Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/18/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ein sehr wichtiges Gesetz, weil es um die Zukunft der Krankenhäuser in Deutschland geht. Ich habe in meiner letzten Rede zum Krankenhauszukunftsgesetz vieles über den Bereich der Digitalisierung gesagt, habe auch Zuschriften bekommen. Ich möchte hier nochmals klarstellen: Alles, was wir hier an Investitionen in Struktur machen, ist richtig; aber alles wäre nichtig, wenn wir nicht auch in Menschen investierten, wenn wir nicht in unser Personal investierten durch Ausbildung, Weiterbildung, Fortbildung. Das ist zentral, weil wir motivierte Mitarbeiter brauchen. Das macht dann auch die Qualität in einem Krankenhaus aus. ({0}) Des Weiteren ist natürlich wichtig, zu sagen, dass die Grundlage der politische Wille sein muss, hier die Krankenhauslandschaft zu verändern und zu verbessern. Es wird in den nächsten Jahren notwendig sein, dass wir im Bereich der Krankenhäuser stetig und somit immer wieder zu Verbesserungen kommen, dass wir nicht stehen bleiben. Es wird auch notwendig sein, dass wir unsere Krankenhäuser moderner ausrichten. Gute Qualität hat natürlich mit Personal zu tun, aber für gute Qualität muss auch dafür gesorgt werden, dass sich zum Beispiel Abteilungen untereinander abstimmen können, dass der niedergelassene Bereich für die Nachbehandlung natürlich zur Verfügung steht, dass all diese Dinge miteinander verbunden sind. Deshalb ist es wichtig und notwendig, dass wir in die Digitalisierung investieren. Dieses Gesetz leistet dazu einen wesentlichen Beitrag. Es ist aber auch so, dass wir Dinge neu denken müssen. Es wird notwendig sein, uns nicht darauf zu beschränken, die Krankenhäuser zu verbessern, was die äußere Hülle betrifft, was die einzelnen Fachabteilungen betrifft; vielmehr müssen wir auch diskutieren, ob Häuser, die vielleicht auch defizitär sind, nicht auch einen inhaltlichen Umbau benötigen. Außerdem müssen wir darüber diskutieren, wie wir Menschen vor Pflege bewahren können. Wir sind der Überzeugung, dass hier die Rehabilitation ein wesentliches Instrument ist. Aber viele der Menschen, die auf Reha kommen, sind noch nicht rehafähig. Vielleicht brauchen wir hier einen Zwischenschritt – das geht am besten mit den Krankenhäusern zusammen –, dass Menschen nach Operationen – wir wissen ja, dass unsere Patientinnen und Patienten deutlich früher als noch vor 20 Jahren entlassen werden – rehafähig gemacht werden und dann durch die Rehabilitation eine passgenaue Leistung bekommen. So wird verhindert, dass sie in Pflege kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir müssen auch – ich glaube, das ist wesentlich – als politische Gemeinschaft auftreten, ob Bund, Länder, Bezirke oder Kommunen. Es ist ein Gemeinschaftswerk, das wir hier heute angehen, weil es notwendig ist, dass wir uns nicht im Klein-Klein der Diskussionen und Zuständigkeiten verlieren, sondern dass wir in der Krankenhausplanung miteinander Dinge entscheiden und diese Dinge dann auch entsprechend finanzieren und umsetzen. Worthülsen alleine bringen uns nicht weiter. Deshalb ist es auch keine Frage der Größe der Krankenhäuser, ob groß oder klein, sondern es geht um die Fähigkeit, gute medizinische Versorgung zu leisten. Deshalb fordere ich die Länder auf, zu ihren Investitionen natürlich auch zu stehen und diese umzusetzen. Der Bund gibt hier das Versprechen, dass wir das tun. Wir leisten dazu unseren Beitrag. Heute gehen wir mit diesem Gesetz einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Werte Kollegen! Liebe Fernsehzuschauer! Unsere Verbesserungsvorschläge zum Krankenhauszukunftsgesetz fanden im Ausschuss leider keine Mehrheit, obwohl wir schon seit Monaten dafür kämpfen, das seit 2005 bestehende Krankenhausabrechnungssystem zu reformieren oder abzuschaffen. ({0}) Dieses sogenannte DRG-System funktioniert – unabhängig von regionalen Anforderungen, Patientenliegezeiten und Behandlungsqualitäten – einzig und allein über die Gruppierung der Schwere einer Krankheit und Prozeduren. Das System wurde schon damals trotz viel Kritik eingeführt und hat die Erwartungen einfach nicht erfüllt – im Gegenteil. ({1}) So hat sich zum Beispiel die Gesamtzahl der Operationen verdrei- bis ‑vierfacht. Die Versorgungsdichte der Krankenhäuser ist um 10 Prozent zurückgegangen, bei kommunalen Krankenhäusern gar um sage und schreibe 18 Prozent. Jetzt gerade in der Coronakrise arbeiten die Krankenhäuser am personellen, logistischen und finanziellen Limit. Der Gewinnmaximierungsgedanke führte zum Personalabbau im Bereich der Pflegekräfte, zur Verkürzung der Liegedauer und zu einem Investitionsstau in Milliardenhöhe. Wir, die AfD-Fraktion, fordern die Abschaffung des DRG-Systems und die komplette Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft mit einem effizienteren Abrechnungssystem. ({2}) Die Lösung ist relativ einfach. Wir brauchen ein vorausgezahltes, regional orientiertes Pro-Kopf-Vergütungssystem, kurz gesagt: ein PRP. Dieses neue PRP-System basiert auf einer Vergütungsform, bei der die ökonomische Hauptverantwortung und ein Teil der Versicherungsrisiken auf die Leistungserbringer übergehen. Damit wird der Anreiz, eine Gewinnoptimierung durch überflüssige Mehrleistungen zu betreiben, uninteressant – auch für die linke Partei. ({3}) Nur mit qualitäts- und praxisorientierten Behandlungen lassen sich neue Zuwächse erzielen. Gefördert werden dadurch Patientenfreundlichkeit und Zuwendung, Forschung und Innovation in Deutschland und, was in Anbetracht der aktuellen Coronakrise äußerst wichtig erscheint, Flexibilität und schnelle Reaktion auf globale Krisen. Bereits 2017 hat unser Team um Professor Gehrke gefordert, ein Abrechnungssystem zu etablieren, welches durch eine Regionalkomponente schnell an aktuelle Bedürfnisse angepasst werden kann, zum Beispiel bei Pandemien. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, eine entsprechende Gesetzesinitiative zu erarbeiten, die das DRG-System komplett ersetzt. Dazu fordern wir erstens die Einführung eines Systems mit im Voraus bezahlten Regionalbudgets durch Pro-Kopf-Pauschalen, zweitens die Beachtung regionaler Gesundheitsdaten, drittens die tagesgenaue Anpassung der Regionalfaktoren bei globalen Gesundheitskrisen und schnelle Liquiditätstransfers sowie viertens die Abschaffung des völlig unnützen bürokratischen Codier- und Dokumentieraufwandes. Das, meine Damen und Herren, wäre im Interesse unserer Patienten. ({4}) Für zukünftige Krisen brauchen wir ein moderneres und flexibleres Krankenhausabrechnungssystem mit schnellen regionalen Schalthebeln. Da wir eine zukunftsorientierte und strategische Ausrichtung Ihres Gesetzentwurfs vermissen, wird die AfD diesen ablehnen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Sabine Dittmar, SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das Krankenhauszukunftsgesetz und setzen damit das von der Koalition im Rahmen des Konjunkturpaketes beschlossene Zukunftsprogramm Krankenhäuser um. Insgesamt 3 Milliarden Euro stellt der Bund für Investitionen in eine moderne digitale Krankenhausausstattung zur Verfügung. Damit fördern wir unter anderem notwendige und überfällige Investitionen in moderne Notfallstrukturen, Maßnahmen zur IT- und Cybersicherheit und – besonders wichtig – die regionale und sektorale Vernetzung. ({0}) Das Investitionsprogramm für Krankenhäuser ist dringend erforderlich. Wir stärken damit unseren Krankenhaussektor und verbessern die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten. Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit, dass das Zukunftsprogramm Krankenhäuser die Länder nicht von ihren Pflichten entbindet, die Investitionskosten sicherzustellen und für eine bedarfsgerechte Krankenhausplanung zu sorgen. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, in unseren Krankenhäusern wird jetzt in dieser Pandemie Hervorragendes geleistet. Das darf aber nicht zulasten der Krankenhäuser gehen. Deshalb regeln wir in diesem Gesetz auch, dass coronabedingte Erlösrückgänge krankenhausindividuell ermittelt und ausgeglichen werden. ({2}) Wichtig ist uns, dass wir die befristeten finanziellen Entlastungs- und Unterstützungsleistungen im Bereich der Pflege verlängern. Hier möchte ich besonders die Familienpflegezeit oder auch das Pflegeunterstützungsgeld erwähnen, das Erwerbstätige in Anspruch nehmen können, um Pflege zu organisieren. Dieses haben wir nicht nur auf 20 Tage verlängert, sondern auch noch mal weiter flexibilisiert. Auch den Leistungszeitraum des Kinderkrankengeldes haben wir – zeitlich begrenzt – auf 15 Tage bzw. auf 30 Tage für Alleinerziehende ausgedehnt. Denn es ist davon auszugehen, dass im Rahmen des Infektionsgeschehens die Betreuung von erkrankten Kindern häufiger erforderlich ist. Das alles schafft für die Betroffenen mehr Sicherheit und auch die notwendige Flexibilität und Unterstützung. ({3}) Abschließend möchte ich hervorheben, dass wir die Vereinbarung der Deutschen Krankenhausgesellschaft mit den gesetzlichen Krankenversicherungen zur Zahlung einer Coronaprämie in besonders belasteten Krankenhäusern auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Ich freue mich sehr, dass es uns im parlamentarischen Verfahren gelungen ist, den ursprünglich sehr restriktiven Empfängerkreis auszuweiten. Arbeit im Krankenhaus ist und bleibt Teamarbeit. Deshalb soll die Prämie nicht nur an Pflegekräfte gezahlt werden, sondern eben an alle Beschäftigten, die einer besonderen Belastung ausgesetzt waren, vom Reinigungsdienst bis zur Laborfachkraft. ({4}) Über den konkreten Empfängerkreis werden die Krankenhausträger und die Arbeitnehmervertretungen vor Ort entscheiden; denn diese können das am besten beurteilen und bewerten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war ein kurzes, es war ein intensives Gesetzgebungsverfahren. Das Gesetz ist wichtig für die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten, wichtig für unsere Krankenhäuser. Deshalb bitte ich um eine breite Zustimmung. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Mit diesem Gesetz bringen wir mit viel Verspätung die Krankenhäuser in unserem Land digital in das 21. Jahrhundert. Dieser wichtigen Querfinanzierung des Bundes stimmen wir ausnahmsweise zu; ({0}) aber sie darf nicht zur Regel werden. ({1}) Es war und ist nämlich die Verantwortung der Länder, für die Investitionskosten ihrer Krankenhäuser aufzukommen. Diese Investitionen wurden jahrzehntelang versäumt. ({2}) Das Krankenhauszukunftsgesetz, meine Damen und Herren, löst jedoch andere drängende Herausforderungen nicht. Die finanzielle Lage vieler Kliniken ist seit Langem katastrophal. Der Bundesrechnungshof sieht es übrigens genauso: 40 Prozent der Krankenhäuser verzeichnen Verluste, für ein Zehntel besteht erhöhte Insolvenzgefahr. Viele Kliniken verwenden Erlöse aus den Fallpauschalen der Krankenkassen, um notwendige Investitionen zu bezahlen. Übersetzt heißt das ganz einfach: Das Geld wird von der Versorgung der Patienten abgezogen. – So darf es nicht weitergehen! ({3}) Wir brauchen nämlich ein leistungsfähiges, ein bedarfsgerechtes und ein flächendeckendes Krankenhaussystem. Wer die stationäre Versorgung zukunftsfit machen will, muss endlich politisch handeln; denn wir brauchen einen ehrlichen Dialog. Eine kalte Strukturreform durch Insolvenzen zu fördern, ist unanständig. ({4}) Wir müssen Qualität in die Häuser bringen. Zur medizinischen Versorgung gehört dann ein Mix aus spezialisierten Krankenhäusern und Häusern der Maximalversorgung. Gerade die Universitätskliniken müssen in diese Diskussion eingebunden werden. Es geht nämlich nicht, dass Unikliniken zum Beispiel beim Krankenhausstrukturfonds herausgelassen werden; denn die Universitätskliniken sind mit ihrer forschenden Medizin unser Motor für eine moderne, innovative Krankenhauslandschaft in Deutschland. Gesundheit, meine Damen und Herren, ist ein Gemeinschaftssport. Das muss sich im politischen Handeln auch widerspiegeln; jeder im Team muss seiner Verantwortung nachkommen. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und auch Apotheken haben bereits Verantwortung bewiesen, und sie haben in die Digitalisierung investiert. Also muss man erwarten, dass auch die Länder in die Digitalisierung investieren. Es ist dringender denn je: Wir brauchen dringend eine nachhaltige Finanzierungsreform und natürlich auch eine qualitative Strukturreform der Krankenhäuser in unserem Land. ({5}) Alle Ebenen der Politik und Wissenschaft sind aufgefordert, hierzu ihren Beitrag zu leisten. Gesundheit ist eine Mannschaftsleistung. Zeigen wir Verantwortung; sonst lassen wir die Patientinnen und Patienten und auch die im Krankenhaus Tätigen auf Jahre hinaus hängen. Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu. Packen wir es an! Danke schön. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Harald Weinberg, Die Linke, macht sich bereit und erhält jetzt das Wort. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Name dieses Gesetzes, Krankenhauszukunftsgesetz, ist ein Etikettenschwindel. Sie halten unumwunden am System der Fallpauschalen und damit am wirtschaftlichen Wettbewerb fest. Dieser Wettbewerb gefährdet die Existenz vieler Krankhäuser, vor allem die von öffentlichen und freigemeinnützigen. Deren Systemrelevanz ist in der Coronapandemie zwar landauf, landab gepriesen worden, ihre Zukunft wird mit diesem Gesetz aber nicht gesichert. ({0}) Auch die Bundesärztekammer hat in ihrer Stellungnahme zu Recht angemerkt, dass das eigentliche Zukunftsprogramm für Krankenhäuser nach wie vor aussteht. ({1}) Als Kriterien dafür nennt die Ärztekammer – ich zitiere –: Eine umfassende und bedarfsgerechte Reform der Finanzierung der stationären Versorgung, eine zukunftsorientierte Betriebsmittel- und Investitionsfinanzierung der Kliniken unter Berücksichtigung der Vorhaltekosten sowie eine aktive Krankenhausplanung … Wenn wir uns die Stellungnahmen der anderen Verbände zur Anhörung ansehen, dann stellen wir fest, dass die Ärztekammer mit dieser Kritik bei Weitem nicht alleine steht. Das ist eine Kritik, die wir bereits seit Jahren vortragen. ({2}) Beim Krankenhausgipfel der Deutschen Krankenhausgesellschaft haben Sie, Herr Minister, vorgestern eine bemerkenswerte Pirouette gedreht. Sie haben erklärt, dass Sie sich auf eine stärkere Selbstkostenfinanzierung einlassen würden, wenn es denn eine sinnvolle Bedarfsplanung gäbe. Das sind neue Töne, die wir natürlich erst mal begrüßen. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt, dass eine grundsätzliche Reform der Krankenhausfinanzierung zu komplex sei, um sie noch in dieser Wahlperiode in Angriff zu nehmen. Aber genau das wäre das eigentliche Krankenhauszukunftsgesetz, ({3}) und das wäre bitter nötig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, manche Regelungen des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs sind aus unserer Sicht trotzdem Schritte in die richtige Richtung. Die konkrete Umsetzung ist aber leider an vielen Stellen vergiftet. Dafür will ich zwei Beispiele geben: Erstens. Dass die Krankenhäuser Geld aus dem Zukunftsfonds erhalten können und die Bundesländer zu 30 Prozent beteiligt werden sollen, ist gut. Dass stattdessen Krankenhausträger den Eigenanteil übernehmen können, benachteiligt finanziell angeschlagene Krankenhäuser zum Beispiel in strukturschwachen Regionen. Für die Länder wird es dadurch wieder attraktiv, sich rauszuhalten, sodass vor allen Dingen private, profitorientierte Krankenhausträger Zugriff auf Bundesmittel bekommen. Das finden wir völlig falsch. ({4}) Zweitens. Wir begrüßen selbstverständlich die Coronabonuszahlungen für Beschäftigte in den Krankenhäusern. Aber die Kriterien dafür, welche Beschäftigten in den Genuss einer solchen Zahlung kommen können, sind viel zu eng gefasst. Inakzeptabel ist aus unserer Sicht auch, dass Sie für die genaue Auswahl der Beschäftigten die Interessenvertretungen in den Krankenhäusern in Haftung nehmen wollen. Dies kann Belegschaften spalten und den Interessenvertretungen enorme Konflikte bescheren. Es wirkt so, als wäre genau das Ihre Absicht. Im Übrigen fehlt eine vergleichbare Investitionsregelung zur Digitalisierung für die Altenpflege. Dabei ist die Investitionsförderung da durch die Bundesländer noch geringer. Es wird höchste Zeit, dass da was geschieht; denn da schlagen die Investitionsfragen immer auf die Eigenanteile durch. Deswegen haben wir hierzu einen Entschließungsantrag eingebracht, dem Sie nachher zustimmen müssen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt bringt der Gesetzentwurf zwar Verbesserungen für die Situation der Kliniken und das Personal – daher können wir nicht ablehnen –, es gibt aber auch in der Ausgestaltung und in der Höhe der Maßnahmen so viel Kritik, dass der Gesetzentwurf für unsere Fraktion nicht zustimmungsfähig ist. Deshalb werden wir uns enthalten. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Haus! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Warum enthalten wir Grünen uns bei diesem Gesetzentwurf, mit dem ja immerhin 4,3 Milliarden Euro für die Krankenhäuser in Deutschland bereitgestellt werden sollen? ({0}) – Das ist, in der Tat, eine Frage. – Wir enthalten uns hier deshalb, ({1}) weil diese Investition nicht eingepasst ist in einen vernünftigen Rahmen, in dem sichergestellt ist, dass dieses Geld tatsächlich dazu führt, dass die Krankenhäuser in Deutschland den Digitalisierungsschub erhalten, den sie dringend brauchen. ({2}) Und wir enthalten uns, weil dieses Konzept nicht damit verbunden ist, die dringend notwendigen wirklichen Reformen im Krankenhausbereich anzugehen. Es ist ja nun wirklich selten, dass der Bundesrechnungshof – schon bevor ein Gesetz überhaupt verabschiedet ist – die wesentlichen Kritikpunkte und Beanstandungen schriftlich niedergelegt hat und Ihnen ins Zeugnis geschrieben hat, dass diese Reform – genauso wie beim Krankenhausstrukturfonds – wieder scheitern wird, weil sie die notwendigen grundlegenden Strukturreformen nicht in Angriff nimmt. ({3}) Das, meine Damen und Herren, können wir uns nicht erlauben. Wir brauchen dringend eine Absicherung der Versorgungsstrukturen überall im Land: im ländlichen Raum, in strukturschwachen Gebieten genauso wie eine vernünftige Struktur in den Ballungszentren. Wir müssen dringend die wirklich großen Investitionslücken, die es gibt, schließen. Und wir brauchen ein Entgeltsystem, das sicherstellt, dass wir gute Versorgung absichern und Fehlanreize für die Produktion von zusätzlichen Behandlungsfällen, die nicht notwendig sind, abbauen. Dieses Entgeltsystem soll gleichzeitig sicherstellen, dass überall dort, wo ein Krankenhaus zugelassen ist, das bedarfsnotwendig ist, diese Arbeit auch wirklich qualitativ gut und patientenorientiert ausführen kann. ({4}) Diese Reformen stehen aus. Sie haben beim Krankenhausgipfel angekündigt, dass sie in dieser Wahlperiode auch nicht kommen werden. Das ist im Übrigen die Wahlperiode, in der wir überhaupt noch Geld zu verteilen haben. Das zeigt sich, wenn wir uns die Eckdaten der Krankenhausfinanzierung auf der einen Seite und der GKV-Finanzierung auf der anderen Seite anschauen. Also wird jetzt der Spielraum vertan, den wir dringend nutzen müssten, um diese notwendigen Reformen anzugehen. ({5}) Aber auch bei der Digitalisierung kommen wir so, wie Sie es jetzt angelegt haben, nicht weiter. Die Sachverständigen haben es Ihnen deutlich gesagt. Es fehlt der Orientierungsrahmen. Worin soll eigentlich investiert werden? Welcher Digitalisierungsgrad soll erreicht werden, in welchen Stufen? Das alles ist nicht wirklich nachvollziehbar. Und das wird dazu führen, dass wir am Ende einen Flickenteppich haben und immer noch nicht sagen können, dass jedes Krankenhaus in Deutschland wirklich die notwendige digitale Anbindung hat. Das voranzubringen, versäumen Sie mit diesem Gesetz. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sechs von sieben Covid-19-Patienten in Deutschland werden im ambulanten Bereich behandelt. Die niedergelassenen Ärzte in Deutschland sind der erste wichtige Schutzwall in dieser Pandemie, und die schweren und schwersten Verläufe, dort, wo es um Intensivmedizin geht, werden in den Krankenhäusern behandelt, in einer Struktur, die 365 Tage 24 Stunden am Tag das Rückgrat der medizinischen Versorgung bildet. Dazu möchte ich mit Blick auf das Gesetz gerne drei Anmerkungen machen: Zum Ersten. Wir investieren 3 Milliarden Euro des Bundes; das ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass der Bund aus Haushaltsmitteln in Krankenhäuser investiert, da eigentlich die Länder – es ist schon angesprochen worden – zuständig sind. ({0}) Mit der Länderkofinanzierung kommen wir auf über 4 Milliarden Euro Investitionen, mit Schwerpunkt auf diesem Programm, vor allem in die digitale Infrastruktur, in die Vernetzung. Alles zusammen, Herr Weinberg, Frau Klein-Schmeink, wird das die größte Summe sein, die jemals in Krankenhäuser investiert wurde. 2021 wird so viel in Krankenhäuser in Deutschland investiert wie nie zuvor, ({1}) und Sie müssen schon erklären, warum Sie da nicht zustimmen. So viele Investitionen wie noch nie zuvor, und Sie können nicht zustimmen! ({2}) Zweitens: Digitalisierung. Wir erleben, dass es gerade bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen darauf ankommt, nicht nur abstrakt darüber zu reden, sondern es vor allem konkret erlebbar zu machen: in der Versorgung, durch bessere Information, durch schnellere Kommunikation, auch zwischen Ärzten, zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten, Apothekerinnen und Apothekern und vielen anderen, die im Gesundheitswesen vernetzt zusammenarbeiten. Wir spüren übrigens auch, dass es um IT-Sicherheit geht. Wir haben gerade die Meldung von der Uniklinik in Düsseldorf, wo es wieder einen Hackerangriff gegeben hat. Und ja, Investitionen in IT-Sicherheit sind nicht immer sexy, weil man nicht gleich etwas zeigen kann, was vielleicht in der Versorgung gut ausschaut, aber Investitionen in IT-Sicherheit sind notwendig; denn Gesundheitsdaten sind die sensibelsten Daten, die es gibt, und deswegen ist es richtig, dass wir sagen: Mindestens 15 Prozent der Investitionen müssen in die IT- und Cybersicherheit in den Krankenhäusern gehen. ({3}) Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird der Bundesrat wahrscheinlich dem Patientendaten-Schutz-Gesetz zustimmen, das heißt, heute ist wirklich ein starker Tag für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Mit den Investitionen in die Krankenhäuser und gleichzeitig dem Patientendaten-Schutz-Gesetz machen wir möglich, dass am 1. Januar 2021 die elektronische Patientenakte kommt. Seit 15 Jahren steht sie im Gesetz, seit 15 Jahren hatten alle irgendwie das Gefühl, das werde der Berliner Flughafen des deutschen Gesundheitswesens, und jetzt geht es endlich am 1. Januar 2021 los. Wir reden nicht nur über Digitalisierung; wir setzen sie auch um im Sinne der Patientinnen und Patienten. ({4}) Das Dritte – es ist schon angesprochen worden –: Das beste Gesundheitswesen – das klingt immer so neutral – braucht auf jeden Fall die leidenschaftlich arbeitenden und gut ausgebildeten Beschäftigten, die vielen Hunderttausenden, die jeden Tag in den Krankenhäusern und in allen anderen Bereichen für unsere Gesundheit und unsere Pflege arbeiten. Deswegen geht es natürlich grundsätzlich um gute, um bessere Arbeitsbedingungen; genau dafür arbeitet diese Koalition seit über zwei Jahren intensiv, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten: Mit dem Pflegebudget, das seit dem 1. Januar 2020 gilt, ist es in deutschen Krankenhäusern nicht mehr möglich, dass zulasten der Pflege gespart wird. Die Kosten für die Pflege in den Krankenhäusern werden eins zu eins von den Krankenkassen refinanziert, egal wie viel zusätzliches Personal eingestellt wird. Das ist ein starkes Signal an die Pflege, dass eben in der Politik Verlässlichkeit besteht, wenn jetzt Personal aufgebaut wird. ({5}) Und dazu kommen die Arbeitsbedingungen: von der Digitalisierung über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und viele andere Fragen. Dabei ist diese Prämie, die es jetzt geben wird für die im Frühjahr dieses Jahres, zur Hochzeit dieser Krise besonders belasteten Beschäftigten, auch in den Intensivstationen, ein Baustein. Diese Maßnahme ist nicht abschließend; sie gehört in das Konzept der Verbesserung in der Pflege insgesamt. Aber eins, Herr Weinberg, wundert mich jetzt schon: dass Die Linke es kritisiert, dass wir Arbeitnehmervertreter mitentscheiden lassen, wer die Prämie bekommt. Also, wir trauen Arbeitnehmervertretern das zu. ({6}) Wir glauben auch, dass sie die Richtigen sind, das mitzuentscheiden. Wenn Sie das nicht tun, bestärkt es uns eher darin, es genau so zu handhaben, dass wir die Arbeitnehmervertreter bei dieser Entscheidung einbinden, weil wir daran glauben, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber an dieser Stelle gut selbst organisieren können. ({7}) Wenn Die Linke das nicht tut, ist das noch ein guter Grund, diesem Gesetz zuzustimmen. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke, SPD. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Krankenhauszukunftsgesetz ist ein gutes Gesetz – ein gutes Gesetz für moderne Kliniken, für moderne digitale Infrastruktur und für eine moderne Notfallversorgung. Für den Bund sind bei diesem Gesetz zwei Motive im Vordergrund: Erstens. Wir wollen unsere Krankenhäuser fit machen für die Zukunft, und das – es wurde schon oftmals gesagt –, obwohl eigentlich nicht wir, sondern die Länder zuständig sind. Trotzdem nehmen wir als Bund 3 Milliarden Euro in die Hand, und das sollten wir in diesem Haus alle begrüßen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Zweitens. Wir legen in nicht einfachen Zeiten ein Konjunkturprogramm auf; das darf man auch nicht vergessen. Gemeinsam mit den Ländern und den Krankenhausträgern können das bis zu 4,3 Milliarden Euro sein. Das ist ein politischer Erfolg. Warum? Weil wir die Wirtschaft stärken und Arbeit schaffen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Die Pandemie hat gezeigt: Unser Krankenhaussystem ist wesentlich besser als sein Ruf; aber wir müssen noch einige Hausaufgaben machen. Allerdings – das sage ich auch – sind Regionalbudgets, also regionale Pauschalen, wie es die AfD vorschlägt, nicht die Lösung. Vielmehr müssen wir die Länder motivieren, endlich ihre Krankenhauslandschaft patientenorientierter auszurichten. Herr Ullmann hat ja gesagt: Wir haben zu wenig Investitionen. – Aber es gibt ja auch einen FDP-Gesundheitsminister; ihm muss man dann auch sagen, dass die Länder mehr machen müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Gerade aber die Mittel des Struktur- und des Zukunftsfonds sind dafür gedacht, in die Zukunft zu investieren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Für eine leistungsstarke Krankenhauslandschaft müssen wir die Fallpauschalen weiterentwickeln. ({3}) Deshalb haben wir ja die Pflege bereits aus den Fallpauschalen herausgenommen – der Minister hat es gesagt –: Es lohnt sich jetzt nicht mehr, auf dem Rücken der Pflegekräfte zu sparen. Das war ein großer politischer Erfolg, meine sehr verehrten Damen und Herren, den die Koalition mit den verabschiedeten Gesetzen erzielt hat. ({4}) In Zukunft müssen wir aber außerdem endlich die notwendigen Vorhaltekosten – das sage ich ausdrücklich – in den Kliniken finanzieren, und zwar unabhängig von deren tatsächlicher Auslastung und unabhängig von den Erlösen, beispielsweise auch in der stationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen; denn nur so können wir überall bestmögliche Versorgung gewährleisten. Da müssen wir nachsteuern; hier müssen wir die Fallpauschalen weiterentwickeln, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Deshalb begrüße ich auch sehr, Herr Minister, dass Sie unsere Anregung für die Weiterentwicklung der Fallpauschalen aufnehmen wollen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Entschuldigung. – Herr Kollege Franke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klein-Schmeink?

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Franke, Sie verweisen ja darauf, dass es dringenden Bedarf gibt, das Entgeltsystem weiterzuentwickeln, Vorhaltekosten vorzusehen, damit wir eine gute Versorgung unabhängig von Fallzahlen gewährleisten können. Jetzt hat der Minister gesagt, dass es keine weiteren Reformen im Krankenhausbereich in dieser Wahlperiode geben wird. Wie stehen Sie dazu vonseiten der SPD, und was tun Sie, damit das doch erreicht werden kann? Wir alle wissen, dass wir es uns gar nicht leisten können, diese grundlegenden Probleme noch länger auszusitzen.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst muss ich sagen, dass die Fallpauschalen nicht in erster Linie das Problem der Krankenhausfinanzierung sind. Das Problem ist, dass die Länder ihrer Finanzierungsverpflichtung nicht Genüge tun und deshalb 3 Milliarden Euro für Investitionen im Krankenhausbereich fehlen. Das ist das eigentliche Problem. Die DRGs weiterzuentwickeln, ({0}) die DRGs zielgenauer zu machen, dem InEK Vorgaben zu machen, das ist ein politisches Ziel, das wir, glaube ich, noch in dieser Legislaturperiode, noch in dieser Koalition anpeilen können, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich begrüße, wie gesagt, dass der Minister unsere Anregung zur Weiterentwicklung der Fallpauschalen aufnehmen wird; ich bin sehr sicher, dass er das machen wird. ({2}) Ich begrüße auch, dass Sie, Herr Minister, die Bundesförderung für Krankenhäuser im ländlichen Raum flexibilisieren wollen. Das ist ein wichtiger Punkt, der mir als Abgeordneter aus dem ländlichen Raum wirklich sehr am Herzen liegt. Außerdem freut mich natürlich – das sage ich auch im Namen der SPD –, dass jetzt Beschäftigte in durch Corona besonders belasteten Krankenhäusern eine steuerfreie Sonderzulage von bis zu 1 500 Euro erhalten können. Herr Weinberg, auch ich habe mich darüber gewundert – das hat der Minister schon angesprochen –, dass Die Linke es den Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmervertretern nicht zutraut, darüber zu entscheiden, wer in den Genuss dieser Sonderzahlung kommt. Es ist doch gerade die Aufgabe von Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmervertretern, für die Mitarbeiter zu sorgen. Den Vertretern der Mitarbeiter hier einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, ist eine richtige und gute Entscheidung dieser Koalition. ({3}) Die Sonderzahlung ist auch ein Zeichen der Solidarität gegenüber denjenigen, die in der Pandemie schwer kranken Menschen helfen. Auch die Tatsache – das möchte ich abschließend noch sagen –, dass die Menschen, die coronabedingt mehr Pflegetage brauchen, diese jetzt zusätzlich bezahlt bekommen, ist ein deutliches politisches Zeichen; denn gerade in der Coronapandemie, meine sehr verehrten Damen und Herren, brauchen wir Solidarität, brauchen wir sozialen Zusammenhalt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Vor allem: Wir schaffen mit diesem Gesetz moderne, digitale Kliniken für die Menschen in unserem Land. Und das ist der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke, CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zukunft unserer Krankenhäuser wird meines Erachtens von sechs Herausforderungen bestimmt: Da ist erstens die Herausforderung der Behandlungsqualität in Zeiten personalisierter Medizin und rasanter Technologiesprünge, die auch die Sicherheit der Patientinnen und Patienten besonders berührt. Da ist zweitens eine damit verbundene Herausforderung der Transparenz in Zeiten immer aufgeklärterer Patientinnen und Patienten mit berechtigten Erwartungen an Information und Aufklärung. Und da ist drittens die Herausforderung der Fürsorge für das medizinische Personal in Zeiten, in denen wir immer weniger mit ausreichend Nachwuchs rechnen können, weil auf der einen Seite die Erwartungen an eine Work-Life-Balance in ähnlichem Maße wachsen wie auf der anderen Seite die Belastungen, die sich aus der Personalknappheit ohnehin schon ergeben – eine Spirale, aus der wir dringend aussteigen müssen. Da ist viertens die Herausforderung der Flexibilität der Strukturen, die wir insbesondere in der Krisenzeit des Jahres 2020 in besonderem Maße erfahren haben. Wir haben gesehen, welche Anforderungen diese ganz besondere Pandemie an unser Gesundheitswesen gestellt hat. Doch wird eine andere Pandemie mit anderen Ansteckungswegen, Mortalitätsraten oder betroffenen Organen möglicherweise mit ganz anderen Anforderungen einhergehen. Da ist fünftens die Herausforderung des demografischen Wandels. Die Menschen werden glücklicherweise immer älter. Naturgemäß häufen sich damit Behandlungs- und Pflegebedürftigkeit. Und da ist sechstens die Herausforderung, die als Metaebene einen wichtigen – nicht den einzigen – Beitrag dazu leisten kann, um den genannten fünf Punkten proaktiv zu begegnen, ihnen ihren Schrecken zu nehmen, sie zum Vorteil sowohl des medizinischen Personals als auch der Patienten zu lösen: die Herausforderung der Digitalisierung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Digitalisierung unserer Krankenhäuser ist deshalb nicht Kür, sie ist Pflicht, weil es uns besonders ärgert, dass wir immer noch eine Diskrepanz spüren zwischen unseren eigenen Erwartungen an eine moderne Gesundheitsversorgung des 21. Jahrhunderts und den infrastrukturellen Realitäten in unseren Kliniken. Der Bund leistet nun einen Beitrag, der als erhebliche Starthilfe zu verstehen ist. Die Länder müssen den Weg entschlossen weitergehen. Hierzu enthält der Krankenhauszukunftsfonds ein Detail, für das ich mich gern eingesetzt habe und das mich als Gesundheitsforschungspolitikerin besonders erfreut: dass im Gegensatz zum Strukturfonds auch die Universitätskliniken Berücksichtigung gefunden haben. Sie sind die Leuchttürme der Innovation in unserem Land. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Modernisierung unserer Krankenhäuser bedeutet mehr als die Verkabelung von Stationen, mehr als das Einscannen von Krankenakten. Für uns steckt darin eine bessere und sicherere Versorgung unserer Patientinnen und Patienten. Ich danke Ihnen für die Zustimmung zum Krankenhauszukunftsgesetz. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht mir nicht darum, die Unabhängigkeit der EZB infrage zu stellen. Sie darf aber erstens nicht in die Rechte anderer eingreifen und muss zweitens die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen wahren, also die umfangreichen Auswirkungen ihres Tuns im Auge behalten. Zum Eingriff in das Recht anderer. Indem die Deutsche Bundesbank im Auftrag der EZB Negativzinsen erhebt und ihre Gewinne letztlich an den Staat abführt, wirkt das praktisch wie eine Steuer. Auch Professor Elicker spricht deswegen in seinem Kurzgutachten vom Februar 2020 in diesem Zusammenhang von einem „Mechanismus, der in seiner Wirkung einer Sondersteuer gleichkommt“. Das ist der Mechanismus, der hier eingesetzt wird. Die Steuerhoheit aber ist alleine dem Parlament gegeben. Dieses Recht dürfen wir nicht aus der Hand geben. ({0}) Zur Verhältnismäßigkeit. Professor Knops schreibt in seinem Gutachten vom Oktober 2019 zur Wirksamkeit der Negativzinsen – ich zitiere –: Die Maßnahmen der EZB verstoßen gegen das Subsidiaritätsprinzip (Artikel 5 Abs. 3 EU-Vertrag) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Artikel 5 Abs. 4 EU-Vertrag). Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen der EZB sind folgende Punkte besonders zu bedenken: Null- und Negativzinsen sind wirtschaftlich gesehen absolut absurd. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde jemandem Geld geben, wissend, dass er garantiert weniger zurückbekommt. ({1}) Es wäre dann sinnvoller, das Geld unterm Kopfkissen zu behalten. Für Banken haben Negativzinsen zwei Effekte: Erstens drücken sie das Zinsniveau insgesamt. Damit steigt die Gefahr, dass die eingenommenen Zinsen der Banken die Risiken nicht mehr decken. Zweitens rauben die Negativzinsen den Banken Eigenkapital, sodass sie weniger in der Lage sind, Risiken zu tragen. Das gefährdet insgesamt die Finanzstabilität Deutschlands. ({2}) Die angeblichen Lösungen wie Haftungsgemeinschaften und synthetische Verbriefungen verschleiern die Situation nur, aber lösen die Probleme nicht. ({3}) Wir alle wissen: Tiefe Zinsen führen zu Kapitalfehllenkungen. Sie erzeugen Blasen, die später platzen und großen wirtschaftlichen Schaden erzeugen – Beispiel: Spanien. ({4}) Zu tiefe Zinsen verleiten dazu, mehr Kredite aufzunehmen, als es gesund ist. Zum Ende 2019 sollen in Deutschland 330 000 sogenannte Zombie-Unternehmen vorhanden gewesen sein; die Creditreform spricht aktuell von 550 000 Zombie-Unternehmen. Das sind Unternehmen, die nicht mehr in der Lage sind, ohne neue Kredite zu überleben. Ihre Zahl kann sich gemäß Creditreform infolge der Lockdown-Auswirkungen noch auf 700 000 bis 800 000 erhöhen. Das Damoklesschwert schwebt über dem Finanzplatz Deutschland. Von den Niedrigzinsen sind nicht nur Sparer negativ betroffen, sondern natürlich auch Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds, also praktisch alle Bürger. Zu niedrige Zinsen nehmen dem Markt den Zinsdruck mit dem Ergebnis, dass erstens die volkswirtschaftliche Effizienz absinkt und zweitens der Aufkauf von Firmen erleichtert wird; das heißt: Unternehmenskonzentration. Insgesamt ist festzustellen, dass Negativzinsen durch unwirtschaftliche Ressourcenallokation wirtschaftliche Schwäche erzeugen. Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung: Die Politik der EZB greift unangemessen in die Rechte des Parlaments ein, und ihre Politik ist unverhältnismäßig. Wir müssen etwas dagegen tun, zum Beispiel, indem wir gemeinsam überlegen, ob wir nicht die Negativzinsen erstatten. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Hollnagel, ich habe mir im Vorfeld nicht nur Ihren Antrag durchgelesen, sondern auch Ihre Veröffentlichungen zu dem Thema. Sie werden sich nicht wundern, wenn ich dezidiert und aus voller Überzeugung etwas anderer Meinung bin. ({0}) Der wesentliche Inhalt des Antrags der AfD-Fraktion, den wir jetzt hier debattieren, ist die Kritik an den negativen Zinsen auf Einlagen im Euro-System. Sie werfen der EZB Kompetenzüberschreitung vor und der Bundesbank Grundrechtsverstöße. Sie fordern mit Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Bundesbank aufzufordern, deutsches Recht einzuhalten und keine Negativzinsen zu erheben, und die Geschäftsbanken sollen den Kunden die Negativzinsen erstatten. Wenn das mal so einfach wäre! Ja, in der Situationsbeschreibung gebe ich Ihnen recht: Wir haben eine seit Jahren andauernde Niedrigzinsphase mit gravierenden und zum Teil negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft, auf die Finanzwirtschaft, auf die öffentlichen Haushalte und – was wahrscheinlich am schwersten wiegt – auf die privaten Sparer. Das finde ich auch nicht gut, und ich würde mir wünschen, dass die Phase der Niedrigzinsen vorbeigeht und dass wir eine Abkehr von der expansiven Geldpolitik vollziehen. Aber diese Situation ist nun mal kein Wunschkonzert, und sie ist nicht so trivial und vor allen Dingen nicht so eindimensional, wie Sie es verkünden und hier vorhin erneut vorgetragen haben. Wir befinden uns in einer seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Rezession, und das müssen wir bei der Analyse natürlich berücksichtigen. Ich möchte Ihnen drei Gründe oder Gedanken nennen, warum ich finde, dass Ihr Antrag nicht so gut ist: Erstens: das Timing. Der Zeitpunkt ist äußerst ungünstig. Es sind sich doch alle einig: Bei den politischen Kraftanstrengungen kommt es derzeit darauf an, dass die Wirtschaft sowohl in Deutschland als auch in Europa wieder anfährt und unterstützt wird. Und genau jetzt diskutieren Sie die Streichung von Negativzinsen. Aber Negativzinsen haben doch ein Ziel: Sie sollen die Banken animieren, mehr Geld an die Unternehmen auszugeben und es nicht zu parken. Dadurch soll die Wirtschaft angekurbelt werden. ({1}) Ihr Antrag gefährdet genau diesen Gedanken und erzeugt das Gegenteil. Zudem – das haben Sie verschwiegen – sieht dieser Antrag, wie ich finde, einen deutlichen Eingriff in die geschäftspolitischen Entscheidungen der Banken – das ist gar nicht so trivial – und vor allen Dingen – das steht in deutlichem Widerspruch zu dem, was Sie sagen – einen Eingriff in die Unabhängigkeit der Banken vor. Das machen wir natürlich nicht mit. ({2}) Der zweite Gedanke. Die EZB hat doch ein Ziel: Sie hat ein Mandat; sie möchte Preisstabilität gewährleisten und, soweit das dabei möglich ist, die Wirtschaftspolitik unterstützen. Die EZB stellt aktuell fest, dass das Zusammenwirken von Geld- und Fiskalpolitik, wie wir es in verschiedensten Bereichen unterstützen, eine positive Wirkung auf die Wirtschaft und die Erholung der Wirtschaft hat. Eine verfrühte Verschärfung aller Finanzierungsbedingungen könnte die wirtschaftliche Erholung gefährden. Diese Gefahr verstärken Sie durch Ihren Antrag, und das können wir nicht zulassen. Wir müssen alles dafür tun, dass die Wirtschaft sich wieder erholt und wir aus dieser Spirale herauskommen. ({3}) Der dritte Gedanke. Die Negativzinsen sind eine Möglichkeit im Werkzeugkasten der Geldpolitik. Aber Sie verschweigen, dass es auch viele andere Elemente gibt, die Einfluss auf die Niedrigzinsphase haben. Ich nenne Ihnen drei: Die Demografie. Mit zunehmendem Alter setzt man auf Sicherheit, weniger auf Rendite. Man spart mehr, als dass man investiert, um für das Alter vorzusorgen. Ich nenne die Digitalisierung. Die neue Wertschöpfung ist nicht mehr so kapitalintensiv, wie wir sie bisher in der Industrie mit ihren Anlagen und Maschinen kannten, die immer wieder erneuert und ersetzt werden mussten Ich nenne Ihnen als dritten Gedanken den natürlichen Zins. Dieses Phänomen wird seit Jahrzehnten diskutiert und ist auch sicherlich nicht leicht zu berechnen. Aber in der Tendenz sind sich doch alle einig: Der natürliche Zins geht seit Anfang der 80er-Jahre zurück, und spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise verharrt er auf einem außerordentlich niedrigen Niveau. Das ist nicht nur bei uns so; das ist weltweit, in vielen entwickelten Volkswirtschaften festzustellen. Es ist kein Phänomen, das nur in der EU, und kein Phänomen, das nur in Deutschland auftritt. ({4}) Durch das Streichen von Negativzinsen können Sie die Niedrigzinsphase nicht mal eben so beheben. Das ist schon etwas komplexer und differenzierter zu sehen. Vor allen Dingen: Nur durch eine von der Politik unabhängige EZB, nur durch eine von der Politik unabhängige Bundesbank kann eine wirksame Geldpolitik mit dem Ziel der Preisstabilität gewährleistet werden. Daran wollen wir uns ausrichten. Und der Streit über Begrifflichkeiten, wer hier in unserem Gemeinschaftssystem wen wie auffordern darf oder wie eine Summe rechtlich zu kategorisieren ist, vernebelt das Ganze. Das führt uns nicht weiter. Ich glaube, Politik tut sehr gut daran, sich jetzt hier zurückzuhalten und nicht in das Bankensystem einzugreifen. ({5}) Zu guter Letzt: Die Verfassungsmäßigkeit oder die Vereinbarkeit mit europäischem Recht wird einzig und allein durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof festgestellt; und das ist auch gut so. Aber es steht natürlich jedem frei, der klagebefugt ist, sich gegen Negativzinsen zu wenden. Mir ist nach heutigem Stand aber weder eine Geschäftsbank noch eine Notenbank noch ein Bankenverband bekannt, der sich hiergegen wendet. Natürlich finden die das zum Teil nicht schön. Aber es hat sich bisher keiner dagegen gewendet, keiner hat vor, Negativzinsen zu beklagen. Deswegen, glaube ich – der Bankenverband hat das auch gesagt; er ist in dieser Situation sehr, sehr zurückhaltend –, gibt es in der Summe verschiedenste Gründe, gute und sachliche Gründe, Ihren Antrag abzulehnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Frank Schäffler, FDP. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Keiner der Vorredner hat heute das angesprochen, was wir die ganze Woche hier eigentlich diskutieren, nämlich die Frage der Nachhaltigkeit. ({0}) Wir haben eine Nachhaltigkeitswoche im Deutschen Bundestag. Dieser Tagesordnungspunkt ist diesbezüglich eigentlich nicht schlecht; denn wir müssen uns mal fragen: Ist das, was wir in der Geldpolitik machen, eigentlich nachhaltig für künftige Generationen? Ich meine: Nein, es ist nicht nachhaltig; denn wir leben eigentlich auf Kosten künftiger Generationen, was das Geldwesen betrifft. Da hilft es nicht, wenn die AfD einen Antrag stellt und sagt: Die Banken sollen ihren Kunden die Negativzinsen erstatten. – Negativzinsen sind natürlich nur ein Symptom der Krise; sie sind nicht die Ursache der Krise. Die Ursache der Krise ist eine Verschuldung, eine Überschuldung von Staaten und Banken weltweit. Die Schuldenstände weltweit waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie so hoch wie aktuell. ({1}) Deshalb, glaube ich, müssen wir in der Nachhaltigkeitswoche darüber diskutieren. ({2}) In den letzten 25 Jahren hat die weltweite Verschuldung um 250 Prozent zugenommen. In der Euro-Zone hat die Verschuldung inzwischen 29,3 Billionen Euro erreicht. Allein die öffentliche Verschuldung in der Euro-Zone beträgt 10,3 Billionen Euro. Jeder Bürger in der Euro-Zone ist durchschnittlich mit 30 000 Euro verschuldet. Die Ursache dafür ist, dass wir kein gutes Geld haben. Wir brauchen aber gutes Geld in der Euro-Zone und weltweit, weil wir sonst immer stärker in die Verschuldung hineinwachsen. Die EZB druckt die Probleme aktuell weg. Das PSPP-Programm hat inzwischen ein Volumen von 2,3 Billionen Euro. Das Pandemieprogramm PEPP hat ein Volumen von 1,3 Billionen Euro. Beide Programme kommen haarscharf an die Kriterien heran, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil am 5. Mai gefasst hat. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Es ist noch keine monetäre Staatsfinanzierung. – Das, was wir jetzt aktuell betreiben, läuft aber immer stärker in die Richtung einer monetären Staatsfinanzierung. Der Kapitalschlüssel, den die Notenbanken derzeit anwenden, kommt dem, was das Bundesverfassungsgericht bei den Anleihekäufen verboten hat, immer näher. ({3}) Auch der Anteil der Anleihen, die die Notenbank kauft, ist inzwischen nahezu an der Grenze dessen, was zulässig ist, nämlich ein Drittel der gesamten Staatsanleihen. Ich glaube, der Zins muss in unserer Gesellschaft wieder ein Risiko ausdrücken. Er muss letztendlich auch einen Preis haben. Und er muss dafür sorgen, dass er auch die Zeitpräferenz zum Ausdruck bringt. Ansonsten passiert das, was die Linken – der Kollege De Masi ist ja gleich dran – eigentlich wollen. Walter Eucken hat in seinen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ Lenin zitiert, und Lenin soll gesagt haben: Wer die bürgerliche Gesellschaft zerstören will, der muss ihr Geldwesen verwüsten. – Wir sollten alles dafür tun, dass das nicht passiert. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Doris Barnett, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist mal wieder ein typischer AfD-Antrag: Er ist ein bisschen sozialheuchlerisch; denn er spricht von Steuern, dabei geht es wie immer, wenn es um die EU geht, gegen die EU. Sie sind nämlich eher eine Europazerstörerpartei. Sie sind nicht der strahlende Retter, sondern eher der Retter in der rostzerfressenen Rüstung. ({0}) Diese Partei lässt keine Gelegenheit aus – und sei sie noch so klein –, auf die EU einzudreschen. Die EU ist aber eine Wertegemeinschaft. ({1}) Für Sie hat die EU keinen Wert; das wissen wir. Einen Wert hat sie höchstens dann, wenn Sie sich mit Gleichgesinnten auf EU-Ebene treffen. ({2}) Mit dem Antrag wettert die AfD nun gegen die EZB wegen der Negativzinsen, dabei müssten Sie tosenden Beifall klatschen. Deshalb will ich Ihnen und den Zuschauern mal ganz langsam erklären, worum es geht. Es geht nicht um Steuern. Negativzinsen sind ein Instrument, mit dem Deutschland, die Schweiz, Dänemark, Japan und andere Länder schon länger arbeiten, und selbst in den USA denkt man jetzt darüber nach. Dieses Instrument funktioniert wie folgt: Ich will als Staat nicht, dass die Geschäftsbanken ihr Geld bei mir bzw. bei der Zentralbank nur bunkern. Verbieten kann ich das nicht. Weil die Geschäftsbanken nicht bzw. nicht genug in die Wirtschaft investieren, kann ich das als Staat natürlich auch tun, in die Infrastruktur zum Beispiel. ({3}) Ich müsste dazu aber Kredite von den Banken aufnehmen, die das Geld gerade bei mir bunkern. Das kostet mich Geld, nämlich Zinsen. Aber ich kann es als Staat auch andersherum machen: Ich gebe Anleihen heraus. Weil die Geschäftsbanken wissen, dass meine Staatsanleihen sehr solide sind, verspreche ich den Geschäftsbanken dann allerdings keine Zinsen, sondern fordere von ihnen umgekehrt Prämien, also umgekehrte Zinsen, sprich: Negativzinsen. Die Geschäftsbanken nehmen das sogar an. Ich will Ihnen sagen, dass im Jahr 2014 in nur acht Monaten das Schuldenmanagement des Bundes auf diese Weise immerhin 3,8 Milliarden Euro gutgemacht hat. Seit 2014, nachdem Lehman Brothers zusammengebrochen war und dies eine Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelöst hat, verlangt die EBZ keine Zinsen – das sind also Nullzinsen –, wenn sich Banken bei ihr Geld leihen. Mit diesem kostenlosen Geld sollen sie in ihren Ländern der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen. Aber was machen die Banken? Sie sparen das Geld und legen es lieber auf die hohe Kante. ({4}) Das nützt den Unternehmen und den Volkswirtschaften im Süden Europas und natürlich auch der deutschen recht wenig. Also macht die EZB das, was verschiedene Staaten auch schon längst tun: Sie arbeiten mit Negativzinsen, um ebendiese Geschäftsbanken zu bewegen, ihr Geld nicht zu horten, sondern in ihren Volkswirtschaften anzulegen, um Unternehmen, Existenzgründer, Mittelständler usw. zu unterstützen. Denn die gleichen Banken, die das Geld irgendwo horten, reden uns Kleinsparern ja dauernd ein, wir sollten das Geld nicht sparen, sondern wir sollten es irgendwo investieren, was riskieren. Das müssten die Geschäftsbanken auch tun, aber sie machen es nicht. ({5}) Für sie ist es besser, wenn der Nationalstaat das Risiko übernimmt, also bei ihnen Kredite mit Zinsen aufnimmt, woran sie dann wieder verdienen, statt das Geld selbst in Unternehmen zu investieren. Dabei könnten sie jetzt in die Wasserstoffindustrie, in die E-Mobilität usw. sehr nachhaltig investieren. Das sind keine Zombieunternehmen. Aber warum tun die Banken das nicht? Die EZB will, dass das Bunkern von Geld bei ihr unattraktiv wird und die Geschäftsbanken in Europa mehr Kredite zu guten Konditionen – sie selbst zahlen ja bei Kreditaufnahme null Zinsen an die EZB – in den Nichtbankensektor vergeben. Damit wird die Wirtschaft angekurbelt, Arbeitsplätze und Wohlstand geschaffen. Auch Ländern wie Spanien, Griechenland, Italien und den vielen anderen, die in einer wirtschaftlichen Krise stecken, könnte dadurch geholfen werden. Das müsste Sie von der AfD doch ganz besonders freuen. Denn wenn das so gelänge, bräuchten wir nicht extra Mittel aus dem EU-Haushalt für diese Länder, damit die Wirtschaft dort angekurbelt wird. Das ist das ganze Geheimnis hinter Negativzinsen. Ich könnte jetzt Ausführungen dazu machen, dass die EZB einen Freibetrag auf die negativen Zinsen für Banken eingeführt hat, aber das ist eher ein Thema für Feinschmecker. Um diese Details geht es auch nicht. Für die AfD geht es nur mal wieder darum, die Europäische Union und ihre Einrichtung mieszumachen, schlechte Stimmung zu schüren und hochkomplexe Themen auf ein Schlagwort zu reduzieren. Die AfD hat aber, wenn es um Europa geht, nie Gutes im Sinn. Nationalisten können mit einem friedlichen Zusammenleben von Völkern, mit freiem Warenverkehr, mit solidarischem Miteinander nichts anfangen. „Ich zuerst!“ – und dann lang, lang nichts: Das ist Ihr Mantra. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Das ist doch ein sehr simples Weltbild. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unserer großen Unternehmen – von der BASF, Lufthansa, Airbus, VW, Daimler usw. bis hin zu den Pfalz-Flugzeugwerken –, unserer Mittelständler und der vielen anderen Tausend Unternehmen in Deutschland wissen, wie es um ihre Arbeitsplätze stünde, könnten sie sich nicht auf den europäischen Markt verlassen. Das Schlimme ist, dass viele von Ihnen in der AfD das auch wissen und somit wider besseres Wissen lieber Unfug verbreiten, weil das besser in Ihr Weltbild passt. Sie tun mir leid: Sie sind leider Kleingeister und bleiben es! ({6}) Ihr Antrag kennt nur eine Befassung: gleich in die runde Ablage. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zur feinen Ironie der Geschichte gehört ja, dass ich in dem Alter, in dem Frank Schäffler von der FDP Lenin gelesen hat, im Kommunionsunterricht war und Volkswirtschaft studiert habe. Aber so ist das eben. ({0}) Die Menschen wurden in den letzten Jahren immer mehr in die private Altersvorsorge gedrängt. Deswegen sind viele wegen der niedrigen Zinsen natürlich frustriert. Die AfD sollte bei diesem Thema den Ball allerdings möglichst flach halten; denn Sie sind die einzige Fraktion in diesem Haus, die bis heute kein Rentenkonzept vorgelegt hat. ({1}) Und wenn es nach Herrn Meuthen von der AfD ginge, dann würden wir die gesetzliche Rente gleich ganz abschaffen; das ist „Riester auf Steroiden“. Daher sollten Sie sich hier nicht zum Anwalt der Kleinsparer aufspielen. ({2}) Der Kollege Berghegger hat darauf hingewiesen, dass die Realzinsen im Trend seit vielen Jahren sinken; das ist übrigens nicht nur im Euro-Raum so, sondern das ist auch in der Schweiz so. Mit der Schweiz kennt sich die AfD ja ein bisschen aus: Einige machen da ihre Steuererklärung und werden von Zürich aus finanziert. ({3}) Deswegen ist eine ganz andere Debatte notwendig, nämlich wie wir das Zinsniveau wieder normalisieren können. Dafür braucht man öffentliche Investitionen in Europa; das ist der Schlüssel. ({4}) Aber ich gebe Ihnen recht, dass natürlich auch Negativzinsen in ihrer Wirkung sehr zweifelhaft sind. Denn man kann natürlich auch die Banken nicht zur Kreditvergabe zwingen, wenn keine Nachfrage da ist. Allerdings heißt das im Umkehrschluss nicht, dass man jetzt die Zinsen hochzieht, und dann ist alles schön. Was bringen den Menschen Zinsen auf ihre Guthaben, wenn ihre Geschäfte pleitegehen, weil sie sich nicht mehr finanzieren können? Was bringen den Menschen höhere Zinsen, wenn ihr Job weg ist? Deswegen sind öffentliche Investitionen der Schüssel, um in der Wirtschaft wieder Zuversicht zu verbreiten. ({5}) Ich will auch noch mal erklären, was Sie mit Ihrem Antrag eigentlich vorhaben. Sie schreiben ja, die Bundesbank solle den Banken die Negativzinsen erstatten und die Banken dann den Sparern. – Das heißt ja nichts anderes, als dass die Reinigungskräfte oder die Polizisten hier in diesem Haus mit sehr geringen Ersparnissen – schließlich sinkt der Notenbankgewinn, und das trifft die Steuerzahler – dafür zahlen sollen, dass Herr Gauland Zinsen auf seinem Konto kassiert. Das ist einfach völlig unanständig. ({6}) Deswegen habe ich einen ganz einfachen und pragmatischen Vorschlag: Wenn Sie hier irgendjemandem was erstatten wollen, dann erstatten Sie doch erst mal Ihre verdeckten Parteispenden, die Sie aus der Schweiz kassieren. Dann wären wir schon einen Schritt weiter. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte AfD! Auch ein Paul Kirchhof kann irren. Ich schwanke immer noch in der Frage, ob es der ehemalige Verfassungsrichter verdient hat, von Ihnen in diesem Antrag zu Ihrem Kronzeugen gemacht zu werden. Aber ja, der inzwischen emeritierte „Professor aus Heidelberg“, wie Gerhard Schröder ihn gerne nannte, hat im letzten Jahr mal wieder einen rausgehauen: Konkret hat er behauptet, es gebe ein Grundrecht auf Zinsen. – Das greifen Sie von der AfD jetzt hier mit diesem Antrag auf und wollen damit sich und Ihrer Euro-Zerstörungsstrategie ein rechtsstaatliches Antlitz verleihen. Aber das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({0}) Deswegen werde ich hier jetzt nicht ökonomisch argumentieren, sondern das noch mal juristisch darlegen. Es reicht eben nicht das Räsonieren eines einzelnen ehemaligen Verfassungsrichters, sondern es geht um die tatsächlichen Urteile des Bundesverfassungsgerichts in dieser Angelegenheit. Diese Urteile sagen allesamt eindeutig: Nein! Um es konkret mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts auszudrücken: Aus Artikel 14 Grundgesetz – Recht auf Eigentum – ergibt sich „weder eine staatliche Wertgarantie des Geldes noch das währungs- und wirtschaftspolitische Leitbild, die Vorstellung eines stabilen Geldwertes zu verwirklichen“, so in Band 105, Seite 17 oder auch an anderer Stelle. Das liegt eben daran, dass Artikel 14 den Bestand, aber nicht den Tauschwert vermögenswerter Rechte schützt. ({1}) So hält eben auch Otto Depenheuer, ein sehr konservativer und sehr Euro-kritischer Staatsrechtler, jemand, den Sie von der AfD sonst immer sehr gerne zitieren und auch als Experten hier in den Bundestag zur Anhörung einladen, in seiner Kommentierung zu Artikel 14 Grundgesetz fest: Art. 14 GG kann grundsätzlich nicht gegen eine staatliche Geldpolitik mobilisiert werden, die Inflation oder Negativzinsen – bewusst oder unbewusst – in Kauf nimmt. Art. 14 Grundgesetz enthält weder ein Grundrecht auf Preisstabilität noch eine staatliche Wertgarantie des Geldes. Das liegt daran – um noch einmal das Bundesverfassungsgericht zu zitieren –, dass der Geldwert in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig ist. Er bildet sich im Rahmen der staatlichen Währungshoheit und Finanzpolitik wesentlich auch durch das Verhalten der Grundrechtberechtigten selbst, insbesondere über Preise, Löhne, Zinsen, wirtschaftliche Einschätzungen und Bewertungen. ({2}) Für die Zinsentwicklung gilt nichts anderes. Außerdem ist es eben so, dass der Einfluss der EZB auf das Zinsniveau, auch wenn Sie von der AfD populistisch immer wieder was anderes behaupten, eben nicht der einzige oder gar nur der bestimmende Faktor ist. Das hat uns übrigens auch gestern im Deutschen Bundestag noch einmal der Präsident der Bundesbank, Jens Weidmann, den Sie ja ansonsten auch immer gern als Kronzeugen heranziehen, eindrucksvoll erläutert. ({3}) – Stimmt; es war vorgestern. – Die Wahrheit ist einfach: Negative Zinsen kann man nicht verbieten, auch nicht die AfD. Man kann sie allerdings durch eine kluge Wirtschafts- und Fiskalpolitik überwinden, mit einem klaren Kurs und klarer Rechtssicherheit für klimaschützende Investitionen und einer offensiven Investitionsstrategie für eine klimaneutrale und sozialökologische Wirtschaft. Dann werden wir auch wieder positive Zinsen haben, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben einen Antrag der AfD vorliegen, der von den Vorrednern schon entsprechend bewertet wurde. Ich glaube, es ist nicht notwendig, noch weiter darauf einzugehen. Eigentlich bräuchten wir für diesen Antrag gar keine Debatte. ({0}) Ich halte die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt trotzdem für richtig. Die Kollegin Paus hat es kurz erwähnt: Wir haben in dieser Woche in diesem Haus zum ersten Mal einen monetären Dialog geführt, und zwar mit dem Bundesbankpräsidenten Weidmann. Dieser Dialog wird nun institutionalisiert und soll fortgeführt werden. Was in dem Antrag der AfD – nicht überraschend – komplett fehlt, ist eine Ausrichtung auf die Zukunft. Lösungsansätze sind sowieso keine enthalten. Dieser monetäre Dialog, den wir mit der Bundesbank und indirekt und direkt auch mit der Europäischen Zentralbank führen, bedarf einiger Vorgaben und Formulierungen von unserer Seite. Die Europäische Zentralbank und die internationalen Zentralbanken haben die gesamte Politik der letzten Jahre zur Prüfung ausgeschrieben. Dabei soll kritisch hinterfragt werden, ob die Politik der letzten Jahre richtig war oder ob nachjustiert werden muss. Ich möchte schon jetzt ein paar Punkte nennen, bei denen ich erwarte, dass wir zukünftig im Dialog mit dem Bundesbankpräsidenten Weidmann einiges dazu erfahren werden: Erstens. Was sind die Auswirkungen der jetzigen Zinspolitik auf die Ökonomien in Europa, auf den Wohlstand in Europa, auf die Rentensysteme und auf die Banken? Bevor ich eine Nachjustierung oder Neujustierung der Zentralbankpolitik vornehme, muss erst mal eine ordentliche Analyse erfolgen. Zweitens. Dieser Punkt ist noch viel spannender: Die Europäische Zentralbank gibt sich Ziele vor, unter anderem ein Inflationsziel nahe/gleich 2 Prozent. Wir müssen feststellen, dass dieses Ziel in den letzten Jahren durch die Politik der Zentralbank nicht erreicht wurde. Auch hierzu hätte ich gerne eine Auskunft der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank, warum diese Ziele nicht erreicht wurden. Wenn dann entsprechende Analysen vorliegen, geht es in die Diskussion um die Weiterentwicklung. Die Federal Reserve hat vor Kurzem eine Vorgabe gemacht, indem sie erklärt hat: Wir wollen zukünftig nicht mehr strikt das 2‑Prozent-Inflationsziel erreichen, sondern wir wollen es im Durchschnitt erreichen. Das ist jetzt kein Plädoyer von mir, dass wir die Politik der Fed übernehmen sollen; die Fed hat andere, weitergehende Ziele als die Europäische Zentralbank. Es ist aber immerhin ein Ansatz der größten Zentralbank, hier eine Veränderung vorzunehmen. In unserem Gespräch mit Jens Weidmann in dieser Woche gab es einen interessanten Ansatz, den ich für richtig halte, nämlich dass man den Warenkorb überprüft. Der gesamte Bereich der Immobilien, ob die Mietentwicklung oder die Entwicklung der Immobilienpreise, die ein Stück weit auch Auswirkungen auf die Zinspolitik haben, sollte sich zukünftig in dem zugrunde gelegten Warenkorb wiederfinden, auch wenn es systematisch schwierig ist. Das sind die Bereiche der engen Fiskalpolitik der Europäischen Zentralbank. ({1}) Frau Paus, was die Einführung der ESG-Ziele in die Politik der Zentralbanken betrifft, haben wir sicherlich einen Dissens. Wir als Unionsfraktion – anders als Sie und anders als die AfD – wollen keine Politisierung der Geldpolitik. Lassen Sie mich ganz klar betonen: Es geht nicht darum, zukünftig Klimarisiken für den Finanzmarkt zu bewerten, sondern es geht darum, die Forderung der Marktneutralität aufzugeben. ({2}) Dass die Zentralbanken aktiv in diesen Bereich hineingreifen, das lehnen wir entschieden ab. ({3}) Für die Zeit nach Corona muss alles darangesetzt werden, dass die Europäische Zentralbank aus der Umklammerung der Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten befreit wird. Das heißt, die Mitgliedstaaten müssen ihre nationalen Ausgaben endlich wieder disziplinieren. Das gilt insbesondere angesichts der anstehenden Entwicklung der EU-Eigenmittel. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss nicht nur wieder scharfgestellt werden, sondern er muss praktikabel gemacht und von den ganzen Ausnahmen entrümpelt werden. Er muss handlungsfähig gemacht werden, und das geschieht am besten durch eine Auslagerung auf eine neutrale Institution. Jean-Claude Juncker hat einmal gesagt, warum das Verfahren gegen Frankreich nicht eingeführt wird: „Because it’s France.“ So darf das nicht laufen; das ist keine gute, glaubhafte Begründung. Und hier baue ich auf die AfD, dass Sie mit Ihren Freunden von Le Pen und von Lega in der Fraktion im Europäischen Parlament dabei mitwirken, strenge Haushaltsregeln in Europa durchsetzen – im Interesse von Deutschland. ({4}) Wir müssen jetzt Vorbereitungen treffen, dass für die Zeit nach Corona die Zinswende eingeleitet wird – keine radikale Zinswende, aber eine, die den Namen verdient – und dass die Mitgliedstaaten ihre Verantwortung in der Europäischen Union wieder wahrnehmen. Besten Dank, meine Damen und Herren. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine lieben Zuschauerinnen und Zuschauer! „Wer recht hat, der muss auch recht bekommen.“ ({0}) Unter diesem Motto haben wir mit der Musterfeststellungsklage eine ganz wichtige Maßnahme für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland eingeführt. Damit haben wir dafür gesorgt, dass sie gemeinsam gebündelt ihre Rechte durchsetzen können. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen. Wir brauchen mehr kollektiven Rechtsschutz in Deutschland. Gerade die Musterfeststellungsklage hat gezeigt, wie erfolgreich der kollektive Rechtsschutz sein kann. Vergleichsweise kurz dauerte das Musterfeststellungsverfahren der Verbraucherzentrale gegen VW. VW hat eingesehen, dass man dabei nur verlieren kann, und hat rasch Vergleiche abgeschlossen. Man kann also mit kollektivem Rechtsschutz den Verbraucherinnen und Verbrauchern schnell zum Erfolg verhelfen. ({1}) Entgegen den damaligen Unkenrufen von den Grünen hat sich dieses Verfahren bewährt; ({2}) die Bürgerinnen und Bürger haben schnell ihre Entschädigungen erhalten. Unter den Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, dem KapMuG, über dessen Verlängerung wir heute diskutieren, gibt es durchaus positive Beispiele, die zeigen, dass auch dieses Verfahren funktionieren kann. Dies haben wir in der Anhörung von einigen Praktikern, von Rechtsanwälten und auch von Richtern, bestätigt bekommen. Es ist notwendig, dass wir dem Rat der Sachverständigen folgen und dieses Gesetz heute wie vorgesehen verlängern. ({3}) Natürlich sind viele Verbesserungen erforderlich; das haben wir auch in der Sachverständigenanhörung gehört. Ein Negativbeispiel ist das Telekom-Verfahren, wo auch nach vielen Jahren Prozessdauer noch nicht absehbar ist, ob es überhaupt und, wenn ja, wann es eine Entscheidung geben wird. Für uns ist deshalb klar: Wir müssen das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz verlängern, damit geprellte Anleger und Aktionäre die Möglichkeit haben, gemeinsam ihre Schäden geltend machen zu können. Das KapMuG, das wissen wir, darf in dieser Form jedoch nicht bestehen bleiben. Es hat sich als zu ineffektiv, zu langwierig, zu umständlich und zu komplex erwiesen; aber es jetzt ganz abzuschaffen, wäre auch ein falscher Schritt. In die notwendige Reform sollten die Erfahrungen mit der Musterfeststellungsklage einfließen. Es sollten nicht losgelöst einzelne Verbesserungen vorgenommen werden, sondern das sollte in einem größeren Kontext geschehen, und zwar unter Berücksichtigung der Vorschläge der Europäischen Union. Sie wissen, es gibt eine umfassende Richtlinie mit vielen Vorschlägen. Ich freue mich, dass das Bundesjustizministerium und Ministerin Lambrecht sich schon mit Hochdruck Gedanken machen, wie wir das Ganze in Deutschland am besten umsetzen können. Ein solches System würde dann auch eine Leistungsklage umfassen; das ist uns wichtig. Da werden wir sicher noch viele interessante Diskussionen führen; denn eines ist klar – ich sagte es schon eingangs –: Wenn wir wollen, dass derjenige, der recht hat, auch tatsächlich recht bekommt, dann brauchen wir mehr kollektiven Rechtsschutz in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Die Digitalisierung bietet dabei sehr große Chancen, weil dadurch ohne großen Bürokratieaufwand massenweise Verbraucherrechte geltend gemacht werden können, zum Beispiel von Verbänden. Das wiederum bietet die Chance, dass gerade diejenigen Verbraucher ihre Rechte geltend machen, die heute vielleicht den Ärger scheuen, der mit einem Gerichtsverfahren verbunden ist, aber auch den Aufwand und die Kosten, und deshalb gerade kleinere Ansprüche nicht geltend machen. Davon versprechen wir uns in der SPD für die Verbraucherinnen und Verbraucher einen großen Fortschritt, sodass gerade diese Verbraucher dann doch zu ihrem Recht kommen und eben nicht aus Sorge vor zu viel Ärger und Verfahrensaufwand auf ihre Ansprüche verzichten. Es braucht in Deutschland die Möglichkeit für Verbraucher, gemeinsam Ansprüche geltend machen zu können, sei es in Musterverfahren von Verbänden oder sei es in Sammelklagen. Und das wird, ohne zu übertreiben, sicherlich eine der ganz spannenden Fragen in der Rechtspolitik werden. Da werden wir, ohne hier zu untertreiben, unser zivilrechtliches Haftungssystem in Deutschland grundsätzlich neu ordnen. Das werden spannende Diskussionen werden. Das wird sich nicht in einigen Wochen oder in einigen Monaten klären. Wir wollen aber ausgewogene und wirklich durchgreifende Verbesserungen im kollektiven Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger. Wir freuen uns darauf, diese grundlegenden Verbesserungen einzuführen. Lassen Sie uns heute aber regeln, dass wir zumindest das KapMuG weiter nutzen können, damit die Anlegerinnen und Anleger die Chance haben, gemeinsam ihre Ansprüche geltend zu machen. Ich freue mich dann auf alle weitere Diskussion. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Wir reden heute über das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, Kurzform KapMuG, das die prozessualen Rechte von Kapitalanlegern, die Schäden erlitten haben, regelt, ein Gesetz also mit potenzieller Bedeutung für Millionen von Menschen. Dieses Gesetz gibt es seit dem Jahr 2005. Es wurde 2012 reformiert und bis Ende Oktober 2020, also bis Ende nächsten Monats, befristet. Es tritt also mit unabsehbaren Folgen für die Betroffenen außer Kraft, sollte es nicht kurzfristig verlängert oder durch ein besseres Gesetz abgelöst werden. Man sieht, die GroKo oder die Bundesregierung oder die Fraktionen, die der Bundesregierung gehören, haben es einfach schlicht und ergreifend verpennt: ein 15 Jahre altes Gesetz, von dem wir seit vielen Jahren wissen, dass es befristet ist und dass es nichts taugt. Herr Fechner – wo ist er? – hat es ausgeführt: Viele Verbesserungen seien notwendig, es dürfe nicht so bleiben, wie es ist. – Nichts ist passiert. Diese Bundesregierung kümmert sich lieber um Multikulti, um Gender, um Klima- und Coronahysterie, ({0}) Innenpolitik in fernen Ländern, weibliche Dienstgrade bei der Bundeswehr und allerhand anderen ideologischen Quatsch, wie zum Beispiel – Frau Lambrecht ist ja da – Ihr verfassungswidriges Hass- und Hetzegesetz, das offenbar nicht mal Herr Steinmeier unterschreiben will. Ich bin gespannt, wie Sie da weiterhin das Recht beugen und wie Sie Herrn Steinmeier dazu bekommen, ein verfassungswidriges Gesetz zu unterzeichnen. Ich denke mal, es wird Ihnen gelingen. Allerdings stößt das nicht auf unsere Sympathie. Meine Damen und Herren, die Auswirkungen, wenn dieses Gesetz außer Kraft treten sollte, wären fatal. Warum nichts passiert, warum ein 15 Jahre altes Gesetz nun noch mal um drei Jahre verlängert wird, obwohl man genau weiß, was in diesem Gesetz im Argen liegt, erschließt sich niemandem. Sie haben es schlicht und ergreifend verpennt. Kümmern Sie sich um die Leute draußen, und kümmern Sie sich nicht um Ihren ideologischen Unsinn! ({1}) Es macht auch gar keinen Sinn, drei Jahre etwas zu testen, was man bereits 15 Jahre lang getestet hat. Das grenzt für mich an Faulheit, Inkompetenz und falscher Schwerpunktsetzung. ({2}) Die Sachverständigenanhörung hat es gezeigt: Dieses Gesetz bedarf einer grundlegenden Neuschaffung. Es ist nicht reformierbar. Es muss eine klare Abgrenzung zu den Musterfeststellungsklagen her. Liebe Grüne, wo ist denn eigentlich euer Änderungsantrag vom letzten Mittwoch? Da sah man ja, wie leicht man mit den Musterfeststellungsklagen und dem Gesetz, das wir gerade behandeln, durcheinanderkommen kann. Sogar die Grünen blicken da nicht mehr durch. Ansonsten hätten Sie Ihren peinlichen Änderungsantrag ja vorgelegt. Das Verfahren muss gestrafft werden. Es kann nicht sein, dass allein die Feststellung des Musterklägers teilweise über drei Jahre in Anspruch nimmt, bevor das Verfahren überhaupt richtig losgeht. Es muss eine klare Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten der Landgerichte und der Oberlandesgerichte her. Die zurzeit im Gesetz befindlichen Zuständigkeitsregelungen sind außerdem mit der Zivilprozessordnung teilweise nicht kompatibel. Sie stehen damit auf Kriegsfuß, wie der eine oder andere Sachverständige ausgeführt hat. Schließlich haben Sie übersehen: Was passiert denn am Ende des Jahres 2023? – Das Gesetz tritt außer Kraft. Sie haben keine Übergangsregelung, auch nicht in der jetzt neuen Befristung. Wir hatten einen Änderungsantrag – übrigens einen vernünftigen Änderungsantrag, der ausgereift war, nicht so etwas Peinliches wie von den Grünen – im Ausschuss vorgelegt. Dieser Änderungsantrag wurde leider abgelehnt. Wir werden sehen, was nun daraus folgt, wenn Ende 2023 die Befristung erneut ausläuft. Vielleicht machen Sie ja dann die nächste Befristung, oder Sie hoffen darauf, dass es eine Nachfolgeregierung besser hinbekommen wird. Wir werden sehen, was dann mit den Geschädigten draußen passiert. Was nun tun als AfD? ({3}) Sollen wir aufgrund Ihres Nichtstuns und Ihrer ideologischen Verblendung das Gesetz nicht weiter unterstützen mit Folgen für Millionen Bürger draußen, oder sollen wir in den sauren Apfel beißen und sagen: „Okay, wir stimmen einmalig der Verlängerung zu“? Wir haben uns – ich kann das Rätsel auflösen – dazu entschlossen, trotz erheblicher Bedenken die Verlängerung mitzutragen, da sie im Sinne der Bürger ist, nicht etwa, um Ihnen zu helfen, sondern weil sie im Sinne der Bürger ist und wir die Bürger wegen des Versagens dieser Regierung nicht im Regen stehen lassen wollen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über die Verlängerung der Geltungsdauer des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes. Lassen Sie mich in Erinnerung rufen: Dieses Gesetz ist vor inzwischen vielen Jahren geschaffen worden – wir haben es gehört –, und es ist deshalb geschaffen worden, weil wir eine Masse von Verfahren im sogenannten Telekom-Fall hatten, die von den Zivilgerichten nicht bewältigt werden konnten. Es ging also darum, ähnliche oder identische Sachverhalte kosteneffizient abzuwickeln, in diesem Falle für die Anleger, und eine Wahrnehmungsmöglichkeit für diese Rechte einzuführen. Wir haben auch gehört: Selbst dieses Verfahren ist bis heute nicht beendet. Das bedeutet auf der einen Seite, wir haben – das waren damals die Gerichte – die Notwendigkeit kollektiven Rechtsschutzes erkannt; wir haben aber andererseits bei diesem Gesetz – und das hat die Anhörung bestätigt – eine ganze Reihe von Defiziten gesehen. Deshalb hatten wir, als das Gesetz vor einigen Jahren geschaffen wurde, auch schon gesagt: Wir müssen den kollektiven Rechtsschutz ein bisschen unter Beobachtung stellen, um zu sehen, was wir besser machen können. Und deshalb war es anfangs befristet, es wurde anschließend verlängert, und wir stehen jetzt vor der Frage einer erneuten Verlängerung. Alle Sachverständigen haben uns zunächst einmal gesagt: Jetzt ist es richtig, das Gesetz in seinem zeitlichen Anwendungsbereich zu verlängern. – Das tun wir, und das tun wir mit großer Überzeugung. ({0}) Und dann kommt die zweite Frage: Was hätten wir sonst noch machen können? Ich möchte noch einmal auf die Anhörung verweisen, die nämlich eine ganze Reihe von Defiziten des geltenden KapMuG aufgezeigt hat. Da gibt es natürlich eine Konkurrenzsituation mit dem Gesetz über die Musterfeststellungsklage, was jetzt durch die europäische Richtlinie erneut zu reformieren ist, was aber eine Verbandsklage vorsieht, also einen ganz anderen Ansatz als das, was wir jetzt beim Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz haben. Und das Konkurrenzverhältnis – das hat die Sachverständigenanhörung sehr deutlich gesagt – ist ungeklärt. Herr Vollkommer sagt, das Gesetz sei überhaupt nicht reformierbar. Herr Halfmeier sagt – und ich fand das überzeugend –: Das Gesetz nutzt allen Beteiligten, es nutzt den Gesellschaften, den Anlegern. – Es ist sozusagen ein wirtschaftspolitisch neutrales Gesetz, und man sollte dann auch an eine Reform dieses Gesetzes denken. Ich glaube, wir sollten jetzt schon – Kollege Ullrich und ich haben uns deshalb an Sie, Frau Ministerin, gewandt – über die Frage nachdenken, auch im Lichte eines Skandals wie Wirecard, was wir für die geschädigten Anleger tun können in der Zeit des Übergangs bis zu einem möglichen kompletten neuen Reformansatz, der dann die Musterfeststellungsklage und das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz sozusagen in einem Verfahren in irgendeiner Form zusammenführt. Aber wir brauchen in dieser Übergangszeit gerade mit Blick auf die Finanzskandale, die wir haben, auch schon jetzt Ansätze. Wir haben in der Sachverständigenanhörung eine ganze Reihe sehr guter Vorschläge bekommen, unter anderem von dem damaligen Mitverfasser des Gesetzes, Herrn Richter Reuschle, der auch persönliche Erfahrungen mit diesem Gesetz hat. Und ich will nur darauf hinweisen: Ein Punkt ist – das wurde uns auch genannt –, die Definition der Feststellungsziele in die Hände des Gerichts zu geben, damit nicht zwischen 250 und 5 ein Riesenstreit entsteht, der dann über Jahre ausgetragen werden muss. Ein zweiter Punkt ist, die Erheblichkeit zu begründen, warum die Musterfeststellungsklage, warum ein Musterfeststellungsbeschluss gefasst wird, um den aussetzenden Gerichten zu sagen: Da gibt es eine Erheblichkeit, das ist der Grund, warum ausgesetzt wird. Der dritte Punkt – und es gibt noch einige weitere – ist, die Festlegung des Musterklägers in die Hände des Vorlagegerichts zu stellen. Auch da gab es erhebliche Streitigkeiten. Als letzten Punkt will ich – gerade weil das ein durchaus veritables Politikum ist – die Frage ansprechen, wie wir mit Befangenheitsanträgen von Richtern in diesen Verfahren umgehen. Ich habe es in der ersten Lesung dieses Gesetzes, glaube ich, schon einmal angesprochen: Wenn wir wissen, dass solche Klagen – das Gleiche gilt für die Musterfeststellungsklage – Bedeutung für Hunderttausende, Zehntausende von Menschen haben, dann müssen wir letztlich die Frage stellen, ob die Richter nicht wie Gesetzgeber fungieren, ob die Befangenheitsregeln des Zivilprozesses das wirklich treffen und ob dann zwei Jahre nach Beginn eines Verfahrens noch ein Befangenheitsantrag gestellt und damit das Verfahren zerschossen werden kann. Das ist nicht im Interesse der Prozessparteien. Hier brauchen wir eine vernünftige Lösung, und ich meine, wir brauchen diese vernünftige Lösung schon jetzt; daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Ich hoffe, dass die SPD in diesem Punkte mitzieht. Wir haben viele Anlegerschäden, und die gilt es gemeinsam zu bewältigen. Ganz wichtig: Diese Verfahren – und da kann man dann zitieren, was die Amerikaner gesagt haben – dienen dazu, kostengünstiger Recht durchzusetzen, im Interesse aller Beteiligten: der Geschädigten, der Unternehmen und auch der Anwälte. Das ist das Oberziel, das am Ende erreicht werden sollte. Wir brauchen effizienten Rechtsschutz für alle. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katharina Willkomm, FDP, hat jetzt das Wort. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es heute? Das KapMuG wird in 42 Tagen ungültig. Die Koalition will es heute verlängern, auf den allerletzten Drücker. Worum geht es eigentlich? Wir sehen hier am Beispiel des KapMuG, wie diese Koalition, sofern es über Krisen hinausgeht, in ihrem siebten Jahr das Land regiert: müde, mechanisch und ohne Ambitionen. ({0}) Der Rechtssauschuss hat vor zwei Wochen Sachverständige zum KapMuG angehört. Was haben die Experten unisono gesagt? Dass es zu wenig ist, was Union und SPD vorlegen, ({1}) dass das Auslaufen des KapMuG eine Chance ist, den kollektiven Rechtsschutz zu verbessern, und dass die Koalition diese auch hätte nutzen sollen. ({2}) Wir Freien Demokraten legen heute einen Antrag vor, der den Gestaltungsauftrag des Bundestages ernst nimmt. Wir fordern eine dauerhafte Entfristung. Wir wollen die Verfahren beschleunigen. Erstens durch konsequente Digitalisierung. Die Prozessakten müssen vollständig digitalisiert und Datenräume geschaffen werden. Die Beteiligten müssen jederzeit auf die E-Akten zugreifen können. ({3}) Zweitens wollen wir einzelne Schritte im Prozess beschleunigen. Die Bekanntmachungsfrist muss verkürzt werden, Ansprüche müssen früher angemeldet werden können. Wir wollen außerdem, dass alle Prozessgerichte sich zumuten, Rechtsstreite umfassend und weiter gehend selbst zu entscheiden. Wir wollen nicht, dass Verfahren ohne Not komplett unterbrochen werden, weil mehr Rechtsfragen in das Musterverfahren geschoben werden als notwendig. Warum ist das alles wichtig? Warum jetzt und nicht irgendwann später? Weil da Anleger sind, die mal Vermögen in Wertpapiere gesteckt haben und sich übers Ohr gehauen fühlen – die brauchen ein gutes KapMuG als rechtsstaatlichen Weg, ihr Geld zurückzubekommen –, ({4}) und mehr noch, weil das KapMuG für die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaats wichtig ist. Unsere Gerichte brauchen ein gutes KapMuG als Verfahren, um Hunderte, manchmal Tausende Einzelrechtsstreite zu bündeln, damit die Infrastruktur des Rechtsstaats nicht aus den Latschen kippt. Die Verbraucher, die Kleinanleger, die rechtsschutzsuchenden Bürger erwarten aber nicht nur von uns Freien Demokraten, dass wir liefern; sie hätten das eigentlich auch von Union und SPD erwartet. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut, Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes der Koalition sowie über Anträge der FDP und der Grünen zu diesem Gesetz. Worum es hier geht, wird in dem Titel nicht ganz deutlich. Das Gesetz soll geschädigten Anlegern die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erleichtern, indem es Musterverfahren wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen, etwa in Jahresbroschüren oder Börsenprospekten, ermöglicht. In dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Verlängerung des Gesetzes, das bis zum 31. Oktober 2020 befristet ist. Die Bundesregierung möchte jetzt lediglich die Befristung verlängern bis 31. Dezember 2023. Mehr hat sie hier nicht eingebracht. Dabei gibt es seit Jahren viele inhaltliche Ansatzpunkte für eine Novellierung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes. Da waren sich auch die Sachverständigen in der Anhörung einig. Natürlich muss das Gesetz verlängert werden; da stimmen wir sowohl dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen als auch den Anträgen der Grünen und der FDP zu, nicht zuletzt, damit die Verfahren gegen Volkswagen, Porsche usw. weiterlaufen können. ({0}) Aber das Gesetz sollte dauerhaft implementiert werden und nicht von einer zeitlichen Befristung zur nächsten entschieden werden. Es geht darum, auch für die Zukunft und dauerhaft Rechtssicherheit für Verbraucherinnen und Verbraucher zu schaffen. Andere Länder sind hier viel weiter. Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und seine Anwendung sollten evaluiert werden und die Verfahren noch effizienter gestaltet werden. Ein wichtiger Aspekt, der hier auch angesprochen worden ist, ist die Beschleunigung der Verfahren. Es kann nicht sein, dass die Verfahren teilweise so lange dauern, dass sie nicht mehr im Einklang mit den nach Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuhaltenden Grenzen für ein faires Verfahren beendet werden können. ({1}) Wenn die Verfahren so lange dauern, bis eine gute Evaluation im Rahmen der Geltungsdauer des Gesetzes nicht möglich ist, weil die Befristung des Gesetzes schon abgelaufen ist, dann läuft hier etwas schief. Dabei liegen Vorschläge für eine Beschleunigung auf dem Tisch, die hier auch schon angesprochen worden sind. Unter anderem könnten die Verfahren beispielsweise komplett digital geführt werden und vor allem der Zugang zu den digitalen Akten für alle Parteien gewährleistet werden. ({2}) Für uns ist wichtig, dass keine weiteren Insellösungen mehr geschaffen werden, sondern endlich ein ganzheitliches Konzept entwickelt wird. Außerdem muss auch geklärt werden, in welchem Verhältnis das Musterverfahren im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und die Musterfeststellungklage gemäß § 606 ff. ZPO zueinander stehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner, die Bundesregierung hat dieses Thema nicht verpennt; Sie haben es verpennt. ({0}) Sie haben in der Anhörung ganz ersichtlich das erste Mal davon gehört. Die Bundesregierung hat deutlich öfter davon gehört; denn wir, die Grünen, stellen seit drei Jahren die Frage, was aus dem KapMuG wird. Von Ihnen habe ich davon noch nichts gehört. ({1}) Das geht auch ein bisschen in Richtung Frau Willkomm. Ich weiß nicht, was das soll: Ihren Antrag heute hier nur ins Plenum einzubringen. Also wenn Sie wirklich ein Interesse daran haben, dann bringen Sie den doch in den Ausschuss ein. ({2}) Das ist auch kein Ruhmesblatt gewesen. ({3}) Die Regierung hat das nicht verpennt, aber wir haben immer nur ausweichende Antworten gekriegt auf unsere Frage, was damit werden soll. Sie tun mir schon ein bisschen leid, Herr Hirte. Herr Fechner ist nicht mehr da; aber der tut mir auch leid. Sechs und sieben Minuten Redezeit hätte ich gerne mal! Sechs und sieben Minuten, Wochen vor dem Außerkrafttreten des Gesetzes, von dem wir seit acht Jahren wissen, dass es am 1. November 2020 außer Kraft tritt, über einen einzigen Satz, nämlich: „Wir verlängern es noch mal um drei Jahre“, reden zu müssen, das ist auch nicht einfach. ({4}) Das Problem ist – jedenfalls gilt das für die Bundesregierung –: Es interessiert Sie nicht, ob Ihre Gesetze in der Praxis funktionieren. ({5}) Es interessiert Sie nicht, dass den engagiertesten Richterinnen und Richtern die Mittel fehlen, um komplexe Anlegerverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen. ({6}) Und es interessiert Sie schlichtweg nicht, was die Gründe dafür sind, dass in den 15 Jahren des Bestehens des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes kein einziges Leistungsurteil ergangen ist. ({7}) Diese Koalition wird einen gewaltigen Reformstau im Wirtschafts- und im Zivilprozessrecht hinterlassen. Damit sind die Justizministerin der SPD genauso wie der Wirtschaftsminister der Union zum Risiko für den Justizstandort Deutschland und zum Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland geworden. ({8}) Ihr Problem ist doch auch, dass Sie immer Ad-hoc-Gesetzgebung machen. Telekom-Skandal: Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz. Und dann guckt man es jahrelang nicht mehr an. Die Einführung der Musterfeststellungsklage: eine hektische Reaktion auf VW. Und dann guckt man sie jahrelang nicht mehr an. Ich frage Sie nach den praktischen Erfahrungen mit dem VW-Vergleich, der ein Aberwitz ist. Das hat Frau Stadler Ihnen in der Anhörung ins Stammbuch geschrieben. Ich lese derart wortlose und uninteressierte Antworten auf die praktischen Fragen der Richterinnen und Richter. Sie haben einfach keine Lust auf dieses Thema. ({9}) Ich sage Ihnen: Man kann viele Kampagnen machen. Anfang des Jahres war an den Bahnhöfen wieder viel plakatiert: „Wir sind Rechtsstaat“. Rechtsstaat ist für mich, was in den Gerichtssälen ankommt. Da kommt zu wenig an. Das ist viel zu wenig. Das ist peinlich. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz dient dazu, Parallelverfahren zu bündeln, um damit eine strukturelle Ungleichheit aus der Welt zu schaffen: nämlich dass auf der einen Seite der einzelne Kapitalanleger steht und auf der anderen Seite die falsche Kapitalmarktinformation, gegen die er vorgehen möchte, wobei er aber relativ schwach ist, wenn er nur einzeln klagt. Der Sinn und Zweck des Gesetzes war, dass die Anleger gemeinsam stark sein können. Das ist auch richtig, weil wir auf dem Kapitalmarkt entgegen der wirtschaftswissenschaftlichen Markteffizienzhypothese eben doch Fehlanreize haben, falsche Informationen, die letztlich auch zu Anlegerschäden führen. Wer es mit dem Finanzplatz Deutschland ernst meint, wer möchte, dass wir einen funktionierenden Kapitalmarkt haben, der muss auch dafür Sorge tragen, dass all diejenigen, die versuchen, sich durch falsche Informationen Vorteile zu verschaffen, letztlich nicht nur vom Kapitalmarkt selbst, sondern auch juristisch belangt werden, weil ein ordentlich funktionierender Kapitalmarkt im Interesse unseres Wirtschaftsstandorts ist, meine Damen und Herren. ({0}) Vor dem Hintergrund war es richtig, im Jahr 2005 dieses Musterverfahren einzuführen. Die Anzahl der Anträge zeigt, dass es auch einen Bedarf daran gibt. Allein seit dem Jahr 2016 bis heute sind über 600 Anträge gestellt worden. Das zeigt, dass die Anleger den Wert dieses Verfahrens erkannt haben. Deswegen ist es richtig, dass wir heute die Befristung bis 2023 fortschreiben. Ich möchte Ihnen zurufen, Frau Kollegin Willkomm: 2012 war der Hintergrund der Befristung ein Wunsch des FDP-geführten Bundesjustizministeriums. ({1}) Sie können jetzt nicht so tun, als ob Sie als Fraktion mit diesem Gesetz nichts zu tun haben wollten. ({2}) Herr Kollege Brandner, Ihnen möchte ich zurufen: Sie haben davon gesprochen, dass es hier um Verbraucher geht. Sie verwechseln hier aber Musterfeststellungsklage und Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz. Das zeigt, dass Sie sich nie mit dieser Materie zugunsten der Menschen beschäftigt haben. Bei der Musterfeststellungsklage geht es um Verbraucher; hier geht es um Anleger. ({3}) Wer also so tut, als hätte er das alles im Blick, sollte sich zunächst einmal mit der Materie beschäftigen. ({4}) Auch wir wissen, dass dieses Gesetz nicht optimal ist. Die Verfahren dauern zu lange. Die Bestimmung des Musterklägers hängt zu lange an den Ausgangsgerichten. Es werden den jeweiligen Oberlandesgerichten auch zu viele Fragen vorgelegt. Deswegen muss eine Reform dieses Gesetzes auch diese Punkte im Auge behalten. Vor dem Hintergrund der Abwägung, ob wir jetzt sehenden Auges dieses Gesetz auslaufen lassen oder ob wir sagen: „Fassen wir doch alle diese Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes noch mal stärker ins Auge“, ist es doch angemessen, dass wir sagen: Heute setzen wir die Frist bis 2023 fort, ({5}) und wir nützen die Zeit bis dahin, um die Verfahren, die übrigens mittlerweile auch europarechtlich überprägt sind, ein Stück weit neu zu ordnen und noch effizienter zu machen. Vor dem Hintergrund möchte ich schon auch sagen, Frau Kollegin Rottmann, dass Ihre Bewertung, das sei alles vollkommen schlecht für den Wirtschaftsstandort Deutschland, nicht zutreffend ist. Das ist eine Fundamentalkritik, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Gerade die Musterfeststellungsklage hat doch gezeigt, dass von VW geschädigte Kunden zu ihrem Recht kommen können. ({6}) Was werden wir tun? Wir werden die Musterfeststellungsklage fortentwickeln, wir werden dieses Gesetz fortentwickeln. Vor dem Hintergrund wissen wir genau, dass sich sowohl die Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Anleger auf uns verlassen können, weil wir das bewährte Instrument des kollektiven Rechtsschutzes zugunsten der Kleinen fortentwickeln werden. Deswegen bitte ich Sie heute um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens seit Beginn der Coronapandemie blickt ganz Deutschland auf die Digitalisierung unserer Schulen. Als Koalition haben wir schon lange vor Corona die Wichtigkeit des Themas „digitale Bildung“ erkannt und deswegen auch im letzten Jahr den DigitalPakt Schule auf den Weg gebracht. Seit den Schulschließungen im Frühjahr haben wir entschlossen und zügig reagiert und weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht: 115 Millionen Euro aus dem DigitalPakt direkt im März als kurzfristige Soforthilfe für die Schulen, dann der Beschluss zum Sofortprogramm für mobile Endgeräte für Schülerinnen und Schüler in Höhe von 500 Millionen Euro. Zusätzlich werden wir als Bund auch die Administratoren entsprechend unterstützen und weitere 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen, wenn im Gegenzug die Länder die Lehrerfortbildung endlich voranbringen; denn viele Bundesländer sind dieser Aufgabe bisher noch nicht ausreichend nachgekommen. Es spricht leider Bände, dass wir dies von Bundesseite einfordern mussten. Aber wenn wir digitale Bildung zum Erfolg machen wollen, dann geht das nur, wenn wir die Lehrerinnen und Lehrer mitnehmen. Deswegen haben wir eine weitere halbe Milliarde Euro für die Ausstattung von Lehrkräften beschlossen ebenso wie für den Aufbau der bundesweiten Bildungsplattform und für die Einrichtung von Bildungskompetenzzentren. Auf die 5 Milliarden Euro, die wir bereits im DigitalPakt zur Verfügung gestellt hatten, haben wir seit Corona noch einmal 1,6 Milliarden Euro draufgelegt. Natürlich sind noch einige Details zu klären; das will ich an der Stelle gar nicht bestreiten. Aber ich glaube, man sieht: Wir haben von Bundesseite gehandelt. Wir haben zügig gehandelt. Wir sind auf einem guten Weg. Das darf man in einer solchen Debatte, glaube ich, auch einmal deutlich hervorheben. ({0}) Entschlossenheit haben wir gezeigt. Über 6,6 Milliarden Euro im DigitalPakt, das ist ein Wort, das ist ein deutliches Statement. Das zeigt momentan: Es fehlt nicht daran, dass Geld zur Verfügung gestellt wird. Es fehlt auch nicht an einem Konzept, einem Rahmen von Bundesseite; denn die Maßnahmen greifen ineinander. Wir sind dabei, die weiteren Hilfspakete in die Gesamtarchitektur des DigitalPakts einzufügen. Wir sehen ja, dass es schnell gehen kann. Am Beispiel „Endgeräte für Schüler“ sieht man, dass Bund und Länder hier schnell etwas auf den Weg gebracht haben, durch entsprechende Zusatzvereinbarung, und die Gelder schon fließen. Wir schaffen also einen guten Rahmen für die Umsetzung. Aber für die Umsetzung selber sind die Länder verantwortlich. Ich möchte an dieser Stelle eines noch einmal ganz deutlich unterstreichen: Einige haben es in den letzten Wochen kaum verpasst, das Stichwort „langsamer Mittelabfluss“ hier hervorzuheben. Ja, in einigen Ländern geht das leider sehr, sehr langsam. Aber deswegen den ganzen DigitalPakt schlechtzureden und, weil die Mittel nicht bei den Schulen ankommen, vor allem auf den Bund zu zeigen, das wird der Sache nicht gerecht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Es muss noch einmal klar festgehalten werden: Für die Umsetzung – ich sagte es bereits – sind und bleiben die Länder verantwortlich. ({2}) Hier gibt es erhebliche Unterschiede. In Sachsen zum Beispiel sind von den 250 Millionen Euro, die dem Land zustehen, zum 30. Juni bereits über 100 Millionen Euro genehmigt. Bei den genehmigten Mittel gibt es erhebliche Unterschiede, aber auch beim tatsächlichen Mittelabfluss gibt es erhebliche Unterschiede. Es gibt Länder, die ihre Hausaufgaben machen, und es gibt andere Länder – ich nenne einmal Berlin oder Thüringen –, in denen in der ersten Jahreshälfte nicht ein einziger Euro abgeflossen ist. ({3}) Das zeigt eben: Es funktioniert nur, wenn tatsächlich schnell die entsprechenden Strukturen in den Ländern geschaffen werden. ({4}) Zum Stichwort „Endgeräte für Schüler“; ich nannte es bereits. In meinem Heimatland, Baden-Württemberg, sind die Gelder für die Schülerendgeräte schon bei den Schulträgern angekommen. Die Länder waren und sind für die Förderrichtlinien verantwortlich. Sie sind jetzt, in der konkreten Umsetzung, verantwortlich für die Antragstellung und dafür, die Schulträger dabei zu unterstützen. Und sie sind natürlich auch dafür verantwortlich, dass das möglichst unbürokratisch geschieht. Ich glaube, was uns eint – das zeigen bei allen Unterschieden auch die Anträge –, ist: Wir wollen, dass das Ganze schnell geht. Aber dann bitte ich an der Stelle, auch einmal den richtigen Adressaten zu benennen. Das ist momentan eben nicht der Bund, das ist nicht das BMBF, sondern das sind die Bundesländer, und das ist im Zweifel dann auch die KMK. Statt ständig neue Forderungen und Maßnahmen zu diskutieren, gibt es drei Prioritäten. Sie heißen: Umsetzung, Umsetzung und noch einmal Umsetzung. Also schauen wir doch am besten, woran es zu Hause leider vielleicht oftmals hakt. Machen wir Druck, damit die Mittel auch tatsächlich abfließen. Von Bundesseite werden wir weiter auf einen guten Rahmen hinwirken. Sorgen wir auch gemeinsam dafür, dass die Bundesländer an einem Strang ziehen. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ronja Kemmer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Michael Espendiller. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Die Coronakrise hat alle Schüler, Lehrer und Eltern vor große Herausforderungen gestellt. Alle mussten ihren Alltag und ihr gewohntes Leben von jetzt auf gleich gründlich umkrempeln. Das war nicht leicht. Die Krise hat uns aber auch ganz entscheidende Lernerfolge beschert. Wer, wie zum Beispiel die Magentasozialisten von der FDP, die letzten Jahre im Digitalisierungsdelirium verbracht hat, musste feststellen, dass gute Bildung noch immer ganz wesentlich auf dem gemeinsamen Lernen im Klassenzimmer fußt. Das Stichwort heißt hier „Präsenzkultur“. Die Digitalisierungsromantiker aller Parteien haben erfahren, dass man Schüler nicht einfach vor Laptops setzen und das Beste hoffen kann. Keine Lernsoftware und kein Tablet können den Lehrer ersetzen. ({0}) Es ist mir wichtig, das hier zu sagen; denn wir führen heute wieder einmal eine Scheindebatte im Deutschen Bundestag. Der Schlüssel zu guter Bildung liegt im Personal. Was wir zuallererst brauchen, um unsere Schüler besser zu machen, sind mehr Lehrer. ({1}) Was wir brauchen, ist die Sanierung maroder Schulgebäude, kleine Klassen mit motivierten Lehrern. Und ja, WLAN wäre auch ganz nett. Zu den Lehrern – das ist mir jetzt wichtig, zu sagen –: Unsere Kinder sehen sie jeden Tag und werden durch sie motiviert, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. – Aber wie können wir von den Lehrern erwarten, dass sie jeden Tag ihr Bestes geben, wenn wir sie alle gleich behandeln, und zwar unabhängig von der individuellen Leistung? Ich werde immer wieder auf eine besondere Fehlkonstruktion in unserem Bildungssystem angesprochen: Lehrer, die sich besonders anstrengen und sich für ihre Schüler das Bein ausreißen, verdienen genauso viel wie Lehrer, die sich beispielsweise in der Coronakrise einen schlanken Fuß gemacht haben. Eltern und Schüler haben in der Krise Lehrer kennengelernt, die sich aus der Ferne vorbildlich um ihre Klassen gekümmert haben. Sie haben aber auch Lehrer kennengelernt, von denen sie wochenlang nichts mehr gehört haben. ({2}) Wir sind der Auffassung, dass die Zuständigen, die Länder, endlich einmal darüber sprechen sollten, wie man herausragendes Engagement im Lehrerberuf belohnen kann. ({3}) Nichts würde die Dynamik an unseren Schulen mehr befördern, als wenn das Leistungsprinzip auch bei den Lehrern gelten würde. Das ist aber, werte Kollegen, Sache der Länder. Deswegen führen wir hier eine Scheindebatte. Es wäre Sache der Länder, ihre Verantwortung endlich anzuerkennen und wahrzunehmen. Was erleben wir stattdessen? Die Länder stehlen sich – unter Verweis auf fehlende Gelder und unter Verweis auf den Bund – aus der Verantwortung, und das wird ihnen auch noch sehr leicht gemacht: Seit Jahren versuchen Bundespolitiker, sich am Grundgesetz vorbei in die Schulpolitik der Länder einzumischen. Man will mit Macht in die Klassenzimmer und zentral von Berlin aus steuern, was in den Köpfen unserer Kinder landet. ({4}) Genau dieser Bildungszentralismus ist missbrauchsanfällig ({5}) und wurde deswegen von den Vätern unseres Grundgesetzes strikt abgelehnt. ({6}) Doch das ist den Befürwortern von Vereinheitlichung und Gleichmacherei völlig egal, der Zweck heiligt die Mittel. Das Einfallstor ist, wie so oft, das liebe Geld, hier im Bereich der Digitalisierung, gerne gemischt mit Nachhaltigkeit; in den Anträgen der Grünen sieht man dann auch gleich den nächsten Angriff auf die Lehrpläne. Das Ergebnis dieses Gerangels: Die Länder kümmern sich nicht ordentlich um ihre Aufgaben. Der Bund kann es nicht, weil er es nicht soll und weil er nicht darf, aber die Bundesbildungspolitiker wollen das alles nicht akzeptieren und versuchen die Quadratur des Kreises. ({7}) Liebe Kollegen, unser Bildungsniveau wird schlechter, das Beherrschen der Grundkompetenzen – das Lesen, das Schreiben und das Rechnen – auch. Die Lehrer bleiben überlastet. Gerade nach den Erfahrungen der aktuellen Coronakrise kommen mir alle drei hier vorgelegten Anträge wie irre Botschaften aus einem Paralleluniversum vor. ({8}) Die Magentas und die ganz Linken und die von der Realität entkoppelten Grünen produzieren ganz viel Papier, aber keine Ergebnisse. Daran haben wir kein Interesse. Deswegen lehnen wir all Ihre Anträge ab. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Espendiller. – Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne wieder zum Kern der Debatte zurückkehren und nicht anfangen, hier irgendwelche Nebelkerzen in die Welt zu schießen. ({0}) Am Wochenende habe ich mit einer Lehrerin telefoniert, mit der ich zusammen studiert habe. Ich wollte mal hören, wie es bei ihr im Schuldienst gerade läuft. Sie meinte, so langsam sei wieder etwas wie Unterrichtsalltag eingekehrt, nur das digital unterstützte Lehren bereite ihr noch ein bisschen Bauchschmerzen; denn so richtig hat ihr das an ihrer Schule niemand erklärt. Sie selbst hat eigentlich auch keine Zeit dafür bzw., treffender gesagt, muss sich die Zeit dafür irgendwie aus den Rippen schneiden – neben Korrigieren, Unterrichtsvor- und ‑nachbereitung, Elternkommunikation. Eine Lösung braucht sie aber trotzdem; denn auch die Schülerin, die schweres Asthma hat, muss natürlich am Unterricht teilnehmen können – nicht vor Ort, sondern im Zweifelsfall digital ins Klassenzimmer zugeschaltet. Eine Lösung wird von dieser Kollegin übrigens auch erwartet, wenn ein Coronafall die gesamte Klasse in den Fernunterricht nach Hause verbannt. Also hat sie sich am Wochenende hingesetzt, sich privat Hilfe geholt und sich einmal alles, von der Videokonferenz bis hin zur Cloud, erklären lassen – natürlich auf eigene Kosten. ({1}) Natürlich ist das nur ein ganz kleiner, ein zufälliger Ausschnitt, der mir da zugetragen worden ist. Aber ich weiß von vielen anderen, dass es genau solche Beispiele hierzulande noch immer zu oft gibt, in jedem unserer Bundesländer. Deshalb müssen wir hier jetzt gemeinsam eines tun: weiterbilden, weiterbilden und nochmals weiterbilden! ({2}) In diesem Punkt stimmen heute übrigens alle Anträge überein. Wer sich im Umgang mit der neuen Lernsoftware fit machen will, der braucht eben passendes Weiterbildungsmaterial, passende Weiterbildungsmodule, die man sich dann heraussuchen kann. Und wer noch keine rechte Vorstellung davon hat, wie das eigentlich alles funktionieren kann, wer mit freien und offenen Bildungsmaterialien noch keinen Umgang gehabt hat, der muss eben auch dazulernen dürfen. ({3}) Funktionieren kann das aber alles nur, wenn wir gemeinsam eine neue Weiterbildungskultur schaffen. Weiterbildung darf nicht heißen, dass ich als Lehrerin meine Schulung erst einmal wochenlang bei meiner Schulleitung durchboxen muss oder am Ende sogar, völlig entnervt, davon ganz absehe. Davon, meine Damen und Herren, müssen wir endlich wegkommen. Weiterbildung muss fester Bestandteil eines jeden pädagogischen Konzepts an all unseren Schulen werden, von der Grundschule bis zur berufsbildenden Schule; sie muss ganz selbstverständlich sein. Deshalb haben wir klar gesagt: Wir wollen in Bildungstechnologen investieren, die an jeder Schule den Lehrkräften bei technischen sowie medienpädagogischen Fragen beratend zur Seite stehen. Dafür erwarten wir von unseren Ländern, dass sie ihrerseits das Weiterbildungsangebot gemeinsam mit den Schulträgern, den Lehrkräften, den Schulleitungen weiter voranbringen. Diesen Maßnahmen wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion übrigens noch einen zusätzlichen Schub geben. Deshalb fordern wir: Statten wir doch jede Lehrerin und jeden Lehrer in unserem Land mit einem Weiterbildungsbudget von 300 Euro aus, ({4}) damit die Kollegin das nicht mehr privat organisieren muss. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marja-Liisa Völlers. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katja Suding. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit der Coronapandemie sind die Schwächen unseres Bildungssystems erbarmungslos sichtbar geworden. Ein repräsentativer Ländervergleich des Technologieunternehmens Citrix zeigt die erschütternde Realität: Gerade einmal bei jedem zehnten Schüler lief der Wechsel zum digitalen Unterricht zu Hause reibungslos. – Die Hälfte aller Eltern sagt, dass die Schulen gar nicht auf den Fernunterricht vorbereitet gewesen seien. Die Zeit, in der sich die Kinder mit der Schule beschäftigen, habe sich während der Coronapandemie mehr als halbiert, sagt eine Elternumfrage des ifo-Instituts. Und bei der Frage, wie gut die Schulen auf erneute Schließungen vorbereitet sind, vergeben Eltern nur die Note „mangelhaft“, wie der Digitalverband Bitkom herausfand. Meine Damen und Herren, diese Zahlen zeigen, welche Schwächen unser Bildungssystem hat und wie mangelhaft es auf eine solche Pandemie vorbereitet war. ({0}) Die Leidtragenden sind unsere Kinder; ihnen wurde das Recht auf Bildung verwehrt. Diejenigen Kinder, die es schon vorher schwer hatten, trifft es besonders hart, und das ist wirklich ein unerträglicher Zustand, meine Damen und Herren. ({1}) Die politische Verantwortung für dieses Unterrichtsdesaster trägt auch die Bundesbildungsministerin; denn sie ist in der Krise einfach abgetaucht. ({2}) Ich bin froh, dass Sie wenigstens heute hier sind, Frau Ministerin. ({3}) Das Versagen ist so groß, dass offenbar nicht einmal die Kanzlerin der Ministerin zutraut, ihren Job zu machen. Kurzerhand hat sie nämlich Frau Karliczek beim informellen Schulgipfel im Kanzleramt zum Zaungast degradiert. ({4}) Doch selbst dieser Fingerzeig der Regierungschefin reichte nicht aus, die Ministerin endlich aufzuwecken, und das in einer Zeit, in der beherztes Handeln dringender denn je notwendig ist und in der Nichtstun Verrat an der jungen Generation ist. ({5}) Da ist es nicht getan mit ein paar zusätzlichen Förderprogrammen, ({6}) deren Mittel viel zu spät in den Schulen ankommen. Wohlklingende Sofortprogramme anzukündigen, deren Gelder die Schulen frühestens im nächsten Jahr erreichen, das bringt überhaupt nichts, liebe Frau Karliczek. ({7}) Gleichzeitig liegen die Milliarden aus dem DigitalPakt Schule noch immer fast unberührt auf dem Konto des Ministeriums. Dass die Ministerin hier nicht schon längst aktiv geworden ist und die Antragstellung deutlich entschlackt hat, das grenzt wirklich an Arbeitsverweigerung. ({8}) Wir müssen digitale Bildung endlich als Gesamtkonzept denken. Mehr denn je müssen wir einen Digitalpakt 2.0 auf den Weg bringen, und zwar jetzt und ohne Zeitverzug, meine Damen und Herren. ({9}) Wie Hardware nicht ohne Software funktioniert, so funktioniert digitale Bildung nicht ohne entsprechende pädagogisch wertvolle Inhalte. Deshalb brauchen Schulen jetzt eigene Mittel, um Lizenzen für Schul- und Lernsoftware einzukaufen. ({10}) Sie brauchen klare Handreichungen zur Umsetzung der europäischen Datenschutz-Grundverordnung im Schulalltag. Die Lehrkräfte brauchen nicht nur Zugang zu Fort- und Weiterbildung, sondern dauerhafte Unterstützung durch EdTech-Coaches, die die Brücke zwischen dem technisch Möglichen und dem pädagogisch Sinnvollen bauen. ({11}) Digitale Bildung ist viel mehr als Technik; das haben wir schon vor einem Jahr sehr deutlich gemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, die Kleckerburgen, die Frau Karliczek baut, werden den nächsten Sturm nicht überleben. Sorgen Sie stattdessen heute endlich für echte Verbesserungen der digitalen Lernmöglichkeiten, und stimmen Sie unserem Antrag zu! ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Suding. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Der DigitalPakt Schule steht symbolisch für mindestens drei Bildungsbremsen in unserem Land. Zum Ersten. Wir sind in Sachen „Bildung in digitaler Gesellschaft“ Entwicklungsland. Nahezu wöchentlich bekommen wir Studien geliefert, die bestätigen, dass die Ausstattung mit Geräten immer noch eher eine Katastrophe ist, genauso wie der Zugang zu leistungsfähigem Internet. Zeigen Sie uns doch einmal die Karten: Wie viele Schulen sind es denn, die noch immer mit der Versorgung von unter 1 MB pro Sekunde pro Schüler leben müssen? – Was lernen wir daraus? Der Bildungsföderalismus – genau das ist das Problem – ist so, wie er jetzt ist, eine Bildungsbremse. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Schraps hat den Hut verloren“, immer ist der andere schuld. Das können Sie gar keinem in diesem Lande mehr zumuten. ({1}) Was wir stattdessen brauchen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz. Das heißt: gemeinsam verantworten, gemeinsam gestalten und gemeinsam finanzieren. ({2}) Der Bund muss sich dauerhaft an der Finanzierung beteiligen. Hier nützt uns kein Sonderprogramm. Zum Zweiten. Auch oder vielleicht auch gerade in einer digitalen Gesellschaft gilt: Es geht immer noch um Bildung! Bildung in digitaler Gesellschaft ist natürlich in erster Linie eine pädagogische Frage. Selbstverständlich brauchen wir dafür mehr und qualifizierte Lehrer. Das stellt hier aber auch niemand, gar niemand infrage, meine Damen und Herren. ({3}) Bildung hat viel mit Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu tun. Das ist gewissermaßen ein Kern von Bildung. Deshalb brauchen wir Standards offener freier Bildung. Was ist uns wichtig? Wir brauchen Barrierefreiheit. Geschlechterklischees müssen abgebaut werden. Wir brauchen quellcodeoffene digitale Bildungsmaterialien, also Open Educational Resources, frei zugänglich für Lehrende und für Lernende. Wir brauchen eine neue Lernkultur, eine Kultur des Tauschens und des Teilens statt der Abhängigkeit von Lizenzen. ({4}) Meine Damen und Herren, was ist mit der angekündigten Strategie zu Open Educational Resources? Wir warten, wir warten, wir warten. Was ist wichtig? Lehrerinnen und Lehrer müssen Zeit und Möglichkeiten haben, freie Lernmaterialien zu entwickeln, zu verändern und weiterzugeben. Es braucht Öffentlichkeitsarbeit, und es braucht den politischen Willen dafür. ({5}) Zum Dritten. Die Coronakrise hat in der Tat einmal mehr gezeigt: Das Bildungssystem in Deutschland zementiert soziale Ungleichheit. Auch durch digitales Lernen muss diese soziale Ungleichheit abgebaut werden. Die einkommensschwächsten Haushalte sind momentan, wie der Nationale Bildungsbericht besagt, nur zu 80 Prozent ans Internet angeschlossen, und damit meine ich noch nicht einmal leistungsfähiges Internet. Das muss man verändern. Das heißt ganz konkret: Jeder Schüler, jede Schülerin braucht ein digitales Endgerät, einen Zugang zu leistungsfähigem Internet – und auch das nicht als Sonderprogramm. Meine Damen und Herren, stellen Sie im SGB II, wo es um das Bildungs- und Teilhabepaket geht, klar: Eine angemessene digitale Grundsicherung muss für jeden finanziert werden. Kommen Sie aus der Hüfte! Sie müssen das endlich tun! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Birke Bull-Bischoff. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Margit Stumpp. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Setzen, fünf!“, so titelte ein angesehenes Wirtschaftsblatt zu Beginn der Woche im Hinblick auf die Digitalisierung der deutschen Schulen. Hintergrund war die schon genannte Studie. 10 Prozent der deutschen Schulen sind zu Beginn der Pandemie und während der Pandemie nur annähernd gut damit zurechtgekommen, ihren Unterricht von analog auf digital umzustellen. Eine parallele Studie, ein Vergleich unter sechs Ländern, ergab: Deutschland liegt bei der Digitalisierung der Schulen auf dem letzten Platz. Nun, diese Erkenntnis ist nicht neu. Wir haben viele Untersuchungen dazu; aber es ändert sich nichts, und zwar seit Jahren. Das ist der eigentliche Skandal. ({0}) Der Sommer ist vorbei, die ersten Länder gehen auf die Herbstferien zu, und immer noch sind die wenigsten Schulen in der Lage, ihre Schülerinnen und Schüler digital zu erreichen, geschweige denn, virtuell zu unterrichten. Und was ist passiert? Wochenlang hat man sich während der Pandemie auf dem trägen DigitalPakt ausgeruht. Nach monatelangem Druck hat man ein millionenschweres Paket für die Anschaffung von Schülerendgeräten aufgelegt. Dabei hätte man das Ganze vom Anfang her denken müssen. Was nützen Endgeräte, wenn eine Schule weder einen Breitbandanschluss noch geeignete Hard- oder Software zur Verfügung hat? ({1}) Was passiert jetzt? Nun beruft die Kanzlerin zum zweiten Mal einen Bildungsgipfel ein; das wurde erwähnt. Auch Frau Bär hat Bildung inzwischen für sich entdeckt und tagt in großer Runde. Hätten Sie nur, als Sie zuständige Staatssekretärin waren, dafür gesorgt, dass jede Schule einen Glasfaseranschluss hat, dann wären wir jetzt ein gutes Stück weiter. ({2}) Und was macht die Bildungsministerin? Wo ist sie? ({3}) – Schön, dass Sie da sind! ({4}) Frau Karliczek, Sie beschränken sich darauf, Koalitionsbeschlüsse zu verkünden. Wie armselig ist das denn! Dabei haben außer den Ewiggestrigen alle begriffen: Jede Schule braucht eine digitale Grundausstattung. Was heißt das? Zum einen braucht jede Schule eine technische Grundausstattung, das heißt: Breitbandanschluss, Hardware, Software und vor allem technischen Support. Jede Schule braucht zum anderen organisatorisch eine Basis, das heißt: Mailadressen für alle Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler, Zugang zu einer Lernplattform und eine Bildungs-Cloud. ({5}) Lehrkräfte brauchen Fortbildungen, anstatt sich mit einem Medienentwicklungsplan herumschlagen zu müssen, der für die digitale Grundausstattung völlig überflüssig ist. ({6}) Außerdem brauchen alle Beteiligten Begleitung. Eine Bundeszentrale für digitale und Medienbildung, deren Einrichtung wir am Anfang des Jahres bereits vorgeschlagen hatten, könnte einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Frau Bär, Sie haben unser Konzept abgeschrieben. Wenn das der Sache dient, soll es uns recht sein, aber wenn Sie schon abschreiben, dann machen Sie es doch bitte richtig. Ihre abgespeckte Version einer Bundeszentrale für digitale Aufklärung greift an dieser Stelle viel zu kurz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich fasse zusammen: Wer den Schulen wirklich helfen will, der muss denjenigen helfen, die es am nötigsten haben, den Schulen, die noch ganz am Anfang stehen. Frau Karliczek, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie kommen jetzt bitte zum Schluss!

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– erfüllen Sie Ihren Auftrag auch angesichts der steigenden Infektionszahlen, und sichern Sie unseren Kindern ihr Recht auf Bildung! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Stumpp. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Dietlind Tiemann. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin Karliczek! Ich denke, an manchen Stellen der Ausführungen heute fiel es einem schwer, noch zu wissen, worum es eigentlich geht. Es geht um eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Das zeigt ganz deutlich, dass wir uns mit den Themen, um die es hier heute geht, schon sehr intensiv und sehr vielfältig beschäftigt haben. Liest man jedoch die drei Anträge der Opposition, so stellt man fest, dass sie durchweg mehr Einsatz des Bundes beim Thema „Digitalisierung in der Bildung“ fordert; das war heute unschwer zu hören. Dabei zieht sich ein Punkt durch alle Anträge, nämlich die Feststellung, dass es in der Bildungspolitik zwischen Bund und Ländern nur zäh vorangeht. Den Reden vieler, die heute hier gesprochen haben, kann man entnehmen – der meiner Kollegin natürlich nicht –, dass sie immer versuchen, den Bund in die Verantwortung zu schieben, nach dem Motto: Der Bund muss. Ich gebe Ihnen recht: Einige Bildungspolitiker auf Bundesebene sind sich anscheinend einig, dass die Leidtragenden im Ringen die Schülerinnen und Schüler, die Lehrer und zum Teil auch die Eltern sind. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen, wenn etwas, das wir geplant, beschlossen und auf den Weg gebracht haben, nicht umgesetzt wird. Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, ist, der Regierungskoalition Untätigkeit vorzuwerfen. Wir haben das Heiligste, das wir haben, das Grundgesetz, geändert. Wir als Regierung haben den DigitalPakt Schule mit 5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Was haben wir eigentlich alles schon? Wir haben die Qualitätsoffensive Lehrerbildung, wir haben die Förderrichtlinien „Digitale Medien in der Bildung“ und „MINT-Cluster vor Ort“ und auch das Programm „Kultur macht stark“ zur Finanzierung wichtiger außerschulischer Aktivitäten. Es ist ein abgerundetes Paket. ({0}) Das Geld ist also da. Wir haben – auch dafür möchte ich an dieser Stelle eine Lanze brechen – mit den viel kritisierten Förderrichtlinien des DigitalPakts Schule aus Sicht des Bundes auch Verantwortung für eine zielorientierte Verwendung der Mittel übernommen, indem wir gesagt haben: Medienentwicklungspläne der Schulen sind die richtige und wichtige Voraussetzung zur Bewilligung der Gelder. Dadurch wird sichergestellt, dass das Geld auch richtig eingesetzt wird. Für falsch halte ich aber, dass es Kultusministerien gibt, die die Schulen und Schulträger bei der Erstellung dieser Pläne ziemlich allein lassen. ({1}) Das fördert die Verunsicherung in den Schulen. Das verzögert die Antragstellung bei den Schulträgern und sorgt auch dafür, dass der Mittelabfluss den Stand hat, den wir heute haben: sehr differenziert. Dabei müssten es die Kultusministerien besser wissen. Seit Dezember 2016 liegt die Strategie zur „Bildung in der digitalen Welt“ vor, also wirklich schon eine ganze Zeit. ({2}) Alle Themen der heutigen Anträge sind dort auch schon genannt – das sieht man, wenn man es aufmerksam liest –, sei es Weiterbildung der Lehrer, Bildungsmedien, Infrastruktur oder Schulverwaltungsprogramme. Passiert ist in den Ländern seitdem relativ wenig. Da sind wir uns hier heute relativ einig. Auch im Jahr 2020 – das ist häufig angeklungen; man sollte die Größenordnung wirklich noch einmal hervorheben – war es die Regierungskoalition im Bund, die schon im April ein weiteres 500-Millionen-Euro-Programm zur Sofortausstattung beschlossen hat, 500 Millionen Euro aus dem EU-Fonds, um Lehrer mit Endgeräten auszustatten und eine bundesweite Bildungsplattform einzuführen. Das ist der finanzielle Teil. Der organisatorische fand diese Woche im Futurium statt. Unsere Staatsministerin hat sicherlich ein Stück weit recht, wenn sie sagt: Bildungsföderalismus ist für die Digitalisierung sicherlich nicht besonders förderlich, manchmal sogar hemmend, aber der Föderalismus ist das Wichtigste, was wir haben. – Es ist daher richtig, das intensive Gespräch zu suchen und zu überlegen, welche Ideen und Anstöße man geben kann, um auf dem Gebiet der Umsetzung weiterzukommen. Es zeigt sich: Der Bund signalisiert auch weiterhin Unterstützung und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Wir gehen sogar so weit und bewegen uns auf die KMK und die Länder zu. Aber – das ist mein Eindruck – man kann den Hund nicht zum Jagen tragen. Die eigenen Aufgaben in der Bildungspolitik muss der Bund klar wahrnehmen. Das machen wir. Bei Gemeinschaftsaufgaben sind wir bereit, unseren Anteil zu leisten. Für Bildungspakete aller Art werden wir auch in Zukunft gesprächsbereit sein; das haben wir signalisiert. Aber die Umsetzung muss in und vor allem durch die Länder geschehen. ({3}) Genau deshalb hilft es nicht – das ist die Kernforderung der Anträge –, einfach mehr Geld für verschiedene Programme einzustellen. Darum kann ich der Beschlussempfehlung nur folgen – darum bitte ich auch Sie – und den zur Abstimmung stehenden Anträgen leider nicht zustimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Tiemann. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist für die SPD-Fraktion Dr. Ernst Dieter Rossmann. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie, dass ich Sie zum Schluss noch auf ein Problem in diesem Kontext hinweise. Nach dem Grundgesetz haben wir als Bund die Aufgabe, initiativ und stimulierend in Bezug auf Bildungsinnovation zu wirken. Wir haben gleichzeitig die Aufgabe, sozialen Ausgleich und Zugang zu Bildungschancen für alle zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es ein Problem, so gut wir es mit dem ersten DigitalPakt und mit dem anhängenden Sofortprogramm auch gemeint haben. Die Art der Umsetzung ist in Bezug auf den DigitalPakt vielleicht noch möglich. Sie erfolgt nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, bei dem Steueranteile und Einwohnerzahl betrachtet werden. Aber wenn man das Sofortprogramm nach dem gleichen Schlüssel administriert, hat dies eine gravierende soziale Ungleichheit zur Folge. Machen Sie sich das klar! ({0}) Sie haben angesprochen, dass es Bundesländer gibt – ich will sie gar nicht nennen, weil Sie sie alle kennen –, in denen der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften bei 27 Prozent und über 30 Prozent liegt. In anderen Bundesländern sind es 6,2 Prozent, 8,1 Prozent. Aber die Verteilung dieser Sofortprogrammmittel geht nach dem gleichen Leisten über alle Bundesländer. Dies hat zum Ergebnis, dass es Bundesländer gibt, in denen es keine soziale und Kinderarmut in diesem Sinne gibt. Diese Bundesländer können ihre betroffenen Bedarfsgemeinschaften mit dem Doppelten an Geld in Bezug auf das ausstatten, was für Kinder und Jugendliche zur Verfügung steht. Andere können nicht einmal alle mit dem Geld, das wir bereitgestellt haben, erreichen. Das geht nicht. ({1}) Das ist Ignoranz gegenüber dem, was eigentlich gefordert war, als im April Frau Esken zusammen mit anderen gesagt hat: Wir wollen die 2,2 Millionen Kinder, die im Sozialbezug sind – Arbeitslosengeld, Wohngeld, Aufstockungsbezug –, in den Blick nehmen, weil wir das in Bezug auf den DigitalPakt und in Bezug auf das Sofortprogramm verschlafen haben. – Wir haben dies vollkommen aus dem Blick verloren. Wir können sie in den Blick zurückholen, indem wir vielleicht noch einmal über das Bildungs- und Teilhaberecht nachdenken. ({2}) Es gibt ja einen Rechtsanspruch darauf, dass Kinder und Jugendliche auskömmlich in ihren Bildungschancen gefördert werden. Ich werbe dafür, dass wir bei einem nächsten Paket, einem DigitalPakt II oder einem weiteren Sofortprogramm, endlich ernsthaft darüber debattieren; denn wir haben doch ein Interesse daran, dass alle gleich gefördert werden. ({3}) Wir weisen auch darauf hin, dass nicht nur bei Kindern und Jugendlichen die Armut unterschiedlich verteilt ist. Es gibt auch reiche und arme Kommunen. Wir haben hier einmal ein Programm gehabt – Sie erinnern sich daran –, bei dem Investitionen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro für finanzschwache Kommunen vorgesehen waren. Das haben wir jetzt auch eliminiert. Es gibt mittlerweile – das ist gut – in Bezug auf das Grundgesetz die Möglichkeit, Bildungsinfrastruktur in allen Kommunen zu fördern. Aber gerade wenn es um das geht, Frau Stumpp, was Sie angesprochen haben, nämlich darum, die Finanzschwächeren auf das gleiche Niveau zu heben, müssen wir vielleicht auch eine Finanzdifferenzierung in Bezug auf die Fördermittel in einem zukünftigen Investitionsprogramm, die wir ausbringen wollen, mitdenken. Das sind wir dem Anspruch schuldig, soziale Gerechtigkeit und gleichen Zugang für alle zu schaffen. ({4}) Ich wollte Ihnen das gerne zum Schluss antragen. Dies ist eine Gemeinschaftsaufgabe für alle, die in diesem Land – in Bund, Ländern und Kommunen – Verantwortung tragen. Danke. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ernst Dieter Rossmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Marco Wanderwitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003655

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ihnen den – dieses Mal relativ dick ausgefallenen – Jubiläumsjahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit mitgebracht. Sie als Deutscher Bundestag haben ja beauftragt, dass wir ihn regelmäßig vorlegen, was gut so ist. ({0}) Der Bericht ist vor allen Dingen ein Beleg für das, was wir gemeinsam in unserem Land nach drei Jahrzehnten intensiver Arbeit erreicht haben. Er dokumentiert eines, nämlich dass aus dem wiedervereinigten Deutschland inzwischen eine gut funktionierende, vielfältige und – das sehen wir jetzt auch während der Coronapandemie – krisenfeste Einheit geworden ist. Ich finde, darauf können und sollten wir alle miteinander stolz sein in diesem Land; ({1}) vor allen Dingen, wenn wir bedenken, wie 1990 die Ausgangsvoraussetzungen gewesen sind. Da sah nämlich nach 40 Jahren Teilung, nach 40 Jahren Sozialismus in der ehemaligen DDR vieles gar nicht gut aus. Erinnern wir uns noch mal an den Zustand von 1989. Ich habe den Jahresbericht auch deswegen mitgebracht, weil er auf dem Titel ein Haus in Görlitz zeigt, einer Stadt, die mittlerweile wieder wunderschön ist, die aber 1989 – wie die meisten Innenstädte, wie die meiste historische Bausubstanz, wie die Umwelt, wie die meiste Infrastruktur in der ehemaligen DDR – in einem bemitleidenswerten Zustand war. Farbe gab es nicht; alles war grau, alles war kaputt. Deswegen war die Freiheitsbewegung in der ehemaligen DDR beispielsweise auch von dem Thema „Raubbau an der Umwelt“ sehr getragen ({2}) und eben nicht nur von den Themen „Reisefreiheit“, „eingesperrt sein“, „sich betätigen können“, „freie Wahlen“. ({3}) Es war vor allen Dingen auch das Thema Umwelt. Das wird klar, wenn wir uns zurückerinnern, wie kaputt der Teil Deutschland damals war. Durch große Solidarität und großen Einsatz der Beteiligten haben wir in den letzten 30 Jahren unheimlich viel erreicht, und zwar so, dass Deutschland in allen Teilen davon profitiert hat. Deutschland als Ganzes ist Gewinner dieser Wiedervereinigung, dieses großen historischen Glücks, das wir 1989/1990 erlebt haben und an das ich mich für meinen Teil gern erinnere. Ich würde mir wünschen, dass wir uns in diesem Jubiläumsjahr mit Blick auf den 3. Oktober – bei allen Schwierigkeiten, dass wir nicht so groß miteinander feiern können, wie wir uns das gewünscht haben – dieses historischen Glückes wieder ein Stück bewusster werden. ({4}) Die Wirtschaftskraft hat sich in den neuen Ländern seit der Wiedervereinigung substanziell gesteigert. Die neuen Länder haben mittlerweile die strukturschwächeren Regionen in den alten Ländern eingeholt. Beim verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte beispielsweise haben mein Heimatbundesland Sachsen und Brandenburg zum Saarland aufgeschlossen. Wenn man die strukturschwächeren Regionen mit ähnlicher Einwohnerstruktur, Siedlungsstruktur und Demografie in den neuen und in den alten Ländern miteinander vergleicht, erkennt man, dass sie heute beispielsweise hinsichtlich Produktivität und des Niveaus der Gehälter mit denselben Problemen wie Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen oder Sachsen kämpfen. Ja, wir sehen zunehmend ein Strukturschwach-Strukturstark-, Stadt-Land-Problem in unserem Land, und nicht mehr vorrangig ein Ost-West-Thema. Auch bei der Binnenwanderung ist die Trendwende längst vollzogen. Erinnern wir uns an die großen Wanderungsverluste vor 1989, an die großen Wanderungsverluste in den schweren 1990er- und frühen 2000er-Jahren; der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit war ja im Jahr 2005 mit 18,6 Prozent. Mittlerweile ist die Wanderungsbewegung seit mehreren Jahren leicht positiv für die neuen Länder; aber die Wanderungsprobleme wirken nach. Deswegen müssen wir auch das Thema „Zuwanderung in den neuen Ländern“ sehr intensiv diskutieren, wenn wir eine gute Zukunft haben wollen. ({5}) Schließlich stehen die neuen Länder aber auch im europäischen Vergleich gut da; ich finde, auch den sollte man ziehen. Wir verfügen mittlerweile in den neuen Ländern über eine Wirtschaftskraft, die beispielsweise mit vielen französischen, italienischen oder spanischen Regionen vergleichbar ist und die deutlich höher als etwa in unserem größten Nachbarland im Osten, in Polen, liegt. Vieles ist eine Frage der Vergleichsperspektive. Ich werbe an dieser Stelle für eine umfassende Vergleichsperspektive und nicht nur den Blick auf die stärksten Regionen innerhalb Deutschlands. Es ist natürlich gleichwohl nicht alles golden in den neuen Ländern. In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Aufgaben und Risiken. Es gibt eine Fülle von neuen Strukturwandeln. Einer dieser Strukturwandel betrifft die neuen Bundesländer in besonderem Maße, weil er vor allen Dingen dort stattfindet, nämlich der Strukturwandel bei der Braunkohle in der Lausitz, im Mitteldeutschen Revier, aber eben auch im Rheinischen Revier, in Nordrhein-Westfalen. Ich finde es gut, dass wir all diesen Herausforderungen mit einem gesamtdeutschen Fördersystem künftig begegnen und dass wir im Jahr 30 der Wiedervereinigung nicht mehr nach Himmelsrichtungen fördern, sondern allein nach Notwendigkeit. In der Tat ist es so, dass in weiten Teilen der neuen Länder die Notwendigkeit immer noch gegeben ist, aber eben auch in Teilen der alten Länder, beispielsweise im Ruhrgebiet oder in anderen strukturschwächeren Regionen. Deswegen ist dieses gesamtdeutsche Fördersystem richtig und gut. Ich will in Anbetracht der Zeit zumindest noch die Notwendigkeit der weiteren Aufarbeitung des SED-Unrechts ansprechen. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir jetzt auf der Zielgeraden sind, das Stasiunterlagenarchiv ins Bundesarchiv zu überführen, aber mit Sonderregeln dieser Akten: unter Beibehaltung der Archivstandorte in der Fläche, unter Beibehaltung des Auftrags der politischen Bildung und auch unter Beibehaltung der Forschung. Einen Satz muss ich dir noch abknöpfen von der Zeit, lieber Mark; ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Zeit liegen zu lassen. – Gut eingeleitet, Frau Präsidentin, oder? – Ich will zumindest noch mit einem Satz ansprechen, dass ich ein bisschen traurig bin, dass das von mir vorgesehene neue Dialogformat in den neuen Bundesländern coronabedingt noch nicht so anlaufen konnte, wie ich mir das gewünscht hätte. Es ist fertig, liegt in der Schublade. Sobald es geht, werden wir es anlaufen lassen. Ich freue mich hier über ganz viel Unterstützung und Zuspruch von Kolleginnen und Kollegen aus den Bundesländern, aus den Landtagen, aus der Kommunalpolitik. Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass wir gemeinsam miteinander im Gespräch bleiben und noch ein bisschen mehr reden; denn wir verstehen uns noch nicht so, wie ich mir das wünschen würde. Reden hilft, und deswegen sollten wir das tun. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Marco Wanderwitz. Viel liegen gelassen haben Sie nicht. Sie haben ihm eine Minute Redezeit weggenommen; aber das versteht er. Gut. ({0}) Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Tino Chrupalla. ({1})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Liebe Landsleute! 30 Jahre deutsche Einheit – seit die Friedliche Revolution die Mauer überwand, ist viel Zeit ins Land gegangen. Damals lebte ich bei meinen Eltern im sächsischen Weißwasser. Weißwasser hatte damals 40 000 Einwohner, heute sind es noch 15 000 Einwohner. Es gab eine große Glasindustrie, die ist komplett weggebrochen, Tausende wurden arbeitslos. Die Menschen sind weggezogen, vor allem die jungen. Die Einheit, das kann und darf ich als Ostdeutscher so sagen, hat meine Heimat verändert, wie sehr, das haben wir uns alle damals vielleicht gar nicht vorstellen können. Wir haben uns nach nichts mehr gesehnt als nach der Freiheit, und wir haben sie auch bekommen, auch materiell ist vieles besser geworden, Häuser und Straßen wurden saniert. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Viele haben wie ich die Chance ergriffen, die uns die Freiheit bot. Wir haben Betriebe, kleine Unternehmen aufgebaut. Was mir möglich war, davon konnte mein Vater nur träumen. Aber es gab leider auch Enttäuschungen. Biografien zerbrachen, Existenzen wurden zerstört; fast jede Familie hat so etwas erlebt. Solche Erfahrungen prägen nicht nur diejenigen, die sie persönlich durchmachen, so etwas wird weitergegeben, an Kinder, an Enkel. Solche Erfahrungen vererben sich sozusagen. Sie werden zum Erfahrungsschatz einer ganzen Gesellschaft; sie werden Teil ihrer kollektiven Erinnerung. ({0}) Meine Damen und Herren, das heißt, auch die Erfahrung des Verlustes der eigenen bürgerlichen Existenz ist für uns Ostdeutsche untrennbar mit dem großen Glück der Wiedervereinigung verbunden. Herr Kollege Wanderwitz von der CDU, in Ihrem Bericht zum Stand der Einheit lese ich – ich zitiere; Sie haben schon einiges gesagt –: Die durchschnittliche Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer erreichte gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner/-in 2019 ein Niveau von knapp 73 Prozent … des gesamtdeutschen Durchschnitts. So etwas verkaufen Sie als Erfolg, Herr Kollege. Also, das muss ich wirklich sagen: Im Klartext bedeutet Ihre Feststellung: Nach 30 Jahren Einheit liegt der Wohlstand in vielen ostdeutschen Regionen noch immer weit unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt. ({1}) Ich frage Sie: Wie viel Zeit muss denn noch ins Land gehen, damit wir im Osten endlich gleichwertige Lebensverhältnisse haben, die uns das Grundgesetz auch garantiert? Ich zitiere weiter aus Ihrem Bericht: Die verfügbaren Haushaltseinkommen der Einwohnerinnen und Einwohner haben in einzelnen neuen Ländern (Brandenburg, Sachsen) bereits zum Niveau des einkommensschwächsten westlichen Landes (Saarland) aufgeschlossen. Und das nach 30 Jahren. Liebe Kollegen, die hier in diesem Parlament schon seit sehr vielen Jahren sitzen, Sie sollten wirklich einmal hinterfragen, was hier schiefgelaufen ist. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich die letzten 30 Jahre in dieser Richtung getan, und warum haben Sie nichts geändert? ({2}) Stattdessen jammern Sie über die Unzufriedenheit der Ostdeutschen und darüber, dass die Menschen dort AfD wählen. Ich sage Ihnen, warum die Menschen dort AfD wählen: weil wir die Probleme benennen und auch beseitigen wollen. Was tun Sie? Statt die wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzupacken, unterstellen Sie den Ostdeutschen einen Hang zum Rechtsextremismus – was sonst? Liebe CDU, SPD und FDP, erst haben Sie den Menschen mit der Treuhand das gesamte Volksvermögen genommen, und nun diffamieren Sie sie. ({3}) In Wirklichkeit ist es doch so: Die AfD ist die erste gesamtdeutsche Partei. Wir haben uns viele Jahre nach der Einheit gegründet und können als einzige Partei die Entwicklung der deutschen Einheit objektiv betrachten. ({4}) Nach 30 Jahren deutsche Einheit möchte ich Ihnen zurufen: Wäre es nicht an der Zeit, die eigenen Fehler einmal einzugestehen? Wäre es nicht an der Zeit für etwas mehr Toleranz gegenüber Lebensentwürfen und Haltungen, die sich schon aufgrund der unterschiedlichen Geschichtsverläufe und der daraus resultierenden menschlichen Prägungen ergeben haben? ({5}) Meine Damen und Herren, werte Bundesregierung, es wäre ein Anfang, wenn Sie endlich aufhörten, immer noch von den „neuen“ Bundesländern zu reden – nach 30 Jahren, ich bitte Sie! Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tino Chrupalla. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion, Frank Junge. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen begehen wir den Feiertag anlässlich des 30. Jahrestags der deutschen Einheit, und für mich und meine Fraktion ist das ein wunderbarer Grund zum Feiern. ({0}) Heute, nach 30 Jahren in einem geeinten Deutschland, belegt der aktuelle Bericht zweifelsfrei, dass bei der Angleichung der Lebensverhältnisse der Osten an den Westen aufgeschlossen hat und an vielen Stellen gleiche Verhältnisse geschaffen worden sind. Das ist eine Tatsache, die zweifelsfrei belegbar ist und die man zur Kenntnis nehmen muss, wenn man mit offenen Augen durch diese Welt geht. Alles andere, alles, was dazu führt, dieses Erreichte schlechtzureden oder in Grund und Boden zu stampfen, kann nur politisch motiviert sein. ({1}) Das Pro-Kopf-Einkommen – darauf hat Herr Wanderwitz hingewiesen – und die Wirtschaftskraft haben sich im Osten seit der Wende verdoppelt, und unmittelbar vor Corona hatten wir den höchsten Beschäftigungsstand im Osten, den es jemals gab. Mir zeigt das, Herr Chrupalla, dass unsere wirtschaftliche Strukturpolitik sehr gut funktioniert und dass Kulissen wie zum Beispiel die GRW unverzichtbar für die Wirtschaftsförderung im Osten waren und sind. Eine Bemerkung noch: An dieser Aufholjagd haben Sie mit verantwortlicher politischer Handlung keine Aktie, Sie haben keinen Deut dafür getan; das muss man hier auch noch einmal feststellen. ({2}) Es gibt aber auch Defizite und Herausforderungen. Ich möchte drei Punkte berühren: Erstens – auf diesen Punkt, Herr Wanderwitz, kamen Sie auch schon zu sprechen –: Wir haben ein gesamtdeutsches Fördersystem – das ist gut so –, das nicht mehr nach Himmelsrichtungen, sondern auf Bedürftigkeit für Förderung ausgerichtet ist. Dieser Aspekt darf allerdings nicht dazu führen, dass der Empfängerkreis größer wird, das finanzielle Volumen aber nicht. Ich sage das vor allen Dingen deshalb, weil aus diesem gesamtdeutschen Fördersystem die Wirtschaftsförderung für die neuen Länder natürlich fortgeführt werden muss; hier brauchen wir zukünftig auch noch mehr Unterstützung. Zweitens. Wir müssen die Verfahrensweise der Exzellenzförderung für unsere deutschen Hochschulen ändern. Universitäten und Hochschulen in den alten Bundesländern sind in Bezug auf starke Forschungsnetzwerke denen in den neuen Ländern um Jahrzehnte voraus; das hat schwer beeinflussbare strukturelle Gründe. Die Folge davon ist, dass es die ostdeutschen Standorte schwer haben, in einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit den westdeutschen Standorten zu treten, und das vor allen Dingen dann, wenn es um erhebliche Mittel des Bundes für ihre Arbeit geht. Damit können die so dringend benötigten wertvollen Synergien und Impulse für die Wirtschaft im Umfeld ostdeutscher Unis gar nicht erst entstehen. Darum müssen wir hier tätig werden und die Länder im Bereich Forschung und Innovation stärker unterstützen. Drittens. Die neuen Bundesländer stehen in besonderer Weise vor einem eklatanten Fachkräftemangel. Infolge des rigorosen Strukturbruchs, der den gesamten Osten nach der Wende erschüttert hat, hat eine ganze Generation Ostdeutschland verlassen. Ein Rückzug bzw. ein Zuzug von Fachkräften in den Osten ist aber überhaupt nur dann denkbar, wenn nicht nur die Lebens-, sondern auch die Arbeitsbedingungen stimmen. Das geht vor allen Dingen auf Grundlage von guten Löhnen, die endlich Westniveau erreichen müssen, ({3}) und das wiederum funktioniert nur, wenn wir starke Gewerkschaften als starke Tarifpartner und verbindliche Tarifverträge haben. ({4}) Für mich ist das nicht nur mit Blick auf die Bekämpfung des Fachkräftemangels ein dringendes Gebot der Stunde, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das auch eine längst überfällige Maßnahme der sozialen Gerechtigkeit. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Junge. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Gerald Ullrich. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist immer noch ein Bericht zum Zustand der deutschen Einheit nötig. Das ist nicht unbedingt vorteilhaft, zeigt aber auch, was 40 Jahre kommunistische Diktatur im Osten wirklich hinterlassen haben. ({0}) Einerseits haben wir die wirtschaftlichen Probleme im Osten immer noch. Ja, wo kommen sie her? Ich selber bin Unternehmer im Osten; ich glaube, ich habe da einigen Einblick. Ich kann Ihnen sagen: Als wir damals gegründet haben, ist die Bürokratie um uns herum schneller gewachsen, als unsere Betriebe überhaupt wachsen konnten. Hätten es nicht so viel Bürokratie, nicht so viel Bevormundung gegeben, wären wir heute auch schon ein kleines Stückchen weiter. ({1}) Das ist der Grund, warum wir im Osten relativ kleine Firmen haben, warum wir wenig große Firmen im Osten haben. Wir hatten nicht die Möglichkeit der Skalierung, wie man sie im Westen hatte. Ein weiterer Punkt war der schleppende Ausbau der Infrastruktur, zumindest in den ersten Jahren; da hat man aufgeholt. Die demografische Entwicklung und der Wegzug vieler junger Menschen – das wurde heute schon mehrfach gesagt – taten ihr Übriges. Es wird wirklich Zeit, dass man den Osten einfach mal machen lässt. Was wir wollen, ist nicht unbedingt die maximale Förderung. Wir wollen einfach machen, damit wir uns entwickeln können. Das ist es, was der Osten braucht. So kommen wir weiter. ({2}) Was wir auf gar keinen Fall brauchen, ist eine Ostquote. Glauben Sie mir bitte, kein Mensch im Osten möchte der Quotenossi sein, der in irgendeiner Firma schneller aufsteigt als ein westdeutscher Kollege, nur weil er aus dem Osten kommt. Das ist völliger Quatsch. ({3}) Am Ende wollen wir selbstbewusste Nettozahler sein, die in den Länderfinanzausgleich einzahlen und nicht nur aus ihm herausnehmen. Das zweite große Thema in dem Bericht, den Sie vorgelegt haben, Herr Wanderwitz, ist die Demokratie. Da sehe ich wirklich schlimme Dinge. Schauen wir uns die drei Hauptpunkte an: Erst einmal stellen wir fest, dass alle Menschen in Deutschland die Idee der Demokratie sehr gut finden. Der Unterschied zwischen Ost und West ist bei der Frage nach der Umsetzung deutlich größer: Die finden die Leute im Osten schlechter gelungen als die im Westen. Den größten Unterschied gibt es aber beim Punkt „Vertrauen in die Demokratie“. Im Osten liegt das Vertrauen weitaus stärker danieder als im Westen. Herr Wanderwitz, wir müssen uns auch mal Gedanken machen, warum das so ist. Auf Ihrem Stuhl saß bis vor Kurzem noch jemand anders; das wissen Sie. ({4}) Derjenige hat auch Rückgrat gezeigt. ({5}) Dann kam die Bundeskanzlerin, die während eines offiziellen Staatsbesuches in Südafrika vor laufender Kamera die Rückgängigmachung einer Wahl in Deutschland gefordert hat. Glauben Sie mir, das hat in puncto „Vertrauen in die Demokratie“ einen riesengroßen Bruch in Ostdeutschland gebracht. ({6}) – Auf diesen Applaus bin ich weiß Gott nicht stolz. Aber das ist leider die Wahrheit. – Ihr Vorgänger blieb standhaft, Ihr Vorgänger wurde gefeuert. Das Ende der Geschichte kennen Sie, glaube ich. ({7}) Aber wenn alles gut geht, dann wird Ihr Vorgänger morgen zum CDU-Chef in Thüringen gewählt. Und wenn es noch weiter gut geht, wird er vielleicht sogar der nächste Ministerpräsident in Thüringen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wenn es gut geht, kommen Sie jetzt zum Ende. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Wanderwitz, meine Bitten an Sie: Werden Sie bei Ihren Betrachtungen auch auf dem linken Auge nicht blind, bleiben Sie aber wachsam auf dem rechten Auge – das ist richtig –, und analysieren Sie im nächsten Bericht das Thema Radikalismus genauer.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, Ihre Redezeit!

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Und bleiben Sie standhaft. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt bitte wieder ein bisschen Ruhe. – Danke schön. Jetzt kommt nämlich der nächste Redner. Das ist Matthias Höhn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir in diesen Tagen und Wochen nach Osten schauen, nach Belarus, dann wissen wir, dass wir sehr dankbar dafür sein können, dass das vor 30 Jahren hier bei uns in Ostdeutschland so friedlich abgelaufen ist. Dafür können wir heute noch dankbar sein. ({0}) Mit Blick auf meinen Vorredner will ich sagen: Ein großer Erfolg von 1989/90 ist, dass nun jeder seine Meinung sagen kann; das wollen wir auch nicht ändern. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn der einzige Applaus von rechts kommt, dann sollten Sie überlegen, was Sie hier äußern. ({1}) Wer die Jahre 1989 und 1990 im Osten bewusst erlebt hat, der weiß sehr genau, dass die alte Gesellschaft der DDR wenig oder gar keine Zukunft hatte, und der weiß sehr genau, wie grundlegend erschüttert der Glaube der meisten DDR-Bürgerinnen und ‑Bürger an die Zukunft dieses Landes war. Allerdings wird er sich auch daran erinnern, wie groß die Zuversicht war, wie groß die Hoffnung war und wie groß das Selbstvertrauen war, als Ostdeutsche in diese deutsche Einheit zu gehen. Umso schwerer wiegt und wog schon damals die Enttäuschung, die schnell eingetreten ist – Stichwort „Treuhand“: kaum eine Institution hat in so kurzer Zeit das Leben von Millionen so dramatisch verändert –, und umso schwerer wiegt, dass die Enttäuschung bis heute fortwirkt. Die Bundesregierung hat schon letztes Jahr, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, Zahlen veröffentlicht: 57 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland sehen sich immer noch als Bürger zweiter Klasse; 22 Prozent sind mit der Demokratie heute zufrieden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Bundesregierung, das sind dramatische Zahlen. Deswegen muss man überlegen, woher sie kommen. Was mir nicht reicht, Herr Wanderwitz, ist der Ruf nach politischer Bildung. Da stört mich schon der Gestus Richtung Ostdeutschland: Ihr habt es immer noch nicht verstanden. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht haben diese Zahlen etwas mit der Politik der Bundesregierung in den letzten 30 Jahren zu tun. ({2}) Wir haben zu dieser Debatte einen Antrag eingereicht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Budde?

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Immer gerne. – Bitte schön.

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Kollege, ich hätte die Frage eigentlich gern am Schluss Ihrer Rede gestellt, weil ich eine Detailfrage habe, die mich umtreibt. Es geht um die Vertragsarbeiter. Ich möchte meiner Frage eine Bemerkung vorausschicken. Sie wissen sicherlich, wie der Vertrag zwischen Mosambik und der DDR zustande gekommen ist: Dieser Vertrag wurde ganz bewusst zwischen beiden Staaten geschlossen und beinhaltete, dass Mosambik seine Schulden gegenüber der DDR begleichen sollte, und zwar über die Einbehaltung von Lohn. Das war ein Vertrag zwischen den beiden Staaten. Die Menschen wussten nichts davon. Das war echter Beschiss an den Menschen, muss man schlichtweg sagen. Ich stelle Ihnen die Frage, weil Sie sich in Ihrem Antrag auf dieses Thema beziehen. Ich möchte gern wissen, ob Ihnen bekannt ist, dass das Abkommen zwischen der DDR und Mosambik quasi ausfinanziert und ausbezahlt ist und dass die Bundesrepublik sogar danach noch – als nämlich die Betriebe, die Verpflichtungen hatten, nach 1990 nicht mehr da waren – dafür einstand und den Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern alle ausstehenden Summen über ihren Staat zugesprochen und ausgezahlt hat. Ist Ihnen außerdem bekannt, dass die Bundesrepublik auch die zusätzlichen Schulden Mosambiks erlassen hat? Somit können wir als Bundesrepublik rein finanziell überhaupt nichts mehr machen. Ich möchte Sie aber gern fragen, ob Sie mit mir der Meinung sind, dass das ein gutes Thema ist, mit dem sich die Bundesstiftung Aufarbeitung im Rahmen der Aufarbeitung beschäftigen sollte, als Teil der Verträge, die die DDR mit anderen Ländern geschlossen hat. Im Grunde ist es wirklich bloß noch ein moralisches Thema; wir können es finanziell nicht mehr lösen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Budde, ich bin Ihnen aufgrund meiner kurzen Redezeit dankbar, dass Sie mir mit Ihrer Frage mehr Zeit geben, um über unseren Antrag zu sprechen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So viel kriegen Sie nicht. Sie haben jetzt die Möglichkeit, zu antworten. Danach bleiben 39 Sekunden.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Budde, ich freue mich zunächst einmal, dass wir uns einig sind, dass es ein wichtiges Thema ist, wie wir mit der Frage der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter umgehen. Ich stimme Ihnen allerdings nur zur Hälfte zu: Es ist nicht nur eine Frage der Aufarbeitung, sondern ich finde schon, dass wir auch heute eine politische Verantwortung dafür haben, was mit den ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern geschieht, die heute noch ihr Recht einfordern und darum bitten, dass das, was sie geleistet haben, nachträglich anerkannt, auch materiell, und ihr Unrecht damit ausgeglichen wird. ({0}) In welcher Form wir das am Ende als Bundesrepublik leisten können oder leisten wollen, darüber können wir gern in die politische Debatte einsteigen. Aber ich finde, die Verantwortung stellt sich nicht nur rückblickend im Sinne der Aufarbeitung, sondern auch aktuell: Was können wir heute tun? ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Damit bin ich bei meinem letzten Punkt. Wir haben als Fraktion Die Linke einen Antrag zu diesem Tagesordnungspunkt eingereicht. Zentral ist, dass wir an dem Punkt, der in der Gesellschaft nach wie vor wie ein Spaltpilz wirkt, besser werden und Erfolge zeitigen. Es geht um Teilhabe, es geht darum, gleichen Lohn in Ost und West sicherzustellen, gleichen Lohn für Mann und Frau. Es geht um eine gerechte Rentenreform, die auch Ungerechtigkeiten in Ostdeutschland hinsichtlich der Rentenüberleitung nach 1990 endlich beseitigt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die FDP hier von einer „Ostquote“ geredet hat: Es geht nicht darum, Ostdeutschen einzureden, dass sie jetzt in Spitzenfunktionen kommen, nur weil es eine Quote gibt. Ich freue mich, dass die Leistungspartei FDP dieses Thema entdeckt. Wir haben 30 Jahre lang die Situation gehabt, dass Leistung nicht gezählt hat. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn sie denn gezählt hätte, dann hätten wir nicht nur 3 Prozent Ostdeutsche in Spitzenfunktionen, sondern deutlich mehr. Darüber sollten Sie nachdenken. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank Matthias Höhn. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Ich fange mal mit einem Lob an, Herr Wanderwitz. Ihre Bestandsanalyse ist deutlich ehrlicher als die Ihrer Vorgängerinnen: Auch knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung hat noch kein ostdeutsches Bundesland die Wirtschaftskraft der schwächsten westdeutschen Flächenländer erreicht. Studien zeigen allerdings auch, dass in den Metropolen und in den sehr ländlichen Regionen der Unterschied zwischen Ost und West beim Wirtschaftswachstum nicht mehr so gravierend ist. Die Unterschiede sieht man in den Klein- und Mittelstädten. Ihre Analysen stimmen, Herr Wanderwitz; nur sehe ich leider noch zu wenig Konsequenzen daraus. Ich will das an einem sehr praktischen Beispiel verdeutlichen. Im Bereich „F und E“ misst Ihr Haus die Innovationsfähigkeit von Unternehmen auch daran, ob sie an Bundesförderprogrammen teilnehmen. Diese Programme werden aber in erster Linie von großen Unternehmen genutzt; davon haben wir im Osten leider nicht so viele. Solange wir an dieser Stelle keine Veränderung vornehmen, wird die Leistung bei Forschung und Entwicklung im Osten auch weiterhin hinter der in den alten Ländern hinterherhinken. Hier brauchen wir eine deutliche Veränderung. ({0}) Die Coronakrise hat noch einmal den sehr veralteten Blick des BMWi auf die deutsche Wirtschaft gezeigt: Unterstützt wird der Status quo, unterstützt werden die Großen. Die Kleinen hingegen fühlen sich im Stich gelassen, und sie sind es auch, ganz besonders die Selbstständigen. Dabei prägen gerade die Kleinen die Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Wann fängt Minister Altmaier endlich damit an, die KMUs zu stärken? Das sind die Unternehmen, die regional verankert sind; das sind die, die sich sozial engagieren, die daran interessiert sind, vor Ort zu bleiben und dort zu wachsen, statt immer neuen Förderkulissen hinterherzuziehen. Das lohnt es sich zu fördern. Das gilt übrigens für Ost und West. ({1}) Das Thema „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ist mit einem eigenen Kapitel umfangreich und sehr prominent besetzt. Das ist ein Fortschritt. Wer allerdings dachte, dass da ein bisschen mehr als nur eine Analyse enthalten ist, etwa eine konsequente Strategie für den Kampf gegen rechts, der wird leider enttäuscht. Dabei ist das genau das, was wir aktuell brauchen: eine Strategie für den Kampf gegen rechts. Auch das gilt wieder: für Ost und West. ({2}) Lassen Sie uns gemeinsam einen engagierten und ideenreichen Kampf für unsere Demokratie führen, für die Demokratie, für die so viele Menschen 1989 mutig auf die Straße gegangen sind. Es ist mehrfach angesprochen worden: Es gibt in Ostdeutschland weiterhin einen größeren Verlust von Vertrauen in den Staat als in den alten Bundesländern. Dafür gibt es Gründe, zum Beispiel den Rückzug des Staates aus der Fläche. Dieses Problem gehen Sie seit Kurzem an. Ich weiß, das erfolgt auch aus Ihrer Sicht deutlich zu spät; aber es ist ein Anfang. Aber einen anderen relevanten Punkt verschweigen Sie: die inakzeptable Repräsentation von Menschen mit ostdeutschem Hintergrund in Führungspositionen. Auch in den obersten Bundesbehörden sehen wir da keine positive Entwicklung; dabei könnten Sie hier Vorbild sein. Wir brauchen eine ausgewogene Repräsentanz aller gesellschaftlichen Gruppen in Führungspositionen. ({3}) Unsere Gesellschaft ist vielfältig, unsere Eliten sind es leider nicht. ({4}) Zum Schluss lassen Sie mich sagen: Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam daran arbeiten, einen gesamtdeutschen Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte zu finden, in dem Ost und West gleichberechtigt nebeneinanderstehen und in dem sich alle Menschen im Land wiederfinden. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es endlich Zeit dafür. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Müller. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Mark Hauptmann. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegen im Hohen Haus! Im 30. Jahr der deutschen Wiedervereinigung möchte ich eine Person zitieren, die ich noch nie in meinem Leben zitiert habe; aber ich glaube, es lohnt sich, gerade um auch einmal zu schauen: Wo kommen wir her? Ich zitiere Erich Honecker vom 19. Januar 1989. Er hat damals gesagt: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.“ ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können in verschiedenen Teilen des politischen Spektrums sehen – ob das der Kollege Gerhard Schröder, Herr Fischer oder auch andere waren –, wie skeptisch viele waren, dass die Wiedervereinigung, die deutsche Einheit gelingen kann. Wir können heute sagen: Zum Glück haben die Skeptiker nicht recht behalten. Zum Glück – das ist ein Glücksfall in der Geschichte unseres Landes – ({1}) haben wir den Mauerfall und die deutsche Einheit erreicht. Doch wir erleben gerade aktuell in dieser Debatte, dass zwei Fraktionen bzw. Parteien keinerlei Beitrag zum Gelingen dieser deutschen Einheit geleistet haben: einmal die Partei der Mauermörder mit Schießbefehl auf der linken Seite und auf der anderen Seite die populistischen Hetzer. Die einen wollten die Wiedervereinigung und die deutsche Einheit verhindern, ({2}) und die anderen wollen die deutsche Einheit und die Erfolge dieser deutschen Einheit heute verklären. Beides ist falsch, weshalb wir in der Mitte der Gesellschaft sagen müssen: Es ist viel erreicht worden. Wir, West- und Ostdeutsche, haben in diesem Land zusammen Großes geschafft, um diese deutsche Einheit zum Gelingen zu bringen. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir auf die deutsche Einheit schauen, dann sprechen wir jedes Mal darüber: Was ist erreicht worden? Wo haben wir noch Kapazitäten? Wo müssen wir weiter vorangehen? Auch der Staatssekretär und Ostbeauftragte hat das deutlich gemacht: Wir haben die Wirtschaftskraft des Ostens vervierfacht. Das Haushaltseinkommen im Osten liegt heute bei 90 Prozent des Westniveaus. Wir haben auch bei der Binnenwanderung zwischen Ost und West ausgeglichene Verhältnisse, und die Lebenserwartungen sind identisch – wir sind weit weg von den Umweltbelastungen zu Ostzeiten. Mich treibt vor allem ein Thema um, das auch Teil dieser Debatte war, nämlich dass der Aufholprozess ins Stocken geraten ist. Er ist aber nicht, wie es die AfD behauptet, ins Stocken geraten, weil seitens der Bundesregierung unter großen Anstrengungen keine Leistungen erreicht wurden, sondern er ist ins Stocken geraten, weil sich seit Ende der 90er-Jahre Ost und West gleich entwickeln. Das ist nämlich der Unterschied: Durch viele Jahre Wirtschaftswachstum in Deutschland hat in Ost- und in Westdeutschland eine Entwicklung stattgefunden. Ich komme aus einem Wahlkreis im Süden des Freistaates Thüringen; wir haben mit knapp 4 Prozent die niedrigste Arbeitslosigkeit unter den neuen Bundesländern. ({4}) Wenn das kein Erfolg ist, würde ich gerne einmal sehen, wie Sie Erfolge definieren. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sehen natürlich – auch das beschreibt der Jahresbericht – noch Handlungsbedarf. Wo müssen wir in Zukunft noch anpacken? Wir müssen zum Beispiel Unternehmen, die heute die Grenze von circa 250 Mitarbeitern erreicht haben, helfen, größer zu werden, um die Erfolgsgeschichte Ostdeutschlands in die nächsten Jahre zu tragen. Warum haben wir bei der Unternehmensgröße diese gläserne Grenze von 250 Mitarbeitern? Weil Forschungsunterstützung – das betrifft den Bereich „Forschung und Entwicklung“, verschiedene Initiativen der Mittelstandsförderung wie das ZIM-Programm und viele andere Programme – hier an eine Grenze stößt. Hier müssen wir ansetzen und schauen: Wie können wir diese Firmen weiterentwickeln? Wie können wir aus den Hidden Champions Global Champions machen? Dann wird das insgesamt eine Erfolgsgeschichte, die auf das aufbauen kann, was wir jetzt schon sehen: den Aufbruch von Tesla in Brandenburg, die Produktion des VW ID.3 in Zwickau. Zukünftig gibt es die Chance eines Comebacks des Solar Valley in Sachsen-Anhalt. Mit Stolz erfüllt uns auch eine Nachricht aus dieser Woche: dass die Sicherheit unserer Soldaten im Auslandseinsatz in Zukunft durch präzise Technologie aus Thüringer Produktion gewährleistet werden kann.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Hauptmann.

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

All das sind sehr positive Beiträge. Frau Präsidentin, damit möchte ich zum Schluss kommen. Lassen Sie uns diese Bemühungen weiter vorantreiben; dann ist mir auch nicht bange um die Zukunft der deutschen Einheit. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Zum Abschluss dieser Debatte hat das Wort Katrin Budde für die SPD-Fraktion. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin weit davon entfernt, den Prozess der deutschen Wiedervereinigung als komplett fehlerfrei zu bezeichnen, und ich bin auch weit davon entfernt, die heutige schwierige strukturelle Situation von ostdeutschen Regionen zu verkennen. Ich ignoriere auch nicht die schwierige Situation von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung infolge der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche nach der Wiedervereinigung. Aber das, was Sie von der Linken in Ihrem Antrag vorgelegt haben, hat mich zutiefst enttäuscht, zumal ich mit vielen Ihrer Kolleginnen und Kollegen in guten Diskussionen bin. Das ist wirklich ein Stück Volksverdummung, was Sie da aufgeschrieben haben, der Versuch der Volksverdummung: ({0}) Halbwahrheiten, Ignorieren von Ursachen, Ausblenden von Gründen, gut klingende, wohlfeile Forderungen. Das funktioniert nicht. Sie behaupten, die ökonomische Übermacht des Westens habe den Osten auf Zweitklassigkeit gestellt. Nein, das hat die DDR vorher schon selber erledigt, in den 40 Jahren ihres Bestehens. ({1}) Mit dem Aufbau des RGW verloren alle Wirtschaften des damaligen Ostblocks ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Sie haben ausschließlich für diesen Markt produziert. Die Ausrüstungen der Unternehmen waren zum großen Teil extrem veraltet. Es gab einen riesigen Investitionsstau. Dass wir im Osten so viele tolle Orte der Industriekultur und auch noch die Anlagentechnik beisteuern können, liegt daran, dass wir 1989 zu großen Teilen noch auf diesen Maschinen gearbeitet haben. ({2}) Ich habe selber an den Maschinen gestanden; ich habe selber an diesen Maschinen gearbeitet. Die Zweitklassigkeit der DDR-Wirtschaft, die wir 1990 hatten, haben Sie, Ihre Vorgängerparteien und die Blockparteien zu verantworten. Sie haben sich selbst und Ihr Volk belogen, was diesen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung angeht. ({3}) Was übrigens nicht zweitklassig ist, das waren die Menschen, die in dieser Wirtschaft gearbeitet haben. Sie waren hervorragend ausgebildet. Sie haben fleißig gearbeitet, hatten ein hohes Improvisationsvermögen und waren unheimlich gut. Das wurde von westdeutschen Unternehmen auch schnell anerkannt; die wurden nämlich mit Kusshand genommen – im Westen. ({4}) Ich komme zur Forderung, was die gesetzliche Regelung außerhalb des Mindestlohns angeht. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein gutes System, nämlich das Tarifparteiensystem, und wir haben ein gutes Betriebsverfassungsgesetz. Immer da, wo das im Osten funktioniert hat, wo die Gewerkschaften mitgliederstark waren, wo die Leute nicht ausgetreten sind, da hat das im Transformationsprozess auch besser funktioniert: in der Chemie in Sachsen-Anhalt, in der montanmitbestimmten Metallindustrie und im Bergbau. Überall dort, wo es Austrittswellen gab, haben wir bis heute das Problem, dass es kaum Tarifzugehörigkeiten gibt. Die neuen Eigentümer haben das schnell gesehen und gesagt: Geh nicht in den Arbeitgeberverband. – Das ist ein Fehler, den wir als Politik im Transformationsprozess zugelassen haben. Deshalb sage ich immer: Sanieren wäre besser gewesen als Privatisieren; denn dann hätte man darauf Einfluss nehmen können. ({5}) Sie beklagen die kulturelle Ignoranz Ostdeutschen gegenüber. Das kenne ich. Das ist mir damals passiert, und es passiert mir noch heute. Ich gebe zu: Mir passiert das immer bloß bei der ersten Begegnung. Aber es gibt natürlich auch eine kulturelle Ignoranz der „Norddeutschen“ gegenüber bayerischer Kultur. Auch das verstehen nicht alle. Es ist ein Mentalitätsunterschied. ({6}) Insofern geht das querbeet durch das Land. Dass aber die Kulturvielfalt, die es in Ostdeutschland gab, heute nicht so bekannt ist, liegt daran, dass darum Mauer und Stacheldraht gezogen waren. Auch das gehört zur Wahrheit.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. – Ich glaube, dass die deutsche Wiedervereinigung eine gute Wiedervereinigung war und dass ein solch umfassender Prozess natürlich auch nicht ohne Furchen und Narben abgeht, dass die Enttäuschung und die unerfüllten Hoffnungen von uns nicht ignoriert werden dürfen, dass wir einen Weg finden müssen, das zu machen, was Willy Brandt gesagt hatte, nämlich dass wirklich zusammenwächst, was zusammengehört. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Budde. – Damit schließe ich die Aussprache.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder aus Moria lassen niemanden kalt. Es waren schon vor dem Brand schwierige, schlimme Zustände; aber jetzt nach dem Brand sind sie katastrophal. Deswegen gilt als Erstes: Wir müssen helfen, ganz konkret und schnell, vor Ort auf Lesbos. Wir haben mithilfe des THW und des DRK bereits Hilfslieferungen mit Zelten, Schlafsäcken, Sanitärcontainern und vielem anderen von Deutschland nach Moria gebracht. Als ersten Schritt hat eine Gruppe von elf willigen Staaten aus der Europäischen Union 400 Minderjährige aufs Festland gebracht. Diese sollen verteilt werden. 100 bis 150 davon wird Deutschland aufnehmen. Als zweiten Schritt konnte die Bundesregierung diese Woche mitteilen, dass 408 Familien, insgesamt 1 553 Personen, von allen griechischen Inseln nach Deutschland kommen können. Dabei handelt es sich um Personen, die bereits das Asylverfahren durchlaufen haben und deren Anträge positiv beschieden wurden. Insofern gehen auch kein Anreiz und kein Pull-Effekt nach außen. Das ist eine klare, sachlich bestimmt umgrenzte Personengruppe. Ich möchte an dieser Stelle Herrn Innenminister Seehofer meinen ausdrücklichen Dank dafür aussprechen, dass er in dieser doch relativ kurzen Zeit – übers Wochenende – diese Lösung für Deutschland hinbekommen hat. ({0}) Aber wir müssen auch feststellen: Wir, Deutschland, sind alleine. Der Versuch, eine Koalition der Willigen über die 400 Familien hinaus zusammenzubringen, ist gescheitert. Bis heute gibt es keine einzige Zusage. Ich hätte schon erwartet, dass zumindest eine Handvoll anderer Staaten wie früher bereit ist, im kleinen Umfang Geflüchtete von Moria und anderen Inseln zu übernehmen. Nichts, nada! Das ist enttäuschend, aber auch ernüchternd. Betrachten wir die Situation einmal aus der Sicht der anderen europäischen Staaten: Es steht 26 zu 1. Wir, Deutschland, sind der Außenseiter, und deshalb ist darin auch eine klare Absage aller anderen Staaten zu sehen und in dieser Absage ein politisches Statement: Überfordert unsere Solidarität nicht. Da aber beantragen heute die Grünen, alle Geflüchteten von allen griechischen Inseln zu übernehmen, zu evakuieren. Das sind 27 000 Geflüchtete. Welche Hybris der Grünen, nachdem nicht einmal Griechenland diese Bitte äußert und Griechenland immer noch ein souveräner Staat ist. ({1}) Weiter heißt es im Antrag der Grünen, Deutschland müsse vorangehen. Das heißt nichts anderes als: Deutschland muss auch dies alleine machen. – Wir müssen aber aufpassen, dass wir die anderen europäischen Staaten nicht dauerhaft an unserer Seite verlieren und dass wir sie nicht aus der Verantwortung lassen. Das wäre aber das Ergebnis Ihrer Politik, wenn wir auch hier jetzt dauerhaft alleine vorangehen würden. Warum sollten denn andere europäische Länder bei den anstehenden Verhandlungen zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem überhaupt noch bereit sein, sich daran zu beteiligen? Es wäre auf lange Sicht gesehen mehr als kontraproduktiv, wenn wir das machen würden. ({2}) Dann höre und lese ich immer wieder – zum Beispiel von Frau Baerbock –: Wir haben Platz; viele Kommunen seien zur Aufnahme bereit. – Ja, das stimmt. Aber es ist auch gleichzeitig eine Übertreibung in sich, weil bei Weitem nicht alle Städte, die sich der Seebrücke angeschlossen haben, auch bereit sind, Menschen über ihr sowieso vorhandenes Pflichtkontingent hinaus zu übernehmen, und bezahlen sollen das selbstverständlich der Bund und die Allgemeinheit. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Den Gipfel der Beliebigkeit hat gestern Ihr Parteivorsitzender Walter-Borjans in der „Passauer Neuen Presse“ gebracht. Ich zitiere: Ginge es nach der SPD, könnten Bundesländer und Städte ungehindert helfen – ungehindert! - und Flüchtlinge aufnehmen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Dr. Castellucci?

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Throm, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe den Entwicklungshilfeminister Müller so verstanden, dass er von der Aufnahme von 2 000 Personen gesprochen hat. Ich habe auch von einem Brief aus den Reihen Ihrer Fraktion gehört, in dem man sich für die Aufnahme von 5 000 Personen ausspricht. Würden Sie denn diesen Menschen das Gleiche entgegnen, was Sie jetzt hier an die Adresse unseres Parteivorsitzenden richten? Wir wissen, dass Städte und Gemeinden in diesem Land bereit sind zur Aufnahme, und sind der Überzeugung, dass man, wenn Hilfe angeboten wird, das Helfen auch zulassen sollte. Die Hilfe wird benötigt; das haben Sie selber gesagt. Wenn Hilfsbereitschaft da ist, sollten wir ihr nicht entgegenstehen, sondern sollten sie zulassen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Throm, bitte.

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau da liegt in dieser Argumentation der Irrtum, der auf den Irrweg führt. Das eine ist – ja – die Bereitschaft in unseren Reihen zur Aufnahme, auch 2 000 oder 5 000 Menschen. Das andere ist die Bereitschaft, zu sagen: Die Kommunen können auf kommunaler Ebene darüber entscheiden, ob und wer und wie viele Flüchtlinge dort aufgenommen werden können. – Das geht so nicht. ({0}) Sehen Sie das mal umgekehrt: Wenn der Gemeinderat bzw. der Bürgermeister einer Kommune – wir haben über 10 000 in Deutschland – entscheidet: „Wir nehmen keine Flüchtlinge auf“, dann folgen wir dem – zu Recht – auch nicht. Deswegen können wir das globale Problem oder zumindest das europäische Problem, das wir haben, nicht auf dem Irrweg lösen, dass wir eine Zersplitterung unserer Zuständigkeiten zulassen, also dass Länder ohne Abstimmung mit bzw. ohne Zustimmung der Bundesregierung eigene Aufnahmeprogramme auflegen. Wir brauchen nicht lokal, sondern wir brauchen eher europäisch eine Lösung, um dieses Problems mittel- und langfristig Herr zu werden und die Frage der Migration in Europa und damit auch in Deutschland zu lösen. So helfen wir den derzeitigen Flüchtlingen und Geflüchteten, aber auch denen, die in den nächsten Jahren kommen werden, am besten. Die Alternative zu einer europäischen Lösung, zu einem neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, das in den nächsten Monaten zumindest mal anverhandelt werden soll, wäre ja wieder eine rein staatliche Lösung. Das wird – da bin ich mir auch sicher – im Ergebnis weniger Hilfsbereitschaft, weniger Ordnung bedeuten; und das wollen wir nicht. Deswegen können wir den heute vorliegenden Anträgen von Linken und Grünen nicht zustimmen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Throm. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Bernd Baumann. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Griechenland zündeten Migranten ihre Zelte und Aufnahmelager an, Kirchen wurden verwüstet. Ziel der Brandstifter war: dauerhafte Aufnahme in Europa, am liebsten in Deutschland. Linke und Grüne unterstützen dieses Ziel heute hier im Bundestag. Alle sollen kommen: Dann könnt ihr bleiben! – Auch die Bundesregierung will Tausende aufnehmen; das ist das Signal. Das ist ein katastrophales Signal. Alle sollen kommen. Also, zündet eure Lager an, dann könnt ihr bleiben, dürft sogar weiter bis nach Deutschland. – Die Schleusermafia reibt sich die Hände; denn Deutschlands Regierung belebt ihr Geschäft. Sie alle hier unterstützen die internationalen Schlepper, Erpresser und Betrüger. Das muss mal klar gesagt werden. ({0}) Griechenlands Regierung protestierte dagegen im Sommer 2019. Das Beispiel Ungarn steht ja allen noch vor Augen: Zunächst campierten nur wenige Tausend am Bahnhof von Budapest. Für sie öffnete Merkel die Grenzen. Die Bilder lösten einen gigantischen Sog aus – bis in den letzten Winkel von Orient und Afrika. Millionen Menschen setzten sich plötzlich in Bewegung. In endlosen Menschenschlangen durchbrachen sie alle Grenzen. ({1}) Ist Ihnen das keine Lehre? Haben Sie nichts aus der Geschichte gelernt? ({2}) Sie machen aus Deutschland ein Siedlungsgebiet für jeden, der kommen will; eine Art offenes Buffet, an dem sich jeder bedienen kann. Das werden wir nicht zulassen. ({3}) Wir werden Deutschland und seine Kultur erhalten als den einzigen Flecken Erde – hören Sie zu! –, an dem wir Deutsche uns wirklich zu Hause fühlen können. ({4}) Entgegen Ihrer Behauptung ist Ihre Politik auch alles andere als humanitär. Sie ist zynisch, weil sie falsche Signale setzt. Unzählige Menschen in aller Welt werden entwurzelt. Sie verkaufen ihr Land, ihr Vieh, geben Tausende Dollar an die nordafrikanische Schleppermafia und lassen sich dann auf löchrigen Booten nach Europa schiffen. Ihnen allen hier geht es doch gar nicht um die Menschen. Ihnen geht es um die Bilder, letztlich um populistische Selbstdarstellung; das ist der Fall, meine Damen und Herren. ({5}) Berlins Innensenator von der SPD, Grünenchefin Göring-Eckardt, ({6}) Armin Laschet, der sich selbst schon als Merkel-Erbe sieht: Sie alle fliegen mit großem Medientross nach Griechenland, um mit kleinen Kindern zu posieren. Ein paar betroffene Worte in die Kamera, und dann zurück in den bequemen Flieger. ({7}) Und alle Leitmedien senden diese Bilder in alle Wohnzimmer; viele Öffentlich-Rechtliche ganz vorn mit dabei. Sie heizen die Stimmung noch weiter an. Was für eine letztlich billige Inszenierung! Und was für ein menschenverachtendes Politspektakel! ({8}) Sie deformieren letztlich unseren einst rationalen, gut funktionierenden Staat in eine links-grüne Gesinnungs- und Stimmungsdemokratie: sentimental, wehrlos, irrational und unfähig zur Lösung aller drängenden Probleme, wie man heute wieder sieht, meine Damen und Herren. ({9}) Deshalb lehnen doch fast alle Länder Europas Deutschlands Flüchtlingspolitik ab. Sie lehnen das ab! Polen, Ungarn, Tschechien verabscheuen sie, Österreicher und Dänen wenden sich ab, ({10}) Italiener, Spanier, Franzosen und Niederländer nehmen keine Migranten mehr auf. Deutschland ist isoliert. Auf der griechischen Insel brennen nicht nur ein paar Zelte. Es verbrennt auch die europäische Idee, ({11}) die Solidarität, die Stabilität und der enge Zusammenhalt der Nationen in Europa. Und das haben Sie mit dieser Politik zu verantworten! ({12}) Warum steht denn Deutschland so alleine da? ({13}) Wieso wollen Ihre Nachbarn Ihrer angeblich so guten Politik, Ihrem guten Beispiel partout nicht folgen?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Baumann, kommen Sie zum Ende, bitte.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Weil sie weniger Herz haben? Nein! Weil sie mehr Hirn haben, meine Damen und Herren. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, kommen wir wieder ein bisschen runter. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Baumann, dass Sie den Begriff „Hirn“ verwenden, ist mutig in diesem Zusammenhang. ({0}) Des Weiteren stelle ich fest, dass Politiker von der Linken, von SPD, Grünen und CDU auf Malta und in Griechenland waren. Die AfD war bei Assad in Syrien. Das macht den ganzen Unterschied in diesem Hause aus. ({1}) Angesichts der Situation von Moria ist man hin- und hergerissen. Ich glaube, man muss das Dilemma benennen. Einerseits sagt das Herz einem: Wir müssten die 13 000 Menschen – eigentlich noch mehr – aufnehmen – im Zweifelsfall in Deutschland angesichts der viel zu langen Zeit, die wir zugewartet haben. ({2}) Andererseits sagt eben der Verstand, dass das mit Griechenland in der gegenwärtigen Situation gar nicht realisierbar ist, weil die Regierung das nicht mitmacht, dass wir da selber in der Koalition ehrlicherweise keinen Konsens haben und bis auf Weiteres auch nicht zu einem solchen Konsens finden werden und dass auch im Sinne einer europäischen Lösung eine solche Entscheidung am Ende nicht verantwortungsbewusst sein kann. Das ist das Dilemma, in dem wir uns bewegen. Ich spreche, glaube ich, für viele Abgeordnete, auch aus den Regierungsfraktionen, dass uns das keine Ruhe lässt und uns auch schlaflose Nächte bereitet, ({3}) die aber harmlos und lächerlich sind im Vergleich zu den vielen schlaflosen Nächten der Menschen auf Moria. ({4}) Vor diesem Hintergrund hat Politik gewirkt. Auch der sozialdemokratische Druck seitens der Fraktion, seitens unserer Parteivorsitzenden hat dafür gesorgt, dass wir, anders als noch vor einer Woche, jetzt von ungefähr 2 750 Menschen sprechen können, die in Deutschland – zum Teil im Alleingang, zum Teil aber im europäischen Zusammenschluss – aufgenommen werden. Das ist eine deutlich veränderte Situation gegenüber dem Zustand vor einer Woche. Und es ist richtig, dass wir so entschieden haben. ({5}) Wir drängen weiterhin. Der abwesende Innenminister kann mit einer Einvernehmenserklärung dafür sorgen, dass Länder und damit auch Kommunen Menschen aufnehmen können. Das ist unsere Forderung. ({6}) Und wir stehen für eine neue Systematik der Familienzusammenführung, die auch für deutliche Entlastungen sorgen würde. Und wir fordern, dass es weitere Aufnahmen geben wird – das hat Norbert Walter-Borjans unmissverständlich artikuliert –, aber dies eben mit europäischen Partnern. ({7}) Kommen wir jetzt aber zu einem anderen Punkt und zu all den Ritualen, die wir hier erleben. Ich frage daher, wenn wir in der jetzigen Situation immer einfordern, wir dürften keine Pull-Faktoren schaffen: Was ist mit den Push-Faktoren? Ich erwähnte schon Assad. Sprechen wir hier nicht von Menschen, die nicht nur reine Reaktionswesen sind, sondern die ein Herz haben und die leben? Wenn es hier heißt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, dann entgegne ich: Die Menschlichkeit, die wir seinerzeit erlebt haben und auf die wir als Gesellschaft stolz sein dürfen, sollte sich sehr wohl wiederholen. ({8}) Wenn wir von einem deutschen Alleingang sprechen oder von einem deutschen Sonderweg, dann ist ein deutsches Vorbild, eine deutsche Schrittmacherfunktion etwas, auf das wir, glaube ich, angesichts unserer Geschichte stolz sein können. ({9}) An die Antragstellerinnen und Antragsteller gerichtet, erlaube ich mir aber auch, zu sagen – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Lindh, Sie müssen das jetzt wirklich schnell sagen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wollten mir letztens eine Minute mehr geben, ich erinnere mich! ({0}) Wenn Frau Göring-Eckardt von einem Alibiangebot oder einem Scheinangebot spricht, dann möchte ich schon darauf hinweisen, dass es im Bundesrat unter grüner Beteiligung nicht gelungen ist, zustande zu bringen, dass erleichterte Landesaufnahmeprogramme möglich werden. Denn auch Grüne erleben eben, was es bedeutet, in Regierungsverantwortung zu stehen. Dann ist es nicht so einfach, auf der einen Seite Forderungen zu stellen, während man auf der anderen Seite in der Regierungspraxis anders handelt. So ist es nicht in Ordnung, wenn Sie mit namentlichen Abstimmungen versuchen, die Sozialdemokratie und ganz viele Abgeordnete, die in dem Dilemma stecken, das ich eben beschrieben habe, vorzuführen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Lindh, bitte.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist keine verantwortungsbewusste Politik, sondern das nenne ich ein Scheinangebot. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächste Rednerin: Linda Teuteberg für die FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Nachhaltigkeitswoche, und dass wir heute erneut über Moria debattieren, zeigt, dass wir in der Migrationspolitik weit entfernt sind von nachhaltigen Lösungen, sowohl bei uns in Deutschland als auch europaweit. Klar ist: Die Bilder und die Schicksale aus Moria können niemanden kaltlassen, und deshalb stellt sich nicht die Frage nach dem Ob von Hilfe, sondern die Frage, wo und wie wir helfen. ({0}) Deutschland und Europa dürfen Griechenland mit der Brandkatastrophe in Moria nicht alleinlassen. Wir sollten helfen durch Bereitstellung des THW, durch Hilfslieferungen, auch durch Hilfestellung von Beamten des BAMF und vieles mehr. Zugleich müssen Herz und Vernunft hier zusammengehen. Wir sollten sie nicht gegeneinander ausspielen. ({1}) Deshalb ist bemerkenswert, dass immer wieder der Satz fällt, das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Im Hinblick auf die derzeitigen Ereignisse wiederholt es sich auch nicht. Wenn man allerdings nur auf die erbitterte Debatte blickt, dann könnte man den Eindruck bekommen und sich im Herbst 2015 wähnen; denn da könnten wir längst weiter sein. Mit geradezu heiligem Eifer werden jetzt wieder moralische Positionen bezogen und Begriffe, auch des humanitären Rechts, falsch verwendet und dadurch Verwirrung gestiftet, rechtliche Standards werden unterlaufen. Die deutsche Debatte ist sehr selbstbezogen; sie nimmt überhaupt nicht die Situation in Griechenland oder die unserer EU-Partner in den Blick. Die Aufnahme von Schutzberechtigten aus Griechenland ist für die Betroffenen gut und eine humane Geste. Sie löst allerdings nicht die strukturellen Probleme anhaltenden Migrationsdrucks an den europäischen Außengrenzen. ({2}) Deshalb ist es ein Problem, dass regelmäßig europäische Lösungen gepredigt, aber deutsche Alleingänge, nationale Alleingänge praktiziert werden. Wir brauchen mehr Europa, und ein Europa, das sich als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts definiert, muss natürlich dazu kommen, dass materielle Kriterien entscheiden. Der Verteilmechanismus, über den wir hier seit Jahren reden und um den wir ringen müssen, muss nach materiellen Kriterien funktionieren. Die Bereitschaft unserer Partner, sich auf einen Verteilmechanismus zu einigen, wird umso größer sein, je besser wir sicherstellen, dass man sich darauf verlassen kann, dass es sich zumindest überwiegend um tatsächlich Schutzberechtigte handelt, sodass wir in Europa illegale Migration zurückdrängen und in den Griff bekommen, sehr geehrte Damen und Herren. ({3}) Wer den Ernst der Lage beschwört – dieses Thema spaltet die europäischen Gesellschaften; es gefährdet das Vertrauen in Demokratie und Institutionen –, der muss sich fragen, ob die Vorschläge, die er oder sie macht, ein Beitrag zur Lösung sind. Alle Vorschläge, die dazu beitragen, dass illegale Migration an den europäischen Außengrenzen kontrolliert werden kann, werden dazu beitragen, dass wir uns einigen können in Europa.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Alles, was falsche Anreize setzt, wird die Lösung erschweren. Deshalb auch die Frage: Trägt es zu einer Lösung bei, wenn deutsche Landes- und Kommunalpolitiker entscheiden? Nein. Aber die Bundesregierung ist in der Pflicht. Sie muss jetzt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um hier voranzukommen: mit verbessertem Schutz der Außengrenzen, mit zuverlässigen, zügigen Prüfungen, möglichst schon an den Außengrenzen. Und dann muss sie damit auf unsere Partner zugehen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Linda Teuteberg. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Ulla Jelpke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorredner und auch Sie von der FDP haben viel von Lösungen gesprochen; aber einen Lösungsvorschlag, was denn jetzt mit den Flüchtlingen auf Lesbos passieren soll, haben Sie heute jedenfalls nicht vorgetragen. ({0}) Das finde ich nach der Verweigerungshaltung, die wir seitens der CDU erlebt haben, und nach der Hetze von der AfD nicht gerade sehr lösungsbringend. ({1}) Meine Damen und Herren, es kann nur eine menschliche Lösung für die Flüchtlinge aus Lesbos geben; diese lautet: Die Schutzsuchenden müssen sofort evakuiert werden. ({2}) Moria war tagtäglich eine Menschenrechtsverletzung und ist eine Schande für Europa. ({3}) Moria ist das Produkt einer EU-Abschottungspolitik, die vor allen Dingen auf dem Rücken der Schutzsuchenden ausgetragen wird. ({4}) Ich will noch mal daran erinnern: In einem Lager, das mit 2 800 Menschen belegt werden sollte, waren 13 000 Menschen untergebracht – das muss man sich mal vorstellen! –, ({5}) über Jahre hinweg, die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder, über die Hälfte von ihnen Menschen aus kriegsgeschundenen Ländern wie Afghanistan und Syrien. Was ist das für ein Skandal! Erst Ende März war das Lager im Lockdown, und die Menschen waren weitgehend auf sich alleine gestellt. Von Tag zu Tag wuchs die Verzweiflung. Dann traten die ersten Coronafälle auf, und das Lager drohte zu einer Todesfalle zu werden. Ist es da verwunderlich, dass die Menschen aufbegehren, dass sie völlig verzweifelt sind? So rief ein Flüchtling uns zu: Schaut endlich zu uns her! Helft uns! – Nichts passiert. Eine Woche nach dem Brand leben Tausende bei glühender Hitze auf der Straße, verstecken sich in Wäldern. Es fehlt an Wasser, an Essen; es gibt keine Toiletten, keine ausreichende medizinische Versorgung. Die Menschen sind dort schwer traumatisiert. Das waren sie schon lange vor dem Feuer. Und jetzt sollen sie noch mal bestraft werden, indem man ihnen in der Notlage nicht hilft? Das kann ja wohl nicht wahr sein! ({6}) Zu Recht haben die Flüchtlinge Angst, jetzt wieder interniert zu werden. ({7}) Auch die Einwohner von Lesbos wehren sich dagegen, dass die Insel noch länger zu einem Internierungslager für Flüchtlinge wird. ({8}) Eine Politik, die von einer Hölle in die andere führt, darf es nicht weiter geben. ({9}) Deswegen brauchen wir auch ein Umdenken, und zwar ein radikales Umdenken. Die ganze erbärmliche Hotspot-Politik zur EU-Flüchtlingsabwehr gehört endlich abgeschafft, meine Damen und Herren! ({10}) Deutschland trägt eine erhebliche Mitverantwortung an den unwürdigen Zuständen auf den griechischen Inseln; denn die Bundesregierung hat maßgeblich den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal vorangetrieben, ({11}) der Moria und andere Hotspots zu einer überfüllten Sackgasse werden ließ. ({12}) Meine Damen und Herren, besonders von der CDU/CSU: Natürlich streben wir eine europäische Lösung der Flüchtlingsaufnahme an. Doch wer die Rettung der Menschen auf Moria jetzt davon abhängig macht, der spielt ein zynisches Spiel auf dem Rücken der Betroffenen. ({13}) Im Unterschied zu vielen EU-Staaten haben wir zum Glück die Situation, dass viele Kommunen und Städte bereit sind, zu helfen. Deswegen appelliere ich auch noch mal an den Innenminister, der heute nicht da ist: Hören Sie endlich auf, die Hilfsbereitschaft dieser Menschen zu blockieren! ({14}) Machen Sie den Weg frei für die Aufnahme von Flüchtlingen!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zum Schluss möchte ich noch mal daran erinnern: 60 Flüchtlingsorganisationen werden dazu aufrufen, am Sonntag hier in Deutschland zu demonstrieren, und zwar rufen sie die Parole aus: „Es reicht! Wir haben Platz!“ – Dem können wir uns nur anschließen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grüne Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsidentin! Als ich vergangene Woche auf dem Trümmerfeld von Moria stand, blickte ich nicht nur auf verkohlte Zeltreste, verkohltes Spielzeug und Küchenutensilien, sondern ich blickte auf die Trümmer der europäischen Flüchtlingspolitik; so klar, so eindeutig muss man das sagen. ({0}) Ist das Europa? Diese Frage stellen Joko und Klaas zu Beginn ihres wirklich schwer auszuhaltenden Videos „A Short Story Of Moria“. ({1}) Das Video zeigt, wie die griechische Küstenwache Schlauchboote ohne Motor und Wasserversorgung aufs Meer zurückdrängt. Es zeigt Kinder unter Tränengasbeschuss auf der Insel, und es zeigt, wie sie vor den Flammen flüchten. Es zeigt die Realität, es zeigt das, was ich auch sah und hörte, es zeigt, was ich nicht akzeptieren werde, und zwar aus moralischen Gründen – ja –, aber vor allen Dingen aus politischen Gründen, meine Damen und Herren. ({2}) Ist das Europa? Ich sah Kinder, Babys, Jugendliche und ihre vollkommen erschöpften Eltern, die nach dem Brand obdachlos und ohne ausreichend Wasser, Nahrung, medizinische Versorgung auf der Straße lebten. Ich finde, dieses Leid ist beschämend für die europäische Gemeinschaft, der Menschenrechte so wichtig sind – uns sind die Menschenrechte wichtig –, und Sabi, ein Flüchtling aus Afghanistan, sprach gestern via Sprachnachricht im Europaparlament: Wir als Flüchtlinge haben gedacht, dass Menschenrechte in Europa respektiert werden. – Ja, das denken wir doch alle, meine Damen und Herren! Und genau darum geht es. ({3}) Wo bitte ist das freundliche Gesicht, von dem Angela Merkel einst sprach? Wo sind Humanität und Ordnung, von denen Herr Seehofer immer spricht? Ich sehe gerade nur Chaos und Leid, meine Damen und Herren. Und genau das ist das Problem. ({4}) Die Menschen von Moria brauchen sofortige Hilfe, und ja, sie müssen evakuiert werden in die europäischen Länder, die dazu bereit sind, nicht nur nach Deutschland.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom Kollegen Wendt?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. – Es klingt so, als ob sich Europa abschottet, nichts macht und als ob das ganze Leid, das dort passiert ist, uns überhaupt nicht interessiert. ({0}) Aber wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass allein innerhalb der letzten Woche drei Lkw-Hilfskonvois des Technischen Hilfswerks mit 450 Zelten, 15 000 Schlafsäcken, 2 000 Matten, 2 500 Decken usw. usf. dorthin fuhren? Wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass das DRK mit vielen ehrenamtlichen Helfern genauso wie das THW dort Hilfe vor Ort leistet, um die Bedingungen menschenwürdig zu gestalten? Finden Sie nicht, dass dieser Vorwurf, dass wir nichts tun, diese ehrenamtlichen Helfer ins Mark trifft? Und wäre es nicht zumindest ein Anerkenntnis wert, dass wir einen Ausgleich zur Humanität finden, indem wir Hilfe vor Ort leisten und von den Asylberechtigten, die Schutz brauchen, den ersten 408 Familien ihn hier in Deutschland gewähren? Wäre das nicht mal der Ehrlichkeit halber ein Wort in Ihrer Rede wert? ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz herzlichen Dank für die Frage. Meine Rede war ja noch nicht zu Ende. Aber dann kann ich das jetzt schon sagen. Ja, ich bin sehr, sehr froh, dass sehr viele Menschen ehrenamtlich helfen, und zwar Menschen, die Einheimische auf Lesbos sind, Menschen aus Griechenland, Menschen aus ganz Europa und auch aus Deutschland. Die Hilfsorganisationen, die Sie genannt haben, sind gerade in dieser Situation so zentral. Übrigens muss man aber auch sagen, dass viele der internationalen Hilfsorganisationen am Anfang dieses Jahres gesagt haben: Wir müssen uns dort zurückziehen, weil wir die Zustände – Zustände, die damals, vor dem Brand, in Moria geherrscht haben – nicht mehr akzeptieren können. Das ist die Aussage der Hilfsorganisationen über das alte Lager. Jetzt geht es um das neue Lager, und dieses neue Lager ist auch mitnichten eins, was so aussieht, wie wir beide wahrscheinlich es als normal und sinnvoll ansehen würden. Dort sind nämlich große Zelte aufgebaut. Unter Covid-Bedingungen sind die Leute sehr nah beieinander. Das geht gar nicht anders, weil sie, wenn sie sich zum Essen anstellen müssen, keinen Platz haben. Da ist Schotterboden, auf dem geschlafen werden muss. Ich bin froh über jedes Zelt, was da ist, froh über jede Essensversorgung, froh über jeden einzelnen Ehrenamtlichen, der sich dieser Situation aussetzt. Es heißt aber für mich trotzdem: Europäische Flüchtlingspolitik muss doch auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhen. Wir brauchen dringend einen Neuanfang. Wenn wir heute darüber reden, dann können wir auf der einen Seite darüber sprechen, wer wen aufnimmt, und auf der anderen Seite, wie wir wirklich menschenwürdige Bedingungen dort schaffen, wo sie jetzt so dringend gebraucht werden. Jeder, der dabei hilft, dem sage ich von Herzen Dank. ({0}) Deswegen will ich auch gerne auf die Aufnahmebereitschaft zurückkommen. Natürlich sind wir froh über die 1 500, die jetzt aufgenommen werden, über jeden einzelnen. Aber darüber hinaus erleben wir doch, dass Horst Seehofer hier sagt, es ginge nicht, dass Kommunen und die Länder Aufnahmebereitschaft erklärten, man könne so ein globales Problem nicht kommunal lösen. Auf Lesbos wohnen 85 000 Menschen, und da sind jetzt im Moment knapp 13 000 Geflüchtete. Das ist quasi eine Kommune, auf die wir all das im Moment abladen. ({1}) Deswegen sage ich: Das geht nicht. Und deswegen sage ich: Wir brauchen diese gemeinsame europäische Lösung, und die muss damit beginnen, dass wir dort, wo die Menschen ankommen, registrieren, dass Gesundheitschecks gemacht werden und dass die Menschen, die dort ankommen, dann auch europäisch verteilt werden, und zwar in einer Koalition der Willigen; denn diese Willigen gibt es. ({2}) Diese Verteilung muss so stattfinden, dass dann in den einzelnen Ländern unter rechtsstaatlichen Kriterien die Asylverfahren stattfinden –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und dass es schnelle Asylverfahren sind. Keine neuen geschlossenen Lager! Das halten weder die Geflüchteten aus noch die Einheimischen dort auf der Insel. Vielleicht noch eines ganz zum Schluss:

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das sind keine Bilder. Das sind Menschen. Es sind Menschen und ihr Schicksal mitten in Europa, auf das wir eigentlich stolz sind und seit 30 Jahren noch stolzer, seit der Eiserne Vorhang weg ist. Deswegen sage ich: Übernehmen wir gemeinsam Verantwortung und #LeaveNoOneBehind. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Es wurde vorhin angesprochen – ich glaube, von Ulla Jelpke –, dass das Innenministerium nicht da ist. Ich will sagen, dass Herr Seehofer für diese Debatte entschuldigt ist. ({0}) – Aber Herr Seehofer ist nicht da. Und Herr Seehofer hat sich entschuldigt, und das ist korrekt. Das wollte ich sagen. Nächster Redner: Michael Kuffer. ({1})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Unser Ansatz ist es in erster Linie, zu helfen: Hilfe in der Not und nach dem Maß der Not. Und eine schnelle und effektive Hilfe kann am ehesten vor Ort geleistet werden. Schon insofern zeigen Ihre beiden Anträge, dass es Ihnen und uns um völlig unterschiedliche Ziele geht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir wollen helfen. Sie wollen eine Ideologie und Ihre migrationspolitischen Fehlvorstellungen durchsetzen. ({0}) Wir wollen eine bessere Situation für die Menschen in Griechenland. Sie wollen ein anderes Deutschland. Das ist es, was Sie wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({1}) Übrigens ein Deutschland, dessen einmalige Hilfsbereitschaft Sie mit Ihrem Ansatz aufs Äußerste gefährden wollen; denn es gibt immer noch einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass wir in der Not helfen wollen. Aber diesen Konsens dürfen Sie nicht in einen Willen zur grenzenlosen Zuwanderung umdeuten. Dafür haben wir kein Mandat der Bevölkerung! ({2}) Sie wollen ein Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen, dessen Asylrecht Sie faktisch abschaffen mit dem, was Sie fordern. Sie sprechen in Ihrem Antrag darüber, dass wir alle 12 000 Personen aus Lesbos und auch alle Personen von den anderen griechischen Inseln aufnehmen sollen. Sie wissen schon, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass darunter eine große Anzahl von Personen ist, deren Asylantrag abgelehnt worden ist. Dieser Aspekt kommt in Ihren Überlegungen offenbar überhaupt nicht mehr vor. Diese Ihre Politik würde dazu führen, dass sich die Situation auf den griechischen Inseln nur kurzfristig verbessern und danach noch viel schlimmer werden würde.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kuffer, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, jetzt nicht. – Sie würde einen Pullfaktor setzen und dafür sorgen, dass sich genau jene Zustände wiederholen würden mit 25 000 Personen im Lager Moria, die seinerzeit die Regierung Tsipras verantwortet hat – ein Mitglied Ihrer Parteienfamilie, Frau Jelpke, der Europäischen Linken. Ihre Politik würde dazu führen, dass wir nicht nur das deutsche Asylrecht abschaffen, sondern auch das europäische Asylsystem auf Dauer beerdigen können, weil wir eine europäische Lösung endgültig unmöglich machen. Und sie würde dazu führen, dass wir ein noch viel größeres Problem für die Griechen schaffen würden: dass Brandstiftungen – und auch das muss man offen ansprechen – in solchen Unterkünften in Zukunft um ein Vielfaches wahrscheinlicher wären, anstatt sie in Zukunft zu verhindern. ({0}) Genau deshalb hat die griechische Regierung überdeutlich erklärt, dass sie die Menschen nicht von den Inseln runterbringen, sondern das Problem vor Ort lösen will. Auch darüber können wir nicht einfach hinweggehen. Sie können die Haltung der griechischen Regierung nicht einfach wegdiskutieren. Unter diesen Rahmenbedingungen und mit diesen Überlegungen meine ich, dass die Bundesregierung eine sehr menschliche und eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung getroffen hat. Ich sage es noch mal: Wir helfen vor Ort. Wir bemühen uns mit Nachdruck um eine europäische Lösung, die Sie unmöglich machen wollen. Und wir evakuieren die 400 Familien, bei denen dies Sinn ergibt, weil ihrem Asylantrag stattgegeben worden ist, weil kleine Kinder beteiligt sind und weil sicher ausgeschlossen ist, dass diese Menschen auch nur irgendetwas mit der Brandstiftung zu tun haben. Wir sagen klar: Wir helfen denen, die es am härtesten getroffen hat. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, heben wir den Blick über die abstrakten Zahlen auf konkrete Einzelfälle und auf Einzelschicksale. Wir machen die Situation von Menschen zu unserem Handlungsmaßstab und machen keinen Überbietungswettbewerb in Zahlen. Wer in so einer Situation nur über Zahlen redet und nicht über Schicksale, dem geht es nicht um echte Hilfe, sondern ausschließlich um Ideologie. ({1}) Wir wollen Verantwortung übernehmen; Sie wollen feilschen. In Richtung der AfD sage ich, Herr Gauland, aber auch ganz deutlich: Wer Flüchtlinge kollektiv als Brandstifter bezeichnet, ist selbst ein Brandstifter in der gesellschaftlichen Debatte. ({2}) Auch damit können Sie den nächsten Brand in einem Flüchtlingsheim provozieren, auch in einem in Deutschland; das sage ich Ihnen ganz ausdrücklich. Deshalb werden wir Ihre geistige Brandstiftung nicht zulassen. Der ganz überwiegende Teil der Menschen in Deutschland trägt Ihren Hass und den von Ihren braunen Gesinnungsgenossen und von Ihrem unerträglichen rechtsextremistischen Mob nicht mit. Die Bürger wollen, dass wir helfen, und deshalb unterstützen sie auch unseren Kurs aus der Kombination von Hilfe vor Ort und Aufnahme besonders hart betroffener Gruppen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Leute, denen ist es viel zu viel, was wir hier tun. Es gibt viele, die sagen: Es ist viel zu wenig, was wir hier tun. – Aber Fakt ist: Dass überhaupt etwas vorangeht, dass wir vor Ort helfen, dass knapp 3 000 Menschen aus Griechenland zu uns kommen, das ist einzig und alleine auf das Engagement und den Druck der SPD in dieser Bundesregierung zurückzuführen. ({0}) Und mehr als das: Wir dürfen nicht immer nur tätig werden, wenn es brennt – das ist ein Sprachbild, das traurige Realität geworden ist in der letzten Woche –, sondern wir brauchen langfristig tragfähige Lösungen. Diese Konzepte haben wir vorgelegt, und es ist gut, dass sie immer mehr Anhängerinnen und Anhänger finden. Die Bundeskanzlerin hat sich in der vergangenen Woche ebenfalls positiv dazu geäußert, dass wir die Asylzentren in Europa unter europäische Verantwortung stellen müssen. Wir müssen gemeinsam sicherstellen, dass europäisches Recht und europäische Standards sichergestellt werden. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Castellucci, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, bestimmt nicht. – Ein Wort an die rechten und an die konservativen Kollegen, auch in den anderen Ländern: Erkennen Sie, dass die Strategie der Abschreckung gescheitert ist! ({0}) Es ist ein Irrglaube, man müsse die Bedingungen für die Menschen nur so schlecht wie irgendwie möglich machen und dann würden sie nicht mehr weiterreisen. Die Wahrheit ist doch, dass die Bedingungen schon so elendig schlecht sind, dass die Menschen fliehen müssen. Ihre Strategie der Abschreckung führt nicht zu einer Lösung; sie produziert immer nur neues Leid. ({1}) Das Gegenteil ist richtig. Wir müssen die Bedingungen verbessern: in den Herkunftsländern, in den Ländern, durch die die Menschen reisen, und auch dort, wo sie ankommen. Das ist der Auftrag, der sich uns stellt. ({2}) Die SPD wird nicht lockerlassen, bis wir die Menschenwürde für alle Menschen sichergestellt haben. Wir wissen, dass es sich dabei um eine große Aufgabe handelt. Aber ich will Ihnen sagen: Natürlich kann man nicht immer und überall gleichzeitig helfen. Aber das darf niemals eine Entschuldigung dafür sein, nicht das zu tun, was in unseren Möglichkeiten liegt. ({3}) Deswegen rufe ich die Bundesregierung und uns alle zu noch stärkerem Engagement auf. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Monaten hier oft über die Lage in Syrien, im Irak und in der ganzen Region gesprochen. Leider muss man vorweg sagen: Die Lage bleibt außerordentlich ernst. Das hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass aufgrund der Coronapandemie beide Länder vor weitere Schwierigkeiten gestellt worden sind. Der „Islamische Staat“ hat die Pandemie genutzt, um seine Aktivitäten vor Ort wieder auszuweiten. Im Irak steigerte der IS die Zahl seiner brutalen Anschläge alleine im Frühjahr zeitweise auf das Niveau vom März 2018. In Syrien kommt es weiterhin zu durchschnittlich 100 Anschlägen im Monat. Darunter sind durchaus wieder vermehrt komplexe Angriffe mit vielen Opfern. Zudem erstarkt der „Islamische Staat“ zunehmend auch in regimekontrollierten Gebieten in Syrien erneut. Ein Grund für das Wiedererstarken des IS liegt darin, dass der regionale Verfolgungsdruck auf die Terroristen in den letzten Monaten wegen der Pandemie deutlich zurückgegangen ist. Das zeigt uns: Der IS mag in Syrien und im Irak keine zusammenhängenden Gebiete mehr kontrollieren, aber er ist nicht verschwunden und reagiert schnell auf neue Entwicklungen. Der IS bleibt eine Bedrohung für die Sicherheit der Region und damit auch eine Bedrohung der Sicherheit für uns in Europa. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Sorge um die Sicherheitslage: Die politische Bilanz der letzten Monate im Irak ist durchaus positiv. Dort regiert seit Mai mit Mustafa Al-Kadhimi ein neuer Premierminister, der in den ersten Monaten seiner Amtszeit die Probleme des Landes sehr engagiert angepackt hat. Innenpolitisch greift er die Forderungen der Protestbewegung auf, will Gewaltverbrechen gegen Aktivisten aufklären und hat auch vorgezogene Neuwahlen für das nächste Jahr angekündigt. Wirtschaftspolitisch verfolgt er eine ambitionierte Reformagenda. Regionalpolitisch – und das ist außerordentlich wichtig – fährt seine Regierung eine sehr, sehr konstruktive Linie. Sie zielt auf nationale Souveränität ab, sie betreibt regionalen Ausgleich und hält sogar ein Gleichgewicht zwischen den USA und dem Iran. Sicherheitspolitisch drängt der Premierminister auf die Stärkung des staatlichen Gewaltmonopols sowie ein noch entschiedeneres Vorgehen gegen den wiedererstarkten IS. Seine Regierung – auch das sollte nicht verschwiegen bleiben – handelt auch gegen Gruppierungen, die hinter Angriffen auf internationales Personal im Irak stehen. Das konnten wir selber feststellen, weil die irakischen Sicherheitsbehörden ganz intensiv dafür gesorgt haben, dass eine Deutsche, die dort gefangen genommen wurde, wieder befreit werden konnte. Damit einher gehen Fortschritte der irakischen Streit- und Sicherheitskräfte. Sie führen vermehrt eigenständige Operationen gegen den IS erfolgreich durch. Ihre Strukturen zur Aus- und Weiterbildung sind bereits in den letzten Monaten deutlich verbessert worden. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Mandatsantrag führt die Bundesregierung die deutschen Beiträge im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition und der NATO-Mission im Irak fort. Damit sichern wir das Erreichte und schaffen Grundlagen für die Zukunft. Das Mandat gibt gleichzeitig genug Flexibilität, um auf mögliche Auswirkungen der Coronapandemie erneut zu reagieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Neu?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Bitte.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Sie haben gerade die Leistungen der irakischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte hervorgehoben. Ihnen ist ja bekannt, dass es letzten Winter massive soziale Proteste im Irak gab, bei denen die Sicherheitskräfte mit dem Resultat eingesetzt wurden, dass es über 500 getötete Demonstranten gab. Meine Frage ist: Können Sie ausschließen, dass die Einheiten, die eingesetzt worden sind, von der Bundeswehr ausgebildet worden sind?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Ich beantworte grundsätzlich keine „Können Sie ausschließen?“-Fragen, aber ich kann Ihnen sagen, dass wir mit der irakischen Regierung – der irakische Außenminister ist gerade vor wenigen Tagen hier gewesen – intensiv darüber gesprochen haben und die irakische Regierung bzw. der neue Premierminister – ich habe das eben schon mal erwähnt – Verfahren in Gang gesetzt haben, die dafür sorgen sollen, dass diese Fragen beantwortet werden und dass diese Verbrechen, die an Demonstranten begangen worden sind, aufgeklärt werden. Wenn diese Aufklärung erfolgt ist, kann man sicherlich auch auf Ihre Frage noch eine konkretere Antwort geben. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei alldem ist vor allen Dingen zweierlei aus unserer Sicht ganz besonders wichtig, wenn es darum geht, dieses Mandat zu verlängern. Da wir ja im März die Aufklärungsflüge beendet haben, ist es im Übrigen auch möglich, die Mandatsobergrenze von 700 auf 500 Soldatinnen und Soldaten herabzusetzen. Es gibt zwei Dinge, die dabei ganz besonders wichtig sind und die die Debatten in diesem Hause auch immer geprägt haben: Erstens. Es ist der ausdrückliche Wunsch der irakischen Regierung, dass die Bundeswehr weiterhin im Irak präsent ist. Zuletzt hat mein irakischer Amtskollege vor wenigen Tagen hier in Berlin noch einmal sehr deutlich gemacht, wie sehr sein Land die deutsche und die internationale Unterstützung schätzt, und zwar zivil und militärisch. Er hat das auch gegenüber Vertreterinnen und Vertretern des Parlamentes deutlich gemacht. Zweitens bleibt das deutsche Engagement gegen den IS eingebettet in eine politisch-zivile Gesamtstrategie zur Stabilisierung der gesamten Region. Militärischer Druck alleine wird nicht ausreichen, um dem IS den Nährboden zu entziehen. Nur wenn die Menschen vor Ort auch wirklich spüren, dass ihre Lebensumstände besser sind als zuvor, dann verliert der IS ein für alle Mal seine Grundlage, auf der er seine Aktivitäten ausbreitet. ({1}) Daran arbeiten wir mit der neuen Regierung sehr intensiv. Deshalb hat Deutschland für die humanitäre Hilfe, für die Entwicklungszusammenarbeit und für Stabilisierungsprojekte in der Region bisher mehr als 2,2 Milliarden Euro bereitgestellt. Wir unterstützen aktuell weiter die Minenräumung und auch die Deradikalisierung. Wir fördern die Rückkehr und Reintegration von IS-Vertriebenen. Das schließt auch die konsequente Aufarbeitung der IS-Verbrechen ein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Vorbedingungen für zivilen Aufbau bleiben allerdings Sicherheit und Stabilität. Dem dient unser Einsatz als zuverlässiger Partner in der internationalen Anti-IS-Koalition und der NATO-Mission. Das entspricht auch der Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung, und es entspricht auch unseren eigenen sicherheitspolitischen Interessen. Deshalb bitte ich Sie um die Zustimmung für die Verlängerung des Mandates.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Minister, gestatten Sie noch eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Strack-Zimmermann?

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Ich bin gerade fertig. – Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um die gewünschte Unterstützung dieses Hauses für weitere Einsätze der Bundeswehr in den souveränen Staaten Irak und Syrien zu erhalten, führt die Bundesregierung in ihrem Antrag offensichtlich ehrbare Gründe an: Stabilisierung, Versöhnung, Selbstverteidigung, Völkerrecht. Die Menschen, die jahrelang unter der Terrorherrschaft von IS gelitten haben, – so steht es in der Begründung zu lesen – sehnen sich nach einer Perspektive. Sie benötigen Stabilität, funktionierende zivile Infrastruktur und Möglichkeiten, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu bestreiten. Meine Damen und Herren, das ist an Zynismus kaum noch zu überbieten. ({0}) Die Menschen im Irak und in Syrien hatten einmal Stabilität, funktionierende zivile Infrastruktur und Möglichkeiten, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu bestreiten. Ihre Lebensgrundlage wurde nicht vom „Islamischen Staat“ zerstört. Im Falle des Iraks war es vielmehr ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg einer Koalition der Willigen, allen voran der USA, mit der moralischen Unterstützung der damaligen Oppositionsführerin und heutigen Kanzlerin Angela Merkel. Im Falle Syriens ist es die seit Jahren andauernde Destabilisierung und Zerstörung des Landes durch militärische Ausbildung von Kämpfern, das Einschleusen von Söldnern und ausländischen Soldaten, die Bereitstellung von Luftbildern und Waffen für Angriffe auf syrische Infrastruktur, Polizei und Militär. ({1}) In der amerikanischen Presse wird teils ganz offen darüber berichtet. Die Streitkräfte Syriens und der Russischen Föderation kämpfen dort nicht seit Jahren gegen ein Vakuum, ihnen stehen nicht etwa ein paar Halbstarke oder eine demokratische Opposition gegenüber, sondern ein Bündnis von Staaten aus der Region und dem Westen, das dort, koste es, was es wolle, einen Regierungswechsel herbeiführen will. Das aber erwähnt die Bundesregierung in ihrem Antrag nicht. Man liest auch in den deutschen Medien kaum davon. Stattdessen heißt es, ein Bürgerkrieg sei ausgebrochen, so wie es gelegentlich zu Gewittern kommt. Im Falle des Iraks scheinen die Gründe für Militäreinsätze sogar beliebig austauschbar zu sein: erst angebliche kuwaitische Babys, die aus den Brutkästen gerissen werden; dann angebliche Massenvernichtungswaffen und nun kollektive Selbstverteidigung. Der Westen dürfe nicht nur zuschauen, ist gelegentlich ebenfalls zu hören. Seien Sie versichert, meine Damen und Herren, der Westen schaut dort schon lange nicht mehr zu. Er macht sich die Hände schmutzig. Und noch schlimmer: Er lässt die wirkliche Drecksarbeit von anderen verrichten. ({2}) Wir erleben seit Jahrzehnten eine brutale militärische Neuordnung des Nahen Ostens. Die Opfer der drei Golfkriege, der Kriege in Libyen und Syrien gehen in die Millionen. Die Kriege werden dort nicht im Interesse der Menschen geführt, sondern auf ihrem Rücken und über ihre Leichen. Frau Ministerin, statt sich mit weiblichen Dienstgradbezeichnungen zu beschäftigen und eine Hexenjagd auf das Kommando Spezialkräfte und andere verdiente Soldaten zu orchestrieren, hätten Sie gut daran getan, sich den wirklichen Aufgaben Ihres Ministeriums zu widmen. ({3}) Vielleicht hätte die Regierung dann einen Antrag erarbeitet, der im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen in der Region auf eine politische Lösung der Konflikte unter Einbeziehung aller relevanten Akteure abgezielt hätte. Vielleicht wäre dann nicht ein solch zynischer Antrag entstanden, der die militärische Eskalationsspirale weiterdrehen und unseren Soldaten sowie der Bevölkerung dazu auch noch Sand in die Augen streuen will. Wir als AfD werden das auf gar keinen Fall mitmachen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bei der Rede des Kollegen sind mir noch einmal die Bilder durch den Kopf gegangen von getöteten und verletzten Zivilisten, von Kindern, die von den damaligen – über die Sie eben gesagt haben: so guten – Regierungen in Syrien und im Irak mit Giftgas malträtiert und um ihr Leben gebracht worden sind. Das ist nicht das, was sich Menschen unter sicherem und freiem Leben vorstellen. ({0}) Deswegen ist es richtig, dass wir vor Ort engagiert sind. Ich habe am Dienstag dieser Woche ebenso wie mein Kollege Heiko Maas ein langes Gespräch mit dem irakischen Außenminister Fuad Hussein geführt, um gerade im Vorfeld dieser Debatte noch einmal ausführlich über die Lage im Irak zu beraten. Er hat mir seinen Dank übermittelt für das, was Deutschland, was unsere Soldatinnen und Soldaten in seinem Land, gerade auch im kurdischen Norden, geleistet haben und leisten. Diesen Dank übermittle ich hiermit gerne an Sie. Wer sich mit der Situation vor Ort befasst und wer den Betroffenen zuhört, der erkennt: Unsere Aufgabe dort, die Aufgabe der Bundeswehr ist noch nicht beendet. Und es ist der ausdrückliche Wunsch der irakischen Regierung, dass wir unser Engagement vor Ort fortsetzen. Minister Hussein hat vom langfristigen Kampf gegen den IS gesprochen – eine Einschätzung, die alle Experten teilen, eine Einschätzung, die auch ich teile; denn auch wenn der IS in der Fläche zurückgedrängt ist, ist er nach wie vor aktiv und nach wie vor gefährlich, und er ist bei Weitem noch nicht besiegt. ({1}) Und mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es besonders wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass wir mit diesem Einsatz nicht nur anderen zu Hilfe kommen. Er dient unserer eigenen Sicherheit, auch hier in Deutschland und in Europa; denn dass Instabilität und Krieg in dieser Region auch bei uns Folgen haben, ist hinlänglich bekannt. Wir müssen den Terror dort bekämpfen, wo er entsteht. Aus diesem Grund ersuchen wir Sie, den Deutschen Bundestag, heute um die Verlängerung des Mandates für den Einsatz der Bundeswehr zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung des Irak. Es bleibt unser Ziel, gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten zur Stabilisierung der Gebiete, die der IS einst beherrschte, beizutragen. Mit unserem Einsatz setzen wir auch genau da ein Signal. Die verbliebenen Kämpfer des IS sollen und müssen wissen, dass wir entschlossen an der Seite unserer Partner stehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Strack-Zimmermann?

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Gerne. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Ich will Sie lediglich deshalb fragen, weil der Bundesaußenminister, der eigentlich dafür zuständig ist, in Deckung gegangen ist, als ich zur Frage anhob. Wir sind ja bei dem Irak-Mandat, das wir als Ganzes gesehen haben, immer davon ausgegangen, dass in Jordanien – der IS ist eben nicht erfolgreich bekämpft und hat sich durch Corona wieder ausbreiten können – als Nachfolge der Tornado-Flotte die Italiener aktiv sind. Bis heute ist das nicht so. Könnten Sie noch etwas dazu sagen, warum das so ist; denn damit ist die Geschäftsgrundlage, dass die Tornados abgezogen werden, nicht mehr gegeben.

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Wir sind uns mit den Italienern einig und sind auch weiter mit ihnen im Gespräch. Es gibt auch die grundsätzliche Zusage der italienischen Seite, für uns dort diese Aufgabe zu übernehmen. Sie ist allerdings bisher, auch wegen der Coronasituation in Italien selbst, noch nicht umgesetzt worden. Ich habe vor Kurzem beim Treffen der EU- und der NATO-Verteidigungsminister hier in Berlin auch noch einmal mit dem italienischen Kollegen darüber gesprochen. Und lassen Sie mich sagen, dass wir vor Ort mittlerweile ein bodengestütztes Radar einsetzen und so unsere weiteren Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Insofern ist auch unser Einsatz in Jordanien weiter erforderlich und weiter zu unterstützen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Entschlossenheit, von der ich eben gesprochen habe, hat schon viel bewirkt. Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte zeigen im Kampf gegen den IS ein zunehmendes Maß an Eigenständigkeit, an Professionalität, an Zielstrebigkeit. Das gilt insbesondere für die kurdischen Sicherheitskräfte im Nordirak. Ein Beispiel für diesen Fortschritt ist die Übergabe von Ausbildungsstandorten in die alleinige Verantwortung der dortigen Kräfte. Die Konsequenz daraus ist: Die Menschen, die viele Jahre lang unter der unerträglichen und mörderischen Herrschaft des IS gelitten haben, sehen wieder eine Perspektive. Jetzt – und das ist eine der größten Aufgaben, der sich der Irak gegenübersieht – geht es darum, für die Binnenflüchtlinge eine Perspektive zu entwickeln, dass sie in ihre angestammten Regionen zurückkehren können. Damit wir das absichern, müssen wir mit Training und Ausbildung für die irakischen Kräfte im gesamten Spektrum – zivil und militärisch – weiter unseren Beitrag leisten. ({0}) Das bedeutet im Anteil „Counter Daesh“, dass wir mit Luftbetankung, Lufttransport, Luftraumüberwachung, bodengestützt, und Lagebilderstellung für unsere Koalitionspartner weiter tätig sind. Zum Anteil „Capacity Building Iraq“ gehört die Hilfe von Fähigkeitsaufbau im Nord- und im Zentralirak. Dieser Fähigkeitsaufbau findet unter anderem als Teil der NATO-Mission statt, die den irakischen Sicherheitssektor auf institutioneller und strategischer Ebene berät und unterstützt. Deutschland wird noch in diesem Monat die ersten zwei Stabsoffiziere nach Bagdad entsenden, die dort das NATO-Engagement verstärken werden. Im Mandatszeitraum wird der deutsche Beitrag zur NATO-Mission dann angepasst werden. Wie Sie wissen, haben wir die Ausbildungstätigkeit für Sicherheitskräfte wegen Corona vorläufig ausgesetzt. Wir werden sie nach sorgfältiger Prüfung der Pandemiebedingungen vor Ort zu gegebener Zeit und in Absprache mit allen Partnern wieder aufnehmen. Wir werden all dies in den kommenden Monaten mit einer reduzierten Mandatsobergrenze leisten können: Statt 700 Soldatinnen und Soldaten wird nun eine Mandatierung von 500 Bundeswehrangehörigen ausreichen. Diese Reduktion um 200 wird möglich sein, weil wir zwischenzeitlich auch den Luftaufklärungseinsatz mit Tornado-Flugzeugen beendet haben. Lassen Sie mich an dieser Stelle all jenen herzlich danken, die in den vergangenen Monaten und Jahren im Einsatzgebiet in unterschiedlicher Funktion ein herausragendes Engagement gezeigt haben. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist besonders wichtig, dass wir uns in der Koalition – und dafür möchte ich mich bedanken – für dieses Mandat auf eine geplante Laufzeit von 15 Monaten, bis zum 31. Januar 2022, einigen konnten. Das ist sinnvoll und zusammen mit der inhaltlichen Festlegung deshalb notwendig, weil wir gerade sehr viele Entwicklungen im Irak sehen: den strategischen Dialog zwischen dem Irak und den Vereinigten Staaten, die angekündigten Truppenreduzierungen der US-Seite, das stärkere Engagement der NATO – der Außenminister des Iraks hat gerade gestern dazu mit der NATO Gespräche geführt –, die Coronabedingungen, unter denen wir im Moment die Einsätze fahren. All das macht deutlich, dass unser Engagement vor Ort möglicherweise in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder ein Stück angepasst wird. Das Mandat ist so flexibel, dass es dies ermöglicht. Ich finde, es wäre für unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort auch keine gute Botschaft, wenn die Frage der Fortsetzung ihres Einsatzes und der Planungssicherheit womöglich in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen im Bundestagswahlkampf geriete. Deswegen bin ich dafür sehr dankbar. Unser heutiger Antrag ist auch ein Signal für Sie alle – für das deutsche Parlament –, ein Signal der Verlässlichkeit an die Bundeswehr, an die Parlamentsarmee zu senden. Die Soldatinnen und Soldaten, denen wir diese Mission anvertrauen, schauen auf den Bundestag mit der Erwartung, ein klares Mandat zu erhalten, das ihnen Rechtssicherheit und politische Rückendeckung gibt und das damit auch ihren gesellschaftlichen Rückhalt stärkt. Bei meinen Gesprächen in der Truppe höre ich immer wieder, wie wichtig es unseren Soldatinnen und Soldaten ist, dass sie hier mit voller Unterstützung der Politik agieren können. Es gibt viele gute Gründe, unserem Antrag auf Mandatsverlängerung zuzustimmen. Unser eigener Anteil an der Stabilisierung des Iraks ist vielfältig. Zusammen mit den internationalen Partnern vernetzen wir zivile und militärische Maßnahmen. In diesem Sinne lohnt es sich, diese Arbeit fortzusetzen, und ich darf Sie um Ihre Unterstützung bitten. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, zu überprüfen, ob Sie schon von Ihrem Abstimmungsrecht Gebrauch gemacht haben. Es läuft noch fünf Minuten die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/22579 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/22264 und die namentliche Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/22679. In fünf Minuten wird die Abstimmung geschlossen. Wir fahren in der Beratung fort. Das Wort hat der Kollege Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schrecklichen Taten, die der IS in Syrien und im Irak verübt hat, übersteigen nach wie vor jegliche Vorstellungskraft. Erst vor rund eineinhalb Jahren wurde die territoriale Macht des IS in seinen letzten Hochburgen gebrochen. Dazu haben die multilateralen Einsätze der Vereinten Nationen und der NATO einen überaus wichtigen Beitrag geleistet. Unser Dank gilt an dieser Stelle den mutigen Menschen vor Ort sowie den internationalen Einsatzkräften, die dem menschenverachtenden Kalifat ein Ende bereitet haben. ({0}) Es ist unvorstellbar, meine Damen und Herren, in welcher Situation wir uns heute befinden würden, wenn man damals diese Terrororganisation nicht gestoppt hätte. ({1}) Der Einsatz hat sich bewährt, das sogenannte Kalifat existiert so nicht mehr. Das Einflussgebiet des IS hat sich sowohl in Syrien als auch im Irak wesentlich verkleinert, und die Organisation agiert nun hauptsächlich aus dem Untergrund heraus. Allerdings ist die Gefahr noch lange nicht vorbei; das belegt auch die hohe Anzahl an Anschlägen. Seit Oktober des vergangenen Jahres gibt es Massenproteste im Irak, Anfang 2020 kam, bedingt durch die Coronapandemie, die Arbeit der internationalen Einsatzkräfte vor Ort zum Erliegen. Meine Damen und Herren, das entstandene Vakuum ist vom IS genutzt worden. Diese Terrororganisation ist nach wie vor nicht nur eine Bedrohung für Irak und Syrien, sondern für uns in Deutschland und in ganz Europa; darüber müssen wir uns im Klaren sein. ({2}) Wer – das gilt sowohl für links als auch für rechts – zum jetzigen Zeitpunkt das Ende des Mandats und damit das Ende des Engagements im Irak fordert, handelt unverantwortlich, meine Damen und Herren. ({3}) Natürlich muss Deutschland einen Beitrag im Kampf gegen Gewalt und Terror leisten, insbesondere vor der eigenen Haustür und insbesondere dann, wenn sich deutlich abzeichnet, dass sich die Amerikaner nicht mehr als Schutzmacht Europas verstehen und ihr Engagement in für Deutschland relevanten Regionen wie dem Nahen Osten reduzieren. Das wird sich übrigens, meine Damen und Herren, auch nach der US-Präsidentschaftswahl nicht ändern. Ziel unserer Außen- und vor allem Sicherheitspolitik muss also sein, Verantwortung für die eigene Sicherheit und die eigenen Interessen zu übernehmen und zu verhindern, dass außenpolitische Probleme schließlich zu innenpolitischen Problemen werden; das ist unsere Zielsetzung. Beim Irak geht es nicht nur um die Sicherheit der Region; der Irak ist ein Schlüsselstaat für die Stabilität im Nahen Osten und damit auch ein Schlüsselstaat für die Sicherheit Deutschlands und Europas. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns vor Ort weiter engagieren und den Irakerinnen und Irakern mit unseren Einsatzkräften zur Seite stehen – solange ihre Regierung darum bittet. Eins dürfen wir in dieser Debatte allerdings nicht vergessen, meine Damen und Herren: Mit einem potenziellen Sieg über den IS ist die Arbeit im Irak noch lange nicht getan. Gerade in den letzten Monaten beobachten wir eine erschreckende Serie von Mordanschlägen gegen zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten. Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ein letzter Gedanke.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Satz.

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– Letzter Satz. – Die Bundesregierung sollte den neuen Ministerpräsidenten al-Kadhimi im Rahmen des vernetzten Ansatzes bei seinem Kampf gegen Korruption und militante Gruppen politisch unterstützen. Der Irak, meine Damen und Herren, darf nicht scheitern. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Dr. Alexander S. Neu das Wort. ({0})

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung möchte also weiterhin an dem Einsatz der Anti-IS-Koalition teilnehmen – ein Einsatz, der in unseren Augen nicht nur politisch, sondern auch rechtlich höchst fragwürdig ist und war. Wie sieht die politische Situation im Irak aus? Sie wurde gerade beschrieben. Etwas wurde vergessen: Die Bundeswehr bildet irakische Kräfte, kurdische Kräfte aus. Es gab letzten Winter massive soziale Proteste – die wurden durch die Sicherheitskräfte niedergeschlagen – mit etwa 500 Toten. Es gab daraufhin eine bescheidene Reaktion des Auswärtigen Amtes, eine Pressemitteilung, in der die irakische Regierung deswegen kritisiert und Aufklärung eingefordert wurde. Zehn Monate später wird im Rahmen dieses Antrages erneut Aufklärung eingefordert. Mit anderen Worten: In diesen zehn Monaten ist nichts passiert. Es handelt sich lediglich um Appelle der Bundesregierung, wachsweiche Appelle, an die irakische Regierung. Es gab auch keine Hinweise, ob die Streitkräfte oder die Sicherheitskräfte, die an dieser Niederschlagung beteiligt waren, von der NATO oder von der Bundeswehr ausgebildet worden sind – auch Fehlanzeige; nichts davon im Antragstext! Das fällt alles unter den Begriff „Kollateralschäden im Kampf um Einflusszonen“. Irakische Demonstranten sind halt keine weißrussischen Demonstranten; so muss man das festhalten. Kommen wir zu Syrien. Auch hier handelt es sich um ein völkerrechtswidriges, ja geradezu rechtsnihilistisches Verhalten der Anti-IS-Koalition, nämlich die Verneinung der syrischen Souveränität. Da die Regierung in den Augen des Westens eben nicht legitim an der Macht ist, spricht man Syrien die Souveränität ab. Das zieht sich konsequent durch den Mandatstext. Es gibt kein Wort zu dem rechtswidrigen Eroberungskrieg der Türkei in Nordsyrien, ein Okkupationskrieg, eventuell sogar eine Annexion nordsyrischer Gebiete, einhergehend mit ethnischen Säuberungen der dortigen Bevölkerung. Kein Wort dazu im Antragstext! Kein Wort zur rechtswidrigen Besetzung ölreicher ostsyrischer Gebiete durch die USA! Nichts dazu im Antragstext! Stattdessen ein lautes Schweigen der Bundesregierung oder die abenteuerlichsten Rechtsinterpretationen, warum das doch irgendwie noch in Ordnung geht. Auch hier muss man festhalten: Es handelt sich um Kollateralschäden im von Trump ausgerufenen und von der Bundesregierung mitgetragenen Kampf der Großmächte. Wo gehobelt wird, fallen halt auch Späne. ({0}) Sehr geehrte Damen und Herren, wer den Zustand in Syrien ernsthaft beklagt, vor allem moralisch, muss eben auch die Unterstützung für die Islamisten beenden und die EU-Sanktionen aufheben. Alles andere ist nämlich Scheinmoral, ein in Deutschland zumindest weitverbreitetes Phänomen, auch in diesem Haus. EU-Sanktionen verhindern nämlich den wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens und sind mit ursächlich dafür, dass viele Menschen aus Syrien flüchten, auch nach Europa. Daher fordert Die Linke die Beendigung der EU-Sanktionen und den Abzug aller militärischen Präsenzen aus Syrien. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Zeit für die zwei namentlichen Abstimmungen ist abgelaufen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches sich bisher an der Stimmenabgabe gehindert sah? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmungen und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung zu der Rede des Kollegen von der AfD: Ja, der Irakkrieg, den George W. Bush ausgelöst hat, basierte auf Lügen, war verheerend und rechtswidrig. Aber das, was Sie gerade hinsichtlich der Stabilität in der Zeit davor beschrieben haben, sorgt, ehrlich gesagt, dafür, dass mir einfach speiübel wird. Am 16. März 1988 hat Saddam Hussein mit einer Giftgasattacke in Halabdscha bis zu 5 000 Kurdinnen und Kurden, alle Zivilisten, einfach umgebracht. Ihr Stabilitätsbegriff ist ekelerregend. ({0}) Meine Damen und Herren, in der Auseinandersetzung mit ISIS haben wir in den letzten zwölf Monaten viele Rückschläge erlitten. Die Lage in Syrien ist weit schlechter geworden. Es gibt jetzt 4 000 bis 6 000 Menschen, die unter ISIS als Milizen unterwegs sind. Es ist richtig, was der irakische Außenminister gesagt hat: Der IS ist territorial nicht stark, aber weit entfernt davon, besiegt zu sein. – Aber wir erleben ja gerade, beispielsweise im Osten Syriens, wie sich in al-Haul 11 000 Menschen, die ISIS-Angehörige waren, weiter radikalisieren. Und wir hören seit so langer Zeit die Hilferufe der kurdischen Milizen, die sagen: Nehmt wenigstens eure Staatsbürgerinnen und Staatsbürger da weg. – Das heißt: Wenn wir etwas dagegen tun wollen – denn wir alle wissen, was uns bevorstehen kann, wenn al-Haul tatsächlich von den Dschihadisten invadiert wird –, dann bitte ich Sie, hoffentlich zum letzten Mal, dringend: Holen Sie wenigstens die deutschen Staatsbürger dort raus; denn wir wissen, was dort droht. Das wäre ein Riesenrückschlag, wenn diese Leute tatsächlich am Ende von ISIS befreit würden. ({1}) Auch im Irak ist die Lage hoch dramatisch. Wir erleben seit Beginn des Jahres, dass ISIS wieder stärker wird, auch durch Covid. Deshalb wissen wir, dass eine Reform des Sicherheitssektors im Irak dringend erforderlich ist. Und wir wissen, dass im Grundsatz auch die Bundeswehr dort gebraucht werden würde. Ich möchte zwei Gründe benennen, warum ich meiner Fraktion dennoch nicht empfehlen kann, diesem Mandat zuzustimmen: Das eine ist: Die Frau Ministerin hat völlig zu Recht gesagt, es braucht eine sichere Rechtsgrundlage. Wir haben immer noch kein System kollektiver Sicherheit. Wir haben immer noch eine Koalition der Willigen, und das wird auch nicht besser, wenn jetzt Teile der Mission im NATO-Rahmen verlaufen. Das ist einfach keine verfassungsfeste Rechtsgrundlage, die Sie hier vorlegen. ({2}) Das Zweite ist: Die Befehlskette ist brüchig. Wir haben mit Mustafa al-Kadhimi einen Ministerpräsidenten, der sehr viel Gutes will und sehr viel Gutes für das Land tut, aber nicht wirklich vorankommt. Wir haben dieser Tage erlebt, dass die moralische Instanz im Land, al-Sistani, eingefordert hat: Diejenigen, die Verbrechen gegen die Zivilgesellschaft begangen haben, sollen zur Rechenschaft gezogen werden, damit das Land endlich unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden kann und das Gewaltmonopol wiederhergestellt wird. – Wir erleben permanent, dass die Volksmobilisierungseinheiten von der irakischen Regierung finanziert werden, aber vom Iran aus geführt werden. Das ist in diesem Jahr weit schlimmer geworden. Deshalb stellt sich die Frage – es gibt so viele Vorfälle, wie wir in Bagdad gesehen haben, auch in diesen Tagen, auch mitten in der Green Zone –, ob es sinnvoll ist, unter diesen Umständen ohne jegliche Sicherheitsgarantie auszubilden, ohne dass man weiß, wofür man diese Leute ausbildet und auf welcher Seite sie am Ende stehen. Deshalb kann ich meiner Fraktion zum jetzigen Zeitpunkt nicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen. Es ist dringend notwendig, ISIS zu bekämpfen, auch militärisch. Aber es braucht eine Rechtsgrundlage, und es muss auch klar sein, gerade bei den Reformen des Sicherheitssektors, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nouripour, achten Sie bitte auf die Zeit.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– wofür wir ausbilden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Erndl das Wort. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soldatinnen und Soldaten! Der Irak ist auf einem sehr schwierigen, aber auf einem guten Weg. Vor fast genau sechs Jahren begann der grausame Feldzug des „Islamischen Staates“. Der Genozid an den Jesiden, das verwüstete Mosul, die Flucht Hunderttausender: Diese Bilder bleiben schrecklich und unvergessen. Sechs Jahre danach gibt es heute positive Entwicklungen in der Region, und das hängt ganz entscheidend mit dem Engagement der internationalen Gemeinschaft und Deutschlands zusammen. Ich möchte an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den vielen zivilen deutschen Helfern im Irak herzlich danken. ({0}) Was sind nun die positiven Entwicklungen im Irak, und warum bleibt es ein schwieriger Weg? Erstens. Der Irak hat eine neue, eine engagierte Regierung um Premierminister al-Kadhimi. Das ist positiv. Sie hat das Potenzial, wichtige Impulse zur wirtschaftlichen Entwicklung und für Reformen zu geben. Allerdings steht die Regierung massiv unter Druck, weil die Milizen Teherans immer aggressiver auch im Umfeld der Regierung vorgehen. Wir müssen diese neue Regierung gerade jetzt unterstützen und ein verlässlicher Partner bleiben. Zweitens. Das irakische Militär stellt sich neu auf. Das ist positiv. Viele wichtige Posten im Sicherheitsapparat wurden mit erfahrenen und fähigen Leuten besetzt. Mit diesen müssen wir jetzt eng kooperieren, um die bisherigen Erfolge im Kampf gegen den Terror zu sichern. Im neuen Mandat können wir endlich auch im NATO-Verbund ausbilden. Und es ist gut, dass unser Koalitionspartner dem zugestimmt hat, sodass wir auch hier Multilateralismus konkret in die Tat umsetzen können. Drittens – und das bleibt der schwierige Aspekt –: Die Lage im Irak ist weiterhin sehr fragil. Die bisherigen Erfolge sind noch nicht gesichert. Die Terrororganisation IS war in den letzten Monaten leider nicht in Quarantäne. Im Gegenteil: Sie wütet im Untergrund weiter – das kann nicht oft genug betont werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern in der Anti‑IS-Koalition den Druck auf den „Islamischen Staat“ aufrechterhalten. Meine Damen und Herren, der Nahe Osten liegt vor unserer Haustür. Die Entwicklungen dort betreffen uns direkt hier in Deutschland. Deshalb bleibt das Mandat im Irak wichtig und richtig – für die Sicherheit im Nahen Osten, aber auch für uns hier in Europa. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir haben heute den ganzen Tag über europäische Souveränität und europäische Solidarität gesprochen. Aber diese europäische Souveränität und europäische Solidarität kann es schwer geben, wenn das größte Land, das auch gerade noch die Ratspräsidentschaft innehat, bei einem zentralen europäischen Infrastrukturprojekt, Nord Stream 2, selbst nicht europäisch denkt und handelt. ({0}) Diese Gaspipeline Nord Stream 2 spaltet Europa. Die Pipeline untergräbt die strategische außenpolitische Souveränität, und sie konterkariert die europäischen Klima- und Energieziele. ({1}) Und dass Sie ohne Not diese Pipeline fünf Jahre lang durchpreschen – die SPD fühlt sich ja gleich angesprochen –, ({2}) gegen den Willen unserer osteuropäischen Nachbarländer, das ist wirklich fatal. ({3}) Sie bedauern hier ständig, gerade in den letzten Tagen, die dramatischen Entwicklungen in Belarus – es scheint Sie ja wirklich stark zu belasten, dass Sie solche Entscheidungen getroffen haben –, den Krieg in der Ukraine, die Bombardierung in Syrien von Krankenhäusern und von Schulen, Giftanschläge auf russische Oppositionelle. Aber zeitgleich konterkarieren Sie mit Ihrer politischen Unterstützung dieser Pipeline jegliche Sanktionen gegen Russland und unterstützen über den Gaskonzern Gazprom auch noch den Kreml mit Milliardeneinnahmen. ({4}) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, die sich hier offensichtlich besonders angesprochen fühlt, entziehen Sie dieser Pipeline endlich ({5}) Ihre politische Unterstützung. ({6}) Jetzt ist der Moment gekommen, Farbe zu bekennen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Denn Sie haben noch ein paar Tage Zeit. ({7}) Anders als Sie es hier letzte Woche dargestellt haben, ist diese Gaspipeline nicht durchgenehmigt. Es steht immer noch die Prüfung der Entflechtungsvorgabe der europäischen Gasrichtlinie aus. Das ist europäisches Recht; das müssen auch Sie als SPD anerkennen. ({8}) Denn die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde muss nach wie vor die Zuverlässigkeit dieser Pipeline bestätigen. Das steht nach wie vor aus. ({9}) – Ich müsste weniger laut sprechen, wenn Sie an dieser Stelle vielleicht einmal zuhören würden. ({10}) Man fragt sich angesichts eines Mordanschlages auf einen russischen Staatsbürger und des russischen Agierens in Bezug auf Belarus derzeit wirklich, ob Sie diesem russischen Staatskonzern wirklich Ihr Vertrauen aussprechen sollten. Dass es nicht im Sinne der Nord Stream AG ist, sich an europäische Regeln zu halten, wird ja dadurch deutlich, dass man das Unternehmen nicht in der EU registriert hat, sondern im Steuerparadies Zug in der Schweiz. Wenn Sie jetzt wieder damit kommen, das sei ja alles eine europäische Angelegenheit, bei der wir rein national nichts machen könnten, möchte ich Ihnen noch mal verdeutlichen: Sie haben die Verantwortung dafür, dass Nord Stream 2 zu einer rein deutschen Entscheidung gegen die Interessen der europäischen Mitgliedstaaten geworden ist. ({11}) - 26 von 27 Mitgliedstaaten wollten diese Gaspipeline nicht. Die Kanzlerin höchstpersönlich musste auf Herrn Macron zugehen, ({12}) damit im Winter 2019 keine Entscheidung auf europäischer Ebene getroffen wurde, sondern eine Sonderentscheidung, ({13}) dass Nord Stream 2 rein national reguliert wird. Deswegen sind Sie dafür verantwortlich, jetzt zu entscheiden: Diese Pipeline darf es nicht geben. ({14}) Diese Pipeline ist nicht nur eine Wette gegen die europäischen Klimaziele, weil Sie diesbezüglich von einem höheren Gasbedarf ausgehen; sie destabilisiert auch die Ukraine. ({15}) Wenn Sie nämlich nicht zusätzliches Gas abnehmen wollen, dann wird die Ukraine-Leitung abgeschaltet. ({16}) Die entsprechende Verpflichtung besteht nur noch bis 2024. ({17}) Und jetzt kommen Sie hier die ganze Zeit mit Klimaschutz. Ich konnte meinen eigenen Augen nicht trauen, als ich in der Zeitung las, dass der Bundesfinanzminister der SPD ({18}) jetzt gesagt hat: Wir bieten Herrn Trump 1 Milliarde Euro dafür, dass in Zukunft nicht nur russisches Gas kommen kann, sondern auch noch Fracking-Gas aus den USA. ({19}) Das konterkariert nicht nur die EU-Klimaziele, das konterkariert eine souveräne Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Baerbock, kommen Sie bitte zum Schluss.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Wenn Sie Europa nicht schweren geostrategischen Schaden zufügen wollen, dann stimmen Sie heute für unseren Antrag, und seien Sie nicht so feige, ihn zu überweisen. ({0}) Nächste Woche entscheidet der Rat über diese Pipeline, und der Bundestag sollte dazu Position beziehen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Baerbock, Sie haben sich mit Ihrem Antrag schlicht und ergreifend verrannt. ({0}) Erstens ist es ja so, dass ich so einen speziellen Antrag noch nie gesehen habe: ein einziger Satz, ({1}) einfach so ohne Begründung. Es gibt keine Erklärung: Geht es um Außenpolitik, geht es um Wirtschaftspolitik, geht es um Menschenrechte? Jetzt weiß ich ja, worum es Ihnen geht; ({2}) aber vorher wusste ich es jedenfalls nicht. Der Satz lautet, man fordere dazu auf, „dass sich die Bundesregierung umgehend von der Pipeline Nord Stream 2 distanziert und die Fertigstellung über geeignete Maßnahmen verhindert“. ({3}) Ist das jetzt nur Ignoranz, oder ist das Faulheit? ({4}) Es gibt keine Erklärung, nichts dazu. Jetzt muss man mal fragen: Worum geht es Ihnen? ({5}) Wir sind ja in der Woche der Nachhaltigkeit. Geht es Ihnen um die Nachhaltigkeit? Das kann wahrscheinlich nicht sein. Ist es wirklich hilfloser Aktionismus? 10 Milliarden Euro sind in die Trasse geflossen. 97 Prozent sind fertig. ({6}) 1 230 Kilometer sollen gebaut werden. 150 Kilometer sind noch offen, 30 Kilometer auf der deutschen Seite. Soll das jetzt alles auf dem Meeresgrund der Ostsee vergammeln, ({7}) das Material, die Investitionen, die Steuergelder? Ich glaube, hier müssen Sie noch mal überlegen. ({8}) Zweitens. Wenn es Ihnen um Außenpolitik gehen sollte, ist es dann ein überlegtes Vorgehen? Nein. Schadet man Russland damit, was Sie ja wollen? Natürlich nicht. Sind Sanktionen generell in der Außenpolitik – ich bin kein Außenpolitiker – die richtige Antwort, wenn Diplomatie versagt? Die bisherigen Sanktionen, die wir über Jahre und Jahrzehnte hatten, geben eine deutlich Antwort: Sie sind nicht das richtige Mittel. ({9}) Sanktionen ersetzen keine besonnene Außenpolitik. ({10}) Wie sehen denn die Antworten aus? 50 Prozent unseres deutschen Gasimportes kommen aus Russland. 40 Prozent des deutschen Ölimportes kommen aus Russland.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Koeppen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Koeppen, Sie haben gerade behauptet, dass bei einer Nichtfertigstellung des Projektes Steuergelder – ich vermute, Sie meinen deutsche Steuergelder – verloren gehen würden. ({0}) Bisher hat die Regierung uns gegenüber immer gesagt, es sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt. ({1}) Ich möchte Sie gerne fragen: Welche Steuergelder sind denn bisher in dieses Projekt geflossen, die dann auf dem Meeresgrund der Ostsee vergammeln würden, so wie Sie es dargestellt haben?

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist ja selbstverständlich, dass, wenn das Projekt nicht fertiggestellt wird, zum Beispiel der deutsche Steuerzahler – aber nicht nur der – für Entschädigungen haften wird und haften muss. ({0}) Das können wir doch nicht so einfach stehen lassen. Das sind die Gelder, die dann auf dem Grund der Ostsee vergammeln werden. Das habe ich damit gemeint, und das ist auch so. ({1}) Also, wie sehen die Antworten aus? Ich habe schon gesagt: 50 Prozent Gasimporte, 40 Prozent Ölimporte. Die Pipeline in Schwedt – darauf wollte ich hinaus – ist explizit auf russisches Erdöl, von der chemischen Zusammensetzung her, ausgelegt. Es wurde ja schon mal bei einer Sanktion der Ölhahn zugedreht. Wenn der Ölhahn dauerhaft zugedreht würde, kann die Raffinerie im Nordosten von Brandenburg zumachen. Und auch dafür gibt es letztendlich Konsequenzen. ({2}) Seit 1963 arbeitet die Raffinerie, und Sie sagen durch solche gefährlichen Manöver, dass das alles null und nichtig ist. Nächster Punkt. Wäre der Stopp denn energiepolitisch überlegt, falls Sie das damit bezwecken wollen? Natürlich nicht; denn wir schießen uns ins eigene Knie. Was ist mit Nord Stream 1, Ihrem rot-grünen Vorzeigeprojekt von Anfang der 2000er-Jahre? ({3}) – Ja, das ist doch so. Das wurde unter Ihrer Regierung auf den Weg gebracht. – 11 Prozent des europäischen Gases und 50 Prozent des deutschen Gases fließen durch die Rohre. Müssen wir jetzt nach Ihrer Logik konsequenterweise auch aus Nord Stream 1 aussteigen? ({4}) – Nein? ({5}) – Ja, was ist denn das für eine Logik, wenn Sie aus Nord Stream 2 aussteigen wollen, nicht aber aus Nord Stream 1? Russische Exporte und Menschenrechtsprobleme sind doch nicht ein Problem von vorgestern, gestern und heute, sondern die gibt es schon Jahre und Jahrzehnte. Wenn wir uns verabschieden wollen von allen kritischen Handelspartnern wie Russland, wie China, wie vielen anderen mehr – was ist denn das für eine Logik? –, was bleibt uns denn dann noch? Ihr Antrag ist und bleibt ein Feigenblatt. ({6}) Dann muss ich sagen: Sie sind schon energiepolitische Helden, ganz ehrlich. ({7}) Das von Ihnen immer beschworene Gas als Brückentechnologie! ({8}) Jetzt steigt Deutschland ja in anderthalb Jahren aus der Kernenergie, bis zum Jahr 2038 aus der Kohle aus. Wir haben immer gesagt: „Es gibt aber die Brückentechnologie Gas“, und jetzt wollen Sie da auch aussteigen. Wir haben in dieser Woche, in der Nachhaltigkeitswoche, einen Antrag von Ihnen behandelt, der besagt, dass Sie aus dem Fracking aussteigen wollen. Der wurde natürlich abgelehnt. Jetzt ist die Frage: Wollen Sie aus den Vereinigten Staaten Fracking-Gas, LNG hierherholen? ({9}) Wie wollen Sie die Lücke schließen? Sie müssen sich schon dazu bekennen! ({10}) Einige Fragen noch: Wollen Sie lieber keinen Kohleausstieg? Wie wollen Sie die Wohnung warm bekommen? Wie wollen Sie den Strom an die Steckdose bekommen? Und kommen Sie jetzt nicht mit dem Märchen, dass die erneuerbaren Energien das schaffen werden. ({11}) Sie schaffen es zum Teil, uns unabhängig zu machen. Aber wir brauchen 8 760 Stunden im Jahr. Onshore sind es 1 500 bis 2 000, vielleicht mal 3 000 Stunden, und Offshore vielleicht 5 000 Stunden. Wir schaffen es damit nicht alleine, also brauchen wir doch die Brückentechnologie, und zwar sofort; ({12}) denn wir sind ja dabei, aus diesen fossilen Energien auszusteigen. ({13}) Damit schließt sich der Kreis: Ihre Absage an die Rohre von Nord Stream 2 ist außenpolitisch, innenpolitisch, energiepolitisch, klimapolitisch und auch naturpolitisch ein Rohrkrepierer. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich komme zurück zu den Zusatzpunkten 18 und 25 und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungen bekannt: Zum Ersten zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Brand in Moria ziehen – Lager auf den griechischen Inseln auflösen und Geflüchtete in Deutschland aufnehmen“. Abgegebene Stimmkarten 599. Mit Ja haben gestimmt 478, mit Nein stimmten 59 Abgeordnete, und es gab 62 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 596; davon ja: 476 nein: 59 enthalten: 61 Ja CDU/CSU Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Saskia Ludwig Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Dr. Astrid Mannes Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Björn Simon Jens Spahn Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Sören Bartol Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Dirk Heidenblut Gabriela Heinrich Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Thomas Hitschler Frank Junge Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Daniela Kolbe Elvan Korkmaz-Emre Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Heiko Maas Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Bettina Müller Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Sabine Poschmann Florian Post Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Johannes Huber Fabian Jacobi Jens Kestner Stefan Keuter Enrico Komning Jörn König Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Corinna Miazga Andreas Mrosek Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Gerold Otten Frank Pasemann Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Stephan Protschka Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Dr. Dirk Spaniel René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Dr. Christian Wirth FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Reginald Hanke Peter Heidt Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Alexander Müller Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm Fraktionslos Lars Herrmann Nein DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Simone Barrientos Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Dr. Sahra Wagenknecht Andreas Wagner Harald Weinberg Katrin Werner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Canan Bayram Enthalten SPD Dr. Matthias Bartke Ulli Nissen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Stefan Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Marco Bülow Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Zum Zweiten zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nach dem Brand von Moria – Für schnelle Nothilfe und einen menschenrechtsbasierten Neustart der europäischen Flüchtlingspolitik“. Hier wurden 602 Stimmkarten abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 125, mit Nein 472 Abgeordnete, 5 haben sich enthalten. Der Antrag ist abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 597; davon ja: 120 nein: 472 enthalten: 5 Ja SPD Hilde Mattheis Ulli Nissen Florian Post DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Simone Barrientos Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Dr. Sahra Wagenknecht Andreas Wagner Harald Weinberg Katrin Werner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Canan Bayram Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Lisa Paus Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Stefan Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Dr. Julia Verlinden Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Marco Bülow Nein CDU/CSU Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Saskia Ludwig Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Dr. Astrid Mannes Hans-Georg von der Marwitz Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Björn Simon Jens Spahn Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Sören Bartol Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Dirk Heidenblut Gabriela Heinrich Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Thomas Hitschler Frank Junge Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Daniela Kolbe Elvan Korkmaz-Emre Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Heiko Maas Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Bettina Müller Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Sabine Poschmann Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Johannes Huber Fabian Jacobi Jens Kestner Stefan Keuter Enrico Komning Jörn König Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Corinna Miazga Andreas Mrosek Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Gerold Otten Frank Pasemann Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Stephan Protschka Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Dr. Dirk Spaniel René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Uwe Witt FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Reginald Hanke Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm Fraktionslos Lars Herrmann Enthalten SPD Dr. Matthias Bartke FDP Peter Heidt Gyde Jensen Ulrich Lechte Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Wir kommen nun zurück zu Tagesordnungspunkt 7 f und Zusatzpunkt 22. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kollegen! In diesen beiden Anträgen der Debatte geht es um die Fortführung oder den Abbruch des Nord-Stream-2-Projektes, einer Gaspipeline, die durch die Ostsee jährlich 55 Milliarden Normkubikmeter Erdgas nach Deutschland und in die EU bringen soll. Das Vorgängerprojekt ist seit 2018 komplett ausgelastet. Diese Energie wird in Deutschland dringend benötigt. Durch den geplanten Ausstieg aus der Kern- und Kohleenergie werden bis 2022 in Deutschland Kraftwerkskapazitäten abgebaut, die im letzten Jahr noch etwa 80 Terawattstunden Strom für den Wirtschaftsstandort Deutschland geliefert haben – planbar, zuverlässig und preiswert; nachhaltig sozusagen. Dieser Strom wird fehlen. Wirtschaftsvereinigungen und auch das Bundeswirtschaftsministerium stimmen darin überein, dass Gaskraftwerke zukünftig diese Lücke füllen müssen. Dass dies gegenüber einer nuklearen Stromerzeugung steigende CO2-Emissionen zur Folge hat, wollen Sie ja offensichtlich. Im Land der grünen Kobolde glaubt man allerdings, dass der Zubau von sogenannten Erneuerbaren die Lücke wird schließen können. Das ist aber, mit Verlaub, kompletter Humbug. ({0}) Die fehlenden 80 Terawattstunden entsprechen etwa der Hälfte der Strommenge, die Wind und Solar im vergangenen Jahr insgesamt erzeugt haben. Diese Kapazitäten an Wind- und Solarstrom zu schaffen, hat 20 Jahre und Hunderte Milliarden Euro gekostet. ({1}) Dass nun weitere 50 Prozent Zubau bis 2022 geschaffen werden können, glauben nicht mal die hoffnungslosesten Träumer in Ihren Reihen, zumal in den kommenden Jahren viele Ihrer Anlagen aus der Umlage fallen und dann wegen Unwirtschaftlichkeit permanent stillgelegt werden. Ihre Zappelstromanlagen erzeugen den Strom dazu regional höchst unterschiedlich und nicht dort, wo er gebraucht wird. Die notwendigen Stromtrassen zur Verteilung sind zum Teil noch nicht einmal geplant. Demgegenüber existieren in Deutschland über 500 000 Kilometer an bereits vorhandenen Erdgasleitungen, und Gas kann daher an jeden neu zu planenden Kraftwerkstandort geleitet werden. Des Weiteren liefert ein Gas- und Dampfkraftwerk im Gegensatz zu den von Ihnen forcierten minderwertigen Energieerzeugungsmethoden noch große Mengen an wertvoller Fernwärme. ({2}) Auch wenn es Sie nicht wirklich interessiert, aber reden wir doch mal über das Geld der Bürger. Gas ist aktuell teurer als Braun- oder Steinkohle. Mit dem Kohle- und Kernkraftausstieg sind hier Preiserhöhungen zu erwarten, die dann von den Unternehmen und den Menschen getragen werden müssen. Dank Nord Stream 2 werden sich die Liefermengen aber deutlich vergrößern, und Energieexperten erwarten eine tatsächliche Preissenkung für den Kubikmeter Gas – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den europäischen Anrainerstaaten. Für alle Nationen in Europa, auch für die Transitnationen Ukraine und Polen, um die Sie sich stets sorgen, werden sinkende Gaspreise erwartet, so die Experten des EWI an der Universität zu Köln. Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Wir brauchen diese Gasleitung – gerade wegen Ihrer Energiepolitik. ({3}) Hätten wir eine Energiepolitik, die auf moderne Kern- und Kohlekraftwerke bauen würde, könnten wir uns den Luxus leisten, das Projekt infrage zu stellen. So aber haben Sie selbst mit Ihrer verkorksten Energiewende die Gasleitung alternativlos gemacht. ({4}) Laut einer Umfrage des ZDF-„Politbarometers“ sehen nicht nur wir das so, sondern 70 Prozent der Bürger in diesem Land. Zu guter Letzt. Nord Stream 2 wäre ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in einem ansonsten strukturschwachen Bundesland. Diese Gasleitung kann leisten, was Sie so gerne in blumigen Bundestagsreden versprechen: nachhaltige Arbeitsplätze, mit denen Menschen in ihrer Heimat ein ehrbares Auskommen haben und so zu einem sozialen, fortschrittlichen Mecklenburg-Vorpommern beitragen. Danke. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Ministerpräsidentin des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig. ({0})

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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Vielen Dank an die SPD-Fraktion, dass ich einen Teil der Redezeit nutzen darf. Ich habe kurz überlegt, ob ich es mache. Wir sprechen hier über ein großes Infrastrukturprojekt, das eben nicht allein ein russisches Projekt ist, sondern ein Infrastrukturprojekt im Interesse von Deutschland, von Westeuropa, milliardenschwer, 97 Prozent bereits fertiggestellt, mehrfach durch ein rechtsstaatliches Genehmigungsverfahren gegangen. ({0}) Und jetzt kommen Sie, sehr geehrte Damen und Herren der Grünen, und wollen mit einem Satz hier im Bundestag ohne Begründung dieses Projekt stoppen. ({1}) Man kann unterschiedlicher Meinung zur Ostseepipeline sein; aber für eine Partei, die gerne in Regierungsverantwortung will, würde ich mir mehr Anspruch wünschen in Sachlichkeit und Differenzierung. ({2}) Aber ich nutze gerne diesen lapidar hingeworfenen Satz, um etwas aus Sicht von Mecklenburg-Vorpommern zu sagen. ({3}) Der allererste Punkt. Mecklenburg-Vorpommern unterstützt die Energiewende. Wir wollen Klimaschutz, wir wollen zukünftig grüne Energie, saubere Energie, perspektivisch aus Windkraft, erneuerbaren Energien und Wasserstofftechnologie. Und hier, sehr geehrte Damen und Herren der Grünen, würde ich Sie herzlich bitten: Setzen Sie sich da, wo Sie eine Regierungsbeteiligung haben, insbesondere im Süden von Deutschland, ({4}) für einen schnellen Trassenbau, für mehr Wasserstofftechnologie ein, die wir vor allem im Norden bieten können. ({5}) Und einen Satz zu den Herren der AfD: Mecklenburg-Vorpommern findet es richtig, dass wir aus Atomenergie und Kohlekraft aussteigen. Sie sind von vorgestern. Wir wollen nicht zurück in das Gestern; wir wollen nach vorne und eine echte Energiewende schaffen. ({6}) Dazu gehört eine Übergangstechnologie, und das ist das Gas. Wenn wir es schaffen wollen, irgendwann völlig unabhängig zu sein – mit erneuerbaren Energien, mit einer marktfähigen Wasserstofftechnologie –, brauchen wir einen seriösen, verlässlichen Weg dorthin. Denn darum geht es: seriöse, verlässliche Energiepolitik zu machen, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger von Deutschland, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger einer großen Industrienation. Denn wir wollen beweisen, dass Klimawandel und Energiewende zusammengeht mit Wirtschaft, mit Arbeitsplätzen und nicht gegeneinander. Das unterscheidet uns vielleicht in der Betrachtungsweise. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Ministerpräsidentin, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung von Bündnis 90/Die Grünen?

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Geht das dann von meiner Redezeit ab?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nein, ich habe sie schon angehalten.

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Vielen Dank. – Dann gerne.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, vielen Dank für die Zulassung der Frage. – Ich möchte gerne fragen, ob Ihnen Folgendes bewusst ist: Die Leitung Nord Stream 2 landet ja bei uns in Lubmin an und mündet dann direkt in die Verlängerung, in EUGAL, die dann das Gas durch Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg weiter nach Tschechien und auf den westeuropäischen Markt leitet. Die Kosten für EUGAL hingegen werden auf die deutschen Netzentgelte umgelegt. Die Netzentgelte für die deutschen Kunden – das haben wir mit einer Anfrage 2018 herausgefunden – werden sich tatsächlich erheblich erhöhen. Das wird insbesondere in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern die Gaskunden belasten. Ich möchte fragen, ob Ihnen das bewusst ist.

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Frau Müller, ich danke Ihnen wirklich sehr für die Frage. – Weil ich den Eindruck habe, dass Ihnen als Abgeordnete unseres Bundeslandes nicht bewusst ist, wie sehr Sie mit Ihrem Antrag unserem Bundesland und den Bürgerinnen und Bürgern schaden, ({0}) würde ich sehr gerne darauf antworten wollen. Ich habe eben erklärt, was es für eine echte Energiewende, für einen echten Klimawandel braucht. Und da muss man sich für eine Übergangstechnologie entscheiden. ({1}) Und wir haben die Wahl zwischen dem Gas aus der russischen – – Meine Herren!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Also, im Moment wird geantwortet, und es soll wenigstens möglich sein, dass Frau Müller als Fragestellerin auch die Antwort hört. Im Moment hören wir hier vor allen Dingen die Zwischenrufe. ({0})

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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren der Grünen, Sie können mich gerne etwas fragen, aber Sie müssen auch bei meiner Antwort zuhören – das ist das Mindeste – und diese akzeptieren. Ich entscheide selbst, wie und was ich antworte. ({0}) Deshalb noch mal – denn es ist mir sehr wichtig, dass vielleicht auch Bundestagsabgeordnete Ihrer Fraktion, die aus unserem Bundesland kommen, wissen, was das für eine Bedeutung für unser Land hat –: Ich habe eben dargestellt, wie wichtig die Energiewende und der Klimaschutz sind. Wenn wir marktfähig bleiben wollen, wenn wir den Industriestandort Deutschland sichern wollen und wenn wir vor allem Wohlstand weiter sichern wollen, werden wir auf Übergangstechnologie angewiesen sein. Sie können jetzt wählen zwischen russischem Gas aus der Ostseepipeline – wie wir es ja aus Nord Stream 1 beziehen – oder – und das forcieren Sie – amerikanischem Fracking-Gas. ({1}) Denn das ist das Interesse der USA. Mit Ihrer Frage bieten Sie mir eine gute Möglichkeit, von meinem Besuch im Hafen Mukran zu berichten. Ich weiß nicht, wann Sie als Abgeordnete im Hafen Mukran vor Ort waren und mal mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen haben. Dass die USA den kleinen Hafen Mukran zum Spielball von Weltpolitik machen, und dort Geschäftsführung und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedrohen, obwohl sie nichts Unrechtes getan haben – sie ummanteln nämlich nur die Rohre von einer Pipeline, die rechtsstaatlich genehmigt ist –, dass diese Drohungen möglich sind, von einer befreundeten Nation, der wir in diesem Jahr 30 Jahre Wiedervereinigung mit zu verdanken haben, ist ungeheuerlich. Und da würde ich von Ihnen Unterstützung für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Bundesland erwarten. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Ministerpräsidentin, wir stehen jetzt vor der Frage: Gestatten Sie noch eine Frage oder Bemerkung von Annalena Baerbock?

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Wenn mir jetzt die 19 Sekunden Redezeit deswegen nicht weggenommen werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Uhr ist schon angehalten.

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Dann verlängern Sie gerne meine Redezeit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich kündige aber auch gleich an: Wir sind hier in einer besonderen Situation; das ist völlig klar. Aber im weiteren Verlauf bleibt es bei der Regel, die ich im Allgemeinen einhalte: bei jedem Redebeitrag nur eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung, und Rednerinnen und Redner, welche schon gesprochen haben und die Redezeit leider auch überzogen haben, haben dann hinterher nicht mehr die Möglichkeit. – Also, bitte. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. – Frau Ministerpräsidentin, herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen; denn davon lebt ja das Parlament, dass man wirklich in eine inhaltliche Debatte einsteigt. ({0}) – Habt ihr nicht gerade etwas von Zuhören gesagt? – Davon lebt die politische Debatte. Ich würde jetzt gerne noch mal auf zwei Punkte eingehen; denn ich glaube, dass das auch für die Bürgerinnen und Bürger wirklich wichtig ist. Sie haben gerade gesagt: Man muss die Fakten anerkennen. – Meine Kollegin Claudia Müller hatte Sie ja gerade gefragt, wie Sie dazu stehen, dass es eine Durchleitung ist. Sie haben jetzt mehrfach betont: Wir brauchen Gas in Deutschland für die Energiewende. – Dieses Gas, was in Lubmin anlandet, durchgeleitet wird durch Deutschland, geht dann weiter nach Tschechien. Zeitgleich gibt es eine Ukraine-Leitung, über die ich gerade gesprochen hatte, die nur bis 2024 Bestand hat. Das heißt: Nord Stream 2 ersetzt die Ukraine-Leitung, hat nichts mit dem deutschen Gas zu tun. Erkennen Sie das an? Der zweite Punkt, weil Sie das jetzt mehrfach angesprochen haben: das Fracking-Gas. Sie haben den Hafen angesprochen. Der US-Präsident hat mit Sanktionen gegen den Hafen gedroht. Dagegen sind wir alle aufgestanden, auch Bündnis 90/Die Grünen. Deswegen wundert es uns sehr, dass Ihr Finanzminister jetzt den USA 1 Milliarde Euro geboten hat, um Fracking-Gas nach Deutschland zu importieren, ({1}) was die Sanktionen und die Drohgebärde des US-Präsidenten nur untermauert. ({2}) Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag, 1 Milliarde Euro für Fracking-Gas an die USA zu zahlen ({3}) und damit Putin und Herrn Trump hier ihr Gasgeschäft zu genehmigen? ({4})

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Vielen Dank, Frau Abgeordnete. – Einer der Gründe, warum Sie erfolgreich sind – und das will ich anerkennen –, ist, dass Sie ganz viele Themen aufschnappen, in einen Topf werfen, richtig rumrühren. Und dann kommt so ein Antrag raus wie dieser. ({0}) Deswegen bin ich gar nicht bereit, auf all diese verschiedenen Punkte einzugehen, sondern will Ihnen sagen, dass das, was Sie vortragen, auch hier am Rednerpult, schlicht falsch ist. Sie wissen bestimmt auch gut, weil Sie sich ja für Europa und Außenpolitik interessieren, dass es gerade Deutschland war, das zwischen Russland und der Ukraine bei der Pipeline vermittelt hat. ({1}) Das bitte ich schon zu berücksichtigen. Das unterscheidet uns. ({2}) Wir haben uns beim Thema Ostseepipeline für den Umweltschutz und die Berücksichtigung der Interessen der Ukraine engagiert. Sie blenden aus, dass dann, wenn heute der Deutsche Bundestag dem, was Sie hier vorschlagen, zustimmen würde, Politik in ein rechtsstaatliches Verfahren eingreifen würde. Doch das ist nicht so einfach; denn wir sind ein Rechtsstaat, und dafür gibt es rechtsstaatliche Verfahren. ({3}) Sie erwarten, dass wir auf das russische Gas verzichten und dafür eher Fracking-Gas nehmen, ({4}) was durch Tanker kommt. Das wäre teurer und umweltschädlicher. Sie antworten nicht auf die drängende Frage der Bürgerinnen und Bürger: Wie stellt ihr euch eigentlich die Energiewende vor, ({5}) wenn man 2022 aus der Atomkraft und schon 2038 aus der Kohlekraft aussteigt und noch nicht klar ist, dass Windkraft und marktfähige Wasserstofftechnologien all das ersetzen können? Diese Antwort, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, sind Sie schuldig. Ich glaube nicht, dass ich eine Antwort schuldig bin. ({6}) Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, die Zwischenfragen der Grünen – vielen Dank dafür! – haben mir die Möglichkeit gegeben, auf diese Aspekte einzugehen. Abschließend möchte ich Sie bitten, diesen Antrag abzulehnen. Er ist in der Sache nicht gerecht, und er würde nicht nur dem Land Mecklenburg-Vorpommern, sondern ganz Deutschland und ganz Westeuropa schaden hinsichtlich einer verlässlichen Energieversorgung, die Grundvoraussetzung für die Akzeptanz von Energiewende und Klimaschutz und für die weitere wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes ist. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael Theurer das Wort. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir hatten in diesem Haus eine große Einigkeit darüber erzielt, dass der gemeine Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Nawalny eine klare deutsche und europäische Antwort braucht. Wir haben uns als Freie Demokraten deshalb dafür ausgesprochen, neben Sanktionen gegen Einzelpersonen, die da infrage kommen, auch ein Moratorium des Baus von Nord Stream 2 in Erwägung zu ziehen, und damit ein klares politisches Signal an die russische Regierung zu senden, dass wir die vollständige Aufklärung dieses gemeinen Anschlages gegen den Oppositionspolitiker Nawalny erwarten. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der Antrag der Grünenfraktion diese große Einigkeit und damit das politische Signal an die russische Regierung konterkariert. ({0}) Natürlich hat ein Gasinfrastrukturprojekt wie Nord Stream 2 eine geopolitische Bedeutung; die hatten die Röhrenprojekte davor ja auch. Es geht nicht nur um Energiepolitik, sondern es geht eben auch um Geopolitik. Frau Ministerpräsidentin Schwesig hat hier von der Bundesregierung eine verlässliche Energiepolitik eingefordert. Wir stellen an dieser Stelle sehr schmerzhaft fest, dass Nord Stream 2, das im Jahr 2013 ins Gespräch gekommen ist, nicht in die europäische Politik eingebettet worden ist. Es gab eben von der Bundesregierung keine Einbettung dieses Projektes in die Europäische Union. Es gab von Anfang an Widerstände, Bedenken bei unseren europäischen Nachbarn. Das ganze Gezerre und die ganze Diskussion um ein an sich energiepolitisch, infrastrukturpolitisch sinnvolles Projekt hat im Grunde genommen dazu geführt, dass es jetzt gefährdet ist, weil es diese Einbettung nicht gab, weder in den europäischen noch in den transatlantischen Zusammenhang, meine Damen und Herren. ({1}) Diese Kritik müssen wir an die Bundesregierung richten. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir eine Diversifizierung brauchen, dass wir zur Versorgungssicherheit auch Flüssiggas-, LNG-Terminals brauchen. Aber es ist schon aberwitzig, wenn jetzt der deutsche Finanzminister praktisch in einem schlechten Kuhhandel den US-Amerikanern 1 Milliarde Euro anbietet, um ihnen ihre Bedenken gegen Nord Stream 2 abzukaufen. Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, wir sagen: Wenn ein Projekt rechtsstaatlich genehmigt ist und fünf europäische Energieunternehmen, vor allen Dingen aber viele kleine und mittlere Zuliefererbetriebe mit vielen Tausend Arbeitsplätzen davon abhängig sind, dann kann eine Genehmigung nicht einfach zurückgezogen werden. Sonst stünden wir natürlich auch vor der Frage, wie dieses Engagement durch Entschädigungszahlung ausgeglichen werden könnte. Hier erwarten wir von der Bundesregierung endlich klare Antworten, meine Damen und Herren. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir würden ja heute den Antrag der Grünen nicht ohne den Mordanschlag an Alexej Nawalny behandeln. Deswegen will ich zunächst sagen: Ich bin froh, wir sind froh, dass es Herrn Nawalny besser geht. Das ist eine gute Nachricht. ({0}) Ich möchte, da es ja um einen Grünenantrag geht, mit einem Zitat des dankenswerterweise anwesenden Kollegen Jürgen Trittin zur Androhung der US-Sanktionen beginnen. Jürgen Trittin hat vor fünf Wochen gesagt: Die Einmischung in die Souveränität Deutschlands und der Europäischen Union hat eine nie gekannte Aggressivität erreicht, die nicht unbeantwortet bleiben darf. ({1}) Jürgen Trittin sagte weiter, das sei eine „wirtschaftliche Kriegserklärung“ der USA, und forderte: Deutschland und auch die EU müssen eine robuste Antwort auf dieses Verhalten der USA finden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen: Ist Ihr Antrag tatsächlich eine „robuste Antwort“? ({3}) Ihr Antrag ist eine Kapitulationserklärung und nichts anderes. Sie wollen innenpolitisch Punkte machen – das ist das Problem – ({4}) und haben die außenpolitischen Dinge nicht beachtet. Es ist doch überhaupt keine Frage: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Sicherheit der Oppositionellen – Russland ist hier vielfach in einem miserablen Zustand. Aber was ist mit Iran, der Türkei, Saudi-Arabien? Fordern Sie da auch den Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen? Haben Sie nach dem Mord an Herrn Khashoggi hier im Deutschen Bundestag einen Antrag zu den Öllieferungen gestellt? ({5}) Nichts dergleichen! Sie von den Grünen haben immer eine Sonderstellung gegenüber Russland parat. Anstatt sich den unverschämten US-Drohungen und der frechen Einmischung der USA in deutsche Angelegenheiten anzuschließen, sollten Sie diese zurückweisen. ({6}) Aber Sie legen einen Antrag vor, der faktisch eins zu eins die US-Sanktionen durchsetzen will. Das ist die Realität. ({7}) Sie leugnen das immer wieder, aber faktisch machen Sie sich zum Lobbyisten für dreckiges und teures US-Fracking-Gas. Grün ist daran überhaupt nichts, meine Damen und Herren. ({8}) Jetzt hat sich ja Herr Habeck zu Recht echauffiert – sehr zu Recht –, dass Olaf Scholz mit 1 Milliarde Euro Lösegeld Nord Stream 2 freikaufen will. ({9}) Das Geld soll Donald Trump besänftigen – es fließt in Fracking-Gas-Terminals an der deutschen Nordseeküste; das ist ein ungeheuerlicher Vorgang –, damit die USA erlauben – so heißt es in dem Schreiben –, dass weitergebaut wird. Das ist wirklich unfassbar, meine Damen und Herren. ({10}) Aber die Kritik, die Sie, Frau Baerbock, und auch Herr Habeck hierzu geäußert haben, die ist, ehrlich gesagt, ein Stück weit schizophren. Mit Ihrem Antrag lassen Sie sich ja nicht mal mehr erpressen, sondern Sie werfen sich freiwillig in den Staub. ({11}) Das ist es, was Sie machen: US-Interessenvertretung. ({12}) Nord Stream 2, meine Damen und Herren, liegt im europäischen Interesse, Nord Stream 2 liegt im deutschen Interesse, und es liegt im Interesse der Menschen und der Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern. ({13}) Ich unterstütze ausdrücklich den Kurs von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, die klar zu diesem Projekt steht. Die Botschaft der Bundesregierung muss klar lauten: Es wird fertig gebaut, ohne Lösegeld. Deutschland entscheidet souverän über seine Energieversorgung. Herzlichen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Jürgen Trittin das Wort.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bartsch, es ist schon interessant: Wir haben, nachdem Khashoggi ermordet worden ist, umgehend Sanktionen und einen Waffenexportstopp verlangt. ({0}) Wir haben, als die USA völkerrechtswidrig den Bürgermeister von Mukran bedroht haben – Sie haben es selber zitiert –, darauf ebenso reagiert. Aber eins sage ich Ihnen: Sie können den Rechtsbruch der einen Seite nicht dadurch rechtfertigen, dass Sie eine unmögliche Politik der anderen Seite schönreden. ({1}) Die Wahrheit ist: Wir brauchen diese Pipeline nicht, genauso wenig, wie wir zukünftige Fracking-Gas-Terminals und Ähnliches brauchen, weil es gar nicht mehr darum geht, mehr Gas zu importieren, wie Sie es wollen, wie es die Große Koalition will, wie es die AfD will, sondern darum: Wer Klimaschutz ernst nimmt, der muss den Verbrauch fossiler Brennstoffe ernsthaft reduzieren. ({2}) Und das geht; wir haben ein Gutachten der Fraunhofer-Gesellschaft dazu vorgelegt. Bis zum Jahre 2030 kann das Gas, das heute aus Russland importiert wird, komplett eingespart werden. Und hier stellt sich ein Vertreter der Linken hin und erklärt öffentlich unter dem Beifall der AfD: Deutschland entscheidet souverän über seine Energiepolitik. ({3}) Energiepolitik ist schon lange keine nationale Sache mehr, Energiepolitik findet im gemeinsamen Binnenmarkt europäisch statt. Das solltest du gelernt haben! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur Erwiderung hat der Kollege Dr. Dietmar Bartsch das Wort.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Jürgen Trittin, zunächst mal will ich darauf aufmerksam machen, dass es nicht nur den Beifall der AfD gab, sondern auch den der Sozialdemokraten, der Union und der FDP. ({0}) Zweitens. Um das ganz klar zu sagen, damit es keine Missverständnisse gibt: Es gelten selbstverständlich überall gleiche Maßstäbe. Es darf keine Unterschiede geben. ({1}) Aber wenn plötzlich ausschließlich aus Anlass des Falls Nawalny ein Antrag gestellt wird, ({2}) frage ich mich: Wo waren denn die Grünen mit einem Antrag und einer Debatte im Bundestag, als Khashoggi ermordert worden ist? ({3}) Eine Debatte hat es hier nicht gegeben! Ich bin genau dafür, dass etwas passiert. Ich hätte mir mal gewünscht, dass der Bürgermeister von Sassnitz und Gesellschafter des Hafens von Mukran, Frank Kracht – seines Zeichens Mitglied der Linken –, hier verteidigt wird, dass auch das Projekt verteidigt wird. Genau das passiert nicht. Man kann energiepolitisch gern über diese Pipeline streiten; das ist nicht die Frage. Da kenne ich auch in meiner Fraktion unterschiedliche Meinungen. Aber Fakt ist: Alles rechtsstaatlich; 97 Prozent sind gebaut. Gerne können wir den Streit darüber führen. Aber die Unterstellung, die von euch angeführt wird, ist nicht korrekt. Wir legen hier keine unterschiedlichen Maßstäbe an, sondern beurteilen das Projekt wirklich anhand der Maßstäbe in der Energiepolitik. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen ja heute nicht das erste Mal über Nord Stream 2, und da ist es schon interessant, zu sehen, wie die Trennlinien heute verlaufen. Wir sprachen ja auch bei der Umsetzung der europäischen Gasrichtlinie über Nord Stream 2 – immer im europäischen Kontext – und auch, als die US-amerikanischen Sanktionen das erste Mal im Raum standen. Ich bezweifle angesichts der Debatte schon, ob die Grünen es wirklich ernst meinen und sich an der Sache orientieren. Man muss gerade in der jetzigen Zeit einmal voranstellen, dass wir doch alle froh sein können, dass es Herrn Nawalny mittlerweile besser geht. Deutschland hat daran einen maßgeblichen Anteil. Ich möchte mich an der Stelle wirklich ganz herzlich bei allen bedanken, die Herrn Nawalny in der Charité behandelt haben: bei allen Ärzten, bei allen Pflegern und bei allen, die sonst noch beteiligt waren. Herzlichen Dank dafür! ({0}) Wir dürfen hier natürlich nichts verharmlosen, beschönigen oder relativieren, wie das die AfD und auch Die Linke häufig machen; die Trennlinie hier ist übrigens auch interessant. Herr Trittin, Sie können ja auch erst mal Ihren Rotweinfreund Gerhard Schröder überzeugen, dass Sie recht haben. Da, glaube ich, haben Sie noch etwas mehr Arbeit. ({1}) Nawalny wurde zweifelsohne – da gibt es nichts zu beschönigen – mittels eines chemischen Nervenkampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Das haben mittlerweile deutsche Speziallabore zweifelsfrei herausgefunden; französische und schwedische Labore haben das bestätigt. Zweifelsohne: Nord Stream 2 hat eine wirtschaftliche Komponente und eben auch eine politische Dimension. Hinsichtlich der innenpolitischen Dimension lässt sich feststellen, dass es sich einmal mehr um einen Schaufensterantrag der Grünen handelt. So viele Schaufenster, wie Sie Anträge stellen, gibt es langsam gar nicht mehr. Sie möchten ein außenpolitisches Thema, einen außenpolitischen Anlass für Ihre innenpolitische Agenda nutzen, und das lassen wir Ihnen nicht einfach so durchgehen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Energiewirtschaftlich möchte ich Folgendes feststellen: Wir brauchen Erdgas als Brückentechnologie, und zwar noch längere Zeit. Erdgas passt durch die flexible Fahrweise auch sehr gut zu den fluktuierenden Erneuerbaren und hilft letzten Endes, die Klimaziele zu erreichen. Wir werden bis 2035 innerhalb Europas pro Jahr circa 125 Milliarden Kubikmeter mehr an Erdgas brauchen, bis wir dann irgendwann vollständig in die Erneuerbaren einsteigen können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lenz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Krischer?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne im Anschluss, aber jetzt gerade nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Im Anschluss gebe ich das Wort nicht.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay, dann angesichts der Zeit heute leider nicht. Wir befinden uns gerade hinsichtlich des Gasmarktes in einer komfortablen Situation, weil wir im Moment viel Erdgas im Angebot haben. ({0}) Der Markt ist sehr liquide; das sorgt für Wettbewerb. Es gilt, einmal mehr festzustellen, dass wir durch Nord Stream 2 insgesamt nicht abhängiger, sondern unabhängiger werden. ({1}) Nord Stream 2 leistet einen Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit in Deutschland und in Europa und nicht zu weniger Versorgungssicherheit, meine sehr geehrten Damen und Herren. Im Ausschuss war es übrigens so, dass die Grünen über die Forderungen der USA empört waren, die Pipeline, wie der Kongress es nannte, zugunsten der Versorgungssicherheit zu stoppen. Ich kann mich da noch an eine Frage der Kollegin Dröge erinnern. Sie hat die Sachverständigen damals bei der Anhörung, deren Durchführung wir ja einstimmig beschlossen hatten, gefragt: Was müsste denn die Europäische Union machen, um das gesamte Projekt umsetzen zu können? – Und dann kommt die Frau Baerbock und sagt: Jetzt passt es mir gerade in die tagespolitische Agenda, hier mal einen Antrag zu stellen und das zum Thema für uns Grüne zu machen. ({2}) So schaut es doch eigentlich aus, und das enttarnt Ihren Schaufensterantrag einmal mehr. ({3}) An dieser Stelle gilt es, klar zu betonen, dass es sich bei Nord Stream 2 ganz eindeutig um ein privatwirtschaftliches Projekt handelt. Es wäre doch klar, dass der Staat, also die Bundesrepublik Deutschland, die privaten Investoren, sollte Deutschland den Stopp beschließen, entschädigen müsste. ({4}) Es verwundert mich schon, dass die Grünen nicht wissen, was Investitionsschutz bedeutet. Sie haben anhand Ihrer Frage ja auch klargemacht, dass Sie eben nicht wissen, dass der Staat die privaten Investoren entschädigen müsste, wenn der Staat verantwortlich dafür wäre, dass dieses Projekt gestoppt würde. ({5}) Wenn es das ist, was Sie wollen, liebe Grüne, dann müssen Sie natürlich auch dem Steuerzahler sagen, dass Sie die Milliardenforderungen auf ihn abwälzen wollen, die dann ins Haus stünden. Da gehört es sich, ehrlich mit den Leuten umzugehen. Zusammenfassend lässt sich doch eines feststellen: Es wäre momentan sowohl politisch als auch ökonomisch nicht klug, Nord Stream 2 zu stoppen, und ich hoffe nicht, dass Russland uns zwingt, diese Haltung zu ändern. Entsprechend lehnen wir Ihre Anträge natürlich ab. In dem Sinne: Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstaunliche Anträge liegen uns vor. Ich muss sagen: Wenn wir energiepolitische Debatten haben, dann gibt es meistens große Übereinstimmung zwischen den Sozialdemokraten und den Grünen, vielleicht mehr, als manchem lieb ist. Angesichts der Übereinstimmung mit dem rechten Rand des Plenums heute scheint die Lage umgekehrt zu sein. Und wenn sich die AfD als Leugner des Klimawandels zum energiepolitischen Zieldreieck ausspricht, ({0}) nämlich zu Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Umweltschutz – so steht es in ihrem Antrag –, und sich dazu bekennt, dann kann etwas grundsätzlich nicht stimmen. Das ist bestenfalls der Versuch einer List, einer List, die aber an Schlichtheit eigentlich nicht zu überbieten ist. ({1}) Der Antrag der Grünen, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt auf durch seine Kürze – 25 Wörter; dabei habe ich die Zahl Zwei schon als Wort gezählt – und die fehlende Begründung. Die Begründung für diesen Antrag konnten wir aber in den letzten Wochen insbesondere von Herrn Habeck aus den Medien entnehmen, seine Vorwürfe an die SPD und an Olaf Scholz ebenso. Er wirft eben gerne mit Steinen. ({2}) So gibt es gerade leider viele Menschen, die versuchen, aus dem Thema Kapital zu schlagen – bedauerlicherweise. Die Forderung nach einem Baustopp für Nord Stream 2 ist für mich nicht nachvollziehbar. Es sind auch nur die zu hören, die auch vorher schon gegen Nord Stream 2 waren. 40 Prozent des Erdgases im deutschen Netz stammen derzeit aus Russland. Wie viel wird es denn wohl sein, wenn Nord Stream 2 gestoppt wird? 40 Prozent. ({3}) Der Stopp des Baus würde also bedeuten, dass nicht ein Molekül Methan weniger nach Deutschland oder nach Europa transportiert wird. ({4}) Die Forderung, Nord Stream 2 zu beenden, ist nichts anderes als ein, wie wir in Plattdeutsch sagen würden, Daukje för’t Blooden, also ein Feigenblatt. Es gibt gute Gründe für Nord Stream 2, außenpolitisch wie innenpolitisch. Praktisch bedeuten weniger Verbindungen zwischen zwei Ländern aber auch gleich weniger Einfluss auf die jeweiligen Länder. ({5}) Wir wollen eben nicht alles infrage stellen, was uns mit Russland verbindet, sondern wir wollen Verbindungen bauen, wir wollen Brücken bauen zwischen unseren Völkern, zwischen unseren Ländern, und Gemeinsamkeiten herstellen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen beides: Wir wollen untragbare Zustände in den Partnerländern ansprechen und Besserungen anmahnen, und wir wollen auf zivilgesellschaftlicher Ebene die Kontakte und Begegnungen der Menschen auf beiden Seiten fördern. Wir wollen, dass die Menschen auf beiden Seiten sich kennenlernen, dass sie sich gegenseitig respektieren und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Was wir jetzt brauchen, sind vertrauensbildende Maßnahmen. Und Nord Stream 2 zu beenden, ist genau das Gegenteil davon. ({7}) Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch energiepolitische Gründe, die gegen Ihren Antrag sprechen. Wir steigen aus der Kernenergie aus, und das ist gut so; das kritisieren wir, glaube ich, beide nicht. Wir steigen bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung aus und zum Teil in die Gasverstromung ein. ({8}) Gleichzeitig fallen die Niederlande als Erdgaslieferant – dazu haben Sie noch gar nichts gesagt – in den nächsten Jahren aus. Das macht allein 30 Prozent der deutschen Erdgasversorgung aus. Gas wird der Übergangsbrennstoff auf dem Weg zu 100 Prozent erneuerbarer Energien in 2050 sein. Wer Energiewende will, muss auch erklären, wo denn das Gas für die Zwischenzeiträume auch tatsächlich herkommen kann. ({9}) Im Übrigen geht es nicht nur um Gas selber, nicht nur um Methan, sondern es geht auch um die Gasinfrastruktur. Denn die Gasinfrastruktur, die jetzt für Methan genutzt wird, wird für Wasserstoff darüber hinaus auch nach 2050 noch dringend gebraucht, meine Damen und Herren. ({10}) Was wir brauchen, ist vertrauensvolle Zusammenarbeit und eine Ebene der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland, auch in der Zukunft. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war eine kluge Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, in unserer Verfassung nur die Wahlrechtsgrundsätze niederzulegen, nicht aber die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Wahlsystem. Es war der Deutsche Bundestag, der sich 1953 für das System der personalisierten Verhältniswahl entschieden hat. Und auch wenn wir heute über die sechsundzwanzigste Änderung des Bundeswahlgesetzes debattieren, wollen wir an diesem System festhalten. Die Wahlrechtsreform, die wir ab heute im Parlament beraten, ist deshalb eine Reform im bestehenden System. Der Dualismus aus in Wahlkreisen errungenen und durch Listenwahl erzielten Mandaten hat sich bewährt. Das sichert die Vielfalt unseres Parlaments und sorgt dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger sich gut vertreten fühlen können. Weil wir drei sich wechselseitig ergänzende Maßnahmen zum Ansatz bringen, kann trotz moderater Eingriffe in das System der personalisierten Verhältniswahl insgesamt eine merkliche Wirkung erzielt werden. Weil wir aber alle drei verfassungsrechtlich zulässigen Stellschrauben nutzen, müssen wir sie nicht so fest anziehen, dass sie am Ende abzubrechen drohen. Wir verhindern das Entstehen von Überhangmandaten, indem wir die Anzahl der Wahlkreise moderat von derzeit 299 auf 280 reduzieren wollen. Dabei bleiben die Abgeordneten für die Bürgerinnen und Bürger auch regional erfahrbar. Das stärkt das Vertrauen in unsere parlamentarische Demokratie. Gerade deswegen kam für uns die von der Opposition vorgeschlagene radikale Reduzierung um 49 Wahlkreise auch nicht in Betracht. Dieser Reformschritt wird allerdings erst im Jahr 2025 wirksam. Sicherlich wäre es auch jetzt schon rechtlich und tatsächlich möglich gewesen. So haben wir aber die Möglichkeit, ohne Zeitdruck die Verringerung der Wahlkreise in einem transparenten Verfahren vorzunehmen. Der den Bundestag vergrößernde Ausgleichsbedarf wird auch dadurch reduziert, dass wir im Ergebnis zulassen, Überhangmandate einer Partei mit deren Listenmandaten in anderen Ländern faktisch zu verrechnen. Aber auch hier bleibt die föderale Struktur unseres Bundesparlaments im Grundsatz erhalten. Ein Leerlaufen ganzer Landeslisten einer Partei wird verhindert. Würde man aber die Mindestsitzkontingente im ersten Zuteilungsschritt ganz abschaffen, wäre die Repräsentanz von ganzen Regionen im Bundestag durch unterschiedliche politische Richtungen nicht mehr gewährleistet. Schließlich tragen drei nicht ausgeglichene Überhangmandate mit dazu bei, dass der Bundestag nicht weiter anwächst. Deren Anzahl liegt deutlich unter dem verfassungsgerichtlich zulässigen Maß, und sie führen nicht zu einer signifikanten Verzerrung. Unser Wahlsystem kennt zudem bereits jetzt keine ganz strikte Zweitstimmenproportionalität. Diese ist bereits durch die Regelung zur 5‑Prozent-Hürde und auch durch die Umrechnung der Stimmen in ganze Sitze nach dem Divisorverfahren durchbrochen. Die möglichen Proporzverschiebungen durch die drei ausgleichslosen Überhangmandate sind in ihrer Wirkung nicht weit davon entfernt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man mag dieser Reform den Vorwurf machen, sie sei nicht der große Wurf. Ja, auch diese Reform muss sich erst beweisen. Das aber liegt in der Natur jeder Reform. Nach der nächsten Bundestagswahl werden wir sehen, wie groß der Wurf tatsächlich geworden ist. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke sehr. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 111 Abgeordnete, also fast jeder Fünfte, sitzt in diesem Haus auf einem Überhang- oder Ausgleichsmandat. Auch nach 24 Reformversuchen in 18 Legislaturperioden ist es noch immer nicht gelungen, das Element von Direktwahlen in das Leitprinzip der Verhältniswahl zu integrieren. Viele Wahlrechtsreformgespräche in dieser Legislaturperiode verliefen in Unverbindlichkeit. Letztlich kam es, wie von den Hundert Staatsrechtslehrern befürchtet: Das Hemd der Besitzstandswahrung war Ihnen näher als der Rock des Gemeinwohls. ({0}) Nun stehen wir ein Jahr vor der nächsten Wahl – ein Zeitpunkt, ab dem, rechtlich einigermaßen gesichert, kaum noch eine echte Reform möglich ist. Deshalb ist sie auch gar nicht versucht worden. Da kommt die Regierungsmehrheit am Dienstag mit einer Drucksache um die Ecke, um sie heute in erster Lesung in 40 Minuten zu beraten: wie auf allen anderen politischen Feldern, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein zusammengenageltes Stückwerk. Von Reform kann überhaupt nicht die Rede sein. Die 299 Wahlkreise sollen auf 280 reduziert werden. Das wollen Sie auch nicht gleich machen, sondern irgendwann mal später. Gleichzeitig soll eine Reformkommission eingesetzt werden, die hoffentlich etwas zustande bringt. Dann würden Ihre Vorschläge überhaupt nicht wirksam. Angenommen, die CSU erringt ein zusätzliches Überhangmandat gegenüber der 2017er-Wahl, so würde der gewünschte Effekt einer Verkleinerung schon allein durch dieses Ereignis konterkariert. Dann kommt die irritierende Regelung, bis zu drei Überhangmandate pro Landesliste nicht auszugleichen. Das bedeutet: So entstehen in Zukunft wieder Überhangmandate, die der Partei, die sie erzielt, abweichend vom Verhältniswahlergebnis, zusätzliche Mandate verschafft. Dieser Vorteil gilt natürlich nur für die großen Parteien, also nur die, die Überhangmandate erzielen können. Genau das war durch die Wahlrechtsreform 2013 aus verfassungsrechtlichen Gründen abgeschafft worden. Wieso also dieser Bocksprung rückwärts? Man darf vermuten, dass es sich um eine Lex CSU handelt. Denn: 2017 hatte die CSU durch ihre sieben Überhangmandate 108 Ausgleichsmandate ausgelöst. Das war dann den Beteiligten doch zu viel, um das so zu belassen. Wenn man drei davon nicht ausgleichsfähig macht, würde die CSU bei gleichem Wahlergebnis wie 2017 durch ihre Überhangmandate nur 62 Ausgleichsmandate auslösen. Meine Damen und Herren, das ist ein tolles reformerisches Ergebnis für einen zukünftig kleineren Bundestag! ({1}) Schließlich sollen überhängende Direktmandate Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern verdrängen. Die Rechenoperation hierzu wird kein Wähler in Deutschland je verstehen. Der im Juli hier behandelte Vorschlag der drei kleinen Parteien war und ist keine Alternative, obwohl mit Macht beworben und medial als Großtat gepriesen. 50 Wahlkreise weniger und parallel eine Erhöhung der Sollzahl der Mandate: Das würde zwar nicht wirkungslos bleiben, aber das Kernproblem der Überhang- und Ausgleichsmandate wird überhaupt nicht gelöst. Bleibt die echte Alternative der AfD. In keinem Bundesland dürfen Parteien mehr Direktmandate erlangen, als ihnen Listenmandate nach Zweitstimmen zustehen. Dieses Ergebnis dadurch herzustellen, dass nur die stimmstärksten Direktkandidaten zum Zuge kommen, ist demokratische Normalität, kann also schon gar nicht verfassungswidrig sein. Die überschaubare Zahl derer, die da nicht zum Zuge kommen, wird nicht bestraft, sondern nur nicht belohnt. Bedenken Sie: Direktmandate mit lediglich relativer Mehrheit zu vergeben, ist unüblich. Im Kommunalraum ist noch niemand auf die Idee gekommen, Oberbürgermeister mit relativer Mehrheit zu wählen. ({2}) Und bedenken Sie weiter: Der durchschnittliche Listenmandatsträger hat deutlich mehr Stimmen im Rücken als der durchschnittlich direkt gewählte. Zwar hatte der Kollege Amthor an dieser Stelle das Gegenteil behauptet. Dieses war jedoch erwiesenermaßen falsch. Wenn man also gewollt hätte, hätte man eine ordentliche Reform zur rechten Zeit hinbekommen. Man wollte jedoch nicht, und zwar alle anderen Parteien wollten nicht – mit Ausnahme der AfD. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Özdemir für die SPD-Fraktion. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Torbogen des Franz-Haniel-Gymnasiums in Duisburg steht der Spruch: „Eifriges Ringen führt zum Gelingen“. Im Deutschen Bundestag habe ich dann gelernt, dass die einen eifrig an der Sache arbeiten und dass die anderen sich ereifern. Ich möchte Ihnen drei Gründe nennen, warum wir die Änderungen im Wahlrecht, insbesondere die zur Verhinderung der weiteren Vergrößerung des Deutschen Bundestages, vorschlagen: erstens die Schlagzeilen in der Presse, zweitens die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2012 – darauf, wer damals regiert hat und in der Opposition gewesen ist, kommen wir auch noch –, drittens der blinde Aktionismus der Opposition mit dem Gesetzentwurf. Der Reihe nach. Das Wahlvolk sieht hier eigentlich immer nur den fertig zusammengesetzten Bundestag, die Zahl der Mandate. Die Menschen hören vom „Bläh-Bundestag“. Sie sehen: Die bauen, aber die passen irgendwie nicht mehr rein. – Dabei wird teilweise verkannt, dass der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament ist. Darüber hinaus finde ich es ein Stück weit respektlos, in der Öffentlichkeit das Haus der Demokratie dieser Republik als „aufgeblähtem Bundestag“ zu bezeichnen. Es geht auch mir manchmal so, dass ich auf den einen oder anderen Kollegen oder die eine oder andere Kollegin bzw. auf eine Fraktion hier im Hause verzichten könnte. Aber Demokratie ist Demokratie, und gewählt ist gewählt. Kommen wir zu den Zahlen, und Zahlen lügen an dieser Stelle nicht. Wenn man über die Vergrößerung des Deutschen Bundestages spricht oder das aktuelle Zahlenbeispiel nimmt, so vertritt ein Abgeordneter ungefähr 112 000 Einwohner, und selbst bei einer Vergrößerung auf 800 Mitglieder wären das 100 000 Einwohner. Vergleichen wir den Deutschen Bundestag doch einfach mal mit einem Auto. Die meisten wollen, dass ein Auto funktioniert, dass es fährt. Wie es in der Brennkammer aussieht, die zur Fortbewegung führt, will meistens keiner wissen. Das Wahlvolk tankt den Motor dieser Demokratie mit Stimmen voll und möchte am Ende des Tages, dass der Deutsche Bundestag diese Energie auch auf die Sitze bringt. Schauen wir uns doch einmal an, wie das in diesem Motor genau läuft. Es gibt zwei Stufen der Verteilung: Die erste Stufe ist die Verteilung der Sitze nach festen Sitzkontingenten der Länder entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, dann werden die Zweitstimmen auf die Landeslisten verteilt. Das führt dann beispielsweise dazu, dass in Thüringen die CDU acht Direktmandate gewinnt, obwohl ihr nach Zweitstimmen fünf zuständen; drei Überhangmandate. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Berlin. Die Grünen gewinnen hier ein Direktmandat, erhalten laut Zweitstimmen allerdings drei Mandate. Diese Selbstvergrößerung ist im System schon angelegt, weil man von einem sogenannten Mindestsitzverfahren spricht. Das heißt, der Deutsche Bundestag vergrößert sich selber um die größtmögliche Beteiligung des Erfolges. Um jede einzelne Stimme auch gerecht abzubilden – zweite Stufe –, vergrößert er sich selber. Bei der zweiten Stimme wird das dann auf das Verhältnis umgemünzt. Wir versuchen, das zu dämpfen – Kollege Heveling hat das gerade vorgetragen –, indem wir erst ab dem dritten Überhangmandat ausgleichen und indem wir ab dem 1. Januar 2024 die Regelung ins Werk setzen, dass wir auf nur noch 280 Direktwahlkreise heruntergehen. Das hat nicht jedem gepasst. Das ist allerdings jetzt die Einigung im Koalitionsausschuss. Darüber hinaus – ganz wichtig – setzen wir eine Reformkommission ein. Uns als SPD – daraus mache ich keinen Hehl – sind die wichtigsten Punkte – dazu wird gleich meine Kollegin Breymaier noch Stellung nehmen – die Parität und das Wahlalter ab 16. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2012 – hier ereifern Sie sich, liebe Opposition – gesagt, dass der Deutsche Bundestag bzw. der Gesetzgeber das Überhandnehmen von Überhangmandaten im Blick behalten muss. Warum die FDP 2012 nicht auf den Trichter gekommen ist, da was zu tun, und die Grünen in der Opposition erst in dieser Wahlperiode ihr Herz für das Wahlrecht entdeckt haben, erklärt sich mir auch nicht unbedingt. Schließlich: Der Gesetzentwurf der Opposition ist an dieser Stelle hastig zusammengeklaubt und nicht sachdienlich. Da meine Redezeit sich dem Ende neigt: Wir haben die Anhörung beschlossen. Die zweite und dritte Lesung in diesem Hause und der Beschluss über die Wahlrechtsreform, die niemand erwartet hat, stehen unmittelbar bevor. Unser eifriges Ringen hier im Hause – jedenfalls das der Koalition – steht kurz vor dem Ende. Entweder können Sie mit uns gemeinsam ringen oder wir sehen uns, wie angekündigt, alle gemeinsam in Karlsruhe wieder. In diesem Sinne – vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Der Auftrag an diesen Gesetzentwurf war sehr klar: die Verhinderung eines XXL-Bundestags für die nächste Bundestagswahl. Ebenso klar ist, dass der vorliegende Gesetzentwurf diesen Auftrag nicht erfüllt. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf kein guter Gesetzentwurf! ({0}) Die sachliche Herausforderung des Wahlrechts liegt auf der Hand: Überhangmandate verzerren das Prinzip der Verhältniswahl. Der Ausgleich dieser Verzerrung führt zu zusätzlichen Mandaten. Der Weg zur Beseitigung dieses Problems ist ebenso klar: Wir müssen die Ursache bekämpfen. Die Zahl der Überhangmandate reduziert man, indem man die Zahl der Wahlkreise angemessen reduziert. ({1}) Stattdessen fällt der Entwurf sogar hinter das zurück, was aus den Reihen der Union selbst vorgeschlagen wurde: immerhin eine Reduzierung auf 270 Wahlkreise. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält aber nur eine Reduzierung auf 280 Wahlkreise. Das ist viel zu wenig. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf kein guter Gesetzentwurf! ({2}) Der Gesetzentwurf bekämpft nicht die Ursache für einen möglichen XXL-Bundestag, sondern er legalisiert nachträglich sogar einen Teil der Verzerrung, indem er unausgeglichene Überhangmandate zulässt. Und die Koalition behauptet jetzt, das sei hinnehmbar; denn angeblich ginge es in Summe nur um drei Überhangmandate, also eine ganz kleine Zahl. Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen: Der Wortlaut des Normtextes, den Sie uns vorschlagen, ist in dieser Frage völlig unklar. ({3}) In § 6 Absatz 5 soll künftig die Rede davon sein, dass – Zitat – auf der Landesliste bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen bleiben. Hier steht „Landesliste“ in der Einzahl. Die SPD hat 16 Landeslisten. Sie haben 15 Landeslisten und die CSU. Der Wortlaut lässt völlig offen, ob es jetzt darum gehen soll, dreimal 16 oder 15 Überhangmandate zuzulassen. ({4}) Wer in einer solch zentralen Frage der politischen und verfassungsrechtlichen Bewertung einen so unklaren Wortlaut vorlegt, der hat schlampige Gesetzgebungsarbeit geleistet. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf kein guter Gesetzentwurf! ({5}) Die Liste der Mängel ließe sich beliebig fortsetzen. Wie es besser geht, haben FDP, Linke und Grüne mit ihrem Gesetzentwurf gezeigt. Das hat auch die Sachverständigenanhörung ergeben. Zeitdruck ist überhaupt kein Gegenargument; denn Sie haben den Zeitdruck bewusst herbeigeführt. ({6}) Sie haben bloß ein Feigenblatt vorgelegt. Welche Blöße dieses Feigenblatt verdecken soll, ist doch ganz klar: Erst hat die Koalition das Thema ignoriert, dann hat sie es verzögert, und mit diesem Gesetzentwurf hat sie es am Ende verstolpert. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Buschmann. ({0}) – Frau Kollegin Haßelmann, mir fehlt momentan die Wirkkraft des Mikrofons. ({1}) Jetzt funktioniert es wieder. – Ich bedanke mich bei dem Kollegen Dr. Buschmann und rufe als nächsten Redner den Kollegen Friedrich Straetmanns, Die Linke, auf. ({2})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf hat die Große Koalition mit einem Grundsatz gebrochen – und das ist zugleich eine Stilfrage –, nämlich mit dem Grundsatz, alle Parteien in die Änderung des Wahlrechts einzubinden. Dies kritisieren wir als Erstes. ({0}) Am Ende entscheidet der Koalitionsausschuss als Klüngelrunde über das Wahlrecht und wirft uns diesen Gesetzentwurf als unfertiges Produkt – Herr Buschmann hat es angesprochen – schlicht und einfach vor die Füße. Unglaublich! ({1}) Das Ganze geht einher mit einer eindeutigen Zielsetzung, nämlich einer klaren Bevorzugung der Unionsparteien. Diese sind mit diesem Entwurf gar nicht in der Lage, den Bundestag zu verkleinern. Jetzt muss ich mich erst mal wieder einkriegen, und dann kann ich mich etwas amüsieren: Es gibt wieder eine Kommission. Wir hatten gar keine Kommission, oder? – Doch, wir hatten seinerzeit eine Kommission bei Herrn Schäuble, und da haben wir über ein Jahr zusammengesessen. Im Oktober 2019 haben Linke, Grüne und FDP einen sorgfältig ausgearbeiteten Wahlrechtsentwurf vorgelegt. Sie sind aber nicht in der Lage, mit uns darüber zu reden. Das ist eine Unverschämtheit! ({2}) Sie wollen in der Kommission nun auch das Wahlrecht ab 16 und die bessere Repräsentanz von Frauen im Parlament behandeln. Eigenartig – gerade die Repräsentanz von Frauen war mir schon vor zweieinhalb Jahren ein Anliegen, und die Grünen hatten mich dankenswerterweise zumindest darin unterstützt. Wir haben eine Totalverweigerung seitens der CSU festzustellen. Durch den Zeitablauf haben Sie es geschickt verstanden, den Zeitdruck auf die Parlamentarier so zu erhöhen, dass eine sorgfältige Behandlung dieses wichtigen Themas mit einer breit angelegten Diskussion nicht möglich ist. Das ist eine Unverschämtheit! ({3}) Außerdem sieht Ihr Entwurf vor, dass Stimmen für Parteien mit Überhangmandaten nun mehr wert sind als Stimmen für Parteien ohne Überhangmandate. Das kann im Extremfall durchaus entscheidend sein. Die CSU profitiert von diesem Entwurf ganz eindeutig. Während nämlich alle anderen Parteien ihre Überhangmandate mit den Listen anderer Landesverbände verrechnen müssen, fällt diese Kompensation für die CSU weg, da sie – welche Überraschung – nur in Bayern antritt. Die hat gar keine anderen Landeslisten. ({4}) Das ist also ein Gesetzentwurf, der Ihnen nutzt, und darum haben Sie die Sache so lange verzögert. ({5}) Zu einer solchen Ungleichbehandlung sagt das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil, das Sie dankenswerterweise auch in Ihrem Gesetzentwurf zitieren: Lässt sich eine Ungleichbehandlung nicht durch besondere, sachlich legitimierte Gründe rechtfertigen, so ist die Entscheidung für dieses System korrekturbedürftig. Daran gemessen darf – anders, als Sie es hier festschreiben wollen – die Stimme eines Altöttingers nicht mehr wert sein als die Stimme einer Bielefelderin. ({6}) Ein sachlich gerechtfertigter Grund ist das im Sinne der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht. Wenn Sie diesen Vorschlag so durchbringen wollen, dann müssen wir auch zwingend über die Geschäftsordnung des Bundestages nachdenken. Denn dann ist es nicht länger zu rechtfertigen, dass die CSU Vorteile daraus zieht, dass sie alleine in Bayern antritt, dort Stimmen erzielt und sich dann in eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU begibt, um daraus wiederum Vorteile zu ziehen. ({7}) Darum sollten wir uns tatsächlich mal die Geschäftsordnung des Bundestages anschauen. Sie von der CSU haben das wichtige Thema Wahlrecht sträflich vernachlässigt und schimpflich behandelt. Vielen Dank. Auf Wiedersehen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Und nun spricht zu uns die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das, was Union und SPD hier beim Wahlrecht vorhaben, ist grottenschlecht und ungeeignet, den Bundestag wirklich zu verkleinern. ({0}) Was die Koalition hier als Erfolg verkaufen will, ist ein Armutszeugnis. Der Vorschlag wird keine Dämpfungswirkung haben, und das weiß jede und jeder, der sich mit dem Wahlrecht befasst und einen Blick in diesen grottenschlechten Gesetzentwurf getan hat. ({1}) All unsere Berechnungen auf der Grundlage aktueller Umfragen und auf der Grundlage des alten Bundestagsergebnisses zeigen: Wenn man den Gesetzentwurf darauf überträgt, dann ist klar, dass es keine Dämpfungswirkung geben wird. Ich zeige Ihnen als Beispiel diese Grafik: Wenn wir das Wahlrecht so lassen würden, wie es ist, sähe die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag so wie hier dargestellt aus. Für alle, die es nicht lesen können: 771 Sitze. Wenn wir dem Vorschlag der Koalition folgen würden, sähe nach einer Umfrage von Infratest dimap vom 3. September der Bundestag so wie auf dieser zweiten Grafik dargestellt aus. Für diese paar popeligen Sitze, die man hier einsparen würde, erfolgt diese ganze Aktion. Und dann gaukelt man den Menschen auch noch öffentlich vor, man tue etwas in der Sache und bringe eine Reform auf den Weg. Das ist nicht der Fall! ({2}) Der Entwurf ist handwerklich schlecht gemacht; einige Beispiele dafür wurden schon genannt. Der Entwurf ist inhaltlich ungeeignet, den Bundestag zu verkleinern. Er dämpft nicht. Nichts als weiße Salbe ist es, meine Damen und Herren, weil man sich öffentlich keine Blöße geben will. Aber niemand wird daran vorbeisehen, dass Sie mit dem, was Sie hier machen, einfach an der Herausforderung gescheitert sind, eine Wahlrechtsreform auf den Weg zu bringen. Sie sind daran kläglich gescheitert, und das weiß jede und jeder. ({3}) Meine Damen und Herren, das Erste ist: Die Absenkung der Zahl der Wahlkreise um diese paar von 299 auf 280, die hier angesprochen wird, kommt erst 2024. Zur nächsten Wahl passiert in dieser Hinsicht gar nichts. Das muss man einmal laut sagen. Das Zweite ist: Es ist der absolute Bruch mit den Wahlrechtsgrundsätzen. Und ich frage mal die SPD: Seid ihr eigentlich noch im Hier und Jetzt, dass ihr euch auf diesen Bruch der Grundsätze, den Nichtausgleich von Überhängen, einlasst? Geht es euch so gut, dass ihr das mitmachen könnt? ({4}) Verrückt, meine Damen und Herren! Das Dritte und Letzte. Dann verpackt man das, was man noch großartig an unserem Vorschlag und dem der Linken beklagt hat, nämlich dass wir eine Reformkommission zur Parité für diese Legislaturperiode machen wollen. Was habt ihr uns dafür gescholten! ({5}) Das verpackt man jetzt als SPD in eine Kommission bis 2023. Das heißt, das Thema Frauen im Bundestag wird vertagt, und zwar bis 2023!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen bedauerlicherweise zum Schluss kommen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Und der Gesetzentwurf enthält eine Absage an das Wahlalter 16. – Also, nichts als weiße Salbe und kläglich gescheitert an der Herausforderung Wahlrecht. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Michael Frieser. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Drei Minuten Buschmann, drei Minuten Straetmanns, drei Minuten Haßelmann – drei, drei, drei, bei Issos Keilerei. ({0}) Mehr war da auch nicht. Sie haben nichts über das deutsche Wahlrecht, über seine Komplexität erfahren. Sie haben nur eines hören können, nämlich an der Erregungskurve, ({1}) dass das, was die Koalition vorlegt, ganz richtig sein muss. ({2}) Es ist vor allem deshalb richtig, weil es zwei Dinge tut: Es bewahrt die Wahlrechtsgrundsätze, beginnend bei der Tatsache, dass es direkte Elemente und Verhältnis-, also Listenelemente, gibt, das, was uns vorher mal die Opposition präsentiert hat, übrigens ohne ein Wort darüber bei anderen Fraktionen in diesem Hause zu verlieren. Wir hingegen haben es wenigstens versucht – jetzt auch über Jahre –, hier noch mal einen Konsens herzustellen. ({3}) Das Bewahren der Grundsätze ist das Entscheidende. Jeder muss wissen: Wenn er eine nennenswerte Anzahl an Wahlkreisen, zum Beispiel 50, ohne jede Aussicht darauf, dass dies den Bundestag verkleinern würde, einfach herausnimmt, dann bedeutet das, er vergeht sich an diesen Grundsätzen zulasten der Direktmandate, zum Heilen eines Problems, das auf der Verhältniswahlrechtsseite entsteht. Genau das tun wir nicht mit einer maßvollen Reduzierung. Und wie wir das am Anfang der Reformkommission auch gesagt haben, soll dieses wesentliche Element tatsächlich erst für die nächste Wahl gelten. Wichtig ist aber, um den ungebremsten Aufwuchs dieses Parlaments zu verhindern, dass dieser wichtige erste Verteilungsschritt, der die regionale Verteilung der Mandate auf das Land, das Repräsentieren einzelner Regionen gewährleisten soll, erhalten bleibt, ({4}) so wie es das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt, nicht so, wie die Opposition es macht, ihn einfach zu streichen und damit einen Optionsschein auf die Zukunft auszustellen und zu glauben, es werde sich schon richten. Ja, natürlich wird es sich schon richten, aber eben nur in der eigenen Bilanz. Es ist nämlich ein Entwurf der Opposition gewesen, der im Gegensatz zu dem Koalitionsvorschlag, den ich gerne noch mal zusammenfassen darf, ausschließlich Ihre Interessen berücksichtigt. ({5}) Wir dämpfen in diesem ersten Verteilungsschritt – dies wird eine wesentliche Auswirkung haben – die Überhangmandate, die das Verfassungsgericht eindeutig als nicht nur konform mit dem Wahlrecht, sondern auch als eine Auswirkung der Umsetzung des Wählerwillens ansieht. Und an dieser Stelle mal eine Antwort: Dass die Christlich-Soziale Union in Bayern antritt, wird zu keinem Effekt aus dieser Wahlrechtsreform führen. Die Überhangmandate werden bei der Christlich-Sozialen Union keinerlei Auswirkungen haben. ({6}) Es ist ein Ziel, die Größe dieses Bundestages möglichst zu bewahren, zu vermindern, ({7}) damit wir genau diese Ziele erhalten und erreichen, die wir haben: Funktionsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit. Und am Ende des Tages bleibt es dabei: Gewinnen Sie Wahlkreise. Dann wird sich diese Reform auch in der Opposition als eine der besten erweisen, die wir in der letzten Zeit auf den Weg gebracht haben. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Wir hören jetzt wieder zu. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 280 Wahlkreise also ab der nächsten Wahl und eine Reformkommission; Wahlrecht, Wahlalter, Modernisierung der Parlamentsarbeit und – ich glaube, das ist der größte Brocken – die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten des Deutschen Bundestages. ({0}) Ich glaube ja, dass wir die einzige Partei sind, der man nicht unterstellen kann, sie vertrete hier nur ihre eigenen Interessen. Ich denke auch, dass man das nicht so marginalisieren sollte. 19 Wahlkreise weniger, das hieße für Baden-Württemberg, dass es wenigstens zwei Wahlkreise weniger sind. Leute, das ist echt ein Flächenbundesland. Das macht richtig was mit einem. Also, da bin ich auch gespannt, wie wir das hinkriegen werden. ({1}) Wir haben drei Jahre Zeit; das ist viel. Ich glaube, ich kann sagen, die Parlamentarierinnen – außer die, die ganz rechts sitzen; aber das sind ja nicht so viele – sind sich ganz überwiegend im Ziel einig: „Mehr Frauen in die Parlamente!“ – Das war es dann aber auch schon. Bei den Männern findet man schon mehr echte, eingefleischte Paritätsgegner. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass man selber auch durch eine Quotenregelung im Parlament sitzt. Die Aufteilung der Parlamentssitze nach Bevölkerung, der Proporz nach Bundesländern sind nichts anders als eine Quote. Sie gilt im Bundestag. Sie gilt nicht bei der Bundesregierung; sonst fände man dort weniger Regierungsmitglieder aus dem Saarland und mehr aus Baden-Württemberg. Warum die Quote jetzt so klaglos beim Bevölkerungsproporz akzeptiert wird, sich jedoch beim Geschlechterproporz Pickel entwickeln, das hat sich mir noch nicht erschlossen. Ich glaube, wir haben hier ein echtes Demokratieproblem. In keinem einzigen Landesparlament und auch nicht im Bundestag sind Frauen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil vertreten. Im Bundestag gibt es zurzeit 486 Männer und 223 Frauen. Es gibt also exakt so viele Frauen hier wie Juristinnen und Juristen und Lehrerinnen und Lehrer zusammen. Was sagt uns das? Auf den ersten Blick nichts, aber es ist eine schöne Zahl. Sie führt uns aber geradewegs zum Stichwort „Pluralität“. Wir bilden doch hier nicht die Bevölkerung ab, die Jungen, die mit Migrationshintergrund, die mit Berufserfahrung außerhalb der Politik, Menschen mit Behinderungen usw. Bei einem Gruppenbild mit allen Schwarzen ist der Kollege Karamba Diaby regelmäßig alleine. Und dazu kommt noch der Gedanke, dass die Reformkommission erst einmal das Ziel beschreiben soll; den Weg dahin können dann die Rechtsgelehrten gehen. Da muss ich sagen: Wenn ich sehe, was die CDU-Landtagsfraktion in Thüringen heute zum Besten gegeben hat, nämlich dass sie nun ausdrücklich in ihrer Landesverfassung festschreiben will, dass Wahllisten nicht quotiert werden dürfen, dann habe ich vor dieser Kommission ein bissel Panik. Ich hoffe, wir kriegen es dann aber in der Mehrzahl dieses Hauses hin. Am Ende ist es dann auch eine Frage von Wahlergebnissen. Der Deutsche Frauenrat mahnt uns. „Wir brauchen alle Argumente: Mehr Frauen in die Parlamente!“ Schönen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der Lautstärke in der Debatte sollten wir doch einmal sehen: Uns alle eint doch das Ziel einer notwendigen Verkleinerung des Deutschen Bundestages. ({0}) Und auch wenn Sie das kritisieren: Genau dafür haben wir heute einen vernünftigen Vorschlag vorgelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Jetzt kann man kritisieren und sagen: Darauf hat man zu lange warten müssen. – Aber ja, wir haben auch intensiv miteinander gerungen. ({2}) Wir haben kontrovers diskutiert. Wir haben die Dinge abgewogen. Und jeder hat sich bewegt und hat auch nachgegeben, auch die Koalition. ({3}) Aber ich will Ihnen sagen: Viele Behauptungen, die Sie hier vorgetragen haben, sind so nicht richtig. Herr Glaser, Sie sagten, dass uns das eigene Hemd näher sei als der Rock des Allgemeinwohls. Dazu müssen wir sagen: Wir haben deutlich gemacht, dass wir zu Einschnitten bereit sind. ({4}) Und genau das ist auch ein Zeichen dieser Reform, liebe Kolleginnen und Kollegen. Frau Haßelmann hat vorgetragen, wir würden die Größe des Bundestages nicht dämpfen. Das Gegenteil ist der Fall. Man hätte eine noch stärkere Dämpfung machen können. Aber wir werden auch mit diesem Vorschlag den Deutschen Bundestag verkleinern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Herr Straetmanns, Sie sagten, wir seien nicht in der Lage gewesen, mit Ihnen über Ihre Vorschläge zu reden. Auch das ist schlicht falsch. Wir haben hier ständig debattiert. Wir fanden Ihren Vorschlag nur nicht überzeugend, und das ist auch das gute Recht dieser Fraktion, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Dann sagten Sie auch, eine Stimme aus Bielefeld sei jetzt nicht so viel wert wie eine Stimme aus Altöttingen. Ich sage Ihnen eines: Eine Stimme aus Altöttingen ist genauso viel wert wie eine Stimme aus Bielefeld und sogar so viel wert wie eine aus Ueckermünde, und genau dafür tragen wir hier Rechnung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir haben ein faires und ein verfassungsrechtlich zulässiges Modell vorgelegt, und man muss mal deutlich sagen: Das ist Ihnen mit Ihren Vorschlägen nicht immer gelungen. ({8}) Ihre Vorschläge waren entweder verfassungswidrig so wie der Vorschlag der AfD, oder sie widersprachen diametral der föderalen Ordnung unseres Staates. Ich will Ihnen sagen: Unsere Fraktion stand und steht immer zu den Direktmandaten. ({9}) Sie haben einen guten Sinn; sie stehen für Basisdemokratie und Bürgernähe, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Ich finde, es ist ein zentraler Punkt, dass wir durchgesetzt haben, dass derjenige, der ein Direktmandat gewinnt, am Ende auch in den Deutschen Bundestag einzieht. ({11}) Wenn Sie behaupten, Gewinner dieser Reform seien CDU oder CSU gewesen, dann kann ich Ihnen sagen: Das ist falsch. Gewinner dieser Reform ist die Basisdemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Genau dafür tragen wir Rechnung; das sollten Sie nicht kleinreden. Wir freuen uns, dass wir den Deutschen Bundestag verfassungskonform verkleinern. Herzlichen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir nur einen Hinweis zum Nachdenken über das Wochenende: Ich glaube nicht, dass die Größe des Bundestages etwas mit dem Gemeinwohl zu tun hat. Denn wenn man das konsequent zu Ende denken würde, hätten wir ein Problem. ({0}) Ich schließe damit die Aussprache.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Im Jahr 1999 fasste die damalige rot-grüne Bundesregierung den Kabinettsbeschluss, die Gleichstellung – sehr wohl zu unterscheiden von Gleichberechtigung – von Männern und Frauen als durchgängiges Leitprinzip in allen Politikbereichen durchzusetzen, gleichzeitig und eng verknüpft mit dem Prinzip des Gender-Mainstreamings. Im Jahr 2000 wurde das in § 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien aufgenommen – alles im Hinterzimmer, ohne gesellschaftliche Debatte. ({0}) Das ist zweifellos ein großer Erfolg jahrzehntelanger Lobbyarbeit des Radikalfeminismus und der Genderideologen auf zahlreichen nationalen und internationalen Konferenzen. Seither wurde die Politik der Gleichstellung systematisch auf öffentliche Verwaltungen, akademische Einrichtungen und zunehmend auch die Privatwirtschaft ausgeweitet. Geschätzt 5 000 hauptamtlich und mehrere 10 000 nebenamtlich Beschäftigte sind in Deutschland nur dazu da, Gleichstellung umzusetzen; ({1}) darunter etwa 150 Genderlehrstühle inklusive Mitarbeiter, die die Gleichstellungspolitik ideologisch begleiten und pseudowissenschaftlich legitimieren. „Mitarbeiter*innen“ muss ich hier eigentlich sagen. ({2}) Denn weit über 90 Prozent dieser Beschäftigten sind – welch seltsamer Zufall – weiblichen Geschlechts. Die Politik der Gleichstellung beansprucht, Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – zur Durchsetzung zu verhelfen. Das, meine Damen und Herren, ist ein seit Jahrzehnten andauernder Etikettenschwindel, eine systematische Täuschung der Öffentlichkeit. Gleichstellung widerspricht in Wahrheit der Gleichberechtigung, und ich sage Ihnen, warum. ({3}) Gleichberechtigung heißt Chancengleichheit. Niemand wird wegen seines Geschlechts benachteiligt; eine hohe zivilisatorische Errungenschaft, auf die wir als Europäer zu Recht stolz sind und die niemals wieder infrage gestellt werden sollte. Genau das geschieht aber durch die Politik der Gleichstellung, die nicht Chancengleichheit, sondern Ergebnisgleichheit zum Ziel hat. Im Bundesgleichstellungsgesetz von 2015 heißt es in § 8: Sind Frauen in einem bestimmten Bereich … unterrepräsentiert, hat die Dienststelle sie bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, bei Einstellung und beruflichem Aufstieg bevorzugt zu berücksichtigen. Bewirbt sich also ein Mann auf eine solche Stelle, dann wird ihm in vielen konkreten Fällen, selbst bei besserer Eignung und höherer Leistung, nur aufgrund des falschen Geschlechts eine Frau vorgezogen, ({4}) weshalb auf viele Stellen männliche Bewerbungen, Frau Kollegin, wegen der mangelnden Erfolgsaussichten schon gar nicht mehr erfolgen. ({5}) Dass in mancher Dienststelle die Sektkorken knallen sollen, wenn sie endlich zur männerfreien Zone geworden sind, mag ein bösartiges Gerücht sein; ich weiß es nicht. Was hier aber geschieht, ist jedenfalls systematische, vom Staat betriebene Diskriminierung, ({6}) in den allermeisten Fällen von Männern; es können aber auch in Einzelfällen Frauen betroffen sein. Die Gleichstellungspolitik widerspricht damit in jedem Fall diametral dem Geist des Grundgesetzes ({7}) wie auch jedem Gerechtigkeitsempfinden, das nicht von der Genderideologie verdorben worden ist. Sie ist deshalb unverzüglich zu beenden. ({8}) Unsere Anträge enthalten konkrete Forderungen: Beendigung des Professorinnenprogramms, keine Geschlechterquoten im Aktiengesetz, beispielsweise auch Männer als Gleichstellungsbeauftragte zulassen. ({9}) Diese Politik ist auch deshalb zu beenden, weil sie ein Grundprinzip unserer aufgeklärten modernen Rechtsordnung unterhöhlt, nämlich dass Individualrechte über Gruppenrechten stehen und durch solche niemals verletzt werden dürfen. Die Gleichberechtigung, das Diskriminierungsverbot ist ein Grundrecht und als solches ein Abwehrrecht des Individuums gegen den Staat. ({10}) Durch die Verdrehung zur Gleichstellung wird daraus quasi ein Recht des Staates gegenüber seinen Bürgern, nämlich die Gesellschaft gemäß seinen Vorstellungen aktiv zu formen und umzuformen. Als Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes 1994 erweitert wurde, wurde im Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eine 50-Prozent-Frauenquote noch klar und deutlich als „sachlich ungerechtfertigter Dirigismus“ abgelehnt. Man verzichtete damals auch noch bewusst auf den Begriff der Gleichstellung. Trotzdem treiben die Merkel-Regierungen diese immer weiter voran. Das mündet, konsequent weitergedacht, in Totalitarismus, meine Damen und Herren. ({11}) Ich komme zum Schluss. Treiber dieser Politik, ich sagte es schon, ist das Genderdogma, dass jede Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern in Berufen, Vorlieben und Fähigkeiten ausschließlich auf die Gesellschaft und ihre angeblich unterdrückerischen Wirkungen auf Frauen zurückgeht, eine durch die seriöse naturwissenschaftliche Anthropologie hundertmal widerlegte Annahme. Es gibt natürliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sich auch auf die Gesellschaft niederschlagen, und das ist gut so. Der Staat hat die Gleichberechtigung der Geschlechter zu garantieren, aber den Umbau der Gesellschaft im Sinne der Gleichmacherei zu unterlassen. ({12}) Er soll mäßigend auf den Geschlechterkampf einwirken und diesen nicht noch anheizen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist auch im Sinne all der Frauen, die aufgrund ihrer Leistung ihre gesellschaftliche Position innehaben. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch darum, die Redezeiten zu beachten. Ich entziehe äußerst ungern das Wort. Wenn ich zweimal dazu aufgefordert habe, dann sollte man vielleicht doch zum Ende kommen. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Melanie Bernstein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Melanie Bernstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004670, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es an sich erfreulich, dass sich die AfD in gleich drei Vorlagen so intensiv Gedanken zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern macht. ({0}) Was man aber in den Vorlagen liest, passt dann doch wieder zu dem, was die Kollegen sonst so zum Thema Frauen zu sagen haben. ({1}) Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Aktiengesetzes, dass „in der Vergangenheit wesentlich weniger Frauen als Männer ihr Leben der beruflichen Karriere … untergeordnet haben“, um in Führungspositionen aufzusteigen. Sie schreiben das, als sei das etwas Gutes. ({2}) Im Antrag „Gleichstellung beenden“ steht, die aktuelle Gesetzeslage führe dazu, dass Frauen sich dem Druck ausgesetzt sehen, „sich bei ihrer Berufswahl gegen ihre Interessensdisposition entscheiden zu müssen“. Wenn Sie also glauben, die Interessensdisposition der Frauen im Allgemeinen zu kennen, zeigt das nicht nur Ihren Paternalismus, sondern passt auch zu Ihren sonstigen Aussagen, etwa zur Einrichtung der Gleichstellungsbeauftragten, um die Sie sich ja solche Sorgen machen. Im Sächsischen Landtag beantragen Sie, sämtliche Gleichstellungsbeauftragte abzuschaffen, da diese Ungleichheit fördern und zu einer zunehmenden Spannung in der Gesellschaft beitragen. ({3}) Ihr Bundessprecher Jörg Meuthen forderte schon 2015, Gleichstellungspolitik als durchgängiges politisches Leitprinzip auf allen Ebenen unverzüglich und ersatzlos zu beenden. Es handele sich hierbei um einen unzulässigen Eingriff des Staates, der überdies aus biologischen Gründen zum Scheitern verurteilt sei. ({4}) Der AfD-Kollege Fabian Jacobi spricht von Gleichstellungspolitik als Zwang und behauptet, die Altparteien wollten „zur Sicherung ihrer Herrschaft einen Geschlechterkonflikt anzetteln“. Frauenquoten seien „ein Gift, eine Säure, die unsere freiheitliche Gesellschaft zerfrisst“. Die AfD Sachsen nennt die Theorie von Geschlechtern als sozialem Konstrukt „eine erfundene linksideologische Lehre, geschaffen für die geplante Auslöschung der Geschlechter“. ({5}) Das muss man einfach mal ganz in Ruhe auf sich wirken lassen. Ich hatte diese Beispiele ja auch schon im Familienausschuss genannt, aber da waren Sie bei der Debatte ja leider persönlich nicht anwesend. ({6}) Meine Damen und Herren, angesichts der zitierten Einlassungen der AfD zum Thema glaube ich einfach nicht, dass es bei den drei Vorlagen um eine inhaltliche Weiterentwicklung der Institution der Gleichstellungsbeauftragten gehen soll, ({7}) auch nicht um Gleichberechtigung, ob nun in Führungspositionen oder ganz generell. Ich halte alle drei Vorlagen vielmehr für ein taktisches Manöver auf dem hinlänglich geäußerten Weg der Zuweisung der Frauen in ihre vermeintlichen Interessengebiete. Welche das sind, können wir uns, glaube ich, alle denken. Meine Fraktion lehnt die Vorlagen daher ab. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die Wortmeldung kam leider ein bisschen spät, Herr Jongen. – Als nächste Rednerin wird nach der Herstellung hygienefähiger Zustände die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion, das Wort haben. ({0})

Nicole Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Initiativen beschert uns am heutigen Freitagnachmittag die AfD mit dieser Debatte. Sie spielt sich dabei als „Apostel der Gleichberechtigung“ für Männer und Frauen auf. Dabei zeigen Sie eigentlich in allen drei Initiativen, dass Sie erstens überhaupt nicht verstanden haben, worum es geht, ({0}) und zweitens, dass Sie null Komma null Interesse haben, etwas zu verändern. ({1}) Sie fordern Gleichberechtigung statt Gleichstellung. Aber das ist doch eigentlich gar nicht der Punkt. Es geht um eine echte und gelebte Gleichberechtigung im Alltag. Ja, formal genießen Frauen und Männer in Deutschland die gleichen Rechte, und das Grundgesetz bietet auch den Rahmen. Aber es geht doch darum, den Artikel 3 Absatz 2 entsprechend auszugestalten. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, von Männern und Frauen. Sie fordern weiter, nicht das Geschlecht als unterscheidende Variable heranzuziehen. Auch hier ist die Analyse falsch. Denn trotz gleicher Rechte bewegen sich Frauen in Berufen, in Politik und Gesellschaft eben nicht auf Augenhöhe mit den Männern. Das hat etwas mit geschlechterspezifischen Rollenzuschreibungen zu tun. Wir haben deutschlandweit top ausgebildete Frauen. Aber warum haben wir immer noch eine Lohnlücke, und warum sitzen so wenige von diesen Frauen in den Vorständen? ({2}) Im Gegensatz zu Ihnen glauben wir nicht, dass ihre Rolle immer so frei und selbstbestimmt gewählt ist. Gleiche Rechte müssen auch in gleiche Chancen münden. Dafür setzen wir uns ein. ({3}) Sie fordern, die Vorgaben zur Frauenquote ersatzlos zu streichen. Aber einen konstruktiven Vorschlag – das wissen wir ja schon – können wir nicht erwarten. Wir Freie Demokraten haben gestern an dieser Stelle einen Vorschlag vorgelegt: familienbedingte Auszeiten für Führungskräfte. Jede und jeder in unserem Land soll die Chance zur Verwirklichung haben, egal ob Mann oder Frau, egal ob mit oder ohne Kinder. Das ist zeitgemäß, modern und dringend notwendig. ({4}) Zu Ihrer letzten Forderung, der Forderung zu den Gleichstellungsbeauftragten, sage ich nur so viel: Fangen Sie in Ihren eigenen Reihen an! Verkneifen Sie sich Ihre herabwürdigenden Kommentare und Ihr unerträgliches Machogehabe! ({5}) Damit würden Sie das Miteinander zwischen Männern und Frauen in Deutschland wesentlich nach vorne bringen. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende und Zuhörende! Das Grundgesetz verpflichtet den Staat in Artikel 3 Absatz 2, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern durchzusetzen und aktiv Benachteiligungen zu beseitigen. Als auf dem Boden des Grundgesetzes stehende Demokratinnen und Demokraten tritt meine SPD-Bundestagsfraktion für eine aktive Frauenförder-, Gleichstellungs- und Genderpolitik ein. Und wir tun sehr gut daran, wie ich auch von der Mehrheit des Hauses weiß. Wir wollen Gesetze, die Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit von Frauen und Männern unterstützen. Dafür haben wir in den vergangenen Jahren viel getan: das Elterngeld, die Quote für Frauen in Führungspositionen in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst, der gesetzliche Mindestlohn, das Rückkehrrecht zur vorherigen Arbeitszeit, die Sexualstrafrechtsreform – nur um einige wenige zu nennen. ({0}) In dieser Legislatur haben wir noch Weiteres geleistet. Unter anderem haben wir die erste ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie der Bundesregierung verabschiedet. Wir errichten eine Bundesgleichstellungsstiftung. Wir wollen eine ernster genommene Gesetzesfolgenabschätzung hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit. Wir kämpfen für Parität in allen Parlamenten. Kurzum: Wir kämpfen mit starken Hebeln für starke Frauen in allen Bereichen und auf allen Ebenen. ({1}) Mag es zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Politik durchaus Differenzen darüber geben, ob die bisherigen Maßnahmen nur erste Schritte sind oder bereits große Erfolge hinsichtlich der Verwirklichungschancen für Frauen bedeuten, so ist doch eines gewiss: Ein Zurück in tradierte Rollenmuster wollen wir gemeinsam nicht. Vielmehr stärken wir Demokratinnen und Demokraten sowohl die Istanbul-Konvention als auch die Frauenrechtskonvention CEDAW. Wir wollen das Recht auf Gleichstellung für jede Person, für Frauen, Männer und Diverse, zu jeder Zeit ihres Lebenslaufes verwirklichen. ({2}) Den Gegnern von Emanzipation, Freiheit und Antidiskriminierung für jeden Menschen, die hier einen Gesetzentwurf zur Änderung des Aktiengesetzes vorgelegt haben, möchte ich nur sagen: Die Begründung ist einfach skandalös und beschämend. Sie wollen ein Gesetz ändern, weil männliche Bewerber – ich zitiere – „um die Früchte ihrer harten beruflichen Leistung“ gebracht werden. ({3}) Schluchz, mir kommen die Tränen. ({4}) Nur Antidemokraten haben Angst vor der 1995 auf der Vierten UN-Weltfrauenkonferenz als Ziel festgelegte – ich zitiere – „Machtgleichstellung der Frau“. Nur Antidemokraten wollen, wie in einem hier ebenfalls vorgelegten Antrag, die – ich zitiere – „Gleichstellung beenden“ und diskreditieren darüber hinaus das weltweit wichtige Prinzip des Gender-Mainstreaming. ({5}) Vor drei Tagen, am 15. September, haben wir den Tag der Demokratie begangen. Zu Recht wurde in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass autoritäre, neurechte und menschenfeindliche Ideologien und Bewegungen häufig versuchen, den Antifeminismus und das Antigendering als ihren Türöffner und Verstärker zu nutzen. Dabei gehört Gleichberechtigung zu den Grundrechtsgrundsätzen unserer Verfassung. Die Verwirklichung von Gleichstellung ist ein Grundpfeiler unserer pluralen und weltoffenen Demokratie. ({6}) Wir stärken daher unsere entsprechenden Gesetze und schützen sie gegen Angriffe von rechts. Ich denke da beispielsweise an das Bundesgleichstellungsgesetzes und an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, aber auch an die verschiedenen Landesgleichstellungsgesetze. Fakt ist: Im Rahmen einer pluralen und offenen Demokratie brauchen wir den staatlich geförderten strukturellen und verwaltungstechnischen Arm der Gleichstellungspolitik, so wie es uns Artikel 3 Absatz 2 vorgibt. Wir kennen die vielen Lücken der Gleichstellung genau. Grundsätzlich kann ich zusammenfassend dazu sagen: Es gibt in keiner Weise ein Erkenntnisproblem; es gibt ein Handlungsproblem. ({7}) Faktum ist: Niemand der jüngeren und schon gar nicht der älteren Frauen will, dass weiße Männer mittleren und höheren Alters in leitenden Positionen deutlich überrepräsentiert sind. Das gilt für betriebliche Führungspositionen wie für Parteien, Parlamente, für jedwede entscheidungsgebenden Gremien. ({8}) Denn deren zumeist tradierter Erfahrungsschatz reicht einfach nicht aus für eine moderne und vielfältige Gesellschaft. ({9}) Frauenförderung ist wichtig. Deswegen wollen wir die Parität – darüber ist schon gesprochen worden –, und zwar in den Vorständen und vor allen Dingen hier. Deswegen unterstütze ich auch das zweite Führungspositionen-Gesetz, das Christine Lambrecht und Franziska Giffey erarbeitet haben. ({10}) Eines ist klar: Wir brauchen eine verbindliche Quotierung, um dieser massiven Übermacht an Männern entgegenzutreten. ({11}) Es gibt weiterhin viel zu tun.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. – Es geht nicht nur um einen formalen Missstand. Mehr Frauen im Bundestag und mehr Frauen in Vorständen und Führungspositionen heißt auch – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, der alte weiße Mann hinter Ihnen hat die Macht, Ihnen das Mikrofon abzudrehen.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– mehr Vielfalt an Erfahrungen und Sichtweisen im Parlament und in den Unternehmen. Packen wir es daher an! Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade die Fraktion, die hier mit einer Männerquote von 90 Prozent sitzt, findet, dass Frauen mehr wollen oder bekommen, als ihnen zusteht. Das ist einfach nur peinlich. ({0}) Schauen Sie sich einfach einmal um, statt Kampagnen gegen Gleichstellungsbeauftragte und sogenannte Quotenfrauen zu führen und überall Genderverschwörungen zu wittern. Dieses antifeministische Schauspiel können wir als Linke nur vollständig zurückweisen. ({1}) In Unternehmensvorständen ohne Quote stagniert der Frauenanteil unter 10 Prozent. Um das noch einmal klarzustellen: Die meisten Unternehmen lassen nicht eine Frau in den Vorstand und geben als Zielgröße für die Zukunft „null“ an. Ohne verbindliche Quoten passiert hier nichts; das ist leider die Situation. Dann haben wir noch die Masse an Niedriglöhnen in sogenannten Frauenberufen, die erdrückenden Armutsrenten, die ungleiche Arbeitsverteilung in den Familien und Fakten und Fakten, die eindeutig belegen: Wenn wir jetzt keine wirksamen Gleichstellungsgesetze gegen Lohn- und andere Diskriminierungen schaffen, kommen wir gerade durch die pandemiebedingten Rückschläge keinen einzigen Schritt voran. Und das ist vollständig inakzeptabel. ({2}) Was wir nicht brauchen, sind rechte Männer und auch rechte Frauen, die zur Wahrung ihrer Privilegien und Besitzstände Stimmung gegen Gleichstellung und Emanzipation, gegen queere Menschen, interkulturelle Vielfalt, Alleinerziehende und somit immer auch gegen soziale Gerechtigkeit organisieren. Gerade in diesem Klima machen Gleichstellungsbeauftragte einen unverzichtbaren, anspruchsvollen Job. Hilfreich wäre, wenn Vorgesetzte, die ja meist männlich sind, auf Gleichstellungsbeauftragte, die im Verfassungsauftrag handeln, aktiv zugehen und ihre Aufgabe auf Augenhöhe ernst nehmen. Weil das erfahrungsgemäß nicht passiert, müssen die Durchgriffsrechte der Beauftragten gesetzlich erweitert werden. Wenn stattdessen hier darauf abgezielt wird, ihre Stellen zu kürzen oder als Kompromiss flächendeckend für Männer wie Sie zu öffnen, zeigt das, dass es nicht um die Sache geht, ({3}) sondern um egoistische Interessen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beharrungskräfte gegen Geschlechterparität hier im Bundestag und anderswo, die Widerstände gegen eine messbare Aufwertung von Arbeiten, die vor allem Frauen wegtragen, zum Beispiel in der Pflege, sind sehr groß. Ja, auch Männer sind durch patriarchale Verhältnisse benachteiligt, insbesondere dann, wenn sie Rollen oder Berufe einnehmen, die traditionell auf Frauen zugeschnitten sind. Deswegen geht es bei Gleichstellung auch nicht um eine reine Frauenveranstaltung, sondern um eine Mammutaufgabe für alle, mit verbesserter Kitaversorgung, fair verteilten Elternzeiten, starker Tarifbindung für gute Löhne und einem Steuersystem, das Frauen nicht systematisch in die Rolle der weniger Verdienenden zwingt, Stichwort „Ehegattensplittung“. Gute Demokratinnen und Demokraten machen hier mit und nicht da. Vielen Dank und schönes Wochenende. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Achelwilm. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich achte deshalb so auf die Redezeiten, weil wir mächtig hängen. Wir sind bereits jetzt bei einem Sitzungsende um 18.22 Uhr. Ich will nur für diejenigen, die Berlin heute noch verlassen wollen, darauf hinweisen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir hier wiederholt im Bundestag erleben, ist der plumpe Versuch, das Rad in Sachen Gleichstellung zurückzudrehen. Diese Manöver der AfD werden niemals erfolgreich sein; denn Frauen haben durch ihren jahrhundertelangen Kampf um Gleichberechtigung und Teilhabe so viel erreicht, dass sie sich mit Sicherheit nicht mehr ins Private zurückdrängen lassen. ({0}) Mag sich die kleine Minderheit in der rechten Ecke des Hauses das noch so sehr wünschen, ich sage Ihnen: Sie werden an den Frauen scheitern. ({1}) Eine Welt, in der Frauen und Männer gleiche Rechte und Chancen haben, ist eine gerechtere Welt. Es ist eine Welt, in der das Geschlecht nicht zu Ungleichheit führt. Es geht darum, dass jeder Mensch das sein und leben kann, was er sich erträumt, ohne Schranken, ohne Moral, ohne tradierte Rollenmuster. Für diese gerechte, bunte und vielfältige Welt kämpfen wir Grünen. ({2}) Denn, Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist auch, dass echte Gleichstellung bisher nicht erreicht ist. Frauen sind strukturell noch immer benachteiligt auf dem Arbeitsmarkt, sie werden immer noch schlechter bezahlt. In Führungspositionen von Unternehmen und Parlamenten sind Frauen immer noch in der Minderheit. Und Frauen wird ihre Selbstbestimmung, über sich und ihren Körper alleine entscheiden zu können, immer noch nicht zugestanden. Frauen werden aufgrund ihres Geschlechts beleidigt, bedroht und sogar getötet. Das alles ist eben keine Gleichberechtigung. Darum sage ich, anders als der kleine rechte Rand in diesem Haus es fordert: Wir brauchen kein Ende der Gleichstellungspolitik. Nein, Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen vielmehr einen Schub für echte Gleichstellung der Geschlechter in diesem Land. Da gibt es eine Menge zu tun. ({3}) Was wir brauchen, ist, den aktiven Gleichstellungsauftrag aus dem Grundgesetz in Artikel 3 Absatz 2 umzusetzen. Wir wollen, dass Frauen Wege frei gemacht werden und sie nicht doppelt und dreifach überlastet werden, weil sie mit struktureller Diskriminierung zu kämpfen haben. Das heißt: gleichwertige Bezahlung von Männern und Frauen und eine Aufwertung der Sorgeberufe, Schluss mit der verkappten Männerquote in Führungspositionen und Parlamenten und Schluss mit Sexismus und Hass, egal ob im Netz oder auf der Straße! ({4}) Die AfD ist trauriges Beispiel dafür, wie es aussieht, wenn keine Gleichberechtigung herrscht. ({5}) Ihr Ziel ist es, Frauen zurückzudrängen, weil Sie es nicht ertragen können, dass Frauen heute selbstverständlich mitreden. Ihr Feindbild ist die selbstbestimmte Frau, die so lebt, wie sie möchte. Und weil Sie von Frauen überfordert sind, weil Sie das nicht ertragen können, reagieren Sie ganz oft – auch in diesem Haus – mit Sexismus, teils sogar mit Hass. ({6}) Ich sage Ihnen: Wer hasst – hören Sie gut zu! –, bleibt unter seinen Möglichkeiten und unter seiner eigenen Würde. Und um Würde geht es, auch in diesem Haus. ({7}) Und Ihre Anträge sind unwürdig. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schauws. – Nächster Redner, dem wir jetzt lauschen, ist Professor Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ein paar Worte zu dem aktienrechtlichen Teil des Antrags verlieren, den die AfD gestellt hat. Die Begründung, die wir da von der AfD gehört haben, es gehe um einen Kampf der Geschlechter, hat mir fast die Sprache verschlagen. Ich dachte, ich sitze im falschen Film. Da merkt man, worum es geht: Hier wird sozusagen Klassenkampf als Geschlechterkampf und all dies gleichgesetzt. Unerträglich! ({0}) Dann habe ich mir gesagt: „Eigentlich kann man dazu gar nichts sagen“, und mich gefragt, ob ich mich hier drei Minuten hinstellen sollte, um zu schweigen oder zu sagen, was man Ihnen sagen muss, nämlich – nichts. ({1}) – Dazu komme ich gleich, keine Sorge! – Dann überlegt man sich natürlich, ob es doch bessere Vorschläge gibt. Zunächst einmal: Sie wollen all die Quoten, die auch im Aktienrecht sind, wieder abschaffen. In der Tat, es gibt Diskussionen über die Frage, ob die Quote weiterführt oder nicht. Aber es geht Ihnen gar nicht um die Abschaffung der Quoten. ({2}) Es geht Ihnen darum – die Kollegin Schauws hat es gesagt –, das Rad zurückzudrehen. ({3}) Ich sage Ihnen: Da machen wir nicht mit. ({4}) – Sie müssen lauter schreien, damit es im Protokoll drinsteht. ({5}) Sie schreiben: Abschaffung der Quote, es solle nur um Eignung gehen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! ({6}) Was Sie doch meinen, ist: Frauen sind ungeeignet. – Sagen Sie es doch! ({7}) Aber das trauen Sie sich nicht zu sagen. Weil Sie hier immer glauben, Sie sprechen für alle, möchte ich Ihnen etwas mitgeben, was ich vor einer Stunde drüben auf einer Tagung mitgenommen habe. Da haben wir über die wirtschaftsrechtlichen Entwicklungen gesprochen, und wir haben – die Kollegin Bauer hat es gerade schon gesagt – über den Vorschlag von Verena Pausder – #stayonboard – gesprochen, wie Frauen – das gilt im Übrigen auch für Männer – Familie und Beruf in Vorstandspositionen – ich sage ganz allgemein: in leitenden Positionen – besser miteinander vereinbaren können. Ich kann Ihnen sagen, wie die Zustimmung zu dieser Frauenförderung war: Sie lag bei über 95 Prozent. ({8}) Ich kann nur sagen: Das ist genau der Satz, mit dem dieses Plenum über Ihre Anträge abstimmen sollte: wegstimmen. Dann sind Sie unter 5 Prozent. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, meine Damen und Herren! ({9}) Und die letzte Minute schenke ich meiner Kollegin Launert, weil sie eine Frau ist. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sehr verehrter Professor Hirte, Sie schenken hier gar nichts. ({0}) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr schade, dass ich die nicht bekomme.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die bekommen Sie gegebenenfalls von mir.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Voranschreiten, gestalten, entscheiden, das ist das, was immer mehr Frauen in diesem Land wollen. Und es gibt sie, die Frauen in Führungspositionen, in oberen Bundesbehörden und Konzernen, die Familienunternehmerinnen, die den eigenen mittelständischen Betrieb leiten, die Frauen, die hohe politische Ämter bekleiden; es gibt sie. Wir sind also auf einem Weg – einem „guten“ ist übertrieben – hin zur Gleichberechtigung, wenn man einfach mal 100 oder auch nur 40 Jahre zurückschaut. Aber – das bestreitet die AfD ja immer – es gibt auch die gläserne Decke. Es ist immer noch deutlich schwieriger für Frauen als für Männer, nach ganz oben in die Chefetagen zu gelangen. ({0}) – Bitte? ({1}) Viele empfinden und erleben das so, und – ich will weitermachen – die Zahlen zeigen das; die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. – Hören Sie halt zu! ({2}) Nimmt man alle Betriebe zusammen, die eine Zielgröße für den Frauenanteil im Vorstand angeben sollen, dann sagen 70 Prozent der Unternehmen, deren Vorstand jetzt nur mit Männern besetzt ist: Unser Ziel ist „Quote null“. – Also, einen deutlicheren Fakt, als dass da alle Männer sagen: „Wir wollen das Ziel null“, gibt es doch gar nicht. Das ist ein ganz klarer Beweis, dass da offensichtlich nicht Frauenförderung betrieben wird. ({3}) Ganz ehrlich: 70 Prozent dieser Unternehmen wollen ihren Frauenanteil nicht erhöhen. Es geht nicht darum, ob es welche gibt. ({4}) Die wollen unbedingt keine Frau haben; genau diese Meinung haben sie. Das ist doch eigentlich erschreckend: Es geht nicht um die Frage, ob es keine Frauen gibt, sondern darum, ob man sie will, und hier will man sie nicht. Wenn ein Unternehmen nicht einmal in der Lage ist, eine Frau zu finden in der heutigen Zeit, bei den gut ausgebildeten Frauen, dann hat das Unternehmen seine Hausaufgaben nicht gemacht. Das gilt für alle Branchen; denn inzwischen gibt es Frauen in allen Branchen. ({5}) Dass Quoten, so umstritten sie auch sind, etwas bringen, kann man an der Quote für Aufsichtsräte sehen. Da hieß es am Anfang auch: Die Frauen gibt es alle nicht. Plötzlich, 2017, waren es dann 30, 2019 dann 35. ({6}) Ich habe das selbst erlebt: Im Parteivorstand der CSU hieß es auch erst: Die gibt es alle nicht, die Frauen für die 40-Prozent-Quote. – Plötzlich gab es sie. Ganz ehrlich, die Frauen in der CSU stehen den Männern in keinster Weise qualitativ nach. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie – –

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nicht mehr um diese Zeit. Ich muss zum Zug; es tut mir leid. Natürlich ist es ein Drahtseilakt, wenn man Quoten hat; denn das ist ein Eingriff in das ausgeübte Gewerbe, ein Eingriff in das Eigentumsrecht. Aber ob das ein Eingriff ist, ist nicht die Frage. Wir haben in unserer Verfassung ständig Eingriffe, auch in Grundrechte, ermöglicht. Die Frage ist, ob der Eingriff gerechtfertigt ist, das heißt, ob er geeignet, angemessen, erforderlich ist. Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz wurde schon angesprochen: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jongen? ({0}) Es würde Ihnen – –

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe schon geantwortet: Ich muss echt zum Zug. – Das heißt, ich habe einen anderen Wert in der Verfassung, der da heißt: Ich möchte strukturelle Nachteile überwinden, ich möchte Frauen fördern. – Das heißt, es gibt das Recht „Ich bestimme selbst als Unternehmer“ und einen Auftrag „Ich fördere Frauen“, und hier muss ich einen angemessenen Ausgleich schaffen. Genau darum geht es bei all diesen Frauendiskussionen. Sie haben ja recht: Die Verfassung sieht nicht vor: Gleichstellung überall; das sage ich auch nicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen bedauerlicherweise – –

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber der Förderauftrag ermöglicht eine Stärkung, damit ich mehr Chancen habe, wenn ich strukturelle Nachteile habe. Und wenn ein Gremium, das nur mit Männern besetzt ist, sagt: „Unser Ziel ist null Frauen“, tut mir leid, dann ist eindeutig, dass es da ein Problem gibt. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen bitte wirklich zum Schluss kommen.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen mehr Frauen, die voranschreiten und gestalten. Es wäre ein großer Fehler, wenn man auf das Potenzial dieser Frauen verzichtet. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Professor Hirte, jetzt habe ich Frau Launert die eine Minute geschenkt; nur, dass Sie das wissen. Aber es war auch erheiternd für die Debatte. Der Kollege Dr. Jongen meldet sich zu einer Kurzintervention, die ich gestatte. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention gestatten. – Frau Dr. Launert, könnte es sein, dass Sie einen kleinen Denkfehler in Ihrer Rede gemacht haben? ({0}) – Natürlich nicht. Aber ich will es Ihnen erklären. Sie sagen: 70 Prozent der Vorstände sagen, sie wollten keine Frauen, Quote null, und Sie schließen daraus, die wollen keine Frauen. Könnte es sein, dass diese Leute einfach nur die befähigtsten Menschen auf diesen Posten haben wollen, ({1}) egal ob es Frauen oder Männer sind? Dafür könnte ja vielleicht sprechen, was Sie selber am Ende Ihrer Rede gesagt haben: Die Frauen in der CSU stehen den Männern in nichts nach. – Meines Wissens haben Sie es dorthin ganz ohne Quote geschafft. Ist das nicht der beste Beweis dafür, dass es auch ohne geht und dass dann die Besten zum Zuge kommen? Darauf hätte ich gerne noch eine Antwort. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie wollen antworten. Bitte schön. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe das ja selbst erlebt. Deshalb: Es ist gut, wenn Leute, die selbst betroffen sind, über etwas sprechen. Das ist wie bei den Migranten. Nichtmigranten sagen teilweise: Kein Migrant wird diskriminiert. – Wenn man Migranten begleitet, dann erlebt man vielleicht, dass es doch auch mal Diskriminierungen gibt. So ähnlich ist es in der Frauenpolitik. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie das nicht sehen, weil Sie keine Frau sind. ({0}) Ich muss sagen: Ich habe das auch erlebt. Ohne die Frauenquote in der CSU wären viele Frauen, wie ich, nicht im Parteivorstand – so erschreckend das ist. Deshalb bin ich froh; denn so hat man trotzdem eine Chance. ({1}) Es war bei uns definitiv so. Schauen Sie sich die Zahlen vorher und die Zahlen jetzt an. Es hat hier etwas gebracht, und Sie sagen ja selbst, das war kein Schaden; ich meine das auch. Damit ist die erste Frage beantwortet; das kann man also gut an dem Beispiel sehen. Beim zweiten Thema begehen Sie einen Denkfehler. Sie sagen: Wenn wir eine Quote von null haben – von einem Männergremium beschlossen –, dann heißt das eigentlich, wir wollen nur die Besten. – Ihr Denkfehler ist, dass Sie von vornherein unterstellen, dass nur Männer die Besten sind. Das ist der eigentliche Denkfehler! ({2}) Was noch viel schlimmer ist, ist, dass es doch um die Besetzung der zukünftigen Positionen geht. Ich weiß doch noch gar nicht, ob sich ein Mann oder eine Frau bewirbt. Wie kann ich denn dann sagen: „Ich habe das Ziel null“? Das ist das Erschreckende. Ich muss das Bewusstsein haben, dass ich ein bisschen helfe, weil uns sonst Potenzial verloren geht. Dieses Bewusstsein ist bei einem reinen Männergremium, das sich eine Zielquote null gibt, offensichtlich nicht vorhanden. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nach dieser engagierten Antwort schließe ich die Aussprache. – Wir kommen zur Abstimmung.

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele hier im Hause wissen es: Die Europäische Union ist nicht in erster Linie ein Binnenmarkt oder eine Währungsgemeinschaft, sondern wir sind vor allem und zuerst eine Werte- und eine Rechtsgemeinschaft, und diese Werte und diese Rechte verpflichten uns alle. Den Vätern und Müttern des vereinten Europas wäre es vor Jahrzehnten vermutlich nicht in den Sinn gekommen, dass es im Inneren der Europäischen Union einmal ernsthaft zu Gefährdungen, Infragestellungen und Verletzungen der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit kommen könnte. Umso wichtiger ist es, dass wir diesen Verletzungen Rechnung tragen. Bislang verfügt die Europäische Union über ein Instrument mit sehr hohen Hürden, an dessen Ende der Entzug des Stimmrechtes für ein Mitgliedsland steht, nämlich das sogenannte Artikel-7-Verfahren. Wir alle wissen: Niemandem schmeckt das so richtig; wir kommen nicht richtig voran, gleichwohl Artikel-7-Verfahren derzeit gegen Ungarn und Polen geführt werden. Die Verfahren laufen noch. Insofern bedanke ich mich bei den Fraktionen, die heute diese Debatte hier auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ich bedanke mich für die Initiative insbesondere auch der Koalitionsfraktionen. Ich habe den Eindruck, dass die Mehrheiten für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im Deutschen Bundestag inzwischen größer sind als noch vor einigen Jahren. Ich bin diesem Thema seit meinem Amtsantritt vor sieben Jahren in besonderer Weise verpflichtet, und es war nicht immer selbstverständlich, in dieser Offenheit darüber zu reden. Deshalb vielen Dank dafür. ({0}) Es ist Rückenwind für die Verhandlungen der Bundesregierung – die Ratspräsidentschaft ist angesprochen worden –, weil eine unserer Prioritäten die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit ist. Wir wollen mit Ihrer Unterstützung zwei neue Instrumente einführen: Das erste Instrument – um es auf den Punkt zu bringen –: Wenn irgendwo die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien verletzt werden, dann soll es zukünftig weniger Geld aus der EU geben – technisch formuliert: Rechtsstaatskonditionalität. Wir verhandeln derzeit mit dem Europäischen Parlament auf Grundlage einer Ratsschlussfolgerung darüber, ob auf Vorschlag der Kommission mit entsprechender qualifizierter Mehrheit des Rates eine solche Rechtsstaatskonditionalität auf den Weg gebracht werden kann. Es sind schwierige Verhandlungen, aber ich bleibe optimistisch. Hinzu kommt ein zweites Instrument. Zum allerersten Mal in der Geschichte des vereinten Europas wird die Europäische Kommission einen Rechtsstaatsbericht vorlegen, auf dessen Grundlage wir einen Rechtsstaatscheck im Rat einführen werden, und diesem Rechtsstaatscheck müssen sich alle Mitgliedstaaten unterziehen. Wir werden die generelle Lage der Rechtsstaatlichkeit bewerten, aber eben auch Land für Land darüber sprechen, was gut läuft und was besser laufen kann. Ich kann nicht über den rasanten Zuwachs von Antisemitismus in anderen Ländern reden, wenn ich nicht auch kritisch über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland spreche. Es geht um das, was uns alle betrifft. Deswegen hilft uns eine oberlehrerhafte Attitüde der Besserwisserei überhaupt nicht. Wir alle tragen Verantwortung. ({1}) Deshalb ist es das Ziel der Bundesregierung, wieder ein gemeinsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zu erreichen. Derzeit – ich muss es ganz offen sagen – spaltet dieses Thema. Das passt aber nicht zu einem Europa, das der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und den Menschenrechten verpflichtet ist. Deshalb danke ich Ihnen noch einmal herzlich, und ich würde mich freuen, wenn das, was Sie uns als Ambition und als Erwartung mit auf den Weg geben, am Ende der Ratspräsidentschaft auch erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Miazga, AfD-Fraktion. ({0})

Corinna Miazga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004821, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Damen und Herren des Kollegiums! Herr Staatsminister Roth, es tut mir leid, aber zu Beginn muss ich Ihnen doch deutlich widersprechen: Wir sind nicht in erster Linie eine Werteunion. Die gibt es in der CDU bzw.: noch. ({0}) Ich weiß nun wirklich nicht, ob ich mich über diesen Antrag ärgern oder freuen soll; denn er illustriert für alle Bürger eigentlich sehr anschaulich, wohin es nach Meinung der Regierungsparteien mit dieser EU gehen soll. Sie wollen Schritt für Schritt zu einem föderalen Bundesstaat unter Bundeszwang. Gleich einmal die erste Ansage vorneweg: Bei dieser faktischen Abschaffung Deutschlands als souveränem Staat machen wir nicht mit. ({1}) Aber gehen wir der Reihe nach vor. In Ihrem Antrag geht es darum, dass Sie neue Instrumente der Sanktionierung von EU-Mitgliedstaaten einführen wollen. Artikel 7 EUV und das Vertragsverletzungsverfahren reichten angeblich nicht aus; das dauere alles zu lange, es sei alles einfach zu ineffizient. Gleichzeitig geben Sie vor, sich um das Rechtsstaatsprinzip und die Behandlung der Oppositionsparteien im EU-Ausland zu sorgen. Liebe Kollegen, darum sorgen wir uns auch, allerdings in Deutschland, ja? Das müssen wir einmal sagen, wenn es um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und den Umgang mit der Opposition in Deutschland geht: Wer bricht denn seit 2015 das Grundgesetz? Wer hat denn hier jeden Migranten an der Grenze ins Land gebeten, der das Wort „Asyl“ nur gedacht hat? Das waren doch Sie. ({2}) Wie sieht überhaupt der Umgang der Regierung mit den Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag aus? Werden wir hier annähernd gleichbehandelt? Wenn es um die AfD geht, dann betätigen sich einige von Ihnen wirklich als geistige Brandstifter in ihren Reden, in ihrem Verhalten und in ihrem gesamten Gebaren. ({3}) Da sitzen sie, die Gesinnungsverbrecher. ({4}) Was meinen Sie eigentlich, wie viele Leute draußen auf Ihre Verunglimpfung Bezug nehmen, sich dadurch vielleicht noch legitimiert fühlen, wenn sie unseren Kollegen mit Steinen die Fenster einschmeißen? Wütend machen Sie mich mit Ihrem heuchlerischen Getue hier. Bei den Nachbarn im Ausland den Splitter im Auge suchen und selbst den dicksten Balken drin haben – das habe ich gern. ({5}) Wenn Sie sich um Korruption Gedanken machen, dann sollten wir von weiteren Aufnahmegesprächen mit Ländern vor allen Dingen auch auf dem Westbalkan, wo Korruption doch an der Tagesordnung ist, Abstand nehmen. Und überhaupt, Korruption im Inland: Wie oft war Herr Scholz bei der Warburg-Bank in Hamburg? Wirecard? Wollen wir da wirklich mal im Inland tiefer graben? Sie brauchen gar nicht so sparsam zu gucken von der SPD; es ist Ihr Minister, nicht unserer. ({6}) Meine Damen und Herren, das Wesen von Werten ist, dass diese unbestimmt sind, und das macht am Ende die ganze Angelegenheit der Sanktionierung von behaupteten Verstößen so sensibel wie heikel. Gerade mit Blick auf die Visegrad-Staaten kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich diese Bundesregierung weniger um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn kümmert als vielmehr darum, wie man die politische Haltung, insbesondere die Ablehnung der Merkel’schen Migrationspolitik, erst als Verletzung von Rechtsstaatlichkeit geschickt framen, ({7}) dann diffamieren, dann sanktionieren und schließlich mit Streichung der Gelder die Regierungschefs der osteuropäischen Nachbarn politisch disziplinieren kann. ({8}) Denn diese weigern sich beharrlich, auf das links-grüne Narrenschiff mit aufzuspringen und jeden Unsinn, auch diesen unsäglichen Genderfirlefanz – eben hatten wir schon wieder so eine Debatte – mitzumachen. Dieser Widerstand verdient eher Achtung als eine Strafe. ({9}) Sie führen hier faktisch eine Bundesaufsicht auf EU-Ebene ein, ohne jegliche Rechtsgrundlage. Dabei müssen Sie vielmehr erkennen, dass Ihre Träume vom bunt-europäischen Utopia bei den Nachbarn immer nur so lange auf Akzeptanz stoßen, wie die Patte stimmt. ({10}) Solange unser Steuergeld in deren Länder fließt, machen sie das Projekt EU mit, aber in dem Moment, wo es durch die EU mehr Nachteile als Vorteile gibt, werden die Mitgliedstaaten die Union verlassen. Das können wir mittlerweile sehr gut nachvollziehen. Die Idee war einmal, dass wir mit der EU einen gemeinsamen Marktplatz für Handel schaffen. Davon sind wir mittlerweile ganz weit abgekommen. Täglich kommen gerade aus Deutschland immer neue Ideen, wie man die Union noch weiter fundamental transformieren könnte. Der neueste Streich ist die Neuauflage des Migrationspakts. Die Kommission brütet ein neues Problempapier aus. Es wird einfach nicht aufgehört. Es wird immer weitergemacht, bis Deutschland irgendwann allein in der EU zurückbleibt, auf einem Berg Schulden und dem Titel „Friedensvernichter“. Ich bitte Sie: Lassen Sie es nicht dazu kommen. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, lauschen wir den Worten des Kollegen Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 1. Juli hat die Bundesrepublik Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne, und wir sind fest davon überzeugt, dass zu einer guten EU-Ratspräsidentschaft auch ein selbstbewusstes nationales Präsidentschaftsparlament gehört. Ich will in Anknüpfung an den eben gehörten AfD-Redebeitrag sagen: Wir sind auch fest davon überzeugt, dass zu einer guten EU-Ratspräsidentschaft auch gehört, dass das Präsidentschaftsparlament diese Präsidentschaft mit Würde wahrnimmt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie Sie Ihr eigenes Niveau immer wieder unterbieten können, Frau Miazga. ({0}) Wir nehmen die Rolle als selbstbewusstes Präsidentschaftsparlament wahr. Deswegen bin ich auch froh, dass unsere Regierungskoalition ganz bewusst mit einem eigenen Antrag zur Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union den Schwerpunkt setzt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eben gerade nicht so, wie wir es von der AfD gehört haben. Es geht nicht um die Auflösung von Souveränität in der Europäischen Union, ({2}) sondern es geht darum, dass wir den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes verwirklichen, unsere eigene Souveränität in einer europäischen Integration und in einer europäischen Wertegemeinschaft zu leben. Genau das ist auch die DNA von CDU und CSU, liebe Kolleginnen und Kollegen: ({3}) eine Wertegemeinschaft zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das ist nicht nur im europäischen Interesse, sondern es ist auch im deutschen Interesse, in Europa für diese Werte einzutreten. Wir sehen uns da vor ganz beträchtliche Herausforderungen gestellt. Staatsminister Roth hat es gesagt: Die Vorstellungen über Rechtsstaatlichkeit fallen unter den Mitgliedstaaten auseinander. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit ist teilweise zum politischen Kampfbegriff geworden, und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist in der Europäischen Union bisweilen unter starkem Druck. Die Mittel, die uns die europäischen Verträge zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit zur Verfügung stellen, sind dabei unzureichend. Wir wollen deshalb dafür arbeiten, dass unser Staatenverbund besser auf diesen Druck auf die Rechtsstaatlichkeit reagieren kann. Wenn man auf der Suche nach den richtigen Antworten ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann ist es immer ratsam, über dasselbe zu reden. Deshalb wollen wir den Rechtsstaatsdialog stärken, und deshalb wollen wir nicht, dass die Rechtsstaatlichkeit zum Spielball der Politik wird. Die derzeitige Konstruktion der Artikel-7-Rechtsstaatsverfahren ist konfrontativ und zu kontradiktatorisch. Sie dienen nur als Ultima Ratio, befördern aber eigentlich ein Schwarzes-Peter-Spiel. Wir müssen allerdings sagen: Rechtsstaatlichkeit fordert nicht nur zum Moralisieren auf, sondern auch zu Sachlichkeit bei der Einhegung staatlicher Herrschaft. Da gilt für uns eine zentrale Prämisse, die wir in Europa verwirklichen wollen: Für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt immer die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren. ({4}) Es muss für uns darum gehen, es als legitim anzusehen, wenn die einzelnen Staaten auf ihre demokratische Legitimation verweisen und sagen: Wir entscheiden uns bei der Gestaltung und Zusammensetzung unseres Verfassungsgerichts für diesen und jenen Weg. Wir entscheiden uns beim Umgang mit Oppositionellen für diesen und jenen Weg. – Dann kann man gerne auf seine demokratische Legitimation verweisen, aber wenn man gleichzeitig an einer Europäischen Union teilhaben will und Teil einer Wertegemeinschaft ist, dann muss man auch auf der Grundlage dieser Werte und Überzeugungen handeln, liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren. Genau das fordern wir ein. Rechtsstaatlichkeit bedeutet nämlich nicht, dass nur der Staat recht hat, sondern dass auch der andere recht haben könnte. Die Stärke des Rechts bedeutet auch, dass der Schwächere gehört werden muss. Die Stärke des Rechts bedeutet nicht, dass die Staatsorganisation beliebig so konstruiert werden kann, dass sie nur dem Machterhalt dient. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass dies alles an vielen Stellen gefährdet ist, wenn wir nicht für unsere Überzeugungen eintreten. Deshalb wollen wir, dass der Instrumentenkasten zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit erweitert wird. Wir wollen, dass das Rights-and-Values-Programm gestärkt wird, um gesellschaftliches Engagement für die Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Wir wollen, dass die Mitgliedstaaten intensiver in einen Rechtsstaatlichkeitsdialog eintreten. Wir wollen genauer definieren, was Rechtsstaatlichkeit eben nicht nur aus der Perspektive der nationalen Verfassungsordnung, sondern für den Staatenverbund bedeutet. Wir müssen ermöglichen, dass Rechtsstaatlichkeit so, wie es der Staatsminister gesagt hat, auch im Voraus und im gegenseitigen Austausch ausdefiniert wird. Dafür wollen wir Berichtspflichten und das Peer-Review-Verfahren stärken. Wir blicken mit Spannung auf den ersten Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, den wir hier intensiv diskutieren wollen. Wir sind auch überzeugt: Wir brauchen nicht nur Zusammenwirken und Reden, sondern im Zweifel auch einen zielgerichteteren Sanktionsmechanismus. Deswegen sagen wir: Die europäische Union ist kein Rosinenpicken; wer EU-Haushaltsmittel möchte, der muss sich auch auf die gemeinsamen Spielregeln einlassen und daran halten. Genau in diesem Geiste werden wir diskutieren und dafür Sorge tragen, dass die zentrale Idee verwirklicht wird: dass eben nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts. Dies ist der Geist dieser EU-Ratspräsidentschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Spannende an den Orban-Apologeten hier im Haus ist ja, dass sie bei einer Maskenpflicht „Merkel-Diktatur“ rufen, ({0}) dass sie bei Kommentaren in der Presse, mit denen sie nicht einverstanden sind, „Lügenpresse“ rufen, aber dass sie, wenn Victor Orban die Presse zentralisiert, vereinheitlicht und verstaatlicht, wenn er gleichzeitig Angriffe auf Oppositionsparteien durchführt, der Meinung sind, dass das dann eine politische Haltung ist, die man respektieren muss. ({1}) Dieser Doppelstandard ist unerträglich, und er verstößt gegen den Geist der Europäischen Verträge. ({2}) Sie haben doch hier darauf aufmerksam gemacht, dass die Europäische Union – so haben Sie es dargestellt – ({3}) keine Wertegemeinschaft sei. Aber das ist doch absurd! Wo steht denn in den europäischen Verträgen geschrieben, dass die Warenverkehrsfreiheit oder die Arbeitnehmerfreizügigkeit mehr wert seien als die Werte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Alle diese Werte, alle diese Rechtsgüter stehen in den Verträgen der Europäischen Union, und deswegen ist die Europäische Union selbstverständlich eine Rechts- und Wertegemeinschaft aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist ja auch darauf aufmerksam gemacht worden, dass es in Deutschland immer wieder problematische Entwicklungen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie gibt. Und ja, ob in kommunalen Angelegenheiten, ob in Landesregierungen, ob auf Bundesebene: Immer wieder geschehen in einer Demokratie Fehler, immer wieder muss auch ein demokratisches System sich selbst hinterfragen. – In dem vorgelegten Antrag wird deswegen in sehr korrekter Weise darauf aufmerksam gemacht, dass wir in einem Dialog, mit einem Rechtsstaatsbericht, mit einem Monitoring in der Europäischen Union aufeinander achtgeben müssen. Das ist der richtige Weg, und wir danken den Koalitionsfraktionen ausdrücklich dafür, dass das hier vorgelegt worden ist. ({5}) Meine Damen und Herren, ich will aber auch aufgreifen, was der Kollege Amthor gesagt hat, nämlich die Tatsache, dass wir zwar viele rechtliche Änderungen in Brüssel, in Straßburg, in den Mitgliedstaaten auf den Weg bringen können, es aber immer die Bevölkerung in den Staaten – beispielsweise in Polen, in Ungarn, in Malta – ist, die am Ende an der Wahlurne eine souveräne Entscheidung trifft. Deswegen muss von einer solchen Debatte auch immer ein Zeichen an die starke Zivilgesellschaft in diesen Ländern ausgehen. ({6}) Ich will daran erinnern, wie Anfang des Jahres mutige Richterinnen und Richter in Polen gegen die Einschränkung ihrer richterlichen Unabhängigkeit demonstriert haben. Das ist wirklich ein Akt gewesen, dem sich der Deutsche Bundestag entgegenstellen und bei dem er Solidarität zeigen sollte. ({7}) Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir auch noch mal darauf aufmerksam machen müssen, dass es nicht nur Artikel-7-Verfahren, Vertragsverletzungsverfahren, sind, sondern dass es immer wieder auch einzelne Vorabentscheidungsverfahren sind – initiiert von polnischen und ungarischen Richterinnen und Richtern –, die eine Diskussion über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf der europäischen Ebene ermöglichen. Deswegen muss die Stärkung der Zivilgesellschaft immer dazugehören; das hätte im Antrag noch ein bisschen deutlicher hervortreten können. Gleiches gilt übrigens, lieber Staatsminister Roth, für die Zukunftskonferenz für Europa, die hier gar keine Rolle spielt; das kommt uns deutlich zu kurz. Abschließend hätte ich mir gewünscht, dass auch konkret auf die Verhandlungen zum MFR und den Coronahilfen Bezug genommen wird. Man hat ein bisschen das Gefühl – das stimmt ja auch –, dass dieser Antrag über ein halbes Jahr alt ist und dass er abgekoppelt ist von den Verhandlungen, die jetzt gerade im Europäischen Parlament stattfinden. Das hätte alles etwas aktueller sein können. Insgesamt gibt es von uns eine Enthaltung mit guten Wünschen für die Verhandlungen. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechtsstaatlichkeit bedeutet die Bindung staatlicher Instanzen an die eigenen Regeln, an die Grundrechte. Sie beinhaltet die Unabhängigkeit der Justiz und die Einklagbarkeit von Grundrechten. Das ist auch für uns als Linke essenziell und nicht verhandelbar. ({0}) Es ist richtig, Herr Staatsminister Roth, dass wir eine Erosion von Rechtsstaatlichkeit international, aber auch innerhalb der Europäischen Union erleben; im Antrag der Koalitionsfraktionen sind die Länder Ungarn und Polen genannt. Ich will hinzufügen, dass eine ähnliche Entwicklung wie in Ungarn gegenwärtig in Slowenien droht, wo ein Orban-Mann seit Anfang des Jahres Regierungschef ist. Auch darauf sollten wir etwas genauer schauen. Ich will aber sagen, dass es vor allen Dingen die CDU/CSU hier im Haus war, die bislang verhindert hat, dass bestehende Instrumente, die es ja gibt, angewendet werden. Die Fidesz-Partei von Orban ist nach wie vor Mitglied der Fraktion im Europaparlament. Im Europarat wurde durch eine intensive Intervention der CDU/CSU verhindert, dass es ein Monitoringverfahren gegen Ungarn gibt – das ist ein niedrigschwelliges Instrument –; es gab eine Mehrheit im Ausschuss, dann wurde es im Plenum gekippt. Weiter hat es die Kommissionpräsidentin von der Leyen bis zuletzt zugelassen, dass der EU-Kommissar aus Polen gegen den Code of Conduct der Kommission verstoßen und im Wahlkampf Wahlwerbung für den PiS-Kandidaten Duda gemacht hat. All das ist inakzeptabel. Ich finde, man muss politisch in erster Linie im Rahmen der bestehenden Instrumente gegen eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit vorgehen. ({1}) Im Antrag stehen durchaus sehr gute Sachen. Ich will explizit die Notwendigkeit des Beitritts der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention erwähnen, was bis jetzt immer noch nicht passiert ist. Auch das ist Teil der Rechtsstaatlichkeit der EU. Das wäre sehr wichtig. Wir haben einen Änderungsantrag eingebracht, der nichts weiter besagt – Stichwort: Anwendung des Artikel 7 Absatz 1 EUV –, als dass die Gefahr besteht, dass in Ungarn und in Polen Rechtsstaatlichkeit verletzt wird; nichts weiter. Ich finde, diesem Änderungsantrag kann man zustimmen. Das würde dieser Debatte sehr viel mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Dann würden wir dem Koalitionsantrag sogar zustimmen; andernfalls würden wir uns enthalten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Hunko. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind das Fundament der Europäischen Union. Und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen in Europa heute unter Druck; sie werden von innen und von außen bekämpft. Deswegen brauchen wir einen wirksamen Rechtsstaatsmechanismus mit einer unabhängigen Rechtsstaatskommission, die alle Länder, eben auch Deutschland, regelmäßig überprüft. Das fordern wir Grüne seit 2015, und ich freue mich, dass dies jetzt im Antrag der Koalition auch aufgegriffen wurde. ({0}) Ich komme jetzt zu den aktuellen Punkten – der Kollege Kuhle hat es schon angesprochen –: Jetzt gerade verhandelt die deutsche Ratspräsidentschaft mit dem Europäischen Parlament über den europäischen Haushalt und den Wiederaufbaufonds. Da geht es um Milliarden Euro und die um die Frage: Knüpfen wir den Erhalt dieser Gelder an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, oder tun wir es nicht? Frau Merkel hatte im Europäischen Parlament die Rechtsstaatlichkeit in das Zentrum Ihrer Rede gestellt. Bei dem Gipfel im Juli kam dann aber ein so was von windelweicher Kompromiss heraus, dass man von „Kompromiss“ eigentlich nicht mehr sprechen kann. ({1}) Sie haben die qualifizierte Mehrheit umgedreht. Die Kommission hatte vorgeschlagen, dass man den Vorschlag der Kommission zur Kürzung von Geldern nur mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat aufhalten kann. Sie haben akzeptiert, dass es jetzt eine qualifizierte Mehrheit dafür braucht. Das Europäische Parlament kämpft, richtigerweise, noch dafür, dass wir am Ende einen wirklich effektiven Rechtsstaatsmechanismus bekommen. ({2}) Für diesen konkreten Punkt, der in Ihrem Antrag fehlt, haben wir Ihnen heute eine Artikel-23-Stellungnahme vorgelegt, in der genau steht, dass Sie keinem europäischen Haushalt ohne einen effektiven Rechtsstaatsmechanismus zustimmen. ({3}) Denn was bringt es uns, wenn wir hier über Rechtsstaatsmechanismen und die Rechtsstaatlichkeit reden und gleichzeitig dieser Punkt in den Verhandlungen untergeht? Das darf nicht passieren. Wir dürfen Demokratiezerstörern keine EU-Gelder geben. ({4}) Am Wochenende, am Samstag, ließ die Regierung in Ungarn eine neue Hetzkampagne und Verschwörungstheorie los. Nach den Angriffen auf Herrn Soros und Herrn Juncker ging es nun gegen den Migrationsexperten Gerald Knaus. Er sei eine Gefahr für die nationale Sicherheit, er arbeite gegen Ungarn, er arbeite natürlich mit Soros zusammen. Das ist wieder ein Paradebeispiel für Orbans Propagandamaschine, wie er Menschen diffamiert, wie dieser Demokratiezerstörer mit Minderheiten, mit Demokratievertretern umgeht. Und es ist unerträglich, dass er immer noch nicht aus Ihrer Parteienfamilie rausgeschmissen wurde. ({5}) Und wenn Sie, liebe CDU/CSU, es wirklich ernst meinen mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, dann unterstützen Sie endlich all Ihre Schwesterparteien, die darauf drängen, dass Orban rausgeschmissen wird, dass dieser Dienstantisemit aus Budapest endlich nicht mehr Teil der konservativen Familie ist. Tun Sie das, dann haben Sie viel mehr erreicht als alles, was hier auf dem Papier steht. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Brantner. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Johannes Schraps, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Manche Themen begleiten uns über längere Zeit durch die politische Arbeit, weil es auch sehr grundsätzliche Themen sind. Das Thema Rechtsstaatlichkeit ist sicherlich eines dieser Themen, das völlig zu Recht immer wieder – übrigens auch durch Anträge aus allen demokratischen Fraktionen in diesem Haus – auf unserer Tagesordnung steht. Ich freue mich über die vielen positiven Rückmeldungen zu diesem Antrag. Ich glaube, es ist wichtig, wenn gerade nach langjähriger Arbeit dann irgendwann konkrete Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Die Achtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist Grundpfeiler der Europäischen Union. Beide Grundwerte bedingen einander. Ohne Achtung des Rechtsstaatsprinzips kein demokratisches Gemeinwesen. Ohne demokratische Herrschaftsform und demokratische Ordnung ist irgendwann über kurz oder lang mit der Abschaffung des Rechtsstaats zu rechnen. Das können wir an einigen europäischen Staaten leider beobachten. Weil diese Werte so essenziell für uns sind, lohnt es sich auch, für sie zu streiten und sie zu schützen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es ist deshalb ganz wichtig – Michael Roth hat es gesagt –, dass das Thema Rechtsstaatlichkeit eine der wichtigen Prioritäten im Arbeitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist. Ein erster wichtiger Erfolg ist der Beschluss des Europäischen Rates aus dem Juli. Mit dem Beschluss, die finanziellen Interessen der Union im Einklang mit den Werten aus Artikel 2 des EU-Vertrages zu schützen, im gleichen Atemzug die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit ganz konkret zu unterstreichen und die Einführung einer Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts und des EU-Wiederaufbauprogramms zu beschließen, kommen wir doch jetzt endlich zu Fortschritten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Kollege Kuhle, wir haben den Antrag vor der parlamentarischen Sommerpause in den parlamentarischen Prozess eingebracht und ihn in dieser Woche in den Ausschüssen beschlossen. In der Debatte heute können wir auch schon die einen oder anderen Erfolge feststellen; denn es gibt den Beschluss des Rates. Vor der parlamentarischen Sommerpause brauchten wir Platz in den Debatten und in den Ausschüssen für wichtige Entscheidungen im Zusammenhang mit Corona. Ich glaube, es ist auch ganz gut, dass wir das heute diskutieren; denn in Kürze wird die EU-Kommission den ersten jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit veröffentlichen. Parallel wird – das hat der Staatsminister gerade angesprochen – auch der von der deutschen Ratspräsidentschaft für Oktober angesetzte Rechtsstaatsdialog im Ministerrat geführt. Ich denke, mit dieser Debatte können wir noch für ein bisschen Rückenwind sorgen. Die Grundlage für die Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist dieser Dialog, dessen Notwendigkeit wir in der Debatte hier auch immer wieder gehört haben. Denn es geht nicht darum, jemanden zu bestrafen, sondern es geht darum, ein gemeinsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit als Grundlage für unser demokratisches Gemeinwesen fest zu verankern. ({2}) Durch das Etablieren dieses kontinuierlichen Dialogs unter Einbeziehung aller Mitgliedstaaten – das ist mehrfach betont worden – und durch die Einführung einer Konditionalitätsregelung machen wir einen ganz wichtigen Schritt. Das einzige Instrument zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit – das sogenannte Artikel-7-Verfahren – erfordert bisher die Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten; die damit verbundenen Schwierigkeiten kennen wir alle. Der neue Mechanismus sieht jetzt die Notwendigkeit einer qualifizierten Mehrheit für eine Zustimmung im Rat vor. Als Parlamentarier – das muss man ehrlicherweise sagen – hätten wir uns gewünscht, dass die Sanktionen bei schwerwiegenden Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit im Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden sollen, sondern erst mit qualifizierter Mehrheit abgewendet werden können. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied, der eine etwas niedrigere Hürde bedeutet hätte. ({3}) Deshalb halten wir in diesem Antrag an dieser Forderung fest; denn mit der konkreten Ausgestaltung und der technischen Umsetzung der Konditionalität wird sich der Rat noch weiter intensiv beschäftigen müssen, und er wird sich auch mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament auseinandersetzen müssen. Für die Verhandlungen auf europäischer Ebene geben wir der Bundesregierung und den Kolleginnen und Kollegen im EP mit diesem Antrag auf jeden Fall viel Rückenwind und eine klare Botschaft: Um Demokratie und Freiheitsrechte in der Europäischen Union zu bewahren, muss die EU ihre Grundwerte wirkungsvoll schützen. Jeder Schritt dorthin ist schwer umkämpft und gleichzeitig essenziell wichtig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Abschluss möchte ich gerne noch meinen beiden Mitberichterstattern Volker Ullrich und Philipp Amthor für das Zustandekommen des Antrags herzlich danken. Mir ist klar, wie schwierig es ist mit einer Partei wie der Fidesz in den Reihen der Europäischen Volkspartei – umso schöner und umso größeren Respekt, dass wir diesen Schritt hier heute gemeinsam gehen konnten. Ich bitte um eine große Zustimmung des Hauses. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Tja, ich will nur sagen: Wenn jeder 40 Sekunden überzieht, sind wir heute noch um Mitternacht hier, also ich nicht mehr, aber Sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neben dem innigen Wunsch nach Frieden und Freiheit und ökonomischer Integration waren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Gründungsmotive der europäischen Einigungsbewegung. Der erste gemeinsame Rechtstext war übrigens die Menschenrechtskonvention des Europarats von 1949 mit den Zielen von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Erst später hat sich die wirtschaftliche Einigung neben die Rechtsstaatlichkeit gesellt. Dieser Ruf von Freiheit war auch so attraktiv, dass nach 1990 die Staaten Mittel- und Osteuropas zuerst der Menschenrechtskonvention des Europarats und dann der Europäischen Union beitreten wollten. Aber hier hat sich leider einiges verschoben. Die Herausforderung besteht im Augenblick darin, dass vor allen Dingen nationale, autoritäre Gedanken in manchen Staaten Mittel- und Osteuropas stärker sind als die Bindung an Grundwerte und Grundrechte. Der bulgarische Historiker Ivan Krastev hat das so beschrieben: Zunächst einmal wurde der Westen imitiert, und jetzt wendet man sich gegen den Westen, weil man sich wegen der eigenen Nachahmung ein Stück weit schämt. – Aber es kann niemals beschämend sein, wenn Grundrechte eingehalten werden, wenn die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und der politischen Auseinandersetzung in jedem Staat Europas gelten. Das ist übrigens auch keine Frage der nationalen Souveränität. Wer einen Vertrag unterschrieben hat und einer Rechtsgemeinschaft beigetreten ist, ({0}) muss dafür Sorge tragen, dass die Regeln, die für diese Rechtsgemeinschaft gelten, vollumfänglich eingehalten werden. Es darf keinen Rabatt bei der Rechtsstaatlichkeit in diesem Rechtsstaatsorganismus Europa geben, meine Damen und Herren. ({1}) Die Vorkommnisse, über die wir reden müssen, liegen auf der Hand. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sterben nicht mit einem lauten Knall. Es kommt auch niemand, der sagt: Ich schaffe die Rechtsstaatlichkeit ab. Vielmehr passiert das schleichend, durch Nadelstiche: Ein Radiosender bekommt keine Lizenz mehr und kann damit seiner presserechtlichen Aufgabe nicht mehr nachkommen; eine antisemitische Kampagne gegen Soros; Angriffe gegen die Wissenschaftsfreiheit, indem eine Universität in Budapest nicht mehr ihrem Lehrauftrag nachkommen kann, oder auch in Polen, wo sich manche Woiwodschaften als homosexuellfreie Zonen bezeichnen. Das kann unter keinen Umständen mit den Grundrechten Europas in Verbindung gebracht werden. ({2}) Wer glaubt, dass man Mittel aus der Europäischen Union bekommt, nur weil man dieser Rechtsgemeinschaft beigetreten ist, aber auf der anderen Seite gegen die Rechtsgemeinschaft verstößt, indem man grundlegende Werte missachtet, aber trotzdem meint, man müsse Mittel bekommen, der hat nicht verstanden, um was es in Europa geht. ({3}) Europäische Mittel sind mit der Einhaltung europäischer Rechtsstandards verbunden; sie stehen nicht zur Disposition, sondern gehören zur DNA der Europäischen Union. Deswegen brauchen wir ein weiteres, ein zusätzliches Verfahren; denn in der Praxis hat sich gezeigt, dass das Artikel-7-Verfahren schwerfällig ist, weil es eine Alles-oder-nichts-Entscheidung ist, weil es der Einstimmigkeit im Rat bedarf und damit ein Land, das vielleicht auch gegen diese Grundsätze verstößt, das andere schützen kann und durch dieses Verhalten letztlich ein Keil durch die Europäische Union getrieben wird. Was wir brauchen, sind nicht Regeln, die spalten, sondern Regeln, die einen. Ich glaube, dass die Einhaltung von Grundwerten, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie das ist, wohinter wir uns in Europa alle versammeln können. In den nächsten Jahrzehnten wird die große Herausforderung, die große Frage in der Welt sein: Was setzt sich durch? Der nationale Autoritarismus oder Freiheit und Demokratie? Deswegen muss Europa als gutes, leuchtendes Beispiel vorangehen und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leben, der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates als EU beitreten und – das sei abschließend gesagt – durch einen Rechtsstaatsmechanismus dafür Sorge tragen, dass wir diese Werte vorleben. Das ist Teil dieses Antrags. Ich danke allen, die daran mitgearbeitet haben, und bitte um Zustimmung. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Mit diesen bewegenden Worten schließe ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 30. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Wochen sind Milliarden für den Kampf gegen die Auswirkungen der Coronakrise beschlossen worden. Aber eine Frage wird immer drängender: Wann wird wem die Rechnung präsentiert? Wir sagen Ihnen: Wir wollen noch vor der Bundestagswahl darauf eine Antwort. ({0}) Mit unserem Antrag unterbreiten wir Ihnen jetzt schon einen praktischen Vorschlag. Wir können die Einnahmen schon jetzt erhöhen, ohne die Steuern anheben zu müssen. Das dürfte doch alle hier im Haus zur Zustimmung bewegen. Die Zahl der Einkommensmillionäre nimmt seit Jahren zu. Gleichzeitig aber nimmt die Zahl der Steuerprüfungen bei Einkommensmillionären ab. Das ist doch wohl ein Widerspruch. ({1}) Es gibt ganz augenscheinlich einen Wettbewerb unter den Bundesländern, wer seine Millionäre besonders selten prüft. Gab es im Jahr 2010 noch 1 838 Prüfungen, sank die Zahl neun Jahre später auf 1 029. Ich sage Ihnen: Bereits im Jahr 2006 hat der Bundesrechnungshof festgestellt, dass Einkunftsmillionäre in einigen Bundesländern nur alle 30 Jahre geprüft werden. Ich finde, das ist ein bisschen selten. ({2}) Dabei erbrachte eine Prüfung im Jahr 2019 pro Fall rund 192 000 Euro mehr an Einnahmen. Aber: Trotz des Erfolges der Steuerbehörden ist die Prüfquote von 15 Prozent im Jahr 2013 auf 7 Prozent im Jahr 2019 gefallen. Ich sage Ihnen: Da stimmt doch etwas nicht. ({3}) Einige Landesregierungen haben ganz augenscheinlich Angst, ihren Geldadel zu verschrecken. Es darf nicht länger geduldet werden, dass Bundesländer den Steuerbetrug von Millionären über Jahre decken. Ich sage Ihnen auch: Es ist eine Frage der Steuergerechtigkeit, die Prüfquote zu erhöhen. Das ist keine Bestrafung von Millionären, damit wird einfach dafür gesorgt, dass sie das bezahlen, was sie bezahlen müssen. ({4}) Alle Bundesfinanzminister, die ich bisher mit dieser Frage konfrontiert habe, zeigten wenig Interesse an dieser offensichtlichen Steuerungerechtigkeit und verwiesen immer auf die Zuständigkeit der Bundesländer. Es kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung tatenlos zusieht, wie der Gesellschaft Steuereinnahmen vorenthalten werden. Sie dürfen sich doch, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, nicht als Vermögensverwalter einer kleinen Schicht von Millionären verstehen. Das haben die Menschen in diesem Land nicht verdient. ({5}) Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, der ja manchmal – so hat man den Eindruck – einen größeren Einfluss hat als das Bundesverfassungsgericht, hat eindeutig geklärt, dass der Bundesfinanzminister sehr wohl die Prüfquote in der Abgabenordnung festlegen kann. Meine Fraktion fordert daher eine verbindliche Quote. Wir sind der Auffassung, dass Einkunftsmillionäre mindestens alle drei Jahre geprüft werden sollten; das ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. ({6}) Wir wollen einen starken Sozialstaat, und den müssen Millionäre genauso mitfinanzieren wie Pflegekräfte, Polizisten und Krankenschwestern. Die Bundesregierung muss dringend etwas gegen dieses unsolidarische Verhalten von Einkommensmillionären tun. Wer also mehr Gerechtigkeit will, in diesem Fall mehr Steuergerechtigkeit, der kann nichts anderes tun als unserem Antrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Außenprüfungen der Finanzämter sind ein wichtiger Beitrag zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versteuerung von Einkünften. 5 Prozent der Steuerzahler zahlen über 50 Prozent des Einkommensteueraufkommens – das ist sicher bemerkenswert, und das ist auch gut so –, weil wir einen progressiven Tarif haben. Es kann nicht sein, dass generell die Steuerehrlichen am Ende die Dummen sind. Deswegen braucht es Prüfungen, deswegen braucht es Kontrolle. Dass es infolge dieser Prüfungen zu Steuernachforderungen kommt, ist nahezu zwangsläufig. Das liegt nicht etwa nur daran, dass Steuerhinterziehung im großen Stil betrieben wird, wie hier vonseiten der Linken gesagt wird, das hat seinen Grund eben auch darin, dass Besteuerungsfragen im Detail unterschiedlich bewertet werden können. Insoweit wird durch die Außenprüfungen die gleichmäßige Anwendung des Steuerrechts gesichert. Eine feste Prüfquote wird allerdings weder diesen Aspekt verstärken noch zwangsläufig zu immer höheren Steuernachzahlungen führen. In dem Antrag wird nicht begründet, weshalb die Quote 15 Prozent betragen soll. Warum nicht 20 Prozent, 25 Prozent oder 10 Prozent? Meine Damen und Herren, was hier zur Beratung vorliegt, ist lediglich ein neuerlicher ideologisch gesteuerter Versuch, die sogenannten Reichen in unserem Land unter den Generalverdacht der Steuerhinterziehung zu stellen. Es ist immer die gleiche Masche der Linken, meine Damen und Herren. ({0}) Wir sollten es aber fachlich unseren Finanzämtern überlassen, wie sie ihre Prüftätigkeit im Sinne des Gesetzgebers ausgestalten. Dort hat man ein gutes Gespür dafür, wo sich genaueres Hinsehen lohnt. Es ist völlig falsch, den Teufel an die Wand zu malen, sondern man muss die Finanzämter die Arbeit machen lassen. Darauf kommt es an. Meine Damen und Herren, wir haben in diesen Tagen natürlich weiß Gott Wichtigeres an der Abgabenordnung zu reformieren. Im Zuge des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes haben wir die Abgabenordnung geändert, damit die Täter der Cum/Ex-Machenschaften mit ihren Steuerdeals, mit der Steuerbeute nicht davonkommen. ({1}) Doch was mit § 375a AO durchgesetzt wurde, wird durch § 34 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung praktisch zunichtegemacht. Hier besteht nach unserer Auffassung deshalb dringender Änderungsbedarf. Hätte man auf uns gehört, hätte man sich einen Umweg sparen können. Wiederholt haben unsere Berichterstatter Sebastian Brehm und Fritz Güntzler eine vollständige Sicherung der Steuerschuld angemahnt – leider umsonst; das Rückwirkungsverbot für belastende Gesetze, sagte man, spreche dagegen. Ich denke, dass wir das höhere Ziel haben sollten, dafür zu sorgen, dass die Steuerdeals, die Steuertricksereien bei Cum/Ex nicht belohnt werden, meine Damen und Herren. In der vergangenen Woche erklärte sich der Bundesfinanzminister bereit, eine schnelle Änderung mitzumachen. Das ist gut so. Der angerichtete Schaden sollte nach meiner Ansicht mit dem Jahressteuergesetz schnell geheilt werden und nicht erst im Zuge einer Reform der Strafprozessordnung. Vielleicht ist es dann zu spät, um Verjährungen zu unterbrechen. Es muss nach meiner Ansicht dringend gehandelt werden; denn es stehen Beträge im Raum, die in die Milliarden gehen. Darauf müssen wir uns konzentrieren – nicht mit Ideologie, sondern mit praktischer Prüftätigkeit, mit praktischer Heilung dieses Betrugs am Fiskus. Die Steuertricksereien dürfen nicht der Verjährung anheimfallen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam die Frage der Cum/Ex-Verjährung und der Steuergerechtigkeit auf den Tisch bringen, um letzten Endes Lösungen für die Gerechtigkeit in unserem Land zu erreichen. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Partei der zweiten Diktatur auf deutschem Boden bläst wieder zum Angriff auf die vermeintlich Besserverdienenden. ({0}) Sie legen uns hier einen Gesetzentwurf vor, in dem Sie sinkende Prüfquoten durch Außenprüfer der Finanzämter bei Gutverdienern kritisieren. ({1}) Was mir daran als Allererstes, direkt im ersten Satz, aufgefallen ist, ist, dass Sie Bezug auf einen Jahresbericht des Bundesrechnungshofes von 2006 nehmen. ({2}) Liebe Linke, das ist anderthalb Jahrzehnte her. Ich glaube, Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie heutzutage in Finanzämtern gearbeitet wird. Ich frage mich, wie es zu einem solchen Gesetzentwurf kommt. Sitzen Sie im Büro des Parlamentarischen Geschäftsführers, machen ganz unten eine Schublade auf und holen irgendwelche alten, populistischen Anträge heraus, die Sie jede Legislatur einmal durchspielen, – ({3}) die Schublade direkt neben der Schublade, wo die Schlüssel für die Schließfächer mit den SED-Milliarden drin sind? ({4}) Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist keine wissenschaftliche Arbeit, die Sie hier abgeliefert haben, ({5}) 14 Jahre alte Berichte zu zitieren. Wenn Sie einmal Nachhilfe in Quellennutzung oder wissenschaftlicher Arbeit brauchen, dürfen Sie sich gerne in unseren Büros melden. ({6}) Unter kollegialen Gesichtspunkten helfen wir Ihnen hier gerne weiter; denn dieser Gesetzentwurf ist diesem Hohen Hause unwürdig. ({7}) Glauben Sie nicht, dass inzwischen bei den Finanzämtern viel mehr getan wird, gerade mit Blick auf künstliche Intelligenz und die Nutzung von Algorithmen? ({8}) In der Praxis sieht es so aus, dass Gutverdiener sich Steuerberatern bedienen. Die wiederum haben gewisse Sorgfaltspflichten, übernehmen gewisse Haftungen und werden sehr wohl dafür sorgen, dass ihre Mandantschaft ordentliche Erklärungen abgibt und die Steuern auch zahlt. Hier unsolidarisches Verhalten von Einkommensmillionären zu unterstellen, wie Frau Lötzsch das eben getan hat, ist eine bodenlose Frechheit gegenüber Leistungsträgern in unserer Gesellschaft, die Geld verdienen und darauf selbstverständlich auch Steuern zahlen. In der Praxis, liebe Linke, sieht es doch so aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeitnehmer nicht geprüft wird, höher ist als bei einem Besserverdienenden. Hier werden in der Regel nur noch Stichproben gezogen. Sie haben, glaube ich, überhaupt keine Ahnung, wie das in der Praxis abläuft. ({9}) Ihre Steuererklärung nimmt in der Regel kein Mitarbeiter eines Finanzamtes mehr in die Hand; das läuft alles vollautomatisch. Wie gesagt, es wird nur noch stichprobenartig überprüft. Durch Ihre Jagd auf die Gutverdiener vertreiben Sie finanzielle Leistungsträger aus Deutschland. Wir hatten bis 2011 eine Auswanderungsquote von stabil 600 000 bis 700 000 Mitbürgern; seitdem hat sie sich fast verdoppelt auf 1,2 Millionen. Im Gegenzug befeuern Sie eine Zuwanderung: Bis 2016 waren es im Schnitt stabil 700 000 Menschen; dann stieg die Zahl auf 2,1 Millionen pro Jahr, und in den letzten drei Jahren liegt sie sehr konstant bei 1,5 Millionen pro Jahr. Das sind in der Regel Transferleistungsempfänger und nicht die Steuerzahler, die wir in diesem Land brauchen. Das mag vielleicht Ihre Sozialismusfantasien beflügeln, führt aber zu Mangelwirtschaft und schwindendem Wohlstand in diesem Land. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, damit es sich lohnt, in Deutschland Werte zu schaffen, Geld zu verdienen und darauf selbstverständlich auch Steuern zu zahlen. ({10}) Da brauchen wir nicht irgendwelche erhöhten Prüfquoten, die Sie hier befeuern. Ich möchte mit Cato, dem römischen Politiker, schließen. Er sagte einmal: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam. Das heißt so viel wie: Ich bin übrigens der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss. – Er hat es nach jeder Rede angebracht, ob es passend war oder nicht, weil es ihm ein Herzensanliegen war. In diesem Sinne sage ich Ihnen: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Sie die SED-Milliarden rausrücken und endlich reinen Tisch machen sollten. Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ach, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Als Nächster hat der Kollege Michael Schrodi, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf wessen Seite die AfD-Fraktion bei Steuerfragen steht, ({0}) haben wir auch immer wieder bei der Debatte um den Solidaritätszuschlag gesehen. Wir haben ihn für 90 Prozent, nämlich für die mit den unteren und mittleren Einkommen, abgeschafft. Für die 10 Prozent mit höheren Einkommen wollen wir ihn beibehalten. 10 Milliarden Euro, das wäre ein Steuergeschenk für Spitzenverdiener, wenn wir ihn auch für diese Gruppe abschaffen würden. Die AfD will das. Sie haben ein großes Herz für Spitzenverdiener, wir haben eines für die Mitte der Gesellschaft. Das gehört auch zur Wahrheit dazu, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Der Sachverhalt, den Die Linke thematisiert, ist einer, über den wir reden müssen. Ist die Besteuerung in Deutschland gerecht? Entspricht sie dem Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit und dem der Gleichmäßigkeit? Zum Anlass nimmt Die Linke einen Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2006. In diesem wird angemahnt, dass die Prüfquote bei Steuerpflichtigen mit besonderen Einkünften zu gering sei. Wenn wir uns die Situation in Deutschland anschauen, müssen wir festhalten: Ja, die Einkommens- und Vermögensungleichheit hat sich in den letzten Jahren auf einem hohen Niveau stabilisiert oder sogar vergrößert. ({2}) Deswegen muss man etwas tun. Ich denke, dass wir da beispielsweise beim Tariflohn, beim Mindestlohn, aber auch bei der Vermögensteuer etwas tun können; denn wir wollen eine gerechte Besteuerung in diesem Land. Die Problemstellung, bei der Sie mit dem Gesetzentwurf ansetzen wollen, ist schon etwas komplexer und Ihre Lösung schlichtweg nicht zielführend. Sie wollen, dass sogenannte Steuerpflichtige mit besonderen Einkünften – das sind solche in einer Höhe von über 500 000 Euro – öfter geprüft werden. Sie wollen ein Mindestprüfintervall in der Abgabenordnung festschreiben, und Sie wollen – das schreiben Sie in dem Gesetzentwurf – bei Steuerpflichtigen gemäß § 193 Abgabenordnung eine Außenprüfung mindestens einmal innerhalb von drei aufeinanderfolgenden Kalenderjahren. Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, treffen Sie aber gerade nicht die bzw. nicht nur die, die Sie treffen wollen – die sogenannten Einkommensmillionäre –, sondern auch Gewerbetreibende, Land- und Forstwirte oder Freiberufler; in § 193 werden die nämlich auch genannt. Das wären insgesamt 3 Millionen Prüfungen im Jahr, und es ergäbe sich ein Bedarf von circa 150 000 Betriebsprüfern. Damit schießen Sie weit über das Ziel hinaus, das Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorgeben erreichen zu wollen. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Was wir als Servicekoalition aber vorschlagen, in den Antrag aufzunehmen, wenn Sie ihn vielleicht noch einmal stellen wollen, ist, dass Sie erstens zielgenauer adressieren, wen sie wirklich meinen und treffen wollen, und zweitens bei komplexen Themen auch etwas differenzierter und abgewogener darlegen, worum es geht. Seit dem Bericht des Bundesrechnungshofs aus dem Jahr 2006 hat sich nämlich auch im Steuerrecht einiges verändert, zum Beispiel mit der Einführung der Abgeltungsteuer. Als Quellensteuer wird diese direkt an das Finanzamt abgeführt; die Besteuerung ist so sichergestellt. Vielleicht sollten Sie in Ihrem Antrag auch einfügen, inwieweit dies zu einem Rückgang der Außenprüfungen ab 2010 geführt hat. Auch erwähnen muss man, dass durch das Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung von 2009 der § 147a der Abgabenordnung zur sechsjährigen Aufbewahrungspflicht von Unterlagen der Einkommensmillionäre eingeführt wurde. Ebenso – das darf ich noch sagen – wurde in § 193 Absatz 1 AO aufgenommen, dass bei Einkommensmillionären nach § 147a Abgabenordnung Außenprüfungen wie bei Unternehmen möglich sind. All das sind Dinge, die dazu führen, dass auch die Außenprüfungen – so die Aussagen nicht nur von mir, sondern auch vom Bundesfinanzministerium – zurückgegangen sind. Vielleicht sollten Sie das beim nächsten Mal entsprechend mit aufnehmen. ({3}) Zuletzt eine Bitte. Sie sollten verdeutlichen, dass für die Prüfung und den Personaleinsatz die Landesfinanzbehörden bzw. die Finanzämter zuständig sind. Schön wäre es – Sie haben es ja kurz angedeutet –, wenn Sie mal darlegen würden – wir helfen gerne dabei –, in welchen Bundesländern denn die Prüfungsquote bei 10 Prozent und in welchen sie bei 60 Prozent liegt. Wir sehen, dass da ein Riesenunterschied ist. Offen gestanden ist das weniger ein Problem einer in der AO festgelegten Quote, sondern der Umsetzung in den Ländern. Da sollte man genauer hinschauen. Beispielsweise hat der heutige bayerische Ministerpräsident und damalige Finanzminister Unternehmen geradezu mit seltenen Betriebsprüfungen angelockt und gesagt, das sei ein Standortvorteil. ({4}) Es ist eine Sache der Länder, wie viele Betriebsprüfer sie haben und wie sehr sie das umsetzen, was auch jetzt schon im Grunde ermöglicht ist. So ist das nichts, da Sie weit über Ihr formuliertes Ziel hinausschießen, nämlich die Einkommensmillionäre genauer zu prüfen. Sie treffen da auch diejenigen, auf die das nicht zutrifft und für die wir das nicht wollen. Insofern: Schärfen Sie Ihren Antrag, dann können wir darüber noch einmal sprechen! ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Hessel, FDP. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich letzte Woche auf der Tagesordnung gesehen habe, dass wir am Freitag über Abgabenordnung und Betriebsprüfungen sprechen, habe ich mich richtig gefreut. Ich habe mich dann sogar gefreut, eine Stunde lang über Betriebsprüfungen sprechen zu können. Jetzt ist es immerhin noch eine halbe Stunde. Aber ich habe schon festgestellt: Es ist auch schwierig, eine halbe Stunde über Betriebsprüfungen zu sprechen. Nachdem ich jetzt die einzelnen Redebeiträge der Kollegen gehört habe, kann ich sagen, dass wir uns doch über viel anderes unterhalten haben: über Probleme der Abgabenordnung mit Cum/Ex, über andere Probleme wie Solidaritätszuschlag – Abschaffung und Sonstiges – und darüber, wie man das alles sieht. Ich wollte aber sagen, warum ich mich eigentlich gefreut habe, mal über Betriebsprüfungen zu sprechen. Denn bei den Betriebsprüfungen liegt vieles im Argen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Die Betriebsprüfung wird zwischenzeitlich teilweise als Standortnachteil angesehen, weil die Betriebsprüfungen so lange dauern, weil es ewige Rechtsunsicherheit für die Unternehmen gibt und weil natürlich – es gibt ein Mehrergebnis bei der Betriebsprüfung – dann auch hohe Zinsen anfallen, die gezahlt werden müssen, weil wir ja immer noch einen Zinssatz haben, bei dem meine Fraktion davon ausgeht, dass er verfassungswidrig ist. ({0}) Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen auch sagen: Die Freude hat nur relativ kurz angehalten, und zwar so lange, bis ich mir den Antrag der Linken angeguckt habe. Es ist toll, ein Mindestintervall von drei Jahren einzuführen, wenn man auf der einen Seite weiß, dass es die Länder umsetzen müssen – klassischer Vertrag zulasten Dritter –, und auf der anderen Seite natürlich auch weiß, dass dies mit den Ressourcen, die man hat, überhaupt nicht machbar ist. ({1}) Was ist aber denn machbar? Es wäre zum Beispiel machbar, die Betriebsprüfungen mehr zu digitalisieren und mehr darauf zu setzen. Statt einzig und allein festzustellen, dass es die Einkommensmillionäre sein müssen, die wir prüfen müssen, und sich dann zu wundern, warum sie nicht geprüft werden, hätte vielleicht ein Blick in die Abgabenordnung geholfen, nämlich in den § 193 Absatz 1. Zunächst werden nämlich nur als zu Prüfende Gewerbetreibende und Freiberufler, also Menschen mit Gewinneinkünften, bezeichnet. Erst gemäß Absatz 2 können unter besonderen Umständen auch die hier angesprochenen sogenannten Einkommensmillionäre geprüft werden, nämlich dann, wenn Sachverhalte nicht aufzuklären sind, wenn sie ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sind oder wenn sie Vermögen für Dritte verwalten. Also kann es schon gar kein Verwundern sein, dass die Quoten immer mehr sinken. Dementsprechend ist der Antrag wirklich einfach nur schlecht gemacht, ({2}) und dient nur dazu, Neid zu schüren auf die, die hier im Land die Steuern zahlen, und zu unterstellen – das macht nämlich Ihr Antrag –, dass alle, die ein Unternehmen haben, hier Steuern hinterziehen und nicht steuerehrlich wären. Ich freue mich trotz alledem auf die Beratung im Ausschuss. Aber ich kann an der Stelle schon sagen: Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland entgehen jedes Jahr viele Milliarden an Steuereinnahmen, weil es Einzelnen erfolgreich gelingt, sich ihrer Steuerverantwortung zu entziehen. Ein Grund dafür ist die ineffiziente Organisation der Steuerverwaltung in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist die sehr geringe Prüfquote von Einkommensmillionären in Deutschland. Das hat der Bundesrechnungshof bereits 2006 kritisiert und angeregt, dass man das ändert, weil er eben festgestellt hat: Prüfungen, wenn sie gemacht werden, sind überdurchschnittlich erfolgreich. Sie führen zu deutlich höheren Steuermehreinnahmen, und sie leisten deswegen auch einen wichtigen Beitrag zur Steuergerechtigkeit; denn so ist eben der Steuervollzug für alle gleichmäßig und so gilt das Gesetz grundsätzlich für alle. ({0}) 2006, als der Bundesrechnungshof das kritisiert hat, lag die Prüfquote, die er für zu gering hielt, bei 15 Prozent. Was ist dann passiert? Sie ist weiter gesunken: 2010 auf 12 Prozent, 2018 auf 9,6 Prozent. Deswegen finden wir: Dieser Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. So etwas zu machen, ist überfällig, und deswegen gibt es dazu ja auch derzeit eine Bundesratsinitiative des Landes Berlin im Bundesrat. ({1}) Aber aus unserer Sicht bleibt dieser Gesetzentwurf eigentlich doch noch weit hinter dem zurück, was man machen kann und was wir eigentlich machen müssten. Dazu ist ein Hinweis von der OECD wichtig. Die haben auch bereits vor vielen Jahren – 2013, also vor sieben Jahren – in ihrem Steuerreport dargestellt, dass eine übergroße Mehrheit aller OECD-Länder inzwischen spezielle Abteilungen für Konzerne und Einkommensmillionäre eingerichtet haben. Das Problem ist ja nicht, dass die irgendwie zu viel Geld hätten, sondern das Thema ist, dass es da eben um ganz besonders komplexe Steuerfragen geht und man deswegen besondere Experten braucht, um die Gesetzestreue tatsächlich komplett nachzuweisen. Es wurde damals festgestellt, dass es für diese spezielle Gruppe – es sind praktisch nur 1 Prozent aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – sinnvoll ist, Spezialeinheiten einzurichten, weil sie eben Besonderheiten haben, weil sie signifikante Offshoreaktivitäten haben, weil sie signifikante Steuervermeidungsaktivitäten an den Tag legen, weil sie hohe Ergebnisse bei Prüfungen liefern, weil es eine wachsende Differenz zwischen dem Handelsbilanzergebnis und dem Steuerbilanzergebnis bei diesen Unternehmen und bei diesen Millionären gibt und weil sie eben über besonders professionelle und teure Steuerberatung verfügen, diese auch immer konsequent einsetzen und auf der anderen Seite eben die Prüfer der Finanzämter nicht auf Augenhöhe mit diesen Beratern agieren können. Das war bereits 2013. In vielen anderen OECD-Ländern sind solche Spezialeinheiten inzwischen eingeführt. Aber in Deutschland ist nichts und überhaupt gar nichts passiert, und das in einem Land, das weltweit dafür bekannt ist, dass wir das komplizierteste Steuersystem von allen Steuersystemen haben. ({2}) Deswegen sagen wir: Das grenzt schon an Fahrlässigkeit. Deswegen lassen Sie uns endlich in Deutschland diese Spezialeinheit einführen, und zwar eine Spezialeinheit für alle. Das ist doch gut für Unternehmen und Einkommensmillionäre; denn dann haben sie ein Amt, an das sie sich wenden müssen, und nicht 16 verschiedene in 16 verschiedenen Bundesländern. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Paus, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unsere Initiative dazu folgt. Ganz herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich mich auf diesen Antrag vorbereitete, dachte ich: Das alles habe ich doch schon mal gelesen. – Dann habe ich festgestellt, dass Die Linke in der letzten Legislaturperiode, am 7. Juli 2016, den gleichen Antrag schon mal gestellt hatte. Damals ist umfassend diskutiert worden. ({0}) Wir hatten sogar eine Anhörung, ein Fachgespräch zu diesem Thema im Finanzausschuss. Herr Kollege Schrodi – ich bedaure schon, dass er jetzt die Seiten gewechselt hat – hat ja darauf hingewiesen, dass wir eine Servicekoalition sind. Ich hätte schon erwartet, liebe Kollegin Lötzsch, dass Sie die Dinge, die damals angesprochen worden sind, aufgenommen und in den Antrag eingearbeitet hätten. Sie haben jetzt nämlich wirklich das Problem, dass Sie – das ist jetzt mehrfach angesprochen worden – zwar in Ihrem Gesetzestext auf den § 193 Absatz 1 Abgabenordnung verweisen, aber so nicht die von Ihnen sogenannten Einkommensmillionäre erreichen. Übrigens liegt die Grenze jetzt bei 500 000 Euro, also Millionäre sind das dann auch nicht; die Zahlen haben sich da ein wenig geändert. Vielmehr erreichen Sie alle Unternehmen, also alle Gewerbetreibenden, alle Land- und Forstwirte, alle selbstständig Tätigen; sie alle werden dann auch betroffen sein. Wir haben neben diesen, den Steuerpflichtigen mit sogenannten Überschusseinkünften, ja die mit bedeutenden Einkünften, auf die Sie ja abzielen. Da muss man sich fragen: Was sind denn das für Einkünfte? Das sind etwa Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit. Dabei ist Lohnsteuer abzuführen. Da kann eine Lohnsteueraußenprüfung durchgeführt werden, und der Arbeitgeber haftet, wenn die Lohnsteuer nicht korrekt abgeführt wird. Dann gibt es die Einkünfte aus Kapitalvermögen. Dafür haben wir seit 2006, als dieser Bundesrechnungshofbericht vorgelegt wurde, mittlerweile die Abgeltungsteuer, sodass auch dieser Teil aus der Prüfung herausfallen wird. Letztendlich verbleiben eigentlich nur die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Das erklärt auch, warum die Quote der Prüfungen geringer geworden ist; denn Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen: Spätestens mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens haben wir ein Risikomanagement in den Finanzverwaltungen, und auf risikobasierten Faktoren erfolgt die Auswahl von Prüfungen. Ich glaube, es macht keinen Sinn – das hat der Kollege Michelbach schon angesprochen –, sozusagen alle, die ein gewisses Einkommen haben, per se unter Generalverdacht zu stellen. Vielmehr sehen sich die Beamten im Finanzamt den Fall an. Wenn sie aufgrund bestimmter Risikoparameter einen Ansatz dafür haben, dort zu prüfen, geht das auch in die Betriebsprüfung bzw. in die Außenprüfung; und das ist auch gut so. Von daher geht es gar nicht um die Fallzahl an sich, sondern darum, dass wir die richtigen Fälle erwischen. Ich glaube, das passiert. Bei Betriebsprüfungen unterliegen viele in der Öffentlichkeit der Fehlannahme, dass man bei Mehrergebnissen glaubt, dass das immer endgültige sind. Viele Mehrergebnisse aus der Betriebsprüfung kehren sich in dem folgenden Veranlagungszeitraum um. Wenn ich eine Nutzungsdauer von fünf Jahren auf zehn Jahre erhöhe, dann ist das Geld nur anders verteilt. Wenn ich eine Rückstellung früher auflöse, dann wird sie später nicht aufgelöst. Es sind also zeitliche Verschiebungen, die Zinseffekte auslösen. Aber es sind eigentlich keine echten Mehrergebnisse. Auch ist es eine Mär, zu glauben: Mehr Betriebsprüfer bedeuten zwingend mehr Einnahmen. – Wie eben dargestellt, werden die Fälle ganz genau herausgesucht. Dabei nimmt das Risiko ab, dass was anfällt. Von daher ist es wichtig, dass wir weiter an einem zeitgemäßen, effektiven und effizienten System im Steuervollzug arbeiten. Da sind wir auf einem guten Weg und haben viele Dinge angestoßen. Wenn Sie dieses Mindestprüfungsintervall, den Zeitraum von drei Jahren, einführen wollen und das Gesetz mit dem nächsten Tag – das ist in Ihrem Gesetzentwurf in Artikel 2 geregelt – in Kraft treten soll, dann bräuchten wir von einem Tag auf den anderen 190 000 Prüfer; wir haben derzeit 14 000. Es ist eine gewisse Herausforderung, diese Prüfer zu finden. Wir haben dann nämlich auch ein gewisses Vollzugsdefizit, was, glaube ich, auch nicht so einfach zu lösen ist. Ich erinnere daran, dass auch der Vertreter des Bundesrechnungshofes – der Bericht ist heute mehrfach zitiert worden, weil darin die Prüfquote kritisiert wird – damals in dem Fachgespräch gesagt hat, dass er von dem Antrag, den Sie gestellt haben, gar nichts hält, weil er viel zu weitgehend ist. Im Übrigen haben sich die Grünen damals bei der Abstimmung über den Antrag aus den gleichen Gründen enthalten. Das kann man im Bericht des Ausschusses nachlesen; das ist auch sehr empfehlenswert. Neben diesen Instrumenten haben wir ja noch die Lohnsteueraußenprüfung, die ich schon angesprochen habe, und die Umsatzsteuersonderprüfung. Wir haben auch die Kassennachschau eingeführt. Da gibt es umfassende Dinge, bei der die Finanzverwaltung tätig werden muss. Von daher brauchen wir in diesem Punkte nicht Ihren Antrag und auch nicht die Einführung dieses Mindestintervalls. Was wir, glaube ich, brauchen, ist eine Reform der Außenprüfung, dass wir darüber nachdenken, wie wir zu einer zeitnahen Betriebsprüfung oder wie in Österreich zu einer kooperativen Betriebsprüfung kommen, bei der im Rahmen der Deklaration, also der Erstellung der Steuererklärung, bereits Abstimmungen mit der Finanzverwaltung erfolgen, damit wir schneller zu Ergebnissen, damit wir schneller zu Rechtssicherheit bei den Steuerpflichtigen kommen. Da sollten wir ein bisschen Hirnschmalz reinstecken. Wir sind bereit, darüber mitzudiskutieren. Ansonsten werden wir, wie auch damals, Ihren Antrag ablehnen. Ich wundere mich, dass die Grünen das nicht mehr tun. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Der weltbekannte iranische Ringer Navid Afkari, der Held von Schiras, lebt nicht mehr. Brutal wurde der politische Hoffnungsträger gehängt. Das Mullah-Regime verhaftete ihn 2018 nach Aufständen gegen Korruption und Misswirtschaft. In Deutschland schweigt und schwieg die Bundesregierung. Die mörderischen Mullahs behaupten, Afkari habe einen Bassidsch getötet, einen Angehörigen der besonders brutalen Miliz, einer Mördertruppe des iranischen Mullah-Regimes. Laut Amnesty International legte Afkari nur unter massiver Folter ein angebliches Geständnis ab; Beweise gibt es keine. Afkaris Brüder Vahid und Habib wurden zu 54 und 27 Jahren Gefängnis und je 74 Peitschenhieben verurteilt. Die Islamische Republik Iran ist übrigens ein gewähltes Mitglied der UNO-Kommission für Kriminalprävention und Strafjustiz – ein weiteres Beispiel für die völlige Absurdität der UNO-Rechts- und Menschenrechtsgremien. ({0}) Irans Justizsprecher Ismaili sagte, das Urteil gegen Afkari laute nicht Todesstrafe, sondern „Ghissas“. „Ghissas“ ist im islamischen Recht der Scharia das Prinzip der Vergeltung, zu deutsch: Blutrache. Die deutsche Iran-Politik ist zutiefst verlogen. Die Bundesregierung nimmt auf das menschenrechtsverletzende Unrechtsregime jede Rücksicht. Berlin ist unterwürfig gegenüber den mörderischen Mullahs, die iranische Opposition wird schlichtweg ignoriert. Ganz anders gegenüber Russland: In der deutschen Politik wurden im Fall Nawalny sofort schwerwiegende Konsequenzen gefordert. Im Fall Afkari stehen keine gravierenden Konsequenzen im Raum – weder vor noch nach der Hinrichtung. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. ({1}) Die Bundesregierung ist im Fall Afkari nahezu untätig geblieben. Der iranische Botschafter in Berlin wurde noch nicht einmal einbestellt. Noch schlimmer: Berlin nimmt es widerstandslos hin, dass das Mullah-Regime die Frechheit besitzt, seinerseits den deutschen Botschafter im Iran einzubestellen. Die Bundesregierung, Marke Maas, ist unterwürfig gegenüber der Islamischen Republik Iran. Und warum? Etwa wegen des Atomabkommens? Das ist doch eine Politmumie, ein Scheinvertrag, den Donald Trump zu Recht längst gekippt hat. Israel warnt eindringlich vor den antijüdischen Mullahs. Dieses sogenannte Atomabkommen hilft einseitig den Judenhassern in Teheran. Die iranische Opposition wird von der Bundesregierung verraten – wie damals schon von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. ({2}) Natürlich hat auch in diesem Jahr Bundespräsident Steinmeier den iranischen Mörder-Mullahs ein Glückwunschtelegramm zum Tag ihrer Machtergreifung geschickt – so wie jedes Jahr: Routine im Bundespräsidialamt. Ein Botschafter musste dann verkünden, dass es eigentlich keinen Glückwunsch hätte geben sollen. Wer glaubt ihm so etwas eigentlich noch? Wer? Claudia Roth hüllt sich zu Ehren der Mullahs regelmäßig gerne in ein Kopftuch. ({3}) Den iranischen Botschafter grüßt sie kumpelhaft mit einem „High five“ – so geschehen auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Unter Chomeini war dieser Botschafter Gouverneur der iranischen Provinzen Kurdistan und West-Aserbaidschan: Er ließ Hunderte kurdische Oppositionelle hinrichten. – Im letzten Jahr traf Roth am Rande der Interparlamentarischen Union in Belgrad den iranischen Parlamentspräsidenten Laridschani. Überschwänglich begrüßte sie ihn mit ausgestreckten Armen und freudig strahlend, wie mehrere Tageszeitungen berichteten. ({4}) Laridschani verharmloste den Terroranschlag auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Er gab den zwölf Ermordeten die Schuld; so pervers ist das. Dann Herr Nouripour: ein grüner Scheinkritiker, der letztlich das Geschäft der Mullahs betreibt. ({5}) Zweierlei Maß vor allem beim deutschen Außenminister: Hier der eine Maas: Sanktionen gegen Russland im Falle Nawalny, die Gasleitung Nord Stream 2, die bereits Milliarden gekostet hat, wird infrage gestellt. Dort der andere Maas: die Verhaftung Hunderter Oppositioneller – glatt ignoriert. ({6}) Und nun die Hinrichtung von Navid Afkari. Besondere Rücksicht nimmt die Bundesregierung immer gerne auf islamische Staaten, vor allem radikal-islamische. Hier ist es der Iran, dort ist es Katar. Heiko Maas sollte sich ein Beispiel an Donald Trump nehmen. ({7}) Der hat die iranischen Mullahs in einem Tweet unmissverständlich dazu aufgerufen, –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Braun!

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– Afkari nicht hinzurichten. Aber nichts davon in Berlin.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Braun, die Redezeit in Aktuellen Stunden ist auf fünf Minuten beschränkt. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Irans Opposition wird von der Bundesregierung verraten. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Tut mir leid; die fünf Minuten in der Aktuellen Stunde sind eine Obergrenze, und ich kann nicht darüber hinausgehen. Ich gebe übrigens den Rednern deswegen ein paar Sekunden vor Ablauf der fünf Minuten schon ein Zeichen, damit niemand überrascht wird. Also bitte nicht über die fünf Minuten hinausgehen, keine Sekunde! Jetzt hat das Wort der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Kollege im Menschenrechtsausschuss habe ich mich gefragt, ob wir in unterschiedlichen Welten leben. Ich nehme die Reaktion der Bundesregierung und die des Außenministers vollkommen anders wahr, als Sie es dargestellt haben. Vom Hintergrund her ist es so, als ob man auf einer Beerdigung reden müsste. Der Ringer Navid Afkari – ich bin dankbar, dass wir hier über den Fall debattieren – hat mit seinen beiden Brüdern Vahid und Habib im Jahr 2018 an Protesten in Schiras teilgenommen. In mehreren iranischen Städten hat es damals solche Proteste gegeben. Auf den Kundgebungen wurden Regierung und Korruption kritisiert – also Oppositionsmeinungen. Daraufhin wurde Navid Afkari verhaftet. Vor wenigen Wochen wurde er wegen „Kriegs gegen Gott“ und „Bildung einer Gruppe gegen das politische System“ für schuldig befunden und – wir haben es gerade gehört – doppelt verurteilt: zu sechseinhalb Jahren Haft und 74 Peitschenhieben sowie zum Tode. Das Geständnis soll laut mehrerer Zeugenaussagen unter Folter erzwungen worden sein. Seine beiden Brüder wurden ebenfalls verhaftet, und wir haben sehr große Zweifel daran – das Auswärtige Amt war also informiert –, dass diese Vorgehensweise veritabel ist. Die Menschenrechtsbeauftragte hat sich gemeldet. Das Auswärtige Amt hat sich gemeldet. Auch wir haben uns gemeldet, und mein Kollege Brand hat das Vorgehen verurteilt. Ich habe selber Oppositionellen ein Video zu diesem Vorfall geschickt. Trotzdem ist er letzten Samstag in der iranischen Stadt Schiras hingerichtet worden; er war 27 Jahre alt. Dieser junge 27-jährige Mann hat es beispielhaft erleben müssen, wie der Iran tatsächlich vorgeht, in vielen der möglichen Facetten, wie inflationär in diesem Land Menschenrechte verletzt werden. Wir haben das schon häufiger erlebt. Immer wieder taucht der Name der Preisträgerin des Sacharow-Preises des Europäischen Parlaments auf: Nasrin Sotudeh. Sie wurde zu 33 Jahren Gefängnis und zu 148 Peitschenhieben verurteilt. Sie soll jetzt in Lebensgefahr schweben. Da sind religiöse Minderheiten unterschiedlicher Art betroffen – sie sind ethnisch zu Hause und auch nicht: Kurden, Bahai, Christen, Sufi, Sunniten –, die vielfachen Diskriminierungen ausgesetzt werden. Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten geraten vor Ort regelmäßig nicht nur in die Gefahr von Belästigung und Gewalt, sondern sie sind oft auch dem Tod ausgesetzt. Unzählige Fälle von Verschwindenlassen sind zwar dokumentiert, werden aber nicht aufgearbeitet. Darunter fallen alle Arten von Menschenrechtsverteidigern: Journalisten, Regierungskritiker, zivilgesellschaftliche Aktivisten. Sehr oft betrifft das auch politische Gefangene – wie in diesem Fall Navid Afkari –, denen nach Folter und Misshandlungen eine medizinische Behandlung vorenthalten wird. Zu den angewendeten Foltertechniken – das ist makaber genug – gehören nicht nur Waterboarding, sondern auch Elektroschocks, das Besprühen der Genitalien mit Pfefferspray und Ähnliches. Wir haben das immer wieder angemahnt. Wir haben das auch im Menschenrechtsausschuss diskutiert. Damit komme ich zu der Gruppe, die ich vorhin schon in einem Nebensatz angesprochen habe, nämlich den Minderheiten. Das möchte ich kurz schildern. Letzte Woche hatte ich bei einer Zoom-Konferenz Kontakt mit mehreren Oppositionellen aus verschiedenen Ländern. Dabei sprach man auch über die religiösen Minderheiten. Ich fragte nach: Sind da auch unterschiedliche Christengruppen? Darauf hieß es: Ja; es gibt Verfolgungen auch bei denjenigen, die dort als Christen zu Hause sind. Die anderen, die konvertiert sind oder als Konvertiten in das Land zurückkehren, erleiden keine Verfolgung – die werden umgebracht. – Das war die Zeugenaussage einer Muslimin. Noch weitere Freiheitsrechte sind stark eingeschränkt, wie es auch bei Navid der Fall war. Wir haben gesagt: Das kann man nicht so lassen. Auch die Bundesregierung hat das immer wieder gesagt. Natürlich fordern wir, dass alle politischen Gefangenen – da sind wir nicht anderer Meinung als Belarus gegenüber – freigelassen werden, dass die Repressionen verurteilt werden und endlich aufhören, dass im Syrien-Krieg nicht länger Jugendliche in den Revolutionsgarden eingesetzt werden und dass die iranische Regierung das, was sie versprochen hat, auch hält, dass die UN-Regeln eingehalten werden und dass die Einreise in den Iran erlaubt wird, damit das überprüft werden kann. Ich möchte zum Abschluss das verlesen, was meine Fraktion hierzu deutlich formuliert hat: Das gegen den Ringer Navid Afkari unter fadenscheinigen Argumenten verhängte Todesurteil … reiht sich ein in eine Politik konsequenter Menschenrechtsverletzungen von Seiten Teherans. Das Ajatollah-Regime … unterdrückt die eigene Bevölkerung systematisch. Iran ist nach China der Staat mit den zweitmeisten –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Und damit ist Ihre Redezeit auch abgelaufen. Tut mir leid.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– vollstreckten Todesurteilen weltweit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nein, nein, es geht nicht mehr! Liebe Kollegen, es ist einfacher, wenn Sie auf das Zeichen achten, das 15 Sekunden vor Ende der Redezeit erscheint, und dann Ihre Rede zu Ende bringen; denn die Brutalität, mit der ich sonst abschneiden muss, wirkt nicht so richtig parlamentarisch. Das möchte ich nicht. Bijan Djir-Sarai, FDP, hat das Wort. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als mich am vergangenen Samstag während einer Autofahrt die Nachricht erreichte, dass Navid Afkari hingerichtet wurde, musste ich von der Autobahn abfahren, anhalten und nachdenken. Ich war in dem Moment unfassbar traurig, einsam, frustriert und wütend. Und ich bin immer noch wütend, weil im Iran immer noch unzählige Menschen grundlos im Gefängnis sitzen. Sie werden für lange Zeiträume festgehalten, zermürbt und gefoltert. Im heutigen Iran erhalten Menschen grundlos die Todesstrafe, oder sie werden bei Demonstrationen direkt erschossen. Man könnte sagen, das gehört dort quasi zum Tagesgeschäft der sogenannten Islamischen Republik. In diesen Tagen muss man genau hinhören, was die Menschen im Iran uns sagen wollen. Das Regime der Islamischen Republik Iran wollte mit dem Fall Navid Afkari ein Exempel statuieren. Die Botschaft des Regimes lautete: Niemand soll es wagen, seine Stimme gegen das System zu erheben. Die Mullahs und die Revolutionswächter machen kurzen Prozess. Niemand ist vor ihnen und ihrem Machtapparat sicher. Meine Damen und Herren, ich bin ein deutscher Bundestagsabgeordneter, der im Iran geboren wurde. Sie können sich denken, dass mir Nachrichten wie die vom Tod von Navid besonders nahegehen. Hätten wir, hätte die deutsche Politik ihn vor seinem Schicksal retten können? Ich weiß es nicht. Fakt ist, dass der junge Mann und viele Menschen, die für ihre Freiheit demonstriert haben, heute tot und nicht mehr unter uns sind. Was ich aber definitiv weiß, ist, dass diese Bundesregierung gemeinsam mit ihren EU-Partnern wesentlich mehr machen könnte. ({0}) Meine Damen und Herren, die eklatanten Menschenrechtsverletzungen im Iran dürfen nicht mehr ignoriert werden und müssen zu einer Änderung der Iran-Strategie der Europäischen Union führen. ({1}) Wirtschaftssanktionen, die eine ganze Bevölkerung treffen, sind nicht zielführend. ({2}) Ein ganzes Volk zu bestrafen, ist der falsche Weg. Wir dürfen nicht das iranische Volk bestrafen, wir müssen diejenigen bestrafen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, meine Damen und Herren! ({3}) Die führenden geistlichen und politischen Eliten des Iran haben seit der islamischen Revolution einen unglaublichen Reichtum angehäuft, man könnte auch sagen: gestohlen. Während die Bevölkerung leidet, leben sie ein gutes Leben, haben ihr Geld ins sichere Ausland gebracht, gehen in den Ländern ein und aus, gegen die sie sonst in ihren Predigten hetzen. Es kann nicht sein, dass Iranerinnen und Iraner mit Sanktionen hart bestraft werden, während die Unterdrücker im Ausland hofiert werden, meine Damen und Herren, übrigens auch von dieser Bundesregierung hofiert werden. Das kann nicht sein. ({4}) Es ist die Pflicht von jedem von uns und auch der Bundesregierung, Menschenrechtsverletzungen klar zu benennen und zu verurteilen. Und wer, wenn nicht wir, sollte sich an die Seite der mutigen iranischen Zivilgesellschaft stellen, die für Freiheit und Demokratie kämpft? ({5}) Und wenn wir, meine Damen und Herren, von interessengeleiteter Außenpolitik sprechen, dann muss doch ein einziger Blick in den Nahen Osten reichen, um zu erkennen, dass das islamistische Mullah-Regime seit Jahren die gesamte Region destabilisiert und Krieg und Terror exportiert. Das kann nun wirklich nicht im Interesse Deutschlands und der europäischen Außenpolitik sein, meine Damen und Herren. ({6}) Was können wir also tun, wenn diplomatischer Druck und Wirtschaftssanktionen nicht greifen? Ein europäisches Magnitski-Gesetz ist dabei ein wichtiger Schritt, der schnellstens umgesetzt werden muss; denn Personen, die systematisch entgegen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte handeln, können so gezielt zur Rechenschaft gezogen werden. Ich betone es immer wieder, meine Damen und Herren: Die iranische Gesellschaft hat die allerbesten Voraussetzungen, um einen erfolgreichen und demokratischen Staat aufzubauen. Das Land bringt unglaublich gut ausgebildete junge Frauen und Männer hervor, die sich nichts lieber wünschen, als in Frieden und Freiheit zu leben. Es wäre wünschenswert, wenn sie wenigstens wüssten, dass sie im Kampf um die Durchsetzung ihrer Menschenrechte nicht alleine sind. ({7}) Es ist nicht die Aufgabe der deutschen oder europäischen Politik, sich in die innenpolitische Situation im Iran einzumischen. Es ist aber unsere Pflicht, deutlich zu machen, dass Menschenrechte universell und unteilbar sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Daniela De Ridder, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Navid Afkari war ein mutiger junger Mann. Er war ein aufstrebender Ringer, der im Sommer 2018 mit seinen Brüdern und Hunderten anderer Menschen in Schiras auf die Straße ging, und sein Ziel war es, dort die katastrophalen Verhältnisse in seinem Land Iran anzuprangern. Seinen Mut hat Navid Afkari trotz heftiger internationaler Proteste nun mit dem Leben bezahlt. Afkari soll nach Angaben der iranischen Justiz bei der Demonstration einen Sicherheitsbeamten getötet haben. Aber wir alle haben doch ganz erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit seines Verfahrens, das schließlich dazu führte, dass er trotz erheblicher Proteste gehängt wurde. Der Sportler, seine Familie und Menschenrechtsorganisationen führen an, dass sein Geständnis auf Folter beruht und somit erzwungen wurde. Und alle Gnadengesuche haben nicht gefruchtet. Das ist frustrierend für die Außenpolitik, das ist enttäuschend. Ich bin meiner Kollegin Bärbel Kofler als Menschenrechtsbeauftragte sehr dankbar, dass sie dies verurteilt hat, genauso wie die Bundesregierung und insbesondere der Außenminister. ({0}) Auch wir hier sollten dieses Verbrechen aufs Schärfste verurteilen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ja, es sollte, lieber Bijan, ein Exempel statuiert werden. Davon bin auch ich überzeugt. Es sollte ein Signal ausgehen – so wollten es die Mullahs –, dass jeder, den der Protest auf die Straße treibt, um sein Leben fürchten muss. Allerdings stimmt es auch, dass der Protest der iranischen Bevölkerung weiter andauert und der Protest gegen das Regime wächst. Ob man aber den Fall dieses jungen Mannes, wie es die AfD tut, für populistischen Zwecke missbrauchen sollte, stelle ich doch arg infrage. ({1}) Es gibt Sanktionen gegen den Iran. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Der Iran ist gerade durch die Sanktionspolitik eines der Länder, das am meisten isoliert ist, wirtschaftlich und auch kulturell. Es gibt Einschränkungen des Handels – Rohöl, Erdgas, Gold –, und man verhindert auch, dass der Iran Uran anreichern kann. Dazu dient im Übrigen der Atomvertrag JCPoA. Es gibt auch Einschränkungen im Finanzsektor, im Verkehrssektor; es gibt Reisebeschränkungen. 2011 ist das Stichjahr, in dem die EU auch restriktivere Maßnahmen im Zusammenhang mit den Verstößen gegen Menschenrechte im Iran eingeführt hat. Dazu gehört insbesondere das, was wir, meine Herren von der AfD, jetzt auch für Russland diskutieren, ({2}) nämlich das Einfrieren der Vermögen oder das Nichterteilen von Visa. Ich weiß nicht, ob es bei Ihnen auf Informationsmangel beruht, wenn Sie das Gegenteil behaupten, Herr Braun. Wahr ist doch vielmehr, dass es wichtig ist, dass wir gerade dafür Sorge tragen, eben alle Gesprächskanäle offenzuhalten, gerade weil es um die Menschen im Iran und nicht nur um ein fragwürdiges Regime geht. Dafür sollten wir uns hier gemeinsam einsetzen. ({3}) Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich empfinde Ekel, wenn ich sehe, wie Sie auf dem Rücken eines gehängten Mannes Ihre populistischen Thesen hier von diesem Hohen Haus in die Welt entsenden. ({4}) Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion ({5}) bei Navid Afkari, seinen Brüdern, allen Menschen, ({6}) die zu Unrecht im Gefängnis sitzen und gefoltert werden, dafür entschuldigen. ({7}) Ihr rechthaberischer Duktus hilft keinem einzigen Menschen, der von Unterdrückung und Verfolgung bedroht wird. ({8}) Das ist das Thema, und das müssen Sie sich anhören. Es tut mir leid, dass Sie hier sitzen dürfen und das Schicksal dieser jungen Menschen so missbrauchen ({9}) und auch unsere Zeit dafür in Anspruch nehmen, statt wirklich zu gucken, wo Sanktionen wirken können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, auch Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Niema Movassat, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie suchen einen Hals für den Galgen, und sie haben mich ausgesucht. Dies waren mit die letzten Worte des iranischen Ringers Navid Afkari. Am Samstag letzter Woche richtete das iranische Regime ihn hin. Er war zum Tode verurteilt worden, weil er angeblich im Rahmen der Antiregimeproteste 2018 einen Sicherheitsmann umgebracht haben soll. Es gibt keine Beweise für die Tat. Es gibt nur das Geständnis, welches unter massiver Folter herbeigeführt wurde und was Afkari widerrief. Die Todesstrafe gegen Afkari war Mord. ({0}) Als Linke finden wir es gut, dass die Bundesregierung dazu klare Worte gefunden hat. Das iranische Regime zeigt mit der Hinrichtung einmal mehr, dass politische Gegner im Iran gnadenlos verfolgt werden und dass niemand, nicht einmal ein im Iran bekannter und populärer Sportler, vor den Fängen des Regimes sicher ist. Das iranische Regime hat an die eigene Bevölkerung ein brutales Zeichen gesendet: Wir töten euch, wenn ihr gegen uns protestiert. Der Name Afkari reiht sich unter die zahllosen Opfer des Regimes ein. Laut Amnesty International sind 2019  251 Menschen im Iran hingerichtet worden. Der Iran ist eines der Länder mit den höchsten Hinrichtungszahlen in der Welt. Die Empörung der Bundesregierung und vieler Politiker der Koalition über die Ermordung Afkaris wäre etwas glaubwürdiger, wenn Deutschland nicht in dieses Land abschieben würde. Doch letztes Jahr wurden 39 Menschen durch Deutschland in den Iran abgeschoben, in eine Diktatur ohne Menschenrechte. Wir brauchen einen Abschiebestopp in den Iran! ({1}) Nach der Rede von Herrn Braun müsste ich ja fast davon ausgehen, dass auch die AfD für einen Abschiebestopp in den Iran ist, wenn sie es ernst meint mit dem, was sie hier gesagt hat. ({2}) Doch gehen deutsche Behörden bisher völlig gegenteilig und teilweise sehr rabiat bei der Abschiebung in den Iran vor. Ich bekam vor Kurzem einen Fall auf den Tisch – er spielt in NRW –, bei dem ein zum Christentum konvertierter Iraner, der auch in seiner Gemeinde aktiv ist, von heute auf morgen abgeschoben werden sollte. Dass auf Konvertierung zum Christentum im Iran die Todesstrafe steht, war dem BAMF und auch der Ausländerbehörde in Kleve egal. Fangen wir doch erst mal damit an, diejenigen zu schützen, die den Fängen des iranischen Regimes entflohen sind, statt nur verbal Empörung gegen das Regime in Teheran zu äußern. ({3}) Und auch die Doppelstandards sind kaum erträglich: einerseits die Doppelstandards der AfD, die sich mit dem syrischen Assad-Regime trifft, es hofiert und umarmt und sich hier heute hinstellt und als Menschenrechtsverteidiger darstellt. Diese Doppelstandards brauchen wir nicht. ({4}) Aber auch die Doppelstandards der Bundesregierung sind schwer zu ertragen. Saudi-Arabien zum Beispiel richtete letztes Jahr 184 Menschen hin. Dazu hört man selten ein kritisches Wort der Bundesregierung. Die Geschäfte mit Saudi-Arabien und die strategische Allianz sind der Bundesregierung wichtiger als die katastrophale Menschenrechtslage in Saudi-Arabien. Oder nehmen wir Ägypten: eine Militärdiktatur, keine freien Wahlen; Menschenrechte werden verletzt. Die Bundesregierung genehmigte letztes Jahr Rüstungsexporte in Höhe von 802 Millionen Euro an Kairo. Stoppen Sie diese Rüstungsexporte, wenn Sie es mit Menschenrechten ernst meinen! ({5}) Meine Damen und Herren, es muss ein klares Ziel einer wertebasierten Außenpolitik sein, keine Waffen an Diktaturen zu liefern, keine privilegierten Handelsbeziehungen zu führen und diktatorische Regime nicht zu hofieren. Was beim Iran klappt, ist bei Saudi-Arabien, Ägypten und einigen anderen Ländern bisher seitens der Bundesregierung nicht gewollt. Es muss Schluss mit diesen Doppelstandards sein. ({6}) Was aber immer erfüllt sein muss, auch im Sinne der Menschenrechte, ist der Dialog, auch mit Diktaturen. Sie müssen merken, dass die Welt hinsieht, dass sie nicht hinnimmt, wenn Menschen drangsaliert, gefoltert und ermordet werden. Dieser kritische Dialog ist mit dem Iran faktisch nicht mehr existent. Der Ausstieg der USA aus dem so wichtigen Atomabkommen und die fehlende Antwort Europas auf Trumps fatale Iran-Politik haben Gesprächskanäle zu den Machthabern in Teheran gekappt. Das Sanktionsregime verbessert die Menschenrechtslage nicht, ganz im Gegenteil, sorgen doch die Sanktionen dafür, dass neben die politische Unfreiheit eine sehr prekäre wirtschaftliche Lage der Bevölkerung tritt. Wer schauen muss, wie er seinen Magen vollbekommt, hat keine Zeit für politischen Widerstand gegen eine Diktatur. Die EU hat nur sehr halbherzig mit INSTEX versucht, das Atomabkommen zu retten. Verbal hat die EU sich für das Atomabkommen ausgesprochen, aber eben praktisch kaum was dafür getan. Was muss die Bundesregierung tun? Sie muss das Atomabkommen mit dem Iran retten, die Menschenrechte weltweit gleichwertig verteidigen und darf keine Waffen an Diktaturen liefern. Das sind einige Hausaufgaben, die zu erledigen sind. Packen Sie es endlich an! Danke schön. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Folter, Geständnis, Strafe – das ist die Kette des Unrechts, der Navid Afkari zum Opfer gefallen ist. Diese Kette ist alt, jahrzehntealt, und sie kennen so viele Menschen im Iran zur Genüge: Frauen, Frauenrechtlerinnen, Dissidenten, Dissidentinnen, Menschenrechtler, Umweltschützer, Homosexuelle, Bahai, Kurdinnen, Kurden, Kopftuchverweigerinnen, viele, viele andere. Wir haben einen umfassenden Antrag zur Lage im Iran eingereicht, den wir hier in der nächsten Plenarwoche werden miteinander diskutieren können, und dort werden wir uns auch ausführlich mit der Politik der Bundesregierung beschäftigen. Die AfD schreibt keine Anträge; die macht Show. ({0}) Sie haben in den letzten drei Jahren, in drei Jahren parlamentarischer Arbeit, einen einzigen Antrag im Menschenrechtsbereich eingebracht. Das nennen Sie parlamentarische Arbeit – nicht schlecht. Sie werfen uns allen anderen doppelte Maßstäbe vor. Bei der Frage der Menschenrechte haben Sie gar keine Maßstäbe. Sie wollen nur Videos für Ihre Twitterblasen produzieren. ({1}) Der Kollege Herdt von Ihnen hat diese oder letzte Woche im Menschenrechtsausschuss gesagt, die Bundesregierung müsse den Demonstrierenden in Belarus auf den Zahn fühlen, wer hinter ihnen stecke – als ginge es nicht um Menschenrechte. Viele Ihrer Kollegen fahren auf die Krim, treffen sich mit dem Besatzer, aber sagen nicht ein einziges Wort über die Lage der Krimtataren dort. Der Kollege Frohnmaier hat sich hierhingestellt und wortwörtlich gesagt: „Von China lernen heißt siegen lernen.“ Meint der jetzt damit die über 1 Million Uiguren, die in Umerziehungslager gesteckt worden sind, oder was meint der damit? Menschenrechte: Fehlanzeige! ({2}) – Sie müssen das jetzt ertragen. Der Kollege Hartwig hat sich heute hierhingestellt und Saddam Husseins Giftgasanschläge auf die Kurdinnen und Kurden „Stabilität“ genannt. Das ist Ihre Art von Menschenrechten. ({3}) Sie fahren zu Assad, zum Schlächter von Damaskus, und machen Propagandavideos, dass da alles in Ordnung wäre. Wer sind denn die engsten Verbündeten von Assad? Der Kreml! Wir haben heute bei der Debatte über Nord Stream 2 gehört, wer damit zusammenhängt. Die Hisbollah: Frau von Storch kommt immer hierhin und sagt: „Die Hisbollah ist schlimm“; aber zum besten Verbündeten der Hisbollah – Assad –rennen Sie hin und freuen sich, dass er da ist, und erzählen das auch hier vom Pult aus. ({4}) Der Iran: Sie wollen jetzt sagen, dass Sie gegen das iranische Regime sind, aber Sie haben beste Freunde in Damaskus. Tut mir leid: Das ist nicht nur nicht redlich; das ist schlicht Heuchelei. ({5}) Der Kollege Bystron im Übrigen, der macht nicht nur Schießübungen mit Nazis in Südafrika, der lässt sich auch mit Islamisten abbilden. Wissen Sie das eigentlich? ({6}) So. Und jetzt kommt Ihr Vorwurf: Sie kritisieren uns, weil wir mit denen reden. Ich habe einen Onkel gehabt, der ist von diesen Leuten hingerichtet worden. Ich sitze mit den Killern physisch zusammen, um zu versuchen, dort in der Menschenrechtsfrage was zu erreichen. Claudia Roth geht dahin, wo es weh tut, um über die Rechte der Homosexuellen zu sprechen. ({7}) Von einer Partei, die nicht einmal in Deutschland für die Gleichstellung von Homosexuellen ist, lassen wir uns nun wirklich nichts sagen, aber auch gar nichts! ({8}) Weil wir das Thema ernsthaft in der nächsten Sitzungswoche behandeln wollen und weil ich das echt nicht mehr ertrage und auch nicht mehr behandeln will, will ich einfach ein paar Namen nennen, die es verdient haben, unsere Aufmerksamkeit zu erfahren. Nasrin Sotudeh ist Menschenrechtsanwältin. Ihr Kernanliegen war stets, zu verhindern, dass Kinder hingerichtet werden. Sie ist jetzt deswegen zu 33 Jahren Gefängnis und zu 148 Peitschenhieben verurteilt worden. Sie ist heute am 39. Tag ihres Hungerstreiks, und das ist nun wahrlich nicht ihr erster Hungerstreik. Sie ist in Lebensgefahr, weil sie dagegen protestiert, dass das iranische Regime gegen Covid-19 in den Gefängnissen nichts tut. Sie braucht unsere Aufmerksamkeit. Ich bin so froh, dass sie letzte Woche den Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes – leider in Abwesenheit – bekommen hat. ({9}) Samy Rajabi ist ein Tierschützer. Er kämpft dafür, dass das Symboltier des Irans, der Gepard, gerettet wird, weil er vom Aussterben bedroht ist. Dafür steckt er im Gefängnis. Nazanin Zaghari-Ratcliffe hat das „Verbrechen“ begangen, dass sie eine zweite Staatsbürgerschaft hat, nämlich dass sie Britin ist. Im Übrigen gibt es auch einen Deutsch-Iraner, der im Iran im Gefängnis steckt. Narges Mohammadi hat ihr Leben lang eine einzige große Aktivität gehabt: Sie hat gegen die Todesstrafe gekämpft. Deshalb ist sie jetzt im Gefängnis und bekommt nicht die medizinische Versorgung, die sie braucht. Sie hat gegen die Todesstrafe gekämpft, der Navid Afkari zum Opfer gefallen ist. Im letzten November sind 1 500 Leute auf der Straße umgebracht worden. Ich schließe mit dem Appell, dass politische Gefangene freigelassen werden müssen – ein alter Spruch in Farsi –: Zendani siasi azad bayad gardad. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 12. September dieses Jahres hat der iranische Staat Navid Afkari ermordet. Seine letzten Stunden musste der weltberühmte Ringer im Adel-Abad-Gefängnis in Schiras verbringen – ein Gefängnis, das bekannt ist für seinen großräumigen Folterkeller, in dem auch das Geständnis erzwungen wurde, unter dessen Vorwand Navid Afkari hingerichtet worden ist. Unter Folter erzwungene Geständnisse und Hinrichtungen von Oppositionellen, die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung können und müssen unter dem Begriff des Staatsterrors zusammengefasst werden. Das ist die Situation, in der sich der Iran befindet. Die Menschenrechtssituation ist grausam. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist nicht gegeben. Aber die Situation geht weit darüber hinaus: Minderjährige werden hingerichtet. Demonstranten, die für eine bessere Versorgungslage, für Meinungsäußerung, für Kopftuchfreiheit auf die Straße gehen, werden durch Revolutionsgarden aus dem Hinterhalt erschossen. Das ist die Wahrheit des Jahres 2020 im Iran. Deswegen ist unsere wichtige Botschaft, dass wir alle in diesem Parlament hinter den Menschen stehen, die von diesem Regime verfolgt werden: mutige Iranerinnen und Iraner, die dagegen aufbegehren. Ihnen gehört unsere Solidarität. ({0}) Ich möchte aber auch erwähnen, dass mich einiges an dieser Debatte, beispielsweise die Schärfe, gestört hat. Wenn hier auch in Zwischenrufen der Kollege Omid Nouripour – der eine sehr bewegende Rede gehalten hat, der an Regimegegner erinnert hat, die in Gefängnissen leiden, die ermordet worden sind – von dieser Seite als Freund des Mullah-Regimes betitelt wird, überschreitet das die Grenze des Anstands. Das sage ich auch über die Parteigrenzen hinweg. ({1}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Der Iran destabilisiert die gesamte Region. Er unterstützt die Hamas und die Hisbollah. Er führt Krieg im Jemen. Er probt in der Straße von Hormus den Seekrieg. Er unterstützt das Assad-Regime. Erst im Juli dieses Jahres hat Assad mit Teheran ein sogenanntes Militärabkommen zum Thema Luftabwehr geschlossen. Es ist das gleiche Regime, in welches nur eine Bundestagsfraktion in den letzten Jahren gereist ist, nämlich die AfD. Wer auch immer die Menschenrechtsverletzungen im Iran hier darstellt, der ist unglaubwürdig, wenn er demjenigen seine Aufwartung macht, der ein ebensolcher Schlächter ist wie das Regime in Teheran, nämlich Assad und seine Schergen, meine Damen und Herren. ({2}) Ja, wir brauchen eine gemeinsame, noch stärkere europäische Handschrift, auch gegen das Regime in Teheran. Wir brauchen die Unterstützung der Exiliraner. Wir brauchen auch eine deutliche Ansprache der Menschenrechtssituation im Iran. Und wir müssen alles dafür tun, dass eine Friedensordnung im Nahen Osten weiter entsteht, auch und gerade – ich betone das – für das Existenzrecht Israels, das gerade vom Iran in Abrede gestellt wird. Das steht für uns nicht zur Debatte, dass auch nur ein Land dieser Welt das Existenzrecht Israels in Abrede stellen darf. Ich will mit einem Satz schließen, den ich im heutigen „Spiegel“ gefunden habe, eine bewegende Geschichte über Navid Afkari. Darin sagt eine Mutter, die auch ihre Tochter verloren hat, zur Mutter von Navid Afkari – ich zitiere –: Du musst jetzt der Held sein, der Navid gewesen ist, und nach seinem Tod schreie deine Trauer nicht zu laut hinaus, das ist es, was sie wollen – uns schwach sehen und zerstört. Aber entscheidend ist für uns nicht, dass die Menschen, die in diesem Regime leiden, schwach und zerstört sind, sondern dass die Geschichte ihnen recht geben wird, dass sie erhobenen Hauptes für Menschenrechte und Demokratie auch im Iran gekämpft haben. Deswegen gilt ihnen unsere Solidarität. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix von Storch, AfD. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ajatollah Chomeini erklärte im Jahr 1979 zur islamischen Revolution: Alle, die sich gegen die islamische Revolution stellen, müssen schnell hingerichtet werden. – Genau das geschieht. Navid Afkari ist nur das jüngste Opfer der islamischen Revolution. Er wurde gefoltert und ermordet wie so viele vor ihm. Die iranische Geheimpolizei hängt Oppositionelle mit den Beinen zur Decke auf, sie peitscht sie aus, sie foltert mit Elektroschocks, sie vergewaltigt sie und hängt sie an den Galgen. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden 123 hingerichtet. Und unser Staatsoberhaupt – man kann es nicht oft genug wiederholen – Frank-Walter Steinmeier schickt seine herzlichen Glückwünsche zur Feier des Jahrestages der Revolution, zum Beginn von Folter und Mord. Das ist eine Schande für dieses Land. ({0}) Wo sind die Proteste von „Black Lives Matter“, wo sind die entrüsteten Leitartikel der deutschen Presse? Wo ist die Empörung, die wahre Empörung der Linken, mal abgesehen von den populistischen Phrasen von Herrn Movassat? Wenn ihr Linken euren Hass nicht gegen Deutschland und die USA ausleben könnt, dann sind euch Menschenrechte vollkommen egal. ({1}) Nein, ihr seid nicht einfach nur Heuchler; ihr seid die schlimmsten Heuchler, die dieses Land je hatte. ({2}) Das iranische Regime ermordet seine politischen Gegner aber auch im Ausland: Das Kopfgeld für Salman Rushdie ist 2016 auf 4 Millionen US-Dollar erhöht worden. 37 Menschen verbrannten bei einem Anschlag auf seinen türkischen Übersetzer. Und es hört nicht auf: Im April 2017 streckte der Iran Saeed Karimian mit 27 Schüssen in Istanbul nieder, einen regimekritischen TV-Produzenten. Im Juli 2018 wurde in Wien ein iranischer Diplomat festgenommen und so ein Sprengstoffanschlag in Frankreich verhindert. Im November 2019 ermordete der Iran den Dissidenten Masoud Molavi in Istanbul. Der Verdacht im Fall Nawalny hält die Republik seit Wochen in Atem, aber eine Hinrichtung mit 27 Schüssen – dröhnendes Schweigen. Warum? Weil Deutschland erpressbar geworden ist. Am 6. Januar 2020 sagte der frühere BND-Chef August Hanning dem Tagesspiegel: Der Iran besitzt das Potenzial, über von ihm gesteuerte Organisationen in Deutschland Terroranschläge zu verüben. In den letzten Jahren haben die Al-Quds-Brigaden dafür potenzielle Ziele ausgespäht. Im Falle der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten kann der Iran Deutschland mit Terror überziehen. – Hanning hat das gesagt, in diesem Jahr. Deshalb haben Sie die Hisbollah so lange gewähren lassen, und deshalb schweigen Sie so sehr zu den Verbrechen des iranischen Regimes. ({3}) Sie wollen nicht, dass die Bürger erfahren, wie weit Deutschland bereits von Islamisten unterwandert ist. Vier ganz konkrete Beispiele: Erstens. In der Imam-Ali-Moschee in Hamburg laufen unter den Augen der Behörden alle Fäden zusammen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz nennt sie ein „bedeutendes Propagandazentrum für ganz Europa“. Ihr Leiter gilt als direkter Vertreter des obersten Führers der islamischen Revolution. Zweitens. Die islamische Gemeinschaft der Schiiten ist davon ein direkter Ableger. Die sitzen jetzt im Beirat für ein Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und helfen, Islamlehrer für deutsche Schüler auszubilden – ganz offiziell. Drittens. Jedes Jahr erlauben wir wieder die Al-Quds-Märsche, und die Hisbollah-Anhänger dürfen auf deutschen Straßen skandieren: Juden ins Gas. Viertens. Abdul Hamid S., Bundeswehrübersetzer, in Kabul geboren, hat militärische Geheimnisse direkt an das Mullah-Regime verraten. Der iranische Geheimdienst hat es bis in die Bundeswehr geschafft. Die Hisbollah konnte Deutschland ungestört als Rückzugsraum für ihren Terror nutzen, bis die AfD das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat. Nach zehn Wochen Blockade im Ausschuss konnte der Innenminister nicht mehr anders, als zumindest ein Betätigungsverbot zu erlassen – immerhin. Aber das kam natürlich zu spät und ist zu wenig. Schlagen wir der Hydra den Kopf ganz ab! Verbieten wir die Islamistenvereine! Schließen wir die Islamistenmoscheen! Schluss mit der Anbiederung an das Blutregime in Teheran! Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frank Schwabe, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Navid Afkari ist tot, hingerichtet und ermordet von einem brutalen Regime, ermordet in einer brüchigen Gesellschaft, in der das Regime es scheinbar für notwendig hält, Exempel zu statuieren, um in dieser brüchigen Gesellschaft seine Macht zu sichern. Das ist schrecklich, und das ist empörend. Die Schauspielerin Nazanin Boniadi hat geschrieben: „Yesterday we cried. Today we organize.“ Gestern haben wir geweint. Heute organisieren wir. Was heißt für uns „organisieren“? Für uns heißt „organisieren“, Aufmerksamkeit zu schenken – das ist das, was wir tun können –, hinzuschauen, was los ist, zu hören, was die Mutter in einem herzzerreißenden Statement gesagt hat, und vor allen Dingen alles dafür zu tun, dass die beiden Brüder Vahid und Habib, die zu 54 bzw. 27 Jahren Haft und je 74 Peitschenhieben verurteilt sind, geschützt und gerettet werden. Wir haben weitere Fälle, von denen berichtet worden ist. Auch ich will diesen hier erwähnen: Nasrin Sotudeh, iranische Menschenrechtsanwältin, Sacharow-Preisträgerin des Europäischen Parlaments 2012, die in der Tat neben vielem anderen Minderjährige verteidigt hat, die in Todeszellen gesessen haben, wurde am 12. März 2019 wegen Verbrechen gegen die nationale Sicherheit, Beleidigung des politischen und religiösen Oberhaupts sowie Korruption und Prostitution zu insgesamt zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Vieles kommt noch dazu; das summiert sich zu noch mehr Jahren Gefängnis. Sie ist wirklich in einem schlechten Gesundheitszustand. Wir machen uns große Sorgen um diese mutige Frau. Das sind nur einige Beispiele. Man könnte Dutzende, Hunderte, vielleicht noch mehr anführen. Das sind Beispiele dafür, dass der Iran ein Musterbeispiel ist für politische Justiz, ein Musterbeispiel für exzessive Gewalt, zum Beispiel gegenüber Demonstrantinnen und Demonstranten. Bei den Protesten im November 2019 gab es nach Angaben und Zählungen von Amnesty International mindestens 304 Tote und wahrscheinlich um die 7 000 Verhaftungen. Dieser Fall ist ein Musterbeispiel für Folter. Navid Afkari schrieb, bevor er ermordet wurde – man kann es nachlesen –. Sie haben mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, bis ich fast erstickt wäre. Sie schlugen mit Stöcken auf meine Hände, meinen Bauch und meine Füße ein, fesselten mich und gossen mir Alkohol in die Nase … Der Iran ist – leider – ein Musterbeispiel und das schlimmste Beispiel für die Todesstrafe, für Hinrichtungen. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hat das Land die höchste Zahl an Hinrichtungen: in jedem Jahr um die 300. Wie man auf die Idee kommen kann, der Bundesregierung vorzuwerfen, zu diesen Dingen zu schweigen, erschließt sich mir nicht. Dr. Bärbel Kofler, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, hat sich in Statements am 10. und 14. September – das war erst vor ein paar Tagen – zu Wort gemeldet, ({0}) und Sie hat zum Beispiel gesagt: Ich bin entsetzt über den Fall von Navid Afkari und seinen zwei Brüdern. Mal wieder sind drei junge Menschen in Iran zu drakonischen Strafen verurteilt worden, weil sie gegen die Regierung protestierten. Insofern ist das eine klare Haltung. ({1}) – Der Außenminister hat sich ebenfalls mehrfach dazu geäußert. Ich habe die Zitate jetzt nicht präsent. ({2}) – Ich muss zu Ihnen gar nichts mehr sagen. Es ist halt ein schlichtes Weltbild, was Sie haben. Immer wenn es um den Islam geht, dann sind das die Bösen. Bei allen anderen gucken sie entsprechend weg. Deswegen ist es in der Tat unglaubwürdig, wenn Sie hier diese Themen aufgreifen. Wir brauchen den Dialog mit dem Iran wie im Übrigen auch mit allen anderen Ländern auf der Welt; ({3}) aber wir brauchen eben auch eine klare Haltung in Menschenrechtsfragen. Navid Afkari ist tot. Viele andere, die noch leben, leiden. Deswegen müssen wir uns beständig um diese Menschen kümmern und ihr Schicksal beständig auf die Tagesordnung von Debatten setzen. Ich sage es noch mal: Gestern haben wir mit Nazanin Boniadi geweint, heute organisieren wir. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die vielen ihrer Freiheit Beraubten, die Gefolterten, die Getöteten und deren Familien vertragen nicht unser Parteiengezänk hier. Sie vertragen es nicht, dass wir uns untereinander vorwerfen, dass wir an der einen Stelle mehr und an der anderen Stelle weniger machen. Was ich mir tatsächlich wünschen würde – die Diskussion hat mich darin noch mal bestärkt –, ist eine Einmütigkeit, zum Ausdruck gebracht von einer einzigen parteiübergreifenden Fraktion für Menschenrechte in unserem Hause. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was diese Menschen auszuhalten haben, was sie leiden, dass uns die Menschenrechtsverteidiger immer wieder um Hilfe bitten, dann dürfte der Dissens, der sich hier zeigt, gar nicht in einer solchen Weise ausgespielt werden. Darüber müssten wir alle mal nachdenken. Der Tod von Navid Afkari hat wieder große Betroffenheit erzeugt. Er hat ein Innehalten erzeugt: Briefe, Proteste; UNO-Vertreter haben sich gemeldet. Ja, auch Frau Kofler hat geschrieben. Als Mitglied des Menschenrechtsausschusses muss ich allerdings sagen: Und dann ist wieder Stille bis zum nächsten großen Ereignis. – Deshalb würde ich mir vielmehr wünschen, dass wir als Politiker – auch unsere Regierung – uns ostentativ mit Menschenrechtsverteidigern und gequälten Menschen an einen Tisch setzen und mit ihnen essen, statt Bilder von Treffen mit den Vertretern und Politikern solcher Regime zu posten, die diese Bilder wieder für ihr Renommee verwenden. Der iranische Botschafter hat uns Anfang des Jahres zu einem Essen eingeladen. Ich habe ihm zurückgeschrieben: Ich werde immer mit Ihnen reden, aber mit Ihnen essen werde ich nicht. ({0}) Ich möchte nicht das Brot brechen mit jemandem, der dieses Regime verteidigt und vertritt. Ich möchte mit allen reden, schon um eine Änderung hervorzurufen. Aber ich möchte Ihnen auch sagen: An meiner Haltung ändert sich nichts, selbst wenn es ein Stück meines Wohlstands kosten würde. Deswegen möchte ich uns alle ermutigen, ebenso zu handeln, selbst wenn unsere wirtschaftlichen Interessen an dieser oder jener Stelle mal in Gefahr geraten. Wir sind es uns selber schuldig – als Deutsche mit unserer Hypothek noch umso mehr –, dass wir jeden Namen eines Betroffenen und jedes Unrecht dieser Welt laut sagen, dass wir uns dahinterstellen, dass wir Menschen zu retten versuchen – das ist ja manchmal auch gelungen –, dass wir einmütig handeln und nicht denjenigen, die uns beobachten, ein Schauspiel der Zerrissenheit bieten, bei dem gezeigt wird, wer sich mehr einsetzt, für wen man sich mehr einsetzt und für wen weniger. Es geht um Menschen. Wir alle sind Menschen. Wir sind ein tolles Volk und ein tolles Parlament. Wir werden es doch wohl schaffen, mit einer Stimme – auch mit unseren Politikern zusammen, die auch Angst haben, dass sie etwa diplomatische Kanäle verbauen – zu sagen: Menschenrechte kommen zuerst; denn immer wenn wir für Menschenrechte kämpfen, kämpfen wir für uns und unsere Zukunft. Danke schön. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Dagmar Freitag, SPD. ({0})

Dagmar Freitag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002655, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolleginnen! Ja, fassungslos blicken wir auf die Vollstreckung des Todesurteils gegen den iranischen Olympiateilnehmer Afkari: vollstreckt ohne rechtsstaatliches Verfahren, mit einem Geständnis unter Folter abgepresst. Die Familie konnte nicht mal Abschied nehmen. Iran ist aber auch ein Land – das wissen die wenigsten – mit einer jahrhundertealten und immer noch sehr vitalen Sportkultur, von der die Frauen allerdings bislang ausgeschlossen sind. Ringen ist eine besonders populäre Sportart im Land. So ist es überhaupt kein Wunder, dass der beste Ringer des Landes zum Problem wurde, ja, zur Bedrohung für dieses Regime, allein aufgrund seiner klaren Haltung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sport ist politisch, auch wenn er sich das nicht immer eingestehen will. Doch wo ist jetzt der organisierte Sport mit seinen ansonsten so omnipräsenten Vertretern? Ja, Präsident Bach hatte ein Gnadengesuch eingereicht. Und, ja, man sei geschockt, hieß es nach der Exekution aus den Reihen von IOC und DOSB. Ich glaube das im Übrigen auch. Dennoch: Ich muss den Finger in diese Wunde legen. Die furchtbare Tragödie des Ringers Navid Afkari ist zugleich auch eine Tragödie des internationalen Sports, der nämlich mittlerweile wieder zur Tagesordnung übergegangen ist – wie immer, möchte man fast resigniert anfügen. Ganz anders allerdings die Athleten: Weltweit positionieren sie sich, stellen angesichts dieses furchtbaren Schicksals von Navid Afkari klare Forderungen, beispielsweise Maximilian Klein von Athleten Deutschland – ich zitiere –: Das Internationale Olympische Komitee und die Weltverbände müssen das iranische Regime mit sofortiger Wirkung vom internationalen Sportsystem ausschließen. Die Tatenlosigkeit des IOC ist inakzeptabel … Iranische Athletinnen und Athleten sollten weiterhin unter neutraler Flagge starten dürfen und geschützt werden. … Die Sanktionen müssen sich gegen das Regime und die politische Führung richten. Auch das iranische olympische Komitee muss vom IOC suspendiert werden … ({0}) Das, meine Damen und Herren, sind klare Forderungen in Richtung IOC, denen sich im Übrigen auch international agierende Athletenvereinigungen angeschlossen haben. Es sind die mündigen und selbstbewussten Athleten, die nicht nur in unserem Land, sondern weltweit Zeichen für Menschenrechte setzen. Das ist ein Beispiel für das, was Sie abfällig mit „Black Lives Matter“ abtun. ({1}) Eins ist auch klar: Menschenrechte sind nicht verhandelbar. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, es geht nicht darum, dass der Sport Regierungen zu Fall bringen soll. Das kann keine Sportorganisation. Was aber wirklich frustriert, ist die immer wiederkehrende Strategie des IOC und vieler Sportverbände, in Tatenlosigkeit zu versinken, mit dem Argument, man müsse die Souveränität des betreffenden Landes respektieren. Aber ich bin der festen Überzeugung: Der Sport kann, nein, er muss Zeichen setzen; ({3}) denn die Möglichkeiten hat er schließlich. Dass das IOC ganz empfindlich reagieren kann, wenn beispielsweise Einmischung in die Autonomie eines Nationalen Olympischen Komitees vermutet wird, haben wir am Beispiel Kuwait gesehen. Kuwaits Nationales Olympisches Komitee wurde im Vorfeld der Olympischen und Paralympischen Spiele in Rio 2016 suspendiert. Wenn es also um vermeintliche oder auch tatsächliche Einmischung staatlicher Stellen in die gerne betonte Autonomie des Sports geht, bedient sich das IOC ohne jegliches Zögern seines durchaus vorhandenen politischen Instrumentenkastens. Zum Beispiel darf das iranische Team demnächst nur unter neutraler Flagge starten. So etwas tut gerade autoritären Regimen weh; das haben wir schließlich in der Causa Russland gesehen. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur bedauernde Worte und dann, um im Bild zu bleiben, der Ausfallschritt zur Tagesordnung, das ist nach der Hinrichtung von Navid Afkari endgültig zu wenig. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner ist der Kollege Peter Beyer, CDU/CSU. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Iran – wir haben uns in den letzten Jahren immer wieder mit diesem Land beschäftigt, eigentlich ausschließlich negativ konnotiert; wenn ich an das iranische Nuklearprogramm denke, das Raketenprogramm, an das aggressive Verhalten in der Region, an die Existenzbedrohung Israels. Neulich erst mussten wir Zeuge sein, wie Raketen auf Israel abgefeuert wurden, während genau gleichzeitig im Oval Office im Weißen Haus in Washington ein Abkommen zwischen Israel, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnet worden ist. Meine Damen und Herren, Fakt ist: Die Islamische Republik Iran hat immer wieder ein großes Interesse an guten Beziehungen – auch und gerade zu Deutschland – bekundet. Wenn wir uns den Iran heute einmal anschauen, dann sehen wir, dass durch den einseitigen Rückzug der USA aus dem Nuklearabkommen JCPoA das Land wirtschaftlich massiv in die Knie gezwungen wurde. Die Menschen leiden unter der grassierenden SARS-CoV‑2-Pandemie. Fakt ist aber auch, meine Damen und Herren – und das ist unser Thema heute –: Die Menschenrechtslage im Iran ist verheerend. Iran ist ein totalitärer und totaler Unrechtsstaat. Beispiel – wir haben es heute schon mehrfach gehört –: Vor zwei Jahren sind in der Stadt Schiras Hunderte Menschen auf die Straße gegangen und haben gegen die drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten protestiert. Es gab viele, viele Festnahmen. Die Proteste wurden durch die Sicherheitskräfte brutalst niedergeknüppelt; es gab viele Verhaftungen. Drei davon betrafen Navid Afkari und seine beiden Brüder. Meine Damen und Herren, Navid Afkari ist ein Hochleistungssportler mit Talent von Weltrang – gewesen, muss man heute leider sagen. Er ist für seine Rechte eingetreten und auf die Straße gegangen. Er wurde zum Tode verurteilt in einem Verfahren, das nicht einmal ansatzweise rechtsstaatlichen Grundsätzen Genüge getan hat. Meine Damen und Herren, viele – einige Namen haben wir heute schon gehört – haben sich dafür eingesetzt, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird: Frank Heinrich, Bärbel Kofler, Omid Nouripour, Kai Gehring, viele andere Kollegen aus dem Bundestag und Vertreter der Bundesregierung eben auch. Das Unrechtssystem hat hier sein wahres, sein brutales, eiskaltes Gesicht gezeigt. Meine Damen und Herren, ich appelliere wirklich, dass wir uns nicht blenden lassen vom Marketingchef des Terrorregimes in Teheran, der oftmals als „das freundliche Gesicht Teherans“ bezeichnet wird; ich meine den Außenminister Zarif, der überall ein und aus geht. Denn Navid Afkari wurde von ebendiesem Terrorregime ermordet, und das Ganze bloß, um ein innenpolitisches Signal der vermeintlichen Stärke abzugeben: damit Proteste in Zukunft erst gar nicht mehr aufflammen und damit die Leute abgeschreckt werden. Navid Afkari ist aber kein Einzelfall, das Ganze hat System. Ich habe die Zahl von 2017. Allein im Jahr 2017 wurden im Iran über 500 Menschen hingerichtet. Oftmals sind vor allem auch Frauen Opfer dieses Terrorregimes. Ich darf mit Genehmigung des Präsidenten auszugsweise Artikel 23 und 27 der iranischen Verfassung zitieren: „...  niemand darf aufgrund seiner Überzeugung angegriffen und bestraft werden. … Das Veranstalten von Versammlungen und Demonstrationen ohne das Tragen von Waffen ist frei …“ – Das Regime verstößt offenbar gegen seine eigene Gesetzeslage, gegen seine eigene Verfassung. Mittlerweile ist klar, dass das Regime nicht mit dem Ausmaß der international sehr klaren Reaktionen auf die Hinrichtung Afkaris gerechnet hat. Die Bundesregierung hat hier Haltung gewahrt und Position bezogen. Das muss auch weiterhin so sein, meine Damen und Herren. Doch – auch das sage ich – der Spielraum hat sich verengt, so weit verengt, dass Worte und Diplomatie alleine an ihre Grenzen stoßen. Deswegen, denke ich, es ist Zeit, dass wir unsere Iran-Politik überprüfen. ({0}) Ich fordere daher eine Antwort, eine harte Antwort, die in Teheran auch verstanden wird: Einreiseverbote EU-weit, durch die EU ausgesprochen, für alle führenden Angehörigen des Mullah-Regimes, ein Einfrieren sämtlicher Guthaben auf Konten dieses Personenkreises und eine Konfiszierung von deren Immobilien in unserem Zuständigkeitsbereich. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn wir es ernst meinen mit dem Eintreten für die universell geltenden Menschenrechte, die jedem auf diesem Planeten von Geburt an zukommen, dann muss die EU eine klare, eine harte Ansage machen, die die Menschen beschützt, die zielgerichtet ist und die von den Adressaten im Iran auch verstanden wird. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Aktuelle Stunde ist beendet.