spiel und Freizeit.
Genau deswegen haben wir uns als Freie Demokraten auch sehr frühzeitig für die schnellstmögliche Öffnung von Kitas und Schulen unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen eingesetzt, und genau deshalb darf es auch keinen weiteren flächendeckenden Lockdown unserer Bildungseinrichtungen geben.
({2})
Was wir vielmehr brauchen, ist eine bundesweite Bildungs- und Betreuungsgarantie. Der FDP-Familienminister Joachim Stamp macht es in Nordrhein-Westfalen vor. Die von ihm abgegebene Bildungsgarantie zeigt, dass für uns als Freie Demokraten die Rechte unserer Kinder und die Situation unserer Familien keine Randnotiz sind. Sie zeigt, dass wir die Bedürfnisse der Kinder ernst nehmen. Sie zeigt, dass wir die Chancen ermöglichen wollen. Sie zeigt, dass wir Familien Planungssicherheit geben. Deshalb bringen die Freien Demokraten auch heute hier ins Plenum einen Antrag für eine genau solche Bildungs- und Betreuungsgarantie ein.
({3})
In diesem Zusammenhang gab es im Mai dieses Jahres auch eine Erklärung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Ich möchte daraus einige wichtige Aussagen zitieren:
Erstens. „Kinder haben einen Anspruch auf soziale Kontakte, frühkindliche und schulische Bildung.“
Zweitens. „Familien mit Kindern sind angesichts der Corona-bedingten Einschränkungen besonders belastet.“
Drittens. „Es muss akzeptiert werden, dass gerade kleine Kinder – bei aller Bereitschaft – oft nicht in der Lage sind, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten.“
Diese Aussagen haben alle Mitglieder der Kinderkommission unterstützt, außer der Vertreter der AfD. Und jetzt stellt sich ausgerechnet die AfD hierhin und tut so, als sei sie der Anwalt der Familien.
({4})
Das ist sie nicht. Was Sie hier betreiben, ist billiger Populismus.
({5})
Als Sie die Möglichkeit hatten, die Erklärung der Kinderkommission im Interesse unserer Familien und Kinder zu unterstützen, haben Sie diese nicht mitgetragen.
Uns Freien Demokraten geht es darum, aus den vergangenen Erfahrungen Lösungen für die Zukunft zu erarbeiten. Ihnen geht es um die Instrumentalisierung unserer Familien und Kinder für Ihre politische Selbstdarstellung.
({6})
Das ist absolut schäbig,
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und genau das ist der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Martin Reichardt [AfD]: Ja, auf den Unterschied lege ich auch Wert! – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ja, ja, ausgerechnet die FDP!
Vielen Dank, Herr Kollege Seestern-Pauly. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Susann Rüthrich, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder in Zeiten von Corona – worüber könnten wir da nicht alles reden!
Vielleicht darüber, dass die Stimmen der Kinder in den ersten Monaten und während der Pandemie so gut wie gar nicht mehr gehört wurden, darüber, dass lange über Kita- und Schulöffnungen nur aus Sicht der Eltern und Arbeitgebenden diskutiert wurde. Die Eltern müssen ja endlich wieder arbeiten können. Dabei sind Kitas, Tagespflegeeinrichtungen, Schule, Horte doch Bildungseinrichtungen für die Kinder, Orte, an denen sie für das Leben lernen, sich einbringen, Freunde, Gleichaltrige treffen.
Wir könnten einmal schauen, welche der in den Bundesländern ja sehr unterschiedlichen Schritte zur Öffnung von Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen nachweislich zu welchen Effekten in Bezug auf das Infektionsgeschehen geführt haben. Wir könnten darüber reden, was es mit den Kindern gemacht hat und noch macht, wenn sie öffentlich über Monate nur noch als Virenschleudern und Superspreader angesehen werden, als Gefahr für die Erwachsenen.
Wir könnten über arme Kinder reden, die mit wenig Platz und Raum für sich klarkommen mussten und noch müssen, denen ihr warmes Mittagessen in der Kita oder in der Schule gefehlt hat und die an der U-Bahn-Haltestelle ins WLAN gehen, damit sie ihre digitalen Hausaufgaben aufs Handy laden können. Wir könnten über Kinder reden, für die die Kita und die Schule sichere Orte sind, weil sie sich zu Hause leider nicht sicher fühlen können.
Wir könnten über Jugendliche reden, die die Welt entdecken und gestalten wollen, sich ausprobieren wollen, für die der Jugendklub aber genauso zu war wie der Sportverein oder der Jugendverband, mit dem sie ansonsten im Sommer ins Zeltlager gefahren wären.
Wir könnten auch über Kinder mit psychischen oder chronischen gesundheitlichen Belastungen sprechen, die vielleicht seltener oder nicht mehr zum Arzt oder zur Ärztin und nicht zur Kur und nicht zur Reha konnten, oder über Kinder, die aus Angst vor Ansteckung die U‑Untersuchungen verpasst haben. Wir könnten über Kinder in Kinderheimen sprechen, die ihre Elternteile wochenlang nicht mal mehr besuchsweise treffen konnten. Wir könnten sogar über geflüchtete Kinder reden, die in den großen zentralen Aufnahmeeinrichtungen keinen Abstand einhalten können und die hier immerhin ein Dach über dem Kopf haben – im Gegensatz zu den Kindern in Moria.
({0})
Kurz: Wir könnten also auch darüber reden, wie wir die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung stärken und ins Grundgesetz aufnehmen können, damit sie in der Krise nicht mehr unter die Räder zu kommen drohen. Denn gerade in der Krise zeigt sich ja, ob sich auch Kinder und Jugendliche auf ihre Rechte verlassen können.
({1})
Wir könnten nun endlich darüber reden, Kinderarmut in diesem reichen Land durch eine Kindergrundsicherung abzuschaffen.
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Wir könnten über eine viel stärkere Unterstützung für Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und Schulkrankenschwestern sprechen, über eine bessere Unterstützung von Jugendverbänden und ‑vereinen. Wir könnten überlegen, wie wir die Kinder und deren Meinung selbst mehr einbeziehen: über ein bundesweites Jugendparlament, über einen Jugendbeirat, über eine Kinderfragestunde hier im Plenum.
({3})
Worüber reden wir aber stattdessen, werte Kolleginnen und Kollegen? Wir reden wieder mal über das neue Lieblingsthema derer, denen sonst die Themen ausgehen: über Masken. Glauben Sie hier am rechten Rand ernsthaft, dass die Kinder und Jugendlichen im Land gerade keine anderen Sorgen haben?
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Oder werfen Sie mal wieder einfach eine Nebelkerze?
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Schließlich haben Sie als Partei auf nicht ein einziges der tatsächlichen Probleme der Kinder und Jugendlichen auch nur ansatzweise so was wie eine Lösung anzubieten.
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Das gilt im Übrigen für jede sonstige Herausforderung in diesem Land. Oder habe ich Ihr Rentenkonzept
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oder was Sinnvolles zu Energiepolitik oder zu Pflege oder zu irgendeinem Thema von Relevanz übersehen? Haben Sie da was? Nein, habe ich nicht übersehen!
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Mittlerweile wissen wir es ja auch aus Ihrem eigenen Munde: Es muss dem Land und den Leuten schlecht gehen, damit es Ihrer Partei gut geht. Deshalb geben Sie sich noch nicht mal den Anschein, für irgendwas eine Lösung zu erarbeiten. Dieser Antrag ist wieder einmal ein Beweis für Ihre Arbeitsverweigerung. Gestern Abend hatten Sie Ihr Pamphlet noch nicht mal vorgelegt. Und deshalb einfach nur: Danke für nichts!
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Nächster Redner ist der Kollege Norbert Müller, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, man schafft es immer noch, von Anträgen der AfD-Fraktion überrascht zu sein. Warum war ich überrascht, als dann heute früh endlich Ihr Antrag vorlag? Da stehen zwei Vokabeln drin, von denen ich gar nicht wusste, dass Sie die kennen, nämlich „Kindeswohl“ und „Kinderrechte“;
({0})
denn Kinderrechte und Kindeswohl haben in Ihrer bisherigen Politik gar keine Rolle gespielt. Doch, sie haben eine Rolle gespielt: Sie sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die sich dezidiert gegen Kindeswohl, gegen den Vorrang des Kindeswohls und gegen Kinderrechte positioniert hat. In allen anderen Fraktionen finden Debatten dazu statt, ob und wie man Kinderrechte im Grundgesetz verankern kann. Bei Ihnen ist hingegen immer klar: Sie sind gegen Kinderrechte, Sie sind gegen die UN-Kinderrechtskonvention, und Sie sind gegen Kindeswohl.
({1})
Was ist eigentlich Kindeswohl? Nach der UN-Kinderrechtskonvention – die ist geltendes Recht in Deutschland; die lehnen Sie ab; das ist immer wieder in Protokollen verbrieft – heißt Kindeswohl: Staatliches Handeln muss im besten Interesse eines Kindes passieren. – Genau dieses politische Konzept haben Sie immer abgelehnt, und deswegen sind Sie hier völlig unglaubwürdig.
({2})
Meine Vorredner haben alles gesagt: Es geht Ihnen nicht um Kinderrechte. Es geht Ihnen darum, dass Sie nach Flüchtlingen und dem angeblich nicht stattfindenden Klimawandel jetzt ein neues Thema entdeckt haben, nämlich die Coronaleugnung.
Jetzt komme ich zu den Punkten, bei denen wir als Linke glauben, dass sie zur Sicherstellung von Kindeswohl und von Kinderrechten wichtig sind.
Erstens. Wir brauchen – wir sind gerade in den Haushaltsverhandlungen; deswegen sage ich es heute ein zweites Mal, nachdem ich es in der Haushaltsberatung schon gesagt habe – dringend eine Fortschreibung der Rettungspakete für die Kinder- und Jugendpolitik, insbesondere für die Übernachtungsstätten und für die Jugendverbände.
({3})
Die 100 Millionen Euro, die im Nachtragshaushalt waren, müssen wir auch im nächsten Jahr, 2021, ausreichen, weil die Coronapandemie am 31. Dezember 2020 nun mal nicht zu Ende sein wird.
Zweitens. Wir müssen die Interessen der Kinder und Jugendlichen in die Pandemiepläne mit aufnehmen – das ist ein sehr guter Vorschlag der Grünen, dem wir uns anschließen möchten –, damit sichergestellt ist, dass man in vergleichbaren Situationen weiß: Was brauchen Kinder und Jugendliche? Welche ihrer Interessen müssen wir berücksichtigen?
({4})
Drittens. Wir haben als Fraktion Die Linke hier einen Zuschlag auf die Leistungen nach Hartz IV und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von 200 Euro pro Kopf beantragt. Darüber kann man streiten. Aber unbestritten ist doch: Wir haben Mehrbedarfe, gerade in armen Familien, gerade in denen – und deren Zahl steigt gerade –, die auf Hartz IV angewiesen sind. Gerade wenn dort Kinder leben, gibt es größere und gestiegene Bedarfe. Das wissen wir alle, und deswegen brauchen wir hier einen Zuschlag für die Zeit der Pandemie.
({5})
Viertens. Wir müssen die Kinder- und Jugendhilfe fit machen. Das heißt, wir brauchen endlich ein bundesweites Kitaqualitätsgesetz, wo klare Standards gerade für solche Fälle, wie wir sie jetzt erlebt haben, enthalten sind, damit es nicht passiert, dass eine Kita, obwohl sie wieder öffnen könnte, dies wegen Personalmangel nicht tut, weil man nicht weiß, wie man mit der Situation umgehen soll. Deswegen brauchen wir klare Standards in der Kinder- und Jugendhilfe und ein Kitaqualitätsgesetz.
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– Wissen Sie, Herr Reichardt,
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Ihre Rede hatte zu 80 Prozent nichts mit Ihrem eigenen Antrag zu tun. Das können Sie sich wirklich schenken.
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Letzter Punkt, Herr Präsident. Wir brauchen einen Pandemiezuschlag für die Beschäftigten in den Kitas und in der Kinder- und Jugendhilfe von 25 Prozent auf den Bruttolohn;
({9})
denn die sind nah an den Kindern, die machen gerade die risikoreiche Arbeit. Und was die Kinder selbst betrifft, so müssen ihre Rechte endlich ins Grundgesetz.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Müller.
({0})
Es gibt Zwischenrufe, die sollte man besser nicht kommentieren.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Charlotte Schneidewind-Hartnagel, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit drei Zitaten.
Benedikt, neun Jahre alt: Ich bin nicht gesund wie andere Kinder und muss sehr vorsichtig sein, damit ich mich nicht anstecke. Das könnte für mich ganz schlimm werden. Ich bin froh, dass alle meine Freunde und die anderen Menschen mich schützen, wenn sie Abstand halten und eine Maske tragen.
Lenni, sieben Jahre alt: In vier Wochen, sagt Mama, bekomme ich eine kleine Schwester. Wir freuen uns alle darauf. Und damit wir alle gesund bleiben, waschen wir ganz oft die Hände und haben viele bunte Masken.
Klara, elf Jahre alt: Ich fände es schön, Oma und Opa wiederzusehen. Aber sie sind sehr alt, und das Virus ist für sie besonders gefährlich.
Diese Zitate sind nicht repräsentativ;
({0})
aber sie zeigen, dass unsere Kinder und Jugendlichen die Herausforderungen verstehen und vernünftig handeln können –
({1})
anders als die AfD, die wieder einmal das Verfassungsorgan Bundestag als Bühne benutzt, um allen zu zeigen, welchen Stellenwert sie Vernunft und Wissenschaft beimisst, nämlich keinen.
({2})
Manche hier wollen einfach nicht begreifen, dass wir in einer außergewöhnlichen Situation sind. Das Coronavirus ist nicht harmlos. Wir haben im Moment kein wirksames Mittel. Es wird noch eine Weile dauern und wir müssen uns gedulden, bis wirksame Impfstoffe zugelassen und in ausreichendem Maße vorhanden sind.
({3})
Sich gedulden heißt aber nicht, die Situation auszusitzen, sondern außerordentliche, oft unbequeme und unangenehme Maßnahmen zu akzeptieren – zu unser aller Schutz.
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Diese Maßnahmen sollen wirksam und differenziert sein, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und neben den gesundheitlichen Aspekten auch auf soziale und wirtschaftliche Auswirkungen gerichtet sein. Deshalb fordern wir die Gründung eines unabhängigen interdisziplinären Pandemierates als wissenschaftliches Beratungsgremium während der Coronakrise.
({5})
Diese Krise ist im Augenblick nun einmal die Realität, leider auch für unsere Kinder, und die AfD übt sich weiter in Realitätsverlust. Unbenommen ist, dass in den vergangenen Monaten der Pandemie schnelle Entscheidungen getroffen wurden, die viele Kinder und Jugendliche körperlich, emotional und seelisch stark betroffen haben, und sie fielen über die Köpfe der Kinder hinweg. Diesen Verstoß gegen die Kinderrechte gilt es nicht zu wiederholen. Wir müssen mehr für die Umsetzung der Kinderrechte auch und gerade in der Pandemie tun. Kinderrechte bedeuten nicht nur Kinderschutz, sondern auch Beteiligung und Förderung. Als Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention ist unser Land zu ihrer Einhaltung verpflichtet.
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Um diese Verpflichtung sichtbar zu machen, müssen wir Kinderrechte endlich in das Grundgesetz aufnehmen.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir wollen mit Kindern und Jugendlichen reden und sie an Entscheidungen beteiligen, und zwar mit Vernunft und auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die meisten Kinder verstehen, warum es die Einschränkungen in ihrem Alltag gibt; denn sie wissen, dass es auch um den Schutz ihrer Geschwister, Freunde, Eltern und Großeltern geht.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.
Kinder sind in der Lage, vernünftig und verantwortungsvoll zu handeln, und da sind sie der AfD weit voraus.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Reichardt, Sie gehören ja in die Kategorie Möchtegernexperte.
({0})
Anscheinend sind Sie nicht auf dem aktuellen Stand; denn es gibt eine neue Studie – sie ist heute vorgestellt worden –
({1})
von der Simon‑Fraser-Universität aus Kanada, die eindeutig belegt: Das Tragen von Masken verringert die Anzahl der Coronainfektionen um mindestens ein Viertel, vielleicht sogar um die Hälfte. Ich mache es etwas einfacher für Sie
({2})
– eigentlich ist es so logisch, dass selbst ein Fünfjähriger es verstehen müsste –: Wenn man sich etwas vor Mund und Nase hält, dann verringert dies die Verbreitung von Viren. – Sie haben es bis heute nicht begriffen; das tut mir leid.
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Nächster Punkt. Wenn es darum geht, Probleme zu lösen, macht man das mit Anstand. Sie haben eben hier reklamiert, Sie wollten, dass Ihnen die Rede von Herrn Weinberg erspart bleibt. Jetzt erspare ich Ihnen etwas nicht: „AfD-Politikerin instrumentalisiert totes Kind für Kampf gegen Masken“. Das war Ihre Bundestagskollegin Dr. Birgit Malsack-Winkemann. Da hat sich sogar Ihr Landesvorsitzender dahin gehend geäußert, dass es „zum Fremdschämen“ ist. Er bittet, dass sie sich entschuldigt und diesen Tweet löscht. Das hat sie bis heute nicht getan. – Das zum Thema Anstand.
({4})
Jetzt kommen wir mal zurück zum eigentlichen Thema. Herr Seestern-Pauly, Sie haben es eben schon angesprochen.
(Abg. Franziska Gminder (AfD) meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der AfD?
Nein, das brauchen wir jetzt im Moment nicht. Ich glaube, es ist eben alles gesagt worden.
({0})
Aber man kann gern hinterher noch was dazu sagen.
Ganz kurz. Ich möchte jetzt einfach mal was zu den Wortbeiträgen sagen, die bei der Thematik sinnvoll waren. Das war zum Beispiel die Rede des Kollegen Seestern-Pauly von der FDP. Sie haben recht: Wir haben den Kindern, den Familien, auch den Großeltern sehr, sehr viel abverlangt, und den Eltern müssen wir Respekt zollen.
Zu dem, was Sie angesprochen haben – Öffnung von Schulen, kein zweiter Shutdown –, möchte ich sagen: Ich bin hundert Prozent der Überzeugung, ein zweiter Shutdown würde den Familien und den Kindern viel mehr schaden als eine kleine Maske vor dem Gesicht.
({1})
Denn das, worunter die Kinder gelitten haben, war der mangelnde Kontakt – nicht mehr seine Großeltern umarmen zu können, nicht mehr mit anderen Kindern spielen zu können. Das war bitter für die Kinder, vor allem für die Einzelkinder. Deswegen gebe ich Ihnen an dieser Stelle hundert Prozent recht.
Sie sind anscheinend auch Mitglied in der Kinderkommission – war ich auch lange. An dieser Stelle kann ich auch Herrn Müller erwähnen, der dort gerade den Vorsitz hat. Zu der Idee, dass die Kinderkommission das Thema aufgreift, was Corona mit den Kindern gemacht hat und was die Folgen sind, möchte ich sagen: Wir sollten uns die Empfehlungen anschauen, die im Februar, nach den ganzen Fachgesprächen, kommen werden.
Was das Thema angeht, ob wir einen Kindergipfel brauchen, habe ich schon in der letzten Debatte im Mai gesagt: Ich bin dabei. – Ich glaube, wir sollten die Kinder anhören, ihnen zuhören und daraus lernen.
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Auch die Idee eines Pandemieplans halte ich an der Stelle für richtig.
Was die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz angeht, kann ich sagen: Das war immer eines meiner Steckenpferde, und ich weiß, dass wir so langsam auf einem guten Weg sind.
({3})
Und ich hoffe, dass ich es, bevor ich aus dem Deutschen Bundestag ausscheide – was ja zum Ende dieser Legislaturperiode der Fall sein wird –, vielleicht noch schaffe, dazu beizutragen, dass wir die Kinderrechte ins Grundgesetz bringen.
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Dann, würde ich sagen, hätte ich meinen Dienst erfüllt; dann wäre ich ausgesprochen glücklich.
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Jetzt noch einmal kurz zurück zu Ihrem Antrag. Ich finde, es ist eine bodenlose Unverschämtheit, wenn Sie schreiben, dass die „Gemeinschaft … den Kindern geschadet“ hat. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben versucht, mit unseren Maßnahmen so schnell wie möglich wieder Normalität in den Alltag der Kinder reinzubringen,
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und das ist uns gelungen.
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Und wenn Sie es nicht verstehen, frage ich mich: Haben Sie sich die Zahlen mal angeguckt? Es gibt kein anderes Land in ganz Europa, das eine so gute Bilanz hat wie wir. Die Franzosen hatten an einem Tag 17 000, die Inder an einem Tag 90 000 neue Infektionen. Wir sind das Land, das die beste Bilanz hat. Und das liegt nur an den Maßnahmen, die wir getroffen haben.
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Sogar der Nobelpreisträger Genzel sagte im Fernsehen, er danke der Kanzlerin und der Regierung für das umsichtige Handeln in der Pandemie. Da kann ich mich nur anschließen.
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Und dieser Erfolg – dass es dazu gekommen ist –, das ist unser gemeinsamer Erfolg.
Ich muss jetzt ein bisschen springen – ich sehe, meine Zeit läuft weg. Was mir wichtig ist, ganz kurz. Die Bestandsaufnahme durch die KiKo habe ich eben schon angesprochen. Was mich enttäuscht, was ich auch nach wie vor nicht verstehe: Unser Bundestagspräsident hat einen Appell an uns alle gerichtet, Masken zu tragen, und heute Mittag, in der Regierungsbefragung, ist Ihre Kollegin Gminder, die gerade da sitzt, ohne Maske hereingekommen. Unser Bundestagspräsident hat das kurz gerügt. Daraufhin hat Ihre Kollegin von Storch hier – ich sage es jetzt mal so – ein leichtes Fass aufgemacht. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis: Hier sitzen Mütter, Väter, Eltern, Großeltern.
({10})
Sie gehen zurück in ihre Familien, sie gehen zurück zu ihren Kindern. Auch das hat was mit Kinderschutz und Kindeswohl zu tun, wenn wir unsere eigenen Familien schützen.
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Ich werde meine Maske mit Stolz und Respekt tragen. Und ich bedanke mich bei allen Personen, die diesem Beispiel folgen. Wenn Sie es irgendwann auch tun würden, wäre ich sehr erfreut.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin Noll. – Sie sollten uns nicht mit der Ankündigung erschrecken, dass Sie nicht wieder kandidieren wollen. Das ist Ihre Entscheidung, aber es ist trotzdem sehr traurig, wenn ich das mal als Präsidentenkollege sagen darf.
({0})
Die Kollegin Franziska Gminder von der AfD-Fraktion hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich gebe dem statt. Sie haben das Wort.
Ich bedanke mich. – Ich möchte ein paar Sätze vorausschicken: Es ist heute zum ersten Mal die Pflicht, mit einer Maske vor dem Gesicht ins Plenum hineinzukommen. Ich kam direkt vom Ausschuss, ich hatte die ersten Worte des Bundestagspräsidenten nicht gehört,
({0})
hatte meine Maske bis zur Tür auf, ging ohne Maske hierher, und es tut mir furchtbar leid. Nachher kam eine Abgeordnete der Union herein, auch ohne Maske; die wurde nicht gerügt.
({1})
Ich nenne keine Namen, ich schwärze niemanden an.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mimimimimimimi!
Aber die Frage, die ich an Frau Noll stellen wollte: Haben Sie Kinder oder Enkelkinder?
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Das ist gar keine Provokation. Ich möchte nämlich sagen: Ich habe Kinder, ich habe sieben Enkelkinder, und ich habe zwei Enkelkinder – der Enkelsohn ist acht und die Enkeltochter ist sechs –, die in Baden-Württemberg zur Schule gehen. Der Achtjährige muss eine Maske tragen, das sechsjährige Mädchen noch nicht. Und ich habe erlebt, dass die Kinder dann eben fragen – sie nennen mich „Nonna“ –: Nonna, bringe ich dich um, wenn ich keine Maske trage? – Und da erzählen Sie, man macht den Kindern keine Angst! Also, das kann ich nicht verstehen. Es tut mir leid.
({3})
Frau Gminder, ganz kurz zur Erwiderung. Die Anweisung von unserem Bundestagspräsidenten ist Montag eingegangen. Wir Abgeordnete sind gehalten, uns rechtzeitig zu informieren. Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Sie haben damit die einmalige Gelegenheit, Vorbild für Ihre restlichen Kollegen zu sein.
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Ich habe bedauerlicherweise das Glück, dass mein Büro auf Ihrer Fraktionsebene ist, und ich musste feststellen: Zu dem Zeitpunkt, wo es nur die Empfehlung gab, eine Maske zu tragen, haben sich meine Mitarbeiter und andere, die ich gesehen habe, an die Empfehlung gehalten, auch aus einem Schutzgedanken heraus. Von Ihrer Seite ist das de facto ignoriert worden. Und ich hoffe, dass Sie die Pflicht jetzt ernst nehmen und dem nachkommen.
Vielen Dank.
({1})
Damit beende ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zum zweiten Mal in diesem Jahr ändern wir heute das Abgeordnetenrecht. Ende Mai haben wir eine Nullrunde bei den Diäten beschlossen. Heute führen wir zwei neue Ordnungsgelder bei Fehlverhalten von Abgeordneten ein. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir diese Ordnungsgelder in §§ 12 und 44a Abgeordnetengesetz interfraktionell und einvernehmlich vereinbaren können. Als wir vor gut neun Jahren das letzte Mal ein Ordnungsgeld gegen Abgeordnete einführen wollten, mussten wir dies noch gegen den erbitterten Widerstand von Linkspartei und Grünen machen.
Was wird künftig mit einem neuen Ordnungsgeld sanktioniert, und warum machen wir das? Ein Ordnungsgeld droht einem Abgeordneten bislang zum Beispiel schon bei falschen oder fehlenden Angaben zu anzeigepflichtigen Tätigkeiten oder anzeigepflichtigen Einkünften. Damit können Verstöße gegen die Transparenzregelungen im Abgeordnetenrecht sanktioniert werden. Kein Ordnungsgeld gab es bislang aber bei Verstößen gegen die Anzeigepflicht von Spenden oder gar gegen die Annahme eines unzulässigen Vorteils. Das ist erkennbar eine Regelungslücke; es ist nicht erklärbar, warum gegen einen Abgeordneten ein Ordnungsgeld festgesetzt wird, wenn er eine Tätigkeit nicht richtig oder rechtzeitig anzeigt, auf der anderen Seite aber kein Ordnungsgeld, wenn er eine Spende verheimlicht hat. Diese Lücke schließen wir jetzt.
Wir schließen auch eine zweite Lücke; denn wir führen auch ein Ordnungsgeld bei rechtswidriger Mitarbeiterbeschäftigung ein. Bereits jetzt regelt das Abgeordnetengesetz, dass wir Abgeordneten unsere parlamentarischen Mitarbeiter, unsere vom Bundestag bezahlten Mitarbeiter, nur für unsere parlamentarische Arbeit einsetzen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns im Herbst 2017 aufgetragen, diese Regelung insbesondere mit Blick auf Parteiarbeit und Wahlkampfzeiten konkreter und klarer zu fassen. Das haben wir im Herbst im Ältestenrat mit der Verabschiedung von Richtlinien dann auch getan und dort eine Liste verabschiedet, welche konkreten Tätigkeiten Mitarbeitern von Abgeordneten künftig in jedem Fall untersagt sind. Spätestens seitdem weiß also jeder, was erlaubt ist, und insbesondere, was verboten ist.
Jetzt führen wir ein Ordnungsgeld für die Fälle ein, bei denen gegen diese klaren Regelungen verstoßen wird. Die Höhe des Ordnungsgeldes, das wir festlegen, ist jedenfalls beachtlich; denn für jeden Verstoß können Ordnungsgelder bis zur Höhe der Hälfte der jährlichen Abgeordnetenentschädigung festgesetzt werden.
Nun wird sich mancher fragen, wie das mit einem Rückerstattungsanspruch ist, der hier ausdrücklich nicht geregelt ist. Wir haben darüber diskutiert. Wir hielten das – ich sage das ganz besonders für meine Fraktion – für rein deklaratorisch, weil es diesen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch, ein Institut, das die Rechtsprechung anerkennt, bereits gibt. Deshalb sehen wir auch keinen Grund dafür, dass man es zusätzlich noch einmal normiert. Der Erstattungsanspruch ist vorhanden.
Warum brauchen wir Ordnungsgelder gegen Abgeordnete? Letztlich dient das dem Schutz des freien Mandates. Wenn wir uns Regeln geben, wie wir uns verhalten sollen, dann müssen wir eben auch sanktionieren, wenn wir gegen diese Regeln bei der Ausübung unseres Mandates verstoßen. Deshalb müssen wir die Regeln auch immer wieder anpassen und Sanktionen vorsehen, wenn es Tatbestände gibt, die das erfordern.
Mit dem Gesetz werden wir auch Unsicherheiten beseitigen, die in den letzten Jahren bei den Verhaltensregeln aufgekommen sind. Eine dieser Regelungen schien bei wörtlicher Auslegung jeglichen Hinweis auf die Mitgliedschaft im Bundestag zu verbieten. Hierzu zählt beispielsweise schon die Angabe im Lebenslauf auf einer Internetseite. Das war selbstverständlich nie intendiert, nie der ursprüngliche Sinn dieser Vorschrift, die jetzt klargestellt wird. Verboten sind jetzt klar und ausdrücklich missbräuchliche Hinweise – missbräuchliche Hinweise! –, die geeignet sind, aufgrund der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag einen Vorteil in beruflichen oder geschäftlichen Angelegenheiten zu erzeugen.
Last, but not least eine weitere Regelung, mit der wir das Druckwerk des Amtlichen Handbuchs abschaffen. Das steht sicherlich nicht so im Mittelpunkt des Interesses. Aber das lässt sich heute alles sehr viel einfacher und bequemer und vor allem kostengünstiger übers Internet regeln und publizieren. Das spart immerhin 700 000 Euro in jeder Wahlperiode ein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt sicherlich noch andere Baustellen, über die man hier reden kann und auch reden muss. Wir werden jetzt auch weitere Vorschläge sicherlich noch hören. Wir haben auch über das eine oder andere diskutiert, und wir werden das an entsprechender Stelle auch weiterführen. Es ist allerdings wichtig, dass wir heute mit diesem Gesetzentwurf zu Potte kommen. Wir sind eben nicht bei allen Punkten, über die wir noch zu diskutieren haben oder die wir diskutieren wollen, zu einem beschlussfähigen Ergebnis gekommen. Wir müssen das Ordnungsgeld aber jetzt regeln, insbesondere mit Blick auf den Wahlkampf, der ja bald beginnt. Wir stellen heute schon auf; manche Kollegen sind schon aufgestellt. Da brauchen wir Sicherheit, da brauchen wir auch das Signal nach außen, dass wir das, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgetragen hat, ernst nehmen und dass wir es umsetzen. Das geschieht jetzt rechtzeitig. Deshalb bitte ich auch, hier diesem Vorschlag zuzustimmen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Seitz für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heute, am Tag zwei der Maskendiktatur,
({0})
zur Verabschiedung anstehenden Änderungen des Abgeordnetengesetzes und der Verhaltensrichtlinien sind sinnvoll und notwendig. Wir stimmen daher zu.
Es gehört zum unabänderlichen Selbstverständnis der Alternative für Deutschland, dass wir bei allen uns als Abgeordnete unmittelbar selbst betreffenden Regelungen immer auch das Interesse der Steuerzahler im Blick behalten.
({1})
Es ist schlimm genug, dass sich das Bundesverfassungsgericht überhaupt mit der Frage befassen musste, ob Mitarbeiter von Abgeordneten zweckwidrig für Parteiaufgaben eingesetzt werden, wofür im Streitfall aus dem Bundestagswahlkampf 2013 deutliche Anhaltspunkte vorlagen. Selbstredend muss in solchen Fällen eine Rückforderung erfolgen; liegt doch ein Verstoß gegen die Chancengleichheit der um den Einzug in den Bundestag konkurrierenden Parteien vor und auch eine Straftat. Das Entscheidende besteht jedoch darin, dass das Vertrauen der Bürger in unsere Demokratie geradezu mit Füßen getreten wird, wenn Abgeordnete derart ungeniert mit Steuergeldern umgehen und diese zweckwidrig verwenden, meist im Interesse der eigenen politischen Zukunft.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns deshalb mit seiner Entscheidung vom 19. September 2017 aufgegeben, erstens der Verwendung von Mitarbeitern im Wahlkampf verstärkt entgegenzuwirken und zweitens für eine nachvollziehbare Kontrolle zu sorgen.
Es ist deshalb im Hinblick auf das erste Petitum richtig, dass in Zukunft zusätzlich zur strafrechtlichen Sanktionierung auch noch Ordnungsgeld bis zur Hälfte der jährlichen Abgeordnetenentschädigung festgesetzt werden kann. In Verbindung mit der Handreichung mit typischen Beispielen für zulässige und unzulässige Tätigkeiten wird das Problembewusstsein geschärft. Niemand kann sich mehr auf Unwissenheit berufen.
Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts wird aber dennoch verfehlt, da das zweite Petitum nicht umgesetzt wird. Sanktionen können nur dann wirken, wenn sie auch verhängt werden. Ohne eine effektive Kontrolle wird der Nachweis eines zweckwidrigen Einsatzes von Mitarbeitern jenseits geständiger Einlassungen – die weltfremd sind – aber kaum zu führen sein; denn die auf der Hand liegende Schutzbehauptung, dass die jeweilige Tätigkeit außerhalb der Arbeitszeit erfolgte, wird so gut wie niemals zu widerlegen sein. Wenn ein Mitarbeiter während üblicher Geschäftszeiten Wahlplakate aufhängt, ist eine effektive Überprüfung, ob dies innerhalb oder außerhalb der Arbeitszeit war, nur dann möglich, wenn die Arbeitszeit aller Mitarbeiter nicht nur dokumentiert, sondern die Dokumentation auch zeitnah beim Präsidenten eingereicht werden muss.
Meine entsprechende Anregung in der Rechtsstellungskommission wurde von der Union nur mild belächelt. Das Argument, das Urteil befasse sich nur mit dem Einsatz von Mitarbeitern in Wahlkampfzeiten, ist aber ein Scheinargument, da der Streitgegenstand des Verfahrens nur die Wahlkampfzeit betraf und für eine umfassende Überprüfung des zweckwidrigen Einsatzes von Mitarbeitern die Antragsbefugnis gefehlt hätte. Die Wahrheit lautet also: Sie als Union wollen doch gar nicht, dass effektiv kontrolliert werden kann, und vermutlich ist der missbräuchliche Einsatz im Wahlkampf nur die Spitze des Eisbergs.
({3})
Den übrigen Änderungen können wir ebenfalls zustimmen. Insbesondere im Hinblick auf die Annahme unzulässiger Zuwendungen sowie die Verletzung der Anzeigepflicht bei Spenden besteht eine gravierende Regelungslücke.
Die Abschaffung des Amtlichen Handbuchs als Druckwerk ist auch richtig. Aber eine Einsparung von 700 000 Euro ist ein Nichts im Vergleich zu den Kosten dieses aufgeblähten Parlaments. Wenn der GroKo wirklich irgendetwas an den Interessen der Steuerzahler liegen würde, dann hätten Sie einer Wahlrechtsreform zustimmen müssen, die die Größe des Bundestags wirklich begrenzt und sich nicht auf kosmetische Korrekturen beschränkt, mit denen sich die CSU auch noch selbst begünstigt.
({4})
Zum Schluss habe ich an die GroKo, vor allem an die Union, die Frage, ob es mit dieser Änderung der Verhaltensregeln für diese Legislatur getan sein soll. Wir als AfD haben den Fall Amthor nicht vergessen. Selbstverständlich bedarf auch die Einräumung unsicherer Erwerbschancen wie bei Aktienoptionen der Transparenz durch Veröffentlichung.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und zur Änderung der Verhaltensrichtlinien regeln wir eigene Angelegenheiten. Zum einen erfüllen wir eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes, wonach aus Steuermitteln bezahlte Mitarbeiter von Abgeordneten während der Arbeitszeit nicht im Wahlkampf eingesetzt werden dürfen, und zum anderen stellen wir klar, dass Abgeordnete mit einem Ordnungsgeld bestraft werden können, wenn sie nicht anzeigen, dass sie Spenden oder Zuwendungen angenommen haben. Das sind eigentlich keine bahnbrechenden Fortschritte, sondern absolute Selbstverständlichkeiten. Lassen Sie mich trotzdem drei Anmerkungen dazu machen:
Die erste Nachricht ist, dass wir durch die Neuregelungen mehr Transparenz schaffen. Das ist gut. Die weniger gute Nachricht ist zweitens, dass jede noch so kleine Verbesserung der Transparenzregeln in einem schleppenden, zähen Prozess mühsam errungen werden muss.
({0})
Ich frage mich, warum das so ist. Als Vorsitzender der Rechtsstellungskommission weiß ich, dass in der Regel überhaupt nur dann etwas passiert, wenn entweder eine Rüge des Bundesverfassungsgerichtes vorliegt oder der Europarat uns auf Defizite hinweist oder durch einen Skandal die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Vorgang gelenkt wird. So war es zuletzt beim Kollegen Amthor. Da ist uns bewusst geworden, dass die Einräumung von Aktienoptionen gar nicht anzeigepflichtig ist. Diese Regelungslücke hätten wir sofort schließen können.
({1})
Sie ist nicht Teil dieser Novelle.
({2})
Ich habe allerdings die klare Erwartung, dass wir das noch in dieser Wahlperiode regeln.
Bei den Verhaltensregeln für Abgeordnete geht es ja letztlich um die Integrität und die Vertrauenswürdigkeit unserer Demokratie. Wir können von den Bürgerinnen und Bürgern nicht verlangen, dass sie die Rechtsordnung befolgen, wenn wir nicht sicherstellen, dass Abgeordnete ihre Position nicht nutzen, um persönliche Interessen zu verfolgen, oder sie bei der Ausübung des Mandates nicht missbrauchen.
({3})
Es geht nicht darum, die Abgeordneten zu gängeln oder ihre Berufstätigkeit infrage zu stellen, sondern es geht darum, mögliche Interessenkollisionen erkennbar zu machen und durch Verhaltensregeln für Transparenz und Offenheit zu sorgen.
Dritte Anmerkung. Nach drei Jahren der Flickschusterei ist das Regelwerk aus Abgeordnetengesetz, Verhaltensregeln und Ausführungsbestimmungen zu den Verhaltensregeln inzwischen so unübersichtlich geworden, dass die Transparenzregeln selbst intransparent werden. Selbst den Mitgliedern der Rechtsstellungskommission fällt es schwer, das unübersichtliche und verschachtelte Regelwerk noch zu überblicken. Deshalb plädiere ich dafür, dass in der neuen Wahlperiode eine grundlegende Überarbeitung und Vereinfachung der Regeln vorgenommen wird.
({4})
Sowohl die Abgeordneten als auch die interessierte Öffentlichkeit müssen ohne Einholung eines Rechtsgutachtens klar erkennen können, was Abgeordnete dürfen und was sie nicht dürfen.
Und wir sollten uns ein Beispiel an der Wirtschaft nehmen. Viele Unternehmen haben sich inzwischen strenge Compliance-Regeln gegeben, um die Integrität ihrer Geschäfte abzusichern. Ich finde, wir sollten nicht zu weit hinter den Compliance-Regeln der Wirtschaft zurückbleiben. Das Vertrauen ist das wertvollste Kapital in der parlamentarischen Demokratie, und ich finde, wir sollten einen pfleglichen Umgang damit sicherstellen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Dr. Florian Toncar für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute Änderungen am Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Bundestages, die die Integrität der Arbeit im Parlament sicherstellen sollen, indem sie für Transparenz sorgen, indem sie auch dafür sorgen, dass Interessenkonflikte offengelegt und auch für alle erkennbar sind. Und das ist grundsätzlich eine Sache, die für ein Parlament, das vom Vertrauen der Bürger in seine Integrität und die Integrität seiner Mitglieder lebt, das seine Autorität daraus bezieht, dass es ein solches Vertrauen gibt, notwendig ist.
Insofern sind wir auch als Freie Demokraten natürlich mit dabei, wenn es jetzt darum geht, bei Verstößen gegen die Anzeigepflicht von Spenden, gegen das Annahmeverbot unerlaubter Zuwendungen und auch gegen die Regeln zum Einsatz von parlamentarischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für unzulässige Zwecke entsprechende Ordnungsgelder einzuführen, in letzterem Fall übrigens im Einklang mit dem, was auch das Bundesverfassungsgericht von uns an Vorkehrungen verlangt.
({0})
Wir halten die ebenfalls heute mitgeregelten Bestimmungen im Hinblick auf die Vermeidung missbräuchlicher Hinweise auf die Mitgliedschaft im Bundestag zum Zwecke des beruflichen Fortkommens für noch nicht ganz ideal formuliert – das haben wir auch im Ausschuss vorgetragen –, weil diese Regelung am Ende den Abgeordneten eben doch mit der Beurteilung alleine lässt bzw. sehr, sehr wenig objektive Kriterien an die Hand gibt, was jetzt eigentlich erlaubt ist oder was nicht. Aber das ändert unter dem Strich nichts daran, dass wir der Regelung insgesamt zustimmen.
({1})
Wir sehen allerdings auch, dass es über das, was wir heute beschließen, hinaus den Bedarf gibt, die Integrität des politischen Prozesses, des parlamentarischen Prozesses, von der ich gesprochen habe, auch weitergehend zu schützen.
Wir hatten Anfang des Jahres den Fall Amthor, in dem uns offenbar noch mal bewusst geworden und gezeigt worden ist, dass bestimmte Dinge, die ein Abgeordneter bekommen kann, weiterhin unter dem Radar bleiben. In dem Fall waren es Aktienoptionen. Und das ist etwas, wo man auch ganz klar sagen muss: Eine Aktienoption ist ja nicht nur ein künftiges Recht, sondern hat jederzeit, auch gegenwärtig, schon einen gewissen, wenn auch nicht ganz genau bestimmbaren Wert, aber hat jederzeit einen Wert, allerdings möglicherweise in Zukunft einen noch höheren als heute. Und selbstverständlich bedarf es auch hier mindestens der Transparenz, dass man erfährt, was jemand möglicherweise heute mit Blick auf die Zukunft an Zusagen bekommen hat.
({2})
Insofern sind wir nicht zufrieden mit den Regelungen, die es bisher in diesem Zusammenhang gegeben hat.
Und natürlich – und darüber haben wir ja auch im Geschäftsordnungsausschuss in der letzten Woche im Rahmen einer Anhörung gesprochen – müssen wir auch am Thema Lobbyregister weiterarbeiten. Und nicht nur hier im Bundestag, sondern selbstverständlich und gerade auch bei der Bundesregierung muss es ein solches Lobbyregister geben. Die Regierung ist ja der Bereich, wo es noch schwerer ist, von außen draufzugucken und diese Transparenz herzustellen, als das im Parlament, wo wir uns auch untereinander streitig austauschen, gegeben ist. Insofern fordern wir, über das hinausgehend, was wir heute beschließen, selbstverständlich auch ein Lobbyregister hier im Parlament und bei der Bundesregierung. Das ist das, was zusätzlich nötig ist, damit Vertrauen in die Integrität des politischen Prozesses erhalten bleibt.
({3})
Das Wort hat Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat kleine Verbesserungen im Abgeordnetengesetz vorgeschlagen. Abgeordnete, die Spenden nicht anzeigen oder unerlaubt Zuwendungen annehmen, können endlich sanktioniert werden. Auch der verbotene Einsatz von Mitarbeitern im Wahlkampf soll nun spürbare Sanktionen nach sich ziehen. Selbstverständlich werden wir als Linke diesen schon lange überfälligen Änderungen des Abgeordnetengesetzes zustimmen.
({0})
Aber die echten Probleme – massiver Lobbyismus, Verdacht käuflicher Politik – packen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht an. Ja, die Koalition hat sogar verhindert, dass zwei Anträge von uns Linken heute mitdebattiert werden dürfen.
Erstens wollen wir als Linke, dass Abgeordnete ihre Nebeneinkünfte auf Euro und Cent genau angeben; denn bisher ist das nur in Stufen vorgesehen. Jeder von uns Abgeordneten erhält über 120 000 Euro an Diäten pro Jahr. Man müsste meinen, das reicht vollkommen. Aber in dieser Legislatur haben Abgeordnete bisher mindestens über 25 Millionen Euro durch sogenannte Nebentätigkeiten dazuverdient.
({1})
Die genaue Summe weiß niemand, weil sie nicht angegeben werden muss. Und so entsteht doch draußen der Eindruck: Die da oben, die schlagen sich die Taschen voll, und sie wollen nicht mal sagen, was sie genau bekommen. – Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen. Deshalb braucht es endlich eine exakte Angabe, welcher Abgeordnete wie viel Euro in welcher Branche verdient hat.
({2})
Zweitens wollen wir als Linke, dass Aktienoptionen anzeigepflichtig werden. Der Fall Amthor hat doch gezeigt, wie Aktienoptionen eingesetzt werden können, um Türen in die Politik zu öffnen – im konkreten Fall, um Augustus Intelligence Zugang zum Wirtschaftsministerium zu verschaffen. So was zerstört Vertrauen in die Politik, und deshalb müssen wir da endlich ran.
({3})
Das führt mich auch zum Thema Lobbyismus. Durch den Bundestag laufen circa 7 000 Lobbyisten, und ein großer Teil von diesen ist im Auftrag mächtiger Konzerne und Wirtschaftsverbände unterwegs.
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Und die Grenze zwischen Lobbyismus großer Konzerne und Korruption ist oft genug fließend. Deshalb ist es notwendig, hier umfassende Transparenz zu schaffen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, zu erfahren, welche Lobbyisten bei welchen Abgeordneten ein- und ausgehen. Sie haben ein Recht, zu wissen, welches Gesetz in welcher Form von welchem Lobbyisten beeinflusst und verändert wurde. Das nennt sich legislativer Fußabdruck. Ein Schritt dahin wäre ein umfassendes Lobbyregister, wie wir als Linke es schon seit vielen Jahren fordern.
({5})
Meine Damen und Herren, viel Vertrauen ist zerstört worden durch Herrn Amthor oder auch Herrn zu Guttenberg. Letzterer ließ ja seine Parteikontakte spielen, um den Betrügern von Wirecard Zugang zum Kanzleramt zu verschaffen. Wenn der Eindruck entsteht, dass Mitglieder der Regierungsparteien – in den bekannten Fällen waren das durchweg Mitglieder der CDU/CSU – für Konzerne exklusive Zugänge zu Ministerien oder gar ins Kanzleramt eröffnen können, dann schadet das der Demokratie. Ein Regierungsparteibuch darf keine Lizenz zum Lobbyismus für Konzerne sein. Deshalb ist viel mehr nötig, als Sie hier heute vorgelegt haben.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Britta Haßelmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr oder weniger zwei Jahre haben wir jetzt im Geschäftsordnungsausschuss und in der Rechtsstellungskommission darüber beraten, und klar ist: Das Abgeordnetengesetz und auch die Verhaltensregeln brauchen eine dringende Anpassung, brauchen eine dringende Veränderung, um mehr Transparenz zu schaffen, um Klarheit zu schaffen in vielen Fragen, die Abgeordnete betreffen und ihre Nebeneinkünfte und anderes. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht uns diesen Auftrag gegeben. Es wird jetzt wirklich Zeit, diese Verfassungsgerichtsentscheidung endlich umzusetzen; denn wir stehen ein Jahr vor den Bundestagswahlen.
({0})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf bezieht sich auf die Ausweitung der Sanktionstatbestände. Es soll einmal darum gehen, den Katalog für Sanktionen um Nichtanzeige von Spenden sowie um den Verstoß gegen § 44a Absatz 2 des Abgeordnetengesetzes zu erweitern; das bedeutet das Verbot der Annahme von Zuwendungen für die Mandatsausübung. Es ist sehr relevant, dies für die Zukunft zu regeln. Denn das ist ein ständiges Einfallstor für Misstrauen seitens der Öffentlichkeit hinsichtlich der Frage, was Abgeordnete in ihrer Tätigkeit machen und ob es da missbräuchliche Anwendungen gibt. Deshalb ist das sehr richtig und notwendig.
Die Änderung beim Hinweisverbot war uns nicht ganz so wichtig. Wir hätten auch mit der bisherigen Regelung leben können.
Dann gibt es zahlreiche rechtstechnische Änderungen sowie die Abschaffung des Amtlichen Handbuches, was demnächst in elektronischer Form vorhanden sein wird.
Das Wichtigste ist, glaube ich, zu sagen, dass es jetzt endlich Regelungen gibt zum zulässigen Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten. Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Beschluss vom 19. September genau diese Aufgabe auferlegt. Wir haben jetzt einen Negativkatalog an Tätigkeiten, die Abgeordnetenmitarbeiter/-innen nicht ausüben dürfen, und wir haben jetzt einen Sanktionsmechanismus, wenn dagegen verstoßen wird.
Ich hatte in den Berichterstatterinnen- und Berichterstattergesprächen das Gefühl, dass doch die meiste Überzeugungsarbeit im Hinblick auf die Sanktionierung und die Rückforderung von Mitteln, die für mich klar ist, bei der SPD geleistet werden musste; das fand ich verblüffend und bemerkenswert. Deshalb: Thomas Oppermann, leiste da noch ein bisschen Überzeugungsarbeit, auch in deiner eigenen Fraktion. Gerade was die Rückforderungsansprüche angeht, war ich echt entsetzt.
Es ist aber gut und wichtig, dass wir das Ganze machen. Deshalb erhält das Gesetz heute unsere Zustimmung.
Offen sind aber viele andere Fragen: die Offenlegung der Nebeneinkünfte auf Euro und Cent, die Anzeigepflicht bei Beteiligungen an Unternehmen und vor allen Dingen auch die Klarstellung, dass Aktienoptionen auf jeden Fall als Vermögensvorteil anzeigepflichtig sind, meine Damen und Herren.
({1})
Das hat uns doch der Fall Amthor ganz deutlich gemacht.
Wir können uns heute also nicht nur auf die Schultern klopfen, dass wir was Wichtiges gemacht haben, sondern wir haben einen Handlungsauftrag hin zu mehr Transparenz und Klarheit in den genannten Fragen im Hinblick auf uns Abgeordnete.
Kollegin Haßelmann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das müssen wir als Nächstes angehen, wenn wir heute den Beschluss gefasst haben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Carsten Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute zu beratende Änderung des Abgeordnetengesetzes wird mit absoluter Sicherheit nicht die letzte sein. Es ist in einer Vielzahl von vorhergehenden Beiträgen schon auf den wesentlichen Inhalt eingegangen worden. Lassen Sie es mich in ganz wenigen Teilen noch wiederholen. Viele Ergänzungen, die wir heute vornehmen, sind ebenfalls auch schon ausführlich dargelegt worden.
Worum geht es im Kern? Es geht im Kern darum, dass wir zwei Sachverhalte, die bereits bisher verboten waren, nun auch sanktionieren. Das halte ich für wichtig, weil wir mit solchen Sanktionen zum einen tatsächlich abschließend klarstellen, dass die sanktionierten Sachverhalte sich nicht gehören und überhaupt nicht begangen werden dürfen, und wir zum Zweiten das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere Tätigkeit unterstützen oder wiederherstellen, sofern es hier und da einmal verloren zu gehen drohte. Denn, meine Damen und Herren, Voraussetzung für das Vertrauen in die Tätigkeit der Abgeordneten ist Transparenz.
({0})
Wir schützen vor allen Dingen mit diesen relativ strengen Sanktionen das freie Mandat und behindern es nicht, sondern, wie gesagt, wir befördern es geradezu.
Was machen wir heute? In aller Kürze, weil, wie gesagt, schon mehrfach dargestellt: Wir schließen die bisherige Lücke bei der Nichtanzeige von Spenden. Wie gesagt, es war schon bisher verboten. Es wird künftig aber auch noch erheblich sanktioniert. Meine Damen und Herren, das ist insofern sachgerecht, als wir ansonsten einen Wertungswiderspruch hätten. Die Nichtanzeige von erhaltenen Spenden ist ja im Wesentlichen vergleichbar mit Einnahmen aus Nebentätigkeiten. Das Gleiche gilt für die Gewährung von entsprechenden Vorteilen.
Wir kommen darüber hinaus dazu, dass wir ein Ordnungsgeld verhängen, wenn es zu einer rechtswidrigen Beschäftigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommt. Die dafür herangezogenen Sachverhalte sind hier auch schon dargelegt worden. Es ist ebenfalls dargelegt worden, dass uns das Bundesverfassungsgericht mit einem Beschluss vom 19. September 2017 genau dieses zur Aufgabe gestellt hat. Wir kommen diesem tatsächlich genau rechtzeitig nach, nämlich vor dem heraufziehenden Bundestagswahlkampf.
Wir – das hat die Beratung heute im Wesentlichen auch ergeben – nehmen diese Änderungen sehr einvernehmlich vor. Das war im Übrigen nicht immer so, wenn es um die Sanktion von verbotenen Sachverhalten nach dem Abgeordnetengesetz ging. Bei der letzten Einführung von Sanktionen im Jahre 2011 konnten sich Linke und Grüne dieser Sanktionskatalogerweiterung nicht anschließen. Wir machen es heute gemeinsam. Das halte ich für richtig.
Die angedrohten Sanktionen erreichen – das ist einmal bereits erwähnt worden – auch spürbare Größenordnungen. Wir reden hier über einen Rahmen, der eine Abgeordnetenentschädigung eines halben Jahres erreichen kann, also sechs Monatseinkommen wegnehmen kann. Meine Damen und Herren, das lässt, glaube ich, auch den Letzten darüber nachdenken, was sich hier gehört und was sich nicht gehört.
Auf die weiteren Klarstellungen ist ebenfalls hingewiesen worden. Wir regeln in § 5, in welchem Umfang die Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag dargestellt werden darf, und geben folgende Regelung an die Hand: Missbräuchliche Hinweise liegen dann vor, wenn versucht wird, „aufgrund der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag einen Vorteil in beruflichen oder geschäftlichen Angelegenheiten zu erzeugen“. Der Kollege der FDP hat gesagt, es sei etwas wenig genau. Tatsächlich ist diese Regelung sehr gut zu verstehen, und im Zweifelsfall wird die Rechtsprechung diese ausfüllen. Ich glaube auch, wir dürfen von den Abgeordneten dieses Hauses, die im Übrigen regelmäßig Gesetze produzieren, erwarten, dass sie verstehen, was hiermit gemeint ist. Richtig schwierig ist es nicht.
Die Abschaffung des Amtlichen Handbuches und die damit verbundene Einsparung von 700 000 Euro pro Jahr ist erwähnt worden. Ich darf noch mal klarstellen, weil die eine oder andere besorgte Nachfrage mich erreicht hatte: Es ist das Amtliche Handbuch gemeint; es ist nicht der privat verlegte Kürschner gemeint. Dieses interessante Nachschlagewerk bleibt Ihnen insofern erhalten.
Es steht einer Zustimmung zu diesen Änderungen nichts mehr entgegen. Ich bitte insofern um Zustimmung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Matthias Bartke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politische Entscheidungsträger müssen sich heute ganz anders legitimieren, als das früher der Fall war. Die guten alten Zeiten waren nämlich nicht so gut, wie viele immer noch meinen. Sie waren vor allem deutlich intransparenter. Heute gilt: Transparenz ist erste Politikerpflicht. Denn Transparenz im Parlamentsbetrieb heißt: Es geht um die Legitimation des Gesetzgebungsprozesses. Deswegen nehmen wir die bestehenden Regeln in den Blick und ergänzen sie dort, wo es notwendig ist.
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung machen wir mit den vorliegenden Entwürfen: Wir ergänzen einen Teil der Transparenzregeln für Bundestagsabgeordnete; wir führen neue Sanktionierungen mit Ordnungsgeldern ein. Die wichtigste Sanktionierung gilt bei Verstößen gegen die Anzeigepflicht von Spenden und bei Verstößen gegen das Annahmeverbot von unzulässigen Zuwendungen und anderen Vermögensvorteilen. Damit setzen wir eine Empfehlung der GRECO um. Die GRECO ist die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kommende Jahr ist ein Wahljahr. Ein Ordnungsgeld kann künftig auch für den Einsatz von Abgeordnetenmitarbeitern im Wahlkampf verhängt werden. Es kann bis zur Hälfte einer Abgeordnetendiät betragen – einer Abgeordnetenjahresdiät, wohlgemerkt. Das Bundesverfassungsgericht hat ein solches Sanktionssystem bereits 2017 eingefordert. Man kann sagen: Höchste Zeit, dass wir das umsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die von uns jetzt vorgenommenen Rechtsänderungen sind wichtig und notwendig. Aber lassen Sie mich durchaus selbstkritisch sagen: Es stimmt schon nachdenklich, dass wir in Sachen Transparenz immer nur nach Empfehlung und Aufforderung tätig werden; der Kollege Oppermann hat es zutreffend erwähnt.
({0})
Es gibt tatsächlich noch einige Punkte, über die wir miteinander reden müssen. Wie wir alle wissen, hat es in der Vergangenheit einen Fall gegeben, den Fall des Kollegen Amthor, bei dem dieser für seine Lobbyarbeit Aktienoptionen erhalten hat. Legal, aber ganz sicher nicht legitim.
({1})
Der Fall zeigt, dass wir unbedingt eine Anzeigepflicht für Aktienoptionen brauchen. Auch müssen wir über die Lobbyarbeit neben dem Mandat reden. Es kann nicht sein, dass Abgeordnete Kapital aus der Mandatsausübung schlagen.
Auch der Besitz von Aktien muss strenger reguliert werden. Beteiligungen an Aktiengesellschaften sind nach geltender Rechtslage erst ab 25 Prozent anzeigepflichtig. Dieser Schwellenwert ist viel zu hoch. Bei kleinen Aktiengesellschaften wird er schnell erreicht, bei größeren fast nie. Aber die Beteiligung an größeren Aktiengesellschaften ist sicherlich profitabler.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach § 6 der Verhaltensregeln müssen Abgeordnete vor dem Beginn einer Ausschusssitzung ihre Befangenheit wegen bestehender Interessenkonflikte bekannt geben. Sie können sich vorstellen, wie häufig das praktiziert wird. Richtig: fast nie. Nicht, weil es keine Interessenkonflikte gibt, sondern weil alle denken, sie seien gar nicht befangen. Ich finde, auch hier sollten wir nachbessern und konkretisieren.
Vergangenen Donnerstag hatten wir eine spannende Ausschussanhörung zum geplanten Lobbyregistergesetz. Auch das Lobbyregister wird Licht in das Dunkel der Interessenvertretung bei der Gesetzgebung bringen. – Herr Toncar, selbst die FDP ist mittlerweile dafür. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
({2})
Ich glaube, man kann insgesamt sagen: Die Zeichen stehen auf Transparenz.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Coronakrise ist für viele Menschen eine extreme Belastung; aber ganz besonders hart getroffen hat es unser Bildungssystem. Kindern wurde über Wochen und Monate ihr so elementares Recht auf Bildung verwehrt. Eltern sind tagtäglich unter der enormen Dreifachbelastung aus Arbeit, Haushalt und Homeschooling an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit und darüber hinaus gelangt. Und auch für die Lehrkräfte waren geschlossene Schulen keinesfalls Freizeit, sondern viele kämpften trotz aller Widrigkeiten und fehlender Infrastruktur darum, ihre Schüler auch während des Lockdowns nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Das, meine Damen und Herren, darf nie wieder geschehen!
({0})
Weltbeste Bildung ist ein Chancenturbo. Sie fördert Kreativität und Erfindungsreichtum, die Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Sie ermöglicht individuelle Lebenswege und ein Leben in Selbstbestimmung. Dadurch, dass Schülerinnen und Schülern dieser Zugang über so lange Zeit verwehrt blieb, sind Zukunftschancen zerstört worden.
Meine Damen und Herren, die Erinnerungen an dieses Unterrichtsdesaster zu Beginn der Coronakrise, bei dem das System Schule quasi völlig zum Erliegen kam, stecken Kindern, Eltern und Lehrkräften immer noch in den Knochen. Wochenlang wurden sie von der Politik im Stich gelassen. Das war schlimm.
({1})
Und schon wieder mehren sich die Sorgen. Ein Blick auf die aktuelle Infektionslage zeigt: Die Coronapandemie ist nicht vorbei; wir werden auch im Herbst und im Winter mit dem Virus leben müssen. Umso mehr brauchen wir jetzt einen breiten Konsens auf allen staatlichen Ebenen: vom Bund bis zu den Kommunen. Ein solches Staatsversagen wie zu Beginn der Coronakrise darf sich nie wiederholen, meine Damen und Herren!
({2})
– Das sollten Sie wissen, Herr Kollege. Wenn Sie das nicht mitbekommen haben, dann sollten Sie noch mal in sich gehen.
({3})
Wir müssen jetzt mit gemeinsamen Kräften alles tun, um im laufenden Schuljahr hochwertigen Unterricht für unsere Kinder sicherzustellen, und zwar unabhängig vom weiteren Infektionsgeschehen. Der Staat muss ein handfestes politisches Versprechen geben, auf das sich Schüler und Eltern verlassen können, und das muss heißen: Wir garantieren jederzeit den Zugang zu Bildung und Betreuung.
({4})
Die FDP-geführten Ministerien für Schule und Kita in NRW gehen da mit voller Tatkraft und mit gutem Beispiel voran. Zu einer solchen Bildungsgarantie gehören zwei klare Zusagen an die Bürgerinnen und Bürger:
Erstens. Das Infektionsgeschehen in einzelnen Regionen darf nicht wieder dazu führen, dass Schulen flächendeckend in einem ganzen Bundesland oder gar bundesweit schließen müssen. Lässt die lokale Entwicklung der Infiziertenzahl auch mit dem besten Hygienekonzept in einer Schule keinen Präsenzunterricht zu, dann darf deswegen nicht auch noch die Schule im Nachbarort geschlossen werden. Es braucht ein gezieltes und regionales Vorgehen; alles andere wäre fahrlässig.
({5})
Zweitens. Selbst wenn eine Schule zeitweise schließen muss, dann darf das auf keinen Fall bedeuten, dass kein Unterricht mehr stattfindet. Die Bundesbildungsministerin hätte daher längst dafür sorgen müssen, dass ein Wechsel zu digitalem Unterricht jederzeit reibungsfrei möglich ist. Ausreichend digitale Endgeräte für Lehrkräfte und Schüler, ganz besonders für solche aus benachteiligten Familien, funktionierende Lernplattformen, in denen Aufgaben hochgeladen werden und Lehrkräfte den Schülern direktes Feedback dazu geben können, und für digitalen Unterricht entsprechend ausgebildete Lehrkräfte – all das ist dafür dringend notwendig.
({6})
Mit einem Digitalpakt 2.0 hätte Ministerin Karliczek längst die Grundlage dafür schaffen können. Sie hat es versäumt. Das ist nichts anderes als Arbeitsverweigerung, meine Damen und Herren.
({7})
Liebe Koalition, lassen Sie nicht zu, dass wir unseren Kindern noch einmal ihre Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben schmälern. Unterstützen Sie unseren Antrag, damit die Kanzlerin besser heute als morgen gemeinsam mit den Ländern eine Betreuungs- und Bildungsgarantie auf den Weg bringt.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Dietlind Tiemann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Suding, mich verwundert ein bisschen, was Sie ausgeführt haben. Ich glaube, Sie haben Ihren eigenen Antrag nicht gelesen.
Die FDP fordert in ihrem Antrag eine Bildungs- und Betreuungsgarantie für alle Kinder – so steht es dort. Der Ursprung dieser Erkenntnis kommt wohl aus dem am 7. September dieses Jahres gefassten Beschluss Ihrer Partei. Darin hieß es zum Beispiel, die Erfahrung der Coronapandemie hätte gezeigt, dass Schulschließungen nicht vorgenommen werden mussten. Keine Einrichtung sei schließlich ein Hotspot geworden. Deshalb müssten die Schulen und Kitas auch in der kalten Jahreszeit unter allen Umständen offen bleiben. – Welche Erkenntnis! – Die Garantie dafür soll aus dem Kanzleramt kommen. – Auch das ist gut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihre Bestandsaufnahme ist richtig; so kann man es bezeichnen. Schulen wurden keine Hotspots, der Zugang zu Bildung ist ein zentraler Baustein der Sozialpolitik, und für den Fall von regionalen Schließungen braucht es selbstverständlich Notfallkonzepte. Alles korrekt, alles gesetzlich geregelt, und alles auch von der Ministerin und dem Kanzleramt beabsichtigt und umgesetzt.
({0})
Das hätte Ihnen bereits am 7. September dieses Jahres schon klar sein können.
({1})
Den Ausflug in die Gesetzeslage erspare ich Ihnen selbstverständlich, weil ich glaube, dass Sie das nur zu gut wissen: Das im Antrag genannte Recht auf Bildung ist ein Grundrecht; das müssen wir hier nicht noch mal beschließen.
Was ich Ihnen nicht erspare, sind zwei Zitate unserer Ministerin Karliczek.
({2})
Zwei Tage vor Ihrem Vorstandsbeschluss am 5. September sagte sie – das kann man sogar nachlesen; ich zitiere –: „Mit Abstand, Hygiene und Alltagsmasken werden wir gut durch die nächsten Wochen kommen.“
({3})
Und gestern, am 6. Oktober, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland – ich zitiere auch hier –: „Ich glaube, niemand will Schulen wieder schließen, wenn es nicht wirklich einen ganz, ganz harten Grund gibt, warum es unbedingt sein muss.“
Warum vermittelt der Antrag dann den Eindruck, es würde hier vonseiten der Union keine Einigkeit herrschen?
({4})
Wir wollen keine Schulschließungen; das ist deutlich erklärt worden. Wir wollen für alle Kinder und Jugendlichen den sozialen Ort Schule offen halten.
({5})
Und wir wollen und wir setzen regionale Notfallkonzepte um. Für uns heißt aber gute Bildung und Betreuung nicht nur Offenhalten von Schulen und Kitas;
({6})
das sollte an der Stelle auch noch mal deutlich gesagt werden.
({7})
Wir übernehmen Verantwortung für den Bildungsfortschritt der Schüler durch passgenaue Unterstützungsmaßnahmen in den Ferien. Beispiele kann ich Ihnen nennen: Die „Lernbrücken“ in Baden-Württemberg oder die „Ferienakademie“ in Hessen wurden von den Schülern sehr gut angenommen. Damit haben wir Lücken geschlossen, die die Coronakrise gerissen hat. Wir übernehmen Verantwortung für die Gesundheit aller Schüler und Lehrer
({8})
durch Hygienekonzepte und Belüftungspläne und zum Beispiel durch einen 37-Millionen-Euro-Modellversuch mit Lüftungsanlagen in Bayern.
({9})
Wir verbessern die digitale Situation in den Ländern – wenn Sie zuhören, dann verstehen Sie es auch – durch 100 Millionen Euro für die Cloud-Struktur,
({10})
durch 500 Millionen Euro für das Schüler-Sofortprogramm, durch noch mal 500 Millionen Euro für Dienstrechner der Lehrkräfte, für günstige Internetzugänge für Schüler von Zuhause,
({11})
für die Finanzierung von IT-Administratoren an den Schulen.
({12})
Sie waren doch heute zum Teil im Ausschuss. Da hat die Ministerin noch mal sehr deutlich gemacht: Um die Mittel aus Europa nicht erst im nächsten Jahr zu haben, werden wir mit dem Finanzministerium klären,
({13})
dass die Mittel vorfinanziert sind, dass sie sofort zur Umsetzung kommen. – Wenn Sie heute zugehört haben, dann wissen Sie, dass das deutlich war.
Alles das ist seit 2020 passiert; alles das sorgt für eine spürbare Verbesserung der Situation in unseren Schulen. Ihre Bildungs- und Betreuungsgarantie wird schon längst von uns umgesetzt. Ich glaube, wenn Sie über Ihren Antrag nachdenken, stellen Sie fest: Es ist bereits alles vorhanden und umgesetzt, worum es hier geht. Wir sollten daher gemeinsam alle Kraft, insbesondere in unseren Wahlkreisen, dafür einsetzen, dass die Länder und Kommunen ihren Verpflichtungen nachkommen; denn dort liegt die Verantwortung. Die entsprechenden Rahmenbedingungen haben wir hier beschlossen.
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Sie sollten sich darüber im Klaren sein, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Wir können bestehende Dinge natürlich immer noch mal beschließen, aber einen Effekt hat es nicht. Wir als Koalition und wir alle, die wir hier Verantwortung tragen als Abgeordnete, werden das Wasser nicht einfach bergauf fließen lassen können, nur weil die FDP es beschließt.
Es war zu Beginn der Pandemie richtig, Schüler und Lehrkräfte zu schützen, und es ist jetzt richtig, Schüler und Lehrkräfte zu schützen. Wir haben dazugelernt, wir wissen nun mehr und können die Lage besser einschätzen. So ehrlich gehen wir miteinander um. Wir haben zu Anfang nicht gewusst, was uns erwartet und vor welche Herausforderung wir gestellt werden. Deshalb haben wir die feste Absicht, alles für die Kinder und Jugendlichen zu tun, natürlich in besonderer Verantwortung der Länder und Kommunen, wie eben schon erwähnt.
Aber – und das muss klar sein – es werden weiterhin alle Maßnahmen immer mit Bezug zum Gesundheitsschutz ausgeführt. Das sind wir den Kindern, Jugendlichen, Eltern und natürlich Lehrern und Schulmitarbeitern selbstverständlich schuldig. Aber – und das will ich hier ganz deutlich sagen – dafür brauchen wir nicht den Antrag der FDP und ihren Ruf nach Garantien, sondern Macher wie die Union,
({15})
die in der Koalition entschlossen Vorschläge umsetzt.
Herzlichen Dank für Ihren Beifall.
({16})
Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Werte Frau Tiemann! Übernehmen Sie doch erst mal die Verantwortung für die Coronamaßnahmenkrise. Sie sind die Verursacher der Krise und nicht die Retter!
({0})
Liebe FDP, ich darf Sie beglückwünschen, dass auch Ihre Fraktion mittlerweile die Unsinnigkeit der völlig überzogenen Coronamaßnahmen erkannt hat. Ihre Hoffnung in die Digitalität als allein heilsbringende Maßnahme zur Beschulung und Betreuung von Kindern teilen wir jedoch nicht. Die AfD-Fraktion forderte schon im Juli, dass auch in Krisenzeiten ein Präsenzunterricht sichergestellt sein muss. Unsere Maßnahmenvorschläge hierzu haben wir in unserem Antrag „Qualitätspakt Schule – Humane und humanistische Bildung durch Schüler-Lehrer-Kontakt gewährleisten“ detailliert dargelegt. Schön, dass Sie mittlerweile auch alle draufgekommen sind!
({1})
Die von Ihnen unterstellte Gleichwertigkeit von digitalem Unterricht und Präsenzunterricht geht völlig an der Lebenswirklichkeit der Schüler, Lehrer und Eltern vorbei und ignoriert die längst bekannten Fakten, die uns eine Forsa-Umfrage in der Coronamaßnahmenkrise erneut bestätigt hat: Digitaler Unterricht kann eine sinnvolle Ergänzung zum Präsenzunterricht sein. – Ja, er kann diesen aber nicht ersetzen, er ist dem Lernerfolg nicht zwingend dienlich und aus familienorganisatorischer Sicht derzeit untauglich.
({2})
Selbstverständlich muss auch Kinderbetreuung in Krisenzeiten sichergestellt sein: für die Kinder, für die berufstätigen Eltern, für das wirtschaftliche und soziale Funktionieren unseres Staates. Es entspricht leider dem herrschenden sozialistischen Grundkonsens, dass alle anderen Parteien stets die Fremdbetreuung von Kindern für vordringlich förderungswürdig halten. Sie halten es, und die FDP auch, für einen emanzipatorischen Meilenstein, Kinder frühestmöglich der staatlichen Obhut und damit der Oberhoheit zuzuführen.
({3})
Geben Sie es doch endlich zu: Frauen sind für Sie nur etwas wert, wenn sie sich selbst verwirklichen, indem sie Lohnsteuer und Sozial- und Rentenbeiträge bezahlen.
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Traditionelle Familien sind für Sie verdächtige Relikte. Dabei hat die Krise doch vor allem eines gezeigt: Die klassische Familie mit traditioneller Aufgabenverteilung, also ein Elternteil in Lohnerwerbsarbeit und ein Elternteil zu Hause, ist pandemiekrisensicher.
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Die staatliche Kinderbetreuung hingegen hat komplett versagt.
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Wir sagen: Das politische Bekenntnis zur Familie als Keimzelle und Säule der Gesellschaft ist die notwendige und die einzige Antwort auf diese Krise.
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Werte Regierung, stellen Sie doch endlich die tatsächliche Wahlfreiheit der Eltern wieder her! Laut Grundgesetz haben die Eltern zu entscheiden, wie sie jenseits von Schulpflicht ihre Kinder erziehen und betreuen möchten, erst recht in den ersten Lebensjahren. Die Antragsteller wollen eine Betreuung zu Hause zwar nicht verbieten, sie propagieren aber, dass der Genuss externer frühkindlicher Bildungsangebote höhere Chancen auf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen würde. Ja, hallo, das degradiert Eltern, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren bis zur Schulpflicht daheim betreuen möchten, zu ignoranten und unfähigen Rabeneltern.
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Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?
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Die AfD-Fraktion ist der Überzeugung, dass mündige Bürger in der Regel sehr genau wissen, was für ihre Kinder am besten ist, auch ohne die arroganten Belehrungen der FDP. Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun Marja-Liisa Völlers das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wecker klingelt, der Hals kratzt, die Nase ist zu, und der Kopf brummt. Zur Arbeit kann ich so jedenfalls nicht. Was dann? Warte ich erst mal zu Hause ab? Mit wem hatte ich Kontakt? Oder mache ich besser gleich einen Test? Es sind Fragen über Fragen, die uns in diesem besonderen Jahr im Herbst und Winter noch häufig beschäftigen werden, Fragen, die ich mir auch schon gestellt habe, Fragen, die unseren Alltag bestimmen, den unserer Erziehungs- und Lehrkräfte aber ganz besonders.
Das sind übrigens alles Fragen, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, in keiner Zeile Ihres Antragstextes erwähnen. Sie fordern eine bundesweite Bildungs- und Betreuungsgarantie.
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Als Schaufensterantrag ist das ja ganz schön und gut; aber mehr ist es dann halt auch nicht.
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Natürlich – da sind sich fast alle hier im Haus einig – sind Schulen und Kitas das Letzte, was wir wieder schließen sollten. Wie schwer die Situation der geschlossenen Bildungseinrichtungen für Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und die Lehrkräfte war, muss ich an dieser Stelle, glaube ich, nicht noch einmal betonen. Bildung ist neben Gesundheit das höchste Gut. Sie ist der Schlüssel zur Welt und so wichtig für unsere Zukunft. Es ist unser aller Aufgabe, diese hier gemeinsam zu verteidigen.
Deshalb wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion auch die Kinderrechte im Grundgesetz verankern.
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Kita und Grundschule sind nicht nur dafür da, Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu organisieren; sie sind Lern- und Lebenswelten. Wir meinen es ernst, wenn wir sagen, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat.
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Warum genau, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind Sie noch einmal gegen die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz?
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Als Bildungs- und Gesundheitspolitikerin ist mir durchaus klar: Es bleibt weiterhin ein Spagat zwischen dem Recht auf Bildung und ausreichendem Gesundheitsschutz. Deshalb versuchen wir, wo wir können, den digitalen Unterricht zu stärken. Wenn wir gut durch die kalte Jahreszeit kommen wollen, dann müssen Lehrkräfte flexibel online oder eben auch im Präsenzunterricht die Klasse unterrichten. Es wird außerdem ganz entscheidend darauf ankommen, dass wir Infektionsketten früh identifizieren und vor allem unterbrechen. Es ist zu kurzsichtig und verantwortungslos, zu sagen: Entspannt euch, bis jetzt ist ja noch keine Schule so richtig zu einem Corona-Hotspot geworden. – Das ist so, weil die Gesundheitsämter Tag und Nacht an Kontaktverfolgungen arbeiten, in der breiten Masse auch einen großartigen Job machen, und vor allem, weil der größte, der allerallergrößte Teil unserer Bevölkerung so verantwortungsvoll handelt. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen!
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Ich komme zum Ende. Sparen wir uns doch lieber solche Anträge wie diesen hier von der FDP. Dieser ist doch eh nur dafür gedacht, die eigene Öffentlichkeitsarbeit anzustoßen. Arbeiten wir stattdessen gemeinsam weiter, dass wir gut durch die Pandemie kommen.
Frau Höchst, noch zu Ihnen. Was Wahlfreiheit von Familien, von Frauen in diesem Land betrifft: Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz wäre eine Empfehlung zur Lektüre!
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– Aber das ist doch gegeben, Frau Höchst. Natürlich!
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Das Wort hat Dr. Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ja, die Auswirkungen der Coronakrise haben vor allen Dingen Kinder und Jugendliche in ganz besonderer Weise zu spüren bekommen. Aber zur Debatte gehört immer dazu: Von den Auswirkungen der Maßnahmen gegen das Coronavirus waren nicht alle gleich betroffen.
Von den Folgen dieser Krise waren jene jungen Menschen, Kinder und Jugendliche, sehr viel stärker betroffen, deren Familien wenig Geld und wenig Möglichkeiten haben, die in problembeladenen Situationen und Lebensumständen aufwachsen müssen. Sie können weniger kompensieren. Um ihnen zu helfen, fließt sehr viel weniger öffentliches Geld als in anderen Bereichen, ihnen wird sehr viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Über das Abitur ist öffentlich und sehr kontrovers diskutiert worden, nicht aber über die Situation beispielsweise an Förderschulen. Das alles beschneidet die Entwicklungsmöglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen.
Sie können sich ein Bild davon machen, wenn Sie mal eine Woche lang in einer Kita oder in einer Grundschule in den sogenannten Brennpunktvierteln unterwegs sind. Ich habe das gemacht, und das schärft in der Tat die Sinne.
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Das, was man dort erleben muss, entzieht unserer Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt und ist deshalb nicht hinnehmbar – jedenfalls nicht für uns Linke.
({1})
Wir reden viel über digital gestütztes Lernen, und das ist auch in Ordnung so. Es gehört zur Lebenssituation. Kinder und Jugendliche müssen wissen, wie die Dinger funktionieren; sie müssen sich vorbereiten auf die Lebenswelt – überhaupt keine Frage. Aber eines ist auch klar: Lernen ist und bleibt ein sozialer Prozess, und dieser ist eben nicht reduzierbar auf das Verhältnis zwischen Maschine und Mensch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die eigentlichen Probleme im Bereich der Bildung in unserem Land sind dieselben wie vor Corona. Wir haben zu wenige Lehrkräfte. Wir haben zu wenig Schulsozialarbeit. Wir haben zu schlechte Schulen, und wir haben – mit Verlaub – mitunter eine Lern- und Schulkultur, die mancherorts an Kaisers Zeiten erinnert. Diese Lücken gab es vorher, und diese Lücken gibt es immer noch.
Vor den Augen der Öffentlichkeit ist einmal mehr deutlich geworden: In Sachen „digitales Lernen“ ist Deutschland ein Entwicklungsland. Es fehlt an der Infrastruktur in den allgemeinbildenden Schulen und in den Berufsschulen, aber es fehlt auch an der individuellen Ausrüstung der Kinder und Jugendlichen. Da geht es mir wiederum um diejenigen, die keine eigenen Geräte und zu Hause auch kaum Rückzugsräume haben. Es ist zwar eine heftige Geschäftigkeit in Gang gekommen – zugegebenermaßen. Die Zahlen können wir hier alle schon auswendig.
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Der Bildungsföderalismus in seiner jetzigen Form, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Bildungsbremse. Der Bund steht am Rande des Spielfelds. Er stellt Geld zur Verfügung, aber dieses Geld bleibt auf dem Konto liegen. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Anlass genug, eben nicht nur für Bildungsgipfel, es ist einfach höchste Zeit, dass die Menschen in unserem Land spüren: Bildung ist in der Tat Chefsache und steht an Nummer eins.
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Schraps hat den Hut verloren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat abgewirtschaftet. Nur Kooperation ist zukunftstauglich, und dafür braucht es in der Tat eine Neuordnung des Bildungsföderalismus.
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Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kinder haben das Recht auf gute und faire Startchancen ins Leben. Das gilt für alle Kinder, und das muss auch und gerade natürlich in Pandemiezeiten gelten. Zwar sind Schulen und Kitas mittlerweile wieder geöffnet; aber die vergangenen Monate haben uns eben sehr genau vor Augen geführt, wo dringender Handlungsbedarf in der Bildungspolitik, aber auch in der Familienpolitik besteht.
Gerade Familien wurden beim Spagat zwischen Homeoffice und Homeschooling im Stich gelassen. Es gibt weiter keine Planungssicherheit für Familien, kein Coronaelterngeld beispielsweise, und das besorgt mich angesichts der steigenden Infektionszahlen sehr.
({0})
Alleingelassen wurden aber auch Schulen und Lehrkräfte und vor allem die Schülerinnen und Schüler, und zwar insbesondere die mit besonderem Förderbedarf.
Die Forderung der FDP nach einer Bildungs- und Betreuungsgarantie in Coronazeiten ist zwar gut und schön; leider hat die FDP es in ihrem Antrag versäumt, diese Forderung mit Inhalt zu füllen. Was man unter einer solchen Garantie zu verstehen hat, das bleibt leider schleierhaft.
({1})
Wir brauchen klare Standards mit Blick auf die Digitalisierung. Hier erlaube ich mir einen kleinen Exkurs. Ich finde es skandalös, dass die Mittel aus dem Soforthilfeprogramm für die technische Ausstattung jetzt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, also vor allem nach der Höhe des Steueraufkommens, an die Bundesländer vergeben werden und nicht etwa mit Blick auf die tatsächliche Bedürftigkeit der Schülerinnen und Schüler.
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Das ist doppelt absurd; denn die reichen Bundesländer bekommen pauschal mehr Geld pro Schüler bzw. Schülerin als die armen Bundesländer. Das wird die soziale Spaltung in der Bildung weiter verschärfen. Es muss doch unser Ziel sein, hier zusammenzuführen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Was wir neben den Standards mit Blick auf die Digitalisierung auch brauchen, ist ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung mit verbindlichen Qualitätskriterien. Da muss die Bundesregierung endlich liefern.
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Gute Bildungsangebote sind zentral für die Lebenschancen von Kindern. Das müssen wir im Blick behalten – jetzt in der Coronakrise, aber natürlich auch in Zukunft. Kinder haben ein Recht auf Bildung.
Dass wir heute im Kern über die Rechte von Kindern sprechen, damit schließt sich für mich persönlich ein Kreis. Ich habe vor ziemlich genau elf Jahren meine erste Rede an diesem Pult gehalten, und zwar im November anlässlich des UN-Kinderrechtetags zur Frage der Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Damals habe ich mich für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ausgesprochen.
({5})
Auch heute möchte ich noch mal ganz eindringlich appellieren, das zu tun. Das wäre ein so starkes Signal für ein kinderfreundliches, kindergerechtes Deutschland. Also: Liebe Union, liebe SPD, bitte endlich umsetzen, was im Koalitionsvertrag steht! Kinderrechte ins Grundgesetz, und zwar mit einer Formulierung, die auch einen echten Mehrwert für die Kinder bedeutet!
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Heute halte ich voraussichtlich – –
Kollegin Dörner, das wäre jetzt ein guter Schlusspunkt gewesen.
Eine Minute bräuchte ich noch.
Nein.
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Ich halte nämlich heute voraussichtlich meine letzte Rede.
Das hätte mir mal jemand übermitteln dürfen.
({0})
– Diesen Zwischenruf weise ich jetzt gleich zurück.
Ich halte heute voraussichtlich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Da möchte ich die Gelegenheit natürlich nutzen, mich insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen aus meiner eigenen Fraktion, aber auch aus fast allen anderen Fraktionen für die gute Zusammenarbeit hier zu bedanken. Wir waren immer am besten, wenn wir über den Tellerrand geguckt haben, wenn wir die Argumente der anderen auch ernst genommen haben, wenn wir die eine oder andere Idee auch mal einfach aufgenommen und auf unseren Wegen und Kanälen mitbefördert haben und insbesondere wenn wir offen für Kompromisse waren. Ich meine, Kompromisse sind etwas Gutes; sie sind der Kern in unserer Demokratie. Ich würde mir wünschen, dass wir gerade für den Kompromiss mehr werben und mehr Wertschätzung dafür auch in die Öffentlichkeit tragen.
({0})
Wir haben viel zu verteidigen. Wir haben große Herausforderungen vor uns. Ich wünsche Ihnen dafür die besten Entscheidungen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und sage von dieser Stelle: Toi, toi, toi! Alles Gute!
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Herzlichen Dank. – Ich wünsche Ihnen natürlich für Ihren neuen Lebensabschnitt alles, alles Gute. Offensichtlich tun das auch die meisten Kolleginnen und Kollegen hier im Hause.
Für alle: Schön wäre es gewesen, ich hätte vorher einen Hinweis bekommen. Sie wissen, wir haben hier Verabredungen, wie wir damit umgehen.
Das Wort hat der Kollege Norbert Altenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Der FDP-Antrag ist gut gemeint, aber aus meiner Sicht leider ein reiner Schaufensterantrag.
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Eines ist doch klar: Kein Verantwortlicher in ganz Deutschland will einen erneuten oder gar flächendeckenden Lockdown von Kitas oder Schulen. Und das ist beim heutigen Stand der Erkenntnisse über die Coronapandemie und nach den Beschlüssen, je nach Bedarf, nach nachvollziehbaren Kriterien und zeitlich begrenzt vor Ort, in den Regionen, in den einzelnen Schulen zu reagieren, auch gar nicht notwendig. Wenn Sie sagen: „Der Zugang zu hochwertiger Bildung muss für alle Kinder gleichermaßen und zu jeder Zeit gewährleistet sein“, weil sozusagen jeder einzelne Tag zählt, dann ist das einerseits zwar etwas übertrieben und idealistisch gesagt, andererseits aber auch ein Ziel, das für uns alle selbstverständlich ist.
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An einer umfassenden und bedarfsgerechten Bildung und Betreuung unserer Kinder haben alle Kommunen, alle Schulträger ein ureigenes Interesse – auch ohne Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wir alle wollen für unsere Kinder schließlich nur das Beste. Alle arbeiten hart daran, dass wir die Voraussetzungen dafür immer weiter verbessern. Das sind in erster Linie die zuständigen Länder und Kommunen. Das gelingt den einen zugegebenermaßen besser, den anderen schlechter; aus unterschiedlichen Gründen: Teilweise sind bauliche Veränderungen schwierig, teilweise fehlen Erzieherinnen oder Erzieher und Lehrkräfte oder die digitale Ausstattung, teilweise fehlt schlichtweg das Geld. In zweiter Linie ist das der Bund; der hilft, wo er kann, um Defizite auszugleichen, die die Länder alleine nicht bewältigen können, und auch, um Unmögliches möglich zu machen.
In den letzten 20 Jahren haben wir große Fortschritte bei der Betreuung und bei der Sprachförderung in den Kitas gemacht. Mit dem Gute-KiTa-Gesetz haben wir die Betreuungsrelation und die Qualität der Bildung weiter verbessert und fördern teilweise auch die Erzieherausbildung. Die frühe MINT-Bildung in den Kitas fördern wir mit dem „Haus der kleinen Forscher“. Mit dem Konjunkturpaket stellen wir zusätzlich 1 Milliarde Euro bis 2021 für Kitas bereit. Wir haben auch mit unserer Fachkräfteoffensive die Erzieherausbildung attraktiver gemacht und fördern vergütete und schulgeldfreie Ausbildungsangebote in allen Bundesländern.
In den Schulen wurde mit Bundesmitteln die Ganztagsbetreuung kontinuierlich ausgebaut. Wir planen jetzt den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter ab 2025; denn die Nachfrage wächst. Das verursacht uns als CDU-Vertreter aber auch einige Bauchschmerzen; denn viele Kommunen befürchten hier eine Überforderung. Wichtig ist für uns ein bedarfsgerechtes Angebot, das die Kommunen dann auch tatsächlich bereitstellen können.
Ein ganz wichtiges Thema ist natürlich die Digitalisierung der Schulen. Hier hat Corona noch einmal mehr den Nachholbedarf deutlich gemacht. Aber gleichzeitig wurde klar: Not macht erfinderisch. Sehr viele Lehrerinnen und Lehrer haben die Herausforderungen nach anfänglichen Schwierigkeiten besser gemeistert als erwartet. Sie haben eine gute Routine entwickelt, auf die sie auch zukünftig zurückgreifen können. Wir brauchen mit und ohne Corona eine gesunde Mischung aus Präsenz- und Digitalunterricht. Die meisten Kinder – auch meine – haben sich an die digitalen Lernplattformen sehr schnell gewöhnt und erwarten zu Recht, dass sie weitergeführt werden. Mit dem milliardenschweren DigitalPakt Schule, den wir jetzt noch einmal um 500 Millionen Euro aufgestockt haben, hilft der Bund dabei, die Schulen und die Kinder fit für die Zukunft zu machen, und zwar unabhängig vom Kontostand der Eltern. So werden in meinem Wahlkreis bereits 3 000 mobile Endgeräte zur Verfügung gestellt, deren Bedarf vorher abgefragt wurde.
Wenn ich höre, dass viele Länder und Kommunen die vom Bund bereitgestellten Mittel noch nicht abgerufen haben, weil vielfach die Medienkonzepte fehlen, weil es andere Antragshindernisse gibt oder weil manche Schulen fast bei null anfangen, dann fehlt mir hierfür das Verständnis. Ich freue mich, dass der Bund es jetzt möglich macht, Medienkonzepte nachzureichen, damit die zusätzlichen Mittel aus dem DigitalPakt schnell beantragt werden können.
Wir werden mit den Mitteln aus dem EU-Wiederaufbaufonds außerdem eine digitale Bildungsoffensive finanzieren. Erste Schritte dazu hat der Bund auf dem letzten Schulgipfel mit den Ländern vereinbart. Dazu gehört, dass wir 500 Millionen Euro für die Ausstattung von Lehrkräften mit digitalen Endgeräten bereitstellen. Dazu gehört, dass wir bundesweite Bildungsplattformen aufbauen, auf der unter anderem hochwertiges Unterrichtsmaterial ausgetauscht werden kann. Dazu gehört, dass wir Bildungskompetenzzentren gründen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihres Antrags hätte es angesichts der geschilderten vielfältigen Aktivitäten nicht bedurft. Er ist schlichtweg überflüssig.
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Das Wort hat die Kollegin Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn in der ersten Phase der Pandemie die Bedürfnisse von Kindern und Familien zu wenig Beachtung fanden: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen immer für die Bedeutung von frühkindlicher und schulischer Bildung. Und darum haben wir während der Pandemie dazu auch schon sehr viel umgesetzt. Wir brauchen keine Garantien, weil es jetzt schon einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für jedes Kind nach dem ersten Geburtstag gibt. Und mit mehreren Investitionsprogrammen seit 2008 hilft der Bund den Ländern und Kommunen, das umzusetzen. Für 2020 und 2021 stellt der Bund noch einmal 1 Milliarde Euro zusätzlich zur Verfügung. In Zeiten der Pandemie brauchen wir zusätzliche Investitionen in neue Raumkonzepte, in mehr Platz und – wo es geht – in Außenbereiche. Mit dem Gute-KiTa-Gesetz gibt der Bund zudem seit 2019 5,5 Milliarden Euro in die Qualitätsentwicklung der Kindertagesbetreuung; denn natürlich ist frühkindliche Bildung wichtig.
({0})
Auch für die Schulkinder tut sich etwas. Der Rechtsanspruch für Grundschulkinder auf Ganztagsbetreuung ist in Arbeit. Es liegt nicht an der Bundesregierung, wenn die Einigung mit einzelnen Ländern länger dauert, als wir uns das wünschen.
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Diesen Rechtsanspruch – ich habe das an dieser Stelle schon öfter gesagt – wollen wir als einen Anspruch auf ein ganzheitliches, qualitativ hochwertiges Angebot für Bildung, Betreuung und Erziehung gestalten. Auch hier könnten Städte und Gemeinden schon mit Mitteln des Konjunkturpakets loslegen, wenn sich auch die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg endlich einmal durchringen könnte, der Vereinbarung zuzustimmen.
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Für die Schule und die schulische Bildung haben wir schließlich eine grundsätzlich gesicherte Schulpflicht. Schon alleine deshalb ist der Antrag der FDP obsolet.
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Und es ist längst ganz oben angekommen, dass die schulische Bildung auch unter Pandemiebedingungen garantiert werden muss. Dazu haben die Kanzlerin und die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken im September zum Schulgipfel ins Kanzleramt geladen. Dort war man sich im Austausch mit den Ländern sehr einig, dass es mit der Digitalisierung an den Schulen vorangehen muss. Neben den Mitteln des schon längst beschlossenen DigitalPakts geht der Bund mit weiteren 500 Millionen Euro in Vorleistung, damit Lehrkräfte Dienstlaptops bekommen.
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Denn wir wissen nicht, was das Coronavirus im Herbst und Winter für uns bereithält. Wir haben einfach auch noch keine Erfahrungen im normalen Betrieb und müssen hoffen, dass Schulen keine Hotspots werden. Für mich als ehemalige Lehrerin und Familienpolitikerin ist wichtig: Der Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf Förderung durch Bildung, auf Beteiligung und Gehör, aber auch auf Gesundheitsschutz darf nie aus dem Blick geraten.
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Einfacher wäre es auch hier, wenn Kinderrechte ins Grundgesetz kämen und der Verfassungsrang deutlich ist.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesmeldegesetzes. Ich weiß: Dieses Thema bringt nicht gleich jeden Zuhörer in Wallung.
({0})
Andererseits haben wir selbst zu Meldegesetzen in den vergangenen Jahren auch schon spannende politische Debatten erlebt; manche wissen noch, wovon ich spreche. Aber: Die wahre Bedeutung des Melderechts liegt nicht in der gelegentlichen Skandalisierung einzelner Regeln, sondern in circa 5 000 kommunalen Melderegistern. Sie gehören zu den wichtigsten Datenquellen der Verwaltung. Sie werden gebraucht für die Zuweisung von Kindergarten- und Schulplätzen, die Planung von Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäusern, die Berechnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, um nur einige Funktionen zu nennen.
Die immense Bedeutung ihrer Daten machte die Meldebehörden bereits früh zu wirklichen Pionieren der Digitalisierung. Schon 2002 wurden mit der Novelle des Melderechtsrahmengesetzes die Rahmenbedingungen für die Nutzung auch der modernen IT geschaffen. Heute sind die Melderegister und ihre wichtigsten Datenempfänger einem großen Teil der deutschen Registerlandschaft voraus. Sie sind interoperabel miteinander vernetzt und erfüllen dabei die hohen Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit.
Allerdings, meine Damen und Herren, besteht noch Verbesserungsbedarf; es gibt eh wenig, was so gut ist, dass man es nicht noch besser machen könnte. Genau diesen Verbesserungsbedarf gehen wir mit dem Entwurf an.
Erstens. Nur ein kleiner Teil der Meldedaten kann bisher von den Behörden automatisiert abgerufen werden. Andere müssen weiter schriftlich angefragt und dann übermittelt werden. Das ist – ich glaube, da sind wir uns einig – im 21. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß.
({1})
– Ja, das darf man auch beklatschen; genau.
Zweitens. Außerdem vereinheitlichen wir mit diesem Gesetzentwurf die Kriterien für den länderübergreifenden Abruf von Meldedaten durch die öffentlichen Stellen bundesweit.
Drittens. Der große Schritt in diesem Entwurf ist aber die Digitalisierung nach außen für die Bürgerinnen und Bürger; denn es geht ja darum, dass es für sie einfacher wird. Ein Beispiel: Jährlich ziehen circa 10 Prozent der Bevölkerung um. Die elektronische Anmeldung gehört damit zu den am häufigsten in Anspruch genommenen Verwaltungsleistungen überhaupt. Wegen der nötigen Registerkommunikation und auch der Notwendigkeit, den Personalausweis auf die neue Adresse umzuschreiben, ist das Ganze durchaus nicht nur persönlich für jeden Einzelnen, sondern auch technisch oft ein komplexer Vorgang. Mit unserem Gesetzentwurf werden die Rechtsgrundlagen für die digitale Anmeldung entlang eines nutzerfreundlichen und komplett automatisierten Prozesses neu konzipiert.
Zunächst wird das Ganze in Hamburg pilotiert, und anschließend bundesweit ausgeweitet. Auch für die anderen immerhin rund 20 Verwaltungsleistungen des Meldewesens nach dem Onlinezugangsgesetz werden die Voraussetzungen geschaffen, dass sie im Zuge dieses Gesetzes bundesweit standardisiert den Bürgern zur Verfügung gestellt werden können. Das ist ein echter Zugewinn an Bürgerfreundlichkeit der Verwaltung.
Ich will den letzten Punkt nennen. Zudem wird erstmals jeder über sein Nutzerkonto im Portalverbund die eigenen Meldedaten digital abrufen können. Ich finde, das ist letztlich schon ein ganz wichtiger Schritt hin zu dem, was wir alle wollen, dem sogenannten Once-Only-Prinzip. Auch hier leistet das Meldewesen also Pionierarbeit.
Ich gebe trotzdem zu: Das Ganze ist eher parlamentarisches Schwarzbrot.
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Aber, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen diesen Gesetzentwurf ohne Einschränkung und nachdrücklich zur Unterstützung empfehlen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael Espendiller für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube. Der deutsche Volkswirt und Publizist Roland Baader schrieb einmal – ich zitiere –:
Das einzig wahre Menschenrecht ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden – von jedem, den man nicht eingeladen hat oder den man nicht willkommen heißt.
Zitat Ende.
({0})
Wenn wir heute über die Änderung des Bundesmeldegesetzes sprechen, dann müssen wir auch darüber sprechen, dass von dieser Bundesregierung niemand in Ruhe gelassen wird und dass diese Regierung vom Datenschutz für Bürger auch nicht besonders viel hält. Dieses Gesetz bedeutet nämlich einen weiteren Schritt hin zum Big-Brother-Staat und zum Überwachungsstaat mit der kompletten Erfassung sämtlicher Lebensbereiche.
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Es gibt eine positive Sache: Für die Bürger wird es tatsächlich eine Erleichterung sein, wenn sie künftig nicht mehr persönlich bei den Meldebehörden vorbeikommen müssen, um den Wohnsitz an- oder abzumelden. Das soll dann bis 2022 auch endlich online gehen. Aber damit hört es mit den Vorteilen für die Bürger auch schon schnell auf. Denn die Meldedaten sind und bleiben eine riesige Datensammlung, in die der Bürger niemals eingewilligt hat und über deren Verwendung er auch kaum Kontrolle hat.
Mit dem neuen Meldegesetz wird es für die staatlichen Behörden einfacher, Daten auszutauschen und de facto eine elektronische Kartei aller Bundesbürger anzulegen. Eine ähnliche nationale Datenbank für Lichtbilder entstand schon in der letzten Legislaturperiode. Damals änderte die Große Koalition das Personalausweisgesetz und rief damit Rechtswissenschaftler und Datenschützer auf den Plan. Diese kritisierten den automatisierten Abruf der Lichtbilder aus den Ausweisen der Bürger als verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Doch die GroKo hat damit nicht genug.
({2})
Es ist nämlich der automatisierte Abruf der Daten, der überhaupt den Aufbau einer allumfassenden Datenbank ermöglicht. Mit dem neuen § 34a des Bundesmeldegesetzes wird jetzt auch der automatisierte Abruf der Meldedaten geregelt. Den Bürgern dieses Landes sei gesagt: Wenn wir Herr über unsere Daten sein wollen, dann müssen wir diese auch verteidigen.
({3})
Das bringt mich dann auch schon zum zweiten Aspekt, auf den ich gerne eingehen würde: Über die Möglichkeit zu Melderegisterauskünften müssen die Bürger es derzeit hinnehmen, dass ein jeder sich Zugang zu ihren Anschriften verschaffen darf. Das klingt jetzt erst mal banal, und jeder, der schon mal eine Forderung von einem unbekannt verzogenen Schuldner eintreiben wollte, wird auch grundsätzlich die Notwendigkeit von Auskünften aus dem Melderegister bejahen.
({4})
Aber: Kann es denn sein, dass der Staat es zulässt, dass auch sonst jeder x-beliebige Dahergelaufene meine Wohnanschrift für 6,50 Euro abfragen darf? Wir sagen dazu Nein.
({5})
Es müsste längst so sein, dass alle Bürger das Recht auf eine Auskunftssperre im Melderegister haben. Es hat bei den Personen, die öffentlich besonders exponiert sind, zwar in der Vergangenheit Verbesserungen gegeben; aber immer noch ist die Gewährung einer Auskunftssperre ein Privileg für einige wenige, und genau das sollte es nicht sein. Der Schutz der Privatsphäre eines jeden deutschen Bundesbürgers darf kein Privileg oder Luxus sein. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
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Unsere Bürger sollen nicht nur digital das Recht haben, selbst bestimmen zu können, wem sie welche Information zu welchem Zeitpunkt preisgeben. Nein, das muss auch endlich analog gelten. Es gibt ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Und auch wenn es für die Meldebehörden einen Mehraufwand bedeutet, wenn sie die Berechtigung von Melderegisterauskünften prüfen müssen: Unsere Privatsphäre muss uns das wert sein, gerade in diesen aufgeheizten Zeiten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Krings, ich bin ja ganz enttäuscht, aber positiv enttäuscht. Inhaltlich habe ich gar keine großen Bedenken. Nur: Sie haben das Ganze so entromantisiert und verkaufen das so schlecht.
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Und jetzt muss ich versuchen, den stillen Zauber dieses Bundesmeldegesetzes, der gar kein so stiller ist, hier deutlich zu machen, und ich bemühe mich, das auch zu tun.
({1})
Denn es handelt sich, glaube ich, um ein durchaus sehr nutzerfreundliches Gesetzesvorhaben, auf das man am Ende wird stolz sein können. Das versuche ich jetzt auch deutlich zu machen.
Zugleich danke ich erst einmal auch Ihnen, Herr Dr. Espendiller, dass Sie in dem Zusammenhang nicht von Flüchtlingen gesprochen haben; das ist schon mal positiv.
({2})
Dass Sie da Big Brother wittern, verstört mich leicht; aber ich kommentiere das jetzt nicht weiter.
({3})
Wir halten uns ja oft mit diesen großen hitzigen Themen auf. Ich kann aber selber aus meiner Erfahrung – das werden viele aus ihren Wahlkreisen bestätigen können – sagen: Es gibt vor Ort in den Kommunen oft kaum emotionalere Themen als die Fragen des Funktionierens oder Nichtfunktionierens eines Einwohnermeldeamtes: Wartezeiten, Schwierigkeiten, Bürokratisierung und vieles andere. Insofern ist das, was wir heute im Sinne von Dienstleistung für Bürgerinnen und Bürger auf den Weg bringen, etwas zutiefst Menschenfreundliches und auch sehr nützlich für Kommunen. Wir können also mit weniger Frings’scher Bescheidenheit und mit mehr Lindh’scher Unbescheidenheit mutig und offen darüber reden.
Worum geht es letztlich? Es geht darum, dass wir den Auftrag des Onlinezugangsgesetzes, Ende 2022 gültig, in die Realität umsetzen können. Auch wenn sich bei der Union gerade, nach anfänglicher Begeisterung, wieder Nebengespräche entwickeln, werde ich mich nicht bremsen in meiner Begeisterung für dieses Vorhaben.
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Denn es muss 2022 möglich sein, dass Bürgerinnen und Bürger elektronisch, direkt und ohne großen Aufwand ihre Daten abrufen können und dass sie auf das Melderegister zugreifen und es für ihre Zwecke nutzen können. Das ist ein immenser Fortschritt. Nach Einführung des Bundesmeldegesetzes 2015 hat sich gezeigt, dass wir von dieser Realität noch weit weg sind.
Vernünftige Regierungskoalitionen lernen und bessern nach. Genau das ist die Aufgabe des vorliegenden Gesetzentwurfs. Es ist in der Praxis deutlich geworden, dass die Idee des automatisierten Datenabrufes gelegentlich an den Mühen der Ebenen des Föderalismus scheitert. Die Länder haben nämlich relativ unterschiedliche Daten- und Auswahlkataloge eingeführt, und das bedeutet am Ende – dann ist das Ganze auch sicherheitsrelevant –, dass zum Beispiel Gerichte oder Verfassungsschutzbehörden oder sonstige Sicherheitsbehörden bei Abrufen, die nicht funktionieren, nicht feststellen können: Liegt es daran, dass keine Daten vorhanden sind, oder liegt es an der jeweiligen gesetzlichen Lage in diesem oder jenem Bundesland? Diesem Missstand werden wir hoffentlich Herr in Form einer Vereinheitlichung bei der automatisierten Abfrage.
Eine weitere sinnvolle Maßnahme ist die Verpflichtung zur Verwendung des vorausgefüllten Meldescheins; ich versuche, Ihnen den Zauber und die Romantik des vorausgefüllten Meldescheins zu vermitteln. Das klingt schrecklich trocken, ist aber für den Betroffenen ein riesiger Vorteil, weil der Vorgang der Abmeldung, Ummeldung und Neuanmeldung deutlich einfacher wird.
Ich sprach gerade vom Sicherheitsaspekt. Wenn wir all das zusammendenken mit der Novellierung des Waffenrechts und anderen Maßnahmen, ergibt es ein Gesamtkunstwerk. Wir verlängern die Frist der Möglichkeit, Auskunft zu erteilen. Wenn zum Beispiel jemand über waffenrechtliche oder sprengstoffrechtliche Erlaubnisse verfügt, können die entsprechenden Daten – wenn wir das so beschließen – für fünf Jahre gesichert werden. Das trifft auch im Fall von Passentziehung oder einer Nichterteilung des Passes zu. Das ist ein erheblicher sicherheitsrelevanter Aspekt. Künftig wird es nicht möglich sein, dass eine Person, der aus guten Gründen der Pass versagt oder entzogen wurde, vorläufige Ausweispapiere bekommt. Wenn wir in großen abstrakten Debatten betonen, dass es uns auf die Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern ankommt: Hier schaffen wir Sicherheit. Das ist eine sinnvolle Maßnahme.
Ich möchte noch auf eine weitere Gruppe eingehen, wenn ich schon wunderbare sieben Minuten Redezeit habe; ich sehe, wie die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer mich angesichts dieses Themas anlächeln. Es gab Zeiten, in denen in diesem Parlament leidenschaftlich über Justizvollzugsanstalten gesprochen wurde, im goldenen Zeitalter der 70er-Jahre und der Reformierung der Justiz. Die Realität ist aber, dass Insassen von Justizvollzugsanstalten in der Regel nicht gemeldet sind. Wenn sie inhaftiert werden, wird nie kenntlich gemacht, dass sie inhaftiert sind. Das hat ganz praktische Auswirkungen, auch in Hinsicht auf ihre Resozialisierung: Sie bekommen zum Beispiel oft gar nicht ihre Post. Genau auf diesen Missstand und auf die mangelnde Datenqualität wird jetzt eine Antwort gegeben in der Form, dass Personen, wenn sie länger als zwölf Jahre inhaftiert sind, aber noch über eine Wohnung verfügen, im Melderegister selbst eingetragen werden müssen, und sie als Person, wie jeder andere, meldetechnisch existieren. Gleichzeitig gilt keine Meldepflicht, wenn der Freiheitsentzug drei Monate nicht überschreitet. Auch der Resozialisierungs- und Stigmatisierungsaspekt ist also bedacht.
Wie ich am Anfang geschildert habe – ich sehe, Herr Grosse-Brömer ist überzeugt von meinen Ausführungen –:
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Die Trias von Datenverfügbarkeit, Datenqualität und Datenschutz ist sichergestellt. Denn bei all diesen Vorhaben ist es so, dass – anders als seitens der AfD behauptet wurde – eben nicht Big Brother gilt, sondern dass eine sorgfältige Protokollierung stattfindet und dass Datenschutz ein entscheidendes Prinzip bei dem Ganzen darstellt.
({6})
Ich komme noch zu einem letzten Punkt; nachdem ich den begeisterten Beifall und die Leidenschaft auch meiner Fraktion für das Bundesmeldegesetz entdeckt habe.
({7})
Es gibt Personen in diesem Land – das hat auch gute Gründe –, für die Auskunftssperren bzw. bedingte Sperrvermerke gelten. In der Praxis war es bisher so, dass, wenn Behörden aus bestimmten Gründen die Daten abrufen wollten, das vernünftigerweise sehr lange dauert. Jetzt besteht die Möglichkeit für die Behörden, weil wir in diesen Fällen die Prüfung eben nicht aussetzen, dass sie von vorneherein erklären können, dass sie auf den Abruf verzichten, wenn eine aufwendige Prüfung erforderlich ist. So wird gleichzeitig sichergestellt, dass der Datenschutz gilt, dass es nicht zu einer Gefährdung der betreffenden Person kommt und dass auch die Privatsphäre bei diesen Personen nicht beeinträchtigt wird.
({8})
Kurzum – –
Kollege Lindh, das müssen Sie bitte in der weiteren parlamentarischen Behandlung dieses Gesetzentwurfes vortragen. Heute müssen Sie Schluss machen.
Es ist ein gutes Gesetz, das Romantik verdient, das mehr Begeisterung verdient. Folgen Sie mir in der Frage und weniger Herrn Frings.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Endlich kommt Schwung in die Verwaltungsmodernisierung. Wenn das Haus nicht CDU/CSU-geführt wäre, könnte man fast sagen: Es ist das Gutes-Melderegister-Gesetz;
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in einem SPD-geführten Haus würde das wahrscheinlich so heißen.
Ich freue mich, dass viele Punkte vorkommen, die wir gefordert haben, und auch, dass Sie bei der Registermodernisierung und in Richtung One-Stop-Shop in der Verwaltung vorankommen: wenn Bürger Meldedaten digital abrufen und zu verschiedenen Zwecken weiternutzen können – zum Beispiel, indem sie ihre Meldebescheinigung herunterladen können und dafür nicht aufs Amt müssen –, wenn ein automatisiertes Abrufverfahren von Meldedaten zwischen den Behörden funktioniert – man spart Lebenszeit, wenn der vorausgefüllte Meldeschein beim Umzug, zum Beispiel bei mir von Mainz nach Berlin, für den Nebenwohnsitz ruckzuck kommt, anstatt dass man im Amt rumsitzen muss –, und dann auch noch gepaart mit den nötigen Protokollpflichten. Es ist gut, dass man nachgucken kann, wer wann auf welche Daten zugegriffen hat. Wenn der Bürger diese Informationen irgendwann einsehen könnte, wäre das toll. Ja, das alles hört sich super an. Machen Sie es einfach. Im Jahr 2020 sollten wir eigentlich nicht mehr darüber sprechen müssen. Wir haben schon vor zehn Jahren über E-Government und Verwaltungsmodernisierung, also über das „Schwarzbrot“, gesprochen. Bitte bringen Sie die Maßnahmen einfach auf den Weg.
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Mich beschäftigt bei dem Gesetzentwurf ein weiteres Thema, und zwar die Privilegierung der Religionsgemeinschaften. Ich meine schon, dass es hier eine Verschiebung gibt. Sie schreiben selbst – ich zitiere –: Es sollen weitere „Erleichterungen“ für „öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften“ geschaffen werden. Auf der anderen Seite haben Sie, übrigens auch im Melderecht, immer noch Hürden für Bürgerinnen und Bürger aufgebaut. Ich nenne als Beispiel die Auskunftssperren. Bezüglich der Auskunftssperren haben wir hier in diesem Haus schon darüber gesprochen, dass viele Kommunalpolitiker ein ernstes Interesse daran haben, Meldesperren eintragen zu lassen. Nach der Ermordung von Walter Lübcke sind Sie darauf auch eingegangen; passiert ist leider noch nicht so wirklich viel. Es gibt viele Politiker, auch Kommunalpolitikerinnen und ‑politiker, die sich nicht mehr trauen, sich für ein Amt zur Verfügung zu stellen. Sie wollen sich nicht mehr wählen lassen, weil sie nicht die Möglichkeit haben, ihre Daten sperren zu lassen. Das wird sehr uneinheitlich gehandhabt. Das sollten Sie dringend angehen. Religionsgemeinschaften hingegen bevorzugen Sie. Die können aufgrund eines berechtigten Interesses an einer Person in Zukunft ein ganzes Bündel von Informationen abfragen, nämlich Informationen über die Person, über die kompletten Familienangehörigen, über die Kinder; übrigens auch, wenn diese nicht mehr im gleichen Haushalt leben, aber noch minderjährig sind, und auch über die Kinder des Ehepartners. Ich glaube, dass es nicht unsere Aufgabe ist, die Datenbank der Religionsgemeinschaften durch diese Auskunft strukturiert zu gestalten.
Kein anderer, der berechtigte Interessen hat, kriegt solch ein Paket an Daten zusätzlich geliefert. Das ist also eine explizite Bevorzugung. Darüber würde ich gern im weiteren Verfahren mit Ihnen sprechen. Ich freue mich auf die Beratungen, auch wenn ich sonst über dieses parlamentarische „Schwarzbrot“ rede. Sie, insbesondere Herr Lindh, haben mich für dieses Gesetz begeistert.
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Ich war gerade dabei, das Mikrofon einzuschalten, um das entsprechend anzumerken.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die hier von der Regierung vorgeschlagenen Änderungen im Bundesmeldegesetz bleiben unserer Meinung nach weit hinter den Erfordernissen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zurück. Insbesondere der Schutz der politisch engagierten Personen wird nicht gewährleistet und muss dringend nachgebessert werden.
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Die Bundesregierung will die Regelung zur sogenannten einfachen Meldeauskunft unverändert lassen. Demnach kann jede Person ohne Angabe eines Grundes Auskunft zu den Daten anderer Personen erlangen, einschließlich ihrer Adressen. Das passiert 60 Millionen Mal im Jahr.
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Diese Regelung entspricht nicht ansatzweise dem heutigen Verständnis von Datenschutz. Man erwartet heute eigentlich vom Datenschutz, dass man die Daten anderer Personen wirklich nur in begründeten Ausnahmefällen erlangen kann.
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Es wird also höchste Zeit, dass dieses Meldegesetz geändert wird.
Gerade heute, wo wir wissen, dass Neonazis Feindeslisten anlegen und ausländische Geheimdienste Exiloppositionelle jagen, ist ein verbesserter Datenschutz unverzichtbar.
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Das Meldegesetz erlaubt es Neonazis gegenwärtig, bei den Meldebehörden die Adressen politischer Gegner oder kritischer Journalisten einfach zu erfragen. Das muss endlich beendet werden.
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Der einzige Schutz, um eine solche Herausgabe von Daten zu verhindern, besteht darin, eine Auskunftssperre zu beantragen. Diese Möglichkeit hat die Koalition in der Tat vor Kurzem mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus erweitert, aber sie bleibt unzureichend; denn wer eine Auskunftssperre beantragt, muss nachweisen, einem Personenkreis anzugehören, der wegen seiner beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt ist. Das heißt, man muss der Meldebehörde sein Arbeitsfeld oder seine politische Gesinnung bekannt geben. Die Entscheidung, ob es eine Sperre gibt, trifft dann die Behörde. Das ist sicherlich unzumutbar für die Betroffenen.
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Die Linke fordert, das Prinzip umzukehren. Die Daten im Melderegister müssen vor Weitergabe an Privatpersonen geschützt sein. Das muss die Regel werden. Erst dann können Ausnahmen wirklich geregelt werden, zum Beispiel Ausnahmen für Schulfreunde, die wissen wollen, wo ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen wohnen, oder meinetwegen auch Ausnahmen für Inkassounternehmen. Aber es muss gelten, dass eine Auskunft nur bei einem berechtigten Grund erfolgt oder wenn die Betroffenen ihre Zustimmung gegeben haben. Genau in diese Richtung möchten wir im Ausschuss gerne diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Krings, Ihr Gesetzentwurf zum Melderecht enthält durchaus ein paar gute Punkte, die ich nicht unerwähnt lassen will, zum Beispiel die Möglichkeit, Verwaltungsleistungen des Melderechts elektronisch über die Verwaltungsportale anzubieten. Dadurch wird das Onlinezugangsgesetz umgesetzt, es ist aber vor allem auch eine bürokratische Erleichterung, die nicht nur der technischen Entwicklung Rechnung trägt, sondern von den Menschen selbstverständlich auch erwartet wird. Das gilt erst recht für den Abruf der eigenen Meldedaten, um diese beispielsweise als Meldebescheinigung oder zur Beantragung anderer Dienstleistungen zu nutzen. Es ist wirklich eine erhebliche Erleichterung, wenn das demnächst online geschehen kann. Das finden wir – das sage ich ausdrücklich – gut.
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Richtig finden wir auch, dass das Verfahren bei Auskunftssperren effizienter gestaltet wird, ohne das aktuelle Schutzniveau für die Betroffenen zu senken. Aber wir müssen uns die Datenkataloge, die infolge ihres Gesetzentwurfs demnächst bundesweit abrufbar werden, ganz genau anschauen. Dabei sollten wir auch im Blick haben, dass ein leichter Zugang zu sensiblen Daten missbrauchsanfällig sein kann. Das Bedrohungspotenzial missbräuchlich abgerufener Meldedaten ist enorm groß. Sie alle kennen die Fälle, in denen Meldedaten über Polizeicomputer abgerufen und für Drohbriefe verwendet wurden; Stichwort: NSU 2.0. Solche Vorgänge untergraben das Vertrauen in staatliche Stellen und auch staatliche Datenhaltungen, allen voran bei der Polizei. Daher ist es wirklich enorm wichtig, dass diese Fälle lückenlos aufgeklärt werden.
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Deshalb müssen wir auch über den Zugang zu Meldedaten in den Behörden diskutieren. Aber nicht weniger wichtig ist die Frage, unter welchen Bedingungen Meldedaten an nichtöffentliche Stellen wie zum Beispiel Privatpersonen herausgegeben werden. Das hat Kollegin Jelpke vorhin ausführlich problematisiert: Schließlich kann jede und jeder in guter, aber halt eben auch in böser Absicht Anfragen an die Meldebehörden richten; das geschieht ja eben auch sehr häufig.
Im Gegensatz dazu sind die Voraussetzungen für eine Auskunftssperre, wie auch wahrscheinlich der eine oder andere von uns hier schon in Erfahrung gebracht hat, einfach enorm hoch. Auch daran ändert Ihr Gesetzentwurf nichts. Darüber müssen wir dringend sprechen.
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Die Hürden für eine Auskunftssperre dürfen die Sicherheit von Personen auf gar keinen Fall gefährden, zum Beispiel von kommunalen Amts- und Mandatsträgern, die zunehmend unerträglichen Anfeindungen und auch Bedrohungen ausgesetzt sind.
Auch sollten wir die unterschiedlichen Zwecke der Datenspeicherung noch einmal ganz genau in den Blick nehmen. So kann zum Beispiel der Eintrag einer waffenrechtlichen Erlaubnis für Polizistinnen und Polizisten bei einer Personenkontrolle sehr hilfreich sein. Wie der Anschlag in Hanau aber gezeigt hat, ist das kein Automatismus. Es stellt sich dabei auch die Frage, ob ein solcher Eintrag im Hinblick auf eine mögliche Bewaffnung aussagekräftiger gestaltet werden kann. Dann wäre er noch hilfreicher.
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Lange Rede, kurzer Sinn: Die Daten der Melderegister „sind das informationelle Fundament der Verwaltung“; so heißt es in Ihrem Gesetzentwurf absolut zu Recht. Dass sich dabei eine ganze Reihe datenschutzrechtlicher Fragen stellt, liegt auf der Hand. Um die müssen wir uns im weiteren Verfahren nun kümmern.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Marc Henrichmann das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der werte Staatssekretär nimmt vollkommen zu Recht das Lob für das Zünden des digitalen Turbos in Empfang.
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Wir sind uns aber einig, dass die Verwaltung in Deutschland in manchen Teilen noch hinterherhinkt. In Estland beispielsweise – es wird immer wieder genannt – können 99 Prozent der Verwaltungsdienstleistungen von zu Hause aus in Anspruch genommen werden,
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während es hier Bürgerämter gibt, bei denen man zwei Monate auf einen Termin wartet, wo doch eigentlich eine Frist von zwei Wochen für die Ummeldung der Wohnung gilt.
Es wird höchste Zeit, die Verwaltungsaufgaben ins Digitale zu transformieren. Das muss auch der Anspruch der Wirtschaftsnation Deutschland mit einer entsprechend starken Verwaltung sein. Das ist übrigens nicht nur der Coronapandemie geschuldet, sondern es ist den Bürgern zunehmend unverständlich, dass Serviceleistungen auf den verschiedenen Ebenen nicht ins 21. Jahrhundert übertragen werden.
Das wollen wir ändern. Nicht nur der Bürger braucht Unterstützung; auch Sicherheits-, Finanz- und Steuerbehörden stützen sich auf Meldedaten. Es ist manchmal verwunderlich, wie viele Daten noch schriftlich abgefragt oder übermittelt werden. Es geht hier um bessere Kommunikation zwischen den Behörden und das Abstellen einer veralteten Praxis. Wir wollen eine digitale Verwaltung, die Zeit, Geld und vor allem auch Nerven spart.
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Seit 2015 ist einiges passiert. Es gibt neue Herausforderungen für das Meldegesetz: Datensätze müssen vereinheitlicht und in einem automatisierten Verfahren erfasst werden, bundeseinheitliche Regelungen müssen her. Viele Daten sind zwar schon automatisiert abrufbar, aber beispielsweise Behörden, die nicht zu den in § 34 Absatz 4 Bundesmeldegesetz genannten zählen, haben entsprechende Datensätze nur eingeschränkt zur Verfügung.
Insofern ist die Lösung schlüssig: Änderung des Bundesmeldegesetzes, Vereinheitlichung der Datensätze und Ermöglichung der automatisierten Übertragung und Abfragen zwischen Bundes- und auch Landesbehörden.
Ziel ist, die Verwaltung schneller und effizienter zu machen. Hier gibt es in diesem Hause ein paar Punkte, bei denen, glaube ich, eklatante Meinungsverschiedenheiten auftreten.
Ich war vor gut zwei Wochen in Nordrhein-Westfalen, meinem Heimatbundesland. Während der rot-grüne Senat in Hamburg jetzt schon beim sogenannten Transparenzgesetz deutlich zurückrudert, haben die Grünen das auch in Nordrhein-Westfalen auf die Tagesordnung gesetzt. Letzten Endes geht es darum, ungefragt jede Verwaltung – bis hin zur Gemeindeverwaltung – damit zu beauftragen, sämtliche Vorgänge und Informationen – egal ob beendete Sachverhalte oder noch laufende Verfahren – online verfügbar zu machen. Wie das ein Sachbearbeiter bzw. eine Sachbearbeiterin in einem kleinen Bürgeramt in einer kleinen Gemeinde machen will, bleibt mir schleierhaft.
Ich finde, wir müssen aufpassen, dass wir unsere Verwaltung auch in Anbetracht von über 800 000 fehlenden Fachkräften bis 2030 nicht mit ständig neuen Aufgaben überfrachten. Verwaltungsarbeit darf auch Spaß machen, und ich glaube, dass unser Änderungsvorschlag zum Bundesmeldegesetz auf diesem Weg auch ein guter Vorschlag ist.
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Wir sind also im Zusammenhang mit dem Onlinezugangsgesetz auf dem Weg zu einem Onlineportal, und es soll eben gängige Praxis werden, dass die An- und Abmeldungen ohne lange Wartezeiten möglich sind.
Wenn man Beispiele dafür sucht, wie es nicht geht: Irgendwie ist die Stadt Berlin hier immer sofort vorne mit dabei. Ich habe zwei tatkräftige Unterstützer, nämlich meine Praktikanten oben auf der Tribüne. Sie haben heute mal die längsten Wartezeiten für einen Termin beim Bürgeramt zur Ummeldung recherchiert. Die gibt es hier in Berlin. Es ist sogar so schlimm, dass man mittlerweile bei Portalen Termine für Geld kaufen kann. Die Termine werden von diesen Portalen geblockt und dann verkauft, und das letzten Endes in der Stadt, die immer so schön über Solidarität spricht! Wir machen das schneller sowie verfügbarer und diese Portale damit überflüssig. Damit sind wir sogar gerechter als der jetzige Stand der Dinge.
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Schlussbemerkung. Der Datenschutz ist angeklungen. Estland hat es relativ pragmatisch gemacht: mit einem großen Datencontainer und ohne große, breite datenschutzrechtliche Debatte.
In Teilen müssen wir aufpassen – Kinderpornografie, Kleinkriminalität –, dass der Datenschutz hier nicht zur Hürde wird, dass wir ihn nicht überhöhen. Wir müssen ihn achten, aber pragmatisch ausgestalten. Auch das wollen wir mit diesem Gesetz tun.
Wir sind hier auf einem guten Weg. Ich kann Ihnen diesen Gesetzentwurf sehr empfehlen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist von den Vorrednern jetzt schon mehrfach durchaus zutreffend ausgeführt worden, dass die Materie, mit der wir uns heute beschäftigen, auf den ersten Blick natürlich etwas für Feinschmecker der Verwaltungswissenschaften ist. Aber auch ich möchte nicht anstehen, nochmals die Aufmerksamkeit für die ungeheure praktische Bedeutung dieses Vorhabens zu wecken, das ja im Zusammenhang mit dem Onlinezugangsgesetz, dem Registermodernisierungsgesetz und anderen Vorhaben steht.
Diese Gesetze sind der Schlüssel, um die Digitalisierung in unserem Land weiter entschlossen voranzubringen, und sie werden ganz praktisch dazu führen, dass jeder Bürger dieses Landes, der ein Behördenanliegen hat, Behördengänge in Zukunft noch schneller erledigen kann, weil sie dazu führen werden, dass die Behörden Meldedaten in Zukunft generell per Sofortauskunft erhalten. Was bisher langwierige Abfrageprozesse mit oft nichtssagenden Ergebnissen erforderlich machte, wird in Zukunft in Echtzeit erledigt.
Natürlich schaffen wir damit langfristig deutlich verbesserte Möglichkeiten und Voraussetzungen für digitale Behördengänge, weil wir die Abrufprozesse gewissermaßen vom Technikstand des Telefax auf 5-G-Niveau bringen. Damit ist dies ein weiterer Schritt in einer langen Reihe von Maßnahmen, mit denen wir in den letzten Jahren die Digitalisierung der Verwaltung konsequent vorangetrieben haben.
Dazu setzen wir übrigens immense finanzielle Mittel ein. So verleihen die im Konjunkturprogramm beschlossenen Mittel in Höhe von 3 Milliarden Euro der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes einen immensen Schub.
Aber Geld allein macht ja bekanntlich nicht glücklich. Deshalb bin ich sehr froh darüber – und ich möchte an dieser Stelle auch ein herzliches Wort des Dankes sagen –, mit welchem Engagement sich der Bundesinnenminister diesem Thema widmet.
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Lassen Sie mich eines zum Schluss sagen: Im internationalen Wettbewerb konkurrieren bekanntlich zunehmend auch die öffentlichen Verwaltungen miteinander. Um diesen Wettbewerb zu bestehen, ist die Digitalisierung eine wichtige Voraussetzung. Die Welt von morgen ist eine digitale, und daher muss auch die Verwaltung von morgen eine digitale sein.
Dass uns die deutsche Verwaltung in diesem internationalen Wettbewerb einen Spitzenplatz ermöglicht, ist aber auch eine Leistung der vielen Tausend Menschen in unseren Behörden, die das übrigens auch zu Zeiten hervorragend geschafft haben, in denen in puncto Digitalisierung noch etwas Luft nach oben war. Dafür möchte ich unseren Beamten von dieser Stelle aus ein herzliches Dankeschön sagen und den allergrößten Respekt aussprechen.
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– Selbstverständlich auch den Angestellten.
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Die sind logischerweise mit eingeschlossen.
Zum Schluss sagen wir uns ja immer: Wir freuen uns auf die Beratungen im Ausschuss. – Nach Ihrer Rede, Frau Jelpke, freue ich mich ganz besonders darauf, wenn Sie ganz ehrlich der Meinung sind, dass es eine Zumutung für die Menschen ist, wenn die Behörden tatsächlich über die Frage der Melderegistersperre entscheiden und wenn man dafür sogar noch Tatsachen liefern muss. Auf diese Ausschussberatungen freue ich mich auf jeden Fall.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.