Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wurde 1979 im Vogtland geboren. Als zehnjähriges Kind erlebte ich die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit. Plauen, die größte Stadt meiner Heimat, war einer der wichtigsten historischen Schauplätze von 1989. Mutige Menschen sind damals früh im Oktober für Presse- und Meinungsfreiheit, für freie demokratische Wahlen und für Reisefreiheit auf die Straße gegangen. Einer davon war Siegmar Wolf. Am 7. Oktober hielt er auf der ersten Großdemonstration ein Plakat mit seinen Forderungen von Freiheit der Staatsmacht entgegen. Menschen wie er waren es, die mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut den Wandel herbeiführten.
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Diese Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben uns Spätgeborenen ein besseres Leben ermöglicht, und dafür bin ich persönlich unendlich dankbar.
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Dieses große Glück, die gelungene Revolution und die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes haben mich nachhaltig geprägt. Vielleicht waren wir die letzte Generation, die das von sich sagen kann. So viele große neue Chancen: Freiheit, Luft zum Atmen. Ich konnte im wiedervereinten Deutschland die prägenden Jahre meiner Schulbildung ideologiefrei durchlaufen, und ich konnte studieren, was ich wollte.
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Hier als Bundestagsabgeordnete im Herzen der Demokratie arbeiten zu dürfen, frei gewählt zu sein, erfüllt mich regelmäßig mit Freude und Stolz.
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In den 1990er- und 2000er-Jahren konnte ich aber auch sehen, wie herausfordernd die Transformation einer abgewirtschafteten Planwirtschaft in die Marktwirtschaft war, insbesondere für die erwerbsaktiven Generationen. Viele Träume platzten, vieles dauerte viel länger, als erhofft. Viele Menschen in der Generation meiner Eltern können schwerlich sagen, dass ihre individuelle Bilanz positiv ist, nicht weil sie die DDR so gut fänden, sondern weil ihr Weg in der Transformation von struktureller Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und Existenzangst geprägt wurde. Es gehörte damals auch sehr viel Mut dazu, diese schwierige Transformation durchzustehen, sein Berufsleben oft neu zu erfinden. Das ist mehr oder weniger in allen ehemaligen Ostblockländern zu sehen. Der Westen, das Neue ist nicht Verursacher dessen; es sind Nachwirkungen, Nachwehen der kommunistischen Jahrzehnte.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, 30 Jahre nach der deutschen Einheit möchte ich den Blick in die Zukunft lenken. Wie steht es um die Identität der jungen Menschen heute? Mehr und mehr höre ich von jungen Menschen, dass sie Debatten zu Unterschieden zwischen Ost und West überdrüssig sind. Ein Interview des Instituts der deutschen Wirtschaft mit dem Start-up-Unternehmer Robert Hellmundt aus Jena wurde überschrieben mit: „Ost? West? Das sind bloß Himmelsrichtungen“. Ich denke, in diesen sechs Worten steckt viel drin. Ich bin ganz bei Robert Hellmundt, wenn er sagt, dass im Alltag das Ost-West-Thema in seiner 89er-Generation keine Rolle spielt. Thüringen sei seine Heimat, und er begreife sich selbst viel eher als Deutscher und Europäer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht um das Ziehen von Schlussstrichen bei dieser Debatte. Es geht auch nicht ums Vergessen; das dürfen wir keinesfalls. Doch müssen wir heute, 30 Jahre nach der deutschen Einheit, auch verstärkt den Blick nach vorne richten. Der jungen Generation steht von Anfang an die ganze Welt offen. Wir leben in Frieden und Freiheit, im Herzen eines vereinten Europas, in einer gut funktionierenden Demokratie. Liebe Freunde, das ist ein Geschenk; es ist aber auch Verpflichtung zugleich, Verpflichtung, sich zu engagieren, sich einzubringen, unser Land auch weiter voranzubringen. Ich erlebe immer wieder junge Leute – in Plauen, im Vogtland, in Sachsen, in ganz Deutschland –, die genau das tun, die kluge Ideen haben, die positiv nach vorn blicken und die unser Land gemeinsam gestalten wollen.
Was muss die Politik tun? Wir als Politiker müssen dafür arbeiten, dass die junge Generation das weiterhin tun kann. Wir müssen gute Rahmenbedingungen schaffen, unsere Umwelt schützen, Forschung ermöglichen, neue Technologien und Arbeitsplätze der Zukunft befördern, starke Regionen entwickeln; denn starke Regionen sind die Basis für die Identitätsbildung und, und, und. Es gibt so viele spannende Themen, so viel Potenzial, um für weitere Verbesserungen in unserem Land zu arbeiten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Mut, den die Menschen 1989 und 1990 hatten, braucht es auch heute wieder. Wir müssen mit dem Wissen aus der Geschichte für Veränderungen aufgeschlossen sein und für eine gute gesamtdeutsche Zukunft arbeiten, fest verwurzelt in der Demokratie, die soziale Marktwirtschaft weiter vertiefen, die Europäische Union weiterentwickeln – das sind unsere großen Aufgaben. Die Basis, auf der wir weiter bauen können, trägt inzwischen in ganz Deutschland. 30 Jahre Anstrengung, 30 Jahre vereinte Anstrengungen haben sich gelohnt. Wir haben allen Grund, in großer Dankbarkeit optimistisch in eine gemeinsame gute Zukunft zu blicken.
Vielen Dank.
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Tino Chrupalla, AfD, ist der nächste Redner
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Liebe Landsleute! Wie die meisten hier wissen, wurde ich in der DDR geboren. Als ein Kind der Lausitz kenne und schätze ich meine Heimat. Die ersten Jahre meines Lebens habe ich in einem Land verbracht, in dem sich das politische System über die Wünsche seiner Menschen stellte. Sie wurden überwacht und bevormundet, um die sozialistische Ideologie weiter aufrechterhalten zu können. Längst wussten wir, wann man aufpassen musste oder eben offen sprechen konnte. Zum Ende der DDR war ich 15 Jahre alt. Praktisch über Nacht durfte ich die Freiheit kennenlernen, nach der sich die Menschen gesehnt hatten: die Freiheit, meine Meinung aussprechen und mitgestalten zu dürfen.
Meine Damen und Herren, heute kann ich sagen: Ich bin ein Kind der deutschen Einheit, geboren in der Lausitz. Was nun war die DDR? Viele Menschen der alten Bundesrepublik verbinden mit ihr ein unterdrücktes, eingemauertes Volk. Die DDR war aber mehr! Sie war auch Zusammenhalt und Gemeinschaft – in Stadt und Land, im Privaten wie im Betrieb. Es gab keinen Luxus, dafür aber viel Hilfsbereitschaft. Ich weiß, für viele Westdeutsche mag das paradox klingen. Und ich verstehe sie sogar. Wir wurden in den Jahren der Teilung unterschiedlich geprägt. Jedoch bin ich mir sicher, dass auch Sie den Wert einer Gemeinschaft kennen, in der man sich zu Hause fühlt. Vor allem im Privaten überlebte die Mitmenschlichkeit: in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz. Sie war innig und ehrlich. Gerade diese Mitmenschlichkeit die vermissen heute viele.
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Materiell geht es fast allen besser; aber längst nicht alle fühlen sich wirklich besser. Tatsächlich fühlen sich viele Menschen heute immer mehr alleingelassen mit ihren Sorgen und Nöten. Einsamkeit ist ein Thema geworden. Die gab es früher bei uns so nicht. Wir sollten uns fragen, warum das nach 30 Jahren Einheit so ist.
Viele Menschen fühlen sich abgehängt, und das nicht ohne Grund. Die Wirtschaftskraft des Ostens verharrt auf einem Niveau von knapp 73 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnitts. Auch heute noch – nach 30 Jahren – ist das Durchschnittseinkommen im Osten Deutschlands um rund 20 Prozent geringer als im Westen. Seit wir im Bundestag sitzen, weisen wir immer wieder auf die drohende Armut vor allem ostdeutscher Rentner hin. Und wir sagen Ihnen auch, wie wir solche Renten künftig verhindern können: Wir brauchen eine Sonderwirtschaftszone Ost, um die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands nach 30 Jahren endlich anzugleichen, wie es das Grundgesetz garantiert.
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Aber was tun Sie, werte Damen und Herren auf der Regierungsbank? Warum nutzen Sie unsere Stärken und Fähigkeiten nicht besser? Erinnern Sie sich an die Worte der Deutschen im November 1989: „Wir sind ein Volk“?
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Es ist übrigens auch erstaunlich, dass die Bundeskanzlerin bei solch einer Debatte fehlt.
Warum spielen Sie mit der Angst der Menschen, wenn Sie den Rechtsextremismus uns Ostdeutschen zuschreiben? Sogar ein Bundespräsident, der es eigentlich besser wissen müsste, sprach von „Dunkeldeutschland“. Und ganz ungeniert hauchen Sie der alten spalterischen DDR-Propaganda vom Antifaschismus neues Leben ein. Damals wie heute war und ist diese Propaganda ein teuflisches Instrument.
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Wir sollten uns daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn Meinungspluralismus unerwünscht ist und Denkverbote zum Maßstab politischer Urteile werden. Was ich sagen will, ist: Wir sollten uns daran erinnern, wie es war, als jeder, der eine andere als die Regierungsmeinung vertrat, zum Staatsfeind erklärt wurde. „Nie wieder!“ sollte heute unser aller Credo als Demokraten sein.
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Meine Damen und Herren, jeder Mensch wird durch die Erfahrungen geprägt, die er gemacht hat. Ich selbst verstehe deshalb die Zeit vor 30 Jahren als den Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns. Die Menschen der BRD und der DDR haben für Deutschland gehandelt. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat unsere Landsleute aus allen Himmelsrichtungen zusammengebracht. Es war ein patriotischer Akt.
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Genau daraus schöpft auch meine Partei die Kraft für ihr Handeln. Wir sind die erste Partei im Deutschen Bundestag, die im wiedervereinten Deutschland entstanden ist. Wir sind frei vom ideologischen Ballast der Vorwendezeit.
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Dadurch können wir vollkommen unbefangen auf die Ereignisse von damals zurückblicken. Und dass ich hier und heute zu Ihnen reden kann, habe ich allein dem Mut der Menschen im Osten zu verdanken. Sie haben alles für die Freiheit riskiert und für ihr Land gekämpft.
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Es ist mir deshalb ein Herzensanliegen, all diesen Menschen hier und heute für ihren Mut zu danken. Sie haben das große Glück der Wiedervereinigung möglich gemacht. Darum bitte ich Sie alle: Bewahren wir das Geschenk der Einigkeit mit der Kraft der Vernunft, die es allen Menschen ermöglicht, ein Leben in Freiheit, also ein politisches Leben ohne Ausgrenzung und Stigmatisierung oder gar Verfolgung, führen zu können – auch wenn wir die Meinung des anderen nicht teilen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Bundesfinanzminister, Olaf Scholz.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 30 Jahre deutsche Einheit, das ist eine lange Zeit. 30 Jahre deutsche Einheit, das ist etwa doppelt so lang wie die Weimarer Republik. In zehn Jahren werden wir 40 Jahre deutsche Einheit feiern; das wird dann ungefähr so viel Zeit sein, wie die Teilung angehalten hat. Deshalb sind diese 30 Jahre ein ganz besonderer Moment in unserer Geschichte, und wir feiern ihn zu Recht.
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In diesem Augenblick dürfen wir nicht vergessen und müssen wir daran erinnern, dass es die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands waren, die die deutsche Einheit und die Freiheit erkämpft haben. Ohne ihren Mut und ihre Bereitschaft, etwas zu riskieren, ohne zu wissen, was alles noch geschehen wird, wäre die Einheit nicht gelungen. Sie ist von unten gekommen, sie ist vom Volk erkämpft worden, und sie ist nicht das Produkt von irgendwelchen politischen Mächten. Es ist ein demokratischer Akt in Deutschland, einer der seltenen in unserer Geschichte.
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Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass wir uns in dieser Situation immer erinnern, dass die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wäre ohne die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union.
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Nach zwei Weltkriegen, nach der faschistischen Diktatur in Deutschland hätten die Völker und Länder um uns herum es nie akzeptiert, dass wir wieder mit solcher Kraft ein Land werden, wenn sie nicht sicher gewesen wären, dass man sich auf Deutschland verlassen kann als ein demokratisches Land, eingebettet in andere demokratische Länder Europas. Die Europäische Union ist deshalb auch ein Projekt, das für uns in Deutschland von allergrößter Bedeutung ist und für das wir eine große Verantwortung haben.
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Die 30 Jahre sind auch schon das Ergebnis einer sehr langen gemeinsamen Geschichte. Wir haben jetzt das zweite Mal eine große wirtschaftliche Krise, die wir miteinander durchstehen müssen. Diese Krisen schweißen uns auch zusammen. Sie zeigen, dass wir gemeinsam einen Weg beschreiten können, um durch eine solch komplizierte Lage zu kommen, wie es uns gemeinsam gelingt, die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger, den Wohlstand unseres Landes und Arbeitsplätze zu beschützen. Das zeigt, dass wir miteinander viel schaffen können. Auch das ist etwas, was wir im 30. Jahr der deutschen Einheit feiern dürfen.
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Vielleicht noch einen Satz zu Europa. Wir haben jetzt in diesem Jahr auch den Brexit endgültig vor uns. Es wird noch über die letzten Bedingungen verhandelt. Aber es ist dann ein Moment, in dem die Europäische Union mit einem großen Land in der Mitte, mit über 80 Millionen Einwohnern, mit einer enormen wirtschaftlichen Kraft da sein wird. Dieses Land mitten in Europa hat auch die Verantwortung dafür, dass das gelingt; denn genau vor dieser Situation haben sich viele lange gefürchtet. Aber wenn wir als Deutsche dafür sorgen, dass die Union in Europa gelingt, dann leisten wir den Beitrag, auf den viele gesetzt haben, als sie vor 30 Jahren gesagt haben: „Das soll klappen mit der deutschen Einheit“, und das unterstützt haben.
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In dieser Zeit ist viel geglückt. Ich finde, dass die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte ist, auch in wirtschaftlicher und ökonomischer Hinsicht. Das muss man trotz der ganzen Veränderungen und Umbrüche sagen. Es ist sehr viel geglückt. Wer von außen nach Deutschland reist und in diesem Land Urlaub macht, Menschen trifft, Freunde kennenlernt und Beziehungen schafft, der würde einen Unterschied zwischen Ost und West nicht feststellen. Der würde Unterschiede feststellen zwischen den Lebenswelten in Bayern und in Hamburg und eben auch in Dresden und in Leipzig. Aber er würde nicht sagen, dass dies ein Land ist, das in Ost und West geteilt ist. Deshalb sollten wir dieses Urteil derjenigen, die uns besuchen, auch als eigenes akzeptieren. Wir sind ein Land. Das ist geglückt.
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Aber gerade dann, wenn man sagt: „Es ist eine Erfolgsgeschichte, die uns miteinander verbindet“, muss man auch sagen: Es gibt noch Dinge, die wir zu tun haben. Fast jeder in diesem Land weiß, worum es geht. Es geht um Löhne und Gehälter, die unverändert unterschiedlich sind. Es geht um die Frage: Welche beruflichen Perspektiven existieren etwa im Hinblick auf Arbeitszeiten? Auch das ist unterschiedlich. Es geht um die Frage der Renten. Auch die sind noch nicht gleich.
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Es ist ein großer, großer Fortschritt, dass wir es erreicht haben, hier etwas mit der Grundrente beizutragen, die jetzt in ganz Deutschland gilt, aber insbesondere im Osten Deutschen helfen wird.
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Aber auch das muss, darf und soll aus meiner Sicht gesagt werden: Wir wissen, dass viele, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind, schon zu Recht beklagen, dass, wenn es um Führungsfunktionen in Wissenschaft, in Unternehmen, in vielen anderen Einrichtungen geht, sie nicht so repräsentiert sind, wie es ihrem Anteil an der deutschen Bevölkerung entspricht. Deshalb, glaube ich, gilt es auch, das zu sagen: Wir haben unverändert die Aufgabe, zu ermöglichen, dass viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und eben in gleicher Weise auch viele aus dem Osten Deutschland die Perspektive haben, Führungsaufgaben in Deutschland in der Wissenschaft, in den Unternehmen und in der Politik wahrzunehmen. Natürlich wünschen wir uns starke, mittelständische und große Unternehmen im Osten Deutschlands. Das ist unverändert eine gemeinsame Aufgabe.
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Auch das gilt: Die Ostdeutschen haben, nachdem sie die Einheit, die Demokratie und die Freiheit erkämpft hatten, einen riesigen ökonomischen Strukturbruch vor sich gehabt und ihn durchlebt. Fast niemand, fast keine Familie ist unberührt geblieben von den Veränderungen, die damals Platz gegriffen haben. Ich habe das sehr genau miterlebt; denn in der Zeit war ich ein junger Anwalt, der im Osten Deutschlands viele Betriebsräte und Gewerkschaften vertreten hat. Bei vielen Unternehmen, bei denen es damals um den Kampf um Arbeitsplätze und um die Perspektiven ging, wäre – dieser Meinung bin ich bis heute – auch eine andere Entwicklung möglich gewesen als die, die dann ganz konkret stattgefunden hat. Deshalb sage ich: Eine der großen gemeinsamen Erfahrungen, die wir nicht vergessen dürfen, ist, dass es hier einen großen Strukturbruch gegeben hat
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und dass die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands ihre Zuversicht und ihr Setzen auf die Demokratie und Einheit darüber nicht infrage gestellt haben, sondern weiter auf dieses Land und seine Gemeinsamkeit setzen.
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Aber diese Erfahrung des Strukturbruchs ist eine, die wir als Deutsche insgesamt als Wissen behalten müssen; denn die Veränderungen, die damit verbunden sind, lassen sich überhaupt nur bewältigen, wenn man das gemeinsam tut. Und wir werden noch viele Strukturbrüche vor uns haben. Das ist einfach mit den Veränderungen in der Welt, den ökonomischen und technologischen Entwicklungen, auch mit vielen Aufgaben, die wir vor uns haben, verbunden. Dass immer alle wissen, dass die Veränderungen, die damit verbunden sind, nicht eine Sache sind, die man mit sich alleine ausmachen muss – mit seiner Region, mit seinen Kollegen, mit seinem Betrieb –, sondern dass das etwas ist, das uns gemeinsam berührt, das ist eine Botschaft, die uns auch heute und in der Zukunft weiterhelfen muss. Nur miteinander werden wir die Zukunft gewinnen.
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Da ist jetzt der große Bruch, der mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung verbunden ist, und den werden wir im Westen und im Osten Deutschlands nur bestehen, wenn wir den Regionen, die davon betroffen sind und schon so lange zum wirtschaftlichen Wohlstand unseres Landes beigetragen haben, sagen: Wir lassen euch nicht alleine. – Dass es in Zukunft Arbeitsplätze gibt, das bleibt eine Botschaft. Das ist etwas, das wir auch sagen, wenn wir an die Automobilindustrie denken. Deshalb bleibt die Aussage immer wieder: Wir können die Zukunft nur miteinander gewinnen. Das ist die Erfahrung, die die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger uns allen gemeinsam mitbringen.
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30 Jahre – 30 Jahre vorwärts gedacht, werden wir ein Land sein, das CO2-neutral wirtschaftet. Das ist eine Zeit, die wir nach diesen 30 Jahren gut ermessen können. Deshalb sollten wir uns das auch als eine große Aufgabe vornehmen, die wir miteinander in dieser Zeit bewältigen wollen. Es ist eine Aufgabe, die große strukturelle Veränderungen mit sich bringt und die wir ebenfalls nur gemeinsam bewältigen können, wenn wir den Wohlstand unseres Landes erhalten wollen. Aber genauso wie 30 Jahre deutsche Einheit wird uns auch das gelingen. Es wird ein Erfolgsmodell sein, das wir gemeinsam erreichen.
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Meine Damen und Herren, morgen wird in Potsdam unter dem Motto „Wir miteinander“ gefeiert. Das ist die richtige Botschaft. Es ist übrigens eine Botschaft, die gegen diejenigen geht, die glauben, dass es Deutschland schlecht gehen soll, damit es besser wird. Es wird Deutschland gut gehen, wenn wir gemeinsam an der Zukunft arbeiten und wenn wir es miteinander tun.
Schönen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Lindner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Einheit war kein Wunder, das über unser Land gekommen ist. Die deutsche Einheit ist auch nicht das Ergebnis einer Wende, die die ehemalige SED-Führung eingeleitet hat. Die deutsche Einheit war die Konsequenz der ersten unblutigen und erfolgreichen Revolution in unserem Land. Was 1848 nicht und 1918 nicht dauerhaft gelang, wurde 1989/1990 endlich Wirklichkeit: ein vereintes und demokratisches Deutschland.
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Vereint wurde nicht nur ein Land; neu vereint wurden auch Familien, die lange getrennt waren, wie meine eigene. Die Revolution 1989 verlief friedlich, und doch war sie hart erkämpft. Man kann den Mut der Ostdeutschen, die damals trotz Bereitschaftspolizei, Stasigreiftrupps und bereitstehender Wasserwerfer auf die Straßen gegangen sind, nicht hoch genug einschätzen. Diese tiefe historische Erfahrung, dass Mut und der Drang nach Freiheit friedlich Diktaturen stürzen kann, wird unser Land immer solidarisch mit Freiheitsbewegungen überall auf der Welt verbinden, sei es in Belarus, in Hongkong oder sonst wo.
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Die Sehnsucht nach Freiheit war groß. Schon vor der Friedlichen Revolution haben 136 Menschen beim Versuch, die Mauer zu überwinden, ihr Leben verloren, einige nur wenige Meter hinter uns hier an der Spree, den Reichstag und die Freiheit vor Augen. Jeder, der versuchte, die Mauern von Unterdrückung und Diktatur zu überwinden, war ein Freiheitskämpfer.
Wir sollten auch 30 Jahre nach der deutschen Einheit nicht vergessen, aus welchen Gründen diese Diktatur stürzte, welche Motive die Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR auf die Straße getrieben haben. Es war die Sehnsucht nach Freiheit, und es war die Sehnsucht nach Wohlstand. Die Menschen wollten Freiheit über ihr Leben, über ihre Zukunft, über ihre Meinung, und sie wollten den wirtschaftlichen Wohlstand, die Prosperität, die viele von ihnen vor allen Dingen aus dem Westfernsehen kannten. Die Geschichte lehrt uns: Eine stabile Demokratie gibt es nur mit persönlicher Freiheit und ökonomischer Prosperität. Das sollte auch jenen zu denken geben, die heute im Wohlstand über eine Wirtschaft ohne Wachstum philosophieren.
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„Wir sind das Volk“, dieser Satz hat eine Mauer zum Einsturz gebracht und ein Unrechtsregime hinweggefegt. „Wir sind ein Volk“, dieser Satz hat den Grundstein für die Wiedervereinigung gelegt. Die Wiedervereinigung mag heute auf manche wie ein Glücksfall wirken, doch auch hier gilt: Glück passiert, wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft. Der Freiheitswille der Menschen im Osten hat die Gelegenheit geschaffen. Aber es gab Voraussetzungen. Willy Brandt und Walter Scheel haben die neue Ostpolitik begründet. Aber maßgeblich waren es zwei Politiker, die nie aufgehört haben, an die Wiedervereinigung zu glauben, nämlich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.
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Sie haben die historische Chance ergriffen. Sie haben Weitsicht und Mut gezeigt. Insbesondere ohne diese beiden großen Staatsmänner wäre die Einheit so nicht zustande gekommen. Andere hatten den Glauben an die Wiedervereinigung längst aufgegeben. Ein deutscher Politiker wird im September 1989 wie folgt zitiert:
Vergessen wir die Wiedervereinigung! … Warum halten wir nicht für die nächsten 20 Jahre die Schnauze darüber?
Zwölf Monate später war Deutschland wiedervereint, und acht Jahre später war dieser Politiker der erste grüne Außenminister des vereinigten Deutschlands.
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Das zeigt, was in diesem Land steckt, wozu dieses Land fähig ist. Unterschätzen wir niemals, was in uns steckt. Mögen die Aufgaben noch so groß sein: Die Leistungsfähigkeit dieses Landes und der Mut seiner Bürger sind größer.
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Vergessen wir auch nicht, welche Rahmenbedingungen für die Einheit notwendig waren: die feste Verankerung in das westliche Bündnis, die transatlantische Partnerschaft und die gefestigte vertragliche Einbindung in die Europäische Gemeinschaft einerseits und Vertrauen in die Sowjetunion andererseits. So konnten Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher die Sorgen und Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung zerstreuen. Dass die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, zu Großbritannien und zu Russland heute so sind, wie sie sind, ist nicht in erster Linie die Verantwortung unseres Landes. Dennoch muss es für uns eine Sorge sein und zugleich den Auftrag markieren, wieder in eine Politik des Multilateralismus zurückzukehren.
Aus zwei Staaten wurde einer, und niemand konnte erwarten, dass das ohne Probleme gelingt. 16 Millionen Deutsche mussten sich ja quasi über Nacht in einem neuen System zurechtfinden und hatten dazu nicht viel Zeit. Für viele Menschen im Osten ging es in den 90er-Jahren um nicht weniger als die nackte Existenz. Was für eine Herausforderung, wenn es etwa Arbeitslosigkeit im alten Leben nicht gegeben hat!
Mich beeindrucken deshalb Biografien wie beispielsweise die von Viola Klein, die in dieser Woche Gast einer Veranstaltung unserer Fraktion war. Sie war 1989 zunächst Erzieherin und gründete dann nach der Einheit einen Betrieb. 1994 wurde sie Unternehmerin, und 2019 hat sie ihr Unternehmen mit über 300 Beschäftigten, ein IT-Unternehmen, verkauft. – Es gibt Millionen dieser individuellen Erfolgsstorys in den vergangenen Jahren, und wir haben über diese individuellen Erfolgsstorys in den vergangenen 30 Jahren zu selten gesprochen.
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Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Zeit des Umbruchs für viele traumatisierend war; auch da dürfen wir nicht wegsehen. Die Biografien der Menschen in Ostdeutschland verdienen Respekt, und zwar nicht nur der Teil nach der Einheit, sondern auch der Teil vor der Einheit.
Über den Mut und die Widerstandskraft der Menschen habe ich gesprochen. Auch die atemberaubende Modernisierung der Infrastruktur und die zumindest Anfang der 1990er-Jahre schlanke Bürokratie hätten Blaupause für unser Land insgesamt sein können, zum Beispiel beim viel zu trägen Einstieg in die Digitalisierung. Dennoch, glaube ich, ist es kein Zufall, dass Tesla seine Gigafactory in Grünheide, vor den Toren Berlins baut. Der verwegene Plan, ein großes Automobilwerk in nur 18 Monaten aus dem Boden zu stampfen, ist wahrscheinlich nur mit ostdeutschem Pragmatismus möglich.
Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass der erste ausländische Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt in Ostdeutschland regiert,
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nebenbei ein Däne,
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der in seiner Stadt Rostock, die 1992 noch traurige Berühmtheit erfahren hat, nun eine Smart und Smile City schaffen will. Der Trend stimmt also.
Mein Vorschlag ist: Wir haben in den vergangenen 30 Jahren mit Förderprogrammen und Transferleistungen versucht, Ost und West wirtschaftlich zusammenzubringen. Geld schafft aber keine Strukturen, Geld ersetzt auch keine Strukturen. Deshalb: Seien wir wieder mutig und probieren wir es doch einmal die nächsten 30 Jahre andersherum. Verbessern wir die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung, und schaffen wir die Voraussetzung für mehr Unternehmertum.
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Otto Graf Lambsdorff hatte sich bereits 1990 für ein Niedrigsteuergebiet in den ostdeutschen Ländern eingesetzt, weil er erkannte, dass alle auch gutgemeinten Subventionen und staatlichen Aufbauhilfen eines nicht ersetzen können, nämlich wettbewerbsfähige Unternehmen, die sichere Arbeitsplätze schaffen. Damals war dieses Konzept nicht mehrheitsfähig. Heute müssen vielleicht auch damalige Kritikerinnen und Kritiker erkennen, dass Lambsdorff recht hatte; denn der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland wird bis heute von der weltweit höchsten Steuerbelastung für mittelständische Betriebe erschwert, durch bürokratische Lasten, die insbesondere in Ostdeutschland unternehmerisches Engagement bremsen.
Schaffen wir also Freiheitszonen, in denen wir die Möglichkeit geben, mit niedrigeren Steuersätzen zu arbeiten, in denen Neugründungen auf bestimmte Zeit von bürokratischen Vorgaben ausgenommen werden, in denen wir die Forschungslandschaft und die Start-up-Szene mobilisieren und besser miteinander vernetzen, in denen wir den Ausbau von Breitbandmobilfunk und Verkehrswegen beschleunigen, in denen die Verwaltung nicht Obrigkeit, sondern Partner ist. Machen wir also Ostdeutschland in den nächsten drei Jahrzehnten zu einem Chancenland. Und wenn jemand gefragt wird: „Wo gründest du dein Unternehmen?“, dann soll die Antwort sein: „In Cottbus oder in Rostock
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oder in Bautzen“, weil dort, in Cottbus, in Rostock und in Bautzen, das möglich ist, was in München, Stuttgart und Düsseldorf, in Hamburg und Hannover schon lange nicht mehr möglich ist.
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Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist so und bleibt dabei: Die Friedliche Revolution ist ein historisches Glück. Und es bleibt auch: Demokratie und Freiheit haben sich die Ostdeutschen erkämpft, friedlich und demokratisch, und daran haben viele einen Verdienst.
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Wir sehen im Übrigen in diesen Tagen in Belarus, dass das nicht selbstverständlich ist.
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Die Leistung der Ostdeutschen ist es, die 1989/1990 ermöglicht hat. Lieber Christian Lindner, nichts gegen Kohl und Genscher, aber ich finde, dass hier in jedem Fall der Name Gorbatschow genannt werden muss; denn er war wesentlich dafür und hat die Voraussetzung geschaffen, dass das möglich wurde.
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Ja, meine Damen und Herren, danach ist unheimlich viel erreicht worden; dann wurden aber auch Fehler gemacht. Es geht nicht um Dankbarkeit, wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung unlängst gesagt hat, sondern ich sage ganz klar: Die Ostdeutschen sollen stolz sein. Sie sollten mit großem Selbstbewusstsein zurückschauen und vor allen Dingen nach vorne schauen. Ich wünsche mir mehr Selbstbewusstsein der Ostdeutschen.
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Meine Damen und Herren, das Land und die Menschen – das ist hier schon mehrfach gesagt worden – sind vielfach zusammengewachsen. Nicht selten sind heute die Unterschiede, auch die kulturellen, zwischen Nord und Süd größer und augenfälliger als die zwischen den Bundesländern in Ost und West. Das heißt aber wahrhaftig nicht, dass alles gut ist. Es geht zum Beispiel um Akzeptanz von Geschichte; die deutsche Geschichte war zweigeteilt. Das heißt auch Akzeptanz von Biografien, die gelebt worden sind.
Vor allen Dingen ist es so, dass wir von gleichwertigen Lebensverhältnissen, wie es das Grundgesetz festschreibt, immer noch weit entfernt sind. Da ist gar nicht die Frage, wie wir hier das so sehen. Befragungen ergeben, dass 64 Prozent der Bevölkerung weiterhin beklagen, dass wir keine gleichwertigen Lebensverhältnisse haben. Um nur ein Beispiel aus meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu nennen: Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern arbeiten zwei Wochen länger und bekommen 4 000 Euro weniger im Jahr als die Menschen im Nachbarland Niedersachsen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitszeit, das sollte doch unser aller Anliegen sein, für Frau und Mann in Ost und West.
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Die Auswirkungen, die das auf die Rente hat, brauche ich hier nicht darzulegen.
Die ostdeutsche Wirtschaft liegt bezogen auf die Leistungskraft bei 79 Prozent der westdeutschen. Das hört sich passabel an; aber im Jahre 1995 lagen wir schon bei 70 Prozent. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann wissen wir, welche Zeitdimension eine wirkliche Angleichung erfordern wird. Der wirtschaftliche Rückstand des Ostens bis heute hat wesentlich mit der Politik der Treuhand zu tun. 71 Prozent der Ostdeutschen sind heute der Meinung, dass die Treuhandpolitik falsch war. Die Treuhand war der Kardinalfehler der deutschen Einheit, meine Damen und Herren,
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und hier brauchen wir – nicht, weil damit Betriebe wiederkommen – dringend eine Aufarbeitung.
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Meine Damen und Herren, wir haben noch ein Jahr eine ostdeutsche Bundeskanzlerin. Aber ansonsten ist die Repräsentation der Ostdeutschen wirklich ein Skandal. Ich will nur ein Beispiel aus einem Bundesland nennen: In Sachsen-Anhalt gibt es neben dem Ministerpräsidenten genau zwei ostdeutsche Minister.
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Stellen Sie sich mal vor, in Rheinland-Pfalz wären nur zwei westdeutsche Minister! Undenkbar! Das ist allerdings Standard: kein General der Bundeswehr, kein deutscher Botschafter, kein Rektor einer Uni aus dem Osten. Die erste Verfassungsrichterin wurde jetzt riesig gefeiert. Donnerwetter, kann ich da nur sagen. – Können Sie sich vorstellen, was das bei den Ostdeutschen assoziiert?
Ich will noch ein Beispiel anführen, weil die Forschungsministerin hier ist. Sie hat unlängst eine Batteriefabrik angesiedelt – wo? – in ihrer Heimatregion in Münster. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es doppelt so viele Bundesbehörden wie im gesamten Osten. Und ich habe die Befürchtung, dass sich das mit einem CDU-Vorsitzenden aus Nordrhein-Westfalen nicht ändern wird.
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Das ist schlicht unfair. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Strukturpolitik.
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Dazu gehört im Übrigen auch ein Investitionsprogramm für den ländlichen Raum. Wo ist denn das schnelle Internet an jeder Milchkanne? Wo sind denn Bahnstrecken, die stillgelegt wurden, die reaktiviert werden? Das könnte der neue Bundesverkehrsminister, den es ja hoffentlich bald gibt, mal in Angriff nehmen.
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Wir sehen doch an den USA, wohin das führt, wenn Regionen abgehängt werden.
Meine Damen und Herren, „Ost und West“ ist nicht mehr die entscheidende Differenz in unserem Land. Ich kann nur sagen: zum Glück. Wir haben inzwischen aber soziale und regionale Unterschiede, die das gesamte Land spalten. Die Armut im Osten und im Westen ist seit 1990 gestiegen; der Armutsforscher Christoph Butterwegge spricht vom höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Heute arbeitet jeder dritte Ostdeutsche und jeder fünfte Westdeutsche für Niedriglohn. Wir haben mehr Kinderarmut, mehr Altersarmut auf der einen Seite und unfassbaren Reichtum auf der anderen Seite. Eine ganz kleine Minderheit von 10 Prozent der Bevölkerung hat doppelt so viel wie die anderen 90 Prozent der Bevölkerung. Würden Sie das eine einheitliche Verteilung nennen? Nein, das ist es überhaupt nicht.
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Morgen begehen wir 30 Jahre deutsche Einheit. Ja, es ist ein Feiertag. Aber, meine Damen und Herren, es ist für uns alle vor allen Dingen eine Verpflichtung. Die Unterschiede sind geringer geworden, aber es bleibt weiterhin viel zu tun. Ich wünsche mir, dass gerade die Ostdeutschen das mit großem Selbstbewusstsein angehen und dass wir die sozialen Unterschiede endlich angehen; denn ein geeintes Land sollte immer auch ein sozial gerechtes Land sein. Dafür müssen wir mehr tun, meine Damen und Herren.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Peter Maffay 1980 die ostdeutsche Band Karat bat, ihr Lied „Über sieben Brücken musst du gehen“ singen zu dürfen, hat er wahrscheinlich nicht geahnt, dass sich die Platte in Westdeutschland 2 Millionen Mal verkaufen würde. Das war quasi der erste Kassenschlager Ost im Westen, gelaufen wie geschnitten Brot. Kam eine solche Zahl eigentlich jemals in einem Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vor: „2 Millionen Mal ein Ostlied im Westen verkauft“?
Unbestritten, meine Damen und Herren, der 3. Oktober ist ein besonderer Tag für viele Ostdeutsche. Aber auch 92 Prozent der Westdeutschen sagen, dass die Wiedervereinigung von sehr großer Bedeutung für unser Land sei. Und es verwundert, dass der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit unseres Landes den Blick vor allen Dingen immer nach Osten lenkt, dass es immer darum geht, ob der Osten jetzt aufgeholt habe. Wohin denn eigentlich aufgeholt? Ja, es stimmt, Westdeutschland hat die Einheit lange als Anschluss betrachtet. Und ehrlicherweise muss man sagen: Sehr viele Ostdeutsche wollten, dass es so wird, wie es im Westen nie war, außer vielleicht in der Werbung.
Der Blick auf die deutsche Einheit verstellt noch heute, was wirklich passiert ist. Nicht nur der Osten, auch der Westen hat sich verändert. Deutschland im Jahr 2020 ist ein anderes Land. Wir sind freier, weltoffener, vielfältiger, wir haben die Demokratie als Grundlage, und das ist gemeinsam großartig.
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Wir sind weit gekommen. Dennoch bleiben die Vergleichszahlen hart, und sie müssen genannt werden: Der Osten erreicht nur 75 Prozent der Wirtschaftskraft. Die durchschnittlichen Haushaltseinkommen liegen bei 88 Prozent, obwohl die Menschen im Schnitt länger arbeiten; darüber ist hier schon gesprochen worden. Ich verstehe, dass sich Bürgerinnen und Bürger als Menschen zweiter Klasse verstehen, wenn in allen Führungspositionen, egal ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Industrie, in den Gerichten kaum Ostdeutsche vorkommen. Die Ostdeutschen haben Außergewöhnliches geleistet, schon bei der friedlichen Revolution, die die Menschen in Ostdeutschland und übrigens auch in den Ländern Osteuropas erkämpft haben, aber eben auch beim Wiederaufbau. Ich finde, darüber müssen wir sehr viel mehr reden.
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Es sind Geschichten von Ostdeutschen, die angesichts des Ungewissen in der Krise gesagt haben: „Ich mache das jetzt einfach“, übrigens sogar schon vor der Einheit. Michael Succow ist so einer. Er hat den letzten Beschluss der DDR-Volkskammer herbeigeführt, ein Coup, der uns bis heute noch gemeinsam unendlichen Reichtum beschert. Biosphärenreservate, nämlich Kulturlandschaften, die nachhaltig bewirtschaftet werden, kannte die alte Republik nicht. Damals wurden in einem wahnsinnigen Tempo, weil die deutsche Einheit mit dem 3. Oktober sehr viel schneller kam, als gedacht, 4,5 Prozent des Staatsgebietes unter Schutz gestellt. Ein großartiger Erfolg bis heute, den sich westdeutsche Bundesländer zum Glück abgeschaut haben!
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„Ich mache das jetzt einfach“, das ist genau das, was wir jetzt angesichts von Krisen wie der Pandemie, aber noch mehr der Klimakrise so dringend brauchen. Ja, Machen ist wie Wollen, nur krasser. Darauf kommt es jetzt an. Dabei helfen uns die Erfahrungen aus den letzten 30 Jahren. Dabei helfen uns die Erfahrungen der Ostdeutschen, auch das Scheitern, auch die Schwierigkeiten, wenn Unternehmen den Bach runtergegangen sind, wenn ganze Berufsgruppen plötzlich nicht mehr gefragt waren. Ja, wir stehen mindestens vor ähnlichen Herausforderungen wie 1990. Unsere Erfahrungen sollten wir dafür nutzen.
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Ja, ich bin dabei. Es sind auch die vielen Erfolgsgeschichten von Unternehmen, die nach 1990 gegründet oder privatisiert wurden und mit innovativen Ideen Weltmarktführer wurden: Die Firma GEWES, die Gelenkwellen herstellt, galt bei der Treuhand als nicht privatisierbar; sie ist heute Weltmarktführer. Oder das Unternehmen Funkwerk, von einer Frau geführt; ohne deren Technik stünden heute die Bahnen komplett still. Oder Möve, mit altem Namen und altem Patent produzieren sie bis heute sehr erfolgreich wunderbare Fahrräder. Oder Familienunternehmen, die nach 1990 an ihren Ursprungsort zurückgekehrt sind: Lange & Söhne mit Uhren in Glashütte oder Bauerfeind, die mit medizinischen Hilfsmitteln Menschen in Bewegung halten. Oder „Tatort“: ohne den Ostdeutschen Jan Josef Liefers denkbar, aber sinnlos.
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Filme mit Anna Maria Mühe oder Nora Tschirner sind gemeinsames Kultgut. Und wer weiß, wie viele Sterne unser Nationaltrikot ohne Toni Kroos hätte?
Besonders haben übrigens Hamburg und Süddeutschland profitiert, auch ökonomisch, vom Zuzug Ostdeutscher. Gute Fachkräfte, motivierte Menschen, darunter viele Frauen, haben dort gearbeitet und ganz selbstverständlich wie nebenbei Ganztagsbetreuung für ihre Kinder eingefordert und mit Verzögerung dann auch bekommen. Und auch wenn die Poliklinik heute MVZ, Medizinisches Versorgungszentrum, heißen muss: es gibt sie, und das ist richtig so.
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Ost und West haben sich angenähert, und wir haben gemeinsam dieses Land verändert. Aber wir werden es auch weiter verändern müssen, und zwar auf Augenhöhe mit diesen Erfahrungen. Wir wollen, dass es gut ist und besser wird. Und wir werden keinen Millimeter der erkämpften Freiheit, der Demokratie und der Vielfalt hergeben. Wer heute Nazis wählt, wählt Spaltung, Fake News, Unanständigkeit, wählt Gewalt und Hass.
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Die Demokratie haben mutige Menschen 1989 erkämpft. Bis heute ist und bleibt sie das offene Tor zur Zukunft und zur Zuversicht. Ein paar der sieben Brücken liegen noch vor uns, aber gemeinsam werden wir es schaffen. Dieses Land, dieses demokratische Land hat es verdient.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf Gedanken zur deutschen Einheit und zu 30 Jahre Wiedervereinigung.
Der erste Gedanke: Freude. Jeder von uns hat irgendwie seine eigene Geschichte mit der Wiedervereinigung. Bei mir ist sie notwendigerweise trivialer als bei anderen. Aber ich erinnere mich noch sehr, sehr gut daran, als ich als 17-Jähriger hier am Reichstag gestanden und auf die Mauer geguckt habe, auf das Brandenburger Tor, das zu war. Wenn mir damals jemand gesagt hätte: „2020 stehst du im Deutschen Bundestag, hältst eine Rede zu 30 Jahre Wiedervereinigung, darfst jeden Morgen am offenen Brandenburger Tor vorbeigehen“, wunderbar, wunderbar! Diese Freude, meine Damen und Herren, müssen wir uns immer wieder in unsere Herzen zurückrufen, müssen wir erhalten. Wer erinnert sich nicht, was er damals am 9. November gemacht hat? Diese Fassungslosigkeit, dieses Staunen auch in der Zeit danach, diese Atemlosigkeit, in der sich alles entwickelt hat, der Stolz am 3. Oktober! Ich war am 9. November in Frankreich. Die Leute dort haben mich beglückwünscht. Die Welt hat sich mit uns gefreut. Das müssen wir doch wieder herholen, anstatt immer kleinteilig, im kleinen Karo darüber zu reden, woran es mangelt und was vielleicht auch falsch gelaufen ist.
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Der zweite Gedanke ist Dankbarkeit. Dankbarkeit – das ist mehrfach, auch zu Recht gesagt worden – gegenüber denjenigen, die diese Freiheit erkämpft haben, gegenüber den Männern und Frauen im Herbst 1989 in Ostdeutschland mit großem Mut, nicht wissend, wie das enden würde, nicht wissend, was die Bereitschaftspolizei oder sonst jemand machen würde.
Ich möchte aber auch die nicht vergessen, die schon am 17. Juni 1953 losgelaufen sind.
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Diejenigen, die gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings demonstriert haben. Diejenigen, die den Wehrdienst verweigert haben. Diejenigen, die versucht haben, die Mauer zu überwinden. Diejenigen, die ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Familie, die alles geopfert haben, um irgendwo ein besseres Leben in Demokratie und Glück zu haben. Auch diejenigen haben dazu beigetragen, dass der Herbst 1989 überhaupt möglich war.
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Ich möchte mich auch bei den Politikerinnen und Politikern in Westdeutschland und in Europa bedanken, die nie aufgegeben haben, an die deutsche Einheit zu glauben, als andere die Zweitstaatlichkeit schon akzeptiert hatten. Ich möchte mich insbesondere bedanken – weil ohne die wäre das alles nicht möglich gewesen – bei unseren Freunden aus Polen, von Solidarnosc, und unseren Freunden aus Ungarn.
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Ich möchte mich bedanken bei Michail Gorbatschow und im Übrigen auch bei dem damals sowjetischen und heute russischen Volk. Es war nicht selbstverständlich, dass sie das zugelassen haben. Bei aller Kritik, die wir momentan zu Recht an Russland üben: Vergessen wir auch das an der einen oder anderen Stelle nicht.
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Ich möchte mich auch bei George Bush bedanken. Auch ohne die Amerikaner wäre das nicht möglich gewesen, und vielleicht rufen wir uns auch das gerade in diesen Zeiten in Erinnerung.
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Ich möchte mich bei Helmut Kohl bedanken
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und bei den Politikerinnen und Politikern aus Ost und West, die diesen ganz schmalen Spalt, den uns die Geschichte offen gelassen hat, beherzt genutzt haben. Ich bin sehr froh, dass heute einige hier sitzen – ob nun Wolfgang Schäuble, unser Bundestagspräsident, Katharina Landgraf, Eberhard Brecht oder einige andere –, die damals dabei waren und daran mitgewirkt haben, dass diese Einheit entsprechend vollendet werden konnte. Das war sehr, sehr wichtig.
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Ich möchte mich auch bedanken – das ist in einigen Reden angeklungen, und das ist mir persönlich sehr, sehr wichtig – bei den vergessenen Helden dieser Wiedervereinigung. Nach dem 3. Oktober 1990 fing der Alltag an, und dieser Alltag – das habe ich als jemand aus dem Westen erst spät kapiert – war geprägt von Mühen, Zweifeln, Rückschlägen, von vielen Problemen, ob das nun Arbeitslosigkeit, der Verlust der eigenen Biografie oder auch die Legitimation der Identität war. Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass wir im Westen das vielleicht zu lange nicht gesehen haben.
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Was die Menschen, insbesondere auch die Frauen – das ist eben angeklungen –, dort geleistet haben, ist wirklich großartig. Insofern haben wir viel, viel Anlass, zu danken.
Dritter Gedanke: Freiheit. Es war ein Kampf um die Freiheit. Ja, es war auch ein Kampf um die Wiedervereinigung, aber es ging zuerst um Freiheit, um Demokratie und um Gerechtigkeit. Und dieser Kampf ist glücklich ausgegangen; er ist friedlich gewesen. Das ist ein ganz großes Geschenk und muss für uns Verpflichtung sein, an der Seite derjenigen zu stehen, die heute noch für die Freiheit kämpfen, ob in Weißrussland, in Hongkong oder sonst wo. Wer, wenn nicht wir aufgrund unserer Geschichte, sollte an ihrer Seite stehen?
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Es geht auch darum, die Freiheit hier im Innern zu verteidigen. Der Auftrag der Männer und Frauen von 1989 ist, dass wir hier im Deutschen Bundestag diese Freiheit gegen Extremisten jeglicher Farbe und Couleur verteidigen.
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Der vierte Gedanke ist Verpflichtung. 1990 war 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nicht lange her. Die damals aktive Generation der Politikerinnen und Politiker in Europa war da 55 bis 65 Jahre alt. Sie alle hatten noch die persönliche Erinnerung daran, dass Deutschland Leid und Schrecken über den Rest von Europa gebracht hat. Die damals aktive Generation hatte das alles noch aus eigenem Erleben im Kopf, und trotzdem haben sie uns Deutsche vertraut und gesagt: Ja, wir vertrauen euch, dass ihr diese Wiedervereinigung nicht missbraucht, um noch mal Leid und Schrecken über Europa zu bringen. Sie haben auf das vertraut, was im Grundgesetz steht, wo wir gesagt haben, dass wir im vereinten Europa zum Frieden in dieser Welt beitragen wollen. Dieses Vertrauen haben wir, glaube ich, in den letzten 30 Jahren gerechtfertigt, aber wir müssen es auch weiter rechtfertigen. Deswegen sage ich an die Adresse all derer, die sagen: „Ja, ihr tut ja ein bisschen viel für Europa“: Nein, es ist auch eine Verpflichtung aus 1989, dass wir immer einen Tacken mehr tun als die anderen, weil die anderen uns vertraut haben, und dieses Vertrauen möchten und wollen wir weiter zurückgeben.
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Ich habe jetzt über Glück, Dankbarkeit, Verpflichtung und Vertrauen sowie Freiheit gesprochen. Zum Schluss – fünfter Punkt – möchte ich noch über eines sprechen, was mehrfach angeklungen ist, nämlich Zusammenhalt, Gemeinschaft. Ja, natürlich spielt die Kategorie „Ost oder West“ für die jungen Leute nicht mehr die Rolle, und ich finde es schön, Yvonne Magwas, dass ein junger Mensch sagt: Ich bin Thüringer. – Natürlich ist der Thüringer anders als der Mecklenburger
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und übrigens auch anders als der Franke. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und meine Kollegen wissen, dass die Westfalen auch anders sind als die Rheinländer.
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Und das ist auch gut so. Einer der Slogans der Feier zur 30-jährigen Wiedervereinigung lautet „Deutschland ist eins: vieles“. Dieses „eins: vieles“ ist auch gut so. Das sollte sich aber nicht an Himmelsrichtungen festmachen. Wir sollten uns diese Unterschiedlichkeit bewahren. Aber wir haben hier im Deutschen Bundestag natürlich die Verpflichtung, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, und das machen wir auch,
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durch die Förderprogramme, durch den Länderfinanzausgleich und dadurch, dass wir eine aktive Politik machen, aber, wie gesagt, nicht nach Himmelsrichtungen, sondern da, wo es notwendig ist. Wir haben Regionen im Westen und im Osten, die Schwierigkeiten haben. Und wir haben Regionen im Westen und im Osten, wo es großartig läuft. Es ist unsere Aufgabe hier, diese Einheit herzustellen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht aber nicht nur um die materielle Einheit, es geht auch um die innere Einheit. Bei aller Vielfältigkeit, die wir in diesem Land zwischen Jung und Alt und vielleicht auch zwischen Ost und West, Nord und Süd und denen, die dazugekommen sind, und denen, die schon immer hier waren, haben, gibt es einen Ort in Deutschland, wo diese Einheit immer wieder hergestellt werden muss. Und das ist hier, der Deutsche Bundestag. Wir sind die Klammer, die dieses Land verbindet.
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Wenn wir hier polarisieren und spalten: Wer soll dieses Land denn dann zusammenhalten?
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Deswegen erwarte ich von uns eines – da müssen wir uns alle selbstkritisch immer wieder prüfen –: Einheit und innere Einheit haben eine Grundvoraussetzung, und das ist Respekt. Bei allen Unterschiedlichkeiten in der Meinung sollten wir uns nie über den anderen erheben. Wir sollten immer versuchen, auf Augenhöhe die Argumente abzuwägen, zu streiten und darum zu ringen, das Richtige zu tun.
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Zum Schluss möchte ich eines feststellen: Wir haben die staatliche Einheit am 3. Oktober 1990 zu unserem großen Glück vollendet. Die innere Einheit muss jeden Tag neu errungen und erkämpft werden, und hier ist der Ort dafür, natürlich auch im Land. Vielleicht sollte uns das die Botschaft für 30 Jahre deutsche Wiedervereinigung sein.
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Jens Kestner, AfD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen und zu Hause vor den Bildschirmen! Jeder hat seine eigene Sicht der Dinge, wenn er auf 30 Jahre deutsche Einheit zurückblickt. Für den einen sind es überwiegend glückliche Erinnerungen, für andere Erinnerungen und Erfahrungen, die bitter und schmerzhaft waren und sogar das eigene Leben und das Leben der Familie bis heute tragisch begleiten.
Mit Blick auf Niedersachsen muss man sagen: Wir hatten die längste gemeinsame Grenze mit der damaligen DDR über eine Länge von 549,9 Kilometern, die sich von Bleckede an der Elbe bis Friedland im Eichsfeld erstreckte. Für mich persönlich, der 1971 in Niedersachsen im sogenannten Zonenrandgebiet geboren wurde und dort auch aufwuchs, gehörten die DDR und die Grenze zum Alltag. Wir lernten in der Schule, dass unsere Brüder und Schwestern in der Deutschen Demokratischen Republik leben und wir ein gemeinsames, wenn auch geteiltes Volk waren. Die Familienbande und Schicksale kannte ich nur aus Erzählungen meiner Eltern.
Den Blick in den Osten gab es für uns, gab es für mich ganz persönlich nur durch die staatlichen Programme der DDR. Hier wurde ich bekannt mit der unsäglichen Propaganda von Karl-Eduard von Schnitzler und dem „Schwarzen Kanal“, aber auch mit Pittiplatsch, Moppi und Schnatterinchen oder „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser“ jeden Sonntag um 10 Uhr. Aber all das war der Blick für mich, für uns nur aus der Ferne in die damalige DDR.
Über Nacht veränderte sich für uns im Westen die Sichtweise. Plötzlich gab es die Montagsdemonstrationen, die friedlichen Menschen auf den Straßen ab September 1989, dann die historische Pressekonferenz am 9. November, in der vom SED-Funktionär Günter Schabowski die Reiseregelung seines Wissens „sofort, unverzüglich“ in Kraft gesetzt wurde. Ab da überschlugen sich die Ereignisse, und alles zusammen führte zum Ende des SED-Regimes.
Wenn ich ganz persönlich nach 30 Jahren zurückblicke, dann gibt es für mich viele besondere Erinnerungen an diese Zeit. Da wäre die erste Fahrt mit Freunden über die innerdeutsche Grenze nach Nordhausen. Das war für mich, wenn ich mich so erinnere, ein Gefühl wie eine Zeitreise in eine graue, triste Welt mit viel Smog und dem ganz besonderen Geruch, der in der Luft lag. Da waren aber auch die Menschen nach der Grenzöffnung in meiner Geburtsstadt Northeim, die mit der Bahn kamen oder mit ihren Trabis die Stadt fluteten, die dort ihr Begrüßungsgeld abholten, und die Volksfeststimmung, die in der Luft lag, die man förmlich greifen konnte.
Da waren Mitte, Ende der 90er-Jahre meine Soldaten beim Panzerbataillon 24 in Braunschweig aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt und Thüringen, für deren Ausbildung ich verantwortlich war. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir der Panzerschütze Zielke im Guten wie im Besonderen. Herr Zielke, falls Sie heute zuschauen: Ich möchte mich bei Ihnen für die kameradschaftliche Zeit zusammen in Braunschweig bedanken. Überhaupt sind mir die Kameraden von damals in guter Erinnerung geblieben, nicht nur wegen ihres Dialekts, sondern auch, weil sie wussten, was im Leben zählt und was wichtig ist.
Wie ich schon sagte: Ich habe überwiegend nur positive Erinnerungen an die letzten 30 Jahre, in denen wir ein Volk geworden sind, gerade auch wegen der vielen besonderen Menschen, die ich in dieser Zeit kennenlernen und auch lieben lernen durfte. Wenn ich von Liebe spreche, dann meine ich meine Frau Anja aus Sachsen-Anhalt, die ihre Kindheit und ihre Jugend in der DDR verbrachte und mit der mich jetzt eine ganz persönliche deutsch-deutsche Geschichte verbindet.
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Zusammen wird uns oft bewusst, dass wir zwar in unterschiedlichen Systemen aufgewachsen sind, mit unterschiedlichen Prägungen, aber dass wir vereint sind durch unsere Sprache und vor allem den Gedanken, dass wir alle ein Volk sind und waren, trotz aller Hindernisse und Vorurteile, die es in diesen 30 Jahren gab.
30 Jahre Einheit bedeutet für mich, dass zusammengefunden hat, was zusammengehört. Unser Volk ist trotz langer Trennung zusammengewachsen, und wir, die aus dem ehemaligen Westen kommen, sollten nicht vergessen, dass es unsere Brüder und Schwestern im Osten unserer Republik waren, die den Weg für ein gemeinsames Deutschland bereitet haben. Ich möchte mich bei unserem Volk auch nach 30 Jahren noch ganz herzlich bedanken, dass sie diesen Schritt gegangen sind.
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Abschließend möchte ich aber auch sagen, was mich traurig stimmt, nämlich wenn Menschen mir heute in persönlichen Gesprächen sagen: Herr Kestner, ich habe wieder so ein Gefühl wie damals vor der Wende, bevor es um Einigkeit, Recht und Freiheit ging. Ich muss mir überlegen, wem ich etwas erzähle, was ich ihm erzähle. Ich habe Angst vor Stigmatisierung. Ich habe Angst, meinen Arbeitsplatz zu verlieren. Ich habe Angst, Freunde zu verlieren. Ich habe Angst, im Verein dumm angeschaut zu werden. – Und all jene, die heute hier sitzen, die sollten sich das noch einmal auf die Fahnen schreiben. Wenn ich Sie beim Wort nehme, dann tun Sie auch etwas dafür, dass sich dieses Gefühl bei unseren Menschen nicht wieder manifestiert, dass sich das wiederholt, was sie abgelegt haben, als sie auf die Straße gegangen sind, als sie gesagt haben: Wir möchten Einigkeit, Recht und Freiheit, wir möchten ein Teil dieses Landes sein, wir möchten vereinigt sein mit unseren Brüdern und Schwestern im Westen. – Geben Sie diesen Menschen nicht nur das Gefühl, sondern handeln Sie auch entsprechend.
Herr Brinkhaus, abschließend möchte ich Ihnen noch sagen – ich habe Ihrer Rede zugehört –: Wenn Sie so viel für Ihr Volk tun würden, wie Sie es für Europa tun, dann wäre vieles besser.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Daniela Kolbe, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie die Kollegin Magwas war ich am 3. Oktober 1990 zehn Jahre alt. Ich kann mich noch gut an einen Laternenumzug erinnern, den wir in unserem kleinen thüringischen Dorf gemacht haben. Ich habe kindliche Erinnerungen an eine unglaubliche Euphorie – mitreißend war das –, es gab aber auch einige Zwischentöne, die ich damals nicht richtig einsortieren konnte. Aber es war ein sehr einprägsamer Abend, der mein ganzes Leben, auch positiv natürlich, beeinflusst hat. Bei der Vorbereitung auf die Rede ist mir persönlich noch einmal klargeworden: Ui, du bist neben anderen Prägungen ganz schön ostdeutsch geprägt. Das finde ich spannend, da wir nun wirklich schon 30 Jahre deutsche Einheit feiern. Es geht mir dabei gar nicht so sehr um die DDR, sondern um die Zeit der Friedlichen Revolution und um die Nachwendezeit, um diese Brüche.
Ich habe wie viele meiner Generation erlebt, wie sich die Generation meiner Eltern selbst befreit hat. Die waren richtig mutig – ich hatte manchmal sogar ein bisschen Angst –, und sie waren richtig euphorisch. Viele von ihnen sind danach hart gestolpert, und ich habe auch manchen beim Scheitern zugesehen. Sie haben plötzlich nach Spielregeln gespielt, die sie gar nicht kannten. Viele haben sich – ich kann das auch für meine Mutter beispielsweise sagen – als Erwachsene beruflich komplett neu erfunden, aber mit einem guten Ende. Zumindest die Allermeisten können heute sagen: Mir geht es richtig gut.
Ich kann sagen: Dieses Auf und Ab und wieder Auf, das hat mich sehr geprägt und diese Generation natürlich noch mal viel mehr. Sie können stolz auf das sein, was sie erreicht haben. Sie haben ein marodes Ostdeutschland wiederaufgebaut. Man merkt ihnen aber auch an, dass sie auf dieser Wegstrecke einiges eingesteckt haben und dass sie manchen Stich noch nicht überwunden haben. Ich jedenfalls ziehe meinen Hut vor der Lebensleistung dieser Generation.
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Ja, wir blicken auf eine 30-jährige Erfolgsgeschichte zurück. Ich würde sogar sagen: Diese historische Aufgabe haben wir megagut gemeistert. Das sagen sogar Menschen im persönlichen Gespräch, denen es heute nicht so gut geht. Wenn man durch Leipzig, meine Heimatstadt, geht, da muss man blind oder vernagelt sein, um dem nicht zuzustimmen. Und trotzdem ist da noch was zu tun, um die innere Einheit unseres Landes herzustellen, damit wirklich zusammenwächst, was doch offensichtlich zusammengehört.
Was ich mir zum 30. Geburtstag unserer Bundesrepublik wünsche, ist, dass wir uns wieder mehr darüber erzählen, was uns prägt und was wir so erfahren haben, und dass wir mehr Respekt gegenüber den jeweiligen Lebensleistungen zum Ausdruck bringen, dass wir ein bisschen mehr aus unserer Komfortzone kommen. Ich nehme bei manchen schon wahr: Manche Ostdeutsche haben sich im Verletztsein ganz schön eingerichtet und manche Westdeutsche auch ganz schön in einer gewissen Gleichgültigkeit.
Lasst uns mehr erzählen, und lasst uns mehr zuhören! Liebe Ostdeutsche, hört zu, wenn die Leute aus dem Ruhrpott von dem Strukturwandel, den sie durchgemacht haben, erzählen, von den maroden Kommunen und den leeren Kassen; das ist ja eigentlich ein Leichtes für jeden Ostdeutschen, sich da hineinzuversetzen. Und umgekehrt wünsche ich mir, dass ostdeutsche Biografien ernster genommen werden und besser sichtbar gemacht wird, was die Menschen zu DDR-Zeiten und auch nach der Wiedervereinigung geleistet haben. Ich habe ein bisschen den Eindruck, manchmal wird das verniedlicht.
Es geht im Kern um Leistungsgerechtigkeit. Die Leute wollen, egal ob in Ost oder West, dass ihre Leistung als gleichwertig anerkannt wird. Politisch kann ich als Sozialdemokratin das auf den Wert von Arbeit vor und nach der Wiedervereinigung zuspitzen. Die Rentenüberleitung war eine riesige Leistung. Aber ich verstehe, dass der Reichsbahner Ost sich gegenüber dem Bahner West vernachlässigt fühlt.
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Die Kollegen haben für ihre Sonderversorgung eingezahlt, sie bekommen sie aber nicht.
Es gibt noch etliche weitere solche Gruppen. Wenn man mit ihnen spricht, dann ist das Gefühl, dass die eigene Arbeit nicht wertgeschätzt wird, allgegenwärtig. Deshalb finde ich es richtig, dass wir den Härtefallfonds angehen, auch wenn er wahrscheinlich nur denjenigen hilft, die es wirklich schlecht getroffen haben und jetzt eine sehr niedrige Rente haben. Wichtig ist und bleibt das Signal: Leistung in Ost und West ist gleich viel wert. Das müssen wir klarmachen.
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Gleiches gilt für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Die Löhne waren und sind viel zu niedrig im Vergleich zum Westen. Deswegen ist es richtig, dass wir die Grundrente und den Mindestlohn eingeführt haben. Es ist spannend, dass die zwei größten sozialpolitischen Maßnahmen der letzten beiden Legislaturen helfen, ostdeutsche Biografien besser wertzuschätzen und Unterschiede zu beseitigen. Ich glaube, wir müssen noch stärker erzählen, dass das auch Ziel dieser Maßnahmen war.
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Wir bleiben da aber nicht stehen. Die SPD will 12 Euro Mindestlohn. Wir wollen mehr Tarifverträge, in Ost und West natürlich gleich. Ich finde es gut, dass sich die Gewerkschaften das auch auf die Fahnen schreiben.
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Und ich rufe den Ostdeutschen zu: Die Gewerkschaften können das nur machen, wenn ihr da mitmacht. Macht da endlich mit! Werdet mutig und kämpft für eure eigenen Rechte!
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Im Kern wird aus meiner Sicht die innere Einheit nur über mehr Miteinander und über soziale Gerechtigkeit möglich, und zwar nicht in Ost oder West, sondern im ganzen Land, damit in Respekt vor den Unterschieden wirklich endlich zusammenwachsen kann, was zusammengehört.
Vielen Dank.
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Torsten Herbst, FDP, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesen Tagen werde ich gelegentlich gefragt: Was bedeutet für Sie persönlich der Tag der Deutschen Einheit? Der 3. Oktober ist für mich ein Tag der Freude, der Freiheit und der neuen Chancen, der gerade mir, in meiner Generation, Möglichkeiten geschaffen hat, die wir zu DDR-Zeiten nie hatten, meine Damen und Herren.
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Ohne Wiedervereinigung hätte ich kein Abitur machen können, ich hätte nicht in Großbritannien studieren können, ich hätte nicht am Aufbau eines freien und demokratischen Jugendverbandes mitwirken können, und ich würde heute nicht vor Ihnen stehen. Deshalb bin ich für die deutsche Einheit dankbar und demütig, meine Damen und Herren.
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In Freiheit zu leben ohne Zwänge und Repression: Dass das nicht so ist, ist für die heutige junge Generation unvorstellbar. Es ist unvorstellbar, dass an einer Grenze geschossen wird, dass Menschen ins Gefängnis kommen, nur weil sie eine vermeintlich falsche Meinung haben, und dass Eltern die Kinder entrissen werden, nur weil sie sich gegen das System stellen, meine Damen und Herren. Das war real existierender Sozialismus. Ich bin froh, dass wir ihn überwunden haben.
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Gregor Gysi hat kürzlich gegenüber dem „Kurier“ aus Österreich gesagt – ich zitiere –:
Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes war, als ob der arme Neffe in die Wohnung der reichen Tante zieht. Er hatte dort nichts zu bestimmen.
Was für ein schräges Bild, meine Damen und Herren.
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Millionen Menschen hatten in der DDR nichts zu bestimmen, weil Wahlen eine Farce waren.
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Warum war eigentlich der Neffe arm? Er war doch nicht deshalb arm, weil die Menschen sich in der DDR nicht angestrengt haben. Sie haben härter gearbeitet unter widrigeren Bedingungen, länger gearbeitet, und die Planwirtschaft hat sie um die Früchte ihrer Arbeit gebracht. Auch das muss man mal zur Kenntnis nehmen.
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Ich bin allen dankbar, die im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind und sich wie ich an den Montagsdemonstrationen beteiligt haben. Denn ohne die Friedliche Revolution wäre es niemals zur deutschen Einheit gekommen. Und ja, die deutsche Einheit war für die Ostdeutschen eine neue Erfahrung – positiv, aber auch mit neuen Härten. 70 Prozent aller Arbeitnehmer mussten sich einen neuen Job suchen. Wenn wir uns das heute vorstellen, kann man eigentlich kaum nachvollziehen, was das bedeutet. Brüche in den persönlichen Biografien wirken bis heute nach, und viele Regionen wurden deindustrialisiert.
Trotz aller Widrigkeiten, meine Damen und Herren: Die deutsche Einheit ist eine Erfolgsgeschichte.
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Wir sind ein Land, ein Volk und doch unterschiedlich sozialisiert. Das ist kein Problem, sondern aus meiner Sicht eine Bereicherung, wenn wir die Unterschiede verstehen. Manche Entwicklungen sind im Osten eher sichtbar, mancher Protest wird eher und klarer formuliert. Ostdeutsche sind besonders sensibel, wenn sie den Eindruck haben, ihnen wird vorgegeben, was sie zu denken und zu sagen haben. Deshalb muss auch eine Botschaft zu 30 Jahre deutscher Einheit sein: Reden wir mehr miteinander! Hören wir einander mehr zu! Respektieren und tolerieren wir auch andere Meinungen, meine Damen und Herren!
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Die Wiedervereinigung ist politisch abgeschlossen, aber, wenn wir ehrlich sind, in den Köpfen noch nicht überall. Daran müssen wir arbeiten. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir nicht mehr über Ost und West sprechen als über Nord und Süd, dass wir keinen Ostbeauftragten der Bundesregierung mehr brauchen und dass es eigentlich überhaupt keine Rolle spielt, ob du in Osnabrück oder Oberwiesenthal, in München oder Dresden geboren bist. Die deutsche Einheit ist dann vollendet, wenn wir sie in unseren Köpfen vollendet haben, meine Damen und Herren.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Klar sind 30 Jahre Einheit ein Grund zum Feiern, aber bitte auch Zeit für einen Blick zurück im Zorn.
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Sehr viele Wunden wurden geschlagen. Einen regelrechten Kahlschlag gab es im Bereich Kunst und Kultur.
Die Unterstellung, dass DDR-Künstlerinnen und -Künstler bloß Staatskunst produziert hätten, war und ist Unsinn und bleibt beleidigend. Die Ignoranz gegenüber der DDR-Kunst ist offensichtlich. So zeigte die von Angela Merkel am 30. April 2009 eröffnete Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009“ kein einziges Werk, das in der DDR entstanden ist – keins! Was für eine Respektlosigkeit.
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Schauen wir auf die Literatur: Nach der Wende wurde tonnenweise DDR-Literatur zu Makulatur. Um die 80 Millionen Bücher wurden auf den Müll gekarrt. Daniela Dahn formuliert treffend: „Die Erinnerung an DDR-Kultur wurde so Gedanke um Gedanke ausgelöscht.“
Vernichtet wurden auch die Bücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die vor dem Mauerfall in Ost und West erschienen, und zwar in hohen Auflagen auf beiden Seiten. Nach der Wende wollte niemand mehr ihre Manuskripte. Da wurde nicht nur Literatur vernichtet, da wurde Geschichte begraben, da wurden Biografien zerstört.
Wer im vereinten Lande erfolgreich sein wollte, der verschwieg am besten seine Ostherkunft. Das zumindest hat sich geändert. Da gibt es inzwischen Stolz auf DDR-Sozialisation und -Geschichte.
Die DDR hat sich Kultur geleistet, schreibt Gerd Dietrich in seiner nun endlich vor einem Jahr erschienenen „Kulturgeschichte der DDR“, und er belegt das eindrucksvoll mit Zahlen und Fakten. Seit der Vereinigung mussten nahezu zwei Drittel aller Theater dichtmachen. 90 Prozent der öffentlichen Bibliotheken wurden abgewickelt. Bei Film und Fernsehen spielten sich Dramen ab. Dieser Kahlschlag zog sich durch alle Sparten von Kunst, Kultur, Medien und auch Wissenschaften. Er traf gerade die, die die Freiräume in der DDR erweitert haben. Klaus Staeck meinte 1989: „Mag die DDR jetzt auch arm dran sein, sie ist reich durch ihre Künstler, die ja nicht durch Zufall die Reform-Bewegung entscheidend mitgeprägt haben.“
Wer die Kultur der DDR verleugnet, der will auch nicht, dass wir endlich beginnen, die gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Wir brauchen aber eine gemeinsame Erinnerungskultur.
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Übrigens: Ich habe mir als junge Frau nicht vorstellen können, je wieder in einer deutschen Republik mit einem § 218 zu leben. Was für ein Rückschritt!
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Staatsministerin im Freistaat Sachsen, Katja Meier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch wenn sie oft herbeigeredet werden, finden wirklich historische Ereignisse nicht zu oft im Laufe eines Lebens statt, insbesondere solche nicht, die unsere eigenen Biografien auf den Kopf stellen. Mein eigener Lebensweg wurde vor 30 Jahren – ich war damals elf Jahre alt – vielleicht nicht auf den Kopf, aber doch vom Kopf auf die Füße gestellt. Als Zwickauerin, die im Plattenbaugebiet groß geworden ist, als Tochter einer Mutter, die im Dreischichtsystem in der Textilbranche gearbeitet hat, und als Tochter eines Vaters, der als Ingenieur an der Produktion des Trabants beteiligt war, bin ich auch dank der Friedlichen Revolution vor 30 Jahren heute Sächsische Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung und darf heute vor Ihnen reden im Deutschen Bundestag, im vereinten Deutschland, im vereinten Berlin.
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Justiz, Demokratie, Europa, Gleichstellung – keines dieser Themen wäre mit der DDR nach unseren heutigen Werten kompatibel.
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Die DDR ist vor über 30 Jahren zu Recht am Urteil ihrer Bevölkerung gescheitert. Die Menschen, die dieses Urteil gefällt und eigenständig umgesetzt haben, sind heute Teil der Bundesrepublik. Inzwischen sind rund 30 Prozent der deutschen Bevölkerung nach dem 3. Oktober 1990 geboren. Ein Drittel hat nie das geteilte Deutschland gekannt. Die DDR ist Geschichte, und sie wird es immer mehr. Diesen jungen Menschen müssen wir erklären, was in ihrem Land damals passiert ist, was wir gelernt haben, warum auch die Befindlichkeiten so sind, wie sie sind, warum die historischen Leistungen der Wiedervereinigung höchste Anerkennung verdienen.
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Anerkennung ist fast schon ein toxisches Wort in dieser Debatte. Manch einer im Osten fordert sie seit Jahrzehnten ein, und das, was er daraufhin bekommt, wirkt manchmal wie ein Westpaket zu DDR-Zeiten. Ja, es sind viele gute Sachen drin, aber das wirkliche Leben bleibt davon gefühlt unberührt. Dabei ist es doch offensichtlich: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte hat eine entschlossene Bevölkerung friedlich und selbst organisiert eine Diktatur kollabieren lassen.
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Sie hat in einer Pseudodemokratie das schärfste Schwert derselben gezückt und diesem Staat, der der Gewalt nie abgeneigt war, ein unblutiges Ende gesetzt.
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Manchmal, meine sehr verehrten Damen und Herren, hilft ja der Blick von außen zur Einordnung. Der renommierte britische Historiker Timothy Garton Ash, der Berater von Margaret Thatcher, resümierte erst kürzlich, das Deutschland des Jahres 2020 sei „das beste Deutschland, das wir je hatten“. Ein guter Grund, stolz zu sein?
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Sind wir stolz? Im selben Gespräch zitierte er eine Umfrage aus Sachsen, meinem Bundesland, nach der drei Viertel der Menschen ihre wirtschaftliche Lage als positiv beurteilen, zwei Drittel aber gleichzeitig sich als Bürger zweiter Klasse wahrnehmen. Man sieht daran: Selbstwertgefühl kann man nicht kaufen. Selbstwertgefühl ist eine Qualität, eine Qualität, die wir uns im Osten neu erarbeiten mussten und weiter erarbeiten müssen,
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trotz der Tatsache, dass industrielle Strukturen, dass DAX-Konzerne fehlen, dass die Führungskräfte in der Wirtschaft, der Wissenschaft und in den Behörden bundesweit fast ausschließlich Westdeutsche sind, trotz einer gewissen patriarchalen Art der Welterklärung, trotz der Tatsache, dass Renten, Löhne und Gehälter, ja dass auch die Vermögen im Osten niedriger sind. „Trotz“ im Sinne von „dennoch“, nicht im Sinne von Bockigkeit, das wünsche ich mir von uns Ostdeutschen, dass wir zeigen, dass wir Systeme verändern können.
Wir sollten diese Fähigkeiten nutzen. Wir sollten uns um die Chancengerechtigkeit unserer Kinder bemühen, um also jene 30 Prozent, die gar nicht wissen, wovon wir eigentlich reden, wenn es um die DDR geht, die gar nicht verstehen, was ein Ossi, was ein Wessi ist, die einfach nur hören, dass wir uns sprachlich mit gehässigen Verniedlichungsformen überziehen und dabei gar nicht merken, dass wir uns selber kleinmachen.
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Stattdessen sollten wir die Schubumkehr im Verhältnis zur Macht besser verstehen. Was da oben sitzt und uns regiert, ist nicht mehr mein Gegner, nein, das sind wir selbst. Und das, was wir damals durchgemacht haben, nennen wir heute Disruption. Die Eigenschaften, die wir uns in dieser Phase erarbeitet haben – Flexibilität, Durchsetzungsvermögen, Anpassungsfähigkeit –, sollten wir nutzen, um unseren Einfluss zu erhöhen, so wie wir uns die freien Wahlen damals neu erschlossen haben, begleitet von Eltern, die sich nicht auskannten, die keine Netzwerke, kein Insiderwissen hatten.
Wir sind nicht ausgeliefert, sehr verehrte Damen und Herren, wir können unser Leben frei gestalten. Seit 30 Jahren stellen wir das unter Beweis. Wir sollten ihn vielleicht mal wieder aus der Vitrine der Geschichte holen, ihn in die Hand nehmen und spüren und uns erinnern: Ja, das haben die Menschen in Ostdeutschland geschafft. – Dann, meine sehr verehrten Damen und Herren, bin ich mir auch sicher, dass wir uns von ganz alleine darüber im Klaren werden, was wir noch alles schaffen können, wenn wir uns gemeinsam auf unsere Stärken besinnen. Und ich glaube, die Herausforderungen in unserem Land sind groß genug.
Vielen Dank.
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Christian Schmidt, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme nichts als gegeben hin. – Dieser Satz realisiert sich historisch eher selten. Aber er hat sich vor 30 Jahren realisiert. Ich will meinen Vorrednerinnen und Vorrednern zustimmen, die darauf hingewiesen haben. Das war eben nicht die Zeit der Kabinettskriege oder der Kabinettsfriedensschlüsse, sondern das war die Zeit der bürgerlichen Entscheidung. So ist die Bürgerbewegung in der DDR – die Christen, diejenigen, die im Widerstand gegen das dominierende, regulierende, autorisierende totalitäre Regime gewesen sind – diejenige, die den Weg nach vorne gebracht hat, die dafür gesorgt hat, dass wir heute da sind, wo wir sind. Ja, in der Tat tun wir Westler gut daran, zu sehen, dass der wesentliche Teil dieser Entscheidung im Osten entstand, dass die Bürgerinnen und Bürger im Osten ihr Leben und ihr Pfund in die Schale geworfen haben und dass sie auch Verantwortung und Response im Westen gefunden haben. Das allerdings sollten wir auch nicht vergessen. Das war nicht mehr selbstverständlich.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich im Jahre 1981 hier demonstriert habe – „Auf die Dauer keine Mauer!“ – und das Kuratorium Deutsche Einheit verballhornt wurde von den Linken im Westen – da brauchte man gar keine Sozialisten im Osten – und der Gedanke der deutschen Einheit nach unten gefahren und diffamiert wurde. Der Protagonist, der es zeitlich am weitesten – bis in die deutsche Einheit – gebracht hat, war Oskar Lafontaine. Wir sollten uns schon daran erinnern. Gott sei Dank gab es einen Willy Brandt, der in der Lage war – zumindest hat er das versucht –, den Gedanken der deutschen Einheit – das hat damals Willy Brandt mit Helmut Kohl sehr innig verbunden – auch auf solche Freunde der Trennung zu übertragen.
Wir müssen insbesondere Europa danken. Es ist ja fast symbolhaft, dass die Bundeskanzlerin gerade zu dieser Minute den Vorsitz im Europäischen Rat führt und deswegen dieser Debatte zwar nicht beiwohnt, in ihr aber Akzente setzt. Wir sind Europäer und müssen es bleiben. Ralph, du hast es gesagt, Herr Fraktionsvorsitzender: Wir müssen uns dies auch in der politischen Aktivität bewahren. Wir müssen uns vor allem bedanken, sei es bei den Polen, die angefangen haben, das wacklige Fundament des Sozialismus auf der Lenin-Werft in Danzig und in Rom mit einem katholischen Papst zu erschüttern und zum Einsturz zu bringen, sei es bei den Ungarn, die mit dem Paneuropäischen Picknick und mehr dafür gesorgt haben, dass der Stacheldraht durchschnitten wurde, sei es bei den Tschechen, als unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger im Palais Lobkowitz zu Tausenden waren und nicht wussten, wie es weitergeht. Sie alle haben geholfen und nicht gebremst. Mancher Tscheche hat geholfen, dass diese Menschen in ihrer schwierigen Zeit auch Unterstützung bekommen haben.
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Danke an die europäischen Mitbürger und danke an die, die verstehen, weswegen Schwarz-Rot-Gold die Farben der Demokratie sind.
Ich werde nie das Frühjahr 1990 vergessen, insbesondere den 18. März 1990, nachdem im Frühjahr 1989 die Kommunalwahlen so grandios gefälscht worden waren und eigentlich den Ausschlag geben hatten, zu sagen: So geht es nicht mehr. – Übrigens, Herr Lukaschenko, ich kann dir nur sagen: Höre die Signale, und siehe, wohin Wahlfälschungen führen.
Ich kann mich, als wir dann in Leuna vorbeifuhren, an Kamine, an Schlote und an rostige Industrie erinnern: alles schwarz-rot-gold beflaggt. Das waren keine Farben der Trennung, der Spaltung oder der Herabsetzung anderer. Manche müssen heute kapieren, um was es geht. Das war das Zeichen der Einheit bzw. der Einigkeit, des Rechts und der Freiheit.
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Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir Einigkeit und Recht und Freiheit mit den Nationalfarben viel selbstbewusster nach vorne bringen: Das sind die Farben der Demokratie. Die dürfen wir niemandem anderen überlassen.
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Wir sind es, die Hammer und Zirkel herausgeschnitten haben: die Bürger in der DDR. Wir haben es mitgetragen. Wir haben jetzt in Europa Schwarz-Rot-Gold, das auf direktem Weg von 1848 bis hierhin, ins heutige Deutschland und Europa, führt. Das ist die wahre Botschaft, die wir haben müssen.
Noch ein Weiteres. Ein kleines Stück mehr Bereitschaft zu Mut brauchen wir wieder. Wir hatten ein Fenster der Gelegenheit Anfang der 90er-Jahre, als wir bei der Infrastruktur noch in der Lage waren, Straßen zu bauen, ohne Verfahren von 20 Jahren vor uns zu haben. Wir versuchen, das wieder zu erreichen. Lasst uns dieser leider überwiegend westdeutschen, aber von ostdeutschen Komponenten eher noch verstärkten verwaltungsmäßigen und politischen Behäbigkeit ein Stück Mut entgegensetzen! Wir brauchen neuen Mut für Europa. Wir müssen nach vorne gehen, und das wird in unserem Land auch funktionieren.
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Zum Allerletzten. Das ist ein Tag des Glücks und der Freude. Ich habe heute früh gelesen, heute sei der Welttag des Lächelns. Na ja, was auch immer.
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Aber eines weiß ich – da nehme ich mich gar nicht aus –: Wir alle, die wir hier sind, wissen ganz genau, was falsch war und was besser hätte gemacht werden müssen. Aber ein Stück der schieren Freude, dass der Freiheit zum Erfolg verholfen wurde und dass wir uns über solche Probleme und manchmal auch Problemchen unterhalten können, wie wir das heute tun, das dürften wir uns ab und zu oder doch sogar häufiger gönnen.
Wir sollten dem Thüringer folgen, der mir 1990 gesagt hat: Lach doch einfach, und sei froh! Es geht in die richtige Richtung.
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– Er sitzt hier nicht im Raum. Es war jemand, der nicht im Bundestag sitzt, sondern es war einfach ein Bürger, der froh war, dass er an der Grenze zu Franken auf einmal nicht mehr von drei Seiten Stacheldraht umgeben war, –
Herr Kollege Schmidt.
– sondern die Freiheit hatte.
Herr Präsident, ich bedanke mich.
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Dr. Marc Jongen, AfD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Morgen, am 3. Oktober, vor 30 Jahren wurden die beiden deutschen Staaten wiedervereinigt oder, juristisch korrekt gesagt, trat die DDR dem Geltungsgebiet des Grundgesetzes der Bundesrepublik bei.
Schon dieser Formulierung merkt man an: Der 3. Oktober ist als Nationalfeiertag ein relativ technisches, bürokratisches Datum. Der eigentliche Freudentaumel über das Ende der deutschen Teilung hatte sich schon am 9. November 1989 beim Fall der Mauer, beim Sieg der Friedlichen Revolution, ereignet. Dieses Datum, dem Sturm auf die Bastille vergleichbar, hätte eigentlich unser Feiertag sein müssen – Matthias Platzeck hat es gesagt –, wenn es historisch nicht anderweitig belastet wäre.
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Gleichwohl feiern wir morgen natürlich mit großer Freude den Tag der Deutschen Einheit, manche hier auf der linken Seite im Saal vielleicht etwas verhaltener. Ich zitiere: „Diejenigen, die derzeit von Wiedervereinigung daherreden, haben aus der Geschichte nichts gelernt ...“, so Hans Eichel, der spätere SPD-Finanzminister noch im November 1989,
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oder Joschka Fischer im Oktober 1989: „Vergessen wir die Wiedervereinigung. Halten wir die nächsten 20 Jahre die Schnauze darüber.“ – Zitat Ende.
Welch ein historisches Glück, meine Damen und Herren, dass Sie auf der linken Seite dieses Hauses damals nicht regiert haben. Wir säßen wahrscheinlich heute noch in der Bundeshauptstadt Bonn und würden mit der SED-Führung aus Ostberlin Bruderschaft trinken.
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Die innere Wiedervereinigung von Ost und West ist noch nicht abgeschlossen, ja. Aber wichtiger noch scheint mir ein anderes: Die Bürger der DDR sind damals unter Einsatz ihres Lebens nicht nur für die Einigkeit auf die Straße gegangen, sondern auch für das Recht und die Freiheit. Einigkeit und Recht und Freiheit – nur wenn diese drei obersten Werte, die in unserer Nationalhymne anklingen, mit Leben gefüllt sind, dann blüht das deutsche Vaterland auch wirtschaftlich, dann haben wir auch allen Grund zum Feiern am Tag der Deutschen Einheit.
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In dieser Hinsicht, meine Damen und Herren, liegt leider ein Schatten auf diesem 30-jährigen Jubiläum. Nach 15 Jahren Kanzlerin Merkel tauchen mehr und mehr Aspekte der DDR in der Bundesrepublik wieder auf und leider nicht die der Mitmenschlichkeit im Privaten, von denen du sprachst, lieber Tino Chrupalla, sondern es ist eher so, als hätte sich der freie Westen beim Verschlucken des sozialistischen Unrechtsstaats übernommen und würde sich ihm hinterrücks immer mehr anverwandeln.
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Dass ausgerechnet Kohls Mädchen, politische Ziehtochter des Kanzlers der Einheit, diesen Prozess wesentlich vorantreibt, ist eine bittere Ironie der Geschichte, aber angesichts ihrer DDR-Sozialisation wohl kein Zufall.
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Wieder entwickelt sich eine Staatsideologie wie weiland der Marxismus-Leninismus, heute bestehend als Klimareligion und Multikultidogma.
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Wieder wird diffamiert und ausgegrenzt, und zwar derjenige, der es wagt, öffentlich anderer Meinung zu sein. War es damals der Klassenfeind, verbündet mit dem Imperialismus oder Faschismus im Westen, so ist es jetzt – davon gar nicht so weit entfernt – der Rechte, der Nazi – Frau Göring-Eckardt hat es heute ja wieder vorgemacht – oder auch der Klimaleugner, der die verbotenen Gedanken äußert.
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Wie in der DDR kommen die Medien ihrer Aufgabe einer ausgewogenen Berichterstattung nicht mehr nach, sondern ergehen sich im regierungstreuen Haltungsjournalismus.
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Statt Karl-Eduard von Schnitzler und dem „Neuen Deutschland“ haben wir heute Slomka, Restle, Kleber und Relotius.
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Sie bauen tagtäglich an einem „antifaschistischen Schutzwall“ in den Köpfen, wie die Mauer im DDR-Jargon hieß, der die Gedanken der Bürger in ideologischen Bahnen halten und abweichende Meinungen dämonisieren soll.
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Auch die Erhebung der Moral oder besser des Moralismus über das Recht, die permanenten Rechtsbrüche im Namen des vermeintlich Guten, die unter Angela Merkel zur Regel geworden sind, erinnern fatal an die DDR.
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Rechtens war dort, was der Durchsetzung des Sozialismus diente. Wir sind wieder auf dem besten Weg dahin. Wir müssen zurück zur Herrschaft des Rechts, meine Damen und Herren.
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Schließlich der selbstherrliche Regierungsstil von Frau Merkel, der das Parlament immer weiter marginalisiert:
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Entscheidungen von größter Tragweite und Schädlichkeit für das Land werden von der Legislative doch nur noch abgenickt. Bis auf die AfD sind sich die Parteien hier zumeist einig, und sie ähneln damit immer mehr den Blockparteien der DDR.
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Sie bezeichnen sich ja auch mit dem Kollektivbegriff „demokratische Parteien“.
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Der Gleichklang zu „Deutsche Demokratische Republik“ fällt Ihnen wahrscheinlich gar nicht auf.
Bitte nehmen Sie das Zuhören und Tolerieren anderer Meinungen, das heute hier beschworen worden ist, ernst.
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Nur dann haben wir nämlich Demokratie.
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Lassen Sie uns frei und fair den Streit der Meinungen austragen. Dann haben wir wirklich aus der Geschichte gelernt.
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Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Staatsminister Michael Roth, SPD, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen diesen Song: „Hinterm Horizont geht’s weiter“.
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Für mich galt das bis kurz vor meinem Abi nicht. Ich bin im sogenannten Zonenrandgebiet groß geworden, 1 Kilometer von der Grenze zur DDR entfernt. Wenn ich aus meinem Schlafzimmerfenster geschaut habe, habe ich auf Stacheldraht, auf Zaun, auf Selbstschussanlagen gesehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Freude es auch bei uns im Westen ausgelöst hat, als diese Mauer, als diese Grenze fiel.
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Es war eine wunderbare Zeit, als wir uns den himmelblauen Opel Ascona von den Eltern meiner Freundin Manuela ausgeliehen haben, um dann Thüringen zu erkunden. Wir sind im Osten hin und her gefahren. Man kann es sich gar nicht vorstellen: 30 Kilometer entfernt war die Wartburg, war Eisenach; aber ich war dort bis zu meinem 19. Lebensjahr niemals.
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Das Ganze ist ein Schatz, und es ist eben nicht nur ein Schatz für die Menschen in Ostdeutschland, sondern es ist auch ein Schatz für uns. Ich erlebe selber in meiner Heimat Heringen in Nordosthessen, was uns in diesen 30 Jahren gelungen ist, aber auch, was uns noch nicht gelungen ist.
Viele junge Menschen bei mir zu Hause gehen inzwischen in Thüringen zur Schule. Sie besuchen großartige Universitäten in Thüringen, zum Beispiel in Jena oder in Erfurt. Ich selber bin viel öfter in Erfurt, der thüringischen Landeshauptstadt – nicht nur zum Einkaufen –, als ich in meiner eigenen Landeshauptstadt, in Wiesbaden, bin.
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Unsere Region, übergreifend in West und Ost, ist vom Kalibergbau geprägt. Wir haben bei mir zu Hause ein Kaliwerk, das hat drei Standorte: eines in Thüringen, zwei in Hessen. 40 Prozent der Beschäftigten kommen aus Thüringen. Im Alltag der Kumpels unter Tage und über Tage spielt die Herkunft in der Regel keine große Rolle mehr.
Ich bin denjenigen sehr, sehr dankbar, die noch mal daran erinnert haben, dass es ohne das vereinte Europa und ohne die Einbettung der alten Bundesrepublik in das vereinte Europa diese deutsche Einheit niemals gegeben hätte. Das muss aber mehr sein als ein Lippenbekenntnis in Sonntagsreden oder auch in Bundestagsdebatten; denn den Wert Europas bemessen wir allzu oft noch zu sehr in Euro und in Cent. Aber Frieden, Stabilität, Solidarität, das Miteinander, dass wir ohne Angst verschieden sein können in Europa, das kann man nicht in Euro und Cent bemessen. Deswegen: Lassen Sie uns weniger über das reden, was wir Europa geben. Lassen Sie uns viel öfter darüber reden, was Europa uns gibt und schenkt.
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Daraus erwächst natürlich auch die Verpflichtung, dass wir uns besonders anstrengen. Wer aber für sich in Anspruch nimmt, ein Patriot zu sein, der kann nicht gleichzeitig auf Abschottung, auf Nationalismus, auf Rassismus und auf Intoleranz setzen, wie Sie das immer wieder tun. Wer das tut, ist kein deutscher Patriot, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Kollege Baumann, für den Zwischenruf „Sie Hetzer!“ rufe ich Sie zur Ordnung.
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– Einen Moment. Vorsicht! Die Ordnungsrufe des Präsidenten werden nicht kommentiert.
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Dafür rufe ich Sie zur Ordnung, Herr Kollege.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, „ein Volk“ heißt immer auch „ein Europa“. Das heißt Zusammenhalt, und das heißt immer auch die Bereitschaft, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen. Das ist doch die Erfahrung, teilweise auch die schmerzhafte Erfahrung, die wir in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben.
Was ich mir als Westdeutscher oder auch als Grenzgänger immer wieder wünsche, ist, dass wir es in noch viel mehr gesellschaftlichen Bereichen – in der Wirtschaft, im Medienbereich, in der Kultur – schaffen, auch ostdeutsche Biografien hervorzustellen. Das macht doch den Reichtum unseres Landes aus.
Einheit heißt nicht Einfalt, Einheit heißt Vielfalt. Und gerade diese Vielfalt, die wir hier leben und die wir auch vorleben, ist, glaube ich, das größte Geschenk, das wir durch die deutsche Einheit bekommen haben. Wenn es uns dann noch gelingt, dies mit einem weltoffenen Ansatz zu verknüpfen, dann wird auch der Auftrag, der sich aus dem Grundgesetz ergibt, nämlich im geeinten Deutschland für ein geeintes Europa einzutreten, noch besser erfüllt. Das ist nämlich die Erwartungshaltung, die viele, viele in Europa und in der Welt uns gegenüber hegen. Es wäre doch ein schönes Geschenk, wenn wir das immer wieder – auch in unserer politischen Alltagsarbeit – ernst nehmen würden.
Vielen herzlichen Dank.
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Matthias Höhn, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich so beginnen: Die freie Rede, die freie Meinungsäußerung gehört ohne Zweifel zu den Dingen, die zentral sind für das, was 1989 erkämpft und errungen worden ist.
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Alle, die jetzt so tun – auch in diesem Hause –, als sei es heute nicht möglich, zu sagen, was man meint, haben entweder keine Ahnung oder vergessen, wie das Leben in einer Diktatur ist.
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Die CDU/CSU hat die Debatte heute begonnen mit der Rede einer Kollegin, die sagte, allen jungen Ostdeutschen würde heute die ganze Welt offenstehen. Wenn wir darüber reden, wo wir stehen und wo wir gesellschaftlich hinwollen, dann müssen wir auch sagen, was ist. Und dieser Satz stimmt leider nicht. Er mag für die Kinder von Bundestagsabgeordneten gelten, aber dem Kind einer alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin in Magdeburg-Nord steht die Welt nicht offen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Wenn wir uns mit diesem Problem auseinandersetzen, merken wir, dass das, was wir nach 30 Jahren deutscher Einheit kritisch zu bilanzieren haben, Fragen aufwirft, die wir für die gesamte Gesellschaft miteinander zu diskutieren haben. Würde, Sicherheit, Freiheit und Gleichheit für alle in Ost und West zu gewährleisten, das ist das, was nach 30 Jahren deutscher Einheit noch unvollendet ist – wir merken das – und an dem wir weiter zu arbeiten haben.
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Das führt mich zu den Stichworten „Lebensleistung“ und „Rente“. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, liebe Frau Kolbe, einer der Schlüsse, die viele Ostdeutsche gezogen haben, ist nicht, dass sie realisiert haben, dass sie eine Lohnlücke, eine Rentenlücke zu verkraften haben – das wissen sie –; sie haben mittlerweile für sich einen Haken daran gemacht, und sie haben sich gesagt, es ändert sich ohnehin nicht mehr.
Wenn die SPD hier vorne steht und wieder sagt: „Wir haben jetzt einen Härtefallfonds“, und wenn sie über die Reichsbahnerinnen und Reichsbahner redet, deren Lebensleistung endlich auch mal anerkannt werden muss, dann muss ich erwidern: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was Sie mit dem Härtefallfonds planen, ist erstens viel zu wenig, und zweitens wird es keinem Reichsbahner dabei helfen, dass seine Lebensleistung anerkannt wird.
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Deswegen ist meine Bitte, dass wir, wenn wir schon über die Lebensleistung reden, dies auch ernst meinen und über das gesamte Leben der Ostdeutschen reden, also über das, was von ihnen im ganzen Leben geleistet worden ist, und dies auch anerkennen. Das darf aber nicht nur mit Worten geschehen, sondern es muss auch materiell zum Ausdruck kommen. Wir dürfen uns nicht nur das raussuchen, was uns in einer Debatte zur deutschen Einheit gerade passt.
Zur Lebensleistung ostdeutscher Bauarbeiterinnen und Stahlarbeiter gehört nicht nur der mutige Kampf am 17. Juni 1953, sondern zur Lebensleistung der ostdeutschen Bauarbeiter gehört auch, dass sie Millionen Wohnungen gebaut haben. Erst dann, wenn wir in der politischen Debatte verstehen, dass wir über beides reden müssen, dann haben auch Ostdeutsche das Gefühl, dass über ihr Leben in Gänze gesprochen wird. Wenn wir das geschafft haben, auch hier im Deutschen Bundestag, dann sind wir der deutschen Einheit ein ganzes Stück näher gekommen.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich zurückdenke an meine eigenen Erlebnisse – zunächst im Saarland, wo ich gearbeitet habe, und nachher in Brüssel, wo ich junger EU-Beamter war und wo meine Kolleginnen und Kollegen aus so vielen unterschiedlichen Ländern jeden Tag voller Begeisterung über das, was sich in der damaligen DDR abgespielt hat, zu mir kamen –, dann zeigt sich, dass das nicht nur eine historische Leistung war, sondern dass es auch mit einer klaren Erwartung verbunden war, die Millionen von Menschen, die den Kommunismus und die Diktatur besiegt haben, an uns gerichtet haben: Es war die Hoffnung auf Einheit und Freiheit und Demokratie, aber auch der Wunsch nach lebenswerter Umwelt, nach sozialer Sicherheit, nach guter Infrastruktur und nach wirtschaftlichem Wohlstand. Deshalb ist die deutsche Einheit erst dann endgültig vollendet und endgültig gelungen, wenn wir in diesem magischen Sechseck alle Ziele erreicht haben.
Es ist unglaublich viel in dieser kurzen Zeit gelungen. Wir haben im wirtschaftlichen Bereich vieles erreicht; aber wir haben auch noch einigen Nachholbedarf. Eines der größten Probleme war seinerzeit das Fehlen eines starken Mittelstandes. Damals gab es – das ist eines der Wunder der deutschen Einheit – Menschen in den neuen Ländern, deren Eltern und Großeltern selbstständig waren und die deren verstaatlichte Unternehmen wieder zurückgekauft haben. Es gab Menschen, die aus anderen europäischen Ländern in die neuen Länder gekommen sind. Einer von ihnen sitzt heute hier bei uns im Deutschen Bundestag: Kees de Vries, ein niederländischer Staatsbürger, der nach Sachsen-Anhalt ging, der dort eine Landwirtschaft übernommen und erworben hat und der später als deutscher Staatsbürger in den Deutschen Bundestag gewählt worden ist.
Wenn wir uns ansehen, wie viele junge Menschen aus Ostdeutschland heute erfolgreiche Manager, erfolgreiche Unternehmensgründer – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen – sind, dann haben wir allen Grund, auf den neuen, starken Mittelstand, der dort entstanden ist, stolz zu sein und dies in die Anerkennung dessen, was erreicht worden ist, miteinzubeziehen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, wir haben heute in den neuen Ländern Regionen wie Dresden und Leipzig, an denen sich viele in den alten Bundesländern ein Vorbild nehmen können. Wir haben heute moderne, leistungsfähige Unternehmen in ganz Europa und weltweit. Aber es gibt, wie übrigens auch in den alten Bundesländern, immer noch Regionen, die abgehängt sind, die benachteiligt sind. Deshalb ist eine Zahl zu nennen, nämlich dass das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland von ursprünglich 43 Prozent des westdeutschen Niveaus auf inzwischen 79 Prozent gestiegen ist. Das ist eine gute und positive Entwicklung.
Aber viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern oder in bestimmten Regionen in Sachsen, wo die industrielle Basis nicht vorhanden war, beklagen sich über fehlende Perspektiven. Das bedeutet, dass wir auch eine Verantwortung haben, diesen Menschen Perspektiven zu geben und dazu beizutragen, dass dort neue, wettbewerbsfähige Strukturen entstehen.
Wir haben mit dem Strukturstärkungsgesetz im Hinblick auf den bevorstehenden Ausstieg aus der Kohleverstromung in den nächsten Jahren eine hervorragende Ausgangsbasis, damit in die Infrastruktur weiter investiert werden kann, damit neue Industrieansiedlungen entstehen können.
Wir haben im Rahmen der innovativen Industriepolitik des Bundes mitgeholfen, dass die BASF-Ansiedlung in Schwarzheide zur Produktion von Katoden gelingt. Ich möchte mich ausdrücklich bedanken bei allen Politikern in Brandenburg, die mitgeholfen haben, dass die Tesla-Ansiedlung gelingt. Ich möchte auch die Batteriefertigung von CATL in Thüringen erwähnen. Wir haben Bundesbehörden in Leipzig angesiedelt, zum Beispiel die Agentur für Sprunginnovationen. Gerade in den letzten Monaten haben wir beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, dem BAFA, in meinem Geschäftsbereich über 150 neue Arbeitsplätze in Weißwasser geschaffen, wo für ganz Deutschland die Gebäudesanierungs- und Heizungserneuerungsprogramme administriert werden.
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Wir werden in den nächsten Monaten dafür sorgen, dass wir unsere Zusagen einhalten. Wir werden dafür sorgen, dass die Marktwirtschaft auch dort eine Chance erhält, wo es an den Akteuren fehlt. Wir werden uns nicht darauf konzentrieren, alte und überkommene Strukturen zu erhalten, sondern wir werden die wettbewerbsfähigen Strukturen der Zukunft in den Blick nehmen: im Bereich der erneuerbaren Energien, im Bereich der Produktion von klimaneutralem Wasserstoff, im Bereich der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung.
Dresden ist heute eine europäische Hauptstadt der Halbleiterproduktion und der digitalen Technologien. Wir erleben, dass überall dort, wo solche neuen Kerne entstehen, auch Zukunftsperspektiven entstehen und dass sich die Menschen dann nicht mehr an den populistischen Parteien von rechts oder links orientieren, sondern dass sie dazu beitragen, dass ihre Region, dass ihre Gemeinde, dass ihre Stadt eine Zukunftsperspektive hat.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja richtig, dass es in den neuen Ländern weniger Zentralen großer Konzerne gibt. Es ist richtig, dass es in den neuen Ländern teilweise weniger gut bezahlte Arbeitsplätze gibt. Aber es ist kein Naturgesetz, dass dies auf alle Zeiten so bleibt. Ich bin überzeugt, dass wir die Zukunft in den neuen Ländern nicht dadurch gewinnen, dass wir immer nur versuchen, die Defizite zu verkleistern und zu besänftigen. Vielmehr wird es uns gelingen, die Zukunft zu gewinnen, wenn wir selber daran glauben, dass wir als Bundesrepublik Deutschland in den großen Innovationszyklen der Zukunft einen Platz haben, und wenn wir dazu beitragen, dass in den neuen Ländern, wo man bereit ist, diese Technologien offensiv und mutig anzunehmen und anzugehen, diese Investitionen gelingen. Ich bin sicher, dass wir regionenübergreifend in Ost- und in Westdeutschland viel Neues schaffen können, und ich bin überzeugt, dass die meisten Innovationsimpulse von den ostdeutschen Ländern ausgehen werden.
Ich hatte vor 14 Tagen die Ehre, eingeladen zu sein bei dem sogenannten Ostdeutschen Wirtschaftsforum in Bad Saarow, wo viele Mittelständler beisammen waren. Dort, wo vor zwei Jahren noch die bange Frage war: „Wie soll es denn nach dem Ausstieg aus der Braunkohleverstromung weitergehen? Wie soll es denn angesichts der Situation in einzelnen Bereichen weitergehen?“, war zum ersten Mal Aufbruch spürbar. Denn wir haben in einer großen Kraftanstrengung gezeigt, dass wir die Substanz unserer Wirtschaft und unseres Mittelstandes auch in der Coronapandemie beschützt und bewahrt haben. Aufbruch war aber auch deshalb spürbar, weil wir jetzt endlich über das diskutieren, was für die Zukunft notwendig ist. Das heißt: Nicht nur reden, sondern handeln.
Sorgen wir dafür, dass Deutschland das Land wird, wo die Digitalisierung eine Heimat hat. Sorgen wir dafür, dass Deutschland das Land wird, wo man den Mut hat, autonomes Fahren auszuprobieren. Sorgen wir dafür, dass wir in Ostdeutschland bei der Produktion von klimaneutralem Wasserstoff europaweit führend und anerkannt werden. Ich bin überzeugt, dass wir die deutsche Einheit damit ein ganzes Stück ihrer Vollendung entgegenbringen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist der morgige Tag ein besonders emotionaler Tag. Ja, ich gehöre zu den politischen Fossilien, die den Einigungsvertrag als kleines Rädchen in der ersten frei gewählten Volkskammer mitgestaltet haben und dann auch im vereinten Deutschland, im Deutschen Bundestag, weiter an der Vollendung der deutschen Einheit mitarbeiten durften.
Ich möchte bei der Gelegenheit noch zwei Gäste auf der Tribüne begrüßen – jetzt sind sie nicht mehr da; eben waren sie es noch –, aber zumindest an sie erinnern, nämlich Wolfgang Thierse und Markus Meckel, die auch einen großen Anteil an diesem Prozess hatten.
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Ja, wir Ostdeutschen dürfen schon stolz sein auf das Erreichte der vergangenen 30 Jahre. Was mir ein bisschen in der Debatte gefehlt hat, war noch einmal das Dankeschön an die Westdeutschen, die uns mit Solidarität in diesem Prozess begleitet haben.
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Und doch bewertet heute nur die Hälfte der Ostdeutschen die deutsche Einheit positiv. Sind wir Ostdeutschen undankbar? Was ist passiert?
Zunächst einmal: Den Menschen, die nach 1945 in der amerikanischen, französischen oder britischen Besatzungszone lebten, wurde die Demokratie geschenkt, manche sagen sogar: aufgezwungen. Wir im Osten haben 1989 mit einer nachholend bürgerlich-demokratischen Revolution Demokratie und Freiheit selbst erkämpft. Die Westdeutschen, ja die ganze Welt, schauten damals bewundernd auf uns. Mir fehlt manchmal das Verständnis, warum wir damals nicht den zentralen Tag der Revolution, nämlich den 9. Oktober, zum Nationalfeiertag des gesamten Deutschlands erkoren haben.
Wo ist dieser Stolz des Herbstes 1989 geblieben? Ja, noch schlimmer: Die Wertschätzung demokratischer Strukturen scheint heute insbesondere in Ostdeutschland zu erodieren. Meist äußert sich dies als eine verklärende DDR-Nostalgie, mitunter aber auch in Form einer rechtsradikalen Protestkultur. Umso wichtiger ist es, dass wir denjenigen energisch entgegentreten, die unsere demokratische Revolution von 1989 heute in eine nationalistische Erhebung umzudeuten versuchen.
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Es gibt eine Reihe von Menschen, denen es schwerfällt, diesen Stolz auf die Revolution zu entwickeln. Und wenn dann noch das Gefühl dazukommt, die eigene Lebensleistung werde nicht wertgeschätzt, wenn dann noch dazukommt, dass eine Lebensstandarderwartung nicht erfüllt wird, dann kann man sich sehr wohl gut erklären, dass sich auch etliche Ostdeutsche als Verlierer des Einigungsprozesses verstehen.
Ich denke, unsere Aufgabe als Politiker ist es nicht, heute eine Analyse der Fehler des Einigungsprozesses vorzunehmen; das können die Historiker machen. Unsere Aufgabe ist es, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nach vorne zu treiben. Von Ungleichheit ist vor allem der ländliche Raum der ehemaligen DDR betroffen. Ohne Frage: Nach wie vor erkennt man an der geografischen Verteilung des Bruttosozialproduktes, dass es den ländlichen Regionen des Ostens an der notwendigen Wirtschaftskraft fehlt. Wo es keine Wirtschaft gibt, gibt es keine Jobs, und wo es keine Jobs mehr gibt, wandern die Menschen ab.
Peter Altmaier hat eben in seiner Rede zu Recht darauf hingewiesen, dass wir gerade im ländlichen Raum wieder Wirtschaft ansiedeln müssen. In Zeiten eines radikalen Strukturwandels in der Wirtschaft durch Digitalisierung wäre es nicht zielführend, nun für den ländlichen Raum allein auf Produktionsformen von gestern zu setzen. Wir benötigen daher auch in den strukturschwachen Regionen wissensbasierte Unternehmen, die der Globalisierung und dem Strukturwandel gewachsen sind. Im Bericht der Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ wurden einige gute Förderprogramme zur Stärkung der Innovationskraft im Osten benannt. Sie verfehlen aber dort ihre Wirkung, wo diese Wirtschaftsstrukturen – wie eben im ländlichen Raum – gar nicht mehr existieren. Mit dieser Strategie werden sich vor allem die Speckgürtel um die Metropolen herum verbreitern.
Ergänzend benötigen wir vor allem eine langfristig angelegte Strategie zur Ansiedlung von wirtschaftsnahen Fachhochschulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den mittelgroßen Städten des ländlichen Raums. Auch in den kleineren Städten Westdeutschlands – das ist die Erfahrung, die wir gemacht haben – konnten wir beobachten, dass sich um Hochschulen und Institute der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft oder der Leibniz-Gemeinschaft herum innovative Start-ups entwickelten, die mit einem beachtlichen Wachstumspotenzial auch dafür sorgten, dass sich das Umfeld, also auch die kleineren Kommunen, um diese Zentren herum entwickelte.
Meine Damen und Herren, bei aller Beachtung der wirtschaftlichen Sorgen in Ostdeutschland sollten wir nicht nach Himmelsrichtungen fördern. Der Anspruch auf Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse muss genauso die Krisenregionen Westdeutschlands einschließen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der soziale, aber auch politische Preis von sich verfestigenden Ungleichheiten ist extrem hoch. Daher sollten wir mutig beginnen, Innovationspolitik und Strukturpolitik zusammenzudenken.
Ich bedanke mich.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Heike Brehmer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 30 Jahre Wiedervereinigung, das ist für mich ein ganz besonderes Jubiläum, für das ich unendlich dankbar bin. Hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben, wäre ich heute nicht im Deutschen Bundestag und könnte nicht zu Ihnen sprechen.
1990 habe ich mich in der Kommunalpolitik engagiert, und ich weiß noch genau, wie dieses Gefühl von Aufbruch in der Luft lag – man konnte es förmlich spüren –, diese Euphorie auf dem Weg in eine neue, aber auch unbekannte Zeit, vor allem, wenn man bedenkt, wie die Voraussetzungen 1990 aussahen. 40 Jahre Sozialismus hatten ihre Spuren hinterlassen: in unseren Innenstädten, an den Häusern, der Infrastruktur und unserer Umwelt.
Die Aufgabe „deutsche Einheit“ war eine enorme Herausforderung und Aufbauleistung. Ich habe damals die Neuordnung unserer Kommunalverwaltung in Sachsen-Anhalt hautnah miterlebt. Wie groß waren plötzlich die Umbrüche und Veränderungen, die es zu bewältigen galt! Ohne die Unterstützung unserer Nachbarn aus Niedersachsen wäre dies so nicht möglich gewesen. Dafür möchte ich an dieser Stelle noch einmal Danke sagen.
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Auch die Städtepartnerschaften, die unsere Kommunen seit 1990 bis heute intensiv pflegen, zum Beispiel zwischen Blankenburg und Wolfenbüttel oder Halberstadt und Wolfsburg, sind für mich ein Zeichen gelebter deutscher Einheit als Gemeinschaftsleistung von Ost und West.
Mein Wahlkreis ist der Harz. Er verläuft genau entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Zum 3. Oktober, also morgen, finden dort zahlreiche kleine Veranstaltungen mit den Partnergemeinden statt. Ich werde morgen bei einer Gedenkfeier auf dem Gipfel des Brockens sein – ein ganz besonderer Ort,
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der früher als Sperrgebiet weder von West noch von Ost erwandert werden durfte. Heute steht der Brocken als Symbol der Einheit, und darauf bin ich sehr stolz.
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Es ist mir aber ganz besonders wichtig, in meiner heutigen Rede den Blick nicht ausschließlich auf das Vergangene zu richten. Schließlich können wir unendlich stolz sein auf das, was wir gemeinsam erreicht und aufgebaut haben. Wir verfügen heute über eine moderne, mittelständisch geprägte Wirtschaft und eine gut ausgebaute Infrastruktur, zum Beispiel die A 36 als neue Autobahn, eine wichtige Verbindung zwischen Ost und West. Massive Umweltschäden wurden beseitigt, die Städte wurden saniert und viele Fachwerkhäuser, wie bei mir im Harz, liebevoll restauriert. Investitionen in den Tourismus bringen Menschen aus allen Teilen Deutschlands zu uns. Der Harzer Tourismusverband vermarktet die Regionen als Ganzes über drei Bundesländer hinweg. Auch der gemeinsame Nationalpark Harz entstand aus dem erfolgreichen Zusammenschluss der Nationalparks in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.
Ich könnte noch zahlreiche weitere Beispiele aufzählen; aber meine Redezeit reicht dafür nicht aus. Wichtig ist mir, herauszustellen, wie viel Erreichtes, Vollbrachtes und Gelungenes wir sehen. Wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt, der sieht, wovon ich spreche.
Gemeinsam ist es uns gelungen, dass aus dem wiedervereinigten Deutschland inzwischen eine gut funktionierende, vielfältige und – das sehen wir gerade in Coronazeiten – krisenfeste Einheit geworden ist. Natürlich müssen wir am Ende zusammenwachsen. Immer wieder müssen wir am Zusammenwachsen arbeiten. Unsere deutsche Einheit ist kein Zustand, sondern ein fortwährender Prozess, und ich finde es gut und richtig, dass wir den Herausforderungen beim Zusammenwachsen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr nach Himmelsrichtungen begegnen, sondern nach Notwendigkeit, mit einem gesamtdeutschen Fördersystem. Auch in Teilen der alten Bundesländer gibt es strukturschwache Regionen; auch hier müssen wir die Zukunftsthemen angehen, die den Menschen auf den Nägeln brennen: Bildung, Digitalisierung, Gesundheitsversorgung, die Zukunft der ländlichen Räume, um nur einige zu nennen.
Unsere deutsche Einheit ist ein Auftrag für uns alle, egal in welchem Bundesland wir leben. Und es ist an der jungen Generation, diese wichtige Aufgabe weiterzuführen. Die jungen Menschen haben es nicht anders kennengelernt; sie sind in einem vereinten Deutschland zu Hause. Wichtig ist, dass wir die Erinnerungen an unsere Vergangenheit immer wachhalten. Denn unsere Demokratie und das gemeinsam Erreichte sind ein hohes Gut.
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Das wird besonders deutlich, wenn wir in andere Länder dieser Welt schauen; dessen sollten wir uns stets bewusst sein.
Meine Damen und Herren, 30 Jahre deutsche Einheit sind einzigartig in der Geschichte unserer Bundesrepublik. Das ist ein Grund zum Feiern, und darauf freue ich mich und bin sehr stolz. Lassen Sie uns dieses Jubiläum nutzen, um diesen Stolz vereint nach außen zu tragen!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die fraktionslose Abgeordnete Verena Hartmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Ostdeutscher sagte einmal: „Die Wessis wissen nichts über uns – aber das erklären sie uns täglich.“ Ja, diese Erfahrungen gab es reichlich. Doch es geht auch anders: Im Laufe der Jahre habe ich Westdeutsche kennengelernt, die sich für unser Land und uns Menschen wirklich interessierten, Freundschaften entstanden, die ich nicht mehr missen möchte.
Nun sind 30 Jahre vergangen. Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Ostdeutschen haben sich selbst aus einer Diktatur befreit; niemand anderem haben sie diese Freiheit zu verdanken. Sie haben sich diesem Staat angeschlossen – ohne Kenntnis, auf was sich da einlassen.
Für die Menschen bedeutete die Wiedervereinigung pure Freiheit; die Welt stand ihnen offen. Aber für über 7 Millionen qualifizierte Fachkräfte und Akademiker, die mitten im Leben standen, bedeutete es: Arbeitslosigkeit, ABMs, Orientierungslosigkeit. Mit der Treuhand durchlebte der Osten die zweite Demontage seiner Industrie; Westdeutschland besiegelte damit unseren wirtschaftlichen Niedergang. Seitdem hängen wir am Tropf Westdeutschlands. Und das erlebte sein zweites Wirtschaftswunder: erstens durch den neuen Absatzmarkt im Osten, zweitens durch den billigen Aufkauf ostdeutscher Betriebe, drittens durch den staatlich geförderten Subventionsbetrug. Ein kollektives Gefühl der Ohnmacht entstand, des Ausgeliefertseins in einem neuen, unbekannten System.
Ja, wir haben jetzt Straßen ohne Schlaglöcher und schöne Fassaden – doch gehören sie uns nicht mehr. Unsere Heimat mit ihren Ländereien und Bauwerken ist in westdeutscher Hand. Ostdeutschland ist fremdverwaltet und fremdbestimmt. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was unterscheidet uns dann noch von einer Kolonie?
Doch wir müssen mit den Karten spielen, die wir haben. Jetzt ist es an der Zeit, nach vorne zu gehen und aus der Erfahrung zu lernen. Unser Land ist wunderschön, voller Vielfalt, mit großen Nationalparks und vielen Weltkulturerbestätten. Erinnert euch! Erinnert euch, wer ihr seid und woher ihr kommt! Wir haben allen Grund, stolz auf uns zu sein. Wir haben gelernt, durchzuhalten und immer wieder aufzustehen. Wir sind sehr gut ausgebildet, hochgradig flexibel und können aus wenig viel machen. Wir haben jetzt blühende Landschaften und alle Voraussetzungen, um nach 30 Jahren unser Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen, selbstbestimmt. Wir sind nicht satt – wir sind hungrig.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Andreas Lämmel.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geburtstagstermine meiner Familie, mein Hochzeitstag und der 3. Oktober, das sind die Termine in jedem Jahr, wo es sich lohnt, eine ordentliche Party zu organisieren.
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Und das sollten eigentlich alle machen, anstatt im Prinzip jeden Tag nur Probleme zu wälzen.
Meine Damen und Herren, ich habe 30 Jahre, also genau die Hälfte meines Lebens, in der DDR verbracht und konnte dann zum Glück die andere Hälfte meines Lebens – und ich hoffe, es kommen noch ein paar Jahre dazu – im vereinten Deutschland verbringen.
Meine Damen und Herren, es klingt ja immer mal so an: Das war ja alles nicht so schlimm damals. – Ich habe das in verschiedenen Reden heute auch gehört. Das mag zwar sein – wenn ich zurückblicke und an die Zeit denke, die ich mit meiner Familie und mit meinen Freunden am Biertisch, beim Skatspielen oder sonst was verbracht habe, ist das auch richtig –, aber das ist eben nur die halbe Wahrheit oder weniger als die halbe Wahrheit.
Wenn ich an meine Schulzeit denke, wenn ich an meine Studienzeit denke oder an die Zeit, die ich auf der Arbeit verbracht habe: Da sah die Welt anders aus: ein permanenter politischer und gesellschaftlicher Druck, Diskriminierung, Benachteiligung und ständige Bespitzelung Andersdenkender, zu denen ich damals auch gehörte, eine permanente Mangelwirtschaft, eine unerträgliche Luftverschmutzung – gerade in der Heizperiode –, die Elbe in Dresden ein stinkender Strom durch die Landschaft, der Kampf um eine brauchbare Wohnung – wer sich daran vielleicht noch erinnert! –, keine Reisefreiheit. Aber es gab eine Straßenbahnfahrt für 20 Pfennige. Das wurde uns schon in der Schule gelehrt: Das ist der Unterschied zwischen der glorreichen Zukunft des Sozialismus und dem faulenden Kapitalismus: dass man in der DDR für 20 Pfennige Straßenbahn fahren durfte. Nur, das Problem war: Die Straßenbahn kam nicht immer,
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weil immer wieder mal ein Ersatzteil fehlte, das nicht beschafft werden konnte, oder der Straßenbahnfahrer vielleicht 14 Tage vorher gerade in den Westen ausgereist war.
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So viel zur Realität, meine Damen und Herren, und das sollte man auch nie vergessen! Gerade deswegen, wenn man das alles zusammenrechnet, ist der 3. Oktober für mich ein Tag des Feierns.
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Das Problemewälzen können wir vorher machen und spätestens am 4. wieder beginnen.
Meine Damen und Herren, es gibt heutzutage zu solchen Festtagen eine Flut von Büchern und Filmen und Diskussionen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist voll davon. Alle wollen nun herausfinden: Was ist denn der Unterschied zwischen den Ostdeutschen und den Westdeutschen? Und natürlich: Der Ossi, das seltsame Wesen, was ist denn das für einer?
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Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: Das geht mir am meisten auf die Nerven bei der ganzen Diskussion.
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Weil: Warum kümmert sich denn niemand darum, was der Unterschied ist zwischen dem Bayern und dem Holsteiner oder dem Rheinländer und dem Pfälzer oder – um es noch ein bisschen kleiner zu schneiden – zwischen dem Kölner und dem Düsseldorfer?
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Das ist ganz normal, meine Damen und Herren. Aber der Ossi, der muss herhalten – wobei es ja gar keinen Ossi gibt; es gibt nämlich in Ostdeutschland Sachsen und Brandenburger und Thüringer und Mecklenburger, und die sind alle ganz verschieden. Also: Das ist ein Schwachsinn hoch fünf. Das ist nur Geldbeschaffung für Psychologen und andere Menschen, meine Damen und Herren.
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Es ist von diesem Pult aus heute aber auch schon oft gesagt worden – ich glaube, das ist das Wichtigste –: Die deutsche Einheit ist ein Projekt aller Menschen in Deutschland. Alle, die sich dazu bekennen, haben zu diesem Erfolg beigetragen. Die deutsche Einheit hat unser Land stärker gemacht, und sie hat es vielfältiger gemacht. Und das ist, glaube ich, der Erfolg, woraufhin wir von allen anderen im Ausland immer wieder gefragt werden: Wie macht ihr denn das? Es gibt Länder wie Taiwan oder Südkorea, die haben eigene Regierungskommissionen, die streuseln hier schon seit Jahren durch Deutschland, um zu gucken: Wie haben die denn das gemacht mit der Wiedervereinigung? Sind das Modelle, können wir uns damit auf eine mögliche Wiedervereinigung bei uns vorbereiten? Insofern ist die deutsche Wiedervereinigung ein Erfolgsmodell.
Meine Damen und Herren, aber zur historischen Wahrheit gehört auch, dass verschiedene Parteien das unterschiedlich gesehen haben. Da gab es mal einen Oskar Lafontaine. Der hat gesagt: Das Wenigste, was wir jetzt brauchen, ist die deutsche Einheit. – Und da gab es mal einen Steinewerfer Joschka Fischer. Der hat den Ostdeutschen die Banane hingehalten, um damit sozusagen klar zu dokumentieren, was er von den Ostdeutschen hält. Das haben wir auch alle nicht vergessen, meine Damen und Herren.
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Morgen findet in Dresden der Festakt zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit statt. Und wenn demokratische Parteien, die heute alle erzählt haben, wie wichtig Toleranz und Meinungsfreiheit sind, diesen Festakt boykottieren, nämlich SPD, Grüne und Linke,
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und dort ein gewählter Volksvertreter spricht, meine Damen und Herren, dann frage ich mich wirklich schon, wie Reden und Handeln zusammenpassen.
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Insofern gibt es eine Menge Widersprüche, auch in der heutigen Debatte. Ich kann Ihnen nur sagen: Die CDU/CSU war die Partei der deutschen Einheit; die CDU/CSU ist die Partei der deutschen Einheit. Das können Sie sehen: Die Kollegen unserer Fraktion sitzen alle mit einem Lächeln auf den Lippen und einem fröhlichen Gefühl im Herzen auf ihren Plätzen und warten eigentlich nur darauf, dass sie nach Hause gehen können, damit sie sich auf die Feiern morgen vorbereiten können.
Also: Einen schönen Tag für alle!
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es gerade in einer eindrucksvollen Debatte gehört: Seit 30 Jahren sind wir in Deutschland zu unserem Glück vereint. Gemeinsam haben wir trotz aller Härten und mancher Fehler in unserem Land gemeinsam viel erreicht.
Heute heißt „deutsche Einheit“ vor allen Dingen, unser Land in Zeiten der Coronakrise und in Zeiten rasanten Wandels zusammenzuhalten. Und dabei spielen Arbeit und ein starker Sozialstaat eine entscheidende Rolle. Arbeit ist für die meisten Menschen, meine sehr geehrten Damen und Herren, mehr als Broterwerb. Arbeit ist für sehr viele Menschen Grundlage persönlicher Freiheit: durch eigene Arbeit, durch eigene Anstrengungen ihr Leben zu bestreiten. Arbeit bedeutet aber auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Kolleginnen und Kollegen zu haben.
Deshalb ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass diese Krise nicht Millionen von Arbeitsplätzen wegspült, sondern dass wir mit den Regeln der Kurzarbeit Brücken bauen über ein tiefes wirtschaftliches Tal, um Freiheit und Selbstbestimmung von Menschen zu sichern.
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Das Instrument, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirkt; wir haben vorgestern die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bekommen. Gott sei Dank sind im Sommer Menschen aus der Kurzarbeit – im Mai waren es noch rund 6 Millionen, im Juli waren es 4 Millionen – wieder in Vollzeitarbeit zurückgekehrt. Wir haben Gott sei Dank trotz der Krise sogar einen leichten Rückgang der Arbeitslosigkeit.
Aber ich will ganz vorsichtig sein, meine Damen und Herren: Wir müssen auch ganz offen sagen, dass diese Krise noch nicht vorbei ist, dass verschiedene „I“ das wirtschaftliche Geschehen beeinflussen werden: die Frage der Infektionen, die wir lokal im Zaum halten müssen, die Frage internationaler Unsicherheiten, die mit Corona nicht unbedingt immer was zu tun haben, zum Beispiel der drohende harte Brexit und auch die Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika, von denen wir nicht genau wissen, wie sie ausgehen. Wir müssen also feststellen, dass wir die Krise noch nicht überstanden haben. Aber wir haben Grund zu der realistischen Zuversicht, dass es im Frühjahr nächsten Jahres nach allen plausiblen Annahmen eine wirtschaftliche Belebung geben kann, die hilft, dass in Deutschland nicht wieder Massenarbeitslosigkeit entsteht.
Weil es diese Unsicherheiten gibt, haben wir als Bundesregierung auch entschieden, die Regelungen für die Kurzarbeit bis ins nächste Jahr zu verlängern, um eine stabile Brücke zu bauen, um Planungssicherheit zu schaffen, damit unsere Unternehmen wieder durchstarten können, damit wir Arbeitsplätze sichern. Wer das diffamiert und so tut, als ginge es um Zombie-Unternehmen, der hat von betrieblicher Wirklichkeit in Deutschland sehr wenig Ahnung, meine Damen und Herren.
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Ich habe in den letzten Wochen eine Reihe von Unternehmen aus sehr unterschiedlichen Bereichen besucht: in der Gastronomie, im Messebau, im Bereich der Wasserstofftechnologie, im Maschinenbau. Ja, Kurzarbeit ist kein Allheilmittel – es ersetzt keine Wirtschaftsstrukturen, keine Innovationspolitik; die müssen wir dazupacken –; aber Kurzarbeit, meine Damen und Herren, ist im Moment unsere schärfste Waffe im Kampf um Arbeitsplätze, um das Fortkommen und die Sicherheit von Familien in Deutschland zu gewährleisten.
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Wenn wir über diese Krise reden, dann müssen wir auch feststellen, dass sie ein Brandbeschleuniger für den Strukturwandel der Arbeit ist. Viele Trends, die es vor Corona schon gegeben hat, zum Beispiel die Digitalisierung, beschleunigen sich durch diese Krise, verändern unsere Wirtschaftsstrukturen. Was im Moment besonders herausgefordert ist, ist der industrielle Bereich: der Maschinenbau, die Automobilindustrie beispielsweise, die durch die Konjunkturkrise, aber eben auch den Strukturwandel herausgefordert ist. Unsere Aufgabe ist es, meine Damen und Herren, diesen Strukturwandel so zu gestalten, dass die Beschäftigten von heute auch die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen.
Deshalb ist es klug und richtig, dass wir Anreize setzen, im nächsten Jahr Kurzarbeit, wo immer das notwendig und richtig ist, auch mit Weiterbildung zu verbinden.
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Deshalb war es richtig, dass wir mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz einen Instrumentenkasten für den Strukturwandel geschaffen haben, um kleinen und mittelständischen Unternehmen zu helfen, um Menschen zu helfen, um Beschäftigten zu helfen, damit sie in diesem rasanten Wandel den Anschluss nicht verlieren. Das ist, glaube ich, auch eine Lehre, die wir aus der vorherigen Debatte zu ziehen haben.
Ich komme aus einer niedersächsischen Kleinstadt, aus Peine, zwischen Braunschweig und Hannover gelegen. Ich bin jetzt 47 Jahre alt. In meiner Kindheit und Jugend haben in dieser Stadt mit 50 000 Einwohnern noch 10 000 Menschen im Stahlwerk gearbeitet. 10 000 Familien hingen an einem Unternehmen. Heute sind es 800. Wir haben den Strukturwandel in meiner Heimatstadt grosso modo ganz gut bewältigt. Aber das war ein Strukturwandel über einen Zeitraum von 30 Jahren.
Ich bin in den 90ern als junger Mensch nach Brandenburg gekommen. Was ich da erlebt habe, das war kein Strukturwandel, sondern das waren Strukturbrüche: In kürzester Zeit sind ganze industrielle Zentren zusammengeklappt. Das, was wir heute sehen – trotz des Aufbaus in Ostdeutschland, auf den wir stolz sein können –, die Narben in den Berufsbiografien und auf der Seele vieler Menschen, ist eine Spätfolge dieser Strukturbrüche.
Was lehrt uns das im Hinblick darauf, was jetzt vor uns liegt? Wir dürfen mit realistischer Zuversicht in die 2020er-Jahre gehen, auch was die Zukunft der Arbeit betrifft. Aber wir müssen politisch handeln und diesen Strukturwandel so begleiten, dass in Zeiten rasanten Wandels Menschen Chancen und Schutz haben; damit sie auch individuell zuversichtlich sein können, den Anschluss nicht zu verlieren; damit wir die Fachkräfte von morgen haben für unsere Unternehmen, aber damit die Beschäftigten auch eine Chance haben, im Wandel durch Qualifizierung, durch Weiterbildung, wo es notwendig ist, auch durch Umschulung, den Anschluss an eine moderne Arbeitsgesellschaft nicht zu verlieren.
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Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen, dann müssen wir aber auch über den Wert und die Würde der Arbeit reden. Das betrifft ganz praktisch auch Löhne in Deutschland – auch das ist übrigens eine Erfahrung aus der Coronakrise. Erinnern wir uns daran, wie wir vor sechs, sieben Monaten hier in diesem Haus für die sogenannten Heldinnen und Helden des Alltags fraktionsübergreifend aufgestanden sind und geklatscht haben: für diejenigen, die beispielweise an der Kasse gearbeitet haben, in der Altenpflege, in den unterschiedlichsten Bereichen. Aber diese Menschen, meine Damen und Herren, die Busfahrer, diejenigen, die in der Logistik gearbeitet haben, im Einzelhandel, haben mehr verdient als warme Worte.
Deshalb ist es ein zentrales Anliegen dieser Bundesregierung, den Mindestlohn jetzt nicht nur zu erhöhen, sondern ihn weiterzuentwickeln, aber vor allen Dingen dafür zu sorgen, dass wir endlich mehr Tarifbindung in Deutschland bekommen. Denn da, wo Tarifverträge sind, sind Löhne und Gehälter in der Regel besser.
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Ich will es praktisch machen. Wir haben eine Riesenchance durch das Gesetz im Bereich der Altenpflege, das wir im letzten Jahr geschaffen haben. Es bildet die Grundlage dafür, dass, wenn jetzt ein Tarifvertrag zustande kommt – einer ist zustande gekommen – und sich andere noch anlehnen, dieser Tarifvertrag in der Altenpflege für die gesamte Branche für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Das liegt nicht vollständig in unserer Hand, es ist auch Aufgabe der Tarifvertragsparteien – die haben jetzt einen geschlossen. Es ist eine Chance, zum Beispiel für die Kirchen, sich an diesen Tarifvertrag anzulehnen. Wenn der Antrag auf meinen Schreibtisch kommt und die Voraussetzungen erfüllt sind, dann bin ich jemand, der nicht zögert, sondern der dafür sorgt, dass wir endlich einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Altenpflege bekommen.
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Wenn wir über den Wert und die Würde der Arbeit reden, dann müssen wir aber auch in Coronazeiten feststellen, welche Dinge vorher schon nicht in Ordnung waren und unter den Bedingungen dieser Pandemie zu einem allgemeinen Gesundheitsrisiko geworden sind. Deshalb lautet nochmals meine herzliche Bitte an diesen Deutschen Bundestag, mit den Verhältnissen in der Fleischindustrie in Deutschland grundlegend aufzuräumen. Wir haben mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz dafür gesorgt, dass endlich die grundlegenden Konsequenzen gezogen werden.
Meine Bitte an diesen Deutschen Bundestag lautet, ob es um die digitale Aufzeichnung der Arbeitszeit, ob es um die Standards für Sammelunterkünfte und die Kontrollen geht oder – das ist mir vor allen Dingen wichtig – ob es um das Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in dieser Branche geht: Hören Sie nicht auf die Sirenenklänge von Lobbyisten,
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die nichts anderes im Sinn haben, als mit neuen Konstruktionen Verhältnisse zu prolongieren, die nicht in Ordnung sind. Die Ausbeutung von Menschen darf kein Geschäftsmodell in der Bundesrepublik Deutschland sein und darf es vor allen Dingen in dieser Industrie nicht bleiben.
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Deshalb ist meine Bitte: Lasst euch nicht von Lobbyisten beeindrucken, sondern helft mit, dass wir in dieser Branche grundlegend aufräumen können!
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Wenn wir über die Zukunft der Arbeit reden, dann werden wir angesichts des digitalen Wandels der Arbeitsgesellschaft unseren Ordnungsrahmen für Arbeit weiterentwickeln müssen. Ich werde einen Vorschlag für einen neuen Ordnungsrahmen für ortsflexibles und mobiles Arbeiten machen.
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Ja, es ist richtig: Nicht alle Menschen können im Homeoffice arbeiten, und nicht alle wollen im Homeoffice arbeiten. Aber diese Krise hat doch gezeigt, dass technisch viel mehr möglich ist. Warum sollten wir den Menschen nicht die Chance schaffen, da, wo es möglich und gewünscht ist, zumindest zeitweise diese Gelegenheit zu nutzen, um mit weniger Staus, mit mehr Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und mit weniger Stress auch mal kurz im Homeoffice arbeiten zu können?
Wenn wir über Flexibilität reden, dann reden wir über die Flexibilitätsansprüche von Unternehmen – zu Recht. Aber es gibt auch Flexibilitätswünsche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir werden einen Ordnungsrahmen schaffen, der mehr möglich macht, der nicht auf Zwang setzt, sondern auf die Möglichkeiten der Menschen, aber gleichzeitig mithilft, die Entgrenzung von Arbeit ins Privatleben zu verhindern. Auch im Homeoffice muss mal Feierabend sein, meine Damen und Herren. Das ist eine Frage des Gesundheitsschutzes von Menschen in diesem Bereich.
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– Nicht jammern auf dem höchsten Niveau.
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– Ich weiß nicht, Herr Präsident, ob Sie die Frage zulassen.
Gestatten Sie die Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Minister, dass ich die Frage stellen kann. – Wir Grünen fordern ja schon sehr lange, dass Homeoffice endlich geregelt wird. Auf der einen Seite fordern wir, dass es Spielregeln gibt. Aber wir wollen auch, dass es einen Rechtsanspruch gibt, damit die Leute, wo es möglich ist – natürlich immer nur da, wo es möglich ist –, auch Rechte bekommen, wenn der Arbeitgeber sich das anders vorstellt. Meine erste Frage ist daher: Werden Sie auch da etwas tun, damit es für die Beschäftigten wirklich besser wird?
Das Zweite ist: Sie haben gerade die Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben bzw. Freizeit angesprochen. Wann wird denn endlich das Gesetz kommen, mit dem dann im Arbeitszeitgesetz festgeschrieben wird, dass die Arbeit dokumentiert werden muss, und zwar Anfang, Ende und Dauer der Arbeitszeit? Wann liegt der entsprechende Gesetzentwurf endlich vor?
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Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage, weil es mir Gelegenheit gibt, beim Thema „Homeoffice und mobiles Arbeiten“ mit ein paar Missverständnissen aufzuräumen, die offensichtlich bei diesem Thema, zu dem viele eine Meinung haben, bei einigen vorliegen.
Richtig ist: Es gibt Berufe, in denen kann man ein Recht auf Homeoffice nicht realisieren. Ein Bäcker kann die Brötchen in der Regel nicht von zu Hause aus backen. Aber wir haben sehr, sehr viele Berufe und Tätigkeiten, in denen es möglich ist, zeitweise im Homeoffice zu arbeiten. Ich will, dass wir einen Ordnungsrahmen schaffen, in dem Beschäftigte das Recht haben, das mit ihren Arbeitgebern zu erörtern und, wenn keine betrieblichen Gründe dagegen sprechen, es eben auch zu realisieren. Wenn Sie das einen Rechtsanspruch nennen, ist es genau das, was ich will.
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Zweitens. Warten Sie auf meine detaillierten Vorschläge, Frau Müller-Gemmeke – Sie sind ja eine kundige Thebanerin –, dann werden wir darüber diskutieren. Ich werde ein Gesetz vorlegen, und dann werden wir darüber diskutieren, wie wir mehr Chancen schaffen. Wir wollen niemanden ins Homeoffice zwingen. In Unternehmen, wo es lebenspraktisch nicht geht, geht es nicht. Da müssen Unternehmen auch die Möglichkeiten haben, zu sagen: Das geht betrieblich nicht.
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Aber dass es Beschäftigten mit einem einfachen Nein prinzipiell verwehrt werden kann, das soll nicht mehr möglich sein. Das heißt, wir wollen den Beschäftigten einen Rechtsanspruch darauf geben, dass Homeoffice, wo es grundsätzlich möglich ist, auch ermöglicht wird.
Zu Ihrer zweiten Frage. Ich glaube, dass es gerade im Bereich des ortsflexiblen und mobilen Arbeitens notwendig sein wird, der Entgrenzung von Arbeit entgegenzuwirken. Ich habe es vorhin gesagt: Wir haben in dieser Pandemie erlebt, dass viele Menschen Homeoffice als neue Chance begriffen haben und übrigens überwiegend positiv sehen. Aber wir haben auch erlebt, dass bestimmte Dinge nicht der Normalfall sein können. Ich kann aus persönlicher Erfahrung sagen: Homeoffice und Homeschooling, das geht überhaupt nicht zusammen, um es einmal klar zu sagen.
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Klar ist auch, dass bei aller Flexibilität die Arbeitszeitgesetze auch im Homeoffice durchgesetzt werden müssen, zum Beispiel muss es auch da Möglichkeiten der digitalen Arbeitszeitaufzeichnung geben. Wir wollen nicht die Entgrenzung der Arbeit ins Privatleben, weil klar ist, dass Arbeitszeitgesetze dem Gesundheitsschutz von Menschen dienen. Der stets verfügbare Mensch ist nicht mein Menschenbild und ist nicht das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb werden wir auch dazu Vorschläge machen, Frau Müller-Gemmeke.
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– Unverzüglich, nach meiner Kenntnis.
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Ich habe immer Folgendes erlebt: Wenn ich als Kind für Weihnachtsgeschenke anstand, hat meine Mutter gesagt: Hast du warten gelernt? – Also, Beate, ich kann dir sagen: Du musst nicht mehr lange warten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss – die Redezeit reicht nicht aus –: Wir als Koalition haben noch eine Fülle vor. Ich bin den Koalitionspartnern sehr, sehr dankbar, dass wir trotz eines heraufziehenden Wahlkampfes in dieser Zeit miteinander eine ganze Menge zustande bekommen, um unser Land sicher durch ganz schwierige Zeiten zu bringen.
Ganz klar ist, dass wir noch viel vorhaben. Es besteht für uns zum Beispiel die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass wir, wenn wir über den Wert und die Würde der Arbeit reden, auch unserer menschenrechtlichen Verantwortung in globalen Lieferketten gerecht werden.
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Da setze ich darauf, dass wir zu gemeinsamen Lösungen kommen werden, weil wir uns das miteinander auch vorgenommen haben.
Unter dem Strich darf aber eines nicht in Deutschland Einzug halten, nämlich die Angst, die uns lähmt. Arbeit und Sozialstaat bewähren sich in diesen Zeiten. Trotz mancher Defizite, die wir haben: Das, was wir in Deutschland gemeinsam auf die Beine stellen, – die Bürgerinnen und Bürger, auch unser öffentliches Gemeinwesen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Wirtschaft –, soll und muss diesem Land Hoffnung geben, dass wir nicht nur die Zeiten gut überstehen, die schwierig sind, sondern jetzt auch dafür sorgen, dass unser Land nach der Krise digitaler, ökologischer und auch sozialer wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege René Springer.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Der vorliegende Haushaltsentwurf für den Bereich Arbeit und Soziales liest sich wie das Krankenblatt unseres Landes. Diagnose: multiples Staatsorganversagen.
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Unter Kanzlerin Merkel hat sich die Altersarmut von Rentnern in Deutschland verdreifacht. Nun will die Bundesregierung ihre Beteiligung an der Grundsicherung im Alter auf 8,3 Milliarden Euro erhöhen und damit 1,5 Milliarden mehr ausgeben als letztes Jahr. Doch wie so oft werden damit nur Symptome behandelt, nicht aber die Ursachen des Problems, nämlich ein sinkendes Rentenniveau und vor allem – Herr Heil, Sie haben es ja angesprochen – deutlich zu niedrige Löhne.
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Dass die Bundesregierung Lohndumping fördert, anstatt zu bekämpfen, sieht man schon daran, dass heute 26,5 Prozent, also mehr als ein Viertel, der Arbeitnehmer in den systemrelevanten Berufen im Niedriglohnsektor arbeiten müssen.
Wir als AfD fordern Wohlstandslöhne und armutsfeste Renten, mit denen unsere älteren Menschen in Sicherheit und Würde altern können.
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Armutsfeste Renten wären auch ohne Weiteres finanzierbar, würde diese Bundesregierung nicht jedes Jahr zweistellige Milliardenbeträge nach Brüssel überweisen.
Doch nicht nur der Niedriglohnsektor ist zu groß, sondern auch die Zahl der Hartz-IV-Empfänger – jetzt wäre der Moment für die Empörung. Sie liegt derzeit bei 5,5 Millionen Menschen,
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darunter fast 1 Million Aufstocker, deren Lohn nicht zum Leben reicht. Dabei ist der Anteil nichtdeutscher Staatsbürger unter den Hartz-IV-Empfängern in den letzten Jahren auf heute fast 40 Prozent gestiegen. 2 Millionen Ausländer in Deutschland leben von Hartz IV. Das ist die bittere Konsequenz, wenn Zuwanderung auf Gesinnungsethik basiert und nicht auf Verantwortungsethik.
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Auf 100 Ausländer von außerhalb der Europäischen Union, die hier einen richtigen Job gefunden haben, kommen gleichzeitig 80 Hartz-IV-Empfänger. Anderswo lacht man uns dafür aus. Und was machen Sie? Sie betreiben weiter Ihre völlig irrationale Migrationspolitik, die zu Lohndumping und einer fortgesetzten massiven Einwanderung in unsere Sozialsysteme führt. Finanzieren darf das am Ende der deutsche Steuerzahler; und da sagen wir: Das Ziel muss sein, die Zahl der nichtdeutschen Staatsbürger in Hartz IV auf null zu reduzieren.
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Zu all den bestehenden Problemen kommen jetzt auch noch die Folgen der Coronamaßnahmen der Bundesregierung. Aktuell sind über 4 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir über 600 000 Arbeitslose mehr. Das ist ein Anstieg um 27 Prozent. Wir als Alternative für Deutschland haben frühzeitig vor dieser kopflosen Coronapolitik gewarnt. Sie haben uns damals ausgelacht.
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Doch nun hat selbst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den ideologischen Mundschutz abgelegt und zugegeben – Zitat –:
Man würde mit dem Wissen von heute … keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen.
Diese Erkenntnis kommt für Zigtausende vernichteter Existenzen leider zu spät. Im neuen Heer der Arbeitslosen liegt der Ausländeranteil bei 33 Prozent.
Doch anstatt sich angesichts dieser Zahlen um die inländischen arbeitslosen Fachkräfte zu kümmern, werben Sie munter immer weiter Fachkräfte aus dem Ausland an,
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Arbeitskräfte, die bereit sind, die Jobs, die jetzt verlorengegangen sind, für 1 000 bis 1 500 Euro weniger im Monat zu machen. In Ihrem Haushalt wollen Sie dafür sogar noch mehr Geld ausgeben als im letzten Jahr. Wir als Alternative für Deutschland fordern die sofortige Aussetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und der Westbalkanregelung. Alle Mittel und Möglichkeiten müssen in diesen schwierigen Zeiten genutzt werden, um unsere inländischen Arbeitskräfte schnell wieder in Lohn und Brot zu bringen.
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Meine Damen und Herren, Ihre Behandlung des Patienten Deutschland ist nichts anderes als ein gigantischer Ärztepfusch. Sie richten unser Land zugrunde. Umso entschlossener werden wir uns dafür einsetzen, dass die politischen Tage dieser Regierung bald gezählt sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Weiß.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben den heutigen Tag begonnen mit der Debatte über die deutsche Einheit. Morgen, am 3. Oktober, feiern wir 30 Jahre wiedervereinigtes Deutschland. Wenn wir uns anschauen, was die Sozialversicherungssysteme und die Sozialpolitik zum Zusammenwachsen Deutschlands beigetragen haben, erkennen wir, dass das eine beispiellose Leistung unserer Systeme war. Sie zeigen: Unser Sozialstaat funktioniert.
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Das Gleiche gilt jetzt im Hinblick auf die Herausforderung, vor die uns die Coronakrise stellt. Es ist international anerkannt: Deutschland bewältigt diese Krise im Vergleich zu anderen Industrienationen besser, und zwar deswegen besser, weil wir einen funktionierenden, leistungsfähigen Sozialstaat haben. Ein zweites Mal in 30 Jahren zeigt der Sozialstaat: Ja, er funktioniert. Er schützt die Bürgerinnen und Bürger. Er hilft da, wo geholfen werden muss. – Deutschland steht in dieser Pandemie besser da als andere. Das ist zuallererst auch eine Leistung dieses Sozialstaates und der Solidarität unserer Bürgerinnen und Bürger.
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Wenn man die Ratschläge des verehrten Herrn Vorredners befolgen würde, würde genau das Gegenteil entstehen, nämlich Elend und Verarmung in Deutschland. Das ist Ihr Programm!
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Eine ganz besondere Leistung muss in diesen Zeiten die Bundesagentur für Arbeit erbringen. Deswegen ist es richtig, dass wir die Agentur für Arbeit sowohl in diesem Jahr als auch im kommenden Jahr mit einem Bundeszuschuss in Milliardenhöhe zusätzlich stärken, um ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten. Handlungsfähigkeit heißt, dass sie vor allen Dingen, nachdem die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derzeit mit dem Thema Kurzarbeit beschäftigt sind, sich wieder der Berufsberatung und Berufsvermittlung zuwenden kann. Das haben vor allen Dingen die jungen Leute nötig.
Wir haben – Stand heute – im Handwerk 10 Prozent und in der Industrie 15 Prozent weniger abgeschlossene Ausbildungsverträge als im vergangenen Jahr. Das zeigt: Es muss jetzt noch Nachvermittlung stattfinden. Es muss vor allen Dingen auch dafür gesorgt werden, dass Berufsberatung und Berufsbegleitung für die im kommenden Jahr den Schulabschluss anstrebenden Schülerinnen und Schüler angeboten werden kann. Deshalb wollen wir, dass die Bundesagentur für Arbeit handlungsfähig ist. Corona darf nicht bedeuten, dass junge Leute um ihre Zukunftschancen gebracht werden, sondern wir wollen, dass den jungen Leuten in Ausbildung und Beruf eine Perspektive geboten wird. So wie wir das in vergangenen Jahren geschafft haben, wollen wir das auch in Zukunft schaffen. Deswegen wollen wir die Unterstützung der BA.
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Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass der Verwaltungsrat der BA beschlossen hat, 1 000 zusätzliche Stellen zu schaffen, die jetzt unterjährig besetzt werden können. Jawohl, wir intensivieren auch den Personaleinsatz, damit denen, die Hilfe brauchen, wirklich auch durch die BA geholfen werden kann.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Beginn dieser Krise hätten doch die allermeisten Wissenschaftler nicht prognostiziert, dass wir bereits heute über eine sinkende Zahl von Kurzarbeitern reden können – nach Auffassung von Arbeitsmarktexperten sind wir mittlerweile bei unter 4 Millionen, nachdem wir einen Höchststand von 6,7 Millionen Kurzarbeitenden hatten – und dass zum Beispiel die Arbeitslosigkeit wieder sinkt. Ich finde, diese aktuellen Zahlen zeigen sehr eindrucksvoll, dass das, was wir als Bundestag zusammen mit der Bundesregierung initiiert haben, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, um die Konjunktur anzukurbeln und um Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen, wirkt. Wir sind auf dem richtigen Weg, und deswegen wollen wir einen Bundeshaushalt, der diesen richtigen Kurs noch weiter bestärkt.
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Manche wundern sich über die hohen Zahlen, die dieser größte Einzelhaushalt, der Haushalt für Arbeit und Soziales, beinhaltet. Das liegt natürlich auch daran, dass wir andere entlasten. Vor allem die Kommunen entlasten wir maßgeblich von Sozialaufgaben. In diesem Haushalt ist niedergelegt, dass wir als Bund künftig 75 Prozent der Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose stemmen und damit die Kommunen entlasten, nachdem wir die Kommunen bereits bei der Grundsicherung im Alter entlastet haben. Ich finde, wir zeigen sehr deutlich: Wir stärken die Kommunen, die vor Ort Verantwortung tragen – zu Recht. Das bedeutet eben: Der Sozialetat muss wachsen, damit diese Entlastung tatsächlich auch funktioniert. Auch dieser Weg ist richtig.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade die Rentenversicherung zeigt in diesen Zeiten, dass sie krisenfester ist denn je.
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Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen – auch in dieser Legislaturperiode –, die die gesetzliche Rente stärken, die zu zusätzlichen Leistungen führen. Und die Rentenversicherung leistet dies. Wir haben das auch getan, indem wir die berufliche Altersversorgung attraktiver gestalten. Wir wollen – ich hoffe, dass wir es in dieser Legislaturperiode schaffen – auch die private Altersvorsorge attraktiver und besser ausgestalten.
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Ich halte es für richtig, dass wir alle drei Säulen der Altersvorsorge stärken. Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen, dass Altersarmut keine Zukunft hat, sondern der Vergangenheit angehört. Deshalb Stärkung der gesetzlichen Rente und der zusätzlichen Rentensysteme – das ist unser Programm.
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Damit das alles für die Mitbürgerinnen und Mitbürger noch transparenter wird und auch nachrechenbar ist, starten wir mit einem Gesetzentwurf, den wir demnächst hier beraten, das Projekt einer säulenübergreifenden digitalen Renteninformation. Auch dafür stellen wir Gelder in diesem Haushalt bereit. Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für die Bürgerinnen und Bürger, dass wir ihnen ermöglichen, noch genauer und differenzierter zu sehen: Was spare ich wirklich fürs Alter an, und wo fehlt noch etwas? Ich hoffe, dass wir dieses Projekt, über das wir schon lange diskutieren, noch in diesem Jahr durch Beschlussfassung im Deutschen Bundestag in Kraft setzen können.
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Natürlich muss man gerade in diesen Zeiten der Krise darauf achten, dass wir die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die es besonders schwer haben, nicht aus dem Auge verlieren. Dazu gehören für mich die Langzeitarbeitslosen. Ja, sie haben es am allerschwersten. Und wir haben neue Instrumente zum Beispiel in § 16i SGB II geschaffen. Und wir sehen jetzt: Ja, das wirkt tatsächlich dort, wo wir bisher nicht hingekommen sind und wo die größten Probleme lagen. Rund 77 Prozent der Teilnehmenden sind älter als 45, rund 32 Prozent über 55 Jahre, knapp 50 Prozent haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Und jetzt eröffnen wir diesen Personen, die sonst nie eine Chance hätten, endlich einen Weg in Arbeit, von der man auch leben kann. Auch das ein großer Erfolg, den wir in diesem Bundeshaushalt durch zusätzliche Mittel für Projekte für Langzeitarbeitslose unterstützen.
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Das Gleiche gilt für die Menschen mit Behinderungen. Gerade in dieser Krisenzeit müssen wir aufpassen, dass sie weiterhin Arbeit finden. Wir haben mit dem Bundesteilhabegesetz ein neues Instrument zur Integration von Behinderten in unsere Gesellschaft geschaffen – aber auch, um ihnen den Weg in Arbeit zu ermöglichen. Wir haben zum Beispiel Rolle, Aufgaben und Finanzierung der Inklusionsbetriebe neu geregelt. Ich freue mich, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen vom 9. bis zum 20. November dieses Jahres Informations- und Aktionswochen zum Thema Inklusionsbetriebe durchführt. Ich finde es richtig, dass wir dieses tolle Instrument, durch das Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt kommen, deutlich besser bewerben und weiter unterstützen. Ich halte Inklusionsbetriebe für ein vorzügliches Instrument, um den ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen aufzuschließen. Wir wollen diesen Weg weitergehen und unterstützen.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser Krise kam es auch darauf an, dafür zu sorgen, dass die sozialen Dienste und Einrichtungen, die notwendig sind und zur Grundausstattung unseres Landes gehören, nicht in die Knie gehen. Ich finde, wir haben mit dem SodEG, einem Gesetz, dessen Geltungsdauer wir bis zum Jahresende verlängert haben, dafür ein gutes Hilfsinstrument geschaffen.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit bei all denjenigen, die in den sozialen Diensten und Einrichtungen in unserem Land arbeiten, angefangen bei der Pflege über die Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe usw. – ich will sie nicht alle aufzählen, sonst ist die Redezeit zu Ende –, herzlich für ihren großartigen Einsatz bedanken, den sie in dieser Krise erbracht haben.
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Für einen Christdemokraten, aber zum Teil auch für Sozialdemokraten und andere ist die christliche Soziallehre das Fundament ihres Handelns. Die beiden Grundprinzipien Solidarität und Subsidiarität zeigen sich in dieser Krise, wie ich finde, in deutlicher Ausprägung. Die Selbstverantwortung, die jeder Einzelne wahrnimmt, um diese Krise zu bewältigen – sie wurde von der Bundeskanzlerin zu Recht in ihrer Rede am Mittwoch noch mal deutlich herausgestellt –, und die Solidarität des Sozialstaates, der staatlichen Gemeinschaft, dieser Gesellschaft gehören zusammen. Und mit diesen beiden Prinzipien werden wir auch die Zukunft erfolgreich gestalten. Bitte unterstützen Sie uns. Dieser Bundeshaushalt 2021 ist Ausdruck dieser Subsidiarität und Solidarität.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Johannes Vogel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat haben wir alle uns wahrscheinlich in dieser Woche über die Nachricht gefreut, dass die Arbeitslosigkeit nicht weiter steigt und auch die Kurzarbeit zurückgeht. Das ist das Ergebnis der tollen Arbeit der Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Land, die sich gegen die Krise stemmen. Das ist das Ergebnis der guten Arbeit in der Bundesagentur für Arbeit, die die Kurzarbeit organisiert hat.
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Und das ist auch ein gemeinsamer Erfolg von uns allen hier im Deutschen Bundestag; denn die Schnelligkeit, in der die Krisenregeln der Kurzarbeit in Kraft gesetzt wurden, war ja überhaupt nur möglich, weil Regierung und Opposition im März hier an einem Strang gezogen haben. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen für die politische Kultur in unserem Land.
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Genauso klar ist aber auch – und das ist richtig –: Die Krise ist weiter sehr ernst. Die Kurzarbeit ist immer noch dreimal so hoch wie in der letzten historischen Krise. In der Tat gibt es viele Risiken für die weitere konjunkturelle Entwicklung. Und deshalb will ich vier Punkte nennen, wo wir uns wünschen würden, dass diese Regierung nachjustiert:
Erster Punkt. Die Talfahrt ist zumindest vorläufig gestoppt. Wir müssen aber aus dem Tal auch wieder raus, lieber Hubertus Heil, lieber Herr Arbeitsminister. Und was tun Sie? Sie verlängern das Kurzarbeitergeld nicht schrittweise, sondern direkt bis nach der nächsten Bundestagswahl. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Wir kümmern uns aber nicht genug darum: Wie entstehen eigentlich neue Jobs? Wie entstehen eigentlich bessere Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum? Da sehen wir von dieser Regierung bisher leider gar nichts. Der Arbeitsminister hat gesagt, die Kurzarbeit sei eine Brücke über das Tal. Das ist richtig. Aber eine Brücke braucht auch ein stabiles Fundament, und dieses Fundament heißt Wirtschaftswachstum, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Warum machen wir es den Unternehmen denn nicht jetzt steuerlich einfacher, in Zukunftsaufgaben zu investieren? Warum entlasten wir sie nicht jetzt bei Neueinstellungen? Warum verkünden Sie nicht jetzt, dass Sie alle weiteren bürokratischen Belastungen, die Sie ja weiterhin planen, für die nächsten Monate zumindest zurückstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition? Mehr Sicherheit gibt es hier nur durch mehr wirtschaftliche Freiheit, und sie zu gewähren, würden wir von Ihnen erwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung.
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Zweite Bemerkung. Innovation wurde eben zu Recht vom Arbeitsminister genannt. Sie entsteht durch Bildung und Forschung. Sie entsteht durch Einwanderung und Vielfalt, durch Aufstieg. Sie entsteht aber auch durch Gründungen und Unternehmertum. Und Träger dieser Haltung sind die Selbstständigen, die Freelancer in unserem Land. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon bei der ersten Debatte über diese Krise im März habe ich Sie gefragt: Was tun Sie für Selbstständige und Freelancer? – Die Wahrheit ist: Sie lassen sie seit März im Regen stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
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Die Liste der Probleme ist nicht nur lang, sie ist auch lange bekannt. Was ich spannend finde, ist, dass ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union – ich spreche Sie mal ganz direkt an –, von CDU-Politikern immer Forderungen in Talkshows höre.
Letzten Sonntag war ich mit Carsten Linnemann, dem Chef des Wirtschaftsflügels, in einer Talkshow. Er sagt: Also, am Dienstag, beim Gipfel, muss sich jetzt endlich was tun für die Selbstständigen in diesem Land. – Was hat sich getan? Nichts.
Vor wenigen Wochen bei „Maybrit Illner“ hat Helge Braun als Bundeskanzleramtsminister gesagt: Jetzt müssen wir aber endlich was tun
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für die Freelancer und Selbstständigen in diesem Land. – Danach muss er in der Regierungsbefragung einräumen, dass gar nichts passiert.
Peter Altmaier, der Wirtschaftsminister, hat sich auf Twitter dafür gefeiert, was er für Mittelstand und Selbstständige tut. Auf Nachfrage kann er auf die Frage, was er denn für die Selbstständigen tut, nichts antworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn wir die Selbstständigen in diesem Land nicht im Regen stehen lassen wollen, dann dürfen Sie nicht nur in Talkshows etwas fordern, dann müssen Sie auch im Deutschen Bundestag handeln und dürfen Selbstständige nicht länger als Erwerbstätige zweiter Klasse behandeln. Das nenne ich skandalös, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
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Drittes Thema: Homeoffice. In der Tat: Die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen in diesem Land haben in den Monaten des Lockdowns, der Krise beeindruckenden Pragmatismus und Flexibilität gezeigt. Aber, lieber Hubertus Heil, wir hier in der Politik und Sie als Bundesregierung haben den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur zugemutet, dass Homeoffice mit Homeschooling und Home-Kita verbunden werden musste – was sich so nicht wiederholen darf –, sondern wir muten ihnen bis heute auch zu, dass sie alle sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen.
Beim Homeoffice müssten eigentlich die Arbeitgeber die heimischen Wohnungen aufsuchen und untersuchen, ob auch der Lichteinfall der Schreibtischlampe stimmt. Wenn mal flexibel am Abend gearbeitet wird, dann geht man am nächsten Morgen in die Illegalität, wenn man schon wieder arbeitet. All das ist so, weil Sie seit drei Jahren nicht in der Lage sind, den Rechtsrahmen zu modernisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
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Deshalb freue ich mich über die Ankündigung, dass Sie das endlich angehen werden.
Aber bis heute haben wir kein Gesetz gesehen. Dabei wäre es so einfach, weil die Niederlande uns seit fünf Jahren vormachen, wie es geht. Dann muss man aber auch Zeit- und Ortsflexibilität zusammenbringen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, und den Rechtsrahmen für Homeoffice und das Arbeitszeitgesetz gemeinsam modernisieren.
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Wir werden Ihnen in den nächsten Wochen einen ganz konkreten Vorschlag vorlegen. Und dann warten wir mal ab, was von der Regierung kommt, ob wir da endlich eine Veränderung sehen.
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Lieber Herr Präsident, wenn ich noch eine Minute von der Redezeit meines Kollegen Fricke nehmen darf, der mir seine Zustimmung vorhin signalisiert hat,
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würde ich als vierten Punkt gerne auch noch kurz auf eine grundlegende Frage dieses Bundeshaushaltes eingehen; denn wir diskutieren ja hier über den Bundeshaushalt. Das ist ja der Abschlusshaushalt und damit auch die Abschlussbilanz dieser Koalition. Und was sehen wir? Die Ausgaben für Bildung und Forschung sinken coronabereinigt, die Ausgaben des BMAS steigen weiter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es da um die Reaktion auf die Krise ginge,
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dann wären wir alle einer Meinung, dass man in der Krise mutig und entschlossen reagieren muss. Das Problem ist: Im BMAS-Haushalt sind die Ausgaben für die Rente der größte Posten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie übergeben einen Bundeshaushalt mit alleine 100 Milliarden Euro Zuschuss in die Rente.
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Sie haben eine Viertelbillion Mehrausgaben bis 2030 für die Rente beschlossen.
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90 Prozent davon helfen gar nicht gegen Altersarmut. Und Sie können bis heute nicht erklären,
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wie diese Ausgaben von den Jüngeren in Zukunft finanziert werden sollen. Sie haben jetzt sogar noch die Demografievorsorge aus dem Haushalt gestrichen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der ganzen Legislaturperiode hieß es immer auf die Frage der Finanzierung: Ja, da warten wir auf die Rentenkommission. – Ich habe mir gestern einmal den Vorhabenplan des BMAS der nächsten Monate angeschaut. Zur Rentenkommission kommt gar nichts mehr, Herr Arbeitsminister, zumindest kann ich es bisher nicht erkennen. Wenn das die Bilanz dieser Bundesregierung ist, muss man sagen: Milliardenschwere Mehrausgaben zulasten der Jüngeren in der Rente – reichlich,
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Maßnahmen zur Stabilisierung in der Rente – gar nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Politik nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“. Das ist unverantwortlich.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Herr Vogel, Sie haben zwei Minuten der Redezeit von Otto Fricke weggenommen. Er hat Ihnen den kleinen Finger gegeben, und Sie haben gleich zwei davon genommen.
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Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes kämpfen gerade um bessere Löhne. Ich sage öffentlich: Die Linke steht an der Seite dieser Menschen.
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Bundesinnenminister Seehofer, der Verhandlungsführer des Bundes, hat gestern früh angekündigt: Der Bund wird den Beschäftigten ein faires Angebot machen. – Ich hoffe, dass es keine leere Ankündigung ist. Diese Menschen brauchen schnell ein faires Angebot, ein Angebot, das ihren Leistungen wirklich entspricht.
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Es ist schon angesprochen worden: Der Einzelplan 11, also Arbeit und Soziales, ist der größte Einzelplan im Bundeshaushalt. Das ist schon immer so, und das hat auch gute Gründe. Ich finde, Kollege Vogel, die Rente mit einem Bundeszuschuss zu stützen, ist genau der richtige Weg. Das wird auch von der Linken unterstützt.
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Trotz alledem müssen wir uns fragen: Wird in dieser Situation das, was in den größten Einzelplan eingestellt wurde, auch ausreichen? Wenn wir uns einmal das Gesamttableau anschauen, dann sehen wir, welche Einzelpläne weniger bekommen sollen und welche aufwachsen. Es macht mich sehr besorgt, Kollege Heil, dass in Ihrem Einzelplan für das Jahr 2021 weniger drinsteht als für das Jahr 2020.
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Ich finde, das ist eine deutliche Schieflage. Hier muss sich etwas ändern.
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Wenn wir auf der anderen Seite sehen, wo mehr Geld hineingeschoben wird, dann ist das der Einzelplan 14, Verteidigung. Sie können es auch Aufrüstung nennen. Ich glaube, wir sollten im Laufe der Haushaltsberatungen dazu kommen, dass wir Geld für Rüstung umschichten und für soziale Absicherung verwenden.
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Es ist im Verlaufe der Debatte von mehreren Rednerinnen und Rednern darauf eingegangen worden, dass im Laufe der Krise – sie ist noch lange nicht vorbei, und niemand weiß, wie sich die Dinge weiterentwickeln – Unternehmen mit öffentlichen Geldern gestützt worden sind. Das ist aber sehr unterschiedlich angekommen. Ich werde auf einige Beispiele eingehen.
Das schlechteste Beispiel ist die Lufthansa. Hier wurden öffentliche Gelder in Höhe von 9 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, ohne eine einzige Bedingung zu stellen. Das darf sich nicht wiederholen.
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Jetzt hat die Lufthansa angekündigt, 22 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen. Entlassungen auf Staatskosten können wir niemals akzeptieren.
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Das Ergebnis wird sein, dass viele dieser Menschen in die Sozialsysteme müssen und wiederum finanziert werden.
Ich möchte mich kurz zu den Arbeitslosenzahlen äußern. Ich finde, Optimismus ist gut und wichtig, aber Realismus darf nicht fehlen. Es ist gesagt worden, die Arbeitslosigkeit sinkt etwas, und es sind Zahlen veröffentlicht worden. Ich will einmal Aufklärung leisten zu den veröffentlichten Zahlen. Die offizielle Arbeitslosenstatistik für September 2020 weist etwas über 2,8 Milliarden – Entschuldigung, Millionen; es ist ganz schlecht für eine Haushälterin, Millionen und Milliarden durcheinanderzubringen – Arbeitslose auf.
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– Ahnung braucht man nicht, man braucht Kenntnisse. Das ist der Unterschied.
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Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist aber viel höher. Ich will Ihnen einmal sagen, wer aus dieser Statistik herausgerechnet wird. Da sind Menschen, die älter als 58 Jahre sind und Arbeitslosengeld I oder II beziehen, nicht drin. Da sind 1-Euro-Jobber nicht drin. Da sind Menschen in geförderten Arbeitsverhältnissen nicht drin. Da sind fremd geförderte Arbeitsverhältnisse nicht drin usw. usw. Also, die eigentliche Arbeitslosigkeit liegt viel höher. Sie liegt bei 3,6 Milliarden, nein Millionen – schon wieder dieser Versprecher. Das ist viel zu viel. Das müssen wir ernst nehmen. Darum müssen wir uns kümmern.
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Meine Damen und Herren, vor uns liegt der Winter, die kalte Jahreszeit. Viele Leute haben sich noch mit Ersparnissen gerettet. Ich denke an die vielen kleinen Unternehmer, ich denke an Soloselbstständige, ich denke an die Veranstaltungsbranche. Das müssen wir ernst nehmen. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Darauf ist dieser Haushalt nicht vorbereitet.
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Letzte Bemerkung. Die große Frage, die über allem steht: Wer soll das bezahlen? Wir wollen nicht, dass Sozialleistungen gekürzt werden. Wir wollen, dass es endlich eine Vermögensabgabe gibt, Vermögensteuer, dass Steuerhinterziehung unterbunden wird, dass endlich die Cum/Ex-Betrüger zur Rechenschaft gezogen werden. Dann hätten wir auch genug Geld, um unser Land sozial zu gestalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Ekin Deligöz.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Wir beraten heute über den größten Einzeletat mit einem Volumen von 164 Milliarden Euro. Das ist aber leider im Moment einer der Etats mit den größten Unsicherheiten;
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denn wir wissen nicht, wie sich die Pandemie fortsetzen wird und welche Kosten, insbesondere Sozialkosten, noch auf uns zukommen. Von daher können wir jetzt noch nicht von einer abschließenden Summe reden.
Aber eine Sache, Herr Vogel, weil ich nun einmal die Haushälterin bin: Tatsächlich sinkt dieser Etat um 7 Milliarden Euro, weil Sie ihn nämlich nicht nur für das Jahr 2020, sondern auch für das Jahr 2021 coronabereinigen müssen. Dann ist er nämlich nicht höher, sondern niedriger.
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Ich finde es, ehrlich gesagt, auch richtig, Herr Minister, was Sie uns in den vergangenen Monaten als Antwort auf Corona vorgelegt haben. Aber wir Grüne haben im Laufe des Verfahrens ein paar Vorschläge gemacht. Und diese Vorschläge haben nach wie vor eine wichtige Gültigkeit. Ich möchte zwei davon noch einmal vorstellen, weil sie auch für die Zukunft Bedeutung haben:
Erstens: Kurzarbeitergeld. Wir Grüne fänden es besser, wenn die Höhe des Kurzarbeitergeldes nach dem Einkommen gestaffelt wäre, das heißt,
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Menschen mit einem geringeren Einkommen sollten eine höhere Lohnersatzrate kriegen, und zwar von Beginn an. Mit dem steigenden Einkommen wird die Lohnersatzrate abschmelzen. Das würde Menschen in Kurzarbeit vor Armut schützen. Das ginge sofort und wäre effektiv.
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Zweitens. Wir sind der Meinung, dass Menschen in der Grundsicherung einen Zuschlag zum Regelsatz erhalten sollten. Gerade in den schwierigen Zeiten von Corona müssen wir diesen Menschen größere Handlungsspielräume zuerkennen, damit auch sie durch diese Krise kommen und damit auch sie handeln können.
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Ehrlich gesagt, mein Zutrauen, dass die geplante Erhöhung ab Anfang 2021 in Höhe von 14 Euro das Problem wettmacht, ist gleich null. Ich glaube, da müssen wir mit anderen Berechnungsmethoden arbeiten.
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Bei den Jobcentern mache ich mir übrigens Sorgen. Sie haben die Höhe der Eingliederung genauso veranschlagt wie in der Zeit vor Corona. Wir wissen aber, dass der höchstwahrscheinliche Bedarf steigen wird. Wir wissen auch, dass womöglich mehr Menschen darauf zugreifen werden. Deshalb ist es genau der falsche Punkt, wenn Sie an den Eingliederungen sparen.
Es gibt aber noch einen zweiten großen Etat. Das sind bei Ihnen die Rentenfinanzen. Ja, es stimmt, Sie handeln in diesem Feld wirklich nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“.
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Sie haben die Demografievorsorge in Höhe von 2 Milliarden Euro in Ihrem Etat verschwinden lassen, Sie haben sie gestrichen.
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Jetzt können Sie sagen: Na ja, so wichtig ist das nicht. – Aber es ist sehr wohl wichtig,
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zumindest haben Sie es uns bisher als bedeutend wichtig verkauft.
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Zeitgleich summiert sich in der Rentenkasse die Mütterrente inzwischen auf eine Summe von stolzen 50 Milliarden Euro, die zusätzlich obendrauf kommen. Das muss alles erst einmal finanziert werden, in diesem Fall von den Beitragszahlern.
({10})
Oder schauen Sie sich die Grundrente an. Sie sagen jetzt, 400 Millionen Euro können Sie von der globalen Minderausgabe aus Ihrem Etat gegenfinanzieren, einem Etat, der vorwiegend aus gesetzlichen Pflichtleistungen besteht. Es ist doch albern, was Sie uns da vorlegen. Und das soll dann auch noch für ein paar Jahre so weitergehen. Woher wollen Sie denn das Geld nehmen? Wir haben gesetzliche Leistungen, die wir erfüllen müssen. Sie haben dieses Instrument lange vorgeplant, über mehrere Jahre, und deshalb haben Sie es bitte schön auch solide zu finanzieren. Das ist das Mindeste, was Sie uns hier hätten vorlegen müssen.
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An dieser Stelle wird ja die Gegenfinanzierung kritisiert. Sie von der Union kritisieren nicht die Finanzierung, Ihnen gefällt eigentlich das ganze Instrument nicht. Dank der Union ist es auch zu einem Bürokratiemonster geworden. Dank ihr ist die Rentenkasse mehrfach belastet; denn bei der Grundrente führt die Union die Finanzierung zwar als Problem auf, bei der Mütterrente hat das für sie aber überhaupt keine Rolle gespielt, und da sind die Kosten um ein Vielfaches höher als das, was für die Grundrente notwendig ist.
({12})
Eigentlich wollte ich mit der Rente abschließen, aber erlauben Sie mir noch ein Wort, Herr Präsident.
Vorhin fiel hier der Satz, dass Migranten kein Hartz IV bekommen sollten. Das hat mich persönlich sehr bewegt. Wir haben vorhin die Debatte über die deutsche Einheit geführt. Ich bin ein Migrantenkind. Meine Eltern, meine Großeltern und die vielen Migranten in diesem Land wurden als Arbeitskräfte hierhergerufen. Sie haben gearbeitet, sie haben Steuern gezahlt, sie haben in die Sozialkassen hineingezahlt.
({13})
Sie haben dieses Land mit aufgebaut, sie waren mit dabei, als es darum ging, die deutsche Einheit solidarisch umzusetzen; sie sind ein Teil dieses Landes, und, ja, auch wir Migrantenkinder und unsere Eltern sind das Volk. Und damit gehen Rechte und nicht nur Pflichten einher – auch das Recht, ein Teil des Sozialsystems zu sein.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Kerstin Tack.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt 2021 ist ein ungewöhnlicher Haushalt; denn er liegt in einer sehr ungewöhnlichen Zeit vor.
Ja, es ist richtig, wenn wir alle immer wieder sagen, dass es für unser Land in dieser Krisensituation eine vernünftige Aufstellung gegeben hat, aber das hatte ja eine Ursache. Die Ursache war, dass wir einen starken und handlungsfähigen Staat hatten, der bereit war – auch durch weitere Unterstützung, aber eben auch aus sich heraus –, diese Krise zu bewältigen – stärker, als es in manch anderen Ländern der Fall war. Das ist nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis handelnder Politik.
({0})
Deswegen ist diese ganze Mär vom schlanken Staat, wie wir sie in den letzten Jahren immer wieder gehört haben, jetzt, denke ich, auch nur noch von Traumtänzern aufrechtzuerhalten, und wir hoffen sehr, dass wir diese Debatte jetzt endlich überwinden und sagen können: Nur ein handlungsfähiger, starker und sozialer Staat ist in der Lage, auf Krisen mit Schutz und Sicherheit für die Menschen und für die Unternehmen in diesem Land adäquat zu reagieren. Deshalb ist es gut, dass wir ihn stark gehalten und noch gestärkt haben.
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Es war gut und richtig, dass wir die Kurzarbeit nicht nur gemeinsam eingeführt und verlängert, sondern auch stark gemacht haben. Frau Kollegin, wenn ich das sagen darf: Es ist den Grünen ja auch bekannt, dass es in der Gesamtheit dieser Krise nicht administrierbar ist, daraus eine Staffelung zu machen, bei der jeder einzeln angeguckt werden muss. Das ist ja auch von der BA mehrfach gesagt worden.
Genauso wenig, wie das in dieser Zeit passend ist, ist es auch nicht passend, den Menschen in Kurzarbeit, denen wir Respekt für den Teil der Arbeit zollen, den sie trotz Kurzarbeit sehr häufig noch leisten, Faulheit zu unterstellen. Ich finde, das ist der Menschen nicht würdig, das ist unserer Politik nicht würdig, und das ist respektlos.
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Es war und ist auch richtig, dass wir mit den Sozialschutzpaketen auch und gerade die soziale Arbeit in diesem Land in der Krise nicht haben fallen lassen, sondern wir wollen auch nach der Krise eine Infrastruktur vorfinden.
Es war und ist richtig, dass wir mit dem Kinderbonus auch und besonders Familien stärken – auch die Kinder, die eben im Hartz-IV-Bezug sind.
Es war und ist richtig, dass wir mit Qualifizierung und Weiterbildung gerade die Zeit der Krise nutzen, um die Menschen auch auf die Herausforderungen vorzubereiten, die in den nächsten Jahren auf sie zukommen.
Es war und ist auch richtig, dass wir uns insbesondere die Behindertenhilfe, die Inklusionsbetriebe, die Sozialkaufhäuser, die sozialen Unternehmen angeguckt und sie mit eigenen Rettungsschirmen belegt haben, um sie sicher und fest durch diese Krise durchkommen zu lassen.
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Es ist handelnde Politik, die das ermöglicht hat.
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Es war und ist auch richtig, dass wir uns mit dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz einen Rahmen gegeben haben, der es ermöglicht, den Tarifvertrag der Pflege, den wir hoffentlich in den nächsten Wochen vorgelegt bekommen, auch für allgemeinverbindlich zu erklären; denn wenn eines richtig ist, dann das: Diese Krise hat gezeigt, dass genau diese Arbeitsgruppe ganz besonders betrachtet werden muss. Wir freuen uns darauf, dass wir hier mit den Sozialpartnern ein deutliches Stück weitergekommen sind, und wir hoffen, dass wir deshalb noch in dieser Legislatur eine Allgemeinverbindlichkeit herstellen können. Dabei wünschen wir dem Arbeitsminister viel Glück.
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Es war und ist genauso richtig, dass wir mit der Grundrente, die zum 1. Januar des nächsten Jahres in Kraft tritt, Respekt und Anerkennung für die Arbeits- und Lebensleistung der Menschen aussprechen, die neben ihrer Arbeit ganz häufig Sorgearbeit geleistet haben, die nicht vergütet ist, weil wir nicht partnerschaftlich aufgestellt waren und wir keine Betreuungssituation haben, die hier eine gute Abhilfe geschaffen hätte. Deshalb freuen wir uns, dass wir mit der Grundrente – das ist im Übrigen gut angelegtes Geld – hier im nächsten Jahr stark und deutlich sagen – auch das ist in der Krise wichtig –: Wir erkennen die Lebens- und Arbeitsleistung der Menschen an, die lange gearbeitet und eingezahlt haben und trotzdem von dieser Rente nicht leben können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will am Ende meiner Rede einen Dank an die Mitarbeitenden der Bundesagentur für Arbeit sagen; denn was sie geleistet haben – insbesondere mit der Kurzarbeit –, ist etwas, was vor der Krise viele in diesem Land dieser Organisation gar nicht zugetraut haben.
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Ich will mich da ganz herzlich bedanken.
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Ich will mich auch bei den Jobcentern bedanken,
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die gerade im Zusammenhang mit dem vereinfachten Zugang eine sehr gute Beratung geleistet und ein Höchstmaß an Kompetenz bewiesen haben.
Last, but not least will ich mich auch beim BMAS für die Arbeit der letzten Monate bedanken. Wir alle wissen, was tage- und nächtelang in Ihrem Hause passiert ist, Herr Minister, und ich würde mir wünschen, dass Sie den Dank meiner Fraktion – ich nehme wahr: auch anderer Fraktionen – mitnehmen könnten. Das war eine großartige Leistung. Ganz herzlichen Dank.
Und Ihnen allen: Schönes Wochenende!
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Vielen Dank. – Nächster Rednerin ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! Wir beraten heute mit dem Etat für Arbeit und Soziales, für den rund 134 Milliarden Euro veranschlagt wurden, den wie immer größten Einzeletat des Bundes. Damit besteht ein Löwenanteil der Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes schlicht aus sozialen Transferleistungen.
Selbstverständlich finden wir im aktuellen Haushaltsplan des BMAS auch Ausgaben, die sich durch die Coronakrise erklären lassen – Stichwort: Kurzarbeitergeld. Wir sollten aber nicht so tun, als ob die Coronapandemie der Hauptgrund dafür ist, dass der Bund heute, wie auch schon in der Vergangenheit, jegliche haushaltspolitische Verantwortung zugunsten kurzfristiger Effekte und zulasten der kommenden Generationen über Bord wirft.
Von 2012 bis 2015, also lange, bevor es Corona als Alibi für Ihr sozialpolitisches Handeln überhaupt gab, stiegen die jährlichen Transferleistungen in Deutschland um unglaubliche 91 Milliarden Euro. Das heißt, die Einnahmen aus der damals guten Beschäftigungslage wurden eben nicht für Schuldentilgung, wie es dringend notwendig gewesen wäre, und auch nicht für öffentliche Investitionen verwendet. Stattdessen wurden ständig neue sozialpolitische Ansprüche und Leistungen geschaffen. Die Rente mit 63 ist da nur ein Beispiel – oder aktuell die Grundrente.
Das ist der Grund, warum die vor jeder Wahl versprochene steuerliche Entlastung der arbeitenden Mittelschicht niemals kommen wird. In diesem System sind Steuer- und Beitragserhöhungen ebenso sicher eingepreist wie die Einnahmen aus der faktischen Enteignung der Kleinsparer durch die EU-Niedrigzinspolitik.
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Das heißt, wenn wir über den Haushalt sprechen, sollten wir uns auch daran orientieren, ob diese Ausgaben zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Stabilität beitragen oder wie üblich nur dazu dienen, die Folgen politischer Untätigkeit zu verkleistern. Ich denke zum Beispiel an die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, wovor Wirtschaftsverbände mit Recht gewarnt haben, oder an die nun notwendige Verlängerung der Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld. Wer aber wie Sie, Herr Heil, die Kurzarbeit geradezu lyrisch als „Brücke über ein tiefes wirtschaftliches Tal“ beschreibt, der sollte sicher sein, dass am anderen Ende der Brücke fester Boden auf ihn wartet.
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Im Haushalt sind Ausgaben transparent und nachvollziehbar darzustellen. Sie, Herr Heil, haben immer wieder beteuert, dass die Grundrente zu keinem Anstieg versicherungsfremder Leistungen führen darf, sondern aus Steuermitteln finanziert werden wird – so weit, so gut –, aber die Finanzierung des Ganzen versteckt sich in ungenau abgerechneten Bundeszuschüssen und einer globalen Minderausgabe. Damit alle das nachvollziehen können: Sie planen Ihren Haushalt bereits jetzt mit Einsparungen, damit die Grundrente vielleicht finanzierbar wird. Der restliche Betrag, der aus Steuerzuschüssen gezahlt werden soll, wird in den zusätzlichen Zuschuss gepackt, ohne ihn konkret auszuweisen. Wie soll denn dann nachvollzogen werden, ob die Grundrente ausreichend finanziert ist? Warum machen Sie sich nicht ehrlich und führen ähnlich wie bei den Kindererziehungszeiten einen neuen Titel dafür ein? Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit, darauf kommt es an.
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Der Bundesrechnungshof hat in seiner Stellungnahme zu den KdU-Leistungen bemängelt, dass die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen oft mehr als doppelt so hoch liegen wie die ortsübliche Vergleichsmiete. Medienberichten zufolge kassierte die Firma Comtact 125 000 Euro pro Monat für die Unterbringung von Flüchtlingen, obwohl die Unterkunft monatelang leer stand. Der Inhaber der Firma ist übrigens Ihr Kollege, Minister Heil, nämlich der sozialpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern. Es ist das Verdienst des Bundesrechnungshofes, solche Missstände aufzudecken. Es ist deswegen kaum zu glauben, dass die Prüfbefugnisse des Bundesrechnungshofes mit der Änderung des Grundgesetzes eingeschränkt werden sollen. Damit wird den Trägern einfach mehr Geld zur Verfügung gestellt, anstatt Fehlverhalten zu bestrafen.
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Die Bundesagentur für Arbeit bekam 2020 ein 9,3-Milliarden-Euro-Darlehen, das höchstwahrscheinlich nicht zurückgezahlt werden muss, plus 5,5 Milliarden Euro zur Unterstützung im Bereich ALG II. In 2021 sind Sie wenigstens ehrlicher und geben der Bundesagentur für Arbeit einen Zuschuss in Höhe von 3,1 Milliarden Euro und verzichten gänzlich auf die Vergabe von Darlehen.
({4})
In 2020 wurden die KdU-Leistungen bereits um 5,4 Milliarden Euro erhöht, und in 2021 werden dafür nochmals 11 Milliarden Euro bereitgestellt.
Allein in 2020 führten die Coronamaßnahmen also zu einer Mehrbelastung von rund 20,2 Milliarden Euro im Einzelplan des BMAS. Zahlen müssen das die Menschen mit ihren Steuergeldern, Menschen, von denen viele schon heute nicht mehr wissen, wo das Geld für den nächsten Monat herkommen soll.
Stand Juni haben wir 5,36 Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit abgerechnet. Momentan ist das Insolvenzrecht faktisch ausgesetzt. Was passiert, wenn diese Aussetzung aufgehoben wird, wenn dann die Unternehmen anfangen, Insolvenzen infolge überzogener Coronamaßnahmen anzumelden? Welche katastrophalen Folgen wird das für die Arbeitslosigkeit in Deutschland haben? Wir von der AfD haben davor gewarnt. Wir haben bereits beim ersten Nachtragshaushalt gefordert, dass die Maßnahmen laufend evaluiert werden und wir schnellstmöglich wieder zur Normalität zurückkehren sollten.
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Sie wollten das nicht, Sie haben das verhindert. Der immense Mehrbedarf im Einzelplan 11, über den wir heute reden, ist deshalb die Folge Ihrer kurzsichtigen Politik. Das ist die Wahrheit, und zu der sollten Sie stehen.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Lezius von der Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch vor einem Jahr blickten wir, auch dank der erfolgreichen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition, auf hervorragende Eckdaten: Die Arbeitslosigkeit hatte sich um ein Drittel reduziert, Millionen neuer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen sind entstanden und die Bruttolöhne um mehr als ein Viertel gestiegen.
Die Verbreitung des Covid-19-Virus Ende letzten Jahres und die Entwicklung der Pandemie stellt für uns alle eine Zäsur dar. Der Staat und alle Bürger waren schon lange nicht mehr so gefordert wie heute. Der Bundestag hat schnell gehandelt, damit den Betroffenen zügig geholfen werden kann. Die Verwaltungen des Bundes und der 16 Bundesländer sowie der Städte und Kommunen arbeiten seit März dieses Jahres mit Hochdruck daran, dass die Hilfen vor Ort beantragt werden können und die Empfänger umgehend erreichen. Auch mein Dank, genauso wie der meiner Vorrednerin Kerstin Tack und meiner Vorredner, gilt den Mitarbeitern der Arbeitsagenturen und Jobcenter, die dafür gesorgt haben, dass Sozialleistungen weiter pünktlich gezahlt und die Anträge auf Kurzarbeitergeld trotz aller Umstände effizient bearbeitet wurden.
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Die Agentur für Arbeit zahlt das Kurzarbeitergeld als teilweisen Ersatz für den durch einen vorübergehenden Arbeitsausfall entfallenen Lohn. Der Arbeitgeber wird dadurch bei den Kosten der Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet. So können Unternehmen ihr Personal bei Auftragsausfällen weiter beschäftigen. Das Kurzarbeitergeld hilft damit, Kündigungen zu vermeiden, und ist eine der wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in dieser Krise.
Durch das Sozialschutz-Paket I und II haben wir weitere Erleichterungen geschaffen. Ein Betrieb kann bereits früher Kurzarbeit beantragen, und Leiharbeiter können Kurzarbeitergeld beziehen. Die Sozialversicherungsbeiträge, die Arbeitgeber für ihre kurzarbeitenden Beschäftigten allein tragen müssen, werden durch die Bundesagentur für Arbeit in pauschalierter Form erstattet. Für Beschäftigte, deren Arbeitsentgelt um mindestens die Hälfte reduziert ist, haben wir eine Verbesserung eingeführt: Für sie wurde das Kurzarbeitergeld deutlich erhöht.
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Auch können Arbeitnehmer während der Kurzarbeit eine Weiterbildung absolvieren und werden hierbei durch Zuschüsse gefördert. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, den Arbeitsmarkt zu stabilisieren und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Sie sind eine Brücke in die Zeit der wirtschaftlichen Erholung, Frau Schielke-Ziesing.
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Darüber hinaus haben wir den Zugang zur Grundsicherung für Arbeitsuchende und auch den Zugang zur Sozialhilfe erleichtert.
Der vorliegende Haushaltsentwurf steht verständlicherweise auch im Zeichen der Coronapandemie. Der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der größte Etat des Bundeshaushaltes, wird sich voraussichtlich von den ursprünglich geplanten 150 Milliarden Euro auf 164 Milliarden Euro erhöhen; erfreulicherweise weniger, als der coronabedingte Nachtragshaushalt für 2020 vorgesehen hatte.
Frau Lezius, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron?
Nein, ich möchte gern fortführen. – Der größte Posten ist die Rente. 106 Milliarden Euro entfallen auf Leistungen an die Rentenversicherung und rund 8,3 Milliarden Euro auf die Beteiligung des Bundes an der Grundsicherung im Alter und bei der Erwerbsminderung. So entlasten wir die Kommunen. Einen ebenfalls großen Anteil machen die Leistungen nach dem Zweiten und Dritten Buch Sozialgesetzbuch aus. Für arbeitsmarktpolitische Leistungen und Programme stellt der Bund zusätzlich zu den Mitteln der Bundesagentur für Arbeit 48 Milliarden Euro zur Verfügung. Davon entfallen 44 Milliarden Euro auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dazu gehören Ausgaben in Höhe von 23,4 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II. Für die Beteiligung des Bundes an den Leistungen für Unterkunft und Heizung sind 11 Milliarden Euro und für Leistungen für Eingliederung in Arbeit 5 Milliarden Euro eingeplant. Damit stehen konstant hohe Beträge für den flexiblen und bedarfsorientierten Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und für eine passgenaue Unterstützung bereit.
Wichtig ist mir auch ein kleinerer Posten – er wurde heute schon angesprochen – mit hoffentlich großer Wirkung: die Mittel zur Einführung der digitalen Rentenübersicht. Bürgerinnen und Bürger sollen zukünftig individuelle Informationen über ihre Altersvorsorgeansprüche auf einem internetbasierten Portal abrufen können. Im Jahr 2021 sind hierfür 6 Millionen Euro veranschlagt. Damit setzen wir ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um, das den Bürgern eine bessere Übersicht über ihre späteren Bezüge bereitstellen wird.
Für die Umsetzung der KI-Strategie für die Jahre 2021 bis 2024 stehen insgesamt 78 Millionen Euro bereit. Die Mittel dienen der Entwicklung und Anwendung von künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Haushaltsentwurf spiegelt die Auswirkungen der Coronapandemie auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt wider. Bereits die aktuellen Zahlen vom September zeigen leichte Zeichen der Besserung. Auch die neuesten Konjunkturaussichten fallen wieder positiver aus. Wenn die Wirtschaftsleistung wie prognostiziert im nächsten Jahr um 3,2 Prozent zulegt, wird mit einem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um circa 100 000 im Jahresdurchschnitt gerechnet, so eine Studie des IAB.
Wichtig ist dann auch, so schnell wie möglich aus der Kurzarbeit wieder herauszukommen. Die erfolgreiche Maßnahme dient nicht zur Sicherung des Lebensstandards; sie hat den vorrangigen Zweck, das Überleben der Unternehmen in einer Krise zu sichern und so Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Mitnahmeeffekte gehen letztendlich zulasten der Beitragszahler. Dort, wo Kurzarbeit weiterhin notwendig ist, sollte die freigewordene Zeit möglichst für Weiterbildung genutzt werden. Hierfür stehen Förderungsmöglichkeiten bereit. Denn dann kann die Krise tatsächlich zu einer Chance werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Arbeitswelt ist einem stetigen Wandel unterworfen. Es ist unser aller Aufgabe, diesen Wandel zu gestalten. Durch die Coronapandemie sind innerhalb von Tagen und Wochen ganz neue Herausforderungen auf uns zugekommen. Millionen Beschäftigte haben sich in kürzester Zeit auf eine digitalere Form der Arbeit, oft von zu Hause aus, umgestellt. Millionen Beschäftigte mussten und müssen immer noch mit weniger Geld auskommen. Arbeitsuchende haben es schwerer, einen Arbeitsplatz zu finden. Der Beginn der Ausbildung ist mit Unwägbarkeiten verbunden. Dass es dennoch gelungen ist, die größten Härten abzufedern und Beschäftigung zu sichern, zeigt: Deutschland ist ein leistungsstarker Sozialstaat.
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Gerade in der Krise ermöglicht uns das gute Wirtschaften der letzten Jahre Handlungsspielräume, sorgen unsere solidarischen Sicherungssysteme für gegenseitige Unterstützung. Der Haushaltsentwurf 2021 zeigt, dass wir diesen Weg weitergehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Otto Fricke.
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Geschätzter Herr Vizepräsident! Herzlichen Dank auch noch für die vier Minuten.
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– Ja, ich finde, wenn man einem Kollegen eine Minute geben kann, der dann eine solch klare Rede zu der schlechten Situation des Einzelplanes hält, ist das eine gut investierte Minute; das ist doch wunderbar.
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– Das ist jetzt interessant: Soziale Verantwortung heißt, zu geben. Und für euch ist das etwas, worüber ihr lacht. Ich glaube, es ist doch ganz klar: Wenn man gibt, ist das immer seliger, als einfach nur zu nehmen.
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Meine Damen und Herren, was ist die wichtigste Aufgabe von Sozialpolitik in der Krise? Und wir sind in einer Krise. Hubertus Heil hat das leider nicht gesagt. Der Finanzminister hat ausdrücklich festgestellt: Wir sind in einer Notsituation. – Das ist also eine klare Beschreibung einer Krise. Was ist die Hauptaufgabe? Der Sozialstaat muss an der Stelle nichts Neues versprechen, nicht die Zukunft irgendwie malen. Er muss das Hier und Jetzt sichern, er muss das Vertrauen der Bürger in einen Sozialstaat stärken. Das wäre die Aufgabe gewesen; darüber hätten wir reden müssen.
Was ich aber von der Koalition und von der linken Seite des Hauses höre – genauso übrigens auch von der rechten –, ist nur: Was muss noch mehr kommen? Was müssen wir in Zukunft machen? Wie viel werden wir noch ausgeben?
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Das ist falsch. Denn Vertrauen kann man ganz schnell zerstören, wenn es im Hier und Jetzt nicht funktioniert. Vertrauen ist etwas, was auf dem Rücken eines Pferdes verschwindet und zu Fuß zurückkommt. Das darf unserem Sozialstaat nie wieder passieren, Herr Minister.
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Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Wir müssen vernünftig haushalten. Wir müssen genau sehen, was geht und was nicht geht. Man kann darüber streiten, was gut oder schlecht ist. Aber man zieht im Zweifel am besten einfach die Arbeit des Bundesrechnungshofes heran; das empfehle ich den Sozialpolitikern in diesem Hause. Der Bundesrechnungshof hat – das ist wie ein Stakkato – am 2. September zu den Leistungsgrenzen der Rentenversicherung etwas gesagt; er hat uns am 17. September zu dem Handlungsspielraum der Rentenversicherung einen Bericht gegeben und am 18. September etwas zum verlässlichen Generationenvertrag gesagt.
Wer diese Berichte des Rechnungshofes liest, dem muss es grauen, der muss sich schütteln angesichts der Frage: Was machen wir eigentlich, wenn diese Koalition am Ende ist? Ich kann es Ihnen sagen: Es wird ein Heulen und Zähneklappern geben und am Ende leider dann auch noch Steuererhöhungen. Das ist das, was diese Regierung gerade für uns hinterlassen will.
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– Ja, ich weiß: Neuverschuldung ist für euch in Ordnung; mehr Schulden sind für euch in Ordnung. Ihr werdet im Zweifel sogar noch sagen: Es gibt ja immer nur Nullzinsen oder Minuszinsen.
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– Ja, da kommt es wieder. – Die linke Seite des Hauses hat weder das Sinken der Zinsen vorhergesagt, noch ist sie in der Lage, zu sagen, wie sich die Zinsen in Zukunft entwickeln. Darauf kann man keine Politik aufbauen, außer man ist in einer solch extrem linken Opposition. Das will ich hier deutlich sagen.
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Ein verlässlicher Generationenvertrag wäre dann möglich, meine Damen und Herren, wenn Leistungen nicht immer weiter ausgeweitet worden wären. Im Endeffekt ist es so: Wir werden durch die Leistungsausweitung der Großen Koalition bis 2025 180 Milliarden Euro zusätzliche Ausgaben haben. 180 Milliarden Euro: Das ist die Hälfte eines normalen Jahreshaushaltes. Das sind die Werte, mit denen diese Regierung hier um sich schmeißt, um zu sagen: Wir sind im Hier und Jetzt. Wählt uns 2021 bitte schön noch mal! Was danach kommt, wissen wir zwar nicht, aber im Hier und Jetzt ist doch alles wunderbar.
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Meine Damen und Herren, zum Schluss im Einzelnen noch ein paar Zahlen von einem Haushälter: 2012 gingen 66 Prozent aller Ausgaben im Einzelplan 11 in das Rentenkapitel, also zwei Drittel. 2024 werden es drei Viertel dieses Einzelplanes sein.
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– Ja, natürlich ist das logisch, wenn man nichts ändert und immer weiter ausgibt. Ihr habt es einfach nicht kapiert. Ihr auf der linken Seite werdet es auch nie kapieren. – Das bedeutet: Es ist nicht mehr ein Haushalt für Arbeit und Soziales; es ist ein Haushalt für Rente und Sonstiges. Das kann doch nicht die Zukunft unseres Landes sein, wenn wir an zukünftige Arbeit denken.
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Was mich – das will ich zum Schluss sagen – am allermeisten ärgert, ist: Wir haben einen Trend, den Sozialstaat immer mehr über die Steuern und den Haushalt und immer weniger über die Beitragszahler zu finanzieren. Was wird das eigentlich für die Tarifpartner bedeuten? Was wird das eigentlich für das Verhältnis des Staates zur Arbeit – zu Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern – bedeuten? Es wird – mithilfe der CDU – in den nächsten Jahren wie schon in den letzten Jahren eine Verstaatlichung der Arbeit und der Rente bedeuten und einen anderen Staat als den, der uns vorher so weit vorangebracht hat.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Susanne Ferschl.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Diesem Haushalt fehlt der Mut und der Wille zur sozialen Gerechtigkeit. Wir sind der Meinung, es muss dringend nachgebessert werden.
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Für die Ärmsten hat diese Bundesregierung nichts übrig. Gerade um mickrige 14 Euro soll der Hartz-IV-Satz erhöht werden. Sie halten weiterhin an den Rechentricks fest, um ihn künstlich kleinzuhalten, und verwehren damit den Ärmsten in dieser Gesellschaft die Teilhabe daran. Das werden wir als Linke niemals akzeptieren.
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Rechnet man mit der gleichen Systematik ehrlich, dann kommt man auf einen Regelsatz von 658 Euro statt 446 Euro. Und das ist doch das Mindeste, was als Existenzminimum im Haushalt festgeschrieben werden muss.
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Durch den massiven Arbeitsplatzabbau – da kommt in der Automobilindustrie noch einiges auf uns zu – sind auch immer mehr Menschen von Hartz IV bedroht. Deswegen brauchen wir eine ganz klare Strategie zur Transformation, zum Erhalt der Arbeitsplätze. Wir brauchen aber auch eine Stärkung der Arbeitslosenversicherung. Sie schmeißen im Rahmen von Kurzarbeit lieber Milliarden an Sozialversicherungsbeiträgen an die Unternehmen raus, die dann auch noch die Frechheit besitzen, das über Dividendenzahlungen wieder an die Aktionäre zurückzuführen. Das ist inakzeptabel.
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Warum werden solche Zahlungen nicht an Bedingungen, an Arbeitsplatzgarantien und an wirkliche Qualifizierungsmaßnahmen geknüpft?
Bei der Rente haben wir eine ähnliche Lage wie bei Hartz IV. Das Rentenniveau ist doch nicht zufällig auf 48 Prozent gerutscht. Nein, verschiedene Bundesregierungen haben sich an der Rentenformel vergriffen und das Niveau nach unten gerechnet. So schützt die Rente weder vor Altersarmut noch sichert sie den Lebensstandard.
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Aufgrund nicht steigender Löhne wird es voraussichtlich im nächsten Jahr eine Nullrunde für die Rentnerinnen und Rentner geben. Deswegen wäre es jetzt an der Zeit, sämtliche Kürzungen aus der Rentenanpassungsformel zu streichen und das Rentenniveau wieder auf 53 Prozent festzuschreiben.
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Statt kleiner Reformschrittchen wie der sogenannten Grundrente brauchen wir endlich eine richtige Rentenreform.
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Wir brauchen eine Erwerbstätigenversicherung, in die auch Politiker und Selbstständige mit einzahlen, und wir brauchen eine Mindestrente als unterste Auffanglinie.
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Mir ist schon klar, dass das mit der Union natürlich nicht zu machen ist.
An der Stelle vielleicht ein Wort noch zu den Damen und Herren auf der rechten Seite des Hauses: Sie sollten zum Thema Rente den Ball mal ganz flach halten.
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Sie haben sich ja noch nicht mal entschieden, ob Sie die gesetzliche Rentenversicherung überhaupt beibehalten wollen.
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Alle Fraktionen hier im Haus haben ein Konzept vorgelegt, nur Sie sind völlig blank wie an ganz vielen Ecken und Enden.
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Aber das Grundübel in diesem Land – mal ganz abgesehen von der AfD –, das sind die zu niedrigen Löhne. Hätten wir höhere Löhne, dann hätten wir höhere Renten und insgesamt stabilere Sozialversicherungen. Das würde auch den Haushalt entlasten.
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Sie bezahlen aber lieber jedes Jahr Milliarden an Aufstockungszahlungen und subventionieren damit die Arbeitgeber, die ihr Geschäftsmodell auf Billiglöhnen aufgebaut haben.
Als langjährige Betriebsrätin kann ich Ihnen nur sagen: Wir können uns prekäre Beschäftigung nicht länger leisten.
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Machen Sie Schluss mit Leiharbeit, Minijobs und Befristungen!
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Erhöhen Sie den Mindestlohn auf wenigstens 12 Euro, und stärken Sie über die Pflege hinaus die Tarifbindung!
An der Stelle gehen unsere solidarischen Grüße an die Kolleginnen und Kollegen, die streiken: im öffentlichen Dienst, in der bayerischen Milchwirtschaft, im ÖPNV.
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Die kämpfen nämlich für höhere Löhne, und das ist auch wirtschaftlich angebracht.
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Die soziale Spaltung in diesem Land nimmt zu, und Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, müssen endlich die Frage beantworten: Wer bezahlt die Rechnung für diese Krise?
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Wir sagen: Sie müssen endlich die Reichsten in diesem Land zur Kasse bitten, nicht wieder die Ärmsten, nicht wieder die Rentnerinnen und Rentner und nicht die Beschäftigten. Geld ist genug da in diesem Land – es ist nur falsch verteilt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Kurth.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass diese Krise mehr ist als nur eine Gesundheitskrise. Diese Coronakrise legt offen, dass wir in einer Zeit des Wandels, in einer Zeit der unumkehrbaren Veränderung leben. Die großen Schwungräder der gesellschaftlichen Veränderung – Digitalisierung, demografischer Wandel und die Auseinandersetzung mit der existenzgefährdenden Klimaerhitzung – waren natürlich schon vorher da. Aber nun verdichtet sich angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung der Eindruck, auch in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, dass es keine Rückkehr in die Welt von gestern gibt.
Beispielsweise haben Firmen und Großkonzerne die Erfahrung gemacht, dass sie bei Dienstreisen Hunderte von Millionen einsparen können, wenn ihre Angestellten für ein halbtägiges Meeting nicht mehr um den halben Globus fliegen. Das wird auch nicht mehr so zurückkommen. In vielen anderen Bereichen ist dies ähnlich oder genauso.
Das kann uns einerseits vielleicht beklemmen; aber das bietet uns auch Chancen und Möglichkeiten.
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Denn wir wollen eine Welt qualitätvoller Arbeit, nachhaltiger Produktion, nachhaltiger Dienstleistungen und menschenwürdiger Lebensbedingungen – dort wollen und müssen wir hin.
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Daran haben uns auch erst letzte Woche wieder die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen erinnert, die bei Fridays for Future auf die Straße gegangen sind und zu Recht gesagt haben: Wenn ihr nichts tut, dann klaut ihr uns die Zukunft, und darum sind wir laut!
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Was bedeutet dies hier für uns hinsichtlich des Etats für Arbeit und Soziales? Das bedeutet, dass wir einen ganz anderen Blick, einen strukturell anderen Blick auf das Thema Sicherheit haben müssen, und damit auf universelle, inklusive und solidarische Systeme sozialer Sicherung.
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Denn nur, wenn es eine Verlässlichkeit in der Absicherung gibt, werden die Menschen diesen Wandel mitgehen, und nur dann, sehr geehrter Johannes Vogel, werden sie im Übrigen auch Risiken auf sich nehmen, selbstständig werden und sich als Freelancer auf den Weg machen.
Gerade die Selbstständigen beispielsweise merken jetzt, was für einen Wert eine Sozialversicherung auch für sie hätte,
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was es für einen Wert hätte, wenn sie in der gesetzlichen Rentenversicherung wären. Dann würden nämlich ihre Ansprüche insolvenzgeschützt und pfändungssicher sein. Sie würden auch gerne leichter in der Arbeitslosenversicherung unterkommen; dann hätten sie jetzt eine solide Einkommensversicherung in der Krise.
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Ich teile ja Ihre Analyse, dass die Bundesregierung leider bei ihren Soforthilfen nicht den Lebensunterhalt von Selbstständigen mit bedacht hat; da sind wir völlig einig. Aber die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, ist eine andere als die, die Sie ziehen.
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Wir wollen nämlich mit der Bürgerversicherung eine universelle soziale Sicherung, mit der eben auch die Selbstständigen geschützt sind.
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Die Rentenversicherung ist keine Versicherung gegen Altersarmut. Auch sie ist in erster Linie eine Einkommensversicherung, die den Menschen Sicherheit gibt,
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damit sie den Wandel und dieses Jahrhundert der Erschütterung aushalten und damit sie den Weg in eine nachhaltige Zukunft auch wirklich schaffen können.
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Die Systeme sozialer Sicherung müssen proaktiv sein und dürfen nicht nur reagieren. Da gab es von Ihnen, Herr Minister, Andeutungen, die ich begrüßt habe; aber da müssen wir natürlich viel, viel weiter kommen. Wir brauchen eine Arbeitsversicherung, die den Wandel positiv aufgreift, die die Menschen bei Weiterbildung unterstützt und ihnen den Lebensunterhalt sichert.
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Dann können wir es schaffen, einen Strukturwandel in eine nachhaltige Zukunft zu erreichen. Diesen grundlegend anderen Blick, den brauchen wir.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Stephan Stracke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona hat immense gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen für dieses Land, und das spiegelt sich natürlich auch im Bundeshaushalt wider. Nach sechs Jahren schwarze Null sind in diesem und im kommenden Jahr immense Summen erforderlich, um die Herausforderungen von Corona zu bewältigen. Deutschland kann diese erhebliche Neuverschuldung schultern, weil wir ein wirtschaftlich starkes Land sind und alles daransetzen, dies auch in Zukunft zu bleiben.
Wir haben in den vergangenen Monaten gemeinsam Großes geleistet. Wir sind als Gesellschaft zusammengerückt, wir haben Rücksicht aufeinander genommen, unser Gesundheitssystem gestärkt und den weltweit größten Schutzschirm für Krankenhäuser, Wirtschaft, Arbeitnehmer und Familien gespannt. Dieser Schutzschirm umfasst insgesamt 1,5 Billionen Euro an Mitteln und Garantien. Damit konnten wir viele der unmittelbaren Folgen der Pandemie abfedern. Wir sind bislang deutlich besser durch die Krise gekommen als viele andere Länder in der Welt. Ich glaube, dafür können wir sehr dankbar sein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Die Kurzarbeit hat sich einmal mehr als stabile Brücke in der Krise bewährt, um Arbeitsplätze zu erhalten. Kurzarbeit ist sicherlich kein Allheilmittel, und wir wissen auch, dass aus Kurzarbeit schnell Arbeitslosigkeit werden kann. Deshalb kämpfen wir um jeden Arbeitsplatz, und das unterscheidet uns beispielsweise auch von den USA, wo in letzter Zeit ja über 30 Millionen Jobs verloren gegangen sind. Viele Staaten in Europa wären dankbar, wenn sie solch ein klasse Instrument wie die Kurzarbeit hätten und einen so starken Sozialstaat wie in Deutschland.
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Bei uns waren im Mai 6,7 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit, im Juli 4,2 Millionen Beschäftigte. Das zeigt: Der Aufholprozess der Wirtschaft hat inzwischen wieder ein bisschen eingesetzt, langsam und verhalten. Die Risiken sind allerdings beträchtlich. Die Entwicklungen der Pandemie lassen sich noch nicht abschätzen, der Brexit steht vor der Tür, und einzelne Branchen müssen uns tatsächlich viel Sorge machen, beispielsweise die Veranstaltungsbranche, die Luft- und Raumfahrtbranche, der Maschinenbau oder die Automobilindustrie; alles wichtige Branchen für Deutschland. Deswegen haben wir das Kurzarbeitergeld bis Ende 2021 verlängert. Das schafft klare Perspektiven für die Unternehmen und gibt Sicherheit für die Beschäftigten.
Wir wollen diese wirtschaftlich große Krise dazu nutzen, um unser Land, um Deutschland besser aufzustellen, wettbewerbsfähiger, nachhaltiger, innovativer zu gestalten. Wir wollen neue Chancen für Deutschland. Dazu bedarf es zum einen einer konsequenten Bekämpfung der Pandemie; da ist viel Eigenverantwortung gefragt sowie klassischer Hausverstand mit Rücksicht und Fürsorge. Aber wir wollen natürlich zum anderen auch die Wirtschaft wieder zum Laufen bringen und die Veränderungsprozesse in der Industrie aktiv begleiten. Da sind Weiterbildung und Qualifizierung richtig und gut. Deswegen haben wir das auch noch einmal gestärkt. Aber noch wichtiger sind neue Ideen und Kreativität für dieses Land. Diese bilden nämlich die Grundlage für Wachstum und Wohlstand. Deswegen wollen wir Wachstum und Wohlstand in diesem Bereich begünstigen.
Mehr Zutrauen, mehr Vertrauen in die Menschen: Das ist etwas, was Wachstum und Wohlstand der Zukunft ausmacht. Wir wollen mehr möglich machen und nicht immer neue Regulierungen in das Blickfeld nehmen. Wir erleben deshalb bei den Menschen deutlich klarer, dass sie Familie und Beruf stärker verzahnen wollen, als das früher der Fall war. Deshalb wollen wir diese Verzahnung befördern.
Dazu braucht es keine neuen Rechtsansprüche. Ich glaube, da gibt es viel intelligentere Ansätze als neue Bürokratie, nämlich ganz praktische Hilfe. Eine ganz praktische Hilfe ist, festzustellen, dass derjenige, der im Homeoffice ist, höhere Aufwendungen hat als derjenige, der dies nicht ist. Deswegen sagen wir: Wir brauchen eine Homeoffice-Pauschale im Steuerrecht. Das ist der richtige und zielgenaue Ansatz, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Mehr Zutrauen für die Menschen bedeutet auch mehr Flexibilität in der Arbeitszeit. Wir wollen den Maßstab verändern: weg von dieser einengenden Tagesbetrachtung bei der Arbeitszeit hin zu freiraumgebender Wochenzeitbetrachtung. Das schafft Flexibilität. Das schafft eine wirksame Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist ein moderner Ansatz der Arbeit der Zukunft, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir wollen gute und fair bezahlte Arbeit. Deswegen haben wir bei der Pflege dafür gesorgt, dass allgemeinverbindlich erklärbare Tarifverträge bessere Bezahlung ermöglichen. Wir haben die Missstände bei der Paketbranche beseitigt. Wir werden jetzt durch einen starken Ordnungsrahmen im Arbeitsrecht und beim Arbeitsschutz auch bei der Fleischindustrie aufräumen. Dieser Rahmen muss mittelstandsfreundlich ausgestaltet werden. Dazu bildet das parlamentarische Verfahren einen guten Raum für praxisgerechte Lösungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen neue Chancen für Deutschland. Wir wissen: Das kann nicht der Staat leisten, sondern das können ausschließlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land, die Unternehmer, die Selbstständigen, die Ehrenamtlichen leisten; denn sie verfügen über einen Schatz, über den sonst keiner verfügt. Wenn wir dieses Schatzkästchen aufmachen, dann sehen wir Kreativität, Ideenreichtum und Mut. Daraus wächst der Wohlstand der Zukunft. Dafür arbeiten wir mit Begeisterung, mit heißem Herzen und klarem Verstand.
Ein herzliches Dankeschön.
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Vielen Dank, Stephan Stracke. – Ihnen einen schönen, guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Groß.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Haushalt nehmen wir Geld in die Hand, und zwar 164 Milliarden Euro, um Vertrauen zu schaffen, um den Bürgern und Bürgerinnen zu sagen: Ihr könnt euch darauf verlassen, dass dieser Sozialstaat auch in einer Krise funktioniert. – Und das ist gut so. Deswegen sind wir für die Zukunft auch gut aufgestellt.
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Übrigens sind es 14 Milliarden Euro mehr als in der mittelfristigen Finanzplanung. Wer also behauptet, wir stellten nicht mehr Geld zur Verfügung, muss mal in die Haushaltsplanung schauen. Es ist so, dass wir in den vielen Bereichen, in denen es um das Thema „Arbeit und Arbeitsplatzsicherung“ geht, das Geld gut anlegen. Über das Thema Kurzarbeit haben die Kollegin Tack und der Minister selbst schon ausreichend gesprochen.
Ich will auf einen Bereich eingehen, der mir in den letzten Jahren wichtig war und der insbesondere für die Region wichtig ist, aus der ich komme. Das ist der soziale Arbeitsmarkt. Wir nehmen Geld in die Hand, 1 Milliarde Euro, um Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen; ein ganz wichtiges Instrument.
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Es sind fast 60 000 Menschen – in meiner eigenen Region fast 900 Menschen –, die wir im letzten Jahr in Arbeit gebracht haben. Übrigens beträgt die Abbruchquote weniger als 10 Prozent. Ich kann allen Beratern nur gratulieren und dafür danken, dass diese gute Arbeit ermöglicht wird und wir den Menschen eine Möglichkeit geben, durch Arbeit sozusagen wieder eine Identität zu bekommen, Vorbild in der Familie zu sein und durch ein eigenes Gehalt eine Perspektive zu haben.
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Ich möchte kurz auch auf ein weiteres wichtiges Instrument, auf ein Angebot an die Städte und Gemeinden eingehen. Wir werden die Städte und Gemeinden inklusive der Grundsicherung um insgesamt 20 Milliarden Euro entlasten. In den Kommunen wird Demokratie gelebt. Hier muss entschieden werden: Wollen wir Geld für Jugendpflege ausgeben, für die Straße oder für die Schule? Es ist absolut wichtig, dass wir es geschafft haben, für die Städte und Gemeinden für Entlastung zu sorgen.
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– Ja, wir gemeinsam, das habe ich ja gesagt, die Koalition.
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– Ja, Herr Fricke, ich weiß ja: Sie regieren in Düsseldorf. Sie haben sich vehement gegen einen Altschuldenschnitt gewehrt. Wir Sozialdemokraten wollen erreichen, dass wir einen Altschuldenschnitt bekommen
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und die Kommunen wieder so aufstellen können, dass sie eine Zukunft haben.
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– Ich sage Ihnen nur: Sie haben dafür gesorgt, dass unsere Städte eben nicht handlungsfähig sind. Das ist das Resultat Ihrer Politik.
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Ich möchte jetzt noch mal auf ein Thema eingehen, das mir auch besonders wichtig ist: Es geht – ich habe im letzten Oktober vor einer entsprechenden Firma in meinem Wahlkreis gestanden – um die Situation in der Fleischindustrie. Ich danke Hubertus Heil, dass er hier eindeutige Worte gefunden hat, dass wir in der Fleischindustrie aufräumen müssen,
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dass es Regeln und Ordnung geben muss. Wir wollen nicht, dass Menschen zwölf Stunden arbeiten müssen und nur für acht Stunden Geld bekommen, dass sie sechs Tage arbeiten müssen und nur für fünf Tage Geld bekommen, dass sie sich eine Matratze teilen müssen, für die sie 200 Euro bezahlen müssen. Das ist ein Skandal, und damit müssen wir aufhören.
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Jetzt noch mal zum Thema Rente. Was mich in den letzten Jahren immer gestört hat, ist, dass hier der Generationenvertrag infrage gestellt wird. Sie stellen Alt gegen Jung. Ich kenne in meinem Wahlkreis keine jungen Menschen, die den Generationenvertrag infrage stellen. Aber hier wird immer diskutiert nach dem Motto: Wir können die Rente nicht finanzieren. – Wir können die Rente finanzieren, sie sicher finanzieren, auch in den nächsten Jahren. Hubertus Heil und auch Kerstin Tack haben noch mal deutlich gemacht, dass wir die Rente nur über die umlagefinanzierte Rente absichern können, und das ist die Zukunft.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir vor gut einem Jahr hier standen und über den Entwurf der Bundesregierung geredet haben, wussten wir nicht genau, ob wir uns auf eine kleine Untiefe zubewegen oder ob eine starke wirtschaftliche Krise bevorsteht. Die Entwicklung der vergangenen Monate mit Corona, Handelskriegen, Verschuldungskrise und Brexit hat uns nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesamtgesellschaftlich in eine tiefe Krise geführt.
Die Folgen sind für viele Menschen, Familien, Unternehmen, unsere Systeme der sozialen Sicherung gravierend. Ein Klima von Verunsicherung und Angst hat sich breitgemacht und lähmt weite Teile unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung hat angesichts dieser brisanten Entwicklungen und vielfältigen Unwägbarkeiten ihren Haushaltsentwurf für das kommende Jahr diesmal drei Monate später als üblich vorgelegt.
Der Entwurf für den Arbeits- und Sozialhaushalt, den wir heute debattieren, ist quasi noch druckfrisch. Die darin ausgewiesenen Gesamtausgaben – das wurde schon erwähnt – betragen 164 Milliarden Euro. Das sind zwar 14 Milliarden Euro über dem ursprünglichen Ansatz für 2020, unter Berücksichtigung des Nachtragshaushaltes – Ekin Deligöz hat vorhin schon darauf hingewiesen – sind es aber 7 Milliarden Euro weniger. Das weist mit Blick auf die weitere Entwicklung auf einen verhaltenen Optimismus der Bundesregierung hin.
In der Tat, meine Damen und Herren, nach zehn Jahren Aufschwung dank erfolgreicher Wirtschaftspolitik der CDU/CSU-geführten Bundesregierung, dank des Aufbaus einer milliardenschweren Rücklage aus Arbeitslosenversicherungsbeiträgen bei der Bundesagentur für Arbeit und dank einer jahrelangen Nullverschuldungspolitik des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble haben wir heute gute Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Krise.
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Das Kurzarbeitergeld verhindert derzeit den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Es trägt dazu bei, dass die Entwicklungen am Arbeitsmarkt nicht katastrophal erscheinen. Gut 600 000 zusätzliche Arbeitslose im Vergleich zum Vorjahr: Das ist angesichts der Schwere der Krise moderat. Korrespondierend dazu ist der Rückgang der Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Vergleich zum Vorjahr nur gering.
Die Signale stehen momentan insgesamt auf Erholung. Die deutsche Wirtschaft hat sich im abgelaufenen dritten Quartal dieses Jahres deutlich erholt. Das macht den starken Einbruch im Frühjahr zwar nicht wett; aber auch wenn die Aussichten, gerade mit Blick auf Gastronomie, Hotellerie und Veranstaltungswirtschaft, alles andere als rosig sind, erscheint doch Licht am Ende des Tunnels.
Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Wochen gefangen. Die Beschäftigung verzeichnet erneut einen leichten Zuwachs. Die Arbeitslosigkeit nimmt moderat ab, und auch die Unterbeschäftigung sinkt. Sinkende Kurzarbeiterzahlen – nach 6 Millionen Betroffenen im April noch gut 4 Millionen im Juli – und steigende Mehrwertsteuereinnahmen sind weitere deutliche Anzeichen für eine Erholung, ohne die eine Verlängerung des Kurzarbeitergeldes sicherlich nicht beschlossen worden wäre.
Arbeitslosigkeit, Strukturbrüche und Firmenpleiten sind mit dem Einsatz von Kurzarbeitergeld für eine bestimmte Zeit verhinderbar. Sinnvoll ist das für diejenigen Unternehmen, die nach der Krise wieder mit Gewinn wirtschaften können. Kurzarbeitergeld ist ein Instrument, um kurzfristig eine Krise zu überwinden; Kurzarbeitergeld ist aber kein erfolgreiches Wirtschaftsmodell und kann kein Dauerzustand sein.
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Darauf hat dieser Tage zu Recht auch Friedrich Merz hingewiesen. Kurzarbeit verhindert neben allen positiven Wirkungen für Betroffene, dass kurzarbeitende Arbeitskräfte für andere Unternehmen zur Verfügung stehen, die auch in Coronazeiten durchaus rentabel wirtschaften und sich weiterentwickeln können. Gerade mit Blick auf den ständigen weltweiten Strukturwandel müssen wir aufpassen, dass wir perspektivisch rentable Betriebsstrukturen mit Zukunft auf diese Weise nicht behindern oder gar zerstören.
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Ohnehin werden uns in absehbarer Zeit finanzielle Probleme zu Einschränkungen bzw. zum Umsteuern zwingen. Die über ein Jahrzehnt aufgebaute Finanzrücklage der Bundesagentur für Arbeit wird gerade in Rekordzeit aufgebraucht,
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erhebliche Steuermittel werden in diesem wie voraussichtlich auch im kommenden Jahr zusätzlich notwendig sein, um die Kurzarbeit zu finanzieren.
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Ob der von der Bundesregierung für das kommende Jahr vorgesehene Zuschuss in Höhe von 3,1 Milliarden Euro an die BA ausreichen wird, um die finanzielle Belastung der Kurzarbeit für den Haushalt der BA auszugleichen, hängt wesentlich von weiteren Entwicklungen der Wirtschaft ab. Die Bundesagentur für Arbeit ist derzeit der zentrale Akteur in dieser Krise.
Für den erheblich gewachsenen Arbeitsumfang – von der Bearbeitung von Anträgen für Kurzarbeitergeld, deren Prüfung bis hin zur Betreuung von 630 000 zusätzlichen Arbeitslosen – braucht die Bundesagentur vorübergehend mehr Personal. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel bei der Fachkräftezuwanderung, besteht aufgrund der Coronaeinschränkungen ein geringerer Personalbedarf. Hier kann zwar Personal intern umgesetzt werden, aber die Aufgaben in den Bereichen lebenslanges Lernen und Flüchtlingsintegration bleiben bestehen und sollten gerade bei gestiegener Arbeitslosigkeit noch intensiviert werden.
Deshalb hat die BA einen erheblich höheren Personalbedarf, zumindest in den kommenden ein, zwei Jahren. Was danach kommt, wird die weitere Entwicklung zeigen. Entsprechend flexible Lösungen müssen gefunden und umgesetzt werden. Die Bundesagentur für Arbeit mit Herrn Vorstandsvorsitzenden Scheele an der Spitze scheint hier auf einem guten Weg zu sein, und ich nutze die Gelegenheit gerne, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihr Engagement zu danken.
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Die Bundesregierung hat für die Grundsicherung für Arbeitsuchende im kommenden Jahr knapp 45 Milliarden Euro vorgesehen. Das ist weniger als in diesem Jahr. Es besteht die Hoffnung, dass von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen wieder Arbeit im ersten Arbeitsmarkt finden werden. Für den Eingliederungstitel sind weiterhin 10,1 Milliarden Euro vorgesehen. Erfreulich sind erste positive Erfahrungen mit unseren neuen arbeitsmarktpolitischen Ansätzen wie dem Passiv-Aktiv-Tausch, die wohl dauerhaft zur Verbesserung der Lage am Arbeitsmarkt beitragen können.
Größte Ausgabenposten im Bundeshaushalt – darüber haben wir hier schon gesprochen – sind nach wie vor die Ausgaben für die Rente. Dynamisch ansteigend erreichen sie 2021 114,6 Milliarden Euro. 106,1 Milliarden Euro davon fließen über die Beteiligung des Bundes an der knappschaftlichen Rentenversicherung, über diverse Zuschüsse sowie Beitragszahlungen für Kindererziehungszeiten in die Rentenversicherung. 8,3 Milliarden Euro sind vorgesehen für die Grundsicherung im Alter. Das sind 1,5 Milliarden Euro oder 18 Prozent mehr als noch 2019. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das Wohl der Rentner liegt uns am Herzen. Perspektivisch werden die Themen „Arbeitsmarkt und Fachkräftegewinnung“ sowie „Renten und Sozialleistungen an die älteren Bevölkerungsteile“ zunehmend an Relevanz in der öffentlichen Debatte gewinnen.
Insgesamt gesehen beraten wir in den kommenden Wochen coronabedingt eher einen Haushaltsentwurf des Reagierens als des Agierens. Dies gilt umso mehr, je schneller wir zu einer normalen Haushaltsführung zurückkehren wollen, wie es die Bundeskanzlerin diese Woche gefordert hat.
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Insofern sehe ich den Beratungen mit großer Freude entgegen und bin mir sicher, dass wir aus dieser Vorlage einen noch besseren Haushalt machen werden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Axel Fischer. – Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen uns nicht vor.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche haben wir in vielen Stunden über die einzelnen Etats beraten und diskutiert. Dabei wurde sehr deutlich: Es sind besondere Zeiten, die uns extrem viel abverlangen. Und diese Bundesregierung nimmt die Herausforderungen an und handelt entschlossen, mutig und vorausschauend.
Was hat uns diese Woche noch gezeigt? Es gibt eine Oppositionsfraktion, die es kaum erwarten kann, dass es Deutschland schlechter geht. Ich persönlich finde, das ist schon ein seltsames Verständnis von Verantwortung für ein Land mit über 82 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.
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Wenn wir jetzt – immer wieder auch von der Opposition – hören, die Schuldenbremse müsse gelten, oder wir sollten doch an die zukünftigen Generationen denken, oder wir müssten endlich auch unsere Rücklagen in Anspruch nehmen, dann kann ich dazu nur sagen: Verantwortungsvolles Handeln und Haushalten sieht anders aus.
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Kluge Finanzpolitik sorgt nämlich in guten Zeiten dafür, dass man in schlechten Zeiten gewappnet ist. Deswegen bin ich sehr dankbar, dass wir einen Sozialdemokraten an der Spitze des Bundesfinanzministeriums haben, der uns sicher durch diese Krise führen wird.
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Natürlich ist der Haushaltsentwurf 2021 von der Pandemie geprägt; alles andere wäre auch verantwortungslos. Es ist ein Haushalt mit Kraft und Ausdauer. Es ist ein Haushalt, der Sicherheit gibt. Der Schutz der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger, die Sicherung von Beschäftigung und Arbeitsplätzen, die Hilfen für Unternehmen und die Unterstützung von Familien verlangen, dass wir Geld in die Hand nehmen.
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Und wir nehmen viel Geld in die Hand; denn nicht zu handeln, wäre sehr viel teurer, und das gilt vor allen Dingen für die zukünftigen Generationen.
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Es gibt bereits die ersten kleinen, leichten Anzeichen dafür, dass wir seit März einiges richtig gemacht haben. Der deutliche Rückgang bei der Kurzarbeit im September kann uns vorsichtig optimistisch stimmen; das ist ein Indiz für eine leichte wirtschaftliche Erholung. Das zeigt doch: Es war richtig, dass wir das Kurzarbeitergeld verlängert und in Arbeit investiert haben und nicht in Arbeitslosigkeit.
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– Ich bin rechts immer so leicht taub.
Erste Zahlen des Einzelhandels zeigen, dass im August dieses Jahres 3,7 Prozent mehr umgesetzt wurde als im August 2019. Im Vergleich zum Februar, vor Beginn der Coronapandemie in Deutschland, ist der Umsatz im August sogar um 5,8 Prozent gestiegen. Eine Erklärung dafür ist mit Sicherheit die Senkung der Mehrwertsteuer auf Zeit.
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Wenn wir wollen, dass unser Gemeinwesen robust bleibt, wenn wir ein leistungsfähiges Gesundheitssystem und einen verlässlichen Sozialstaat auch in Zukunft haben wollen, dann kostet das nun mal Geld. Deshalb brauchen wir ein gerechtes System, in dem die Starken mehr beitragen sollen als die Schwachen,
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indem sie ihren fairen Anteil in einer solidarischen Gesellschaft und bei der Finanzierung unseres Sozialstaates leisten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich gilt für alle Gesetze, so auch für das Haushaltsgesetz 2021, das Struck’sche Gesetz. Aber mit dieser wirklich guten Grundlage bin ich optimistisch, dass wir im Dezember sagen können: Deutschland verfügt über große finanzielle Kraft, die wir nutzen, um verantwortungsvoll und mit Augenmaß diese Krise zu bewältigen.
Wir werden die richtigen Weichen stellen, um auch in den kommenden Jahren die anstehenden Herausforderungen gut meistern zu können. Deshalb lassen Sie uns nun die anstehenden Beratungen nutzen, damit wir dieses Versprechen einlösen können. Ich freue mich darauf.
Vielen Dank und Ihnen ein schönes Wochenende!
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Vielen Dank, Svenja Stadler. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Peter Boehringer.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Woche hat gezeigt: Die Bundesregierung will über die willkürlich ausgerufene gesundheitliche Notlage hinaus auch die haushalterische ausrufen und als Rechtfertigung für nunmehr 315 Milliarden Euro Coronaneuverschuldung nutzen. Dies führt dazu, dass man in keiner Weise mehr kostenbewusst wirtschaften muss. Unter dem Vorwand von Corona kann man nun 2020 und 2021 die beiden größten Haushalte der deutschen Geschichte beschließen, und das ohne jede Einsparung. Es werden all die hochideologischen Projekte zugunsten linksgrüner Interessengruppen,
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die diese Bundesregierung ohnehin schon immer durchziehen wollte, nun auf Pump, auf Kosten zukünftiger Generationen, realisiert: für EU-ropa, Klima, Weltentwicklung und für mehr Immigration.
Die private Industrie hatte in vielen Jahrzehnten etwa die Batterietechnologie weitgehend optimiert und den Wasserstoffantrieb praktisch aufgegeben. Und doch wird nun eine neue, mit Milliarden Euro subventionierte Nationale Wasserstoffstrategie von allen Altparteien kritiklos mitgetragen.
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Hieraus voraussichtlich finanzierte Forschungsprojekte wie etwa Wasserstoff-Lkws oder Flugzeuge mit hochkomprimiertem Wasserstoff unter dem Rumpf sind aber gefährliche technologische Sackgassen ebenso wie Träume von grünen Wasserstoffpipelines von Afrika nach Europa.
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Subventionen von Elektroautos sind sogar Subventionen gegen Deutschland, geradezu asozial gegenüber Millionen deutschen Arbeitnehmern, die demnächst ihre Entlassungen aus ideologischen Gründen erleiden werden.
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Die Hersteller der Verbrenner sind die größten Arbeitgeber. Sie werden extrem hart getroffen vom EU-Irrsinnsziel einer 55-prozentigen CO2-Reduktion, das auch die Bundesregierung euphorisch mitträgt.
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Auch ohne neuen Lockdown, auf den ja etwa der bayerische Sonnenkönig Söder so scharf ist, sind bereits einige Branchen kurz vor dem Ruin: der Tourismus, die Gastronomie, die Maschinenbauer, die Autoindustrie und deren Zulieferer, die Luftfahrt ganz besonders. Lufthansa hat soeben allen 700 Pilotenschülern empfohlen, die Ausbildung abzubrechen – Zitat –, weil es auf Jahre hinaus in Deutschland keinen Bedarf mehr an neuen Piloten gebe. Das ist die Zukunft, wenn diese Regierung oder gar eine schwarz-grüne weitermacht.
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Hieraus entstehen natürlich neue Großrisiken für die Sozialversicherung. Ab 2021 wird die Bundesagentur für Arbeit gewaltige Zuschüsse für Kurzarbeiter und Arbeitslose brauchen. Die 3 Milliarden Euro im Haushaltsentwurf werden niemals ausreichen.
Große Summen gibt es dagegen auch weiterhin für die Weltbeglückung. Großzügig mit Haushaltsmitteln finanziert werden etwa Projekte für gewaltfreie Schulen in afrikanischen Ländern. Das ist zwar angebracht, allerdings inzwischen in Deutschland.
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Ein kosmopolitischer Privatdozent wird mit seinem virtuellen Lehrstuhl für – Zitat – Modernität, Globalisierung und Anthropologie des Raum-Zeit-Kontinuums mit sechsstelligen Summen gefördert. Man fördert in Arabien Projekte wie „Gender als Instrument der Analyse“ – von was auch immer –, und man kauft in Asien ernsthaft Waschmaschinen für Rollstühle, wenn man dort nicht gerade grüne Bibliotheken errichtet oder in Peru den nachhaltigen Stadtverkehr fördert. – Das ist alles im Haushalt.
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Man schwadroniert beim grünen Klimairrsinn von „Mond-Momenten“ der EU, von großen Transformationen oder – wie Olaf Scholz hier am Dienstag ernsthaft – vom „großen Sprung nach vorne“.
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Ist das alles nur Hybris von weltfernen Planwirtschaftlern? Weiß man im BMF wirklich nicht, dass Mao diesen Spruch 1958 geprägt hat,
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dass also Extremkommunisten des damaligen China genau diesen „großen Sprung nach vorne“ propagiert haben, um – Zitat – den Weg zum Kommunismus zu verkürzen?
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Am Ende waren die Sprungmaßnahmen ein totaler Fehlschlag und lösten die größte Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte mit 45 Millionen Toten aus. Ist es also einfach nur fehlendes Geschichtsbewusstsein, wenn der Finanzminister wortgleich mit Mao diesen „großen Sprung nach vorne“ propagiert, oder ist es doch betonharte linksextremistische ideologische Überzeugung? Beides wäre gleich inakzeptabel.
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– Es kann ja auch die andere Option sein.
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– Ist ja in Ordnung. Dann ist es die andere Option.
Wenig überraschend bekommt auch Brüssel rekordhohe Summen aus dem Bundeshaushalt. 2021 sind es schon 42 Milliarden Euro. Beim neuen Siebenjahresplan der EU besteht ein Einsparpotenzial von über 20 Milliarden Euro pro Jahr. Zudem müssten am Jahresende 2020, also am Ende des aktuellen Siebenjahresplans, unbedingt die riesigen nicht ausgegebenen Budgetreste der EU vorgetragen und auf künftige deutsche EU-Zahlungen angerechnet werden. Deutschland müsste dann drei Jahre lang keinerlei Geld an die EU abführen.
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Leider plant Brüssel aber auch noch Coronageschenke über 390 Milliarden Euro für den Mittelmeerraum, vertragswidrig über EU-Kredite finanziert, mit deutschen Steuern und deutscher Vermögenssubstanz besichert. Schuldenaufnahme also in einer Größenordnung, die einen Dammbruch darstellt und einen Nichtstaat zu einem Gebilde mit einem illegalen Budget macht.
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Die Krise wird benutzt: zum einen, wie erwähnt, für den Umbau der Wirtschaft – man könnte auch sagen: für die Abschaffung des Wirtschaftsstandorts Deutschland –, zum anderen für den Marsch in die illegale EU-ropäische Transferunion und zu weniger nationaler Souveränität. Bezeichnend auch hier das Zitat des Finanzministers: „Es gibt keine deutsche … Volkswirtschaft mehr, sondern nur noch eine … europäische.“
Ebenso bezeichnend dieses Zitat aus dem Ministerium: „Es wird eine Herausforderung, das viele Geld in so kurzer Zeit auszugeben.“ Aber nachdem es ein buchhalterisches Naturgesetz ist, dass niemals geschenktes Geld ungenutzt liegen bleibt, wird es ausgegeben – nur eben nicht sinnvoll. Die Menschen könnten die Billionen an Coronaschuldmitteln sinnvoll ausgeben. Geben Sie sie ihnen und nicht der Verwaltung, nicht der Korruption der Staatsmonopolwirtschaft und nicht der Coronahysterie.
Mein ceterum censeo: Ich fordere die Bundesregierung wieder mal auf, die Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens unverzüglich zu beenden und nur die kleine Risikogruppe zu schützen.
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Sogar die „Bild“ schreibt inzwischen davon, dass mehr Menschen wegen der unwissenschaftlich, ohne objektive Kriterien verfügten Maßnahmen sterben als am Virus selbst. Bei Zehntausenden verschobener Operationen ist das ja auch völlig klar; das muss so sein.
Die Kanzlerin meinte dagegen vorgestern, hier einen maternalistisch-autoritären Monolog zur fürchterlichen Gefahr von Corona halten zu müssen, während ihre Politik selbst die größte Gefahr für Deutschland darstellt,
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insbesondere für rationale Selbst- und Querdenker, die sich nicht dem Druck der von Merkel aufgestachelten Coronablockwarte und Maskentotalitären beugen wollen. Nein, Frau Merkel, wir schützen die offene, freie Gesellschaft, nicht Sie mit Ihren absurden Gängeleien.
Danke.
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Ich danke Ihnen. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. André Berghegger.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier den Regierungsentwurf für den Haushalt 2021 mit einem Volumen von gut 400 Milliarden Euro. Das sind rund 100 Milliarden Euro weniger, als wir im laufenden Jahr haben, aber das Volumen ist immer noch auf Rekordniveau.
Die Schlussrunde bietet Gelegenheit, diese Haushaltswoche einmal etwas Revue passieren zu lassen. Die Debatte ist natürlich geprägt von der Covid-19-Pandemie mit Auswirkungen in allen Lebensbereichen. Vor allen Dingen im wirtschaftlich-fiskalischen Bereich erleben wir einen Einbruch der Wirtschaft von historischem Ausmaß. Die Reaktion in Deutschland und in der EU erfolgte durch Hilfspakete enormer Größe. Aber an dieser Stelle wiederhole ich sehr deutlich und sehr gerne: Diese Hilfe ist erst möglich geworden durch die jahrelange solide Haushaltspolitik. Was wurden wir dafür kritisiert! Aber wir haben uns dadurch erst die Spielräume erarbeitet, die uns jetzt zugutekommen. Dafür stehen wir.
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Die Krise stellt uns natürlich vor fiskal- und geldpolitisch größte Herausforderungen. Zusätzlich kommen Megatrends mit großen finanziellen Auswirkungen dazu. Genannt seien hier die ökologische und die digitale Transformation der Volkswirtschaften. Aber Haushalt ist kein Selbstzweck, sondern in Zahlen gegossene Politik. Und mit diesem Haushalt werden aus meiner Sicht drei Ziele verfolgt: zum Ersten die Krise meistern, zum Zweiten nachhaltige wirtschaftliche Erholung anstoßen und nicht nur ein Strohfeuer entfachen und zum Dritten – das spürt ja jeder von uns zu Hause bei seinen Gesprächen tagtäglich – den Zusammenhalt der Gesellschaft verbessern. Das sind die Ziele, und die wollen wir erreichen. Das Mittel dazu ist ein Haushalt mit Verantwortung und Weitblick.
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Natürlich ist es jetzt richtig, zeitlich befristet expansive Ausgaben zu tätigen, um diese Ziele zu erreichen. Aber die Ausgaben müssen wir natürlich ständig hinterfragen. Es darf nicht das Prinzip Gießkanne Einzug halten; denn wir müssen uns die Ausgaben langfristig leisten können. Das ist generationengerecht und nachhaltig.
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Und wir müssen natürlich zügig auf den Pfad der finanzpolitischen Tugend zurückkehren und die Schuldenbremse wieder einhalten; denn wir wissen nicht, was wirtschaftlich und finanzpolitisch in der Zukunft auf uns zukommt.
Ich bin der festen Überzeugung: Wir können aus der Krise herauswachsen. Aber wir können aus der Krise nur herauswachsen, wenn das Wachstum größer ist als die Ausgabensteigerung.
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Ein Vergleich mit anderen Industrienationen tut natürlich gut und ist an dieser Stelle richtig: Wir sind bis jetzt ganz gut durch die Krise gekommen – gar keine Frage –; darauf kann man auch einen Moment lang stolz sein. Aber wir müssen aufpassen und weiter vorsichtig agieren.
Auch ein Vergleich zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 ist sachlich in Ordnung; aber aus meiner Sicht hinkt dieser Vergleich. Ja, wirtschaftlich war der Einbruch damals ähnlich wie heute: damals 5,7 Prozent; jetzt wird er mit 5,8 Prozent erwartet. Ja, die Verschuldung im Vergleich zum gesamten BIP war ähnlich: 82 Prozent Verschuldung damals; jetzt prognostizieren wir um die 80 Prozent im nächsten Jahr. Und ja, der wirtschaftliche Aufschwung setzte damals zügig wieder ein: 4,2 Prozent damals; wir erwarten jetzt 4,4 Prozent. Aber die wichtigen Rahmenbedingungen der damaligen Zeit haben sich im Vergleich zu heute komplett geändert. Das möchte ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen:
Erstens. Wir konnten damals strukturell 30 Milliarden Euro an Zinszahlungen einsparen. Die Zinsbelastung des Bundes ist von 40 Milliarden Euro auf 10 Milliarden Euro pro Jahr gesunken. Viel tiefer geht es, auch in dieser Niedrigzinsphase, nicht. Die Kredite sind im Wesentlichen umgeschuldet, und wir werden eine Seitwärtsbewegung oder sogar einen leichten Anstieg verzeichnen; denn wir haben neue Schulden aufgenommen. Das haben wir diese Woche mehrfach in großer Dimension besprochen. Ich erinnere noch mal daran: Die Schulden, die wir dieses Jahr und geplant im nächsten Jahr aufnehmen, belaufen sich auf über 300 Milliarden Euro. Es ist gar nicht lange her – 2016 –, da entsprach dieser Betrag ungefähr dem gesamten Haushaltsvolumen der Bundesrepublik.
Zweitens. Der Anteil der Steuereinnahmen verschiebt sich mehr und mehr in Richtung Länder und Kommunen. Hinzu kommen mehr und mehr strukturell ungebundene Entlastungen von Ländern und Kommunen, über die kaum noch einer redet. Da tun wir Gutes und versuchen, den Kommunen und Ländern zu helfen, wo wir können. Von 1 Euro Umsatzsteuer geht ab diesem Jahr mehr Geld an die Länder und Kommunen, als beim Bund verbleibt. Länder und Kommunen erreichen das Vorkrisenniveau bei den Steuereinnahmen 2021 und der Bund erst wieder 2023.
Drittens. Ab 2026 werden wir die Schulden, die wir in diesem und im nächsten Jahr aufnehmen, nach einem festen Tilgungsplan – das schreibt das Grundgesetz vor – zurückzahlen müssen; das ist eine zusätzliche Belastung von ungefähr 11 Milliarden Euro, die langfristig auf uns zukommt.
Das bedeutet, es wird ungleich schwieriger, den Haushalt auszugleichen, als nach der Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren. Aber es ist unser fester Wille, schnellstmöglich diesen Ausgleich hinzubekommen, und das werden wir auch gemeinsam schaffen, wenn wir verschiedene Kriterien berücksichtigen.
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Zwingend sind aus meiner Sicht vier Leitlinien, die wir uns überlegen können.
Erstens sind die Ausgaben möglichst stabil zu halten oder nur moderat zu steigern.
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Zweitens sind die Ansätze zu hinterfragen. Ein Haushalt – das habe ich diese Woche auch wieder häufig gehört – ist nicht deshalb gut, weil sein Volumen größer ist als das im Vorjahr.
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Das ist die falsche Denkweise.
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Es geht hier auch gar nicht ums Sparen, sondern es geht um den effektiven Einsatz der Mittel.
Drittens – das ist wahrscheinlich der wichtigste Punkt –: Die politisch beschlossenen Gelder müssen abfließen, umgesetzt werden, abgerufen werden. Sie dürfen nicht nur im Schaufenster stehen,
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sondern sie müssen dem politischen Zweck zugutekommen.
Das kann ich noch einmal an drei, vier Beispielen erläutern. Schauen wir uns die Haushaltsausgabereste an: Von 2016 bis 2020 sind sie in diesem Land von 9 auf 22 Milliarden Euro gestiegen. Die EU hat politisch gebundene Mittel, die aber nicht abfließen, aktuell in der Größenordnung von knapp 300 Milliarden Euro zur Verfügung. Die bestehenden Sondervermögen – EKF, Kinderbetreuungsausbau, Digitalfonds, Ganztagsausbau, Kommunalinvestitionsförderungsfonds sind einige Beispiele – weisen hohe Bestände auf, aber die Mittel werden nicht abgerufen. Da müssen wir besser werden; dann erzeugen wir auch unsere politisch gewollte Wirkung.
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Zu guter Letzt. Investitionen müssen wir auf dem hohen Niveau, wie wir es jetzt kennen, fortführen, insbesondere in Bereichen, die unser Land zukunftsfähig machen: Digitalisierung, Forschung und Entwicklung, Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. Das sind gewissermaßen rentierliche Schulden für Land und Leute. Daran müssen wir arbeiten. Wenn wir das mit diesen Leitplanken machen, sowohl in der Haushaltsaufstellung als auch vor allen Dingen in der Umsetzung des Haushaltes, dann besteht in dieser Krise auch eine haushaltspolitische und eine finanzpolitische Chance. Deswegen freue ich mich auf die Haushaltsberatungen.
Vielen Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Berghegger. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Christian Dürr.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet hat gesagt, die Entscheidung, die Schulen zu schließen, würde er heute nicht mehr treffen. Ich teile das übrigens ausdrücklich, und deswegen bin ich dankbar, dass die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen auch bei steigenden Coronafallzahlen eine Bildungsgarantie ausgesprochen hat. Das ist der Kurs, den die Menschen brauchen: Zuversicht für unser Land. Meine Damen und Herren, das erwarte ich auch von anderen.
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Herr Kollege Berghegger, ich kann an dieser Stelle an Ihre Rede anknüpfen. Stichwort „Abfluss von Haushaltsmitteln“: Die Frage ist ja nicht nur, was die Länder tun können, sondern auch, was der Bund tun kann. Wie viele Familien mussten in den Wochen des Lockdowns Homeschooling und Homeoffice zusammenbringen und erkennen, wie schwierig das ist! Das darf nicht mehr passieren.
Die Bundeskanzlerin hat am Mittwoch hier in der Generaldebatte gesagt: Wir haben schmerzlich gesehen, dass Schule und Kita da nicht auf Stand sind. – Na, das ist eine ganz interessante Erkenntnis! Im DigitalPakt Schule sind 5 Milliarden Euro Haushaltsmittel drin; davon sind gerade mal 1 Prozent abgeflossen, meine Damen und Herren.
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Ich frage Sie, Herr Scholz: Was tun Sie dagegen? Es reicht doch nicht, auf die Bundesländer zu verweisen. Sie als Bundesregierung tragen Verantwortung für die Familien im Land! Ich erwarte, dass diese Mittel im DigitalPakt eingesetzt werden. Sie tun nichts bisher. Zeigen Sie einen Plan auf!
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– Ja, die Kollegen der SPD! Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt dazwischenrufen, nachdem Frau Stadler diese Rede hier gehalten hat.
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– Herr Binding, es reicht mir nicht mehr aus, dass die Bundesregierung jede Verantwortung von sich wegschiebt und auf die Bundesländer verweist.
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Sie haben diese Bund-Länder-Vereinbarung mit unterschrieben! Da müssen 32 000 Schulen in Deutschland einen Medienplan vorlegen, bevor sie die Mittel abrufen können. Die Kinder brauchen endlich iPads, meine Damen und Herren! Das muss das Ziel der Politik in Deutschland sein!
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Herr Dürr, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Hendricks?
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Ja, ich freue mich darauf. Sehr gerne, Frau Kollegin.
Bitte mit Mikro.
({0})
– Nein.
Keine Sorge, Otto Fricke. – Herr Kollege Dürr, Sie haben doch wahrgenommen, dass es uns im vergangenen Jahr gelungen ist, das Grundgesetz zu ändern, damit die Bundesebene überhaupt in der Lage ist, den Ländern bei der Finanzierung von Bildungsausgaben beizustehen. Ich kann jetzt im Moment gar nicht sagen – – Doch, Sie haben dann schließlich auch der Verfassungsänderung zugestimmt.
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– Richtig, es war auch nötig, dass die Länder zugestimmt haben. – Das war aber die Voraussetzung dafür, dass der DigitalPakt Schule überhaupt erst aufgelegt werden konnte. Infolgedessen kann er in einem zweiten Schritt erst wirksam werden.
Ich muss Ihnen doch nicht erzählen – oder Sie wären als Bundestagsabgeordneter falsch an diesem Ort –, dass unsere föderale Ordnung darauf beruht, dass Finanzmittel, die der Bund zur Verfügung stellt, über die Länder in diesem Fall den Kommunen zufließen, weil in den Ländern die Kommunen für die Ausstattung von Schulen verantwortlich sind. Die Lehrer werden von den Ländern bezahlt, aber die Ausstattung von Schulen geschieht durch die Kommunen; das ist in allen Bundesländern gleich. Der DigitalPakt Schule betrifft nun einmal die Ausstattung von Schulen; anders kann man das nicht werten. Wenn Sie das nicht wissen, dann dürften Sie nicht Bundestagsabgeordneter sein.
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Herr Dürr, wenn Sie wollen, können Sie darauf jetzt antworten.
Das habe ich vor. Ich halte auch die Redezeit ein.
Hochgeschätzte Frau Kollegin Hendricks, es war nicht vor einem Jahr, es war vor zwei Jahren, und die Freien Demokraten haben maßgeblich an dieser Grundgesetzänderung mitgewirkt – ohne uns wäre diese Grundgesetzänderung gar nicht gekommen.
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Ich war 14 Jahre Landespolitiker und habe das alles mitgemacht und weiß auch um die knappen Ressourcen der Länder für Bildungspolitik, Frau Kollegin. Ich will Ihnen nur eines sagen: Bei dem, was wir da umgesetzt haben, hat gerade die Große Koalition gebremst. Wir haben gesagt: Es kann nicht nur darum gehen, Tablets auszugeben, sondern die müssen auch funktionieren, gewartet werden; das können wir nicht alles den Lehrern aufdrücken. – Daraufhin hat diese Bundesregierung – die Sie mittragen, Frau Hendricks – eine Bund-Länder-Vereinbarung beschlossen, die ist so bürokratisch
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– wie wir mittlerweile wissen, wie wir nach zwei Jahren, Herr Kollege Rehberg, mittlerweile wissen –, dass die Schüler davon nicht profitieren.
Es kann doch eine Bundesregierung und eine Partei wie die SPD, die sich auch als Bildungspartei versteht, nicht kaltlassen, dass das Geld nicht bei den Schulen ankommt! Ich erwarte, dass wir die Verantwortung tragen, meine Damen und Herren. Ich komme mir manchmal – auch bei Ihrem Wortbeitrag jetzt, Frau Hendricks – vor wie in einem schlecht geführten Baumarkt, nach dem Motto „Das ist nicht meine Abteilung“. Doch, Bildungspolitik ist mit dieser Grundgesetzänderung auch die Abteilung des Deutschen Bundestages und dieser Regierung, und wir müssen es, verdammt noch mal, auf den Weg bekommen, dass dieses Geld bei den Kindern ankommt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Herr Scholz, Sie werfen in diesem Haushalt mit Milliarden um sich, Sie machen Rekordschulden, insbesondere um den linken Flügel Ihrer Partei als Kanzlerkandidat zu befrieden. Die 100 Milliarden Euro, Herr Scholz, die Sie zusätzlich für das Jahr 2021 vorhaben aufzunehmen, das sind genau die Schulden, die die Kinder zurückzahlen müssen, denen teilweise in den letzten Monaten das Grundrecht auf Bildung vorenthalten worden ist. Herr Scholz – das sage ich auch in Richtung der Union, weil es offensichtlich einen Vortrag in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über die große Haushaltslücke gab, die dieser Haushalt ab 2021 haben wird –: Ich erwarte, gerade weil es die Kinder sind, die diese Schulden zurückzahlen müssen – Kinder, die heute teilweise noch gar nicht geboren sind –, von den Regierungsfraktionen und von der Bundesregierung, dass sie sich nicht hinstellen und sagen: „Es gibt eine gigantische Finanzierungslücke“, ich erwarte von Ihnen einen Plan, wie diese Haushaltslücke in den kommenden Jahren geschlossen wird. Der liegt nicht vor, meine Damen und Herren, und das ist das, was wir anmahnen.
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Zum Zweiten. Neben Bildung ist eines wichtig, nämlich Entlastung. Wir werden die deutsche Wirtschaft nur nachhaltig auf Spur bekommen, wenn wir entlasten. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat gestern veröffentlicht, die vollständige – das sage ich gerade in Richtung der CSU-Kollegen – Abschaffung des Solidaritätszuschlages würde bis zum Jahr 2030 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 86 Milliarden Euro bedeuten und 19 000 zusätzliche Arbeitsplätze allein im kommenden Jahr schaffen, meine Damen und Herren. Auch das verweigern Sie, auch diese Entlastung verweigern Sie den Menschen. Deswegen sage ich, Herr Scholz, in aller Klarheit: Steuergeschenke an die Bank der Superreichen einerseits zu sanktionieren und sogar mitgemacht zu haben, aber auf der anderen Seite der Mitte der Gesellschaft die jetzt notwendige Entlastung nicht zu gewähren,
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das ist eine Schande in der Haushaltspolitik in Deutschland. Es kann nicht angehen, dass wir jetzt nicht die Entlastung machen, die dieses Land nötig hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
So, und ich sage in aller Deutlichkeit: Sie sind jetzt am Ende.
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Den letzten Satz, Frau Präsidentin,
Mit der Rede ist er zu Ende.
– richte ich an die Kollegen der Union. In dieser Woche sind viele gute Reden von Ihnen gehalten wurden. Meine herzliche Bitte an Sie, liebe Kollegen der Union, ist, dass das Thema „Entlastung der Mitte der Gesellschaft“ nicht immer nur Wahlkampfthema, sondern endlich ein Regierungsthema wird.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Christian Dürr. – Nächste Rednerin: Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die entscheidende Frage ist doch: „Wer zahlt die Rechnung?“, und diese Frage wurde in dieser Woche nicht beantwortet. Sie dürfen die Wählerinnen und Wähler darüber aber nicht im Unklaren lassen. Herr Scholz, geben Sie uns eine Antwort!
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Union, CDU/CSU also, haben es ganz klar gesagt: Sie wollen nach der Wahl die Schuldenbremse anziehen, bis es quietscht. Das heißt nichts anderes als Sozialabbau. Wir als Linke sagen: Das ist der falsche Weg. Wir wollen eine Vermögensabgabe für Milliardäre
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und ein gerechtes Steuersystem. Sozialabbau oder Vermögensabgabe, das ist der Unterschied, da können sich die Menschen entscheiden.
Einige hatten zu Beginn der Pandemie die Illusion, dass Corona die Gesellschaft zusammenschweißen würde. Aber leider ist das an vielen Stellen nicht passiert, und die Politik der Bundesregierung hat unser Land weiter gespalten; denn die Hilfen wurden ungerecht verteilt: Milliardäre – Stichwort „Lufthansa“ – wurden gerettet, aber fast 1 Million Niedriglöhner haben ihre Arbeit verloren und fielen durch die sozialen Netze.
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Im Bundestag wurde immer wieder das Märchen erzählt – vorhin auch wiederholt von einigen Kollegen –, dass wir uns jetzt nur deshalb so hoch verschulden könnten, weil wir vorher so sparsam waren. Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Sie haben nämlich mit der schwarzen Null aus dem Investitionsstau eine Investitionskrise gemacht. Das Geld fließt nicht mehr ab, weil die Bundesregierung jahrelang im Kürzungsfieber die Voraussetzungen für Investitionen zerstört hat.
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Sie haben also mit der schwarzen Null das Land strukturell investitionsunfähig gemacht, und das ist falsch, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen jetzt ein ziviles Investitionsprogramm. Wir brauchen zum Beispiel bezahlbare Wohnungen. Doch was macht Herr Seehofer, der sich auch Bauminister nennt? Er gibt das Geld mit vollen Händen für das Baukindergeld aus. Damit entstehen aber keine neuen Wohnungen in den Ballungszentren, dort, wo Wohnungen dringend gebraucht werden. Angesichts der angespannten Mietsituation in vielen Städten ist es überhaupt nicht zu akzeptieren, dass 10 Milliarden Euro vom Bund in das Baukindergeld fließen, sich die Mittel für den sozialen Wohnungsbau in der gesamten Legislatur aber nur auf 5 Milliarden Euro belaufen. Das ist genau die falsche Verteilung, das können wir nicht hinnehmen, meine Damen und Herren.
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Nun sind 10 Milliarden Euro an Investitionen vorgezogen worden. Aber auch das geht in die völlig falsche Richtung. Sie bedienen vor allem die Rüstungsindustrie. Das ist nicht nur der falsche Weg, sondern das verstößt auch gegen die Bundeshaushaltsordnung; denn Rüstungsgüter sind keine Investitionsgüter. Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Finanzminister!
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Wir brauchen in unserem Land aber Investitionen in Wohnungen, Schulen, öffentlichen Nahverkehr und Krankenhäuser. Na ja, wenn es um den Verkehr geht, haben wir ja weniger ein Geldproblem, sondern vor allen Dingen ein Personalproblem. Verkehrsminister Andreas Scheuer – ich hoffe, er hat inzwischen ausschlafen können nach der langen Nacht – gibt schon gerne Geld aus, doch das endet in der Regel im Desaster. Aber vielleicht sollten wir ihn noch ein bisschen verteidigen; denn er war nie mehr als der Sekretär eines CSU-Vorsitzenden, ein treuer Parteisoldat,
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der die Maut durchsetzen sollte, koste es, was es wolle.
Wenn CDU und CSU Söder zum Kanzlerkandidaten machen sollten, dann wäre die Maut nicht das letzte Desaster in unserem Land, und das muss verhindert werden, meine Damen und Herren.
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Zurück zu den sinnvollen Investitionen. Wir wollen den armen Kommunen wieder das Investieren ermöglichen. Das spielte heute auch schon eine Rolle in der Debatte. Dazu müssen wir sie aus der Schuldenfalle holen.
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Arme Kommunen müssen endlich von den Altschulden befreit werden. Ursprünglich, Herr Scholz, wollten Sie die Hälfte der Altschulden besonders klammer Kommunen übernehmen; das wären 20 Milliarden Euro gewesen. Doch Sie konnten sich bei Ihrem Koalitionspartner nicht durchsetzen. Das gleiche Problem haben Sie offensichtlich auch bei der Finanztransaktionsteuer, die uns schon seit 2008 versprochen wird; auch hier konnten Sie sich nicht durchsetzen, und das ist schade.
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Meine Damen und Herren, zum 1. Januar 2021 fällt der Soli für 90 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler weg – meist Steuerzahler; denn so hohe Einkommen haben meist Männer. Die 10 Prozent Topverdiener müssen ihn jedoch teilweise oder voll weiterzahlen. Das ist der Union ein Dorn im Auge. Herr Scholz, Sie glauben augenscheinlich, dass die Union mit ihrer Forderung nach einer vollständigen Abschaffung des Solis in eine Falle getappt wäre, da es schließlich nur um Gut- und Spitzenverdiener ginge. Aber es spielt bei der Union doch überhaupt keine Rolle, ob diese Idee in der Gesellschaft mehrheitsfähig ist oder nicht. Die Union sieht sich als Partei der Vermögensverwalter der Geldelite in unserem Land.
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Das ist die Wahrheit, und das müssen die Menschen auch wissen, meine Damen und Herren!
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– Friedrich Merz ist hier gerade schon gelobt worden von einem Ihrer Fraktionskollegen, Kollege Grosse-Brömer; also müssten Sie sich damit vielleicht auch auseinandersetzen.
Meine Damen und Herren, wir haben einen ganz konkreten Vorschlag: Lassen Sie uns doch aus dem Solidaritätszuschlag einen Klimazuschlag machen. Dann zahlt genau die Gruppe den Zuschlag, die auch am meisten CO2 in die Atmosphäre pustet.
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Nach Berechnung von Oxfam hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung 15 Prozent und die ärmere Hälfte der Menschheit 7 Prozent CO2 in der Zeit von 1990 bis 2015 ausgestoßen. Soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille, das müssen wir ganz deutlich sagen, meine Damen und Herren.
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Halten wir also fest: Die SPD kann sich bei Altschulden, bei der Schuldenbremse, bei der Finanztransaktionsteuer, bei der Aufrüstung nicht gegenüber der Union durchsetzen. Vielleicht sollten Sie einmal über andere Koalitionspartner nachdenken, um wirklich soziale Gerechtigkeit in unserem Land durchzusetzen. Das wäre der richtige Weg. Nicht nur im Wahlkampf links blinken, Sie müssen es auch durchziehen und nicht nach der Wahl wieder rechts abbiegen. Das wäre falsch, meine Damen und Herren.
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Es ist auch aufschlussreich, dass in fast allen Politikbereichen die Ausgaben reduziert werden sollen, bloß nicht bei der inneren und äußeren Sicherheit. Doch es muss doch jedem klar sein, dass neue Raketen nicht gegen Viren helfen und neue Kriegsschiffe nicht gegen Altersarmut, die viele Menschen umtreibt.
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Die Unsicherheit, die viele Menschen umtreibt, hat doch keine militärischen Ursachen, sondern soziale. Wir wollen mehr Sicherheit durch mehr Solidarität und nicht durch mehr Aufrüstung, meine Damen und Herren.
({17})
Wenn nun der Generalinspekteur der Bundeswehr meint, dass die NATO Abschreckung wieder zur Priorität machen sollte, dann denkt dieser Mann immer noch in der Kategorie des Kalten Krieges. Wir wollen diese kreuzgefährlichen Strategien aus dem vorigen Jahrhundert in diesem Jahrhundert nicht mehr sehen. Frau Kramp-Karrenbauer, Sie müssen Ihrem Herrn Zorn – passender Name – erklären, dass diese NATO-Strategie wirklich falsch ist.
({18})
Die weitere Aufrüstung der Bundeswehr ist auch kein Beitrag – das sagen wir ganz klar – zur Bekämpfung der Pandemie. Wir fordern Klimaschutz statt Aufrüstung. Und wir fordern endlich eine Entkopplung der Rüstungsausgaben vom Bruttoinlandsprodukt und eine Kopplung des Klimaschutzes an das Bruttoinlandsprodukt. 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für militärische Aufrüstung auszugeben, ist doch heller Wahnsinn. Das machen wir nicht mit, meine Damen und Herren!
({19})
Stellen Sie sich vor, diese 68 Milliarden Euro hätten wir zusätzlich, um die Energiewende zu finanzieren. Die Frage von Krieg und Frieden wird nämlich nicht mehr mit Panzern entschieden, sondern mit einer gerechten Klimapolitik.
({20})
Das werden Militärs wie Herr Zorn wohl nie verstehen. Er müsste einfach einmal eine ehrliche Bilanz ziehen: Allein die Kriegseinsätze der Bundeswehr kosten uns im Jahr circa 1 Milliarde Euro. 800 Millionen Euro stehen im Haushalt; das wird dann regelmäßig überzogen. 1 Milliarde Euro ist sehr viel Geld, wenn man bedenkt, dass mit Auslandseinsätzen die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer wurde. Wir fordern ein Ende aller Kriegseinsätze!
({21})
Meine Damen und Herren, Die Linke will aus diesem Wahlkampfhaushalt einen ehrlichen Haushalt machen. Die Gretchenfrage ist: Wer bezahlt die Pandemierechnung? Wir fordern, es muss sozial geschehen. Wir wollen eine Vermögensabgabe. Das ist die gerechte Antwort.
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Wir wollen keine Sozialeinschnitte. Wir wollen ein besseres, gerechteres und friedlicheres Land!
Vielen Dank.
({23})
Vielen Dank, Dr. Gesine Lötzsch. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Sven-Christian Kindler.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Woche auch die Finanzplanung diskutiert. Herr Scholz, Sie haben eine Finanzplanung vorgelegt, mit der Sie ab 2022 zur unveränderten Schuldenbremse zurückkehren wollen. Das hat Konsequenzen, weil Sie damit gleichzeitig einen gefährlichen Spardruck erzeugen. Sie haben insgesamt für die Jahre 2022 bis 2024 eine Deckungslücke von rund 60 Milliarden Euro, 20 Milliarden Euro pro Jahr nach der Wahl. Wir fordern Sie auf, sich endlich diesen Problemen auch hier konkret im Bundestag und in den Haushaltsberatungen zu stellen. Es darf kein Kaputtsparen nach Corona geben!
({0})
Herr Scholz, Sie haben auf die Erfahrungen nach der letzten Finanzkrise in Deutschland verwiesen und die Hoffnung geäußert, dass es ökonomisch und haushaltspolitisch jetzt ähnlich laufen könnte. Nur ist der Vergleich mit der Finanzkrise und der Situation jetzt wenig zielführend; André Berghegger ist schon auf ein paar Punkte eingegangen.
Erstens hat die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung deutlich mehr Neuverschuldung in den Jahren danach eingeplant und keinen so steilen Abbruch wie Sie jetzt.
Zweitens hat der Bundeshaushalt massiv vom Sinken der Zinsausgaben profitiert. Dort ist der Spielraum weitgehend ausgereizt.
Drittens wird sich Deutschland auch nicht so einfach aus dieser Situation herausexportieren können; dafür sind die Pandemie und die Krise zu global. Es sind zu viele Sektoren, zu viele Länder weltweit betroffen. Da sind die Spielräume auch enger.
Und viertens steckt die deutsche Wirtschaft, anders als vor zehn Jahren, in einer schwerwiegenden, massiven Strukturkrise: bei der Digitalisierung, der klimaneutrale Umbau ist nicht vorangekommen; da besteht massiver Handlungsbedarf.
In einer solchen Situation mit so vielen Herausforderungen darf man nicht einfach sagen: Wir setzen auf das Prinzip Hoffnung. – Das ist zu wenig; da braucht man konkrete Antworten, konkrete Handlungen, man muss jetzt mutig investieren, einen großen Plan für die Zukunft vorlegen. Das erwarten wir jetzt!
({1})
Denn die deutsche Wirtschaft steht vor riesigen Herausforderungen, genau wie die Gesellschaft. Bei der Digitalisierung liegt Deutschland weit hinter China und den USA zurück. Gleichzeitig verschärft sich die Klimakrise massiv, und das jetzt schon bei 1 Grad. Das heißt, wir stehen vor einer großen Zeit der Transformation, ökologisch wie sozial. Die Herausforderung für uns besteht darin, diese Volkswirtschaft, die massiv auf der Ausbeutung, der Verschwendung von fossilen Ressourcen beruht, möglichst schnell umzubauen, das heißt auf erneuerbare Energien umzustellen, um zu 100 Prozent klimaneutral zu werden. Diese Aufgabe ist gigantisch. Wer glaubt, das könnte man irgendwie nebenbei machen, wer glaubt, das könnte man irgendwie aus der Portokasse bezahlen, der irrt gewaltig, der hat diese Aufgabe und die Herausforderung nicht verstanden, um die es jetzt geht.
({2})
Deswegen sagen wir – wie das auch der DGB und der BDI, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, gesagt haben –: Wir brauchen jetzt einen großen Investitionsfonds für die nächsten zehn Jahre. Wir schlagen vor, dass man dafür 500 Milliarden Euro bereitstellt und in klimaneutralen Stahl, in eine klimaneutrale Chemieindustrie, in klimaneutrale Mobilität, in eine Wirtschaft, die 100 Prozent erneuerbare Energien nutzt, investiert, und das in allen Sektoren. Das steht jetzt an, meine Damen und Herren.
({3})
Gleichzeitig haben wir aber auch Glück. Die Zinslage ist anders als vor zehn Jahren: Die Zinsen sind extrem niedrig, zurzeit sogar negativ. Dadurch gibt es eine Win-win-Situation. Warum soll man in so einer Situation – riesiger Transformations- und Investitionsbedarf und gleichzeitig historisch niedrige Zinsen – diese Chance nicht auch nutzen? Ich finde es verantwortungslos, wenn man aus ideologischen Gründen sagen würde: Wir wollen diese Chance nicht nutzen; wir wollen keine neuen Kredite aufnehmen. – Das ist nicht nachhaltig.
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Deswegen schlagen wir vor, in diesen Haushaltsberatungen auch darüber zu reden, wie wir eine Reform – ich sage bewusst „Reform“ und nicht „Abschaffung“ – der Schuldenbremse voranbringen können. Wir schlagen vor, einen großen Investitionsfonds einzurichten und Nettoinvestitionen über neue Kredite finanzieren zu können.
({5})
Wir können uns sehr genau anschauen, was bei der Schuldenbremse funktioniert hat und was nicht funktioniert hat. Wo ist eine neue Situation eingetreten? Wo haben wir Weiterentwicklungsbedarf? Ich finde, wir sollten hier offen und ehrlich darüber reden, wie wir eine kluge, ehrliche, pragmatische Investitions- und Haushaltspolitik machen können. Hier darf es keine Dogmen geben. Ich fordere SPD und Union auf, sich dieser Debatte zu stellen.
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Herr Scholz, ein guter Haushalt braucht auch gute Einnahmen. Ich finde, man muss sich als Finanzminister auch darum kümmern, dass Steuern, die gezahlt werden müssen, auch gezahlt werden. Da wundere ich mich schon über den Unterscheid zwischen dem, was Sie in Sonntagsreden sagen, und wie Sie nachher handeln. Das Land Hamburg hat in Ihrer Zeit als Bürgermeister beim Cum/Ex-Skandal 47 Millionen Euro von der Warburg-Bank nicht zurückgefordert. Ich meine, wer im Hohen Haus will denn glauben, dass Sie mit Herrn Olearius von der Warburg-Bank nur nett Kaffee trinken? Wer im Hohen Haus glaubt denn wirklich, dass eine Steuerfachangestellte in so einem Fall, wo die Staatsanwaltschaft ermittelt, wo alle Länder und der Bund eine andere Rechtsauffassung haben, ohne politische Rückversicherung eine so weitreichende Entscheidung fällt? Wen wollen Sie eigentlich für dumm verkaufen? Das kann doch nicht wahr sein! Sie müssen in dieser Frage endlich alle Karten auf den Tisch legen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Sven-Christian Kindler. – Der nächste Redner: der Bundesminister Olaf Scholz für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal bedanke ich mich für die bisherige Befassung mit dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung. Das war eine sehr spannende Woche. Es werden noch viele weitere Wochen folgen, bis es zur endgültigen Beschlussfassung hier in diesem Haus kommt. Aber das kann man schon sagen: Es geht um einen Haushalt in einer sehr bewegenden Zeit, und wir haben sehr große Herausforderungen vor uns. Aber er reflektiert das auch. Die vielen hier schon angesprochenen zusätzlichen Kreditmittel, die der Bund in diesem Jahr und im nächsten Jahr aufnimmt, dienen genau dazu, dass wir besser durch die Krise kommen, als wenn wir das nicht tun würden.
Manche Argumente, die man gegenwärtig hört, klingen so komisch, weil sie irgendwie gar nichts mit dieser Entscheidung zu tun haben. Die einen sagen: „Das ist zu viel“, die anderen sagen: „Das ist zu wenig“, und dann reden sie über ganz andere Dinge. Tatsächlich setzen wir diese große Menge Geld zur Stabilisierung der Konjunktur und für Investitionen in die Zukunft Deutschlands ein, und genau das ist richtig so.
({0})
Natürlich ist es richtig, dass sich alle nicht nur über den Haushalt Gedanken machen, den wir jetzt unmittelbar zu beschließen und zu beraten haben, sondern auch über die Finanzplanung, also über die Frage: Was wird mit den nächsten Jahren? Eine Aussage kann man schon ganz klar machen: Wenn wir diese hohen Mittel nicht einsetzen würden, dann würde die Finanzplanung ziemlich schwierig werden; denn die Grundlage für alles, was wir tun, ist ein ordentliches Wirtschaftswachstum, das wir in den nächsten Jahren brauchen. Genau das versuchen wir mit unseren Maßnahmen zu erreichen.
({1})
Es funktioniert sogar. Es ist auch schwer, mitten in einer Haushaltsberatung darüber hinwegzusehen, einigen gelingt es aber ganz aktiv. Trotzdem will ich Sie darauf stoßen: Es ist so, dass die Arbeitslosigkeit sich gut entwickelt, dass der Konsum sich gut entwickelt und dass die Wachstumszahlen sich gut entwickeln. Wir wissen angesichts der großen Herausforderungen, die die Pandemie für die ganze Menschheit mit sich bringt, und der Tatsache, dass sich nun wirklich niemand sicher sein kann, dass das Virus ihn nicht infiziert,
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nicht, was alles noch kommen wird. Aber wenn das geschieht, was wir hoffen dürfen und worauf wir so hart mit all den Mitteln, die wir eingesetzt haben, hingearbeitet haben, dann können wir davon ausgehen, dass wir Anfang übernächsten Jahres das wirtschaftliche Niveau der Vorkrisenzeit erreicht haben. Das wäre etwas, was vor wenigen Wochen niemand geglaubt hätte – ein guter Erfolg der Politik der Bundesregierung. Schönen Dank für die Unterstützung durch den Bundestag!
({3})
Im Übrigen ist es so, dass wir die Frage, wie es weitergeht, hier in diesem Haus noch erörtern werden, nicht nur unter Bezugnahme auf die Finanzplanung der Regierung, die sich überlegt, wie es wohl weitergehen könnte, sondern auch mit einem ganz konkreten Haushaltsgesetz. Im Frühjahr nächsten Jahres wird über die Eckwerte für das Jahr 2022 entschieden; das ist noch regierungsintern. Dann wird es im Sommer einen Haushaltsgesetzentwurf der Regierung geben. Wir werden sogar noch in dieser Legislaturperiode über diesen Haushaltsgesetzentwurf für das Jahr 2022 miteinander diskutieren. Deshalb sind all diejenigen, die sich hier mit erregter Geste hingestellt haben und gesagt haben, man wisse ja gar nicht, was da sei, und es würden alles künftige Regierungen alleine lösen müssen, nicht richtig orientiert. Dieser Deutsche Bundestag wird über den Haushalt für das Jahr 2022 und dann sogar über die Finanzplanung bis 2025 diskutieren. Auch das ist hilfreich im Hinblick auf die Entscheidungen, die die Bürgerinnen und Bürger dann zum Ende des Jahres zu treffen haben.
({4})
Es wäre aber schön, wenn das Argument nicht immer weiter verwendet würde, weil es sachlich komplett falsch und einfach nicht plausibel ist.
Im Übrigen glaube ich, dass sich, wenn wir uns dieser Zeit nähern, trotzdem eine Frage stellen wird, die wir alle zu beantworten haben – davor kann sich niemand drücken –, nämlich: Wie geht es weiter? In der Tat, für mich jedenfalls ist ganz klar – das will ich auch gar nicht verhehlen –, dass die Zeit nach 2022 eine Zeit wird, in der wir nur durchkommen, wenn wir das aufrechterhalten, was uns jetzt in dieser Krise stark macht, nämlich eine starke Wirtschaft, ein leistungsfähiges Gemeinwesen und ein gutes Gesundheitswesen, einen guten Sozialstaat. Ohne – auch das will ich sagen – ein faires, gerechtes Steuersystem wird das niemals funktionieren, nirgendwo in der Welt und auch hier nicht.
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Darum werde ich auch dafür stehen, dass das einer der Wege ist, den wir miteinander zu gehen haben.
Ich will das ausdrücklich im Hinblick auf die Zukunftsfragen ergänzen, die in diesem Haushaltsentwurf angesprochen und mit unglaublich vielen Milliarden unterlegt sind. Ja, wir haben eine große Herausforderung vor uns. CO2-neutral zu wirtschaften im Jahre 2050, ist das komplette Ummodeln der Art und Weise, wie wir wirtschaften im Jahre 2020, und das, obwohl die heutige Art und Weise auf einer Praxis, auf einer Erfahrung, auf einer Investitionstätigkeit beruhen, die seit 200 Jahren den wirtschaftlichen Wohlstand hierzulande und in vielen anderen Ländern geschaffen haben.
Aber deshalb bin ich auch nicht bei den Skeptikern, die immer sagen: „Das ist alles teuer“, und das gewissermaßen als ein großes Subventionsgeschäft begreifen. Ja, wir müssen mit milliardenschweren Investitionen, wie wir uns das vorgenommen haben, das schaffen – mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, durch Schaffung eines Stromnetzes, das diese erneuerbaren Energien auch verteilen kann, damit der Strom, der irgendwo entsteht, überall sein kann, wo man ihn braucht. Ja, wir müssen das hinbekommen mit der Elektrifizierung der Verkehre und der Wasserstoffwirtschaft. Aber es sind auch neue Wirtschaftszweige, neue Arbeitsplätze und neue Verdienstmöglichkeiten, die die Finanzierung des Staates dann mit sich bringt. Wir sollten das nicht nur defizitär, sondern als Wachstumschance für Deutschland diskutieren. Der Umweltschutz, den wir brauchen, wird eine große Wachstumsmöglichkeit für Deutschland sein, meine Damen und Herren. Und weil das so ist, befinden wir uns auf dem richtigen Weg.
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Ich bedanke mich schon jetzt für die guten Debatten in diesem Haus und freue mich auf die Schlussdebatte, wo wir dann endgültig über diesen Haushalt reden werden.
Schönen Dank.
({7})
Vielen Dank, Olaf Scholz. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Norbert Kleinwächter.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Minister, Sie haben gerade als nötiges Ziel die CO2-Klimaneutralität angesprochen, wobei Sie wieder riesige Investitionen an die Wand gemalt haben. Ich habe schon die Frage an Sie: Wer von den Wählern hat das je so gewollt? Warum machen Sie nicht einmal Elemente der direkten Demokratie und lassen das, was Sie gerade dargestellt haben, wirklich einmal abstimmen? Ich glaube, Sie haben nicht die Mehrheit der Menschen in Deutschland hinter sich.
({0})
Aber dieser Haushaltsentwurf ist nun wirklich einer, in dem die Bundesregierung ihre Maske hat fallen lassen. Er ist ein Haushalt des Übermaßes, und er ist ein Haushalt der Verantwortungslosigkeit unserem Land und der jungen Generation gegenüber.
({1})
Diese Art von Verantwortungslosigkeit kennen wir leider von Frau Merkel insbesondere persönlich seit Jahren. Vor gut zehn Jahren gab es schließlich in Griechenland die Schuldenkrise, und sie hat es gestattet, dass die Maastricht-Kriterien gebrochen wurden; Milliarden Euro wurden aus dem Fenster geworfen. Vor fünf Jahren hatten wir die Situation mit den syrischen Flüchtlingen, nicht wahr? Da öffnete Merkel die Schleusen für die angeblichen Geflüchteten, aber auch für viel illegale Migration. Zehntausend, nein, Hunderttausend, nein, über 1 Million Menschen kamen – reinstes Übermaß.
Nun haben wir Corona, und Merkel und ihre Regierung
({2})
reagieren schon wieder im Übermaß, sperren das Volk hinter Masken, verbieten Veranstaltungen, verhängen einen Lockdown, von dem die wirtschaftlichen Folgen noch gar nicht klar sind, und verschulden dieses Land für Jahrzehnte, brechen dabei das Grundgesetz und auch die EU-Verträge, und das alles mit dem Zauberwort: Wir haben ja Corona.
({3})
Jetzt muss ich tatsächlich einen kurzen Exkurs zu Corona machen – Sie haben es wahrscheinlich alle in der Zeitung gelesen –: Ich hatte das. Es ist eine Krankheit, bei der unter Medizinern durchaus umstritten ist, wie schlimm sie ist. Ich wünsche allen, wenn sie es bekommen, einen so milden Verlauf, wie ich ihn hatte. Aber das muss ich anfügen: Die Menschen, Herr Spahn, brauchen keine Angst vor Corona zu haben, oder davor, infiziert zu werden, sondern davor, was die Regierung bzw. die Ämter dann mit ihnen machen.
({4})
Was passiert denn nämlich, wenn sie in Quarantäne sind? Ich muss das mal ganz kurz erzählen: Sie haben keinen Zugang mehr zu anständiger gesundheitlicher Versorgung.
({5})
Meine Frau hatte in der Quarantäne einen Haushaltsunfall.
({6})
Da haben wir beim Gesundheitsamt angerufen, und da hieß es: Wir sind nicht zuständig; wenden Sie sich bitte an Ihren örtlichen Hausarzt. – Der Hausarzt hat gesagt: Oh Gott, Covid-Verdacht! Machen wir nicht. Wenden Sie sich ans Krankenhaus. – Das Krankenhaus hat gesagt: Da sind wir nicht zuständig; wenden Sie sich an die 116/117. – Und bei der 116/117 hat man uns gesagt: Wir suchen Ihnen einen Termin, und dann kam kein Termin.
Darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir eigentlich in der Schlussrunde der Haushaltsdebatte sind?
({0})
Es gab keinen Termin. Das ist verantwortungslos, im Übrigen genauso verantwortungslos – Frau Präsidentin, ich komme zum Thema zurück – wie der Haushalt.
({0})
Wenn wir uns die Zahlen anschauen – 413,4 Milliarden Euro geplante Ausgaben in 2021, 508,5 Milliarden Euro in 2020 bei einer Nettokreditaufnahme von insgesamt 315 Milliarden Euro –, dann erkennen wir das Übermaß für eine Krankheit, die bei den allermeisten sehr wenige Symptome auslöst, dann erkennen wir, wie bizarr es ist, die Verschuldung unseres Landes auf eine Quote von 75,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Und als ob das nicht genug wäre – das werfe ich Ihnen wirklich vor; man könnte das ja auf nationaler Ebene vielleicht noch diskutieren –, haben Sie in Brüssel auch noch die Spendierhosen an und erfüllen Ursula von der Leyens Wunsch – Sie wollte ja 1 Billion Euro für den Green Deal haben, nicht wahr? 750 Milliarden Euro haben Sie abgemacht – nach einem Programm zur sozialökologischen Transformation, mit dem mal wieder übermäßige Klimaziele umgesetzt werden sollen. Das sind sinnlose Fehlinvestitionen, die der Zukunft gar nichts bringen, die nur ideologische Träume erfüllen.
({1})
Herr Kleinwächter, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dieses Programm – das ist auch mein Schlusssatz – hat den richtigen Titel: „Next Generation EU“; denn die nächste Generation wird darunter sehr viel zu leiden haben.
Ich bitte Sie herzlich, diesen Entwurf ordentlich zu überarbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Brehm.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei 1 Million toten Menschen hier so zu reden, ist respektlos und unwürdig für dieses Haus.
({0})
Man sollte dem wirklich mal einen Riegel vorschieben.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die erste Haushaltswoche für den Haushalt 2021 neigt sich dem Ende zu. Gerade in dieser Woche ist noch mal klar geworden, dass wir aktuell in 2020, aber auch im kommenden Jahr 2021 nicht nur gesundheitlich vor ganz besonderen Herausforderungen stehen, auch wenn es manche leugnen, sondern auch haushaltstechnisch und wirtschaftlich enorme Herausforderungen zu bewältigen haben, und das zusätzlich zu dem eh schon herausfordernden Strukturwandel und dem notwendigen Transformationsprozess der deutschen Wirtschaft.
Aber auch das ist in dieser Woche noch einmal ganz klar geworden: Kein Land auf dieser Welt hat in dieser Form auf die Herausforderungen so umsichtig und klug reagiert, wie es Deutschland getan hat.
({2})
Wir haben enorme Anstrengungen unternommen, um gerade den Unternehmerinnen und Unternehmern mit ihren vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu helfen, wo es geht: Kurzarbeitergeld, Stundung von Steuerbeträgen, KfW-Darlehen mit 100 Prozent Haftungsschirm, Coronasoforthilfe, Coronaüberbrückungshilfe 1, Coronaüberbrückungshilfe 2, ein Investitionsvolumen von 77 Milliarden Euro; in 2021 werden es weitere 55 Milliarden Euro sein. Und wir konnten die Investitionskraft unserer Kommunen stärken, indem wir letzte Woche die Übernahme der Gewerbesteuerausfälle durch eine Grundgesetzänderung ermöglicht haben. Jetzt geht es darum, dass die Kommunen diese Gelder auch abrufen, damit das Geld dort ankommt, wo es ankommen soll.
Natürlich gibt es noch viel zu tun. Wir fahren täglich auf Sicht und schauen, wo wir eingreifen müssen. Wir greifen dort ein, wo es notwendig ist, um die Leistungsfähigkeit und die Wirtschaftskraft unseres Landes zu erhalten. Es gibt noch viele offene Fragen: Soloselbstständige, Künstler, Hotels und andere Bereiche. Diese gehen wir aber tatkräftig und täglich an, mit aller Entschlossenheit und Konzentration, und es wird uns gelingen.
Ich halte nichts von dieser ewigen Kritik und Schlechtmacherei zum eigenen politischen Profit, gerade am rechten Rand des Parlaments; Herr Boehringer hat das hier gemacht, Herr Kleinwächter auch. Ich kann mich übrigens an keine Sitzung im Fachausschuss oder im Parlament erinnern, wo von Ihnen ein wirklich substanzieller fachlicher Beitrag geleistet worden ist und wo wirklich Ideen eingebracht worden sind, wie man die Krise meistert.
({3})
Also: nicht nur motzen, sondern auch mal malochen; das ist die Devise. Wir packen an, wir handeln, wir helfen, und das tun wir als CDU/CSU.
({4})
Dass unsere Maßnahmen greifen, zeigt sich übrigens an den Prognosen für das Wirtschaftswachstum. Für 2020 liegt es jetzt bei minus 5,8 Prozent;
({5})
das war ja schon weit schlechter. Im Jahr 2021 kommt es zu einem geschätzten Wachstum von 4,4 Prozent. Das geht aber nicht automatisch. Wir müssen weiter konzentriert bleiben und notwendige Schritte einleiten.
Im Haushalt 2021 wird es noch einmal zu einer Schuldenaufnahme von 96 Milliarden Euro kommen.
({6})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel muss nach 2021 wieder die schwarze Null sein. Das hat unsere letzten Haushalte leistungsstark gemacht, und das hat übrigens dazu geführt, dass wir jetzt die finanziellen Mittel haben, um diese Ausgaben und Herausforderungen zu schultern.
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Dazu gehört zum einen, dass wir auf der Ausgabenseite klare Prioritäten setzen: keine weiteren langfristigen strukturellen Mehrkosten; Ausgaben für Investitionen: ja, Mehrausgaben ohne Investitionscharakter: nein.
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Doch das tun wir, glaube ich, noch nicht mit dem notwendigen Nachdruck. Deswegen müssen wir hier noch in den Haushaltsberatungen ringen. Das ist wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.
Zu dem Ziel der schwarzen Null ab 2022 gehört aber auch, dass wir auf der Einnahmeseite alle Anstrengungen unternehmen, damit die Steuereinnahmen wieder so hoch sind wie 2019.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Woche hätte sich nicht deutlicher zeigen können, welche Unterschiede es hier in diesem Parlament gibt. SPD, die Linken und die Grünen fordern deutliche Steuererhöhungen, die Erhebung der Vermögensteuer, eine höhere Besteuerung von Immobiliengeschäften, noch mehr Kontrollen, eine Ausweitung der Anzeigepflicht, noch mehr Bürokratie, noch mehr Misstrauen gegenüber unseren Unternehmerinnen und Unternehmern;
({9})
das hat man in den Reden wieder gehört. Anstatt sich um die Brocken zu kümmern, um die man sich kümmern muss, zum Beispiel bei Wirecard oder bei AvP, sieht man vor lauter Wald die Bäume nicht mehr und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
({10})
Ich glaube, dass es falsch ist, dieses Misstrauen den Unternehmerinnen und Unternehmern entgegenzubringen. Wir vertrauen ihnen. Dieser Generalverdacht ist falsch. Die CDU/CSU vertraut den Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland.
({11})
Diese Konzepte der Steuererhöhung, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Linken und der Grünen, sind Gift für unsere Wirtschaft,
({12})
sind Gift für unsere Wettbewerbsfähigkeit und sind übrigens auch Gift für den Erhalt der Arbeitsplätze in unserem Land.
({13})
Was hat unser Land immer stark gemacht? Unser Land hat stark gemacht, dass wir denjenigen das Vertrauen schenken, die täglich mit harter Arbeit Umsätze generieren, gesicherte Arbeitsplätze zur Verfügung stellen und nachhaltige Steuereinnahmen erwirtschaften.
({14})
Das sind unsere Mittelständlerinnen und Mittelständler, das sind unsere Bauern, das sind unser Handwerk, unsere Industrie und die vielen, vielen fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir schenken ihnen dieses Vertrauen.
({15})
Anstatt Millionen in Bürokratiekosten, in Anzeigepflichten und Kassenbons zu stecken, wollen wir den Unternehmerinnen und Unternehmern die Freiheit geben, in die notwendige ökologische Transformation zu investieren.
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Anstatt mehr Zeit für Bürokratie zu verwenden, wollen wir den Unternehmerinnen und Unternehmern Freiheit geben für die Entwicklung neuer Technologien und innovativer Geschäftsideen.
({17})
Und anstatt Vermögen abzuschöpfen, wollen wir den Unternehmerinnen und Unternehmern die finanzielle Kraft geben, notwendige Investitionen in Digitalisierung und den internationalen Wettbewerb vorzunehmen.
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Das ist der Weg, den wir als CDU/CSU beschreiten wollen. Deswegen haben wir ein Konzept für eine notwendige Modernisierung der Unternehmensbesteuerung vorgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn nur mit einer notwendigen Modernisierung der Unternehmensbesteuerung kommt es zu mehr Investitionen und kommt es zu Wachstum in unserem Land.
({19})
Und wir brauchen Wachstum, um die Pandemie und die Herausforderungen zu schaffen.
({20})
Wir brauchen eine deutliche Entlastung von Bürokratie. Wir brauchen deshalb mehr denn je neues Vertrauen – hier wende ich mich an alle Seiten in diesem Haus – in unsere deutsche Wirtschaft. Wir schenken unserer deutschen Wirtschaft das notwendige Vertrauen, und wir wollen ihr auch die notwendigen Instrumente geben, damit wieder Wachstum entsteht und damit es zu Investitionen kommt, sodass wir die Krise schultern können und dann natürlich auch wieder die schwarze Null haben. Wir wollen langfristig wettbewerbsfähig sein, international stark, innovativ, technologieoffen. Wir wollen Ökologie und Ökonomie zusammenbringen, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Optimismus und Tatkraft. Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken!
Herzlichen Dank.
({21})
Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Bettina Stark-Watzinger.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Es ist schon ein paarmal gesagt worden: Sie nehmen so viele Schulden in so kurzer Zeit auf wie kein Finanzminister vor Ihnen. Jeden Tag nehmen Sie Schulden in Höhe der Baukosten einer Allianz Arena auf: 286 Millionen Euro. Liebe Ulli Nissen, vielleicht kannst du mal deinen Einfluss geltend machen, dass Herr Scholz zur Eintracht kommt. Wir schaffen das nämlich mit weniger als der Hälfte, und bei uns ist die Stimmung im Stadion auch noch besser.
({0})
Jetzt drei Schlaglichter zum Haushalt. Es geht nämlich nicht nur darum, wie viel Geld wir ausgeben, sondern auch darum, wofür wir das Geld ausgeben.
Erstens. Der Haushalt hat eine klare Schlagseite. Mittelfristig – wir reden nicht über ein Krisenjahr, in dem der Staat viele Leistungen übernehmen muss – wird das einzige Ministerium, das einen größeren Aufwuchs hat, das Ministerium für Arbeit und Soziales sein. In Bildung und Forschung wird mittelfristig real weniger investiert. Herr Finanzminister, ein Etat ist nicht so gerecht und sozial, wie er groß ist, sondern so sozial, wie er Chancen bietet.
({1})
Zweitens. Das Programm der Minister Altmaier und Scholz führt klar in Richtung „mehr Staat“: öffentliche Investitionen, die dann aber nicht abfließen. Wir brauchen private Investitionen. Kollege Brehm, ich habe Ihre Worte gehört, aber die Taten fehlen mir. Wir brauchen endlich eine Entlastung für Unternehmer und für Verbraucher, für Privathaushalte, damit wir nachhaltigen Konsum haben und damit wir Arbeitsplätze haben. Wir brauchen endlich den lange versprochenen Zukunftsfonds für Start-ups, und wir brauchen Respekt vor der Leistung der Selbstständigen. Dann haben wir wieder eine starke Wirtschaft in unserem Land.
({2})
Drittens. Wir müssen, wenn wir seriös über diesen Haushalt sprechen wollen, auch über die mittelfristige Finanzplanung sprechen. Mittelfristig klafft da ein strukturelles Defizit – nach Corona – in Höhe von 131 Milliarden Euro bis 2024. Viele strukturelle Entscheidungen wurden vor Corona getroffen, sie sind nicht durch Corona bedingt. Sie stellen viele ungedeckte Schecks zulasten derer aus, die heute noch keine Stimme haben. Herr Scholz, mit Ihrer Aussage: „Wenn man so viel Geld ausgibt, dann wird es ja wohl möglich sein, eine Grundrente zu finanzieren“, haben Sie die Maske der finanzpolitischen Solidität fallen lassen.
({3})
Wer Kanzler werden will, der muss sich auch mal unbeliebt machen, der muss auch mal Nein sagen können, der muss auch dafür sorgen, dass wir eine Trendwende in der Haushaltspolitik nach Corona sehen.
Liebe Kollegen von der Union, lieber Ecki Rehberg, ich finde, Sie sind ein kluger Politiker; ich schätze, was Sie sagen.
({4})
Ich habe auch Ralph Brinkhaus in dieser Woche gehört. Ich habe gehört, wie er gesagt hat: Wir brauchen endlich wieder Solidität in unseren Finanzen.
({5})
Aber Sie sitzen nicht im Zuschauerraum,
({6})
Sie sind Teil des Theaterstücks auf dieser Bühne.
({7})
Der Haushalt ist ein Haushalt der Großen Koalition. Sie beide sind dafür verantwortlich, meine Damen und Herren.
Ich freue mich auf die Haushaltsberatungen.
({8})
Vielen Dank, Frau Stark-Watzinger. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Ekin Deligöz.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Kollege Scholz! Wir gehen jetzt in das letzte reguläre Haushaltsverfahren in dieser Wahlperiode. Und ja, natürlich spielt Corona da eine sehr große Rolle. Bei den letzten zwei Nachtragshaushalten haben wir als Grüne Sie ja an sehr vielen Punkten unterstützt, weil wir die Investitionen und die Ausgaben zur Krisenbewältigung in dieser Phase für richtig empfunden haben. Sie haben sicherlich auch bedeutende Folgen der Krise abgefedert.
Aber Ihr Etat zeigt uns heute, dass vieles von dem, was wir jetzt als Problem analysieren, schon vor der Krise ein Problem war.
({0})
Da will ich Ihnen ein paar Beispiele geben: Das strukturelle Minus in Ihrem Bundeshaushalt wäre auch ohne Corona gekommen, weil Sie verpasst haben, rechtzeitig in diesem Land vorzusorgen.
({1})
Auch das Problem hinsichtlich der finanziellen Nachhaltigkeit der Sozialversicherungen wäre ohne Corona gekommen, weil Sie Kosten auf die Sozialversicherung abgewälzt haben und damit auch auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
({2})
Die wirtschaftlichen Folgen von Corona werden genau diese Probleme noch vergrößern.
Sie selber haben erklärt, dass es eine Finanzlücke von 42 Milliarden bis 2024 gibt, und da rechnen Sie noch nicht mal die globalen Minderausgaben mit ein, die quer über alle Etats noch drin sind. Und Sie rechnen auch die ganzen Folgekosten nicht ein, die für die Sozialversicherungen noch obendrauf kommen. Redlich ist das, was Sie hier machen, nicht. Sie machen eines: Sie rechnen sich das für das Wahljahr schön. Sie wollen im Wahljahr gut dastehen.
({3})
Was danach kommt, ist Ihnen egal.
Dann reden Sie davon, dass Sie jetzt so wahnsinnig viel investieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier wird etwas schöngerechnet, und das will ich Ihnen aufzeigen. Sie zählen bei den Investitionsausgaben auf: 9,3 Milliarden für die Bundesagentur für Arbeit als Darlehen. Das wird als Investition verbucht. Dahinter stecken aber die Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld, eine klassische Transferleistung, alles andere als eine Investition. Sie tricksen, Sie rechnen es schön. Sie tun so, als seien die Investivausgaben hoch; sie sind es aber nicht, Herr Scholz.
({4})
Sie stellen sich hierhin und reden von Investitionen in Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Klimaschutz. Aber wo sind die in Ihrem Etat? Warum können wir sie nicht finden? Das, was Sie machen, läuft doch schief. Was bringt mir denn der beste Zuschuss für ein Elektroauto, wenn ich es bei Bedarf nicht dort laden kann, wo ich es brauche? Natürlich läuft das in die Leere, weil das, was Sie machen, alles andere als nachhaltig ist.
({5})
Die Klimakrise, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht aber keine Coronapause. Die Klimakrise erfordert von uns, dass wir jetzt für Morgen handeln, und das Ganze braucht Zeit. Deshalb müssen wir jetzt einsteigen. Und ja, dazu gehört auch Digitalisierung. Ehrlich gesagt, hatte der Kollege Dürr vorhin doch vollkommen recht:
({6})
Sie sind doch gerade dabei, mit dem, was Sie machen, die komplette Digitalisierung in den Sand zu setzen.
({7})
Die 5 Milliarden Euro für die Schulen sind doch nur ein Beispiel dafür. Man kann ganz viele andere aufzählen.
Kommen wir doch mal zu dem, was Sie im Bereich „Betreuung und Bildung“ machen. Sie nehmen Geld in die Hand für die Schulkindbetreuung, die Ganztagsschulen. Super, dass Sie dafür Geld in die Hand nehmen! Die Leute wissen nur nicht, wie sie das Geld in Anspruch nehmen sollen, weil Sie gar keinen Masterplan haben. Was ist denn mit der Einstellung von Fachkräften? Was ist denn mit den Betriebskosten? Wo und wie soll denn das Geld beantragt werden? Das verraten Sie den Ländern netterweise nicht. Und hinterher wundern Sie sich, dass das Geld nicht abfließt. Also, so funktioniert das nicht.
({8})
Auch zu den Kitas kommt eine Maßnahme nach der anderen; das ist komplett undurchsichtig. Und es braucht eine Kanzlerin, die einen Bildungsgipfel einberuft, damit sich die Ministerin mit den Ländern endlich einmal an einen Tisch setzt. Davor hat das nämlich nicht stattgefunden.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hören Sie auf, das Alte zu konservieren. Was wir brauchen, ist eine Investition in die Zukunft, und dafür steht grüne Politik.
({10})
Vielen Dank, Ekin Deligöz. – Der nächste Redner ist von der SPD-Fraktion Dennis Rohde.
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Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt die erste Haushaltswoche nahezu hinter uns. 30 Minuten Debatte liegen noch vor uns. Das ist immer die Chance, auf das eine oder andere noch einzugehen.
Ich möchte auf eine Sache eingehen, die uns schon beschäftigt, nämlich das Spannungsfeld zwischen dem, was wir in der Krise, die wir vor uns haben, machen, und den Möglichkeiten und Maßgaben, die unsere Verfassung bietet. Das ist natürlich etwas, mit dem wir uns intensiv auseinandersetzen. Wir haben nun einmal klare Vorgaben in der Verfassung, was die Nettokreditaufnahme angeht. Wir haben klare Vorgaben, wie viel Schulden wir zusätzlich aufnehmen dürfen, um den Haushalt auszugleichen. Und wir dürfen darüber nur hinausgehen, wenn wir uns in einer außergewöhnlichen Notsituation befinden, die sich der Kontrolle des Staates entzieht. Ich finde, man kann nur sehr schwer argumentieren, dass wir uns in dieser Situation nicht befinden. Wir haben eine Notsituation. Wir haben eine weltweite Pandemie. Wir haben über 1 Million Tote, wir haben über 34 Millionen Infizierte weltweit, und wir haben auch in Deutschland wieder eine deutliche Zunahme an Fällen, übrigens zunehmend in allen Altersgruppen.
Diese Pandemie entzieht sich weiterhin unserer staatlichen Kontrolle. Wir haben keinen Wirkstoff, der auf Covid-19 zielt. Wir haben keinen Impfstoff, Stand heute. Nur die Disziplin unserer Bevölkerung und die Einschränkungen, die insbesondere die Landesregierungen auf den Weg gebracht haben, helfen uns, durch diese Krise zu kommen.
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Natürlich schlägt sich das auch auf die deutsche Wirtschaft nieder: Wir haben einen extremen Rückgang der Wirtschaftsleistung um über 5 Prozent. Eine Erholung ist nicht mit Sicherheit in Sicht. Wir sehen eine Erholung, aber wir haben keine Sicherheit, weil wir nicht wissen, wie die Pandemie verläuft. Unsere Wirtschaft wird das alles nicht ohne Unterstützung hinbekommen.
Die zweite Vorgabe ist: Wir brauchen eine erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage. Wir haben allein im Haushaltsjahr 2021 im Gegensatz zu den eigentlich mal geplanten Eckpunkten Steuermindereinnahmen von über 32 Milliarden Euro. Allein diese 32 Milliarden Euro sind deutlich mehr als das, was wir zulässigerweise an Krediten aufnehmen könnten. Das sind nämlich nur – das ist alles sehr kompliziert zu rechnen –, wenn man die Finanzsalden der Sondervermögen berücksichtigt, 10 Milliarden Euro. Also würden wir die zulässige Nettokreditaufnahme schon um 18 Milliarden Euro überschreiten, allein um die Einnahmeausfälle zu kompensieren. Und es kann ja keiner bestreiten, dass wir zusätzliche Ausgaben tätigen müssen. Es kann ja keiner bestreiten, dass wir Herausforderungen vor uns haben.
Hier geht es um verschiedene Dinge. Zum einen haben wir Maßnahmen zur Stabilisierung. Wir haben das Kurzarbeitergeld, das wir jetzt auch durch Steuereinnahmen stabilisieren. Wir haben den Gesundheitsfonds, den wir zusätzlich stabilisieren. Wir haben im Haushalt 2021 Vorsorge für Überbrückungshilfen getroffen, weil keiner weiß, wie sich die Wirtschaft weiter entwickelt. Wir haben eine allgemeine Pandemievorsorge, weil wir nicht wissen, worauf wir kurzfristig noch reagieren müssen. Wir haben zum Beispiel Mittel für Digitalisierung, damit wir im nächsten Shutdown vielleicht etwas besser aufgestellt sind. Zum anderen haben wir Maßnahmen, die in die Zukunft reichen, Maßnahmen, die dabei helfen, dass wir diese Krise nachhaltig verlassen und neue Kraft gewinnen, zum Beispiel die Ausgaben für die Wasserstofftechnologie, für die künstliche Intelligenz oder für die Quantentechnologie.
Man kann bei all den Maßnahmen, die ich aufgezählt habe, unterschiedlicher Meinung sein. Man kann darüber streiten oder diskutieren, ob das die richtigen Schwerpunkte sind. Aber das ist ein normaler politischer Diskurs, den wir hier führen, und nicht, was einige manchmal behaupten, eine verfassungsrechtliche Debatte; das möchte ich an dieser Stelle einmal deutlich machen. Ich bin überzeugt, dass das, was wir hier auf den Weg bringen, richtig und wichtig ist, um aus dieser Krise weiter herauszukommen.
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Und dann gibt es die Dinge, die Tagesgeschäft sind, aktuelle Themen, die wir bereits vor der Krise adressiert haben, Dinge, mit denen wir uns heute auseinandersetzen. Ich will einmal zwei große Themen herausgreifen: die Grundrente und das Strukturstärkungsgesetz. Beide haben hohe Priorität, und beide sind auf Dauer bzw. auf einen langen Zeitraum angelegt. Jetzt kann man natürlich die politische Forderung aufstellen: Streicht das! Macht das jetzt nicht; wir sind in einer Krise. – Man kann auch fordern, bei den Renten zu kürzen, beim Klimaschutz, bei den Kindertagesstätten. Aber ich finde, unser Grundgesetz ist auch an der Stelle eindeutig; denn es ist doch gerade das Ziel, zusätzliche Kredite in einer solchen Zeit aufnehmen zu können, damit man eben nicht die Axt an den Staat legt, damit man nicht die soziale, die innere oder die äußere Sicherheit gefährdet. Von daher finde ich es richtig und wichtig, dass wir uns von dieser kurzen Krise nicht aus der Bahn werfen lassen und die großen politischen Ziele auch weiter verfolgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Unsere Verfassung gibt uns die Handlungsfreiheit dazu.
Natürlich werden wir darüber diskutieren müssen, wie es in den nächsten Jahren weitergeht. Ich habe die Forderung gehört, insbesondere von ganz rechts, wir sollten jetzt die gesamte Rücklage einsetzen. Aber ich finde, gerade das ist keine nachhaltige Politik; weil wir doch in den Jahren 2022, 2023, 2024 gemeinsam das Ziel haben sollten, eben nicht mehr eine außergewöhnliche Notsituation feststellen zu müssen. Dann sind all die, die politisch Verantwortung tragen, gefordert, einen Haushalt vorzulegen, der eine wesentlich geringere Kreditaufnahme vorsieht. Heute müssen wir Vorsorge dafür treffen, dass das in der nächsten Legislaturperiode auch bewerkstelligt werden kann, indem wir die Rücklage dafür zur Verfügung stellen. Ich finde, das ist nachhaltige Politik, wie sie betrieben werden muss, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dann geht’s ja weiter. Dann ist die Frage: Wie schaffen wir einen dauerhaften Haushaltsausgleich in den Jahren 2022, 2023, 2024? Wir wissen ja, dass da große Herausforderungen auf uns zukommen. Ja, wir Sozialdemokraten sagen auch: Am Ende des Tages muss man eine Debatte darüber führen, wer die finanziellen Lasten dieses Staates trägt und ob es nicht auch Menschen in diesem Staat gibt, die man ein bisschen stärker belasten kann. Jetzt verstehe ich, dass es Leute gibt, die das ablehnen; aber ich finde, die müssen dann auch andere Vorschläge machen. Am Ende des Tages wird eine jede Fraktion hier die Frage nach der Plausibilität ihrer Vorschläge beantworten müssen. Man kann sich eben nicht hinstellen und sagen: „Wir wollen die soziale Sicherheit auf dem Niveau halten, auf dem sie jetzt ist; wir wollen die innere Sicherheit auf dem Niveau halten, auf dem sie jetzt ist; wir wollen die Bundeswehr, die äußere Sicherheit auf dem Niveau halten, auf dem sie jetzt sind und sogar noch ausbauen“, ohne die Frage zu beantworten, wo das Geld herkommt. Vor der Frage stehen alle, die sagen, sie wollen keine zusätzlichen Einnahmen generieren, und ich erwarte, dass die jetzt auch sagen, wo sie die konkreten Kürzungen vornehmen, weil das zu einem ehrlichen politischen Diskurs dazugehört.
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Am Ende des Tages, glaube ich, haben wir einen zukunftsgerichteten Haushaltsentwurf, der diese drei Dinge, die ich eben immer wieder betont habe, die innere, die äußere und die soziale Sicherheit, nicht außer Acht lässt. Wir werden diesen Haushaltsentwurf jetzt diskutieren und ihn zu einem noch besseren Haushalt machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dennis Rohde. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Karsten Klein.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mir das jetzt leider nicht verkneifen – wahrscheinlich liegt es daran, dass wir in der Allianz Arena einfach mehr Erfolge und mehr Meisterschaften feiern –: Herr Bundesfinanzminister, es gibt einen Unterschied zwischen Ihrem Haushalt und dem FC Bayern – der FC Bayern ist nicht deshalb wettbewerbsfähiger als andere Vereine, weil er so viel Geld ausgibt, sondern weil er mehr Tore schießt –; denn der FC Bayern setzt im Gegensatz zu Ihnen nicht zuallererst auf eine überdimensionierte Verschuldung. Das ist ein Tor zulasten der zukünftigen Generation, ein Eigentor, Herr Bundesfinanzminister.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Kollegin Stadler, wenn der Maßstab für einen guten Finanzminister ist, dass er für eine möglichst hohe Verschuldung sorgt, dass er die Schuldenbremse reißt, dann stimmt es: Dann ist Olaf Scholz der richtige Bundesfinanzminister. Für alle, die das anders sehen, wie die Freien Demokraten, für alle, für die die Schuldenbremse, solide Haushaltsfinanzierung und Generationengerechtigkeit maßgeblich sind,
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ist er mit Sicherheit der falsche Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deshalb will ich an der Stelle noch mal klar sagen: Will die SPD verschulden, werden wir das niemals dulden.
Zum Thema Nachhaltigkeit. Herr Kollege Rohde, wenn wir schon die Generationengerechtigkeit bemühen, lohnt auch ein zweiter Blick in Ihre mittelfristige Finanzplanung. Sehr geehrter Bundesfinanzminister, ich finde, Sie sind es der Öffentlichkeit schuldig, und die ganze Bundesregierung auch, dass Sie erklären, was hinter dem politischen Handlungsbedarf in Höhe von 42 Milliarden Euro steckt. Steckt dahinter die Steuererhöhung für die Mittelschicht ab Herbst 2021 – ja oder nein? Geben Sie den Bürgerinnen und Bürgern eine ehrliche Antwort. Das gilt auch für die Kolleginnen und Kollegen der Union.
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Sie machen nicht nur Politik auf Kosten zukünftiger Generationen. Sie machen auch noch Politik auf Kosten der nächsten Bundesregierung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich weiß nicht, wie es Ihnen diese Woche ergangen ist. Ich habe die ganze Woche sehr interessiert den Kolleginnen und Kollegen der CSU zugehört
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und darauf gewartet, dass endlich die Erklärung kommt, wie sie die Steuerversprechen ihres Parteivorsitzenden vom letzten Wochenende – also ganz frisch – im Haushaltsplan umsetzen wollen. Da ist wieder die Abschaffung des Solidaritätszuschlages gefordert worden. Ich finde es ja super, wenn Sie sich hinter unsere Forderungen stellen; aber wenn Markus Söder ins Kanzleramt fährt, sollte er nicht in einer Aura der Vergessenheit einfach Ihre Forderungen vergessen. Sie sollten endlich mal hier auf der Regierungsbank Ihre Versprechen umsetzen, die Sie jeden Tag neu formulieren.
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Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union: Wir werden in den Haushaltsverhandlungen genau hinschauen, was aus diesen Versprechen wird. Daran werden wir Sie auch im Wahlkampf messen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Karsten Klein. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Eckhardt Rehberg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kleinwächter, ich gönne es Ihnen, dass Sie diese Krankheit gut überstanden haben. Aber wie hätten Sie geredet, wenn der Verlauf schwerwiegender – Beatmungsgerät, Koma, Langzeitfolgen – gewesen wäre? Wie hätten Sie dann hier an diesem Pult geredet?
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Herr Kleinwächter, ich finde das respektlos gegenüber denjenigen, die nicht so viel Glück gehabt haben wie Sie. Ich finde das einfach respektlos!
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Kollege Dürr, Sie haben von der Entlastung der Mitte der Gesellschaft gesprochen. Ich gucke jetzt mal in Ihr sogenanntes Strategiepapier rein: „Abschmelzen des Zuschusses des Bundes in die Rentenkasse für eine Rücknahme der Rente mit 63“, „Ablehnung der Mütterrente II“, „Streichung des Baukindergelds“.
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Beim Thema Baukindergeld kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin froh, dass es das in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Alleine in meinem Dorf wohnen mehrere junge Familien, die mit dem Baukindergeld ältere Häuser gekauft und saniert haben; deswegen konnten sie es sich leisten.
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Diese jungen Familien sind in den ländlichen Raum gezogen. Das hat an dieser Stelle mitgetragen.
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Die Spitze des Eisbergs bei Ihnen ist wirklich – ich wiederhole das, was ich am Dienstag gesagt habe – die regulierte Freigabe von Cannabis für den selbstbestimmten und verantwortungsvollen Konsum.
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Das Motto ist: „Kiffen gegen Schulden“, Herr Kollege Dürr.
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Im Unterschied zu Ihnen haben wir als Große Koalition die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen in dieser Legislaturperiode mit 60 Milliarden Euro entlastet.
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Alleine zum 1. Januar 2021 kommt es zur hälftigen Abschaffung des Soli, zur Kindergelderhöhung, zum weiteren Abbau der kalten Progression und zur Verschiebung des Steuertarifs, was noch einmal 17 Milliarden Euro ausmacht. Das und nicht das, was Sie sich in Ihrem Strategiepapier ausgedacht haben, ist unsere Politik für die Entlastung der Mitte der Gesellschaft.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema der Woche
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hier im Deutschen Bundestag scheint gewesen zu sein – davor waren auch die eigenen Fraktionen nicht gefeit –: Der Bund ist für alles zuständig. – Frau Hendricks hat vorhin ja die richtigen Fragen an den Kollegen Dürr gestellt. Gucken Sie sich mal Artikel 28 Grundgesetz an.
Kollege Dürr und auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen rate ich mal, sich die finanzielle Entlastung von Ländern und Kommunen durch den Bund im Bundesrechnungshofbericht anzugucken; die Übersicht wird dieses Jahr wiederkommen.
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85 Milliarden Euro Entlastung in 2020!
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Ich will aber auf was ganz anderes hinaus.
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Sie haben den DigitalPakt Schule beklagt
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und machen den Bund für alles verantwortlich.
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Am 17. Mai letzten Jahres gab es eine Verwaltungsvereinbarung, und ich sage Ihnen: Ich kenne an der Stelle kompliziertere Verwaltungsvereinbarungen. Es muss aber mal die Frage gestellt werden: Was für eine Verantwortung haben denn die Empfänger dafür, dass das Geld abgerufen wird, das in diesem DigitalPakt Schule für die Länder bereitgestellt wurde? Es sind nur 16 Millionen Euro abgerufen worden. Diese Verantwortung liegt an dieser Stelle doch nicht mehr beim Bund, sondern bei den Ländern und letztendlich auch bei den Schulträgern. Ich finde, wir können hier nicht alles auf den Bund schieben.
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Herr Rehberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Christian Dürr?
Aber gerne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
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– Ich habe die Bund-Länder-Vereinbarung einfach dabei, die Herr Kollege Rehberg gerade angesprochen hat. – Ich will Ihnen nur ganz kurz sagen, was dort steht. Dort steht, dass die „Ausgaben für Betrieb, Wartung und IT-Support der geförderten Infrastruktur nicht förderfähig“ sind. Das, was die Schulen eigentlich brauchen, ist also nicht förderfähig. Das haben Bund und Länder gemeinsam verabschiedet. Und wissen Sie, was da noch steht? Da steht, dass gleichzeitig ein Konzept für den IT-Support und die Durchführung der Maßnahmen notwendig ist.
Mit anderen Worten: Sie verlangen von den Schulen etwas, was überhaupt gar nicht förderfähig ist.
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– Ja, die Länder haben das mit unterschrieben.
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Wir als Freie Demokraten haben Ihnen, Frau Hendricks, gemeinsamen mit den Kollegen der Grünen bereits bei der Grundgesetzänderung gesagt, dass genau das das Problem sein wird, weswegen die Mittel nicht abfließen werden. Diese Voraussage haben Grüne und FDP damals getroffen. Jetzt ist es eingetreten, und jetzt kommt von Ihnen wieder eine Rede nach dem Motto: Ist nicht meine Abteilung.
Das erzählen Sie den Familien in Deutschland. Um das in aller Klarheit zu sagen: Dafür, was Sie hier abziehen, hat keiner mehr Verständnis, Herr Kollege Rehberg.
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Herr Rehberg, bitte.
Herr Dürr, gerade mit Ihrer Argumentation sorgen Sie mit dafür, dass sich die Länder an der Stelle hinter dem Bund verstecken.
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Wir haben eine verteilte Verantwortung – Stichwort: Föderalismus –, wir haben Steuern, wovon mittlerweile nur noch 40 Prozent beim Bund landen, und die Finanzsituation der Länder und Kommunen vor Corona sah so aus, dass massiv Überschüsse da waren. Der DigitalPakt Schule war ursprünglich nur dafür da, dass die digitale Infrastruktur zu den Schulen hinkommen und in den Schulen ausgebaut werden kann. Das war der Ansatz vom DigitalPakt Schule – nicht mehr und nicht weniger.
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Ich bin schon noch dafür, Herr Kollege Dürr, dass die Länder, die bis 2019 und ab 2021 wirklich eine deutlich bessere Finanzsituation als der Bund gehabt haben bzw. haben werden, an dieser Stelle ihrer Verantwortung nachkommen.
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Das kann wirklich nicht anders sein.
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Das Thema der Woche war: Der Bund ist für alles zuständig.
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Hier beklagen Sie, das sei alles zu bürokratisch und zu kompliziert.
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Wir haben jetzt einen Bundesrechnungshofbericht zum Thema „Hochschulpakt I und II“ bekommen.
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Ich rate jedem, sich den mal durchzulesen.
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Ein Krimi ist gar nichts dagegen, und ganz ehrlich: Ich hätte nicht ansatzweise vermutet, dass man auf so kreative – in Anführungsstrichen – Einfälle kommen kann.
Ich stelle hier angesichts dieser Fehlverwendung und Restebildung ganz bewusst die Frage: Welche politisch-moralische Haltung gibt es in mancher Hochschule, in mancher Universität und in vielen Ländern eigentlich? Wenn ich auf der anderen Seite die Situation an vielen Hochschulen und Universitäten sehe, dann ist doch mal die Frage zu stellen: Wie halten wir es zwischen Bund, Ländern und Kommunen an dieser Stelle?
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– Ganz vorsichtig; das alles war noch aus der rot-grünen Zeit. Liebe Kollegin Lötzsch, beim Parteibuch immer sehr vorsichtig sein, weil sich die Versäumnisse an jeder Stelle mischen!
Ich komme jetzt auch noch – Sie haben mir das Stichwort gegeben – zu Ihrer Einlassung und zu der Einlassung des Kollegen Perli zum Thema „sozialer Wohnungsbau“.
Sie haben eben Horst Seehofer wieder vorgeworfen, dass in diesem Jahr nur 1 Milliarde Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung steht. Das ist ein Fake; es stehen 1,518 Milliarden Euro zur Verfügung. Was Sie und viele andere unterschlagen – genau das habe ich vermutet –, sind die 3 Milliarden Euro Kompensationsmittel im Bund-Länder-Finanzausgleich über Umsatzsteuerpunkte. Das heißt, in diesem Jahr stehen genau wie im letzten Jahr über 1,5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung.
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Jetzt gucken wir doch mal, was unter Ihrer Verantwortung in Berlin gelaufen ist. Das Land Berlin hat ja nicht nur im Jahr 2004 mehrere Hunderttausend Wohnungen unter Rot-Rot privatisiert, nein, das Land Berlin hat auch zwischen den Jahren 2006 und 2012 nicht eine neue Sozialwohnung in Berlin gebaut.
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Frau Kollegin Lötzsch, nehmen Sie sich keinen normalen Straßenbesen, sondern einen Drahtbesen, und kehren Sie erst mal vor Ihrer eigenen linken Tür, wenn Sie über den sozialen Wohnungsbau reden.
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Die politische Verabredung war: Wenn der Bund Geld zur Verfügung stellt, dann komplettieren das die Länder mit 50 Prozent. Neben Bayern und Baden-Württemberg gibt es nur noch ein Bundesland, nämlich Hamburg, das diese Verabredung seit Jahren und Jahrzehnten vorbildlich erfüllt;
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Olaf Scholz hatte dort damals schon Verantwortung.
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Bei allen anderen Bundesländern ist die Kofinanzierung kleiner als 50 Prozent.
Wenn ich mal auf das letzte Jahr gucke: 27 040 neue Sozialwohnungen wurden im Jahr 2018 gebaut; im Jahr 2019 waren es fast 1 500 weniger. Für die 3 Milliarden Euro, die politisch vereinbart waren, hätte man rund 46 000 neue Sozialwohnungen bauen können. Ich finde es einen Skandal – das sind alles Berichte, die die Länder geliefert haben –, dass die Länder nicht mal die Bundesmittel, die ihnen zur Verfügung gestellt worden sind, für den sozialen Wohnungsbau ausgegeben haben.
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Deswegen müssen wir uns grundsätzlich die Frage stellen, wie die Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen sein können und müssen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu einem der Kernprobleme in der Diskussion in dieser Woche: die Summe von 85 Milliarden Euro. In 2020 sind daraus durch die Übernahme der Gewerbesteuerausfälle und durch die Übernahme der KdU rund 100 Milliarden Euro geworden. Wenn Mittel in der Größenordnung von einem Fünftel des Bundeshaushaltes an Länder und Kommunen gehen und sie nicht für unsere eigenen originären Aufgaben zur Verfügung stehen, dann, glaube ich, ist es unsere Gesamtverantwortung in diesem Haus, nicht ständig darauf zu verweisen, dass der Bund für alles zuständig sei. Vielmehr ist darauf zu verweisen, wer wirklich für Schulen, Hochschulen, Kitas usw. zuständig ist.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Eckhardt Rehberg. – Nächster Redner: Marco Bülow.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Hauptdiskussion über den Haushalt dreht sich, kein Wunder, um die schwarze Null, um die Schuldenbremse und darum, wie das Geld wieder eingespart werden kann. Dabei fangen die ganzen Schwierigkeiten der Menschen und der Wirtschaft sowie die sozialen Schwierigkeiten aufgrund der Coronamaßnahmen erst an. Ich frage mich, wie den Menschen geholfen wird. Die Klimakrise – das haben wir schon ein paarmal gehört – macht natürlich auch keinen Halt. Entsprechende Maßnahmen wurden zu Recht angemahnt, ja, aber man muss doch auch sagen, wo das Geld herkommt. Der erste Posten wurde verbrannt. Es rächt sich schon jetzt, die 9 Milliarden Euro bei der Lufthansa verbrannt zu haben. Dieses Geld hätte man sonst jetzt zur Verfügung.
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Vor einiger Zeit wurde der Finanzminister bei der Bundespressekonferenz von Tilo Jung gefragt, wie und wo er gedenkt, die klimaschädlichen Subventionen zu streichen. Da fiel ihm keine einzige Subvention ein. Es geht um 50 bis 60 Milliarden Euro; es gibt einige Kollegen, die das hier immer wieder vorrechnen. Ich frage mich: Wo sind die Vorschläge, an dieser Stelle zu streichen, um dann das eingesparte Geld anderweitig sinnvoll zu verwenden?
In zahlreichen Haushalten werden die Mittel gestrichen. Ich nenne nur zwei Beispiele – und das sind für mich die Zukunftshaushalte –: Im Familienbereich wird von 13,6 Milliarden auf 12,2 Milliarden Euro gekürzt. Der ohnehin nicht üppige Umwelthaushalt wird von 3 Milliarden auf 2,6 Milliarden Euro gekürzt. Hier brauchen wir das Geld. Auf der anderen Seite wird der Verteidigungsetat trotz Corona wieder erhöht, und zwar um 1,2 Milliarden Euro. Rechnen wir das mal zusammen: 1,2 Milliarden Euro aus dem Haushalt für das nächste Jahr, ein Nachtragshaushalt von 0,5 Milliarden Euro und zwei weitere Erhöhungen der letzten Jahre um 6,2 Milliarden Euro. Wir haben also in drei bzw. vier Jahren den Militärhaushalt um fast 8 Milliarden Euro erhöht. Das sind 8 Milliarden Euro, die uns fehlen; denn mit Panzern und Kriegsflugzeugen werden wir Corona und die Klimakrise sicherlich nicht besiegen. Das sind Streichungsvorschläge, die man auf jeden Fall umsetzen kann.
Vor allen Dingen wird auch der Koalitionsvertrag gebrochen. Im Koalitionsvertrag steht nämlich – es ist das Junktim geschaffen worden –, dass der Etat des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ebenso erhöht wird wie der Etat des Verteidigungsministeriums. Das ist in diesem Haushalt wieder nicht der Fall. Vielmehr wird ausschließlich im Bereich Verteidigung erhöht. Ich glaube, genau das sind die Sollbruchstellen, über die wir in diesem Haushalt diskutieren sollten. Genau dort sollten wir ansetzen. Wir brauchen einen Zukunftshaushalt und keinen Haushalt der Vergangenheit.
Danke schön.
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Vielen Dank, Marco Bülow. – Wir nähern uns dem Höhepunkt. Letzte Rednerin in der Haushaltswoche: Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Liebe Präsidentin, danke für den Höhepunkt.
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Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Als wir vor über zehn Jahren die Schuldenbremse in unserer Verfassung verankert haben, hatten wir in Deutschland eine Verschuldungsquote von 82,4 Prozent. Wir haben uns seitdem auf eine Verschuldungsquote von 59,8 Prozent im Jahr 2019 runtergearbeitet – durch Wirtschaftswachstum, durch die Arbeit vieler in diesem Land, die ihre Ärmel hochgekrempelt haben und dieses Land nach vorne gebracht haben, aber auch dadurch, dass wir mit der Schuldenbremse die Ausgaben im Blick behalten haben.
An alle diejenigen, die heute die Schuldenbremse kritisieren und zusätzliche Ausgaben fordern – Herr Kindler zum Beispiel, er hat in den letzten zehn Jahren Maßnahmen gefordert, die den Haushalt über die Schuldenbremse hinaus belastet hätten –:
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Wenn wir all das getan hätten, hätte die Coronakrise mit einer Verschuldungsquote von 100 Prozent begonnen.
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So hätten wir auf gar keinen Fall den Spielraum gehabt, jetzt in Maßnahmen zur Bewältigung der Situation zu investieren.
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Wir haben es richtig gemacht. Deshalb halte ich es für absurd, jetzt über die Schuldenbremse zu diskutieren. Wir haben damals natürlich auch Ausnahmesituationen mit einkalkuliert, jeweils mit Tilgung. Und genau das tun wir am Ende dieser Haushaltsberatung: Wir investieren heute und werden schon in dieser Generation und nicht erst in der nächsten, Herr Kindler, die Schulden wieder abtragen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Das tun wir, weil wir es den Familien, den Unternehmen und den Kommunen schuldig sind. Den Familien sind wir es deswegen schuldig, weil sie einen großen Teil der Belastungen in der Coronakrise getragen haben. Herr Kollege Bülow, woher Sie die Information haben, dass der Familienetat gekürzt worden ist, kann ich nicht erkennen. Vermutlich haben Sie den Einzelplan 60 vergessen, in dem Kindergeld und Kinderfreibetrag etatisiert sind, die wir jetzt sogar zum zweiten Mal hintereinander erhöhen.
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Mit dem Familienentlastungsgesetz I haben wir Familien und Bürger schon um 12 Milliarden Euro entlastet. In der kommenden Woche werden wir weitere 7 Milliarden Euro draufsatteln. Innerhalb von zwei Jahren haben wir das Kindergeld um monatlich 25 Euro pro Kind erhöht; das haben wir vorher nie getan. Das war erforderlich – übrigens auch ohne Corona –; denn es entlastet Familien und gibt ihnen ein bisschen Spielraum. Wir haben gleichzeitig die Investitionsprogramme für Kinderbetreuung, Ganztagsbetreuung, sozialen Wohnungsbau und Baukindergeld auf den Weg gebracht und weiter finanziert. Wir haben den Freibetrag für Alleinerziehende verdoppelt, und wir werden mit dem Jahressteuergesetz weitere Maßnahmen auf den Weg bringen.
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Mit dem Familienentlastungsgesetz wird nicht nur das verfassungsnotwendige Existenzminimum freigestellt, sondern werden auch die Bürgerinnen und Bürger das achte Mal in Folge von der kalten Progression freigestellt. 2,2 Milliarden Euro sind dafür vorgesehen.
Aufgrund eines Rechenfehlers oder eines Schätzfehlers im Finanzministerium wird die kalte Progression im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf sogar um 1,6 Milliarden Euro zu hoch kompensiert. Wir werden diesen Fehler aber nicht gegenrechnen. Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern diese 1,6 Milliarden Euro zurückgeben, damit sie die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise, durch die sie zusätzliche Kosten hatten, ob im Homeoffice oder über die Pendlerpauschale, gegenfinanzieren können. Wir haben für unsere Fraktion der CDU/CSU beschlossen: Diese 1,6 Milliarden Euro werden nicht gekürzt, sondern an die Familien und an die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben.
Wir sind es den Unternehmen schuldig; denn das Einzige, was wirklich besser ist als Sparen, ist, die Konjunktur anzukurbeln, damit wir möglichst schnell auf die Steuereinnahmen von vor der Krise zurückkommen.
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Das hat auch in der Finanzmarktkrise gut funktioniert. Das werden wir auch jetzt wieder tun.
Wir haben bei den Covid-Gesetzen mit der Mehrwertsteuersenkung angefangen. Herr Dürr, Sie sind ja für sehr forsche Reden bekannt. Wenn ich bedenke, dass Sie beim Thema Covid 80 Prozent Ihrer Redezeit dazu verwandt haben, zu erklären, dass die Mehrwertsteuersenkung Unfug ist: Sie hätten Größe gezeigt, wenn Sie heute einfach gesagt hätten: Ich hatte unrecht;
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denn Sie waren im Unrecht.
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Die Investitionen sind bei höheren Investitionsgütern massiv gestiegen. Jeder Statistiker sagt Ihnen: Die Investitionen in hochpreisige Produkte sind wegen der Mehrwertsteuersenkung gestiegen.
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– Außer Ihnen vielleicht. Die Statistiken sind ganz klar. Der Handel bestätigt das: Die Mehrwertsteuersenkung hilft.
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Was auch hilft, sind die Maßnahmen im Covid-Steuergesetz, zum Beispiel die Verlustverrechnung, die wir für die Jahre 2020 und 2021 verbessert haben; Geld, das wir den Unternehmen zurückgeben, damit sie in diesem Jahr investieren, damit sie Wirtschaftswachstum produzieren und damit künftig zusätzliche Steuern zahlen, die dem Bundeshaushalt zugutekommen.
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Wir haben die degressive Abschreibung auf den Weg gebracht. Wir haben die Anrechnung der Gewerbesteuer verbessert. Wir haben die Reinvestitionsfristen verbessert, weil wir wussten, dass Unternehmen vielleicht erst im nächsten Jahr investieren können, und wir haben die Forschungsförderung massiv erhöht.
Liebe Frau Kollegin Stark-Watzinger, Sie behaupten, im Bildungs- und Forschungsbereich sei die Quote zurückgegangen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass wir in erheblichem Umfang Mittel für Bildungsmaßnahmen an Länder und Kommunen geben und diese Mittel in deren Investitionsquote auftauchen und nicht mehr im Bundeshaushalt. Das sind einfach haushalterische Grundsätze mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Bundeshaushalt. Tatsächlich sind deutschlandweit die Bildungsausgaben bei Weitem gestiegen und nicht gesunken, wie Sie es eben dargestellt haben.
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Dazu kommt eine ganze Reihe von Einzelprogrammen wie das Programm „INNO-KOM“, die IGF und das Innovationsprogramm für Geschäftsmodelle und Pionierlösungen. Wir investieren in diesem Haushalt massiv in die Zukunft, um künftige Steuereinnahmen zu akquirieren und damit die Tilgungsleistungen auch in Zukunft sicherzustellen.
Aber im Unternehmensbereich bleibt auch viel zu tun. Wir warten seit zwei Jahren auf die Umsetzung der ATAD-Richtlinie. Wir brauchen die Verbesserung der Thesaurierungsbegünstigung; das ist schon mehrfach angesprochen worden.
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Wir wollen den Zinssatz für Steuernachzahlungen reduzieren und an das aktuelle Zinsniveau anpassen.
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Und wir brauchen eine Reform der Hinzurechnungsbesteuerung, damit deutsche Unternehmen auch in den nächsten Jahren wettbewerbsfähig sind und in Deutschland die Steuern zahlen und nicht irgendwo anders.
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In einen dritten Bereich investieren wir mit diesem Haushalt ganz massiv; das sind die Kommunen. Nicht nur, dass wir zusammen mit den Ländern 100 Prozent der Gewerbesteuerausfälle kompensieren, sondern wir kompensieren auch 100 Prozent der Ausfälle im ÖPNV. Wir haben die Beteiligung an den Kosten der Unterkunft um 25 Prozent gesteigert, allein für 2021 auf 11 Milliarden Euro. Wir erstatten die Ausgaben für die Grundsicherung; sie steigen auf 8,3 Milliarden Euro. Wir investieren in den Städtebau und vieles mehr.
Wir geben Geld da aus, wo Menschen das spüren, wo Familien leben. Die Kommunen sind nach dieser Krise durch die Hilfe des Bundes gut aufgestellt für die Zukunft. Wir werden sie im Blick behalten und gucken, ob weitere Änderungen vorzunehmen sind. Sie sehen: Das ist ein ausgeglichener Maßstab zwischen Investitionen und Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger.
Aber ich sage zum Schluss auch ganz offen: Wir müssen anfangen, mit dem Geldausgeben aufzuhören. Wir müssen die Tilgung so einhalten, wie wir es verabredet haben. 17 Jahre, in denen die Tilgung vorgesehen ist, sind eine lange Zeit. Wir müssen das Glück haben, dass in den nächsten 17 Jahren nicht die nächste Katastrophe, Krise oder Schwierigkeit kommt.
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Deshalb sage ich allen Bürgerinnen und Bürgern – ich hoffe, dass wir es in diesem Haus auch gemeinsam tragen –: Wir werden künftig nicht mehr jeden Wunsch erfüllen können. Aber, liebe Bürgerinnen und Bürger, lassen Sie sich auch nicht vormachen, dass mit einer Vermögensabgabe oder einer Steuererhöhung für Menschen, die über 200 000 Euro verdienen, dieser Haushalt zu konsolidieren wäre. Da sprechen wir über 3 Milliarden bis 4 Milliarden Euro. Das ist ein kleiner Betrag im Verhältnis zu unserem Problem; der wird es nicht lösen.
Ich habe ein bisschen die Sorge: Die Ankündigung der Steuererhöhung für wenige vor der Wahl ist die Steuererhöhung für alle nach der Wahl. Und das ist nicht der Weg, den wir uns vorgenommen haben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Antje Tillmann. – Damit schließe ich die Aussprache.