Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/16/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute drei Schwerpunkte behandelt. Der eine Schwerpunkt war die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes mit verschiedenen Kautelen bis zum 31. Dezember 2021. Damit verbunden ist auch die Reduzierung von Sozialversicherungsbeiträgen unter bestimmten Voraussetzungen. Sie wissen, dass das Kurzarbeitergeld eine stabile Brücke in diesen schwierigen Zeiten ist. Deshalb war es der Regierung ein Anliegen, die Laufzeit zu verlängern. Der zweite große Punkt war die Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes. Da gibt es Vereinfachungen. Da gibt es auch neue Bestimmungen für Spitzenverdiener; 0,4 Prozent fallen darunter. Es gibt auch eine sehr zu begrüßende Neuregelung für Frühchengeburten, die beinhaltet, dass eine vorzeitige Geburt die Bezugsdauer des Elterngeldes nicht verkürzt. Dann haben wir über den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2020 gesprochen. Wir haben ja in diesem Jahr 30 Jahre deutsche Einheit. Da ist viel geleistet worden. Der Bericht ist lesenswert. Aber wir wollen nicht verschweigen, dass in allen Bereichen noch eine ganze Menge zu tun ist: beim Einkommen, bei den Arbeitsplätzen, bei den vergleichbaren Lebensverhältnissen in östlichen und westlichen Bundesländern. Das waren die Schwerpunkte des Kabinetts. Wir haben die Frage von Lesbos heute nicht im Kabinett behandelt. Wir haben uns gestern Nachmittag in der Koalition darüber verständigt. Nachdem jetzt alle Fragen vor allem Fragen der Exekutive sind, war heute kein Beschlussbedarf. Wir hatten einfach Übereinstimmung in diesen Dingen. Ich will Ihnen aber sagen: Ich stehe – auch wenn es heute im Kabinett keine Rolle gespielt hat – für alle Fragen dazu zur Verfügung. Das ist ja selbstverständlich bei der öffentlichen Begleitung; aber im Kabinett ist darüber nicht gesprochen worden. Zum Bericht zum Stand der Deutschen Einheit: Der Ostbeauftragte – ich weiß nicht, ob er mittlerweile da ist; ja, er sitzt in meinem Rücken, das hat er immer so praktiziert – hat diesen Bericht geschrieben. Wir haben eine sehr, sehr gute Diskussion geführt, vor allem auch nach der regulären Kabinettssitzung im Kabinettsausschuss „Neue Länder“ oder „Ostländer“. Bei dieser Sitzung war auch der Vorsitzende der Einheitskommission, Matthias Platzeck, anwesend, der ja das Jubiläum zum 3. Oktober organisieren sollte. Dieses Jubiläum kann er wegen Corona jetzt nicht mehr so organisieren, wie es geplant war. Aber die hochkarätig besetzte Kommission wird zum Jahresende dem Kabinett und damit auch dem Parlament einen Bericht vorlegen. Ich würde Ihnen vorschlagen: Wenn Sie Fragen zur deutschen Einheit haben, ist Marco Wanderwitz prädestiniert. Sie wollen ja wahrheitsgemäße und tiefe Antworten, die Ihnen auch was bringen. Deshalb kann ich nur vorschlagen: Wenn Sie ihn fragen wollen, steht er zur Verfügung. Ich danke, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank, Herr Minister. – Wir beginnen mit der Befragung, und die erste Frage stellt der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Minister, die Nothilfe auf Lesbos wird von den meisten Betroffenen abgelehnt; denn Ziel der Brandstifter in zwei Nächten nacheinander ist die Erpressung der Fahrkarte nach Deutschland. Deshalb will Griechenland sie nicht von dort fortlassen. Sie fallen der griechischen Regierung in den Rücken und senden im deutschen Alleingang Anreizsignale für weitere illegale Migration. Stunden später brennt Samos. Viele der Migranten von Moria sind Afghanen. Dort gibt es jetzt Friedensgespräche. In den Herkunftsländern sind bewaffnete Konflikte meist beendet oder nur noch ganz lokal begrenzt. Ein Anspruch solcher Migranten auf Schutzaufnahme in Europa besteht eigentlich nicht. Alle waren schon in der Türkei in Sicherheit, meist schon davor in Drittländern sowie in den Heimatregionen. Sie reisen aber ins üppigste Sozialsystem. Deshalb verweigern viele Europäer ihre Solidarität. Frage: Wann wollen Sie endlich Abkommen zur Rücknahme mit den Herkunftsländern aushandeln und diejenigen Personen, die schon aus der Türkei nicht mehr flohen, in ihre Heimatregionen zurückführen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Also, bekanntlich gehört die Insel Lesbos nicht zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, und deshalb stimmen wir unsere Maßnahmen sehr eng mit der griechischen Regierung ab, was ja selbstverständlich ist. Der griechische Ministerpräsident hat gestern Abend der Bundeskanzlerin ausdrücklich gedankt für die Art und Weise, wie wir jetzt konzeptionell einen Vorschlag gemacht haben, auf den wir sicher im Rahmen dieser Befragung noch zu sprechen kommen. Morgen wird auch noch mal ein direkter Kontakt mit dem Ministerpräsidenten und Frau von der Leyen und der Kanzlerin stattfinden. Wir vergessen bei all den Maßnahmen, die wir zurzeit treffen, nicht, was die Griechen für ganz Europa geleistet haben, als sie die Bemühungen der Türken, Flüchtlinge zur Grenze zu führen und über die Grenze zu bringen, damit sie in Richtung Österreich und Deutschland marschieren, verhindert haben. Das war ein wirksamer Beitrag der Griechen für europäische Interessen. Das sollten wir bei der ganzen Diskussion nicht vergessen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Curio?

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister, wenn es um humanitäre Hilfe ginge, da hundertmal mehr Menschen als in Deutschland vor Ort in den Heimatregionen für dasselbe Geld versorgt werden können: Wann führen Sie Rücknahmeverhandlungen? Niemand muss mehr aus ganz Syrien fliehen, niemand aus dem Irak, niemand aus ganz Afghanistan, vom Kontinent Afrika schon gar nicht. Wir zahlen vielerorts Entwicklungshilfe, haben Einfluss. Ihr BAMF-Chef Sommer schlug kürzlich Visabeschränkungen als Druckmittel vor. Frage: Geht es Ihrer Regierung also nun um humanitäre Hilfe, mehr humanitäre Hilfe, wobei das Geld in den Heimatregionen einzusetzen wäre, oder geht es Ihnen nur um noch mehr migrantische Einwanderung nach Deutschland?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Vor Ihnen steht ein Bundesinnenminister, der mehr als jeder andere – mehr als jeder andere! – auf der einen Seite die Begrenzung und Steuerung der Migranten entschieden hat, auf der Grundlage vieler Gesetze, durch das Parlament unterstützt. Ich bin bis zur Stunde der einzige Innenminister Europas, der für eine humane Antwort einen Lösungsvorschlag vorgelegt hat. Ich glaube, darauf sollte Deutschland stolz sein. ({0}) Es ist ein Lösungsvorschlag, der uns nicht überfordert. Wir werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr die Grenze von 100 000 Asylbewerbern nicht überschreiten. Also, wir können auch humanitäre Aktionen setzen, weil wir durch die Steuerung und Begrenzung eine größere Zuwanderung verhindert haben. So stelle ich mir Politik vor: Es geht darum, die beiden Seiten der Medaille – Humanität und Ordnung – in der Realität umzusetzen. Und das gelingt uns sehr gut.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Der Kollege Dr. Christoph Hoffmann, FDP, möchte dazu eine Nachfrage stellen.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, in der Debatte um Moria haben Sie gesagt, Sie wollten etwa 130, 150 Flüchtlinge aufnehmen. Im Anschluss ist der Entwicklungsminister Gerd Müller, also Ihr Kabinettskollege und Parteispezi, Ihnen voll ins Kreuz gesprungen und hat gesagt, er wolle 2 000 aufnehmen und wenn er Innenminister wäre, hätte er die ganze Situation in drei Tagen längst erledigt. Was will Gerd Müller uns damit sagen? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Es gehört zu meinem politischen Lebensweg, dass einen gelegentlich auch eigene Parteifreunde besonders liebevoll behandeln. ({0}) Diese Maßnahme gehört dazu. Ich könnte jetzt eine Menge über die Entwicklungspolitik und über ihre Wirkung auf die Migrationssteuerung sagen; das mache ich jetzt aber nicht. Das hat überhaupt keinen Einfluss auf irgendwelche Entscheidungen gehabt – wie viele andere Äußerungen oder Mitteilungen auch. Ich habe am Freitag vor diesem Plenum gesagt: Wir nehmen jetzt unbegleitete Minderjährige auf – 400 –, und wir teilen uns dies mit zehn Staaten. Ich habe damals schon hier im Plenum gesagt: Das „ist ein erster Schritt“. Es wird ein zweiter für Familien mit Kindern folgen. – Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand, der sich öffentlich äußerte, eine Information, wie viele Menschen auf den fünf Inseln überhaupt Teil einer Familie sind. Diese Information haben wir am Montagnachmittag erhalten und ausgewertet. Was die Altersstruktur betrifft, ist es immer noch schwierig, Ihnen hier eine konkrete Statistik vorzulegen. Aber was wir vom UNHCR wissen, ist, dass es etwa 400 Familien mit Anerkennung im Asylverfahren gibt. Das respektieren und akzeptieren wir auch. Wir konzentrieren uns auf diese 400 Familien mit insgesamt 1 553 Familienangehörigen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wenn die kommen – das sage ich mit der gebotenen Vorsicht; es wird nicht von heute auf morgen gehen –, dann müssen wir sofort die Integration starten. Da geht es also nicht um die Aufnahme in Asylheimen, sondern in Wohnungen, in Arbeitsplätzen, in Integrationspfaden. Dass da überhaupt kein falscher Eindruck entsteht!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Nachfrage, Herr Kollege Hoffmann? ({0}) – Darf er.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kern des Problems ist eigentlich auch die Dauer der Asylverfahren. Wir haben ja gesehen, dass sie auch auf den griechischen Inseln sehr, sehr lange dauern und dass sich dadurch natürlich auch Rückstaus entwickeln. Aber auch in Deutschland waren 2020 noch etwa 250 000 Verwaltungsgerichtsverfahren anhängig. Was denken Sie, wie lange es dauert, diese abzubauen, und welche anderen Verkürzungen im Asylverfahren haben Sie vor?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das zeichnet uns ja aus, dass wir in diesen Dingen rechtsstaatlich vorgehen. Das Grundrecht auf Asyl ist ein sehr hehres Grundrecht, das aus berechtigten historischen Gründen eingeführt wurde. Mit solchen hochwertigen Rechten darf man nicht schlampig umgehen, sondern es braucht Rechtsschutz, damit sich jemand gegen eine Behördenentscheidung wehren kann. Die Anzahl erfolgreicher Gerichtsverfahren geht immer weiter zurück, weil die Asylbehörden qualitativ sehr, sehr hochwertig arbeiten. Ich sage bei jeder Gelegenheit: All die Probleme, die uns beschäftigen, sind nur durch ein gemeinsames europäisches Asylrecht auf Dauer und nachhaltig zu lösen. Die Kommission will nächste Woche den Vorschlag in der Öffentlichkeit unterbreiten. Ich bin sehr gespannt. Aber was die Europäische Union bisher da abgeliefert hat, ist für die europäische Idee armselig – absolut armselig.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Ich lasse jetzt noch eine weitere Frage als Nachfrage zu der ersten Frage zu, bevor ich das Fragerecht dann in der Reihenfolge der Fraktionen weitergebe. Das Wort hat der Kollege Petr Bystron, AfD. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Dr. Schäuble. – Lieber Herr Seehofer, ich habe aufmerksam zugehört. Sie haben gesagt, Sie versuchen, als Innenminister zwischen Menschlichkeit und dem Schutz unserer Grenzen ausgewogen zu agieren. Ich wollte Sie etwas fragen. Schauen Sie: Hier vor dem Reichstagsgebäude wurden von „Seebrücke“ und „Mensch Mensch Mensch“ am 7. September 13 000 Stühle aufgestellt. Nur mal grob überschlagen: So ein Stuhl kostet 10 Euro. Das wären dann 130 000 Euro, die da ausgegeben wurden. Selbst wenn man die ausleiht, kostet das mehrere Tausend Euro. Diese Organisationen müssen auch irgendwie ein Return on Investment haben, wenn sie so eine Aktion machen. Einen Tag später wurde das Lager auf Lesbos angezündet; es war Brandstiftung. Haben Sie nicht Angst, dass Sie da in eine Falle von Organisationen tappen, die auch gegen Sie und Ihre Politik demonstrieren, wenn Sie jetzt in dieser Inszenierung plötzlich sagen: „Ja, ja, wir nehmen die Migranten auf“? Vor allem galt immer ein Grundsatz in der deutschen Politik: Mit Erpressern verhandelt man nicht. – Und Sie, nicht nur, dass Sie mit ihnen verhandeln, gehen denen auf den Leim und folgen deren Aufforderung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Bundesminister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das ist eine blanke Behauptung. Die können Sie als Parlamentarier aufstellen; aber sie entbehrt jeder Grundlage. ({0}) Ich lasse mich von niemandem erpressen. Es gibt mehrere Beispiele, wo ich Konsequenzen gezogen habe, wenn ich mit einer Entscheidung nicht einverstanden war, und trotzdem lebe ich politisch heute immer noch. Ich bin meinen Weg geradlinig gegangen, und ich kann Ihnen sagen: Ich habe diesen Vorschlag der Bundeskanzlerin und dem Olaf Scholz deshalb gemacht, weil sich die Situation fundamental von 2015 unterscheidet. 2015 ist eine Grenze geöffnet worden. Menschen haben sich in großen Mengen in Bewegung gesetzt; andere haben sich angeschlossen. Sie kennen alle die Bilder. Jetzt gibt es eine klare Vereinbarung – nicht mit den Brandstiftern, sondern mit der griechischen Regierung. Wir führen ordentliche Verfahren durch im Hinblick auf Identität, Sicherheit – wir wollen ja auch keine Kriminalität importieren – und Covid-19. Dafür garantiere ich – ich bin ja nicht zum ersten Mal mit solchen Dingen beschäftigt –: Das wird gut ablaufen. Bei den 243 Kindern weise ich darauf hin: Nimmt man deren Familienangehörige hinzu, haben wir derzeit die Hälfte abgewickelt – obwohl es schon vor der Sommerpause beschlossen worden ist –, weil wir auf sorgfältige Verfahren Wert legen. Wir stimmen alles mit den Ministern und dem Ministerpräsidenten in Griechenland ab.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank, Herr Minister. – Noch eine Nachfrage, Herr Kollege? – Bitte.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verzeihen Sie, aber Sie haben nicht darauf geantwortet, was ich gefragt habe. ({0}) Hier ist eine NGO, die nachher davon profitiert, wenn die Migranten nach Deutschland kommen. Hier besteht eine Asylindustrie, die davon profitiert, die Steuergelder bekommt. Um das zu erzwingen, machen die auch solche Sachen wie 13 000 Stühle vor dem Reichstag aufstellen. Noch mal: Da brauchen Sie hier keine Ausführungen über Ihre Kontakte zur griechischen Regierung zu machen. Hier geht es um Innenpolitik. Hier geht es darum, wie deutsche Steuergelder umgeleitet werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wissen Sie, ich bin in Bayern so aufgewachsen, dass ich mich mit Stühlen, die aufgestellt werden – friedlich, als Vollzug des Demonstrationsrechts –, wirklich nicht beschäftige. Das wäre ja lächerlich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Dann stellt die nächste Frage der Kollege Helge Lindh, SPD.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich leite meine Frage mit der Anmerkung ein, dass mir 13 000 Stühle vor dem Reichstag tausendmal lieber sind als 13 000 Hassreden einer Fraktion im Reichstag. ({0}) Abgesehen davon gibt es jetzt auch keine Rede meinerseits und keine Frage zu Liebe und Hass oder Hassliebe in Reihen der CSU, sondern ich frage ganz konkret zur Konzeption in Bezug auf Moria und die griechischen Inseln. In Bezug auf die Seenotrettung haben Sie selbst ja auch deutlich gemacht, dass das Zusammenspiel von Humanität, Ordnung und Pragmatismus gefordert ist. Wenn wir jetzt davon ausgehen – wie es sich abzeichnet –, dass Deutschland in nur begrenztem Umfang Flüchtlinge aufnimmt, bei geringen Aufnahmen anderer europäischer Länder: Wie ist das Unterbringungsszenario bzw. wie soll künftig schnell sichergestellt werden, dass die Menschen auf den Inseln und auf dem Festland menschenwürdig untergebracht sind, dass dies im Zusammenspiel mit der Zivilbevölkerung erfolgt und dass Griechenland in der Frage nicht alleingelassen wird, sondern fundierte Unterstützung von deutscher Seite im ureigenen Interesse erhält?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Unser wichtigster Punkt ist die Hilfe vor Ort. Die ist sofort angelaufen, in Abstimmung mit der griechischen Regierung. Wir haben wirklich fabelhafte Hilfsorganisationen; besonders zu nennen sind das Deutsche Rote Kreuz und das THW. Deshalb halten wir unser Wort, alles zu tun, damit die Bevölkerung vor Ort eine humane, vernünftige Unterbringung und Versorgung bekommt. Dabei bleiben wir auch. Die Kanzlerin hat gestern beim Ministerpräsidenten erwirkt, dass die Konvois direkt bis nach Lesbos fahren können und nicht nur bis Athen und die Güter dort dann erst verladen werden müssen. Das ist uns wichtig. Das gilt auch für das europäische Asylzentrum, das kleiner werden soll als das jetzige und vor allem europäischem Standard entspricht. Wir werden alles tun, damit diese Unterkunft rechtzeitig vorm Winter fertig ist. Sie müssen schauen: Die anderen Zentren mit jeweils 2 000, 3 000, 5 000 und 1 000 Bewohnern sind wesentlich kleiner. Lesbos war von Anfang an in der Größe ein Fehler: 25 000 Menschen, auf 12 000 abgesiedelt. Aber da möchte ich jetzt schon mal festhalten, dass diese Entscheidung nicht der jetzige Ministerpräsident herbeigeführt hat, sondern sein Vorgänger. Auch das gehört zur Wahrheit.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Lindh?

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich habe eine Nachfrage auch mit Blick auf künftige Maßnahmen. Es gibt ja Menschen, die monate- oder sogar jahrelang dort sind, und das unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen. Wie kann Deutschland aus Ihrer Sicht dazu beitragen, dass jetzt gelingt, was bisher nicht gelang, nämlich eine Kombination aus wirklich menschenwürdiger, den Standards und den völkerrechtlichen Anforderungen entsprechender Unterbringung, Evakuierung aufs Festland und Sicherstellung, dass es begrenzte Aufenthaltsdauern sind, das heißt Beschleunigung der Verfahren? Denn wir haben ja ein Problem sowohl bei der Qualität der Unterbringung als auch bei der Dauer des Aufenthalts aufgrund des Staus im griechischen Asylsystem.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Indem wir ganz eng mit der Regierung zusammenarbeiten, sie nicht bevormunden – das ist wichtig –, sondern unterstützen mit allen Möglichkeiten, die wir haben. Zu den Möglichkeiten würde auch gehören und wird auch gehören, dass unser BAMF mit Personal dort hilft, damit unsere Erkenntnisse der Asylverfahren, die ja sehr positiv sind, wachsen und die Zahl der Personen, die dann dort tätig sind, erhöht wird. Aber glauben Sie mir, Herr Lindh: Ohne europäisches Asylrecht werden wir keine nachhaltige und zukunftsweisende Lösung bekommen. ({0}) Deshalb ist es so entscheidend, dass wir ab nächster Woche mit aller Kraft daran arbeiten. Ich habe gestern in meiner Fraktion vorgeschlagen, auch mal in der Fraktion und im Bundestag darüber zu debattieren, dass wir auch mit Rückenwind des deutschen Parlaments diese Verhandlungen führen. Ohne eine europäische Lösung können Sie ein humanes und geordnetes Asylverfahren in Europa nicht erwarten. Dann handelt wieder jeder alleine, und wohin das führt, haben wir ja gerade erlebt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Ich will zur Beruhigung aller sagen, wie ich jetzt fortzufahren gedenke – die Zusatzfragen sind alle Fragen zum selben Thema –: zunächst Frau Amtsberg, dann Herr Bernstiel, dann Herr Brandner, dann Herr Brecht, dann Frau Polat und dann noch Herr Wendt. ({0}) – Die sind alle auch als Fragesteller gemeldet. Insofern kommt es auf dasselbe hinaus. ({1}) Luise Amtsberg stellt die nächste Frage.

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Seehofer, wir hören uns das jetzt seit fünf Jahren an. Seit fünf Jahren ist die Situation auf den Inseln katastrophal. Wir haben immer wieder gemahnt: Es braucht eine europäische Lösung, eine gemeinsam getragene Lösung. Ich bitte Sie, wirklich mal zur Kenntnis zu nehmen, warum die Situation in den sogenannten Hotspots so ist, wie sie ist. Es gibt dort eine Überfüllung und damit einhergehend menschenunwürdige Zustände, gerade weil es nicht gelungen ist, dauerhaft und verlässlich einen Mechanismus zu etablieren, der die Menschen nach einer gewissen Zeit von den Inseln herunterholt. Das ist das Hauptproblem. Und jetzt erleben wir, dass Sie wieder fordern, dass die Lager wiederaufgebaut werden sollen. Wir hören nichts von einer Überwindung von Dublin. Die Kanzlerin spricht von Hotspots in europäischer Zuständigkeit. Stimmen Sie mit mir überein, wenn ich sage: „Solange nicht eine dauerhafte, verbindlich organisierte Verteilung, die automatisch greift, organisiert wird, wird sich das Problem auf den Inseln auch nicht lösen“?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich stimme teilweise zu: Erstens. Wenn Sie seit fünf Jahren darüber reden, können Sie das nicht mit mir gemacht haben; denn ich bin erst seit zweieinhalb Jahren im Amt. Zweitens. Ich kämpfe massiv – weil ich schon die Ratsentscheidung von 2018 über die Ausschiffungszentren in Nordafrika für unzureichend gehalten habe – um ein Asylrecht, das vorsieht, dass an der Außengrenze Europas entschieden wird, wer schutzbedürftig ist – rechtsstaatlich. Wir brauchen dann natürlich einen Verteilungsmechanismus; darum kämpfen wir ja. Das ist nicht verbessert worden durch die innerdeutsche Diskussion, weil mir die anderen Länder natürlich vorhalten: Immer wenn es eng wird, kommt ihr mit der moralischen Keule. ({0}) Das Dritte ist: Ich möchte eine substanzielle Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, damit die jungen Leute dort eine Perspektive haben. Da muss vor allem in der Entwicklungshilfepolitik entschieden mehr gestaltet werden, um Migration und Entwicklungshilfe miteinander zu verbinden. Und wenn jemand nicht solidarisch ist – das sage ich hier ganz offen –, dann müssen wir als Politiker ernsthaft darüber nachdenken: Wer nicht solidarisch ist, muss das auch finanziell spüren. Es geht nicht, dass man in den Topf Europas greift, aber die Solidarität nicht erbringen will. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Also, ich habe es so verstanden, dass Herr Brandner jetzt keine Nachfrage stellt. ({0}) – Das ist gerade wurst. Zunächst mal hat Frau Amtsberg noch eine Frage; dann ist Herr Brandner dran.

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich muss da nachhaken: Es ist natürlich in der Tat so, dass wir schon mit diversen Innenministern über dieses Thema gesprochen haben, und das zeigt sozusagen auch die Dramatik. Wir sind auch bei Ihnen, wenn es um die Fluchtursachenbekämpfung geht, dass man das wirklich mit Leben füllt. Denn es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen unserer Handelspolitik, unserer Agrarpolitik, unserer Rüstungspolitik und den Geschehnissen in der Welt. Aber hier geht es ja wirklich konkret darum: Wie organisieren wir sozusagen die Europäische Union und ihre Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen? Wenn Sie Vorprüfungen an den Außengrenzen machen, wird das dazu führen, dass ein Großteil der Menschen dort nicht wegkommen wird. Für diese Menschen muss man die Frage stellen: Wie lange soll das dann gehen? Wie gehen Sie mit einer drohenden Überfüllung und einer erneuten Situation wie dieser, die sich dann abzeichnet, um? Wir haben jetzt das Zeitfenster, wirklich eine Lösung zu finden, die dauerhaft trägt. Wir haben das Zeitfenster jetzt und nicht, wenn sich die nächste Katastrophe in ein oder zwei Jahren ankündigt. Vielleicht spitze ich es noch mal zu: Frau Merkel sagt, es sollen echte EU-Hotspots werden. Deshalb die Frage: Welche Rolle soll da die Kommission haben? Welche Rolle sollen da die Bundesregierung und die einzelnen Mitgliedstaaten haben? Vielleicht können Sie das noch mal ausführen. Sonst ist dieses Konzept für mich erst mal nur heiße Luft.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Die Kommission soll eine tragende Rolle haben; das soll ja ein europäisches Asylzentrum mit europäischen Qualitätsstandards werden. Natürlich hat immer die nationale Regierung auch ein Wort mitzureden. Ich sagte ja vorhin: Wir sind als Bundesregierung bereit, personell zu unterstützen. Die Rechtsgrundlagen scheinen mir weitgehend vorhanden zu sein, weil wir in Deutschland bis auf 1 Prozent alle Asylverfahren nach der Genfer Flüchtlingskonvention, nach EU-Recht und nach internationalem Recht entscheiden. Jetzt darf ich Ihnen aber einen Hinweis geben – das trifft für meine Zeit als MP und auch heute zu –: Ich habe von Regierungen, an denen Grüne beteiligt sind, nullkommanull Unterstützung. Nullkommanull! Leider. Ich bedaure das sehr. ({0}) – Ja. Das ist schon wissentlich. Österreich hat eine wichtige Lage. Und wenn die einfach sagen: „Interessiert uns alles nicht; wir lassen die durch“, dann werden wir nicht vorwärtskommen. Die müssen sich beteiligen am Asylrecht und der Verteilung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt, wie angekündigt, der Kollege Brandner, AfD.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Minister, lassen Sie mich voranstellen, dass ich persönlich den Stolz, den wir alle gegenüber der Bundesregierung empfinden sollen, nicht teilen kann. Ich glaube, da kann ich für große Teile, wenn nicht sogar für die ganze AfD-Fraktion sprechen. Sie haben selber die chaotischen, rechtswidrigen Zustände erwähnt, die in Deutschland 2015 herrschten. Im Februar 2016 hatten Sie in diesem Zusammenhang davon gesprochen, in Deutschland gebe es eine „Herrschaft des Unrechts“. Da mich die Entwicklung der letzten Tage sehr an die Entwicklung im Jahr 2015 erinnert, lautet meine Frage: Wie wurden diejenigen, die nach Ihrer Auffassung im Jahr 2016 an der Herrschaft des Unrechts beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich verstehe Ihre Frage und weiß, was Sie damit hochkochen und weitertreiben wollen. Ich sage Ihnen: Das ist alles Geschichte. Die Dinge sind verändert worden. Wir haben sie im Griff. Die Zustimmung der Bevölkerung zu unserer Migrationspolitik ist außerordentlich hoch. ({0}) Das hat die Wahl in NRW erst wieder gezeigt, und Sie werden das noch öfter erleben. Und eines habe ich mir fest vorgenommen, Herr Brandner, bei allem Verständnis für Parlamentarier: Nach Ihrer Auffassung werde ich mich in meinem politischen Leben nie richten. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kurze Nachfrage?

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, eine ganz kurze. – Es geht ja nicht um meine Auffassung; das sind Worte von Ihnen. Sie sprachen von der „Herrschaft des Unrechts“. Das ist Ihre Einschätzung als Erfahrungsjurist, wie Sie sich selber gerne bezeichnen. Daher meine Frage: Wie wurden diejenigen, die verantwortlich waren oder verantwortlich sind für die Herrschaft des Unrechts, aus Ihrer Sicht konkret zur Rechenschaft gezogen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Die Erfahrungsjuristen sind oft ungewöhnlich gut. Das gilt auch für die Kanzlerin. Ich sage Ihnen: Das ist doch Geschichte, wonach Sie fragen. Das alles liegt fünf Jahre zurück. ({0}) Wir haben Konsequenzen aus den Ereignissen gezogen. Wir haben Ordnung geschaffen, wir steuern, und die ergriffenen Maßnahmen zur Begrenzung der Zahl der Flüchtlinge haben Wirkung gezeigt. Ich habe mich überhaupt erst bereit erklärt, als Innenminister anzutreten, weil zu diesem Zeitpunkt die Regierung die Situation in Deutschland im Griff hatte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Gibt es immer noch Nachfragen? – Die nächste Frage stellt der Kollege Bernstiel, und danach kommt die Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke. – Aber jetzt der Kollege Bernstiel, CDU/CSU.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Innenminister, im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise und den jüngsten Ereignissen im Flüchtlingslager Moria wird immer wieder behauptet, dass Deutschland seiner humanitären und sozialen Verantwortung nicht ausreichend oder sogar gar nicht nachkommt. Ich möchte Sie bitten, mit einigen Fakten und Zahlen zu belegen, dass solcherlei Behauptungen ungerechtfertigt sind.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich muss hier so antworten, wie ich es gestern in der Fraktion getan habe. Man kann, wenn man ein Handelnder ist, der sich mit Fakten ausstatten will, bevor man entscheidet, manchmal verzweifeln, mit welchen Oberflächlichkeiten die Dinge über ein Wochenende begleitet werden. Aber das soll jeder für sich entscheiden. Wir haben seit 2015  1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen; das muss man sich einmal vorstellen. Am Anfang gab es Schwierigkeiten, aber jetzt ist Ordnung. Wir haben allein aus Griechenland bisher 53 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen, anschließend 243 Kinder mit ihren Familienangehörigen, dann 150 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, und jetzt werden es wieder insgesamt 1 553 Flüchtlinge sein. Darüber hinaus war eine meiner ersten Amtshandlungen, mich an sogenannten Resettlement-Programmen zu beteiligen; das betrifft rund 12 000 Personen. Das halte ich für erforderlich. Es handelt es sich um besonders geschundene Personen: vergewaltigte Frauen, Opfer von Folter und viele andere. Hier tragen wir die Verantwortung. Jetzt 1 553 Geflüchtete aufzunehmen, war wieder eine humane Entscheidung. Ich bin stolz, dass die Koalition in der Lage war, ein entsprechendes Signal zu senden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das Vorgehen birgt auch in keiner Weise die Gefahr, dass die Dinge aus dem Ruder laufen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister, wir haben eine solche Fülle von Nachfragen, dass ich Sie bitte, die rote Ampel strikt zu beachten.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wo ist die? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, jetzt ist sie nicht an; aber jedes Mal, wenn Sie zu lange reden, leuchtet sie. – Herr Kollege Bernstiel? – Dann stellt die nächste Frage die Kollegin Hänsel, Die Linke.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. – Zunächst eine Vorbemerkung: Das ganze Gerede davon, hier keine Brandstifter usw. aufzunehmen, möchte ich zurückweisen; denn bisher ist gar nichts bewiesen. Wir müssen die Ermittlungen abwarten. Ich finde, so, wie wir hier aus den Reihen des Parlaments hören, geht es nicht, dass weiterhin einfach nur mit Hetze usw. gearbeitet wird. Herr Innenminister, ich möchte auf Ihre Aussage reagieren, für die Situation sei vor allem die griechische Vorgängerregierung verantwortlich. Dieser EU-Hotspot ist ein Hotspot der Europäischen Union, so wie er auch heißt, und das ganze System geht auf das Abkommen mit der Türkei zurück, das maßgeblich die Bundesregierung entwickelt und vorangetrieben hat. ({0}) Sie müssen doch sehen, dass Ihre Politik gescheitert ist. Sie haben dieses Abkommen vorangetrieben, aber es funktioniert nicht. Es führt zu Elend und Chaos auf den Inseln. Deswegen meine Frage: Was wollen Sie jenseits von kosmetischen Änderungen substanziell an dem gescheiterten System ändern? ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich habe in meiner Amtszeit alles dafür getan, dass der Vertrag zwischen der EU und der Türkei mit Leben gefüllt wird; die Kanzlerin bemüht sich übrigens pausenlos darum. Es nutzt nichts, einfach die Grenzen zu beaufsichtigen. Sie müssen die Situation der Menschen verbessern. In Griechenland war es genauso. Wir verstehen uns als Vermittler zwischen beiden Ländern, und das hat Erfolg. Die Türken haben ihre Versuche aufgegeben, die Flüchtlinge auf der Landroute in den Westen von Europa zu lassen. Die Sicherung der Grenze haben die Griechen für uns erledigt. Seien wir doch froh darüber. Das war ein wirksamer Außengrenzschutz. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Frau Kollegin Hänsel?

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. – Ich habe noch eine Nachfrage zu den Menschen, die Sie jetzt aufnehmen wollen. Sind diese Menschen alle von den griechischen Inseln? Halten die sich im Moment auf den griechischen Inseln auf, und werden sie direkt von den Inseln aufgenommen? Noch eine generelle Frage. Viele Menschen fragen sich, wieso es nicht möglich ist, die Menschen, die jetzt auf Lesbos sind, aufzunehmen, wo doch die Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen noch nicht erreicht ist; das habe ich aus der Bevölkerung tausendfach gehört. Wir haben noch nicht einmal die Obergrenze erreicht, und Sie blockieren bei der Aufnahme der Menschen von Lesbos.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Die 408 Familien, anerkannt nach dem Asylrecht, leben auf fünf Inseln Griechenlands, es geht nicht um Flüchtlinge auf dem Festland. Insgesamt leben auf den Inseln 27 000 Menschen, 13 500 davon sind Familien mit Kindern. Das ist die objektivste Abgrenzung. Bei Ihrer zweiten Frage muss ich mit einem Irrtum aufräumen. Ich habe, wenn ich die Zeit seit der deutschen Einheit betrachte, festgestellt – das war noch zu meiner Münchener Zeit –, dass wir in Deutschland immer Ruhe hatten, wenn die Zuwanderung bei 150 000, 100 000 oder 180 000 Personen lag, und immer große politische Auseinandersetzungen, wenn wir diese Grenze überschritten haben. Deshalb habe ich gesagt, wir sollten 200 000 nicht überschreiten. Aber jetzt kommt der Denkfehler. Das heißt doch nicht, dass die 200 000 ein Kontingent darstellen, das jedes Jahr aufgefüllt werden soll. Vielmehr müssen wir schauen, dass wir unter den 200 000 bleiben. Das ist die richtige Politik. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Schauen Sie, da ist die rote Ampel, Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich sehe gar nichts. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Seehofer, ich darf meiner Zufriedenheit darüber Ausdruck verleihen, dass es gelungen ist, Ihre Fraktionskollegen in der CDU/CSU dazu zu bewegen, den Schritt zur Aufnahme von Flüchtlingen zu gehen. Letztlich darf ich aber nachfragen: Wir geben der griechischen Regierung einen Milliardenbetrag zur Verbesserung der Lebenssituation auf den griechischen Inseln. Wenn ich mir aber die Bilder aus Lesbos anschaue, frage ich mich, wo diese Milliarden geblieben sind. Gibt es eine Pauschale, die Sie der griechischen Regierung an die Hand gegeben haben, über deren Verwendung die griechische Regierung keine Rechenschaft abgeben muss, oder gibt es einen Vertrag, aus dem hervorgeht, wofür die Mittel verwendet werden?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Mir ist ein Vertrag nicht bekannt. Wir werden jetzt einen Vertrag zwischen der EU und Griechenland schließen müssen wegen des europäischen Aufnahmezentrums. Es geht um das Vorgehen, um Personal und um die Finanzierung. Die Griechen – die Türken übrigens auch – tun ihrerseits schon eine ganze Menge für die Integration der Menschen. Das Geld, das in die Türkei geht, ist kein verschwendetes Steuergeld – das habe ich gerade gehört –, sondern wird konkret für Bildung, für Gesundheit, für Arbeitsplätze eingesetzt. So stelle ich mir internationale Hilfe vor: konkret, zum Nutzen der Menschen. Und dann funktioniert es auch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Brecht?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, sind Sie nicht mit mir einer Meinung, dass es tatsächlich eine Diskrepanz gibt zwischen dem optischen Eindruck, den wir von der Situation auf den Inseln haben, und dem Milliardenbetrag, den wir der griechischen Regierung zur Verfügung stellen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Da bin ich absolut Ihrer Meinung. Ich fühle mich bedrängt durch solche Verhältnisse, nicht erst seit dem Brand, sondern auch schon vorher. Zwei Mitarbeiterinnen von mir waren eine ganze Woche in Griechenland. Sie haben Zugang zu allen Lagern erhalten und sich ein Bild von den Zuständen dort machen können und haben mir die Situation geschildert. Sie waren wirklich tief, tief getroffen von den hygienischen Zuständen, insbesondere von den Zuständen bei den Toiletten für Frauen. Die Frauen müssen schauen, dass sie die Toiletten aufsuchen, ehe sie schlafen gehen, weil die Toiletten nachts nicht beleuchtet sind. Alles, was dann passiert, können Sie sich vorstellen. – Das war der Grund, warum ich entschieden habe: Aus diesen Verhältnissen holen wir die 243 kranken Kinder raus. – Übrigens ohne jede negative Reaktion in der deutschen Bevölkerung.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Filiz Polat. Danach stellt der Kollege Kuhle, FDP, eine Frage. – Jetzt Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Innenminister Seehofer, Sie haben in Ihren Einlassungen mehrfach die Rechtsstaatlichkeit betont. Ich glaube, an den Beschreibungen der Kolleginnen und Kollegen – unmenschliche Behandlung, Standards, die nicht den Menschenrechten entsprechen – wird deutlich, welche Situation wir seit Jahren in Griechenland vorfinden. Nicht zuletzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im April geurteilt, dass die europäischen Hotspots nicht geeignet sind, dass dort eine unmenschliche Behandlung stattfindet. Gleichzeitig haben viele deutsche Gerichte entschieden, dass in Griechenland anerkannte Geflüchtete, die bereits in Deutschland sind, nicht zurückgeführt werden dürfen, weil dort ebenfalls eine unmenschliche Behandlung stattfindet aufgrund der systematischen Entrechtung durch die jüngste Gesetzgebung. Sie haben gesagt, dass das europäische Asylsystem auf Rechtsstaatlichkeit beruhen muss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Polat!

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb frage ich Sie: Habe ich Ihre Einlassung richtig verstanden, dass die Asylverfahren nicht mehr in Deutschland stattfinden sollen, sondern alle in den Hotspots selbst, sodass nur noch anerkannte Flüchtlinge verteilt werden?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Letzteres ist unser Ziel. Ihre Frage bringt mich dazu, zu sagen – Herr Weinbrenner, wenn ich etwas Falsches sage, korrigieren Sie mich gleich –, dass wir in Deutschland zwischen 6 000 und 7 000 Familienzusammenführungen mit Familienangehörigen, die in Griechenland gelebt haben, durchgeführt haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Eine Nachfrage? – Frau Polat.

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Seehofer, dass Sie auch das noch einmal betont haben. Herr Bernstiel, das Gegenteil ist der Fall: Es geht hier nicht um humanitäre Verpflichtungen. Griechenland hat Hunderte Übernahmeersuchen erstellt. Deutschland hatte zwar schon die Zuständigkeit festgestellt – ich spreche nur von den griechischen Inseln –, doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Übernahmeersuchen abgelehnt. Das heißt, auf den griechischen Inseln sind Hunderte Menschen, für die Deutschland bereits zuständig ist. Wieso wurden diese Übernahmeersuchen abgelehnt? Kommen Sie zusätzlich zur Aufnahme der von Ihnen benannten Familien – aus humanitären Gründen – nun auch Ihrer rechtsstaatlichen Verpflichtung nach? Werden diese Menschen nach Deutschland verteilt? Das ist ihr gutes Recht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das werden wir im BAMF klären. Das BAMF fragt nicht jeden Tag bei mir an, wie welche Entscheidung zu treffen ist. Wir haben ein Super-BAMF, mittlerweile. ({0}) Aber ich werde mich erkundigen – Herr Weinbrenner, wenn Sie das auch bitte tun würden –, ob das, was Sie behaupten, in der Praxis zutrifft.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. Gegebenenfalls können Sie ja die Kollegin unterrichten lassen. – Die nächste Frage stellt der Kollege Konstantin Kuhle, FDP.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Herr Minister, das Coronavirus hat ja dazu geführt, dass in erheblicher Weise Einreisebeschränkungen erlassen wurden. Diese Einreisebeschränkungen betreffen auch viele binationale Paare, die nicht verheiratet sind und bei denen ein Partner nicht Unionsbürger ist. Jetzt ist verständlich, dass man den Tourismus in Zeiten des Coronavirus beschränken muss; aber Liebe, wie zwischen den hier beschriebenen Personen, ist eben kein Tourismus. Deswegen frage ich Sie, warum Sie die Ausnahme, die die Europäische Union für diese Personengruppe zulässt, in der Weise umgesetzt haben, dass ein gemeinsamer Wohnsitz nachgewiesen sein muss oder dass nachweislich ein Treffen in Deutschland stattgefunden haben muss. Ist es nicht ein bisschen borniert und weltfremd, diese Ausnahme so auszunutzen, dass sich am Ende immer noch viele Tausend Paare seit Beginn der Coronazeit nicht gesehen haben und deswegen nicht füreinander da sein können? Es ist wirklich an der Zeit, diese Ausnahme großzügiger zu gestalten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, ich schlage vor, Sie geben mir die Fälle, ({0}) und dann schauen wir, was wir da ändern können. Sie wissen, dass ich da für Großzügigkeit bin. Wenn allerdings an der Grenze gefragt wird: „Wie heißt Ihr Partner?“ oder: „Wo wohnt die betreffende Person?“ und diese Fragen nicht beantwortet werden können, dann muss man Verständnis haben, dass die Polizei da Zweifel hat. ({1}) – Sie brauchen mir nichts zu sagen. Wir haben ja Grenzkontrollen durchgeführt; da hatten wir, wie Sie wissen, das gleiche Thema. Wir haben das dann sehr liberalisiert. Ich möchte nicht, dass wir faktisch wieder zu Grenzkontrollen kommen. Sie geben uns die Fälle, und wir werden uns ernsthaft um die Lösung kümmern.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist interessant, lieber Herr Minister. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe: Wenn wir Ihnen die konkreten Einzelfälle weiterleiten von den Personen, die seit Jahren oder Monaten zusammen sind und sich seit Beginn der Coronazeit nicht sehen konnten, dann werden Sie sich persönlich dafür einsetzen, dass diese Paare sich sehen können. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja, sonst würde ich das nicht sagen. Wenn ich zusage, dass ich ein Problem löse, dann wird es gelöst. Und das können wir national lösen. – Herr Weinbrenner, bitte aufschreiben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Herr Kollege Strasser, wollen Sie angesichts dieser klaren Antwort noch eine Zusatzfrage stellen?

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, bei aller Liebe, das sind ja wirklich keine Einzelfälle. Das ist ein Problem, zu dem wir und auch die Kollegen anderer Fraktionen – Frau Brantner zum Beispiel – von vielen, vielen Menschen angeschrieben werden. Das ist ein dringendes Anliegen. Die Frage, die auch an uns gestellt wird, ist berechtigt: Wie sollen denn diese Paare ganz konkret den Nachweis erbringen, dass sie schon mal ihren Partner in Deutschland getroffen haben bzw. im Ausland einen gemeinsamen Wohnsitz hatten? Was sind die konkreten Anforderungen, die das BMI hier stellt? Und vor allem: Wie wird nachgehalten, dass diese Nachweise glaubhaft sind?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Man sollte schon davon ausgehen, dass man Namen und Wohnort des Partners kennen sollte. ({0}) Dann kann man großzügig sein; das ist auch meine Anweisung an die Polizei. Wir hatten allerdings Ostern eine Situation an der deutsch-österreichischen Grenze, die dazu geführt hat, dass mich am Ostersonntag und am ganzen Ostermontag der bayerische Innenminister gedrängt hat: Da stehen Hunderte von Leuten, die sagen, sie hätten einen Partner in Berchtesgaden, in Rosenheim. – Die ersten Fragen haben dann dazu geführt, dass sich die Situation schon ein bisschen entspannt hat. Die Bevölkerung erwartet auch hier Humanität – Sie geben uns die Fälle, und wir tun alles, um das national zu lösen –, aber sie will nicht, dass man dem Rechtsstaat auf der Nase herumtanzt. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Noch eine Nachfrage?

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sehr gerne, wenn ich darf. – Wenn es so einfach ist, Herr Seehofer, können Sie uns dann mal sagen, wie lange so ein Verfahren im Durchschnitt dauert, wenn jemand den Antrag stellt?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wenn ich Ihnen das zusage, dann spielt die Zeit keine Rolle. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. Auch das ist eine klare Antwort. – Die nächste Frage stellt der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU.

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind. Ich glaube, das Thema „innere Sicherheit“ hat uns in den letzten Tagen sehr beschäftigt; nicht nur das Thema Migration, sondern auch der Warntag und andere Ereignisse. Ich möchte noch mal auf die Frage der Migration und auf Moria zurückkommen. Es gibt diesen negativen Leitspruch im Volk: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Ich habe bei den Debatten in den letzten Tagen und den Forderungen, die es im hier Bundestag gab – 1 000, 5 000, 13 000 Flüchtlinge –, so ein bisschen den Eindruck gehabt, wir würden die Debatte unabhängig von der griechischen Regierung führen, die ja verantwortlich ist und auch die Hoheit hat. Wir als deutsches Parlament – die deutsche Politik – können ja nicht über die griechische Regierung und die Verteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern entscheiden. Deswegen würde ich Sie bitten, uns einmal Ihren Eindruck zu schildern, wie Ihre griechischen Kollegen auf die hier geführten Debatten reagiert haben, und uns zu sagen, was wir für einen guten Draht zur Regierung in Griechenland tun, damit es jetzt richtigerweise zur Übernahme der 400 Familien kommt, die auch nach unseren Standards einen Asylanspruch haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, in meinem Alter ist nicht mehr das Fernsehstudio das Wichtigste, sondern der Arbeitsplatz. ({0}) Ich möchte, dass wir auf die Wirkung unserer Politik achten, und das können wir nur erreichen, wenn wir uns die Fakten beschaffen. Ich sagte eingangs: Wir haben uns die Fakten von der griechischen Regierung und dem UNHCR beschafft, und aufgrund dieser belastbaren Fakten haben wir unsere Entscheidung getroffen – immer gemeinsam mit der Kommission und der griechischen Regierung. Sie werden verstehen: Mich hat überhaupt nicht gestört, wenn mich jemand für inkompetent erklärt hat oder wenn jemand 2 000 oder 5 000 Flüchtlinge aufnehmen wollte. Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass man der Wahrheit nicht ausweichen kann, und die Wahrheit haben wir gestern präsentiert. Das Ganze erfolgt immer gemeinsam mit der griechischen Regierung, auf meiner Ebene mit dem Minister, und auch die Kanzlerin ist beinahe jeden Tag in dieser Sache unterwegs.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine ganz kurze. Vielen Dank. – Neben der Entscheidung, dass wir Menschen aufnehmen, ist die zweite richtige und wichtige Komponente, dass wir direkt vor Ort Hilfe leisten, um die Unterbringungsbedingungen zu verbessern. Deswegen sind dort DRK und THW im Einsatz. Ich glaube, wir sind uns darin einig, wenn wir den Helferinnen und Helfern, die mit Lkws und Flugzeugen vor Ort sind, als Parlament danken. Meine Frage: Könnten Sie dem Parlament, insbesondere den Kollegen, die diese Hilfe nicht sehen wollen, noch einmal kurz darlegen, welche Mengen an Materialien wir zurzeit mit den vielen Konvois dorthin bringen? Das wäre sicher hilfreich, auch als Zeichen des Respekts und des Danks den ehrenamtlichen Helfern in THW und DRK gegenüber.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wir haben gestern gemeinsam, SPD und CDU/CSU, eine Presseerklärung herausgegeben. Es würde jetzt mindestens zehn Minuten dauern, wenn ich Ihnen ganz konkret aufzählen wollte, wie viele Schlafsäcke, wie viele Decken, wie viele sanitäre Einrichtungen etc. bisher geliefert wurden und welche Konvois erneut unterwegs sind. Wir können Ihnen das gerne nachliefern. – Herr Weinbrenner, wir werden dem gesamten Parlament diese Liste zur Verfügung stellen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, Moria war ein menschenverachtendes Lager, eine Schande Europas. Jeder in diesem Haus, der dort war, hat betont, dass das ein Ende haben muss. Vor diesem Hintergrund reden Sie über 1 500 anerkannte – ich betone: anerkannte! – Flüchtlinge. Die kommen größtenteils überhaupt nicht von der Insel Lesbos. Ich frage Sie: Wie wollen Sie den geschundenen Menschen dort helfen, die keine Unterkunft haben? 50 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Der Innensenator von Berlin, Geisel, hat vorgeschlagen, eine Bund-Länder-Konferenz zu veranstalten, um zu eruieren, wie viele Kommunen und Gemeinden in Deutschland bereit sind, Menschen aufzunehmen. Wir wissen, dass mindestens 174 bereit sind, zusätzlich Menschen aufzunehmen. Warum machen Sie das nicht mit und bremsen immer wieder? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wir wollen konkret helfen; das ist viel wichtiger, als Konferenzen abzuhalten, die nur dazu dienen, den Bund wieder zu fragen, wie viel Geld er für welche Unterbringung bezahlt. ({0}) Wir haben mittlerweile mit den Innenministern beschlossen, und zwar mit allen Innenministern – Herr Geisel war dabei –, dass der Bund für das Aufenthaltsrecht und das Zuwanderungsrecht zuständig ist und bleibt und dass bei der Verteilung von Flüchtlingen, wenn sie erst einmal berechtigt hier sind, die Kommunen durchaus stärker berücksichtigt werden können, als das bislang nach dem Königsteiner Schlüssel der Fall war. Ich habe in dieser Woche einen Brief eines Oberbürgermeisters aus meinem Heimatbezirk bekommen, zunächst mit einer Heldendarstellung, wie menschlich man ist – indirekt wird damit zum Ausdruck gebracht, wie unmenschlich der Innenminister ist –, und dann steht dort im letzten, ganz kleinen Absatz, dass man sich vorstellen könne, bis zu 20 Kinder aufzunehmen. Glaubt denn jemand hier im Plenum im Ernst, dass man das globale Problem der Migration lokal lösen kann? Das geht nicht. Das ist die Verantwortung der Bundesregierung. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Frau Jelpke?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, klar. – Ich möchte Sie noch auf Folgendes ansprechen: Sie haben hier selbst gesagt, dass große Lager, also Hotspots, von der Größenordnung her ein Fehler waren. Daher frage ich Sie: Wie kann man auf eine Insel, auf der 90 Prozent der Bevölkerung kein neues Lager wollen, Gelder und Mittel schicken, um gegen den Willen der Bevölkerung – das ist übrigens nicht nur auf Lesbos so, sondern auch auf anderen griechischen Inseln – so unmenschlich zu handeln und genau dasselbe wieder von vorn zu beginnen, wenn man hier das Gegenteil behauptet?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das erlebe ich jetzt zum wiederholten Male; es ist immer das Gleiche: Erst fordert man von mir tagelang Hilfen vor Ort; das kann gar nicht schnell genug gehen. Kaum aber sind ein paar Tage verstrichen und man hat keinen richtigen Angriffspunkt mehr, sagt man: Ja wie können Sie denn auf eine solche Insel Hilfen geben! – Wir können die Menschlichkeit nicht an Maßstäbe binden, so wie Sie sich das vorstellen. Wir helfen – der Bevölkerung dort und den Flüchtlingen dort. Punkt. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dann stellt dazu eine Nachfrage der Kollege Peterka, AfD.

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Bundesminister, Sie haben sich jetzt etwas unklar ausgedrückt. Wie stehen Sie jetzt zu diesen Bereiterklärungen – ich nenne sie „Forderungen“ – von Städten und Gemeinden in Deutschland, sie würden soundso viel Migranten aufnehmen? Stehen Sie zu der Bundeszuständigkeit? Es gab ja eine Verlautbarung des Präsidenten des Deutschen Städtetages, der diese Zuständigkeit de facto kritisiert hat. Es gab aber auch die Äußerung des Präsidenten des Deutschen Landkreistages, der sagt, der Pull-Effekt würde gesteigert, wenn jede Gemeinde politisch nach vorne tritt und von Ihnen verlangt, dass mehr Migranten aufgenommen werden. Wie stehen Sie dazu wirklich?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich bin dagegen, dass wir uns immer nur mit den Kommunen beschäftigen, die sich öffentlich äußern, und diejenigen, die stillschweigen – wir haben 8 000 Kommunen in Deutschland –, außerhalb der Diskussion lassen. Das ist unfair. Alle Kommunen leisten ihren Beitrag, und alle Kommunen haben ihren Dank verdient. ({0}) Ich sage es noch einmal: Ich kann mir in Abstimmung mit der Innenministerkonferenz vorstellen, dass wir als Bund entscheiden, eine Zahl x an Geflüchteten aufzunehmen, und dann die Gemeinden, die ständig von der Seebrücke, der Menschlichkeit und der Aufnahmebereitschaft reden, besonders bedenken. Dann werden wir ja sehen. Aber eines geht nicht, nämlich dass man sagt: Wir nehmen auf, und der Bund bezahlt. – Das machen wir nicht. Das ist eine ganz klare Aussage. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. – Herr Minister, ich möchte noch mal auf die Frage nach der längerfristigen Lösung zurückkommen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass sie dringend notwendig ist. Wir sind uns auch einig, dass das nicht ohne die Zustimmung der südeuropäischen Länder zu erreichen ist. Sie haben vorhin Ihren Lösungsansatz bekräftigt, wonach nur die Schutzbedürftigen verteilt werden. Jetzt wissen wir, dass die südeuropäischen Länder dies kategorisch ablehnen. Deswegen meine Frage an Sie: Wann kommen Sie als Bundesregierung endlich zu einem realitätsnahen Lösungsvorschlag, damit wir in Europa eine Antwort haben?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Unser Vorschlag ist sehr realitätsnah; denn wenn wir nur die Schutzbedürftigen aufnehmen – die Fragen an den Außengrenzen entscheiden –, dann können schon mal zwei Drittel der Asylbewerber nicht in Europa einreisen. Und es ist ein Unterschied, ob ich 1 Million Flüchtlinge in Europa zu verteilen habe oder 200 000 oder 300 000. Das ist unser Anliegen. Sie könnten uns unterstützen. Ich kenne keinen vergleichbaren Vorschlag von Ihnen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Frau Kollegin Brantner?

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unser grüner Vorschlag sind Registrierzentren an den Außengrenzen, wo ein erster Check durchgeführt und auch geprüft wird, ob es eine terroristische Vergangenheit gibt. Danach erfolgt die Verteilung für die Verfahren und dann eine Kooperation bei der Rückführung. Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihnen egal ist, dass Ihren Vorschlag alle Südländer ablehnen. Sie insistieren trotzdem und boykottieren weiterhin die Europäische Union. Ich möchte Ihnen die Frage stellen: Wenn wir dieses Vorgehen auf Deutschland übertragen wollten, würden Sie es dann auch befürworten, dass Bayern und Baden-Württemberg die Verfahren komplett alleine durchführen und die Schutzbedürftigen dann nach Schleswig-Holstein verteilt werden? Das wäre ja das Gleiche. Ich als Baden-Württembergerin würde da nicht mitmachen.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Aber ich kann mir vorstellen, dass der Ministerpräsident von Baden-Württemberg das anders sieht. Der sieht übrigens Ihre ganze Politik anders. ({0}) Ich habe in meiner ganzen politischen Laufbahn von einem Ministerpräsidenten selten solche Hymnen bekommen – ich musste sie nur mit der Kanzlerin teilen –, wie sie vom Kretschmann geäußert wurden. Schauen Sie: Ich glaube, ich habe an die 1 000 Reformen, Gesetze usw. in 50 Jahren gemacht. ({1}) Es ist doch völlig klar, dass man sich mit den europäischen Partnern zusammensetzt, ihre Vorstellungen hört und dann entscheidet: Aus welchem Vorschlag können wir etwas realisieren? Wir fahren nicht mit der Dampfwalze darüber, sondern wir haben einen eigenen Vorschlag – Ihre grünen Minister werden das ja über Österreich einbringen; aber ich kenne von Österreich einen ganz anderen Vorschlag –, und dann werden wir sehen, wie wir die Interessen verbinden können. Ein Argument von den Südstaaten Malta, Zypern, auch Sizilien, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland – nehme ich ernst: ({2}) dass wir alles tun müssen, damit sie an der Grenze nicht auf den Flüchtlingen sitzen bleiben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Die Kollegin von Storch, AfD, hat dazu eine Nachfrage. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nicht „oh Gott“, sondern Storch. ({0}) Ich möchte das Thema aufgreifen, das die Kollegin gerade angesprochen hat und das Sie gerade im Ausschuss auch erwähnt haben, nämlich die Tatsache, dass das ganze Problem, wie Sie immer sagen, nur auf europäischer Ebene, im europäischen Kontext gelöst werden kann. Sie haben gesagt: Das Migrationsthema ist das Thema Nummer eins – liebe Grüne, noch wichtiger als die Klimarettung ist dem Minister die Migrationspolitik –, weil Sie sagen, das spaltet sonst Europa. Sie haben sehr eindrucksvoll auch gesagt, dass alleine bei der Verteilung dieser ungefähr 1 500, um die es jetzt geht, keiner laut „Hier!“ schreit. Sie haben von den Skandinaviern gesprochen, die nicht mitmachen wollen, ebenso die Beneluxländer. Sie haben genau gesagt, was Zypern gesagt hat und was Malta gesagt hat und dass die Italiener aus innenpolitischen Gründen auch nicht aufnehmen wollen usw. usw. Das heißt, Sie beschreiben sehr umfangreich, dass diese europäische Lösung jetzt schon wieder gescheitert ist, in der Vergangenheit bereits gescheitert ist, dass sie überhaupt nicht funktioniert, nicht einmal bei 1 500, geschweige denn, wenn es um größere Zahlen geht. Ich frage Sie: Wenn das das zentrale Thema ist, das gelöst werden muss, wie kommen Sie dann auf die Idee, dass wir das im europäischen Kontext jemals lösen werden?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ich habe bei dem, was Sie alles zitiert haben, auch gesagt, dass es durch die Debatte der letzten Tage nicht einfacher geworden ist, und deshalb möchte ich auch hier im Bundestag darüber eine Debatte führen, um diese Verhältnisse von Ursache und Wirkung hier einmal darzustellen. Es ist doch klar: Wenn wir hier in Deutschland ständig sagen: „Wir sind die Einzigen, die eine Moral haben, wir holen die Moralkeule heraus, alle anderen können es nicht“, dann wird es nicht leichter. ({0}) – Ja, oder wollen nicht. – Deshalb lege ich ja Wert auf die Bundestagsdebatte, um die Ursachen und die Wirkungen zu beschreiben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, das zwingt geradezu zu einer Nachfrage, weil Sie gerade genau das gesagt haben: Die wollen halt nicht. – Da können wir hier noch ganz lange debattieren und ganz oft sagen: „Die müssen aber“, nur, sie wollen halt nicht. Und Sie knüpfen die Lösung des Problems an etwas, von dem Sie selber sagen: Die wollen halt nicht. Wollen wir als Deutsche die anderen zwingen? Auch das haben Sie im Ausschuss gesagt. Sie haben gesagt, die Anerkannten müssen am Ende verteilt werden, und wer keine nimmt, der wird gezwungen. Sollten wir als Deutsche uns vielleicht ganz zuvörderst da heraushalten und unsere europäischen Nachbarn nicht zu etwas zwingen, was die eben aus ihrer nationalstaatlichen Souveränität heraus nicht wollen? Ist das möglicherweise der komplett falsche Ansatz, den Sie da haben, –

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein.

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– gerade aus der deutschen Perspektive?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein. Wir kämpfen dafür.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt stellt die nächste Frage der Kollege Marc Bernhard, AfD.

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister, Wohnungsnot – also einmal ein etwas anderes Thema – und Obdachlosigkeit gehören inzwischen zum traurigen Alltagsbild in unserem Land. Laut Hans-Böckler-Stiftung fehlen fast 2 Millionen Wohnungen. Sie sagen ja selber: Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit. Obwohl die einheimische Bevölkerung jedes Jahr um 175 000 schrumpft, wird die Wohnungsnot trotzdem jedes Jahr größer, und das hat einen ganz einfachen Grund: Seit 2011 sind über 3 Millionen Menschen nach Deutschland zugewandert. ({0}) Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von zwei Personen benötigen diese Zuwanderer also 1,5 Millionen Wohnungen, und man kann eine Wohnung nun nur ein Mal vergeben. Damit ist die dramatische Wohnungsnot, die wir in Deutschland haben, die direkte Folge Ihrer verfehlten Migrationspolitik. Jetzt die Frage: Wie gedenken Sie – Sie haben selber gesagt, die Migration ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – diese wesentliche Ursache der Wohnungsnot in den Griff zu bekommen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Mit dem, was wir auf dem Wohngipfel beschlossen haben, mit allen Ebenen – Ländern, Kommunen und Bund – und allen Gesellschaften, die investieren. Wir haben definiert: Wir brauchen 1,5 Millionen Wohnungen innerhalb von vier Jahren. Wir haben im Moment gut 800 000 Baugenehmigungen, die noch nicht realisiert sind, und gut 300 000 neue Baugenehmigungen, die wir erteilt haben. Wir liegen da also absolut im Plan.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage?

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, eine Nachfrage. – Herr Minister, jetzt ging es ja um Moria. Da wollen Sie 1 500 Migranten aufnehmen. Ich erinnere an 2015. Da sollten auch nur einmalig 10 000 Menschen aus Ungarn aufgenommen werden. Tatsächlich gekommen – das haben Sie selber gesagt – sind 1,7 Millionen. Wie wollen Sie jetzt als Innenminister konkret verhindern, dass sich ein 2015 wiederholt, und vor allem: Wie stellen Sie sicher, dass einheimische Familien auf dem Wohnungsmarkt dadurch nicht auf der Strecke bleiben? Denn eine Wohnung gibt es einfach nur ein Mal, und wenn 2 Millionen fehlen – –

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

2015 saß ich in München. Jetzt sitze ich in Berlin. Das ist die Antwort. Ja, ich kann jetzt selbst dafür sorgen, dass die Ziele eingehalten werden. Und wir werden sie einhalten. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Wir sind damit am Ende der Regierungsbefragung angelangt. Ich beende die Befragung.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die uns aus Minsk und anderen Landesteilen in Belarus zurzeit erreichen, könnten nicht gegensätzlicher sein. Auf der einen Seite stehen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, die nach haarsträubend gefälschten Wahlen friedlich für ein anderes, demokratisches Belarus demonstrieren. Ihr Mut, gegen Gewalt und für freie und faire Wahlen sowie die Freilassung der politischen Häftlinge auf die Straßen zu gehen – und das ungebrochen –, ist für uns alle beeindruckend. Ihnen gegenüber steht ein martialischer Sicherheitsapparat, der auf Befehl Lukaschenkos friedliche Demonstranten niederknüppelt, einsperrt und auch misshandelt. Jede Woche werden Hunderte Frauen und Männer abgeführt oder gekidnappt – aus Schulen, Universitäten, Betrieben oder einfach von der Straße –, oft nur, weil sie das Symbol eines demokratischen Belarus, die weiß-rot-weiße Fahne, mit sich tragen. Der Koordinierungsrat, in dem sich die Opposition um die betrogene und vertriebene Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja versammelt hat und der nicht nur aus aktiven Oppositionellen, sondern auch aus ganz einfachen Menschen in Belarus besteht, bekommt die Härte des Regimes ganz besonders zu spüren. Marija Kolesnikowa, die mutig ihren Pass zerriss, um ihrer Abschiebung zu entgehen, landete im Gefängnis, ebenso wie Maxim Snak und Sergej Dylewski. Pawel Latuschko und andere wurden bedroht und zur Ausreise genötigt, und selbst Swetlana Alexijewitsch, die 72-jährige Nobelpreisträgerin, wird schikaniert und bedrängt. Letzte Woche hat nur das beherzte Eingreifen zahlreicher europäischer Diplomaten – auch des deutschen Botschafters – dazu beigetragen, ihre Verhaftung bei sich zu Hause zu verhindern. ({0}) Gerade für uns Deutsche, die wir in diesen Tagen an unsere eigene friedliche Revolution und die Wiedervereinigung vor 30 Jahren erinnern, kann und darf es keinen Zweifel geben, an wessen Seite wir stehen: an der Seite der Menschen, die friedlich gegen Gewalt und für ihre Rechte kämpfen. ({1}) Daher werden wir die belarussische Zivilgesellschaft weiter unterstützen, indem wir beispielsweise für unabhängige Medienberichterstattung eintreten – es sind nicht zuletzt auch deutsche Journalistinnen und Journalisten durch Repressionen durch das Lukaschenko-Regime zu Opfern geworden – und indem wir bedrohten Aktivisten ebenso wie den Opfern von Gewalt beistehen und nach Möglichkeiten suchen, ihnen zu helfen. Meine Damen und Herren, wir haben Lukaschenko immer wieder aufgefordert, mit denen, die auf der Straße sind, in einen Dialog zu treten. Er geht aber weiter den Weg der Gewalt und Unterdrückung und sucht dafür die Rückendeckung aus Moskau. Immer wieder haben wir eine Vermittlung vorgeschlagen – insbesondere die durch die OSZE, deren Mitglied Belarus ist und zu deren Werten es sich bekannt hat. Genau deshalb wäre die OSZE nach wie vor dafür prädestiniert, einen runden Tisch einzuberufen. Doch wir müssen auch der Realität ins Auge blicken. Alle Angebote stoßen in Minsk auf taube Ohren. Statt mit den Menschen in seinem Land zu reden, sperrt Lukaschenko sie weg. Wer dies tut, der muss mit Konsequenzen rechnen. Deshalb haben wir in der Europäischen Union sehr früh Sanktionen gegen diejenigen auf den Weg gebracht, die für Wahlfälschung und Menschenrechtsverletzungen nachweislich verantwortlich sind. Beim Treffen der EU-Außenminister hier in Berlin waren wir uns in der Sache einig, und wir werden dies jetzt zügig umsetzen. Wir werden bereits am Montag kommender Woche in Brüssel – im EU-Außenrat – das weitere Vorgehen miteinander beraten. Ich sage aber auch ganz offen: Wenn die Gewalt gegen die friedliche Opposition nicht aufhört, dann werden diese Maßnahmen auf erheblich mehr Personen auszuweiten sein, und dann wird es dabei auch darum gehen, über Herrn Lukaschenko zu reden. Auch Russland trägt in dieser Lage eine ganz besondere Verantwortung. Dies folgt schon aus dem engen, besonderen Verhältnis zu Belarus, das auch die belarussische Opposition nicht infrage stellt. Mit – wie bisher – bedingungsloser Unterstützung Lukaschenkos und hybrider Einflussnahme wird Moskau die Sympathien der Menschen in Belarus aber ganz sicherlich verlieren. Deshalb haben wir sowohl gegenüber Präsident Putin als auch gegenüber Außenminister Lawrow noch einmal deutlich dafür geworben, dass sich auch Russland dafür einsetzen sollte, einen Dialog auf der Ebene der OSZE in Gang zu setzen, und Herrn Lukaschenko klipp und klar sagen sollte, dass das auch die Anforderung aus Moskau ist. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, keiner möchte eine neue geopolitische Krise in der Mitte Europas. All diejenigen – und das sind insbesondere diejenigen in Moskau –, die schon den zweiten Maidan oder die zweite Ukraine vor sich sehen, müssten eigentlich besser wissen, dass die Ukraine und Belarus in dieser Frage nicht vergleichbar sind. Auf dem Maidan sind schon die Fahnen der Europäischen Union getragen worden. Derartiges sieht man in Belarus nicht. Die Menschen in Belarus setzen sich vor allen Dingen für eines ein: für echte Demokratie, für faire und freie Wahlen – und für nichts anderes. Es geht für uns innerhalb der Europäischen Union nicht darum, Belarus von Russland loszulösen und der Europäischen Union einzuverleiben, sondern es geht einfach darum, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Menschen in Belarus in einer freien und fairen Wahl selbst darüber entscheiden können, welchen Weg sie nehmen. ({3}) Deshalb geht es auch nicht darum, ob es hier eine zweite Ukraine gibt oder nicht. Auf jeden Fall: Wir in Deutschland – sowohl in der Bundesregierung als auch innerhalb der Europäischen Union – stehen weiterhin bereit für alle Lösungen, die die legitimen Kernforderungen der Demonstranten berücksichtigen: ein Ende der Gewalt, die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie faire und freie Wahlen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Waldemar Herdt für die AfD-Fraktion. ({0})

Waldemar Herdt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004747, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß, dass hier in diesem Hause nicht gerne gehört wird, dass die Ereignisse in Weißrussland eine gewisse Ähnlichkeit mit Ereignissen in anderen Krisengebieten, wie in Syrien, im Irak und in der Ukraine, haben. Ich gebe Ihnen auch recht: Das sind komplett verschiedene Vorgehensweisen – historisch, kulturell. Eines vereint das Ganze aber, und ich sage Ihnen jetzt, was es ist: Wir vereinen das! Unsere Vorgehensweise hier ist die Gleiche wie bei allen anderen Krisengebieten. Wir fangen an mit einer massiven medialen Berichterstattung. ({0}) Dann kommt die Unterstützung der Oppositionellen, ohne zu prüfen, ob das nachhaltige Bewegungen sind oder nicht – wie solche, die sich später als ISIS aufgestellt haben –, ({1}) und danach kommen Sanktionen. Der Ablauf ist in allen diesen Krisengebieten der gleiche. ({2}) Darum sollte man den Begriff „Demokratie“ vielleicht tatsächlich mal ein bisschen enger fassen. Also, unsere Sichtweise von Demokratie ist in allen diesen Fällen wirklich nicht der Exportschlager. Wenn wir die Folgen der ganzen Vorgehensweisen einmal betrachten, dann sehen wir, was wir damit erreicht haben. Ist es in Syrien demokratischer geworden? Nein. In allen anderen Ländern sind wir von einer demokratischen Entwicklung viel weiter entfernt als vor der Krise. Das ist eine Tatsache; ich sage nichts, was nicht so wäre. Betrachten wir die Souveränitätsfrage: Ist Syrien jetzt souveräner geworden? Nein, Syrien ist komplett abhängig von Russland und vom Iran. Sind die anderen Länder souveräner geworden durch unsere Vorgehensweise? Auch Nein. Wird, wenn wir jetzt die gleiche Vorgehensweise gegenüber Weißrussland verfolgen, dies nicht zu dem gleichen Ergebnis führen? – Ich kann nicht nachvollziehen, warum man von einem anderen Ergebnis ausgeht. Ja, es ist Spekulation – das ist ja logisch –, wenn man aber nachdenkt, stellt man fest, dass das genau zum gleichen Ergebnis führen kann wie in den anderen Ländern. ({3}) Darum sage ich: Uns sind die Menschen in Weißrussland nicht egal. Ich habe sehr viele Freunde in Weißrussland, auch Verwandte, mit denen ich spreche. Einige gehen zur Demonstration, einige gehen nicht zur Demonstration, weil sie vollbeschäftigt sind. Aber eines vereint sie alle: Sie wollen die Probleme in Weißrussland allein regeln. Das weißrussische Volk ist in der Lage, ohne Einmischung von außen die Probleme zu regeln. ({4}) Wir sagen natürlich: Nein, wir mischen uns nicht ein, wir tun das nicht. – Wie passt dazu die Aussage von Frau von der Leyen zum 53-Millionen-Euro-Hilfspaket der EU? Ich lese vor: Wir sind „bereit, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den friedlichen demokratischen Machtwechsel in Belarus zu begleiten“. Mit anderen Worten – vielleicht nicht so korrekt –: Das ist doch Regime Change, was hier gekündigt wird. ({5}) Wenn man so etwas in die Welt setzt, dann braucht man sich doch nicht zu wundern, dass von der anderen Seite keine Antwort kommt. Es ist ja, als ob man sagt: „Lass uns mal sprechen, wie wir dich absetzen!“, oder sehe ich das falsch? ({6}) Wenn man einen Dialog sucht, dann setzt man auf die Instrumente, die wirklich zum Erfolg führen. Ich kann mir hundertprozentig vorstellen: Wenn von einem anderen Land genau solche Äußerungen in Richtung unseres Landes kämen, dann hätten wir das ganz anders beurteilt. Bei Weißrussland machen wir das so, wie wir es gewohnt sind. ({7}) Letzter Appell, an uns alle: Lasst uns in dem besonderen Fall Weißrussland anders vorgehen! Die OSZE ist die Plattform, wo man solche Lösungen finden kann. Mit Hilfe Russlands ({8}) und unserer Hilfe werden wir das schaffen. Der politische Wandel in Weißrussland ist nicht mehr abzuwenden – das wissen alle –, wir müssen nur gezielt und vorsichtig, mit Fingerspitzengefühl, an die Sache herangehen. Ich bedanke mich. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Ziemiak für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Herdt, erst einmal kann ich Ihnen eine gute Nachricht überbringen: Ich werde mich persönlich bei Herrn Putin dafür einsetzen, dass Sie in diesem Jahr den Sonderpreis für die beste Auslandspropaganda für den Kreml bekommen; den haben Sie sich verdient. ({0}) – Herr Gauland, ja, Sie haben eine harte Konkurrenz: Viele Beiträge der Linksfraktion sind auch bereits nominiert worden für diesen Preis. Insofern können Sie vielleicht eine gemeinsame Reise nach Moskau unternehmen, AfD und Linksfraktion Hand in Hand, und dann Ihren Dank und Lob und Preis abholen im Kreml. ({1}) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe vor einigen Wochen Swetlana Tichanowskaja in Vilnius getroffen. Ich habe – dieses Treffen hat mich tief bewegt – eine Frau getroffen, die vom Diktator Lukaschenko ins Exil getrieben wurde. Ich habe eine Mutter getroffen, die einfach in Sorge ist um ihre beiden kleinen Kinder. Ich habe eine Ehefrau getroffen, die Ehefrau eines friedlichen Demokraten, der auf die Straße gegangen ist, um für Freiheit und Demokratie zu werben, und der in den Folterkellern von Lukaschenko gelandet ist. Gleichzeitig habe ich eine mutige Frau getroffen, die voller Hoffnung und Zuversicht ist, dass wir – wir alle in der internationalen Gemeinschaft – dieses Land Belarus nicht aus den Augen verlieren und die Menschen dort dabei unterstützen, sich für Frieden und für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. ({2}) Wir haben in diesen Tagen – das bewegt uns alle – in der Berichterstattung gesehen, wie sich Nina Baginskaja, eine 73 Jahre alte Frau, für Menschenrechte und für Freiheit mutig einsetzt, schon seit 1988, friedlich mit der weiß-rot-weißen Fahne. Und der Außenminister hat Marija Kolesnikowa erwähnt, eine mutige Frau – wie viele Frauen übrigens jetzt zum Gesicht dieser Bewegung in Belarus geworden sind –, die am helllichten Tage verschleppt wurde und in die Ukraine ausgewiesen werden sollte und ihren Pass zerriss, um im Land zu bleiben, und dann im Gefängnis landete. Sie hat einer deutschen Zeitung gesagt – mit Erlaubnis der Präsidentin darf ich zitieren –: Der Mauerfall in Deutschland hat der ganzen Welt bewiesen, wie eine Diktatur gestoppt werden kann und wie groß die Kraft des friedlichen Protests ist. Wir wollen das in Belarus mit friedlichen Demonstrationen ebenso schaffen. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir heute in dieser Aktuellen Stunde über Belarus, über die Vorkommnisse, die es dort gibt, sprechen. Es ist wichtig, dass wir internationale Aufmerksamkeit schaffen. Wir brauchen Solidarität. Aber nur Gesten der Solidarität sind zu wenig, es braucht entschlossenes Handeln. Deswegen war es richtig, dass der Europäische Rat die Wahl Lukaschenkos nicht anerkannt hat. Wahlfälscher dürfen keine Wahlsieger sein! ({3}) Deswegen brauchen wir jetzt weiter internationalen Druck, das heißt auch Sanktionen gegen diejenigen, die verantwortlich sind für die Gewalt, für das Umfeld von Lukaschenko. Ich bitte die Bundesregierung, hier Druck zu machen in den kommenden Tagen. Herr Außenminister, auch Herr Lukaschenko gehört auf diese Liste; das will ich hier im Plenum ganz deutlich sagen. ({4}) Es gibt einige Reaktionen, die mich doch sehr verwundern, zum Beispiel eine Pressemitteilung von Andrej Hunko von der Linksfraktion vom 11. August, in der er sagt – mit Erlaubnis der Präsidentin darf ich zitieren –: Es ist beschämend, dass den Expertinnen und Experten für Außenpolitik von Union, SPD, Grünen und FDP nicht mehr einfällt, als immer neue EU-Sanktionen zu fordern. ({5}) – Sie klatschen auch noch! – Wissen Sie, was beschämend ist? Dass Sie keine Antwort darauf haben, wenn Menschen verschleppt werden, gefoltert werden, wenn ein Unrechtsregime gegen friedliche Demonstranten vorgeht. Und dann sagen Sie: Beschämend ist es, diese Menschen zu sanktionieren. – Herzlichen Glückwunsch! Wissen Sie was – ich muss es leider sagen in Richtung der Grünen und auch der SPD –: Sie wollen tatsächlich mit dieser Partei in Zukunft koalieren; das ist Ihr großer Wunsch. Wenn Sie das tun würden, wenn Sie wirklich mit diesen Leuten koalieren würden: ({6}) Das wäre eine außenpolitische Insolvenzerklärung der Bundesrepublik Deutschland. ({7}) – Jetzt regen Sie sich auf, Sie von der Linksfraktion. Ja, Sie haben mehr kritische Worte für deutsche Polizistinnen und Polizisten über als für die Sicherheitskräfte von Herrn Lukaschenko. ({8}) Schauen Sie sich mal Ihre Pressemitteilungen an! Wir brauchen Dialog, selbstverständlich brauchen wir Dialog. Und natürlich brauchen wir auch Dialog mit Russland. Aber wir brauchen auch klare Vorstellungen, wofür wir uns einsetzen. Lukaschenko und sein Regime – übrigens auch viele im Kreml –, die fürchten doch nicht den Westen, die fürchten doch auch nicht die NATO. Das Schlimmste, wovor sie am meisten Angst haben – übrigens auch eine Parallele zu früher, zum Politbüro der SED usw. –, sind für sie freie Wahlen ihrer eigenen Bevölkerung. Insofern gibt es ja auch bei der AfD eine Parallele mit Belarus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ziemiak, achten Sie bitte auf die Zeit.

Paul Ziemiak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch Sie sprechen nicht für die Mehrheit der Bevölkerung. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Gyde Jensen das Wort. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es steht fest – und der EU-Außenbeauftragte Borrell hat es gestern im EU-Parlament noch einmal ganz klar gesagt –: Alexander Lukaschenko hat bei dieser Wahl nach Strich und Faden belogen und betrogen, er hat der belarussischen Gesellschaft diese Wahl genommen und gestohlen. Und aus dieser Wahl kann Lukaschenko unmöglich irgendeine Art von Legitimation ableiten. ({0}) Die Opposition ist mit dem zentralen Versprechen für freie und faire Wahlen angetreten und hat damit Werbung gemacht. Und darauf, dass dieses Versprechen eingelöst wird, sollten wir uns heute in dieser Debatte im Bundestag einigen, und genau dieses Signal müssen wir auch nach Belarus senden. ({1}) Lukaschenko verweigert seit Wochen alle konstruktiven Vermittlungsversuche. Die Opposition in Belarus hat ihm wieder und wieder Angebote gemacht. Erst heute hat Swetlana Tichanowskaja ihm die Hand gereicht und ihm gesagt, dass ihm im Falle seines Rücktritts und einer friedlichen Machtübergabe Straffreiheit garantiert würde. Dieses Angebot ist so großherzig, dass Lukaschenko es annehmen muss, um einen friedlichen Wechsel erreichen zu können. ({2}) Wie er sich aber, meine Damen und Herren, am Ende entscheidet, das wissen wir heute noch nicht. Bis dato steht aber der Fakt im Raum, dass er zusammen mit den übergebliebenen Schergen seines Sicherheitsapparates mit brutaler Gewalt zu untermauern versucht, dass er das Sagen hat. Und dieser Mann besitzt die Frechheit, zu versuchen, für sein eigenes politisches Überleben Belarus zu verkaufen, ein Land, das ihm nicht gehört. Seit dem Sotschi-Treffen zwischen Lukaschenko und Putin ist klar, dass ein unabhängiges Belarus nur ohne Lukaschenko existieren kann. ({3}) Denn es gibt nur einen Grund dafür, meine Damen und Herren, warum Lukaschenko mit dieser Vehemenz gegen die eigene Bevölkerung vorgehen kann, und dieser Grund heißt Wladimir Putin. Ohne Putins Milliardenkredite, ohne seine Zusage, Lukaschenko im Ernstfall „beizustehen“ – wir wissen alle, wie das aussehen kann –, stünde der letzte Diktator Europas längst und endgültig mit dem Rücken zur Wand. Nicht zuletzt deshalb finde ich es unerträglich, wie sich einige Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und auch einige darüber hinaus – Herr Ziemiak hat es ja vorgelesen – diesbezüglich äußern. Es zeigt ja, wie Präsident Putin von einigen hier kontinuierlich gesehen wird, nämlich nach wie vor als vertrauenswürdiger Partner. Wir als Freie Demokraten sagen ganz klar: Wie Präsident Putin Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaat interpretiert, ist für uns nicht hinnehmbar. Deswegen stehen wir an der Seite der friedlich demonstrierenden Opposition in Belarus. ({4}) Die Opposition in Belarus schafft ein Momentum, indem sie für eine demokratische, eine freiheitliche und eine europäischere Zukunft streitet. Diese Menschen machen das, obwohl sie dafür möglicherweise einen hohen Preis zahlen müssen, nämlich den Preis, ohne Grund und ohne rechtsstaatliches Verfahren einfach inhaftiert zu werden, verschleppt zu werden. Sie machen es, auch wenn der Preis dafür möglicherweise ist, dass Sicherheitskräfte auf sie einprügeln und damit Knochenbrüche und Schädel-Hirn-Traumata verursachen – wir sehen momentan all diese Berichte –, auch wenn der Preis am Ende möglicherweise ihr eigenes Leben ist. Wir können unseren kleinen Beitrag leisten, indem wir dafür sorgen, dass all die Opfer, die die Menschen in Belarus bringen, als das benannt und dokumentiert werden, was sie nämlich sind: Es sind schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen mitten in Europa. Die Täter und Täterinnen, die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu sollte die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit den Menschenrechtsorganisationen in Belarus intensivieren. Und in der OSZE müssen die Kanzlerin und der Außenminister dafür werben, den Moskauer Mechanismus auszulösen, um unabhängige Experten nach Belarus entsenden zu können. ({5}) Es wird Zeit, dass die EU eine unmissverständliche Antwort auf diese Brutalität, diese Menschenrechtsverletzungen sendet und, wie angekündigt, die Sanktionsliste erweitert. Heute wurde entsprechend im Auswärtigen Ausschuss bereits darüber gesprochen, dass Lukaschenko ganz oben auf diese Liste gehört, ({6}) inklusive seines Umfeldes, inklusive der installierten Russia-Today-Journalisten, die diejenigen Pressevertreter ersetzen, die gerade öffentlichkeitswirksam gekündigt haben. Meine Damen und Herren, ich muss an dieser Stelle sagen: Gut, dass unsere EU-Partner wie das Baltikum und Polen ({7}) schon lange mit der Zivilgesellschaft in Belarus zusammenarbeiten! Denn zivilgesellschaftliches Engagement in Belarus ist nicht erst seit dem Wahlkampf, sondern schon deutlich davor unheimlich schwierig und sehr gefährlich gewesen. Deswegen müssen wir hier festhalten, dass wir die belarussische Zivilgesellschaft jetzt erst recht unterstützen und klare Signale an die Zivilgesellschaft in Belarus senden. Wir müssen den Kontakt, den Austausch zwischen deutschen und belarussischen Bildungsinstitutionen in Wissenschaft und Kultur erleichtern. Wir müssen Aktivisten und Studenten die Möglichkeit geben, ihre Visaanträge auch ohne Kosten hier bei uns zu stellen. Und wir müssen einen sichtbaren Kontakt – dazu fordern wir die Bundesregierung auf – zu Swetlana Tichanowskaja pflegen. Denn genau das ist es doch, was die belarussische Opposition jetzt braucht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Jensen, Sie müssen zum Schluss kommen.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. An die Zivilgesellschaft in Belarus gerichtet wollen wir Folgendes sagen: Wir sehen euch, und wir verstehen, was für euch alles auf dem Spiel steht. Ob es nun Swetlana Tichanowskaja oder Marija Kolesnikowa oder die eben schon angesprochene 73-jährige Frau Baginskaja ist, die schon länger demonstriert, als ich auf der Welt bin – all diese Menschen sehen wir. Und wir unterstützen euch hier aus dem Deutschen Bundestag und stehen an eurer Seite, aber zu euren Regeln und so, wie ihr es am besten einrichten könnt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich möchte daran erinnern, dass die Ankündigung des Schlusspunktes diesen nicht ersetzt. Ich bitte also wirklich, im Weiteren darauf zu achten, dass in der Aktuellen Stunde jede und jeder fünf Minuten Redezeit hat. Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Wochen gehen in Belarus Menschen auf die Straße, weil sie mit den Machthabern in Minsk mehr als unzufrieden sind. Es ist ein friedlicher Protest, der mit viel Kreativität und Entschlossenheit durchgeführt wird. Und es ist gut, dass wir uns hier im Parlament mit einer Ausnahme über die Bewertung dieser Proteste einig sind. ({0}) Als Reaktion auf diese Proteste fällt den Machthabern nichts Besseres ein als brutale Gewalt. Demonstrationen werden niedergeknüppelt, Menschen werden verfolgt und verhaftet. Diese Gewalt ist strikt abzulehnen und durch nichts zu rechtfertigen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe im Interesse der Menschen in Belarus sehr, dass es zu einer friedlichen und demokratischen Lösung kommt. Ich bin aber leider nicht sehr optimistisch. Was passiert denn, wenn diese Protestbewegung nicht weiter in den Schlagzeilen vertreten ist? Was passiert, wenn sich die Machthaber durchsetzen und ihre Herrschaft noch repressiver gestalten? Es gibt heute viele Länder auf der Welt, bei denen wir wegschauen, bei denen wir gleichgültig geworden sind oder bei denen wir uns an Gewalt und Verbrechen gewöhnt haben. Menschenrechte sind aber unteilbar. ({2}) Es stellt sich die Frage, was passieren muss. Dazu vier Punkte meinerseits: Erstens: die Sanktionen. Richtig ist, dass die EU diesmal die Sanktionspolitik maßvoller einsetzt. In der Vergangenheit haben Sanktionen gegen die entsprechenden Staaten oft die Folge gehabt, dass die normale Bevölkerung stärker betroffen war als die Machthaber, die man treffen wollte. ({3}) Es bleibt dennoch die Frage: Wirken eigentlich die personalisierten Maßnahmen gegen diese Machthaber? Das muss für meine Begriffe mal nachgeforscht werden. Die weitere Frage ist: Warum bleibt Lukaschenko hier außen vor? Zweitens: die Nichtanerkennung der Wahlen. Anfang August hat das Regime die Wahlen manipuliert, vermutlich nicht das erste Mal. Möglicherweise hätte Lukaschenko die Wahl zu diesem Zeitpunkt auf normalem Weg gewonnen. Er war sich aber nicht sicher, und da machte er genau das, was solche Typen dann immer machen. Und dieser Wahlbetrug begann auch nicht erst am Wahltag. Bereits im Vorfeld wurden zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber nicht zugelassen. Ein freier und kontroverser Wahlkampf war auch nicht möglich, zumindest wenn man in Opposition zu den Machthabern stand. Die Nichtanerkennung des Wahlergebnisses ist die logische Reaktion. Bleibt aber die Frage: Mit wem spricht man, mit wem verhandelt man, wenn man zum Dialog aufruft? Das ist dann relativ schwierig. Drittens: Dialog statt Gewalt. So alternativlos es ist, sich für Gewaltfreiheit einzusetzen, so notwendig ist es auch, einen Dialog mit den Machthabern zu führen. Voraussetzung hierfür ist aber die Freilassung aller politischen Gefangenen. ({4}) Es ist aber schwierig, solche Machthaber zum Dialog zu bewegen und ihnen gleichzeitig Bedingungen zu stellen. Ich bin einigermaßen ratlos, wie man damit umgehen soll. ({5}) Hinzu kommt, dass die Machthaber eine internationale Vermittlung ablehnen. Dies ist zwar ein Zeichen der Schwäche, hilft aber im konkreten Fall auch nicht weiter. Der Vorschlag, die OSZE hier einzuschalten, ist ein sehr guter Vorschlag, weil dann nicht nur die EU-Staaten am Tisch sitzen, sondern auch die osteuropäischen Staaten, die oftmals näher dran sind. Und viertens: Belarus braucht eine europäische Perspektive. Hierbei ist nicht automatisch die EU gemeint, sondern Europa, das bekanntlich vom Atlantik bis zum Ural geht. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen – der Außenminister hat es gerade gesagt –, dass bei den Protesten im Land keine EU-Flaggen zu sehen waren – russische im Übrigen auch nicht. Die Menschen zeigen die weiß-rot-weiße Flagge, um sich von der Fahne der Machthaber abzugrenzen. Ein Knackpunkt ist aber die Frage der Visaerteilung durch die Bundesrepublik. Zwar hat ein Vertreter des Auswärtigen Amtes gestern erklärt, dass Anfragen positiv zu bearbeiten seien. Das reicht aber nicht. Wir brauchen eine Erklärung der Bundesregierung, besser eine Kabinettsentscheidung dazu. Menschen, die verfolgt werden, müssen die Möglichkeit haben, legal auszureisen. Menschen, die vielleicht wegen eines Praktikums zu uns fahren wollen, darf das nicht mit dem Verweis auf Corona verweigert werden. Auf Corona kann man testen; hier gibt es Quarantäneregelungen. Einen Visaantrag abzulehnen, ist absolut kontraproduktiv. ({6}) Zum Schluss, aber trotzdem ganz wichtig. 2021 soll die Eishockey-WM in Belarus stattfinden. Ich appelliere an alle Verantwortlichen, diese WM nicht abzusagen. Zum einen ist es fraglich, ob man dadurch tatsächlich einen Effekt in unserem Sinne auf die Machthaber ausübt; denn bei einem solchen Event muss sich das Land öffnen, was es gerade eben nicht tut. Ich hoffe sehr, dass es bis zu dieser WM in Belarus demokratische Neuwahlen gegeben hat, die Verantwortlichen für die Gewalttaten zur Rechenschaft gezogen wurden und die Bevölkerung die Gäste dann herzlich begrüßen kann. Glück auf! ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Manuel Sarrazin das Wort. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Situation wie heute in Belarus ist das Leben eines Einzelnen wichtig für die ganze Gesellschaft. Alexander Taraikovsky war 34 Jahre alt – er hatte eine Tochter –, als er bei den Demonstrationen in Minsk erschossen wurde. Gennady Shutov war 44 Jahre alt – er hatte fünf Kinder –, als er in Brest erschossen wurde. Alexander Vikhor war 25 Jahre alt, als er nach Folterung und unterlassener Hilfeleistung in Haft starb. Die Leben dieser Menschen haben viel bedeutet: für ihre Familien, für Belarus, für Europa und, ich hoffe, auch für uns alle in diesem Haus. Es gibt viele Unklarheiten über die künftige Entwicklung in Belarus, aber es gibt auch eine Klarheit – und ich möchte mich bei dem Kollegen von der Linksfraktion dafür bedanken, dass er sie so klar ausgesprochen hat –: Lukaschenko ist verantwortlich für den Tod dieser Menschen. ({0}) Er hat die Wahlen gefälscht; er hat die Zerschlagung der Proteste angeordnet; er ist verantwortlich für Folter, für Verschleppung, für die Vergewaltigung von Männern und Frauen und für diese Toten. Ihn nicht zu sanktionieren, untergräbt die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Sich in den europäischen Gremien bisher nicht explizit für die Listung auch von Lukaschenko eingesetzt zu haben, untergräbt die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der belarussischen Gesellschaft, in Zentraleuropa und bei Wladimir Putin. ({1}) Den Maßstab haben wir selber gesetzt: Bis 2016 waren 170 belarussische Offizielle durch die EU sanktioniert, unter ihnen auch Lukaschenko. Der Maßstab ist also, dass die Gewaltexzesse nach dieser Wahl aus unserer Sicht in einem politisch anderen Umfeld stattfinden als die Zerschlagung der Proteste nach den Wahlen 2010. Die Bundesregierung sagt zu Recht: Lukaschenko spielt auf Zeit. – Gleichzeitig wird bei der Frage der Sanktionierung ein langsames „Immer mehr und mehr“ als Taktik gewählt. Das passt nicht; das ist doch offensichtlich. Das ist ein Widerspruch. ({2}) Während wir immer noch von Dialog reden, verprügelt Lukaschenko die Opposition. Wir müssen jetzt klar sagen, wo wir stehen: Deutschland gehört an die Seite der demokratischen Opposition in Belarus. ({3}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, verhindert keinen Dialog; es ermöglicht ihn erst – aus dem Grund, den der Kollege gerade richtig genannt hat. Nur wenn wir deutlich sagen, dass wir den Koordinierungsrat für einen der legitimen Ansprechpartner für das Ausverhandeln der Zukunft des Landes halten, können wir glaubwürdig für einen Dialog einstehen. Dieses Signal ist bis jetzt nicht gesendet worden. Ich finde es gut, dass Paul Ziemiak mit Frau Tichanowskaja geredet hat. Aber warum nicht Herr Maas? Warum hat eigentlich Frau Merkel erfolgreich bei Putin – bei Lukaschenko war es bisher erfolglos – angerufen und nicht bei Frau Tichanowskaja? Warum Hat Herr Latuschko letzte Woche in Berlin die Beamtenebene und nicht die politische Ebene getroffen? Warum eigentlich? ({4}) Wer jetzt Dialog will, muss aber auch das Leben und die legitime Rolle der demokratischen Opposition beschützen. Leben beschützen heißt Visa erteilen und humanitäre Korridore schaffen. Die Webseiten der Botschaften der litauischen Republik und der polnischen Republik in Minsk geben konkrete Hinweise und Telefonnummern. Sie sagen explizit: Ab September gibt es nur ein Mindestmaß an Anforderungen, um ein Visum zu bekommen. – Auf der Seite der deutschen Botschaft finden sich keine konkreten Informationen, wie ich mich hier in Sicherheit bringen kann, wenn ich Angst davor habe, dass die Sicherheitsbehörden mich foltern oder mir meine Kinder wegnehmen wollen. Das muss sich schnell ändern; da müssen wir auch als Bundesrepublik Deutschland schnell Präsenz zeigen. ({5}) Lukaschenko hat seit 20 Jahren den Ausverkauf des Landes betrieben, vieles davon auf eigene Rechnung und die Rechnung seiner Familie. Er hat zuletzt mit dem Bau eines Atomkraftwerks das Land vollkommen dem Kreml ausgeliefert. Nicht die Revolution bedroht die Souveränität des Landes, sondern allein der Diktator. In einer Situation wie in Belarus ist das Leben von Einzelnen wichtig für die ganze Gesellschaft. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam alles tun, was wir können, um diese Leben zu beschützen: mit Visa, mit humanitären Korridoren, mit Geld und mit der klaren Botschaft nach Minsk und nach Moskau, dass wir wissen und auch laut sagen, wer für die Verbrechen gegen das Leben der Menschen in Belarus verantwortlich ist. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Barbara Hendricks für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Proteste in Belarus gegen die offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen dauern nun bereits mehr als fünf Wochen an. Erschüttert haben uns alle sicherlich die Berichte, wonach Vertreterinnen und Vertreter des Koordinierungsrates wie Marija Kolesnikowa von Sicherheitskräften verschleppt oder verhaftet wurden. Andere, wie Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, haben das Land verlassen müssen oder wurden herausgedrängt. Friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten werden weiterhin inhaftiert und auch gefoltert – ebenso Oppositionsvertreter –, und das selbstverständlich ohne jede rechtliche Grundlage. Ich möchte betonen, dass es vor allem mutige und unermüdliche Frauen sind, die die Opposition organisieren und die Proteste initiieren und tragen. Es ist unübersehbar: Lukaschenko hat das Gebot der Stunde auch Wochen nach den Wahlen nicht verstanden. Anstatt in einen Dialog mit dem belarussischen Volk einzutreten, verstärkt er die Repression und bringt damit weitere Teile der Bevölkerung zu Recht gegen sich auf. In Reaktion auf die offensichtliche Wahlfälschung und die massive Gewaltanwendung der belarussischen Sicherheitskräfte arbeitet das Auswärtige Amt innerhalb der Europäischen Union derzeit mit Hochdruck daran, die belarussische Zivilgesellschaft zu unterstützen und ein wirksames Sanktionspaket gegen die Verantwortlichen zu etablieren. Es ist unerlässlich, die Sichtweisen führender Vertreterinnen und Vertreter der Protestbewegung und insbesondere des Koordinierungsrates hierbei zu berücksichtigen. Jedenfalls muss jeder Anschein vermieden werden, es könne um geopolitische Interessen etwa Deutschlands oder der Europäischen Union gehen. Klar ist – leider ist es so –: Ohne Dialog mit Moskau ist in Belarus keine Veränderung möglich. Wobei derzeit noch völlig unklar ist, was die russische Agenda für die Zukunft von Belarus ist. Belarus ist ja, wie wir wissen, mit Russland seit 1996 in einem Unionsstaat verbunden. Moskau sieht sich im Systemwettbewerb mit dem Westen und reklamiert einen exklusiven Einfluss auf Belarus. Dabei stellt sich immer auch die Frage, ob es der russischen Seite um diesen Einfluss allein geht oder vielleicht doch um die Furcht, die Menschen in Russland könnten sich ein Vorbild an der belarussischen Gesellschaft nehmen. Dass die Wahlen problematisch für Lukaschenko werden würden, war auch schon im Vorfeld längst kein Geheimnis. Der seit 26 Jahren amtierende Präsident hat im Wahlkampf auf die Mobilisierung antirussischer Ressentiments gesetzt und breitschultrig den Schutz der Souveränität von Belarus auch im Fahrwasser europäischer Wirtschaftssanktionen gegen Russland betont, was die Gemengelage durchaus unübersichtlich macht. Die entscheidende Frage könnte aus russischer Sicht nun lauten: Wie kann man verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen, deren Ziel es ist, dass Belarus sich vollkommen von Russland abwendet? In Belarus gibt es keine nennenswerte antirussische Stimmung und in Russland keine antibelarussische. Die Protestbewegung ist keinesfalls antirussisch eingestellt. Es geht der belarussischen Gesellschaft um die Wahrung der eigenen staatlichen Souveränität und um echte Demokratie, nicht um eine stärkere Hinwendung zum westlichen Europa. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe das als Chance für einen multilateralen Dialog. Genau hier kann kluge europäische Diplomatie ansetzen, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Russland kann kein eigentliches Interesse an einer militärischen Intervention haben und könnte sein politisches Kapital im Verhältnis zu Belarus durchaus sinnvoll einsetzen. Deutschland und die Europäische Union haben sich bislang klug verhalten. Es muss zunächst ganz konkret darum gehen, denjenigen Unterstützung und Solidarität zu gewähren, die sich unter großer Gefahr für Demokratie und freie und faire Wahlen einsetzen, ohne sich dabei den Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten einzuhandeln. ({0}) Es würde der Opposition wahrlich nicht helfen, wenn der Eindruck entstünde, die Proteste seien von außen provoziert und gelenkt. Ich bedaure es daher sehr, dass die geplante bilaterale Abstimmung zwischen Außenminister Heiko Maas und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow nicht zustande gekommen ist. Nur der friedliche Dialog kann den Übergang schaffen und den Weg zu Neuwahlen und einem daran anschließenden Verfassungsprozess ebnen. Mit Diplomatie und wirkungsvollen Sanktionen gegen amtierende Funktionsträger können Deutschland und Europa Belarus dabei helfen, in eine selbstbestimmte Zukunft zu gehen – mit einer demokratisch legitimierten Führung. Unter diesen Voraussetzungen kann ein wirtschaftlicher Umbau eines Landes gelingen, welches sich in starker ökonomischer Abhängigkeit Russlands befindet. Perspektivisch kann so auch die wirtschaftliche und kulturelle Partnerschaft mit der Europäischen Union ausgebaut werden. Dabei ist völlig eindeutig: Es geht nicht um eine exklusive Partnerschaft. In den nächsten Wochen wird sich zeigen –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hendricks, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– ja –, wie es in Belarus künftig weitergehen wird. Schon jetzt gebührt der belarussischen Bevölkerung, insbesondere den mutigen Frauen, unser Respekt für ihre Entschlossenheit und ihre Hartnäckigkeit. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! „Kampf der Menschen für Demokratie und nationale Souveränität“ – als ich den Titel der von der Möchtegern-Großkoalition beantragten Aktuellen Stunde las, musste ich an Deutschland denken. Ja, wir die Alternative für Deutschland kämpfen für Demokratie und für nationale Souveränität. ({0}) Diese sind in Deutschland durch Coronazwangsmaßnahmen und die resultierenden Einschränkungen der bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheit, durch EU-Zentralismus und durch vieles andere gefährdet. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der SPD, stellen sich hinter die Protestierenden in Weißrussland, in Deutschland allerdings werden von Ihnen Regierungskritiker, Coronademonstranten und Dissidenten als Rechtsextremisten verunglimpft. Zeugt das nicht von zweierlei Maß oder gar Heuchelei? ({1}) Stellen wir fest: In Weißrussland gab es eine Präsidentenwahl, bei der es zu Wahlfälschungen und Unregelmäßigkeiten kam. Das ist zweifelsfrei der Fall. ({2}) Golos, eine Nichtregierungsorganisation, die der weißrussischen Opposition nahesteht, kam gleichwohl zu dem Schluss, dass Lukaschenko die Wahlen mit fast 62 Prozent gewann. Ob allerdings die Mehrheit der Weißrussen nach wie vor hinter der Regierung steht, das wissen wir schlicht und einfach nicht. ({3}) Doch eins ist klar: Die Weißrussen wollen keine zweite Ukraine, sie wollen kein Chaos, sie wollen keine Einmischung von außen. Sie wollen selbst über ihr Schicksal entscheiden. ({4}) In Weißrussland geht es wie in der Ukraine um die Integrationskonkurrenz zwischen der Europäischen Union und Russland. Zumindest einzelne Staaten der EU – man denke an Polen oder Litauen – wollen die Weißrussen aus dem russischen Orbit herauslösen. Das will der Kreml verhindern. Er will Weißrussland in seinem geopolitischen Raum, in seiner Einflusssphäre halten. Moskau schwebt zur Vollendung der Wirtschaftsunion eine gemeinsame Währungszone vor. Weißrussland ist sicherlich ein wirtschaftlich starkes und wohlhabendes Mitgliedsland der Eurasischen Wirtschaftsunion. Das Pro-Kopf-Einkommen war dort 1991 genauso hoch wie in der Ukraine. Heute haben die Weißrussen ein doppelt so hohes Einkommen wie ihre ukrainischen Nachbarn. ({5}) Der Fehler von Lukaschenko war es, während seiner Schaukelpolitik beide Seiten, EU und Russland, zu verschaukeln und so lange an der Macht zu bleiben. Ich meine, wir erleben ja in Deutschland, wohin das führt. ({6}) So kommt es, dass der weißrussische Präsident im Westen keine Freunde gewann und gleichzeitig den russischen Freund verlor. Auch wenn Lukaschenko nach Sotschi und sicherlich nicht nach Canossa ging, wird der Kreml doch Loyalität einfordern und sicherlich Zugeständnisse haben wollen für die 1,5 Milliarden Dollar. Aber niemand in Moskau strebt ernsthaft an, Weißrussland zu schlucken. 43 Prozent der Russen lehnen eine Vereinigung beider Staaten ab – das ergab eine Umfrage in Russland –, während nur 17 Prozent dafür sind. Die nationale Souveränität Weißrusslands steht daher, entgegen dem Titel Ihrer Aktuellen Stunde, nicht auf dem Spiel. Übrigens sollte man, wenn man eine Aktuelle Stunde beantragt, vielleicht auch den offiziellen Staatsnamen verwenden: Das ist die Republik Weißrussland. ({7}) Auch wir in Deutschland und die Europäische Union sollten nicht wie die baltischen Staaten mit einseitigen Sanktionen und einseitiger Anerkennung von Frau Tichanowskaja als weißrussischer Präsidentin kommen. Stattdessen sollten wir hinter dem von Präsident Lukaschenko auf russischen Druck hin angeregten Verfassungsprozess stehen. Dieser wird auch von hochrangigen weißrussischen Oppositionellen wie Wiktor Babariko unterstützt. So unterstützen wir am besten eine behutsame, schrittweise Entwicklung zur Demokratie und wahren gleichzeitig die weißrussische Souveränität. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich persönlich habe heute drei bemerkenswerte Reden gehört. Zum einen die des Kollegen Lutze; ich kann nicht jeden Satz unterstreichen, aber viele Aussagen – ich hoffe, der Applaus spricht dafür, dass das die Meinung der gesamten Linksfraktion war – fand ich bemerkenswert und richtig. ({0}) Aber insbesondere waren es zwei Reden aus den Reihen der AfD-Fraktion, die an Schamlosigkeit nicht mehr zu unterbieten waren, weil sie insinuieren, es würde hinsichtlich der Regierungszeit, der Regierungsform und des Vorgehens staatlicher Institutionen irgendwelche Parallelen zwischen Weißrussland und der Bundesrepublik Deutschland geben. Es ist ein probates Mittel von diktatorischen Regimen, die Opposition, vor allen Dingen das Volk, wenn es den Diktator nicht mehr unterstützen will, zu diffamieren; ({1}) aber Deutschland und der Deutsche Bundestag sind, erst recht 30 Jahre nach der friedlichen Wiedervereinigung, gut beraten, an der Seite derjenigen zu sein, die für Menschenrechte, Demokratie, freie Meinungsäußerung eintreten. Und an der Stelle stehen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, und nirgendwo anders. ({2}) In dem Sinne, nur so und ohne irgendwelche geopolitischen Interessen mischen wir uns ein, weltweit. ({3}) In der letzten Woche haben wir hier eine Aktuelle Stunde zu China durchgeführt. Ich habe ebenso wie andere die katastrophale Situation der Uiguren in China angesprochen. Das tun wir. Menschenrechte sind nicht teilbar. Sie müssen überall angesprochen werden und angesprochen werden dürfen. Das ist keine Einflussnahme auf fremde Interessen, sondern das ist einfach ein Eintreten für grundlegende Menschenrechte überall auf der Welt. Da muss Deutschland stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) – Natürlich auch in Saudi-Arabien, selbstverständlich, vollkommen richtig; das ist mehrfach gesagt worden. Weil diese Rechte in Belarus verletzt werden und weil es ein Aufstand des Volkes ist und nicht irgendwelcher Oppositioneller, ist es richtig, dass jetzt gehandelt wird. Ich möchte wiederholen, was der Außenminister hier dargelegt hat: Deutschland hat in dieser Frage eine klare Position eingenommen, geht nachvollziehbar vor und erhöht den Druck. Der Bundesaußenminister hat angekündigt, Herr Kollege Sarrazin, dass im EU-Rahmen beim Außenministerrat am Montag der nächsten Woche Konsequenzen gezogen werden. Nach unserer Auffassung muss es – hoffentlich wird das von allen mitgetragen – Sanktionen geben, von denen auch der Diktator Lukaschenko betroffen ist. Ich sage dazu nur: Das ist keine Verzögerung, sondern, lieber Herr Kollege Sarrazin, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das ist Außenpolitik. ({5}) Das muss man nachvollziehbar machen, das muss man im europäischen Rahmen machen. Da muss man konzertiert und gemeinsam reagieren. Wenn wir das so machen, dann hat die Bundesregierung die volle Unterstützung eines großen Teils dieses Hauses, jedenfalls der Großen Koalition, die nach wie vor groß ist und in dieser Frage auch eine klare Position hat. So sollte weiter vorgegangen werden. ({6}) Das Nächste ist: Sanktionen sind niemals das Ende der Politik. Sie sind ein notwendiges Mittel der Politik; aber sie sind nicht das Ende der Politik. Natürlich sind wir als Europäische Union, auch als Bundesrepublik Deutschland weiterhin zur Zusammenarbeit mit Belarus – das ist übrigens die amtliche Kurzbezeichnung, Herr Kollege Friesen – bereit. ({7}) Selbstverständlich sind wir dazu bereit. Aber dazu muss es jetzt einen Dialog in dem Land geben. Dazu muss es ein Bekenntnis geben, dass diese Wahlen gefälscht waren, dass sie nicht gültig sind. Dazu müssen alle politischen Gefangenen befreit werden. Und dazu muss Belarus als letztes Land Europas endlich auch die Todesstrafe abschaffen. ({8}) Das ist eine fundamentale Verletzung von Menschenrechten, die endlich beendet werden muss. Dann sollte das aufgegriffen werden, was angeboten worden ist, wozu die OSZE und auch die albanische Präsidentschaft bereit ist: Man muss in einen Prozess eintreten, der völlig unabhängig ist, in dem selbstverständlich auch Russland und andere Staaten ihre Rolle spielen sollen und wollen. Das ist nicht eine Frage des Einverleibens in die Europäische Union, Herr Außenminister. Da würde ich einen anderen Akzent setzen. Wir einverleiben uns keinen Staat, sondern die Staaten entscheiden sich freiwillig, unserer Union beizutreten. Aber – und da bin ich in der Tat beim Kollegen der Linksfraktion – Belarus sollte eine europäische Perspektive haben; das heißt: kein Loslösen oder künstliches Trennen von Russland. Aber wenn uns diese Freiheitsbewegung etwas gezeigt hat, dann das: Europa lebt! Die Freiheit lebt! Menschenrechte leben! Das sind europäische Werte, die ein Volk dort zum Ausdruck gebracht hat. Das sollte uns stolz machen, und das erfordert von uns das Bekenntnis, dass wir an der Seite dieser Frauen und Männer stehen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johannes Schraps für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie viele von uns hier im Haus und in unserem Land beobachte natürlich auch ich die Ereignisse in Belarus seit den öffentlichen Protesten infolge der gefälschten Präsidentschaftswahl mit deutlich erhöhter Aufmerksamkeit. Der Mut und die Durchhaltefähigkeit, mit denen die Protestierenden in Belarus die weiß-rot-weißen Farben durch die Straßen von Belarus tragen und für freie und faire Wahlen und für ein demokratisches Gesellschaftsmodell eintreten, sind bewundernswert. Wenn ich noch einmal stellvertretend für viele weitere Namen die Namen Tichanowskaja, Kolesnikowa oder Alexijewitsch nenne, dann möchte ich gern hinzufügen, dass mir insbesondere die Rolle zahlreicher starker Frauen in dieser friedlichen Protestbewegung größte Bewunderung und allerhöchsten Respekt abverlangt, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich freue mich, dass das von vielen Vorrednerinnen und Vorrednern hier im Haus auch schon deutlich festgestellt wurde. Wenn man die Bilder aus Minsk und vielen anderen Orten in Belarus sieht, dann ist es allerdings schwer zu fassen, dass ein solch offensichtlicher Wahlbetrug und vor allem eine derartige Gewalt gegen friedliche Demonstranten in unmittelbarer Nähe der Grenzen zur Europäischen Union stattfinden. Aus dem Präsidium des oppositionellen Koordinationsrates ist mittlerweile nur noch eine einzige Person, die bereits angesprochene Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, im Land und noch nicht – so muss man wohl sagen – verhaftet oder in ein Nachbarland ausgewiesen. Das Ausmaß an Gewalt gegen friedlich protestierende Menschen auf den belarussischen Straßen übersteigt noch mal um ein Vielfaches die Repressionen, die im vergangenen Vierteljahrhundert gegenüber jenen immer wieder angewandt wurden, die auch nur die leiseste Kritik am autoritären Regime Lukaschenkos geübt haben. Denn Repressionen – das muss man noch einmal feststellen – gehören in Belarus ja nicht erst seit diesem August zur staatlichen Normalität; sie haben seit diesem August lediglich ein anderes Level erreicht. Es ist offensichtlich – das haben auch die Bilder von vor zwei Tagen aus Sotschi gezeigt –, dass der belarussische Diktator Unterstützung aus dem Kreml bekommt, medial, diplomatisch und nicht zuletzt finanziell. Deshalb ist klar, dass es ohne die Einbeziehung von Russland nicht gehen wird. Aber hier geht es natürlich vor allem darum, dass wir uns mit den Entwicklungen in Belarus beschäftigen und überlegen, was wir tun können. Nach meinem Dafürhalten sind derzeit zwei Dinge besonders wichtig: Zum einen müssen wir dafür sorgen, dass die Situation in Belarus weit oben auf der politischen Agenda verbleibt. In der heutigen schnelllebigen Gesellschaft kann es ganz schnell passieren, dass andere Themen wieder in den Vordergrund treten. Deshalb ist diese Aktuelle Stunde auch ganz wichtig, da sie dazu beiträgt, dass die Situation in Belarus auf der politischen Agenda verbleibt. Auch für die Protestierenden in Belarus – die Kollegin Gyde Jensen hat es gerade angesprochen – ist es ein ganz wichtiges Signal, dass ihr Eintreten für Demokratie hier und in weiteren Parlamenten der Europäischen Union ein Thema ist und der Druck auf Lukaschenko weiter hochgehalten wird. Zum anderen ist eine klare und abgestimmte Haltung zu den Ereignissen in Belarus notwendig. Wir müssen weiterhin deutlich machen, dass wir das Lukaschenko-Regime nicht anerkennen und dass wir insbesondere die Gewalt gegen friedliche Demonstranten nicht tolerieren. ({1}) Der EU-Sondergipfel war in dieser Hinsicht schon ein ganz wichtiges Signal; denn die Präsidentschaftswahlen am 9. August waren weder fair noch frei. Das Ergebnis wird von der Europäischen Union eben auch nicht anerkannt; das hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gestern noch mal deutlich unterstrichen. Die EU hat auch klargemacht, dass sie Alexander Lukaschenko persönlich nicht als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennen wird, und hat damit sowohl den Wahlprozess als auch Lukaschenko ganz konkret in Zweifel gezogen. ({2}) Sanktionen – das haben die EU-Mitgliedstaaten vereinbart – werden auf den Weg gebracht. In die gezielten Sanktionen gegen Personen, die an Menschenrechtsverletzungen in Belarus beteiligt sind, sollte nach meinem Dafürhalten – das haben auch einige Vorredner schon betont – möglichst schnell und zwingend auch Lukaschenko selbst mit einbezogen werden. Damit kann man möglicherweise eine bisher nicht vorhandene Gesprächsbereitschaft erzwingen. Wichtig ist, dass wir europäisch koordiniert agieren und schnell eine gemeinsame europäische Strategie für die Unterstützung der belarussischen Zivilgesellschaft entwickeln; denn seit dem Wahltag – die Zahlen haben sich in den letzten Tagen sicherlich noch mal verändert – gab es mehr als 8 000 Verhaftungen. Dazu liegen den Vereinten Nationen über 450 Berichte über Folter in Polizeigewahrsam vor. Diese Opfer brauchen schnell rechtlichen Beistand, sie brauchen schnell finanzielle Unterstützung, und sie brauchen auch politische Unterstützung. Das ist eine der Aufgaben, die wir während unserer EU-Ratspräsidentschaft in der Koordination wahrnehmen müssen, ({3}) damit auch die Kernforderungen der Protestierenden in Belarus unterstützt werden: das Ende der Gewalt, die Freilassung der Gefangenen, der Rücktritt Lukaschenkos und die Durchführung freier und fairer Wahlen, möglichst unter Hinzuziehung internationaler Beobachter.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schraps, Sie müssen zum Schluss kommen.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – In diesem Hohen Haus wird zu Recht immer wieder betont, welche historische Verantwortung wir gegenüber unseren östlichen Nachbarn haben. In diesem wichtigen Moment der belarussischen Zivilgesellschaft zur Seite zu stehen und möglichst viel dazu beizutragen, dass die Entwicklung eines souveränen, unabhängigen und demokratischen Belarus als Nachbar der Europäischen Union gefördert wird, das muss für uns in Deutschland, aber auch für die gesamte Europäische Union das Gebot der Stunde sein. Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Elisabeth Motschmann das Wort. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marija Kolesnikowa, Swetlana Tichanowskaja und Weronika Zepkalo – diese drei Namen der Frauen, die so mutig in Belarus kämpfen, kann man gar nicht oft genug nennen. Wofür kämpfen sie? Für freie Wahlen, für Demokratie, für Pressefreiheit, für die Freilassung der politischen Gefangenen. Sie wollen überdies einen eigenen Weg für Belarus – weder nach Westen geneigt, noch nach Russland. Das alles sind für uns Selbstverständlichkeiten, aber sie müssen dafür entweder ins Gefängnis, werden aus dem Land verwiesen oder müssen um ihr eigenes Leben bangen. Lieber Herr Friesen, wenn Sie den Protest dieser Demonstranten in Belarus vergleichen mit den Protesten und Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen, dann haben Sie Politik überhaupt noch nicht verstanden. Das ist eine Verharmlosung der Gewalt, die gegen die Demonstranten angewandt wird. ({0}) Über den Wahlbetrug ist hier schon vielfach geredet worden. Ein wichtiges Zeichen der Bundesregierung war, dass man sehr schnell reagiert und diese Wahlen nicht anerkannt hat. Doch wie geht es nun weiter? Die Demonstrationen auf den Straßen werden fortgeführt. Es vergeht keine Woche, in der wir nicht Bilder von verprügelten, gefolterten und gewaltsam inhaftierten Männern und Frauen sehen. Das ist unerträglich! Oppositionelle werden inhaftiert und an Leib und Leben bedroht. Auch das ist unerträglich. Journalisten – darüber reden wir vielleicht noch zu wenig – können ihre Arbeit nicht mehr frei ausüben, und das nicht nur in Belarus, sondern weltweit. Das ist eine Entwicklung, die uns Sorge machen muss. Die Journalisten sind zunehmend Gewalt ausgesetzt, nicht nur in Belarus, und das kann uns nur beunruhigen. Was mich jedoch mit am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass Einschüchterungsversuche unternommen werden, indem man Frauen vergewaltigt. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! ({1}) Wir stellen fest, dass sich die Menschenrechtslage in Belarus dramatisch verschlechtert hat. Während wir noch überlegen, welche Sanktionen denn die richtigen sind und wer gelistet werden soll – ich hoffe sehr, dass Lukaschenko dabei ist; das sage ich ganz ausdrücklich –, reist Herr Lukaschenko zu Putin und hofft auf Unterstützung. Er bekommt sie auch: 1,5 Milliarden Dollar. Ob das etwas an dem drohenden Staatsbankrott ändern kann, wage ich zu bezweifeln; denn die Wirtschaft in diesem Land liegt am Boden, und da sind 1,5 Milliarden Dollar nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir erinnern uns: Putin bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das habe ich immer im Hinterkopf, wenn ich seine Truppen sehe, wenn ich seine Äußerungen vernehme, wenn ich Herrn Lawrow höre. Die Gier dieses Landes ist groß, und wir müssen da sehr aufpassen. Das betrifft gar nicht mal nur die militärische Invasion, sondern längst ist das Regime von Putin in die Verwaltungen und in die Medienanstalten eingedrungen und versucht, das Land sozusagen von unten zu unterwandern. Wir wissen sehr genau, mit welchen Methoden Putin im Ernstfall kämpft – Herr Nawalny liegt nicht weit von hier in der Charité. Was kann die Europäische Union tun? Trotz der Drohgebärden aus Russland müssen wir die Zivilgesellschaft und den friedlichen Protest unterstützen. Wir müssen auch all die Strukturen, die die Demonstranten jetzt aufgebaut haben, unterstützen und versuchen, die notwendigen Gespräche, wo immer sie möglich sind, stattfinden zu lassen. Eines ist klar: Um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, muss die Wahl natürlich wiederholt werden, und zwar hoffentlich schnell. Jede Verzögerung auf dem Weg zu freien und fairen Wahlen führt zu einer Zuspitzung der innenpolitischen Lage in Belarus und damit auch zur Gefahr der Gewaltanwendung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Motschmann, auch Sie müssen bitte jetzt zum Punkt kommen.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, ich schweige auch gleich. – Herr Lukaschenko versucht, die Demonstranten zum Schweigen zu bringen. Wir allerdings dürfen nicht schweigen zu diesem Unrecht. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Frank Schwabe das Wort. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Auch ich will mich bedanken und ein Lob aussprechen, gerichtet an die mutigen Menschen in Belarus. In erster Linie – das haben zwei Rednerinnen und Redner schon vor mir gesagt; ich will es aber auch noch mal hervorheben – sind es mutige Frauen, die im Übrigen von zumeist vermummten Männern daran gehindert werden, für Demokratie einzutreten. Das sind Swetlana Tichanowskaja, Marija Kolesnikowa und Swetlana Alexijewitsch und viele andere, die dort entsprechend unterwegs sind. Wir sind in großer Sorge um diese Frauen – wir machen das ja in großer Einigkeit deutlich –, und wir widmen ihnen eine große Aufmerksamkeit. Die aufgeklärte Welt ist diesen engagierten Frauen, diesen engagierten Menschen, zu Dank verpflichtet. ({0}) Ich freue mich über die große Einigkeit, die wir hier im Hohen Haus haben, jedenfalls von da bis dort. Das gilt auch für das, was Herr Lutze hier für die Linksfraktion deutlich gemacht hat. Wir bangen und hoffen alle miteinander mit denen, die in Belarus für Demokratie und Freiheit einstehen. Es ist aber nicht nur Belarus. Nach meiner Ansicht gibt es Anzeichen für eine vielleicht aufkommende Zeitenwende. Wir haben ein Jahrzehnt eines aufkommenden Autoritarismus in Europa hinter uns. Ich finde, wir können Anzeichen dafür erkennen, dass sich das Ganze jetzt wieder in eine andere Richtung entwickeln kann. Immerhin ist in Ungarn ein Oppositionspolitiker zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt worden. In Polen war der Ausgang der Präsidentschaftswahl unter diesen schwierigen Bedingungen ganz knapp. In der Türkei war es möglich, dass in den großen Städten Oppositionelle als Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gewählt wurden. Das können wir als Demokratinnen und Demokraten auch mal selbstbewusst zur Kenntnis nehmen. Möglicherweise läutet das, was wir in Belarus sehen, eine Zeitenwende in Europa ein. ({1}) Ich lade Belarus ausdrücklich dazu ein – so wie viele andere auch –, 48. Mitgliedstaat des Europarats zu werden; Russland ist ja zum Glück Mitglied geblieben als 47. Mitgliedstaat. Dann wären fast alle europäischen Staaten außer dem Kosovo und dem Vatikan mit dabei. Die Grundvoraussetzung dafür ist aber, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte durchzusetzen und in der Tat in Belarus die Todesstrafe abzuschaffen. Das, was wir zurzeit erleben, ist allerdings mit solchen internationalen Standards nicht vereinbar. Wir sehen eben massive Wahlfälschungen. Ich weiß nicht, wie man auf die Idee kommen kann, daraus eine Legitimation abzuleiten. Lukaschenko hat keine Legitimität. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass die Wahlergebnisse komplett spiegelverkehrt zu dem sind, was das offizielle Wahlergebnis ausdrückt. Wir sehen brutalste Gewalt auf den Straßen. Und es werden Menschen auf den Straßen in Belarus totgeprügelt, während hier in Deutschland alle Menschen noch für die absurdesten Dinge wie Chemtrails friedlich auf die Straße gehen können und nicht daran gehindert werden. Das zu vergleichen, ist wirklich absurd und ist ein Hohn für die Menschen, die dort um ihre Freiheit kämpfen. ({2}) Wir sehen, dass politische Gefangene in Haft sind. Ich will mich bei all denjenigen bedanken, die dafür sorgen – und das ist sehr spannend –, dass wir in der Lage sind, die Situation überhaupt zu bewerten, mitzubekommen, was dort los ist – ich will unter anderem Nechta erwähnen –, und die mit ihrer Plattform in den sozialen Medien sicherstellen, dass wir mit dabei sein können. Und ich glaube, auch das läutet eine neue Zeit von Transparenz ein. Es hat sich auch in Belarus gezeigt, dass die Versuche, soziale Medien und das Internet zu unterdrücken, am Ende nicht gefruchtet haben. Wir wissen, was dort los ist, und ich finde, das ist bemerkenswert. Und wir müssen denjenigen, die das dort tun und die für Transparenz sorgen, sehr dankbar sein, weil sonst wahrscheinlich Schlimmeres passiert wäre, auch mit den mutigen Menschen, die dort entsprechend demonstrieren. ({3}) Wir müssen alles dafür tun, mitzuhelfen, dass Belarus im 21. Jahrhundert ankommt, dass die internationalen Organisationen tätig werden können. Die OSZE ist prädestiniert für solche Fragen. Aber ich will auch noch mal den Europarat erwähnen. Wir haben die Venedig-Kommission, die in der Lage wäre, für Belarus auch ein Stück weit Leitplanken mit zu entwickeln, wie man das Land entsprechend modernisieren kann. Russland ist mehrfach angesprochen worden. Ich erwarte – und das können wir leider bisher nicht sehen – absolute Zurückhaltung aus Russland. Das wird eingefordert aus dem Westen. Es ist mehrfach deutlich gemacht worden: Das ist eben kein Ost-West-Konflikt, und Russland würde am Ende den eigenen Kredit in Belarus, den es hat, verspielen, wenn es daraus seinerseits einen solchen Ost-West-Konflikt machen würde. Deswegen muss es höchste Zurückhaltung bei allen geben, aber eben auch in Russland. Auch wir sollten uns zurückhalten, was die Einflussnahme für den einen oder den anderen angeht. Wo wir uns aber nicht zurückhalten sollten, das ist die Frage von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie. Ganz im Gegenteil: Da müssen wir klar sein. Und deswegen freue ich mich, dass viele von Ihnen sich auch für einzelne Personen einsetzen. Ich tue das bei Aliaksandr Kabanau, Blogger aus Brest, Sprecher der Nominierungsgruppe rund um die Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja. Er wurde am 15. Juni verhaftet, und er muss freigelassen werden, wie die anderen politischen Gefangenen auch. ({4}) Herr Lukaschenko, entlassen Sie Belarus in eine Zukunft von Freiheit und Demokratie, die des 21. Jahrhunderts würdig ist! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sebastian Brehm das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der „Frankfurter Rundschau“ vom 14. September berichtet ein Überlebender, Igor Stankewitsch, unter der Überschrift „29 Stunden Folter im Gefängnis“ wie folgt: Sie zwangen mich auf die Knie, mit dem Kopf auf den Boden, die Hände auf den Rücken gefesselt. Dann schlugen sie mit Stöcken auf mein Gesäß ein, immer wieder, und schrien mich an: „Was gefällt dir nicht bei uns?“ Igor versucht, unter den Schlägen die Muskeln zu entspannen. Die Schmerzen der Hiebe, die ins Fleisch schneiden, sind dann weniger beißend. Und er ermahnt sich, nicht zu verraten, dass er polnische Wurzeln hat und als Journalist arbeitet. Denn wenn er das zugibt, davon ist er überzeugt, dann „töten sie mich“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, und das geschieht inmitten von Europa. Es gibt massive Einschränkungen in der Presse- und Meinungsfreiheit. Belarus belegt 2019 in der jährlich erstellten Rangliste von „Reporter ohne Grenzen“ den unrühmlichen Platz 153 von 180. Es gibt keine Rechtstaatlichkeit, keine unabhängige Gerichtsbarkeit. Die Richter werden vom Präsidenten ernannt. Belarus ist das einzige Land auf dem europäischen Kontinent, das noch immer die Todesstrafe verhängt und auch vollstreckt. Und schon vor der Wahl in Belarus richteten sich staatliche Repressionen bis hin zu schwerer Folter gegen Menschenrechtsaktivisten, Oppositionspolitiker, Journalisten und Blogger, Rechtsanwälte und Gewerkschafter. Es kommt zu Einschüchterungen und schlimmsten Szenen der Polizeigewalt. Fälschungen von Wahlergebnissen und das Aus-dem-Weg-Räumen von Konkurrenten sind ein Teil des Systems. Dieses System dient seit Jahren und gerade heute auch wieder dazu, den Protesten die Kraft zu nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen hier nicht wegsehen. In Belarus werden die Menschenrechte schon seit Jahrzehnten und insbesondere jetzt mit Füßen getreten. Die aktuelle Situation ist mehr als besorgniserregend, mehr als alarmierend. Mehrere Tausend Menschen sind inzwischen inhaftiert. Allein am letzten Wochenende wurden knapp 800 Menschen verhaftet. Diesen friedlichen Menschen wird wegen unerlaubter Demonstrationen und des Auflehnens gegen die Staatsgewalt der Prozess gemacht. Erlaubt sind nur Demonstrationen der Unterstützer Lukaschenkos. Schon zu Beginn der Krise halfen sich die Menschen hier untereinander, auch in Coronazeiten; der Staat schaut weg. Durch das Land geht aber eine bisher kaum gesehene Welle an Initiativen und Hilfsaktionen. Die Menschen in Belarus wollen einen Wechsel. Sie gehen nach wie vor mutig auf die Straße, um eine friedliche Veränderung zu bewirken. Ich glaube, der große Teil des Parlaments hier steht zu den mutigen und friedlichen Menschen, vor allem zu den vielen Frauen und jungen Mädchen in Belarus. Die Proteste in Belarus haben ein weibliches Antlitz. Die Bilder dieser mutigen Frauen gehen durch die Welt, und sie verdienen unseren allergrößten Respekt und unsere breite Unterstützung. ({0}) Seit dem Jahr 1945 ist Belarus Mitglied der Vereinten Nationen. In der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 ist in Artikel 3 unmissverständlich niedergeschrieben: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Artikel 5: Niemand darf Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Artikel 9: Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden. Deswegen fordern wir von hier aus das Regime Lukaschenko auf: Setzen Sie diese UN-Menschenrechtskonvention um, und nehmen Sie die Punkte an! Lassen Sie die politischen Häftlinge frei, insbesondere Marija Kolesnikowa! ({1}) Wir wollen eine freie Berichterstattung in dem Land für Journalistinnen und Journalisten und für Bloggerinnen und Blogger. Wir wollen Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit und natürlich einen Dialog, der dazu führt, dass wir endlich freie und faire Wahlen in Belarus bekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will auch dies gerade am Ende dieser Diskussion noch sagen: Wir haben heute zwei Reden von Herrn Herdt und Herrn Dr. Friesen gehört, die die Situation in Belarus mit der in Deutschland vergleichen. Ich finde das politisch unappetitlich, und das muss man einfach auch mal so ausdrücken: Dieser Vergleich ist politisch unappetitlich. ({2}) Ich kann bloß mit einem Zitat von Dietrich Bonhoeffer schließen: Jeder ist für seine Dummheit selbst verantwortlich. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Es ist in der Tat eine ungewöhnliche Debatte, die wir jetzt führen. Es sind ungewöhnliche anderthalb Tage. Normalerweise sprechen wir, wenn wir hier sitzen, über Gesetze, über den Haushalt, manchmal auch über aktuelle Ereignisse. Aber dass wir uns jetzt vorgenommen haben, anderthalb Tage über die Zukunft, über die weite Zukunft zu sprechen, über Dinge zu sprechen, die uns selbst vielleicht gar nicht mehr betreffen, sondern kommende Generation betreffen, das ist mehr als bemerkenswert. Ich glaube, in einer Zeit des seriellen Alarmismus, wo man jede Woche ein Thema hat, dazu drei Talkshows, fünf Leitartikel und in der nächsten Woche wieder ein neues Thema, ist es gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag auch einfach mal die langen Linien zieht. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ich glaube, wenn wir bei dem einen oder anderen Thema die langen Linien früher gezogen hätten, dann hätten wir jetzt nicht Alarmentscheidungen treffen müssen, egal ob im Bereich Migration oder Klima. Ich denke, es tut uns allen gut, auch einmal ein wenig langfristiger zu denken. ({0}) Es wurde im Vorfeld der Debatte geschrieben: Ja, jetzt treffen die sich, und dann reden die dann einfach mal. Was soll das überhaupt? – Also, erstens ist das nicht richtig; darauf werde ich gleich noch kommen. Und zweitens: Wo, wenn nicht hier im freigewählten deutschen Parlament und im Deutschen Bundestag, ist denn eigentlich der Ort für langfristig ausgerichtete gesellschaftliche Debatten? Natürlich müssen wir vor jeder demokratischen Entscheidung hier diskutieren und vielleicht auch mal fernab von konkreten Gesetzen diskutieren, meine Damen und Herren. Ich denke, das ist sehr, sehr wichtig. Deswegen ist es gut, dass wir diese langen Linien ziehen; deswegen ist es gut, dass wir jetzt über Nachhaltigkeit sprechen. Ich möchte das verbinden mit einem ganz dicken Dankeschön an unseren Koalitionspartner, Kollege Miersch. Wir haben uns ganz, ganz schnell geeinigt, dass das wichtig ist und wir das zusammen auf den Weg bringen wollen. Wir mussten da aber auch Überzeugungsarbeit leisten. Ich möchte mich aber auch ausdrücklich bei der Opposition bedanken; denn Sie haben das Thema wirklich angenommen. Sie haben eine Vielzahl von Anträgen gestellt. Sie werden verstehen, dass ich die notwendigerweise nicht alle gut finde. Aber das macht die Debatte ja aus, dass man intensiv versucht, mit Anträgen irgendwelche neuen Entwicklungen anzustoßen. Deswegen ganz, ganz herzlichen Dank an die Opposition und an unseren Koalitionspartner, dass es möglich ist, jetzt anderthalb Tage lang diese Debatte zu führen. ({1}) Wir haben ganz bewusst das Thema Nachhaltigkeit gewählt, das weiter gegriffen ist – zumindest analog den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen – als das Thema Klima. Das soll das Thema Klima, liebe Kolleginnen und Kollegen, überhaupt nicht kleinmachen; denn ich glaube, es ist ein entscheidendes und wichtiges Thema. Ich glaube, wir haben dort mehr gemacht, als das manchmal in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Aber wir haben – und da beißt die Maus keinen Faden ab – auch noch nicht genug gemacht, und wir waren nicht schnell genug. Deswegen wird das Thema Klima natürlich eine zentrale Rolle spielen. Aber ich habe mal gesagt: Klimapolitik ist mehr als Dekarbonisierung, Umweltpolitik ist mehr als Klimapolitik, und Nachhaltigkeitspolitik ist mehr als Umweltpolitik. Ich glaube, diesen breiten Fokus, den sollten wir auch haben, und wir sollten ganz klar sagen: Klar ist Dekarbonisierung wichtig. Überhaupt kein Widerspruch! Aber wenn wir über Klima reden, müssen wir auch über Resilienz reden, über neue städtebauliche Konzepte, über eine neue Wasserwirtschaft oder – wie wir das in dieser Woche sehr, sehr intensiv tun – über den Wald. Das heißt, da gibt es ganz, ganz viele Punkte. Wenn wir über Umweltpolitik reden, dann geht es natürlich nicht nur um Klima, sondern da geht es um Biodiversität, da geht es um Effizienz und Kreislaufwirtschaft und auch darum, was unsere Umwelt mit ihren Veränderungen für die Gesundheit des Menschen macht; denn der Mensch muss immer im Mittelpunkt unserer Politik stehen. Nachhaltigkeit sind so unendlich viel mehr Themen als Umwelt; das zeigen ja die Nachhaltigkeitsziele. Es geht um Armut, es geht um Gerechtigkeit, es geht um Teilhabe, es geht um Bildung, es geht um neue Technologien, ja, und es geht auch um finanzielle Solidität. Es hört nicht jeder so ganz gerne, dass das auch was mit Nachhaltigkeit zu tun hat; aber das ist in der Union unser entsprechender Ansatz auch in der Haushaltspolitik. Also: Nachhaltigkeit ist ein ganz, ganz weites Thema, ein ganz, ganz weites Feld. Wir haben politische Instrumente, mit denen wir dieses Feld bearbeiten können. Ich möchte das am Beispiel Klima deutlich machen. Wir haben natürlich Verbote und Regulierungen; gefällt uns als Union nicht ganz so gut. Wir wissen aber auch, dass es Situationen gibt, wo nur Verbote und Regulierungen helfen. Was wir als Partei der sozialen Marktwirtschaft viel, viel besser finden, sind natürlich Marktinstrumente, ist Wettbewerb; das ist richtig gut. Deswegen haben wir uns ja auch beim Klimapaket dafür eingesetzt, dass wir den Zertifikatehandel auf weitere Bereiche ausdehnen. ({2}) Wir würden uns wirklich wünschen, dass die Europäische Union diesem Weg folgt, weil wir glauben: Markt ist das effizienteste Mittel, um hier etwas zu erreichen. Im Schlepptau des Marktes gibt es Technologie und Innovation. Ich glaube, gerade im Bereich „Kampf gegen den Klimawandel“ können wir unglaublich viel erreichen, wenn wir uns nicht einengen, sondern technologieoffen sind, wenn wir auch über Wasserstoff und viele, viele andere Sachen reden. ({3}) Um die Debatte jetzt nicht alleine aufs Klima zu fokussieren: Technologie ist eine Lösung auch für viele Bildungsfragen. Wir haben jetzt in der Pandemie eins gelernt: dass Bildung digitaler werden muss. Das verschafft ganz neuen Schichten Zugang zu Bildung. Das gibt uns übrigens auch die Möglichkeit, dass wir viel individueller auf das einzelne Kind, auf den einzelnen Menschen eingehen können. Deswegen sollten wir weniger über Regulierung sprechen, sondern wir sollten mehr über Technologie und Innovation sprechen. ({4}) Jetzt muss man aber in der ganzen Nachhaltigkeitspolitik natürlich eins im Blick behalten, und auch das möchte ich am Beispiel Klima erläutern: Wir müssen aufpassen, dass aus Nachhaltigkeit, dass aus Klimapolitik kein Elitenprojekt wird. Wir haben als Union den Anspruch, dass wir Nachhaltigkeits‑, Umwelt- und Klimapolitik machen, die genauso getragen wird vom Autoarbeiter im Saarland, der am Verbrennungsmotor arbeitet, wie vom Lehrer, der in Prenzlauer Berg wohnt. Das ist das Entscheidende: dass wir alle irgendwo mit einbinden, meine Damen und Herren. ({5}) Warum ist das entscheidend? Das kann ich genau sagen: weil wir aufpassen müssen, dass wir über dieses Thema nicht Verlierer produzieren und die Gesellschaft spalten. Wir müssen aufpassen, dass wir über eine Spaltung der Gesellschaft nicht in eine Situation hineinlaufen, wo bei eventuellen Regierungswechseln das Nachhaltigkeitskonzept, das langfristig ist, wieder komplett infrage gestellt wird. „Rein und raus“ funktioniert bei Nachhaltigkeit nicht, meine Damen und Herren. Wir müssen da die lange Linie ziehen. Dafür brauchen wir eine breite gesellschaftliche Mehrheit. Und wir müssen vor allen Dingen auch auf eins achten: Nachhaltigkeit fängt nicht in der Politik an, sondern bei jedem Einzelnen. Das hat was mit Eigenverantwortung zu tun; im Englischen würde man sagen „ownership“. Aber dafür müssen wir die Breite der Bevölkerung mitnehmen. Wir können nicht sagen: Diejenigen, die das momentan nicht wollen, die sollen das mal irgendwann lernen, und wir werden es ihnen beibringen. – Deswegen sind wir als Union vielleicht manchmal etwas langsamer als andere. Aber wir sind sehr inklusiv bei der Sache. Wenn wir irgendwo einen Weg gehen, dann sehen wir zu, dass wir die meisten in der Bevölkerung hinter uns haben, meine Damen und Herren. ({6}) Strich drunter. Was soll von diesen anderthalb Tagen bleiben? Abgesehen von den Anträgen, die wir gestellt haben – auch hier noch mal herzlichen Dank an unseren Koalitionspartner –, die Sie gestellt haben, abgesehen davon, dass wir viele, viele Anregungen mitnehmen für unsere Ausschussarbeit in den nächsten zwölf Monaten, ist mir wichtig, dass Folgendes bleibt: Erstens denke ich mal, dass wir auf Sicht – das werden wir nicht sofort schaffen – alle Gesetze daraufhin überprüfen sollten, welchen Nachhaltigkeitseffekt sie haben. Wir sollten diese Legislaturperiode dazu nutzen, die entsprechenden Verfahren festzulegen, und wir sollten in der nächsten Legislaturperiode damit anfangen, den Generationengerechtigkeitscheck für jedes Gesetz vorzunehmen, das wir auf den Weg bringen, meine Damen und Herren. ({7}) Zweitens bin ich der Meinung, wir als Parlament müssen uns mehr als Controlling-Instanz verstehen, als das in der Vergangenheit vielleicht der Fall war. Wir haben Nachhaltigkeitsziele, und wir haben Gesetze auf den Weg gebracht; jetzt müssen wir auch überwachen, was aus diesen Nachhaltigkeitszielen wird. Deswegen möchten wir, dass die Bundesregierung mindestens einmal – besser wäre noch öfter – in einer Legislaturperiode einen Bericht vorlegt, wie es um die Nachhaltigkeitsziele steht, wie weit wir gekommen sind, damit wir als Parlament dann auch entsprechend gegensteuern können. ({8}) Der dritte Wunsch ist – das hängt damit zusammen, Herr Krischer –: Wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen, sollten wir das nicht donnerstagabends um 22.30 Uhr machen. ({9}) Vielmehr sollten wir das wirklich ins Zentrum unserer Debatten stellen und versuchen, einen Mechanismus zu etablieren und analog zu den Haushaltswochen, für die wir uns zwei Wochen im Jahr Zeit nehmen, auch Nachhaltigkeitswochen hier im Deutschen Bundestag einzuführen. Jetzt sind es anderthalb Tage; das hat ein bisschen was mit der Pandemie zu tun, das hat ein bisschen was damit zu tun, dass wir noch am Anfang sind und lernen, wie so was geht. Aber ich möchte, dass aus diesem Lernen etwas Großes wird und dass für kommende Legislaturperioden absolut klar ist: Einmal im Jahr beschäftigt sich der Deutsche Bundestag intensiv und nachhaltig mit Nachhaltigkeit. Vielen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Dr. Alice Weidel. ({0})

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Nachhaltigkeit, das ist einer der am meisten missbrauchten Begriffe unserer Zeit. Nachhaltigkeit ist eine konservative Idee, die im Kern besagt: verantwortungsvoll handeln, in Generationen denken, Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen erhalten und keinen Raubbau an der Substanz betreiben. Deshalb ist Umwelt- und Naturschutz ein zutiefst konservatives Anliegen. Umso verhängnisvoller ist es, dass dieses Anliegen von grünen und linken Ökomarxisten gekapert und in sein Gegenteil verkehrt wurde ({0}) und dass die Union einfach mitmacht. ({1}) Die Folge ist eine dialektische Umwertung und Begriffsverdrehung, die aus jeder Zeile dieser UN-Resolution trieft. Nachhaltigkeit muss nun als Vorwand für Öko-, Klima- und Umweltsozialismus herhalten, für globale Umverteilung und Planwirtschaft im Weltmaßstab. Ihre Politik betreibt systematischen Raubbau an den Grundlagen unseres Wohlstands, unserer kulturellen Identität und damit letztlich unserer Existenz. ({2}) Sündenfall Nummer eins: Klimaschutz und Energiewende. Sie vergeuden Abermilliarden Euro für die Illusion, Deutschland könnte durch die Schleifung seines industriellen Kerns das Klima beeinflussen. Das Ergebnis ist eine gigantische Verschwendung und Fehlallokation von Ressourcen und die Lähmung produktiver wirtschaftlicher Kräfte, die für die Herausforderungen der Zukunft fehlen. Sie verschandeln unsere Wälder und Landschaften mit Windrädern, die unzählige Greifvögel und Insekten töten, ({3}) und wissen doch nicht, wo in Zukunft sicherer und bezahlbarer Strom für Haushalte und Unternehmen herkommen soll, vom enormen Zusatzbedarf für E-Mobilität ganz zu schweigen. ({4}) Sie ruinieren unsere Autoindustrie, das Rückgrat unserer Volkswirtschaft, mit absurden EU-Grenzwerten für Verbrenner und der planwirtschaftlichen Förderung von nicht wettbewerbsfähigen Elektroautos. ({5}) Über 50 000 weitere Jobs stehen aktuell in der Automobilbranche auf der Kippe: bei Schaeffler, Daimler, MAN und weiteren Unternehmen. Hunderttausende Arbeitslose werden folgen, und daran ist Corona nicht schuld. ({6}) Der zweite große ordnungspolitische Sündenfall: die Euro-Rettung und der Umgang mit der Coronakrise. Schuldenberge, Rettungspakete und Rekordsteuern sind das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit. Es sind Abermilliarden Euro, die Sie per Federstrich verschenken, die aber hierzulande fehlen. Der als Krisenbewältigung getarnte Geldsozialismus der EZB bedeutet die Verarmung von Mittelstand und Mittelschicht durch Inflation und finanzielle Repression, schleichende Verstaatlichung, ({7}) vernichtete selbstständige Existenzen. Und Sie lernen nicht aus Ihren Fehlern. Sie missbrauchen die Bilder aus Moria, um den eigenen Bürgern ein zweites 2015 aufzuzwingen. ({8}) Die Kosten der faktisch unbegrenzten Migration sprengen die Sozialsysteme und zerstören die Grundlage unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prosperität. Der damit verbundene Verlust von Meinungsfreiheit und Sicherheit unterhöhlt die Fundamente der demokratischen Republik. Eine hypermoralische Migrationspolitik, die Recht und Gesetz aushebelt und die Fakten und die Grenzen der Belastbarkeit ignoriert, spaltet die Gesellschaft, und sie spaltet Europa. ({9}) Wer unbegrenzt die Armut dieser Welt importiert, hilft den Armen nicht, sondern verarmt selbst und kann am Ende keinem mehr helfen. Nur ein Land, das seine eigenen Interessen kennt und vertritt, das seinen Wohlstand bewahrt und mehrt, kann seinen Platz in der Welt behaupten und Verantwortung für andere wahrnehmen. Sie aber tun das genaue Gegenteil, und das ist gerade nicht nachhaltig. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Matthias Miersch. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir hier im Deutschen Bundestag dieses Thema ganz exponiert diskutieren. Ich will Ihnen sagen, Frau Weidel – Sie reden von Nachhaltigkeit und Energiepolitik –: Gerade Ihre Fraktion ist doch ein Beispiel dafür, wie es nicht geht. Sie sind diejenigen, die weiter auf Atomkraft setzen wollen, durch die wir 30 000 Generationen nach uns Müll hinterlassen. Alles andere als nachhaltig, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Herr Kollege Brinkhaus, ich bin Ihnen dankbar für die Initiative, die wir gemeinsam ergriffen haben. Ich finde, wir müssen lernen – da ich bin voll bei Ihnen; wir als Parlamentarier müssen das kontinuierlich machen; ich freue mich auch immer, das von Ihnen zu hören –, dass wir selbstbewusste Parlamentarier sind; deswegen will ich hier vielleicht etwas unangenehm für die Koalition werden. Ich finde, wir als frei gewählte Abgeordnete haben die volle Verantwortung, eine solche Debatte dann auch konkret zu führen. Wir haben bei Nachhaltigkeit ein Problem: Nachhaltig kann alles und nichts sein. Die Frage, wie es konkret werden kann, ist eine, die im politischen Raum eigentlich die entscheidende ist. Selbst die globalen Nachhaltigkeitsziele – Stichwort „Bekämpfung des Hungers in der Welt“ – kann man locker unterschreiben. Die Frage ist: Wie komme ich da hin? Ich kann leidenschaftlich über Ziele 2030, 2040, 2050 streiten und damit den Versuch unternehmen, von meinen eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Deswegen ein paar sehr konkrete Punkte vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion zum Auftakt dieser Debatte. Ich will Ihnen am Anfang sagen, dass ich merke, dass wir, CDU/CSU und SPD, bezüglich einer Gewichtung, welchen Stand Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit haben, miteinander ringen müssen. Wenn ich beispielsweise höre, dass die schnelle Inkraftsetzung der Schuldenbremse ein Hauptziel der nachhaltigen Entwicklung ist, dann sage ich: Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten definieren als Erstes: Was soll dieser Staat leisten? Wir brauchen in dieser Phase Investitionen in Digitalisierung, in Bildung, in Infrastruktur. Und dann können wir gerne darüber reden, wie wir die Einnahmeseite gestalten, ob Schulden notwendig sind, ja oder nein. Aber als Erstes brauchen wir einen starken, handlungsfähigen Staat. ({1}) Das ist sozialer Zusammenhalt, das ist nachhaltige Entwicklung auch für künftige Generationen. Herr Kollege Brinkhaus, ich habe gelesen, wie Sie in der „Welt“ gesagt haben: Wenn wir eine richtige Nachhaltigkeitsprüfung gehabt hätten, dann wäre die Grundrente nicht gekommen. – Ich habe mich darüber ehrlicherweise gefreut, weil wir daran ja gesehen haben, was das für eine Leistung war, dass wir es in dieser Großen Koalition geschafft haben, das auf den Weg zu bringen. Dazu sage ich Ihnen: Nachhaltigkeit hängt, glaube ich, ganz viel mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammen, dass die Gemeinschaft, wenn es darum geht, die Lebensleistung von jemandem anzuerkennen, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, es aber trotzdem nicht zur Alterssicherung reicht, sagt: Wir sorgen für Würde. – Dann überlegen wir meinetwegen auch gemeinsam noch mal, wie wir die Finanzierung sicherstellen; aber Nachhaltigkeit und Grundrente sind kein Widerspruch, sondern ein notwendiges Paar im Hinblick auf die wichtige Frage der Alterssicherung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wenn ich über die nationalen Nachhaltigkeitsziele rede, dann bin ich auch bei den globalen Fragen. Hier sehen wir doch: Der Markt ist nicht per se nachhaltig. Der Markt braucht Regeln. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir den Hunger, die Armut in der Welt bekämpfen wollen, dann haben verdammt noch mal auch deutsche und europäische Unternehmen eine Verantwortung. Wir brauchen ein Lieferkettengesetz noch in dieser Legislaturperiode! ({3}) Der Auftakt – das ist ja belächelt worden von einigen hier in diesem Haus – für die nächste Debatte ist mit Sicherheit das Klimaschutzgesetz; denn es enthält einen jährlichen Überprüfungsmechanismus, mit dem wir die Regierung kontrollieren können. Die Philosophie, man müsse eine Charta für Energie schaffen, ist wieder so eine Nebelkerze von Peter Altmaier; leider ist er heute nicht da, ich hätte ihn gerne direkt darauf angesprochen. Vielleicht hat er es noch nicht ganz verinnerlicht, aber das Klimaschutzgesetz legt jährliche Ziele fest. Und da hat er zu liefern. Wenn er jetzt vom Ausbau der erneuerbaren Energien spricht, dann sage ich: Wir haben im Kohleausstiegsgesetz einen Anteil von 65 Prozent an erneuerbaren Energien festgeschrieben. Und es war Peter Altmaier, der noch vor wenigen Wochen den Solardeckel forderte, also den Ausbau von Photovoltaikanlagen behindert hat. Ich hätte mir gewünscht, dass er statt in seine Charta etwas mehr Arbeitskraft in die wirklich wichtigen Felder gesteckt hätte. Jetzt muss er es jedenfalls tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Meine Überlegung für den Kanzleramtsminister – er spricht noch –: Wenn diese Debatte dazu genutzt werden soll, Nachhaltigkeit sichtbar zu machen, dann nehmen Sie mal den Vorschlag mit, ob wir vielleicht an jedem Ministerium eine große Tafel anbringen, die über das Jahr hinweg anzeigt, ob diese Häuser tatsächlich ihre CO2-Minderungsziele erreichen. Das macht Druck. Dann kann ich nicht über 2030 philosophieren, sondern ich muss mich jetzt der Frage stellen, ob meine Maßnahmen tatsächlich wirken. Eine solche Tafel an jedem Haus anzubringen, fände ich ein gutes Signal, nachhaltige Entwicklung transparent zu machen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an einem weiteren Punkt die Regierung ansprechen. Wir haben das größte Konjunkturprogramm in der Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht: 130 Milliarden Euro. Das ist Geld, mit dem wir nachhaltige Entwicklung sehr schnell realisieren können. Aber wenn ich höre, dass beispielsweise bei dem großen Thema „Mobilität der Zukunft“ – Stichwort „Ausbau Ladeinfrastruktur“, „ÖPNV“ – das Verkehrsministerium sagt: „Davon kann dieses Jahr noch nichts abfließen, weil wir erst an Förderrichtlinien arbeiten“, dann kann ich nur sagen: Das stellt mich als Abgeordneten des Bundestages nicht zufrieden. – Wir haben dieses Konjunkturpaket hier beschlossen, damit es einen konjunkturellen Anreiz schafft. Deswegen muss hier richtig Dampf drauf. Ich bitte die Regierung, wirklich im Sinne dieser Beschlusslage zu handeln und nicht an neuen Plänen zu arbeiten. ({6}) Unterm Strich muss man sagen: Ich glaube, dass das Thema nachhaltige Entwicklung immer wieder konkret auf die Tagespolitik zurückgeführt werden muss. Wir haben beispielsweise noch nicht über Landwirtschaft, Nitratbelastung etc. geredet. Das alles steht auch auf dieser Agenda. Wir müssen als Parlamentarier diese Debatten nutzen, um glaubwürdig darzulegen, dass wir auf Worte Taten folgen lassen. Dazu ist die Debatte heute ein guter Auftakt. Ich bin mir sehr sicher: Weitere Parlamente werden diesen Gedanken aufgreifen, um dieses Land in eine gute Zukunft zu führen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Fraktionsvorsitzende Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vorredner sprach davon, man müsse Worten Taten folgen lassen. In dieser Debatte ist viel von Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit ökologischen Fragen des Klimaschutzes die Rede gewesen, und da ist jeder gefordert, seinen Beitrag zu leisten. Wir haben als Fraktion unseren bescheidenen Beitrag dazu geleistet, indem wir als erste Fraktion dieses Hauses klimaneutral sind. ({0}) Unser Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann und ich selbst haben unsere privaten CO2-Fußabdrücke durch die Löschung von CO2-Zertifikaten neutralisiert. Wer von Nachhaltigkeit spricht, sollte eben auch bei sich selber anfangen. ({1}) – Ja, das ist genau das Prinzip, das Sie beschreiben: mit einem marktwirtschaftlichen Mechanismus CO2 vermeiden. ({2}) Ich fände gut, wenn diese Debatte hier für uns alle ein Anlass wäre, darüber nachzudenken, ob der Deutsche Bundestag insgesamt nicht das erste CO2-neutrale Parlament der Welt sein sollte. ({3}) Lassen Sie uns bitte unterstreichen, dass Nachhaltigkeit nicht nur in ökologischer Hinsicht bedeutsam ist, sondern uns auch in ökonomischer Hinsicht in die Verantwortung nimmt. Um es plakativ in einem Satz zu sagen: Es schmelzen die Eisberge, und die Schuldenberge wachsen. Und beides müssen wir mit gleicher Aufmerksamkeit bekämpfen. ({4}) Lassen Sie mich bei der ökologischen Frage beginnen: Was ist eigentlich aus der Klimakanzlerin geworden? Was ist aus dem Klimakabinett geworden? Es gab die Bilder aus Grönland mit dem damaligen Umweltminister. Was ist daraus geworden? Nun legt Peter Altmaier den Finger in die Wunde und beschreit, wir bräuchten einen nationalen Klimakonsens. Für mich ist das nichts anderes als das Eingeständnis, dass die bisherige Klimapolitik, die seit 2005 betrieben worden ist, offensichtlich nicht wirksam war. Das belegen ja auch die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung. Sie demonstrieren ja nicht gegen uns oder gegen mich, weil sie Formulierungen blöd finden, sondern sie demonstrieren gegen Union und SPD, weil Sie offensichtlich keine Glaubwürdigkeit in der Klimafrage haben. ({5}) – Und deshalb schlage ich vor, Frau Kollegin, dass wir uns auf die Instrumente konzentrieren, die wirklich wirksam sind. Die Denkfabrik Agora, die jetzt nicht regelmäßig von liberalen Politikern zitiert wird, hatte klar nachgewiesen, dass der CO2-Zertifikatehandel unmittelbar dazu beigetragen hat, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Kollege Brinkhaus, von Ihnen hören wir zwar, es solle der Markt regeln, die operative Politik im Tagesgeschäft hört sich aber eher nach Herrn Miersch an: Tafeln, die Auskunft geben über die jährlich erreichten CO2-Einsparziele, an jedem Ministerium anzubringen. Diese Legion von Einzelmaßnahmen und Verboten, ({6}) Geboten und Subventionen haben auch Sie als Unionsfraktion mit auf den Weg gebracht. Frau von der Leyen hat heute in ihrer Rede noch zusätzliche Einzelmaßnahmen angekündigt. Das wird uns nicht weiterbringen. Wenn Frau von der Leyen für die Europäische Union heute das Einsparziel 55 Prozent vorgibt, dann brauchen wir morgen auch bei der politischen Methodik eine Trendwende: Markt und Wettbewerb sind die besten Klimaschützer, und deshalb sollten wir auf sie systematisch vertrauen. ({7}) Im Übrigen wäre ein solcher Innovationswettbewerb für uns auch eine wirtschaftliche Chance, die Spitzentechnologien im Cleantech-Bereich hervorzubringen, die wir auf den Weltmärkten auch rentabel verkaufen können, ein doppelter Nutzen zur Sicherung unseres Wirtschaftsstandorts sowie ein Beitrag zur Überlebensfrage der Menschheit. Das scheint aber nicht überall angekommen zu sein, auch nicht im Umfeld der Bundesregierung. Wenn ich sehe, dass das Umweltbundesamt noch im November 2019 eine Studie vorgelegt hat, nach der sozusagen der Goldstandard, um die Klimaneutralität 2050 zu erreichen, sei, dass wir uns ab 2030 – ich zitiere – vom Wirtschaftswachstum befreien, dann kann ich darin kein gangbares Szenario für die Industrienation Deutschland erkennen. ({8}) Im Gegenteil: Wenn das Umweltbundesamt davon spricht, dass wir uns vom Wirtschaftswachstum über einen Zeitraum von 20 Jahren, 2030 bis 2050, befreien sollten, dann kann ich das angesichts von Kurzarbeit und von Menschen, die um ihre wirtschaftliche Existenz in der Coronazeit fürchten, nur als blanken Zynismus begreifen. ({9}) Wir brauchen beides: ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit sowie eine prosperierende Wirtschaft. Denn, Herr Miersch, wie soll das eigentlich gehen? Wie funktioniert denn Ihr handlungsfähiger Staat, von dem Sie hier gesprochen haben, in einer alternden Gesellschaft, die aufgrund von Migration zusätzlich sozialen Integrationsbedarf hat? Wie soll das, wenn weniger Menschen erwerbstätig sind, anders gehen als dadurch, dass wir wirtschaftliche Prosperität haben? Übrigens: Die Handlungsfähigkeit des Staates ist nicht nur ein Gebot der Gegenwart, sondern auch künftige Generationen, die heutigen Kinder und Enkel, haben dereinst ein Recht auf einen handlungsfähigen Staat. Deshalb muss selbstverständlich die Schuldentragfähigkeit – man könnte auch sagen: die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen – ein wesentliches Ziel sein. ({10}) Schnellstmöglich müssen wir deshalb zur Politik der ausgeglichenen Haushalte, wie sie unser Land seit 2011 ja verfolgt, zurück. ({11}) – Ja, natürlich. Das macht jeder Kaufmann im Mittelstand: Während der Krise löst er Reserven und Rücklagen auf, nutzt das, was er an Eigenkapital hat, um über die Krise zu kommen. Aber wenn er einen Tag weniger lange solide wirtschaftet als notwendig, dann ist es die nächste Krise, die ihn aus der Kurve wirft und in die Leitplanke führt. ({12}) Insofern: Natürlich müssen die öffentlichen Haushalte wieder resilient werden, und das gelingt durch die Haushaltsneutralität. Dann müssen wir hinsichtlich der Nachhaltigkeit fragen, wie und wofür wir öffentliche Aufwendungen eigentlich einsetzen. Herr Brinkhaus, dass Sie hier allen Ernstes einen Generationencheck verlangen, ist doch nun wirklich angesichts der Politik der vergangenen Jahre, die Sie zu verantworten haben, Ausdruck von Humor. Sie haben ein Rentenpaket beschlossen, bei dem die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt auf 80 Milliarden Euro anwachsen. ({13}) Die Sozialversicherungsbeiträge werden in den 20er-Jahren auf über 40 Prozent steigen. Da brauche ich keinen Generationencheck, um Ihnen zu sagen: Diese Politik treibt einen Keil zwischen die Generationen. ({14}) Deshalb: Verehrte Anwesende, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Staat hatte im vergangenen Jahr 1 Billion Euro an Sozialausgaben – bei niedrigster Arbeitslosigkeit und höchstem Beschäftigungsstand erstmals mehr als 1 Billion Euro! –, und deshalb, Herr Miersch, ist die Frage nicht: Wie bekommen wir zusätzliches Geld ins System, über Schulden oder über Steuererhöhungen? Nein, das ist nicht die Alternativsituation; das ist eine Scheinalternative. Es muss die Frage gestellt werden, wie wir die bisherigen Staatsausgaben so neu verteilen, dass sie nicht nur in den Gegenwartskonsum gehen, sondern beispielsweise durch die Stärkung von Bildung, Forschung, Innovation und Infrastruktur auch künftigen Generationen zugutekommen. Das ist die entscheidende Frage. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für Die Linke die Kollegin Amira Mohamed Ali. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir reden diese Woche über Nachhaltigkeit. Das Thema ist wirklich nicht neu. Seit Jahrzehnten wird darüber geredet – auch hier im Hause. Aber wie viel hat das bisher gebracht? Auf jeden Fall zu wenig! Denn trotz der vielen Debatten und Erklärungen geht die Entwicklung seit Jahrzehnten in die falsche Richtung. Das belegt auch der sogenannte Earth Overshoot Day. So bezeichnet man den Tag, an dem die innerhalb eines Jahres nachwachsenden natürlichen Ressourcen durch uns aufgebraucht sind. 1970 war das der 29. Dezember; in diesem Jahr war er bereits am 22. August – und das ist doch wirklich alarmierend. ({0}) Aber trotzdem sind das Einzige, was wirklich nachhaltig stattfindet, Sonntagsreden, in denen von Regierungsseite bekundet wird, man würde den Ernst der Lage erkennen und entschlossen handeln. Genau das passiert dann aber leider nicht. Dabei muss die Bundesregierung jetzt endlich das tun, was jahrzehntelang versäumt wurde: entschlossen die richtigen Weichen für unsere Zukunft stellen und nicht immer nur die falschen. ({1}) Wenn ich über falsche Weichenstellungen rede, muss ich an unseren Verkehrsminister denken. Wie sieht eigentlich die Nachhaltigkeitsbilanz von Andreas Scheuer aus? Die Maut in den Sand gesetzt, Abermillionen von Steuergeldern verpulvert, und die neuen Projekte schließen da an: der sogenannte Deutschlandtakt und der Schienenpakt; das reimt sich zwar, aber deswegen ist es nicht gut. Das Ziel des Schienenpaktes hört sich zumindest erst mal gut an: Es sollen mehr Güter auf die Schiene. Das wäre in der Tat dringend notwendig, um Klimaziele zu erreichen. Wenn man sich aber die Pläne näher ansieht, dann ist das doch sehr ernüchternd. Bis 2030 soll der Anteil von Gütern auf der Schiene von 19 auf gerade einmal 25 Prozent ansteigen. Herr Scheuer nennt das einen Masterplan; für mich ist das ein Minischritt; das sind Tropfen auf heiße Steine. ({2}) Das reicht wirklich nicht. Durch den sogenannten Deutschlandtakt sollen die großen Städte besser miteinander verbunden werden. Die Züge sollen zum Beispiel nicht mehr im Stunden-, sondern im Halbstundentakt zwischen den großen Metropolen fahren. Die Idee ist ja schön, aber leider vollkommen unzureichend. Vor allem geht sie am wirklichen Problem vorbei. Das Problem besteht ja nicht darin, dass man so schlecht von Hamburg nach Berlin kommt. Das Problem ist, dass einige Regionen überhaupt keine Bahnanbindung mehr haben. Wenn man zum Beispiel von der schönen Altmark nach Berlin fahren möchte, ist man auf einen Rufbus angewiesen, um zunächst nach Stendal zu kommen. Aber auch von dort fährt so gut wie kein ICE mehr. In den letzten 25 Jahren hat die Deutsche Bahn 5 400 Kilometer Bahnstrecke aus Kostengründen stillgelegt. Ganze Regionen wurden abgehängt, und das wird mit Ihrem Deutschlandtakt nicht ansatzweise rückgängig gemacht. Aber genau hier muss man doch ansetzen, um die dringend notwendigen Alternativen zum Auto zu schaffen. ({3}) Und genau deshalb ist es eben nicht nachhaltig, Autofahren einfach teurer zu machen. Solange Menschen dringend auf das Auto angewiesen sind, werden sie es weiter nutzen. Es wird sie nur finanziell stärker belasten. Und das trifft insbesondere Menschen mit niedrigen Einkommen besonders hart. Die Verkehrswende muss aber so geschehen, dass sie nicht zulasten derjenigen geht, die ohnehin wenig haben. ({4}) Wir reden übrigens hier nicht nur über ein Problem auf dem Land. In meiner Heimatstadt Oldenburg, einer Stadt mit 170 000 Einwohnern, sagte mir kürzlich eine Krankenschwester, dass sie gerne den ÖPNV nutzen würde, um zur Arbeit zu fahren, dass aber, wenn sie morgens um sechs zur Frühschicht muss, noch kein Bus fährt. Ich meine, das ist genau die Klimapolitik, die Menschen nicht mitnimmt – in diesem Fall im doppelten Sinn. ({5}) Wo ist eigentlich die Strategie der Bundesregierung für den Individualverkehr? Man muss sagen: Deutschland hat den Umstieg auf Zukunftstechnologien hier vollkommen verschlafen. Das Ergebnis ist, dass heute Tausende Arbeitsplätze in der Automobil- und Zulieferindustrie in Gefahr sind, jetzt noch verstärkt durch die aktuelle Coronakrise. Aber es geht nicht, dass die Beschäftigten die Zeche für die von Ihnen versäumten strategischen Entscheidungen zahlen. ({6}) Klimapolitik, die Menschen nicht mitnimmt, erleben wir auch in der Wohnungspolitik; denn dort werden die Kosten zum Beispiel für Wärmedämmung oder den Einbau energiesparender Heizungen wie selbstverständlich auf die Mieterinnen und Mieter abgewälzt. Aber es geht doch nicht, dass Menschen Angst haben müssen vor der energetischen Sanierung ihrer Wohnung, weil sie befürchten müssen, dass sie danach ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das ist doch wirklich das Letzte. ({7}) Eine Sache ist doch wirklich klar: Wer heute Angst davor hat, morgen finanziell nicht mehr über die Runden zu kommen, der kann sich auch nicht um Nachhaltigkeit von übermorgen kümmern, Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Und wir reden hier nicht von einer verschwindenden Minderheit. Gerade musste die Bundesregierung auf unsere Nachfrage hin zugeben, dass 15 Millionen der jetzigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter arm sein werden. ({9}) Das ist mehr als ein Drittel der heute Beschäftigten. Hier muss die Bundesregierung dringend gegensteuern; ({10}) denn ohne soziale Sicherheit sind Nachhaltigkeit und Klimaschutz nicht zu erreichen. Aber statt genau dafür zu sorgen, laden Sie die Verantwortung für ökologische Nachhaltigkeit gerne kurzerhand beim Verbraucher ab. Konsumkritik wird geübt. Fakt ist jedoch: Viele Menschen in unserem Land haben aus finanziellen Gründen gar nicht die Möglichkeit, nachhaltig zu konsumieren. Wenn ich am Tag nur wenige Euro für Essen und Trinken zur Verfügung habe, dann habe ich kaum die Möglichkeit, im Supermarkt die teureren ökologischen Produkte zu kaufen. Das Gleiche gilt für Kleidung und für andere Verbrauchsgüter. Aber selbst wenn alle Menschen in diesem Land genug Geld hätten, wäre es trotzdem schwierig, nachhaltig zu konsumieren, weil dafür die Transparenz fehlt. Es gibt keine nachvollziehbare Produktkennzeichnung. Auch ein Biosiegel hilft da nicht weiter; denn ein Bioapfel aus Südafrika hat eine wesentlich schlechtere Ökobilanz als ein konventionell angebauter Apfel aus der Region. ({11}) – Ja, danke. – Insgesamt mangelt es nicht an Siegeln und Kennzeichnungen. Es fehlt aber an Übersichtlichkeit und vor allem an verbindlichen gesetzlichen Kriterien. ({12}) Oft genug – machen wir uns nichts vor – geht es bei den immer neuen Siegeln und Kennzeichnungen nicht um Nachhaltigkeit, sondern um Marketing. Und es geht eben nicht, dass man die Nachhaltigkeit von Produkten den Unternehmen überlässt. Die Bundesregierung muss sie in die Verantwortung nehmen. Sie muss verbindliche Regelungen aufstellen und deren Einhaltung auch kontrollieren. Denn Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Unternehmen wie Nestlé oder Bayer/Monsanto die Gewinnmaximierung für ihre Aktionäre freiwillig an den Nagel hängen, um stattdessen ökologisch nachhaltige Produkte herzustellen. ({13}) Nestlé zum Beispiel ist ein Konzern, der in Südafrika Wasserrechte kauft und auch in schwersten Dürrezeiten die lebenswichtigen Wasserreserven dort leerpumpt, um dann dieses Wasser in Plastikflaschen weltweit teuer zu verkaufen. Oder denken Sie an Bayer/Monsanto, die Milliardenumsätze zum Beispiel mit dem krebserregenden Glyphosat machen, die auf skrupellose Art und Weise Landwirte im globalen Süden in die Abhängigkeit von ihrem Saatgut und ihren Pflanzengiften treiben und damit Ökosysteme zerstören und die Menschen in der Region krank machen. Sie erwarten hier nicht ernsthaft freiwilliges moralisches Verhalten. Das kann wirklich nicht Ihr Ernst sein. ({14}) Wer an diesen Zuständen etwas ändern will, der braucht den Mut und den Willen, sich mit den mächtigen Konzernen anzulegen, mit den Konzernen, die von diesem umwelt- und klimaschädlichen System hemmungslos profitieren. Aber an diesem Mut und diesem Willen mangelt es der Bundesregierung. Frau Ministerin Klöckner dreht lieber Werbevideos mit Nestlé-Managern. Statt die EU-Ratspräsidentschaft dafür zu nutzen, die dringend notwendige Agrarwende einzuleiten und endlich konsequent nachhaltige Landwirtschaft zu fördern, treibt die Bundesregierung lieber das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur voran. Das wird unter anderem dazu führen, dass noch mehr Futtermittel aus Südamerika für die furchtbare industrielle Massentierhaltung importiert wird. Dafür wird dann zum Beispiel in Brasilien noch mehr Regenwald gerodet, und die grüne Lunge der Welt wird weiter vernichtet. Das muss ein Ende haben. ({15}) Ich fasse zusammen: Echte Nachhaltigkeit braucht soziale Sicherheit. Und es braucht eine Regierung, die den Mut hat, sich gegen die Profitinteressen der Konzernlobbyisten zu stellen, um Klimaschutz, die Rettung der Artenvielfalt und den Erhalt unserer Ökosysteme durchzusetzen. Für beides kämpft Die Linke. Danke schön. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Himmel über San Francisco war die letzten Tage öfters orangefarben, und das nicht morgens oder abends, sondern zur Mittagszeit. Was aussah wie aus einem apokalyptischen Film geschnitten, war die Realität und kein Science-Fiction. Aber nicht nur in Kalifornien sind die Auswirkungen der Klimakrise inzwischen deutlich sichtbar. In Sibirien gibt es eine Hitzewelle, wie sie seit Menschengedenken nicht bekannt war; die Tundra brennt. In Australien – es ist erst wenige Monate her – sind im Südsommer Tausende und Abertausende von Quadratkilometern Land abgebrannt. Auch bei uns in Deutschland haben wir in vielen Regionen inzwischen den dritten Dürresommer in Folge. Ich war die letzten Wochen öfters in NRW unterwegs und muss sagen: Ich kannte es theoretisch, aber ich war wirklich verblüfft, zu sehen, wie flächendeckend da inzwischen die Wälder anfangen abzusterben, wie du in manchen Regionen keine einzige lebende Fichte mehr findest. Die Klimakrise ist keine Fiktion mehr. Sie ist jetzt in Deutschland angekommen. ({0}) Wir müssen schnell handeln, um das Ganze noch in den Griff zu kriegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie nichts gemacht haben. Manchmal haben Sie sogar was Richtiges gemacht. ({1}) Aber Sie haben die existenzielle Bedrohung durch diese ökologischen Krisen, durch die Klimakrise und die drohende sechste Aussterbekatastrophe, niemals in ihrer Bedeutung anerkannt oder verstanden. Sie haben die Klimakrise nicht als die Krise behandelt, die sie ist, und Sie haben leider auch die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen nicht so ernst genommen, wie es notwendig gewesen wäre. ({2}) Das Klimapaket vom letzten Jahr – das sagen Ihnen Ihre eigenen Gutachter – reicht nicht aus, um die Ziele zu erreichen. Der Ausbau von Windkraft an Land liegt am Boden. Das neue EEG droht durch komplizierte bürokratische Ausschreibungsregelungen jetzt auch noch den Ausbau der Photovoltaik zu erschweren. Mit Technik- und Innovationsfeindlichkeit haben Sie mit dazu beigetragen, die Autoindustrie in die Krise zu führen. Dort sind jetzt Tausende von Arbeitsplätzen bedroht. ({3}) Der Bundeswirtschaftsminister hat ja recht, wenn er sagt, dass Sie damit das Vertrauen vieler Menschen und weiter Teile der jungen Generation enttäuscht und verloren haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, lieber Herr Kollege Brinkhaus, es ist ja schön, wenn wir hier schöne Reden halten. Es ist auch schön, wenn der Wirtschaftsminister dafür sorgen will, dass parteiübergreifend die Realität der Klimakrise anerkannt wird, dass es einen Konsens gibt, wie wir Klimaneutralität erreichen wollen. Zwar ist der Zeitpunkt interessant, aber besser spät als nie. Wenn Sie bereit sind, wirklich über Maßnahmen zu sprechen, sind wir jederzeit bereit, mit Ihnen über diese Maßnahmen zu sprechen. ({4}) Aber damit das Ganze mehr wird als ein PR-Coup, brauchen wir, ehrlich gesagt, keine Debatte, wo das Haus der Energiewende hinkommt, sondern dafür brauchen wir endlich ein EEG, und zwar ganz konkret als Gesetz, das dafür sorgt, dass der Ausbau von Wind und Sonne wieder richtig anspringt. ({5}) Wissen Sie, wir müssen uns auch nicht lang darüber unterhalten, dass es eine Klimaschutzagentur auf EU-Ebene gibt, sondern wir bräuchten eine Bundesregierung, die sich richtig für ambitionierte Klimaschutzziele einsetzt und vor allem ihre Blockade gegen ambitionierte Flottengrenzwerte bei der Autoindustrie endlich aufgibt. Das wäre notwendig. ({6}) Ich habe auch, ehrlich gesagt, überhaupt nichts dagegen, wenn es weitere Stiftungen gibt. Wir haben zwar schon viele, aber mein Gott. Aber was wir vor allem bräuchten, damit das Ganze ernst gemeint wirkt, das sind Maßnahmen. Wir brauchen einen schnelleren Kohleausstieg. Wir brauchen einen Abbau von umweltschädlichen Subventionen. Wir brauchen endlich einen wirksamen CO2-Preis. Wir brauchen eine ganze Reihe von Maßnahmen, damit endlich die Verkehrswende vorangeht, nachdem im Verkehr seit 2005 der CO2-Ausstoß de facto nicht gesunken ist. ({7}) Wenn Sie bereit sind, über diese konkreten Maßnahmen zu sprechen, die wirklich helfen, dann lassen Sie uns sprechen, dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren! ({8}) Wir müssen auch intensiv darüber reden, wie wir Klimaneutralität mit Erhalt unseres Wohlstands verbinden, damit das Ganze so gestaltet ist, dass es eine Vorbildfunktion hat, dass es Sogkraft entwickelt, dass andere Länder Lust haben, es nachzuahmen. Wenn Sie darüber mit der Industrie sprechen, dann stellen Sie fest: Selbst Industrien wie die Stahlindustrie, bei denen man früher als Grüner dachte: „Das wird nicht einfach“, sind deutlich weiter als die Bundesregierung. Diese Stahlindustrie sagt einem, sie wollen kein Handlungskonzept Stahl, sondern sie wollen endlich Handlungen. Sie wollen endlich einen Contract for Difference, damit sie endlich Stahlwerke bauen können, die auf Grünem Wasserstoff beruhen, und damit über 90 Prozent CO2 einsparen. Lassen Sie uns das endlich gemeinsam auf den Weg bringen! ({9}) Lassen Sie uns darüber reden, dass es beim Kampf gegen die Klimakrise wirklich gerecht zugeht! Deswegen brauchen wir eine sozialökologische Transformation. Deswegen brauchen wir Unterstützung für die Beschäftigten. Deshalb: Lassen Sie uns keine Zeit mehr verschwenden! Die Klimakrise ist eine Riesenherausforderung. Handeln wir jetzt; denn noch ist es nicht zu spät. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Kanzleramtsminister Dr. Helge Braun. ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Minister:in)

Politiker ID: 11003510

Herr Präsident! Hohes Haus! Diese erste Runde der Debatte will ich einmal positiv so zusammenfassen: Alle sind dafür, dass Deutschland Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit ist. Und dann fangen wir an, uns über die verschiedenen Facetten dieses Themas zu streiten. Ich will Sie alle ganz herzlich einladen: Wir sollten im Deutschen Bundestag angesichts der Größe der Herausforderung, die vor uns steht, den Schulterschluss zeigen und das Thema Nachhaltigkeit gemeinsam angehen; denn die Aufgabe hat eine Dimension, die vieles von dem sprengt, was sich manche vorstellen. Ich habe 1992 das Buch „Das Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama gelesen. Ich fand die Vorstellung total faszinierend, dass in der Welt Demokratie und soziale Marktwirtschaft das so überragende und gut funktionierende Gesellschaftssystem werden, dass sich die ganze Welt dieses Systems annimmt und in der Folge internationale Konflikte überhaupt nicht mehr auftreten. ({0}) Im Jahr 2015 haben wir die Nachhaltigkeitsziele gemeinsam beschlossen. Wenn wir uns anschauen, wie sich die Welt seitdem verändert hat, dass Wertungswidersprüche weltpolitisch aufgetreten sind und wie diese Rückwirkungen auf unser Leben hier in Deutschland haben, dann stellen wir sehr deutlich fest, dass das Nachhaltigkeitsziel 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ momentan so stark unter Druck geraten ist, wie ich es mir zu Beginn meiner politischen Arbeit nie hätte vorstellen können. Deshalb ist es eine große gemeinsame Aufgabe, dass Deutschland geschlossen dasteht. Deshalb hat die Bundesregierung stets die Stimme für das internationale Recht, für den Multilateralismus erhoben und hat in den letzten Jahren so viel Geld für die Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben wie in keiner Periode zuvor. Das kommt in der Welt auch an. Das sieht man zum Beispiel an der Studie, die vom Pew Research Center veröffentlicht worden ist, die deutlich gemacht hat: Die Menschen weltweit vertrauen keinem Regierungschef so sehr wie Angela Merkel aus Deutschland. Das ist ein gutes Zeichen für unsere internationale Reputation. ({1}) Oft ist gesagt worden: Wir müssen bei Nachhaltigkeit ehrgeizig sein. Nachdem ich in der Bundesregierung die Verantwortung über die Nachhaltigkeitsstrategie übernommen habe, habe ich als Erstes darum gebeten, dass wir einmal aufschreiben, wo wir schlecht sind. Herr Miersch, Sie wissen, seit 2009 hängt an jedem öffentlichen Gebäude sichtbar ein Energieausweis. Also, der erste Teil ist erfüllt. Das Zweite ist, dass wir gemeinsam – Frau Schulze und ich – beim Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen haben, dass wir verbindlich bis 2030 alle öffentlichen Gebäude des Bundes nach dem Standard EH 55 sanieren. Also auch da sind wir auf dem Weg, gehen als Bund voran. Nur: 16 Bundesministerien zu sanieren, ist keine große Strategie, die die Nachhaltigkeit voranbringt. Was wir allerdings noch gemacht haben, ist, dass wir bei jedem Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie genau geschaut haben, wo wir einen sogenannten Off-Track-Indikator haben. Wo sind wir hinter unseren Zielen? Dann habe ich das mit jedem einzelnen Minister abgeglichen, und wir haben gefragt: Was müssen wir tun, um da besser zu werden? Das ist sozusagen nicht der populäre Teil: „Was macht die Bundesregierung selber?“, sondern das ist die Frage: Nehmen wir unsere politische Verantwortung wahr? Wir haben auf jeden dieser Off-Track-Indikatoren reagiert und haben überall Maßnahmen eingeleitet, um besser zu werden. Darauf kommt es im Kern wirklich an. ({2}) Der Indikator – über ihn wird hier gerade am meisten geredet –, bei dem wir den größten Rückstand haben, ist natürlich das große Thema, dass wir als Industrienation einen sehr hohen Primärenergiebedarf haben und dass wir ihn sehr stark aus fossilen Energien decken. Aber auch bei der Frage, ob es jetzt sinnvoll ist, dass wir eine Debatte darüber führen, ob wir nicht ehrgeizig genug sind, müssen wir uns einmal eines überlegen: Wir haben in dieser Legislaturperiode die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ eingesetzt, die unter Einbindung aller NGOs, der deutschen Wirtschaft und der Regionen, die das hauptsächlich betrifft, in harten, langen Verhandlungen einen Konsens zu der Frage, wie der Kohleausstieg aussehen soll, erarbeitet hat. Und ich finde, wenn man sich den gesellschaftlichen Konsens über Nachhaltigkeitsziele wünscht, dann muss man das Ergebnis einer solchen Kommission erst einmal anerkennen und kann nicht, wenn es einem in einer Richtung nicht passt, sagen: Das ist zu wenig ehrgeizig. ({3}) Für den gesellschaftlichen Konsens sollten wir genau das tun, was dort beschlossen worden ist. ({4}) Und, damit Sie sich nicht so aufregen, auch Herr Lindner: Ich finde übrigens auch marktwirtschaftliche Methoden hervorragend. Aber genau deshalb hat doch die Bundesregierung beschlossen, jetzt auch in den nationalen Brennstoffemissionshandel einzusteigen. ({5}) – Selbstverständlich ist das ein marktwirtschaftliches Instrument. ({6}) Und deshalb haben wir auch da eine grundlegende Veränderung unseres Wirtschaftens im Hinblick auf die CO2-Armut der Zukunft. Und dann die ideologische Wasserstoffstrategie. ({7}) – Sie können sich untereinander nachher vielleicht noch unterhalten. Ich würde kurz noch etwas beitragen. ({8}) Zur Wasserstoffstrategie – ich glaube, sie ist auch noch nicht jedem ganz klar –: Wir werden in Zukunft aus völlig anderen Weltregionen möglicherweise unsere Primärenergie, die dann Grüner Wasserstoff ist, decken als heute. ({9}) Das hat globale Veränderungen zur Folge. Das ist eine riesige Chance. Auch da können wir in Zusammenarbeit mit anderen Weltregionen Wohlstand schaffen – für uns, aber auch Wohlstand für andere – und mit dem Schaffen von Wohlstand gleichzeitig unsere Klimaziele erfüllen. ({10}) – Das ist das Grundproblem der Grünen. – Wissen Sie, vor zehn Jahren hat Kofi Annan einmal gesagt: Wir müssen „die Mär von der Wahl zwischen Wohlstand und Nachhaltigkeit entlarven“. Und er hat uns damals das Zeugnis ausgestellt: Deutschland hat den Weg einer grünen Wirtschaft, die auf sauberen, erneuerbaren Energien gründet, eingeschlagen und beweist damit, dass Wohlstand und Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen können. Und das muss unser Ziel sein, danach handelt die Bundesregierung. Ich bitte Sie alle, daran mitzuwirken. Herzlichen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! In 2015 hat die UN-Versammlung die Agenda 2030 zur nachhaltigen Entwicklung mit den 17 dazugehörigen Zielen angenommen. Die Agenda stellt dabei in ihrer Präambel unmissverständlich klar, dass die Hauptaufgabe der Agenda und der 17 Ziele die Bekämpfung der Armut in der Welt ist. Diese Vision einer Welt, in der jeder Einzelne seine eigenen Grundbedürfnisse und die seiner Familie durch eigene Leistung decken kann, ist eine gute Vision. Im Jahr 2017 hat dann die UN messbare und quantifizierbare Indikatoren eingeführt, um den nationalen, kontinentalen oder globalen Fortschritt bei der Erreichung der 17 Ziele erfassen zu können. Diese Indikatoren sind gut gemeint, aber in vielen Punkten kontraproduktiv. Etliche der Indikatoren bieten darüber hinaus Fehlanreize, bei denen eine Erfüllung der Kriterien entweder keine oder sogar eine gegenteilige Wirkung auf das dazugehörige Ziel entfaltet. Indikator 1.b.1 bemisst zum Beispiel die Höhe der öffentlichen Sozialausgaben im Kampf gegen die Armut. Dies bedeutet, wenn es keine Armut mehr gäbe und es keine öffentlichen Ausgaben zur Bekämpfung von Armut bräuchte, dann wäre man auf einem schlechten Weg, die Armut zu bekämpfen. Meine Damen und Herren, so ein Indikator ist widersinnig. Wir sind nicht dann auf einem guten Weg, die Armut zu bekämpfen, wenn wir Unsummen zur Bekämpfung von Armut aufbringen müssen. Wir sind dann auf einem guten Weg, die Armut zu bekämpfen, wenn wir keine Sozialprogramme mehr brauchen. ({0}) Eine Gesellschaft, in der sich jeder von seiner Hände Arbeit sein eigenes Dach über dem Kopf leisten kann, ist besser als jedes Programm zum sozialen Wohnungsbau. Einen weiteren Fehlindikator finden wir zum Nachhaltigkeitsziel 12: Reduzierung der Menge an weggeworfener Nahrung. Das klingt gut, aber schauen wir genauer hin: Welche Gesellschaften sind es, in denen keine Nahrungsmittel weggeworfen werden? Es sind diejenigen, in denen man hungert. Die Gesellschaften, in denen vor Hunger auch bis zur Gesundheitsgefährdung verdorbene Nahrungsmittel verzehrt werden müssen, sind die Gesellschaften, die diesen Indikator tatsächlich am besten erfüllen, weil sie nichts wegschmeißen. Ist das erstrebenswert? Nein, meine Damen und Herren, wenn wir wirklich den Hunger auf der Welt zurückdrängen wollen und wollen, dass die Menschen nicht nur Nahrung haben, sondern auch ausgewogene Nahrung, dann müssen wir diesen Menschen auch diese Auswahlmöglichkeiten auf den Teller legen; dann bleibt am Ende des Tages auch einmal etwas übrig. Um dies zu erreichen, muss nicht mehr rationiert werden, es muss einfach mehr produziert werden. ({1}) Die beiden gerade genannten Beispiele zeigen eine Form von Indikatorblindheit auf, die zu einer Pervertierung der Nachhaltigkeitsziele beiträgt. Der Weg wird zum Ziel. Man hat den Indikator im Blick, nicht mehr das Nachhaltigkeitsziel. Komplett die Nachhaltigkeit aus dem Fokus verloren hat die Bundesregierung aber bei der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Während die Vereinten Nationen in der Landwirtschaft eine höhere Produktivität und gesteigerte Erträge an Nahrungsmitteln fordern, um damit den Hunger zu bekämpfen, lässt die Bundesregierung Windräder und Solarzellen auf unseren fruchtbaren Böden errichten. Während man im Süden händeringend um jeden Flecken Ackerland kämpft, um damit Menschen zu ernähren, wird in Deutschland auf über 900 000 Hektar Mais angebaut, der niemanden ernährt, sondern den man für Biogas verrotten lässt. Das, meine Damen und Herren, ist keine nachhaltige Politik. Das ist eine Verschwendung von landwirtschaftlicher Anbaufläche und eine eklatante Verletzung des globalen Nachhaltigkeitszieles 2: Beendigung des Hungers. ({2}) Nachhaltigkeitsziel 7 der Vereinten Nationen fordert eine bezahlbare, zuverlässige, nachhaltige und moderne Energieversorgung für alle. Die Bundesregierung und die in dieser Frage nur pseudooppositionellen Fraktionen der Grünen, der Ex-SED und der FDP leiten daraus ab, dass man die teuerste und „dümmste Energiepolitik der Welt“ installiert, wie das „Wall Street Journal“ diese Politik in 2019 bezeichnet hat. Das Attribut „verlässlich“ taucht nur noch als Lippenbekenntnis auf, während „bezahlbar“ in den Diskussionen gar keine Rolle mehr spielt. Damit ist die Energiepolitik Deutschlands nur mehr eine Karikatur von Ziel Nummer 7. Wenn man sich Ihre Energiepolitik anschaut, ist das auch überhaupt kein Wunder. Seit 20 Jahren betreibt die Bundesregierung – sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Gelb und Schwarz-Rot – eine Politik, die Strom und Energie in Deutschland immer teurer und immer unzuverlässiger macht. Seit 20 Jahren verfehlte Politik, seit 20 Jahren nicht nachhaltig und seit 20 Jahren durchideologisiert gegen die Interessen des eigenen Volkes! ({3}) Weil wir gerade bei ideologiegetriebener Politik sind: ({4}) Kernkraft ist nachhaltig. Die Haltung der Vereinten Nationen ist in dieser Frage eindeutig. ({5}) – Herr Miersch, Sie stehen komplett alleine da. – Wenn die Fraktionen von Grünen und Linken sowie der Herr Miersch hier also antinukleare Anträge im Rahmen der Nachhaltigkeitswoche präsentieren, so ist dies nur ein weiterer Beweis für die Ideologie, mit der in Deutschland mit dem Thema Nachhaltigkeit umgegangen wird. Sollten also auch Sie dieser Verschwörungstheorie der Nichtnachhaltigkeit der nuklearen Energieerzeugung anhängen, dann können Sie sich an einige Kollegen wenden; ({6}) die können Ihnen ein kleines Aluhütchen basteln. ({7}) Glauben Sie denn ernsthaft, dass Sie die alten Visionen der Menschheit – eine Welt ohne Hunger, ohne Armut, mit begrünten Wüsten – damit Wirklichkeit werden lassen, dass Sie ein Energiesystem fördern, das mit maximalem Material- und maximalem Flächenaufwand für eine unzuverlässige, dem Zufall unterworfene sporadische Energieerzeugung sorgt? Das Gegenteil ist der Fall. Der von Ihnen aufgezeigte Weg der sozialistischen Mangel- und Verzichtswirtschaft ist ein Irrweg. ({8}) Für die Umsetzung der positiven Visionen der Menschheit ist es unerlässlich, dass wir mehr Energie erzeugen – viel mehr. Wir sollten damit beginnen, immense Mengen an preiswerter Energie zu erzeugen, um diese in den Dienst dieser Ziele zu stellen. Folgt man dem Nachhaltigkeitsziel Nummer 7, so ist es die Kernkraft, die zur preiswertesten, verlässlichsten, nachhaltigsten und modernsten Form der Energieerzeugung führt, auch wenn Ihnen das nicht gefällt. ({9}) Und zuletzt: Motto der Agenda 2030 ist „Leaving no one behind“ – Niemanden zurücklassen! Wann, liebe Bundesregierung, haben Sie diesem Vorsatz eigentlich abgeschworen? Oder haben Sie ihn eigentlich nie angenommen und akzeptiert? Ihre Politik lässt massiv Menschen zurück, und zwar unsere Bürger. Ihre Währungspolitik vernichtet die Altersersparnisse der Rentner; sie werden der Armut überlassen. ({10}) Energie ist in Deutschland teuer geworden. Viele können sich diese nicht leisten und frieren im Winter. Ihre Wirtschaftspolitik gefährdet Hunderttausende von Arbeitsplätzen und zerstört Existenzen. Und Ihre Vision eines Totalumbaus der nationalen Wirtschaft ist ein geradezu größenwahnsinniges Gesellschaftsexperiment ohne Netz und doppelten Boden. ({11}) Jetzt, in der von Ihnen verstärkten Lockdown-Krise, ist nicht die Zeit, eine sozialistische Planwirtschaft einzuführen. Jetzt ist die Zeit, uns Nachhaltigkeitsziel Nummer 8 ins Bewusstsein zu rufen: Vorantreiben eines anhaltenden, umfassenden und nachhaltigen Wirtschaftswachstums, volle und wertschöpfende Arbeit und annehmbare Beschäftigung. Dies müsste jetzt, in genau dieser Zeit, im Zentrum Ihrer Wirtschaftsbemühungen stehen – nicht Ihre einseitig klimaideologisierte Einmischung zum Beispiel in die Luftfahrt oder in den Automobilsektor. Hören Sie auf, die Bürger dieses Landes zurückzulassen! Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht, und beenden Sie Ihre deutschlandfeindliche Wirtschaftspolitik! Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Katja Mast. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über Nachhaltigkeit ist nicht nur eine Zieldebatte, sondern auch eine Handlungsdebatte. Nachhaltigkeit muss man auch definieren. Bei aufmerksamem Zuhören heute wurde klar, dass sie sehr unterschiedlich definiert wird. Deshalb will ich für mich und für die SPD-Bundestagsfraktion noch mal definieren, was Nachhaltigkeit ist. Sie bedeutet nicht, wie Herr Lindner suggeriert, nur Ökonomie und Ökologie in Einklang zu bringen; sie bedeutet, Ökonomie, Ökologie und Soziales in Einklang zu bringen. ({0}) Mit diesem In-Einklang-Bringen meine ich dauerhaftes In-Einklang-Bringen. Deshalb, lieber Toni Hofreiter, bin ich froh, dass wir es in dieser Legislatur nicht nur geschafft haben, beim Ausstieg aus der Atomenergie zu bleiben, sondern dass wir auch aus der Kohle aussteigen. Das ist nämlich das größte ökologische Ziel dieser gemeinsamen Regierung, und ich finde, beim Thema Ökologie haben wir geliefert. ({1}) Ich spreche hier aber auch zur sozialen Säule der Nachhaltigkeit, weil sie in der Debatte bisher eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Der Sozialstaat hält unser Land zusammen. Sogar in unserer Verfassung steht: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Der Sozialstaat ist der Kitt. Er bedeutet Zusammenhalt, zum Beispiel in Form von Nachbarschaftshilfe, aber auch die Absicherung über soziale Sicherungssysteme, und der Sozialstaat – und deshalb ist es mir so wichtig, dass wir nicht nur bei Ökonomie und Ökologie stehen bleiben – ist der Garant für Wohlstand und Wachstum in unserem Land. Auch das gehört zum Sozialstaat dazu. ({2}) Unsere Handschrift als SPD vor Corona, während Corona und nach Corona ist, dass wir den Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland ausbauen, weil er den Menschen Sicherheit gibt. ({3}) Deshalb geht es uns um Folgendes: Der Sozialstaat bzw. soziale Sicherheit heißt erstens, dass wir würdevolle Arbeit heute und in Zukunft organisieren, garantieren und mitgestalten, indem wir für Schutz und Chancen im Wandel sorgen. Das haben wir heute im Kabinett mit der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes gemacht. ({4}) Wir machen das, wenn wir endlich dazu kommen, Werkverträge und Leiharbeit in der deutschen Fleischindustrie zu verbieten, ({5}) und wir machen es, wenn wir hoffentlich zusammenkommen bei einem Lieferkettengesetz, das nicht nur den deutschen Arbeitsmarkt in den Blick nimmt oder nur bis zu den Grenzen Europas wirkt, sondern international, weltweit dafür sorgt, dass Anstand und Respekt überall dort gelten, wo deutsche Unternehmen produzieren und Handel betreiben. Das ist würdevolle Arbeit. ({6}) Zweitens geht es beim Sozialstaat um Sicherheit. Es geht darum, Lebensrisiken abzusichern. Es geht darum, Vorsorge zu treffen und zu unterstützen, wenn Menschen sich nicht selbst helfen können. Das haben wir an vielen Punkten gemacht, zum Beispiel beim Rentenpakt. Das tun wir aber auch mit dem Kinderzuschlag, den seit Corona dreimal so viele Leute in unserer Republik bekommen. ({7}) Sozialstaat bedeutet drittens soziale Gerechtigkeit. Ja, soziale Gerechtigkeit ist mehr als Generationengerechtigkeit. Natürlich ist Generationengerechtigkeit wichtig; das ist der Inbegriff von Nachhaltigkeit, aus der Forstwirtschaft kommend. Es geht aber um mehr: Es geht um Verteilungsgerechtigkeit, es geht um Leistungsgerechtigkeit, es geht um Chancengerechtigkeit, es geht um Geschlechtergerechtigkeit, und es geht um Teilhabegerechtigkeit. Das mag sich für viele – bei der FDP gibt es jetzt Lachen – wie eine Aufzählung anhören, ({8}) dahinter stecken aber ganz konkrete Maßnahmen, wie der soziale Arbeitsmarkt, der Teilhabegerechtigkeit ermöglicht. ({9}) Bei dem Ziel, mehr Frauen in die Führungspositionen der Wirtschaft zu bekommen – auch in die Vorstände von börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen –, geht es um Geschlechtergerechtigkeit. ({10}) Herr Brinkhaus – mein Kollege Miersch hat Sie schon angesprochen –, ich habe mich richtig geärgert über Ihr Zitat in der „Welt“ am Wochenende. Dass Sie behaupten, die Grundrente sei nicht nachhaltig, ({11}) das ist haushalterisch betrachtet, hat aber nichts mit Leistungsgerechtigkeit zu tun; ({12}) es hat nichts damit zu tun, dass wir die Rentenversicherung damit stabilisieren und die Anerkennung steigern. ({13}) Da haben wir eine fundamental unterschiedliche Haltung zum Thema Nachhaltigkeit. ({14}) Die SPD steht für diesen Sozialstaat ein. Wir wissen, er muss sich weiterentwickeln, weil Digitalisierung, Globalisierung und demografischer Wandel den Sozialstaat vor neue Herausforderungen stellen. Für uns ist aber klar, dass es darum geht, dass die Menschen nicht Bittstellerinnen und Bittsteller im Sozialstaat sind, ({15}) sondern dass sie im Sozialstaat auf Augenhöhe behandelt werden, dass der Sozialstaat ihr Partner ist. Dafür haben wir ein Konzept; wir wissen, wie wir das weiterentwickeln wollen. ({16}) Deshalb ist für uns klar: Wir stärken das Soziale und bringen es in Einklang mit Ökonomie und Ökologie. Damit handeln wir nachhaltig und mit Weitblick. ({17})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Dr. Lukas Köhler. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist weit mehr als Umweltpolitik. Sie ist das Prinzip, bei dem es darum geht, in der Zukunft die gleichen, wenn nicht sogar noch mehr Chancen und Möglichkeiten für die Menschen zu haben, als es heute der Fall ist. Damit ist die Nachhaltigkeit im Kern und zutiefst eine liberale Idee, deren Zeit schon längst gekommen ist. ({0}) Die Frage ist aber: Mit welchem Leitmotiv kann man eine solche Idee umsetzen? Da gibt es zwei Ansätze: Man kann versuchen, Nachhaltigkeit durch Verzicht zu erreichen. Dabei geht es um die puritanische Idee der Selbstgeißelung. Es geht darum, in eine Welt zurückzukehren, die es so nie gab: eine Welt, in der man vermeintlich im Einklang mit der Natur lebte, in der es vermeintlich keine Krankheiten gab, in der es ewigen Sommer gab, in der man von der Hand in den Mund leben konnte. Die Welt dieser Idealvorstellung gibt es nicht; es gab sie auch noch nie. ({1}) Die Idee dahinter ist: Erst durch Leiden und Verzicht können wir der Welt etwas Gutes tun. ({2}) Die Belohnung für einen solchen leidvollen Weg sind ein gutes Gewissen und eine gefühlte moralische Überlegenheit. Das ist der falsche Weg, das ist ein reaktionär-konservativer Weg. Frau Weidel – ich sehe sie nicht mehr; aber vielleicht können Sie ihr das mit auf den Weg geben –, ich glaube, das ist die Art von Nachhaltigkeit, die Sie eben beschrieben haben. ({3}) Es gibt ein zweites Leitbild auf dem Weg in die Nachhaltigkeit, eines, das Umwelt und Wirtschaft nicht als Gegensatz sieht, das nicht zu einer Vergangenheit zurückwill, die es nie gab, sondern in eine bessere Zukunft. Wenn wir der Idee von Innovation und Fortschritt folgen, dann werden Probleme als Chancen verstanden. Die aktuellen technologischen Sprünge zeigen, dass heute jeden Tag der Fortschritt genau das tut, was er tun muss, nämlich die Probleme unserer Zeit zu lösen, sei es in der Digitalisierung, in der Energiewirtschaft oder in der Klimatechnologie. Dafür brauchen wir entsprechende politische Rahmenbedingungen. Man kann aber darüber diskutieren, welcher Weg der richtige ist. Der Earth Overshoot Day wurde schon angesprochen. Wir haben eine weltweite Wirtschaftskrise, wie wir sie noch nie gesehen haben. Wir haben ein historisches Ausmaß in der Rückentwicklung unserer Wirtschaftsleistung, und über die Grundrechtseinschränkungen, die erst dazu geführt haben, dass es so weit gekommen ist, brauchen wir gar nicht zu reden. Und was hat das gebracht? Der sogenannte Earth Overshoot Day hat sich um magere 24 Tage nach hinten verschoben. Das zeigt doch schon, dass diese Idee der Verzichtslogik, diese Idee der Reduktion von Wirtschaftswachstum nicht der richtige Weg ist. Auf der anderen Seite haben wir die Idee von Klimaschutz und Innovation. Der europäische Emissionshandel hat mit genau diesen Instrumenten zu einer CO2-Reduktion um 34 Prozent geführt. ({4}) Das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren. Das ist der Weg, den wir gehen müssen. Dieses Leitbild, dieser Weg, das ist es, was am Ende des Tages die Probleme dieser Welt lösen wird. Marktwirtschaft und Wettbewerb sind es, die Innovationen anreizen; denn erst dann werden Probleme gelöst, erst dann werden die Herausforderungen von morgen schon heute in die Hand genommen. Das ist der Weg, den wir in unserem Antrag skizzieren. Wir freuen uns, wenn Sie dem folgen. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Wort, und es kann auch nicht mehr beliebig verwendet werden, schon gar nicht als Weichmacher. Die Weltgemeinschaft – Herr Brinkhaus, das ist der gesellschaftliche Rückhalt – hat vor fünf Jahren gemeinsam konkrete Ziele beschlossen und festgelegt, dass bis 2030 kein Mensch mehr in Armut leben soll, alle Kinder eine kostenlose Schulausbildung bekommen und alle Menschen einen Platz zum Wohnen haben. Sie hat gemeinsam beschlossen, dass die Meere nicht mehr zugemüllt und überfischt werden und dass sie alle Tier- und Pflanzenarten vor dem Aussterben retten will. Dafür lohnt es sich, gemeinsam zu kämpfen. ({0}) Alle Ziele sind im Übrigen gleichrangig; es gibt keine Rosinenpickerei. Das haben, glaube ich, einige hier auch noch nicht wirklich verstanden. ({1}) Es gibt nationale Ziele, Indikatoren und Messlatten. Aber in einer Zeit, in der Dürre und Hitze die Klimakrise immer spürbarer machen, in einer Zeit, in der Armut und Hunger wieder zunehmen, in einer Zeit, in der Rechtspopulisten das Recht des Stärkeren wieder einfordern, gerade in dieser Zeit hat die Bundesregierung fast die Hälfte ihrer Nachhaltigkeitsziele nicht erreicht. Einen Satz aus dem Koalitionsvertrag hat sie immer wieder vergessen – ich zitiere –: Die Agenda 2030 ist „Maßstab des Regierungshandelns.“ Das zeigt, Strukturen und Regeln hier im Parlament müssen sich ändern. ({2}) Der Parlamentarische Beirat, den Sie hoffentlich alle kennen, hat dafür Vorschläge unterbreitet: Erstens. Alle Gesetze sollen schon im Entstehungsprozess einem Nachhaltigkeits-TÜV unterzogen werden. Zur Gesetzesfolgenabschätzung gehört ein offener Umgang mit Zielkonflikten und gehört, zu prüfen, ob andere Länder in ihrer nachhaltigen Entwicklung durch uns nicht negativ beeinflusst werden. Zweitens. Ein Nachhaltigkeitskontrollrat soll eingesetzt werden. Denn auch für die Agenda 2030 brauchen wir einen internen Wachhund, damit der Satz „Die Agenda 2030 ist Maßstab des Regierungshandelns“ nicht wieder verloren geht. Und drittens. Der Beirat soll zu einem Ausschuss für nachhaltige Entwicklung aufgewertet werden. Denn seien wir ehrlich: Die Wirkmächtigkeit des Beirates ist sehr begrenzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion steht hinter diesen Vorschlägen. Wir haben sehr intensiv für einen gemeinsamen, interfraktionellen Antrag geworben. Dass dies nicht geklappt hat, zeigt für mich: Wenn es ernst wird mit Nachhaltigkeit, dann klaffen Reden und Handeln in der Koalition leider weit auseinander. ({3}) Trotzdem möchte ich Sie einladen: Schließen Sie sich an, und stimmen Sie unserem Antrag zu! Der Ruf nach überparteilichem Konsens ist ja bei Ihnen gerade in Mode gekommen. Im Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit gibt es diesen Konsens. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nachhaltigkeit ist eine Erfindung der Grünen. Bevor jetzt Toni Hofreiter die Hosenträger schnalzen lässt, sage ich aber, wen ich mit den Grünen meine, nämlich die Förster, die im 18. Jahrhundert dieses Thema aufgebracht und gesagt haben: Man darf nicht mehr einschlagen, als nachwächst. Es ist also ein Prinzip der Generationengerechtigkeit und, Frau Mast, wenn Sie so wollen, auch ein soziales Prinzip; denn es geht darum, dafür Sorge zu tragen, dass die jetzige Generation nicht zulasten der nächsten lebt. Das möchte ich an der Stelle mal ganz besonders unterstreichen: Es geht um beides – um Befriedigung der Bedürfnisse der jetzigen Generation und darum, das so zu machen, dass es nicht zulasten der nächsten Generation geht. Das ist eigentlich das Spannende an der Nachhaltigkeit als politisches Leitprinzip; es ist etwas, was wir uns immer vor Augen halten müssen, wenn wir auf dieser Grundlage politische Entscheidungen treffen. Es ist damit natürlich auch ein zutiefst konservatives Prinzip – deshalb auch unsere Initiative als Unionsfraktion, dieses Leitprinzip hier in das Zentrum der Debatte des Deutschen Bundestags zu stellen. ({0}) Es ist Leitschnur unserer Politik. Und wer es nicht glaubt, möge bitte insbesondere an die ausgeglichenen Haushalte der letzten Jahre denken, die uns momentan in die Lage versetzen, die immensen Ausgaben zu schultern, die wir zur Bekämpfung der Coronakrise tatsächlich brauchen. Und – auch das wurde gesagt –: Nachhaltigkeit ist die Klammer zwischen Ökonomie und Ökologie und gern auch Sozialem – absolut! An der Stelle muss ich jetzt sagen: Hinter uns liegen zehn fette Jahre. Fette Jahre nähren Wachstumsskeptiker, also diejenigen, die vollgegessen über Diät philosophieren. ({1}) Nur, meine Damen und Herren, wir werden schon in den nächsten Monaten erleben, dass Wachstum wieder ein wichtiges Thema wird. Und unsere Idee als Deutscher Bundestag muss es jetzt doch sein, weiter den Weg des nachhaltigen Wachstums zu gehen. Dass die Bundesrepublik Deutschland dies in den besagten letzten zehn Jahren getan hat, ist nachweisbar: Wir hatten in den zehn Jahren ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 34 Prozent; die Treibhausgasemissionen sind im gleichen Zeitraum um 14,5 Prozent zurückgegangen. Das heißt, es gelingt uns, Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Das ist doch die gute Botschaft, die man mal nach vorne stellen muss, statt des üblichen Gezänks, wer jetzt im Detail und im Kleinen recht hat. ({2}) Der Weg geht also. Wir müssen ihn mutig beschreiten und auch an die jetzige Generation und ihre Bedürfnisse denken. Sprich: Wir können nicht, wie es vorhin mal jemand auf der linken Seite getan hat, jetzt die Individualmobilität infrage stellen, ohne überhaupt beschreiben zu können, wie denn die Mobilität der Zukunft aussieht. – Das ist aus meiner Sicht ganz entscheidend. ({3}) – Sie waren doch gar nicht gemeint. Warum schreien Sie denn? ({4}) Ich werbe hier für nachhaltige Prozesse in der Wirtschaft, wo wir auf das Thema Recyclingstärke setzen, auf das Thema „Daten als Rohstoff der Zukunft“, bei dem man schon sieht, wie wir uns tatsächlich vom Ressourcenverbrauch abnabeln können. Ich halte auch für wichtig und richtig, dass wir beschlossen haben, einen CO2-Handel einzuführen, im ersten Schritt national. Da kritisiert die FDP, dass man mit einem festen Betrag beginnt. Mit irgendetwas muss man aber anfangen. Sie kommen schon noch zu dem Recht, dass es ein ordentlicher Handel wird. Aber die Idee muss natürlich sein, es auf europäischer Ebene entsprechend zu implementieren. Das ist nämlich die einzige Chance, um mit der angekündigten Anhebung von Klimazielen sinnvoll umzugehen, die einzige Chance, dass am Schluss die Lasten nicht wieder schwerpunktmäßig Deutschland aufgebürdet werden, sondern dass wir hier einen sinnvollen Ausgleich innerhalb Europas bekommen, wie wir ihn unbedingt brauchen. ({5}) Meine Damen und Herren, nachhaltige Produkte sind eine große Chance für eine Industrie, die insgesamt natürlich etwas teurer ist als andere. Der Aspekt, Qualität zu produzieren, Premiumprodukte herzustellen, muss doch etwas sein, was uns alle miteinander antreibt, weil es „Made in Germany“ ausmacht, weil es unsere Chance auf eine nachhaltige Wirtschaft ist. Ich werbe seit Langem dafür, so etwas wie einen Garantiewettbewerb einzuführen, also zu sagen: Jeder, der in Deutschland etwas in Verkehr bringt, soll sagen, wie lange er für sein Produkt Garantie gibt, damit die Menschen erkennen können, wie lang der Lebenszyklus eines Produkts ist, wie wertig es ist. Das führt dazu, dass manche Kaufentscheidung anders getroffen wird. ({6}) Bei den Lieferketten haben wir uns kräftig über die Frage gestritten, was man da wieder abstrakt formulieren muss, weil es um Ideologie geht. Ich rate Ihnen: Lassen Sie uns im Bereich der Medizin anfangen. Wir haben jetzt in der Coronakrise gesehen, wie schwierig das Thema ist, wie unsicher es ist, dass die Mehrheit der Rohstoffe aus Asien kommt. Wenn wir regeln, dass in Zukunft, spätestens in drei Jahren, bei Ausschreibungen derjenige einen Zuschlag bekommen wird, der eine europäische Lieferkette nachweist und das Medizinprodukt am günstigsten liefert, dann, garantiere ich Ihnen, kommen solche Produktionsstrecken zurück nach Europa. Das ist nachhaltig mit Blick auf den Gesundheitsbereich, und es ist etwas, was auch umweltpolitisch nachhaltig ist. Denn die Billigproduktion in Asien lebt davon, dass Abwässer ungeklärt in den Wasserkreislauf geleitet werden. Das ist etwas, was ich persönlich für unerträglich halte. Deshalb sage ich: vom Grundsatz her alles richtig, alles wichtig – da sind wir uns in weiten Teilen einig –, aber es gibt eine Menge an Dingen, die man tatsächlich tun soll. Was uns in diesem Haus belastet, ist, dass wir immer untereinander, gegeneinander einen ideologischen Streit führen, statt uns zu überlegen: Was kann man im Detail Sinnvolles tun, um das Thema Nachhaltigkeit voranzubringen und auch die deutsche Wirtschaft zu befördern? Vielen herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Michael Thews. ({0})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir wollen, ist eine weltweit nachhaltige Entwicklung. Und angesichts der brennenden Herausforderungen von Flucht, Kriegen, Verschmutzung der Umwelt, Erwärmung des Klimas und schwindender natürlicher Ressourcen brauchen wir auch eine nachhaltige Entwicklung. Doch wer beschäftigt sich eigentlich im Bundestag mit dem Thema Nachhaltigkeit? In welchem Gremium werden die 17 SDGs mit den Entwicklungen dieser Welt in Verbindung gebracht, und wo werden Gesetzentwürfe auf Nachhaltigkeit geprüft, bevor sie überhaupt verabschiedet werden? Hierfür wurde der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung geschaffen. Die öffentlichen Fachgespräche liefern immer wieder interessante Einblicke in die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit und – kleiner Tipp – sind online abrufbar. Schauen Sie da also ruhig mal rein! Ich bedanke mich an dieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen für die nicht immer konfliktlose, aber stets konstruktive Zusammenarbeit im Beirat. Ich freue mich, dass wir auch Ansätze gefunden haben, um ihn weiterzuentwickeln. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir über eine erweiterte Nachhaltigkeitsprüfung reden. ({0}) Ich glaube jedoch, dass ein weiterer Bereich der Nachhaltigkeit immer stärker an Bedeutung gewinnen wird. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Waren des alltäglichen Lebens zu jeder Zeit an jedem Ort verfügbar sind, und eine sich immer schneller weiterentwickelnde Technik fordert uns auf, das neue Auto, das neue Handy, die neue Kamera oder einen Fernseher in immer kürzeren Abständen zu kaufen, obwohl die alten Geräte noch tadellos funktionieren. Auch die Lebensmittelproduktion verändert sich: Dank immer ausgefeilterer Verpackungen werden Lebensmittel mit ansprechender Optik und einer längeren Haltbarkeit auf den Markt gebracht. Ja, Deutschland ist Weltmeister im Mülltrennen. Doch wenn wir uns zu Hause die Mülltonnen anschauen, sehen wir, dass die gelbe Tonne und die Papiertonne oft bis zum Rand gefüllt sind. In Deutschland werden jährlich allein 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll produziert. In der Produktion werden für Produkte und Verpackungen wertvolle Rohstoffe eingesetzt: Für Plastik ist es Erdöl, für Papier und Pappe werden Holz und Wasser verbraucht, im Elektrobereich sind es Kupfer und weitere Metalle sowie Seltene Erden, und Eisen in Form von Stahl brauchen wir für unsere Autos. Unter dem immer stärker wachsenden Konsum der großen Industrienationen leidet insbesondere der Globale Süden. Ich will an der Stelle vielleicht noch mal sagen, wie wichtig das Lieferkettengesetz ist, ({1}) und da auch der ökologische Faktor, der auf alle Fälle berücksichtigt werden muss. Um die Rohstoffe für unsere Produkte zu gewinnen, werden Bäume geschlagen, Minen in den Boden getrieben, Wasser verbraucht, nach Erdöl gebohrt und in letzter Konsequenz die Lebensbedingungen in diesen Ländern oft weiter verschlechtert. Der Verbrauch an Ressourcen in den Industrieländern überschreitet die Regenerationsfähigkeit der Erde bei Weitem. Mittlerweile verbrauchen wir für unseren Lebensstil so viele Ressourcen, dass es 1,6 Erden bräuchte, um den Bedarf zu decken. Dieser besorgniserregenden Entwicklung wollen und müssen wir entgegenwirken. Es ist daher unser erklärtes Ziel, unsere Energie zukünftig regenerativ zu gewinnen. ({2}) Mit dem Kohleausstieg, dem Klimaschutzgesetz und weiteren Entscheidungen haben wir hierfür bereits wichtige Weichen gestellt. ({3}) Aber woher sollen die Rohstoffe für die neuen Produkte kommen, wenn die Quellen erst einmal erschöpft sind, und wie viel Zerstörung der Natur, von Lebensräumen und Biodiversität wollen wir akzeptieren, um weitere Rohstoffquellen zu erschließen? Ich glaube daher, dass die Kreislaufwirtschaft neben den regenerativen Energien das nachhaltige Grundprinzip für eine zukunftsfähige Wirtschaft und Lebenswelt ist. Hierzu aber muss das Prinzip der Kreislaufwirtschaft mit aller Kraft aus dem Bereich der früheren Abfallwirtschaft herausgehoben werden. ({4}) Beim geplanten Einsatz von Rohstoffen, bei der Planung neuer Produkte und beim Design von Produkten muss über den gesamten Lebenszyklus hinweg sichergestellt werden, dass diese recycelt werden können. Heute wird eine echte Kreislaufwirtschaft häufig verhindert. Verbundmaterialien, die nicht getrennt werden können, teilweise fragwürdige und immer wieder auch gesundheitsgefährdende Zusatzstoffe und Farben sowie nicht zerlegbare Geräte und vieles mehr verhindern oft ein hochwertiges Recycling. Das führt zu Downcycling, zu minderwertigen Produkten, die am Ende auf dem Markt kaum Interesse finden. Das öffentliche Fachgespräch im PBnE in der letzten Woche hat gezeigt, dass bereits heute erfolgreiche Unternehmen in Deutschland ganz auf Kreislaufwirtschaft setzen und das Cradle-to-Cradle-System, also hochwertiges Recycling, anwenden. ({5}) Die deutschen Unternehmen in der Kreislaufwirtschaft sind Weltspitze, und wir wollen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. ({6}) Wenn wir es aber nicht schaffen, Recyclingfähigkeit zur Grundvoraussetzung für die Herstellung von Produkten zu machen, um Kreisläufe wirklich zu schließen, werden wir der Entwicklung immer nur hinterherlaufen und am Ende feststellen, dass eine Produktion ohne Rohstoffe, die übrigens meistens nicht aus unserem Land kommen, hier nicht möglich sein wird. Die Kreislaufwirtschaft muss daher als nachhaltiges Grundprinzip weiterentwickelt und auch in anderen Gesetzesbereichen als Grundvoraussetzung für eine Wirtschaft verankert werden, die unsere natürlichen Ressourcen nachhaltig schont. Aus meiner Sicht ist das ein wichtiger Baustein für das, was wir wollen: eine weltweit nachhaltige Entwicklung. Danke. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Katja Leikert. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist keine Bürde, Nachhaltigkeit ist keine Last. Nachhaltigkeit ist vielmehr eine große Chance, wenn man sie richtig versteht und richtig umsetzt. Lieber Herr Hofreiter, wir halten hier nicht nur schöne Reden, sondern wir handeln längst. ({0}) Wir sind mit unserem Klimaschutzgesetz national ambitioniert und sind es auch in Europa. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat heute Morgen in ihrer Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament klargestellt: Nachhaltigkeit ist ein zentraler Bestandteil unserer Wachstumsstrategie in Europa. – Erst wenn die Wirtschaft bei der nachhaltigen und digitalen Transformation unterstützt wird, machen wir sie global wettbewerbsfähiger. Genau hier wollen wir schneller und besser werden. Etliche Unternehmen, von Tallinn bis Zagreb, von Lissabon bis Sofia, haben dies längst erkannt und setzen sich für einen starken Klimaschutz ein. Es sind 164 namhafte Unternehmen in Europa, die, wie gerade erst gestern angekündigt, das Klimaziel unterstützen, die Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2030 auf 55 Prozent zu erhöhen. Es ist ein großes deutsches Stahlunternehmen, es ist der Hamburger Hafen, es sind deutsche Autobauer, die diese Strategie unterstützen. Dies zeigt: Klimaschutz und wirtschaftliches Wachstum stehen im Einklang miteinander. ({1}) Klar ist: Wir in Deutschland als größtem und wohlhabendstem Industrieland in Europa tragen hierbei einen großen Teil der Verantwortung. Klar ist aber auch, dass wir das nur leisten können, wenn wir unsere Verantwortung mit unseren europäischen Partnern teilen. ({2}) Nachhaltigkeit ist natürlich mehr als Klimaschutz. Nachhaltigkeit bedeutet auch mehr Sorgfalt und Verantwortung in den globalen Lieferketten. ({3}) Keiner von uns möchte ein T-Shirt kaufen, das durch Kinderarbeit gefertigt wurde. Wichtig ist daher, dass Unternehmen sich ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette noch stärker ausüben. Auch hier gehen viele Unternehmen bereits mit gutem Beispiel voran, etwa ein großer deutscher Kaffeehersteller; aber es sind noch viele mehr. Es stimmt aber auch: Nur jedes dritte Unternehmen in der Europäischen Union prüft aktuell seine globalen Lieferketten sorgfältig genug mit Blick auf Menschenrechte und Umweltauswirkungen. Auch deshalb ist es gut, dass wir hier Verantwortung zeigen, mit unserem Minister Gerd Müller, der eben noch hier war, an der Spitze. ({4}) Es ist auch wichtig, dass wir das auf europäischer Ebene begleiten. Es ist daher zu begrüßen, dass die EU-Kommission dazu im ersten Quartal 2021 eine Initiative für eine branchenübergreifende EU-Lieferkettenregulierung einbringen möchte. Denn auch hier ist klar: Wir brauchen ein europäisches Vorgehen im Sinne der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Nachhaltigkeit bedeutet auch ein Bekenntnis zum Freihandel. Richtig ist nämlich, dass Handel für einen rohstoffarmen Kontinent wie unseren die wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum ist. Ohne einen Ausbau unserer Handelsbeziehungen – ich weiß, dass das jetzt nicht alle hier gerne hören – werden wir den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa nicht schaffen. Deshalb begrüßen wir die europäischen Freihandelsabkommen mit Japan und mit Kanada. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir hier nicht aufhören dürfen. Gerade in Zeiten von protektionistischen Bewegungen müssen wir unsere Handelsbeziehungen mit wichtigen Partnern weiter ausbauen. ({5}) Auch hier geht das eine nicht ohne das andere, sondern eben nur zusammen. Hierzu brauchen wir ambitionierte Abkommen mit starken Nachhaltigkeitskapiteln. Denn klar ist auch: Wenn wir die Standards nicht setzen, dann setzen sie andere Akteure wie beispielsweise China; wir sehen das in Lateinamerika, in Afrika oder in Ost- und Mitteleuropa. Da müssen wir konsequent gegensteuern. Meine Damen und Herren, diese Beispiele zeigen: Nur durch nachhaltiges Wachstum wird Europa im globalen Wettbewerb bestehen können. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden uns dafür einsetzen. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Kai Whittaker. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! In der aktuellen Ausgabe von „Stiftung Warentest“ wurden Tortelloni getestet. ({0}) Uns alle interessiert sicherlich brennend, dass sich der Testsieger in der Rubrik „Ricotta-Spinat-Füllung“ durch eine deutliche Käsenote und ein wahrnehmbares Mundgefühl bei Pinienkernen mit der Note „gut“ auszeichnet. Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich: Was um alles in der Welt haben Tortelloni mit Nachhaltigkeit zu tun? ({1}) Ganz einfach: Wenn wir im Supermarkt einkaufen, dann kann es passieren, dass wir vielleicht ratlos vor dem Kühlregal stehen, weil wir nicht so genau wissen, welche Tortelloni wir kaufen sollen. Die Auswahl ist einfach zu riesig. Was machen wir? Wir orientieren uns vielleicht an den Markennamen, an dem, was wir aus unserer Kindheit kennen. Sehr wahrscheinlich schauen wir auch auf den Preis. Aber um eine wirklich gute Entscheidung zu treffen, müssten wir nicht nur den Preis vergleichen, sondern auch das, was in den Tortelloni steckt. ({2}) Das ist schon im Supermarkt nicht ganz einfach, weil man so auf die Schnelle nicht alle Informationen übersichtlich vergleichen kann. Ähnlich ist es mit Gesetzentwürfen. Es ist sehr klar, welche Marke da draufsteht. Oft ist auch klar, was die Gesetzentwürfe kosten. Ich darf daran erinnern: Wir als Union haben uns vor über 15 Jahren dafür eingesetzt, den Normenkontrollrat einzurichten, um die Bürokratiekosten zu ermitteln, damit wir als Bundestag diese Kosten im Zaum halten können. Darauf sind wir sehr stolz. ({3}) Deutlich schwieriger ist es, zu beurteilen, wie nachhaltig ein Gesetzentwurf ist. Meine Vorredner haben schon deutlich gemacht, was Nachhaltigkeit ist, warum wir nachhaltige Politik brauchen und durch welche Maßnahmen wir unser Land nachhaltiger machen. Die Schlüsselfrage ist aber, wie wir systematisch auf mehr Nachhaltigkeit in der Politik achten. Es kommt darauf an, eben nicht nur zu schauen: „Was kostet ein Gesetz?“, sondern auch zu fragen: „Was bringt ein Gesetz wirklich langfristig?“ Die Kosten sind die eine, der Nutzen ist die andere Seite derselben Medaille. Bisher fehlt uns ein solcher Bewertungsrahmen, so wie die Stiftung Warentest anhand klarer Kriterien Produkte bewertet. Genau das wollen wir ändern. Ich bin sehr froh darüber, dass wir nun die Bundesregierung bitten, einen solchen Bewertungsrahmen zu entwickeln. Es ist weltweit einmalig, dass ein Land so konkret eine vergleichende Systematik entwickeln will. Ich darf mich ganz herzlich bei meiner Fraktion bedanken, insbesondere bei meinen Kollegen Ralph Brinkhaus, Georg Nüßlein und Andreas Lenz, sowie allen Kollegen aus dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, bei Marie-Luise Dött und Anja Weisgerber aus dem Umweltausschuss und natürlich auch bei der SPD. Lieber Michael Thews, die Arbeit war hart, aber sie hat sich gelohnt. Die Grundlage für eine verantwortungsvolle Politik ist, alle sozialen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Aspekte sowie alle 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zu berücksichtigen. Als ich mir heute die Reden angehört habe, musste ich feststellen: Das hat noch nicht jeder verstanden, insbesondere jene an den beiden Hufeisenenden. Denn wer glaubt, dass nachhaltige Politik nur darin besteht, alle politischen Entscheidungen unter dem Aspekt des Klimaschutzes zu treffen, der hat nachhaltige Politik nicht verstanden. Genau darin, liebe Kollegin Bettina Hoffmann von den Grünen, besteht der Unterschied zwischen uns. Ich habe mit Interesse gelesen, dass Sie von einem Nachhaltigkeits-TÜV reden. Beim TÜV aber schaut man sich ein Auto intensiv an, testet es auf Herz und Nieren und entscheidet dann, ob es für die Straße zugelassen wird oder eben nicht. Da ahne ich schon, dass Sie als grüne Fraktion alle politischen Maßnahmen ausschließlich danach bewerten werden, ob es dem Klima schadet, während alle anderen Aspekte unwichtig sind. Unser Verfahren hingegen stellt sicher, dass wir am Ende eine Debatte darüber führen, welche Gesetze am besten alle Aspekte einer nachhaltigen Politik verbinden. Dann können wir hier im Plenum darüber streiten, welche Aspekte uns wichtiger sind. Auch bei der Stiftung Warentest sind die besten Tortelloni nicht deshalb Testsieger geworden, weil sie besonders viel grünen Spinat enthalten, sondern weil das Produkt in allen Kategorien solide abschneidet. ({4}) Auf diese Debatte freue ich mich. Wir als Union sind die Nachhaltigkeitspartei mit unseren sozialen, konservativen und liberalen Wurzeln. Keine Partei denkt Nachhaltigkeit so umfassend wie CDU und CSU. Wir beweisen immer wieder aufs Neue, dass wir Gegensätze miteinander versöhnen können. Heute machen wir auf diesem Weg einen erheblichen Schritt nach vorne. Deshalb empfehle ich Ihnen wärmstens, dem vorliegenden Antrag zuzustimmen. Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Herr Whittaker, als Sie mit der Tüte Tortelloni auf das Rednerpult zugingen, dachte ich schon, Sie wollten dem Präsidenten ein nachhaltiges Abendessen sichern. ({0}) Jetzt haben Sie die Tortelloni wieder mitgenommen. ({1}) – Aber ich werde natürlich prüfen, ob das Ablaufdatum schon überschritten ist und die Packung gegebenenfalls zurückgeben. ({2}) Damit schließe ich die Aussprache.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren im Rahmen der Nachhaltigkeitstage im Deutschen Bundestag in dieser Woche über wichtige Themen. Wir diskutieren vor allem über Themen, die alle Politikbereiche betreffen; das zeigen auch die Debatten am heutigen Tag. Jetzt geht es insbesondere um die Mobilität der Zukunft, und es ist wichtig, dass wir dieses Thema an den Beginn dieser Nachhaltigkeitstage setzen. Gerade als junger Abgeordneter möchte ich sagen: Beim Thema Nachhaltigkeit geht es auch um Generationengerechtigkeit. Es darf uns nicht egal sein, ob es morgen noch genügend Ressourcen oder genügend Lebensqualität auf der Erde gibt, wenn wir dem Begriff gerecht werden wollen. Gerade die Coronapandemie hat uns vor Augen geführt, was Mobilität von morgen für uns alle konkret heißt, beispielsweise wenn der öffentliche Nahverkehr zum Erliegen kommt oder Lieferketten plötzlich neu organisiert werden müssen. Uns wird klar, dass wir einen Weg finden müssen, mit den wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Coronakrise umzugehen. Ich stelle diesen Aspekt ganz bewusst an den Beginn meiner Rede. Ich komme aus Baden-Württemberg. Bei uns gibt es Hundertausende Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt vom Automobil abhängen. Bei mir zu Hause im Schwarzwald gibt es kleine Automobilzulieferer, deren Bänder derzeit quasi stillstehen, deren Mitarbeiter in Kurzarbeit sind und die sich düstere Zukunftsfragen stellen. Deshalb ist Nachhaltigkeit keine Floskel in Sonntagsreden. Es gibt auch keine schnellen Antworten. ({0}) Unser Anspruch als Union ist, dass wir die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes mit dem Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen vereinen. Unser Anspruch als Union ist es, dass wir Technologieoffenheit garantieren, dass wir Innovationen fördern und dass wir intelligente Verkehrssysteme vernetzen, weil wir es am Ende nur so schaffen werden, Tausende Arbeitsplätze zu sichern und den notwendigen Transformationsprozess zu gewährleisten. ({1}) Uns ist allen klar: Der Verkehrssektor muss einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der globalen Klimaschutzziele leisten. Das erreichen wir aber nur durch Innovation und nicht durch Verbote, wie es uns heute schon wieder in dem einen oder anderen Antrag der Grünen vorgeschlagen wurde. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Nationale Plattform „Zukunft der Mobilität“ erwähnen. Unser Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat ein Gremium unter der Leitung von Professor Dr. Kagermann ins Leben gerufen, in dem Experten aus der Wirtschaft, aus der Forschung, auch aus der Politik, Vorschläge zur Lösung dieser Fragen erarbeiten. Ich kann uns allen nur empfehlen, dass wir uns die Handlungsempfehlungen der NPM zu Herzen nehmen. ({2}) Am Ende werden sich nämlich nicht die Technologien durchsetzen, die wir hier im Bundestag beschließen, sondern die Technologien, die vom Bürger gekauft werden können und die auch bezahlbar sind. Bei allem Respekt: Die wirtschaftliche Stärke unseres Landes hängt nicht von Debatten im Deutschen Bundestag ab. Die wirtschaftliche Stärke unseres Landes wird bestimmt durch einen starken Mittelstand, durch familiengeführte Unternehmen, die jeden Tag aufs Neue ihre Innovationskraft unter Beweis stellen, sich aber auch auf dem Weltmarkt beweisen müssen. Ich möchte, dass wir in dieser Debatte auf ein paar Punkte eingehen, die wir auf den Weg gebracht haben: Wir bauen zum Beispiel den schienengebundenen ÖPNV aus, unterstützen aber auch neue Konzepte wie Ridesharing. Wir haben die GVFG-Mittel erhöht, ab 2025 auf 2 Milliarden Euro. Wir investieren bis 2030  86 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur, in die Digitalisierung; das kann sich wirklich sehen lassen und ist die richtige Antwort auf die Fragen, die wir uns in diesen Tagen stellen. Wir treiben die technologieoffenen Entwicklungen und die Erzeugung von regenerativen Kraftstoffen und Antrieben voran. Die erst kürzlich beschlossene Nationale Wasserstoffstrategie und die industriepolitische Initiative zum Ausbau einer leistungsfähigen E-Fuel-Versorgung sorgen für die entsprechenden Rahmenbedingungen. Es braucht zudem eine Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur. Dazu gehören der Ausbau von Radwegen an Bundesstraßen und die Beschleunigung von Planungs- und Baumaßnahmen. Jeder von Ihnen kennt Maßnahmen in seinem Wahlkreis, über die man schon seit Generationen diskutiert. Das dauert alles viel zu lange. Aber wie ist es, wenn es konkret wird? Ich habe mich darüber gewundert – Herr Krischer lacht schon –, dass heute die Grüne Jugend einen sofortigen Stopp aller Bundesautobahnprojekte gefordert hat. Herzlichen Glückwunsch, kann ich da nur sagen! Wie weit muss man sich dafür eigentlich von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung entfernt haben? ({3}) Die CO2-Bepreisung kommt. Ab 2021 wird klimaschädliches Autofahren teurer gemacht. Es werden Anreize für klimaschonende Technologien gesetzt. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass „Nachhaltigkeit“ keine leere Floskel ist, sondern wir jetzt an morgen denken, Beschlüsse fassen, jetzt das Richtige tun. Machen wir uns nichts vor: Gerade in dieser Coronazeit schaut die Welt auf unser Land. Die Frage ist, ob wir beides schaffen, ob wir unsere wirtschaftliche Stärke erhalten und gleichzeitig mit Innovationen eine nachhaltige Mobilität der Zukunft schaffen, ob wir die Weichen für eine Mobilität von morgen so stellen können, dass die Menschen in ganz Deutschland, vor allem im ländlichen Raum, erreicht werden. Darauf kommt es in diesen Tagen an. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Wolfgang Wiehle. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Mobilität der Zukunft, wird sie geprägt sein von der freien Wahl des Verkehrsmittels, oder wird sie geprägt sein von Gängelung, Verboten und immer neuen Steuern? Jeder Antrieb braucht Energie, und das wird zur zentralen Frage. Der Ausstieg aus der CO2-freien Kernenergie gleichzeitig mit den radikalen CO2-Reduktionszielen macht Energie knapp und teuer, mit schweren Auswirkungen auf den Verkehr. ({0}) Der Fortschrittsbericht 2019 der Nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“ redet hier an wichtigen Problemen vorbei. Jeder Verkehrsträger, Straße, Schiene, Wasser und Luft, hat seine Stärken. Das Auto ist unschlagbar in der Erschließung der Fläche, die Bahn bei der Bündelung großer Verkehrsströme. Wer das nicht erkennt oder nicht erkennen will und einen Verkehrsträger in die Ecke drängt, wird Hunderte von Milliarden verschwenden. ({1}) Deutschland braucht leistungsfähige Straßen und weniger Staus und nicht mehr, wie es die Linken gerne hätten, die die Streichung von Mitteln für die Fernstraßen fordern. ({2}) Das Straßennetz ist das Rückgrat der Mobilität in Deutschland und muss dem Bedarf entsprechend wachsen. Deutschland braucht schnelle Bahnstrecken, damit man von Großstadt zu Großstadt maximal vier Stunden braucht. Die Verbindung München–Berlin beweist den Erfolg. Deutschland braucht leise und leistungsfähige Güterbahnen, um so viele Transit-Lkws wie möglich von der Straße zu holen. Wenn das von sich aus gut funktioniert, braucht man keinen staatlichen Dirigismus. Ich warne aber vor planwirtschaftlichen Vorgaben, wie zum Beispiel der Verdoppelung der Fahrgastzahlen der Bahn bis 2030, wie das in Ihrem Zehnjahresplan steht. ({3}) Was, wenn sich die Bürger nicht an den Plan halten? Dann kommt die staatliche Gängelung. ({4}) Wer den Verkehr bis in jedes Dorf auf die Bahn verlagern will, verschwendet Steuergeld. Wer weit fortgeschrittene Projekte stoppen will, tut das auch. Das gilt für Die Linke mit Stuttgart 21 – bei allen Problemen und Risiken dieses Vorhabens – und auch für die Grünen mit der A 49, gegen die Sie gerade einen Antrag gestellt haben. Rot-grüne ideologische Ladenhüter wie ein allgemeines Tempolimit auf den Autobahnen kosten allein durch den Zeitverlust jedes Jahr Milliarden; ({5}) das hat das Institut für Weltwirtschaft gerade vorgerechnet. Überall Tempo 30 in den Städten – auch das steht im Antrag der Grünen – hebt die Verkehrsberuhigung wieder auf und schadet sogar der Verkehrssicherheit. Die Städte sollten Verkehrsverbote nicht übertreiben. Es gibt ja Alternativen: Viele kaufen im Internet ein und arbeiten von zu Hause. Wer mit Citymaut abkassiert oder die Autos gleich ganz aussperrt, verwandelt am Ende die Innenstädte in Biotope von Subkulturen, weil Bürger und Unternehmen ins Umland auswandern. Natürlich ist es richtig, mit modernster Technik Energie zu sparen. Veränderungen brauchen aber ihre Zeit. Bundesregierung und EU überspannen hier den Bogen mit ihren immer härteren CO2-Vorgaben. Damit zerstören sie Strukturen, vernichten sie Arbeitsplätze und vergeuden sie das Geld der Steuerzahler. ({6}) Auch und gerade im Verkehrssektor gilt: Freiheit braucht bezahlbare Energie. Einer sozialistischen Mangelwirtschaft, einer ideologischen Steuerung von oben wird die AfD niemals zustimmen. Die Verkehrspolitik der Zukunft muss eine freiheitliche Verkehrspolitik sein. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Sprecher ist für die Fraktion der SPD der Kollege Arno Klare. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1986 hat mich ein Bericht sehr beeindruckt; das war der Brundtland-Bericht. Ich will den jetzt nicht erklären; wenn Sie nicht wissen, was das ist, bitte googeln. Im Brundtland-Bericht ist eine Definition von Nachhaltigkeit enthalten, die da lautet – ich zitiere –: Nachhaltig ist eine Entwicklung, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. ({0}) Diese Definition hat übrigens dank Volker Hauff Eingang in den Brundtland-Bericht gefunden. Für die etwas Jüngeren unter uns: Das war ein Sozialdemokrat, der in zwei Ressorts Minister war; er war Verkehrsminister und davor für Wissenschaft zuständig. ({1}) – Für Forschung und Wissenschaft, ganz genau. ({2}) Die Frage, die wir Verkehrsleute uns zu stellen haben, lautet: Kriegen wir das für den Verkehr hin, für die Mobilität? Ein Pkw fährt im Jahr durchschnittlich 13 500 Kilometer. Angenommen, er verbraucht 6 Liter auf 100 Kilometer, dann emittiert er 2 Tonnen CO2 im Jahr. 34 Prozent dieser Verkehrsleistung sind Freizeitverkehr, laut MiD, Mobilität in Deutschland. Darf man das noch? Ein anderes Beispiel: In Deutschland werden 10,5 Millionen Tonnen Kerosin vertankt. Das war im Jahr 2019. In diesem Jahr wird – aus meiner Sicht, Verkehrspolitiker – leider gar nichts mehr vertankt. 1 Liter Kerosin entsprechen 3,15 Kilogramm CO2, also eine gewaltige Menge. Die Grundfrage habe ich gerade schon gestellt, und ich möchte sie noch konkretisieren: Ist so etwas möglich – das müssen wir ja schaffen, wenn wir nachhaltig sein wollen – wie klimaneutrales Fliegen? Ja, das bekommen wir hin; das kann man schaffen. Wir müssen das bisherige fossile Kerosin ersetzen durch synthetische Fuels. Damit reduzieren wir übrigens auch die Kondensstreifenbildung, und diese Nicht-CO2-Emissionen machen nach neuester Studie 66 Prozent des Klima-Impacts des Flugverkehrs aus, weil die Partikelwirkung kleiner wird. Wir müssen mehr investieren in bessere Triebwerke. Auch das geschieht bereits. Das ist ein ganz großes Rad, das wir drehen: die Wasserstofftechnologie. Es gibt aber auch ganz kleine Räder. Wenn es gelänge, den cw-Wert eines Lkws, der derzeit zwischen 0,6 und 0,8 liegt – das ist ungefähr der cw-Wert einer Schrankwand –, um 30 Prozent zu senken, also von 0,7 auf 0,5, dann bedeutete das 10 Prozent weniger Treibstoff. ({3}) Bei 30,1 Milliarden Kilometer, die die Lkws pro Jahr in Deutschland fahren, und einem Verbrauch von ungefähr 30 Liter pro 100 Kilometer möge sich jeder ausrechnen, was ungefähr dabei rauskommt. Das ist ein ganz, ganz kleines Rad, das man da drehen kann. Aber wir müssen es tun. In all den Nachhaltigkeitsdebatten habe ich manchmal das Gefühl, dass wir nur immer auf die ganz großen Räder schauen, aber nicht auf die ganz kleinen, die wir auch bedienen müssen. Dazu gehört zum Beispiel THG-sensitive Navigation. Dazu gehört auch, dass bei Lkws der Reifendruck kontinuierlich automatisch nachgesteuert wird; die fahren nämlich zu 35 Prozent mit zu wenig Druck. Das heißt, wir müssen beides tun: die ganz großen Räder drehen – das tun wir, und zwar erfolgreich –, aber die kleinen nicht vernachlässigen. ({4}) Das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Da geht es sehr ins Detail, und manches ist für den einen oder anderen gar nicht mehr verständlich, weil es sehr technisch wird. Aber wir müssen uns diesen Themen widmen, und das tun wir auch. ({5}) Die Nachhaltigkeit und damit die intergenerative Gerechtigkeit – das steckt in dieser Definition – entstehen durch das Drehen der großen und der kleinen Räder. Jetzt habe ich endlich mal einen Vorteil davon, dass ich Germanistik studiert habe. Es gibt dazu ein fantastisches Zitat aus „Wilhelm Meister“ von Goethe. Da steht: Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gern auf der Ebene. Genau das dürfen wir nicht; wir müssen jede Stufe nehmen. Ich habe das mit den kleinen und großen Rädern beschrieben. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Klare. – Die nächste Stufe nimmt der Kollege Oliver Luksic von der FDP-Fraktion. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, danke für die nette Einführung. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es bei der Mobilität der Zukunft mit zwei großen Herausforderungen zu tun: Das eine ist Digitalisierung und Vernetzung, und das andere ist die Dekarbonisierung. Die Frage lautet: Wie macht man das? Im Antrag der FDP-Fraktion beschreiben wir unseren Weg, der sich fundamental von dem der Regierung unterscheidet. Wir setzen auf die Kraft von Wettbewerb, Innovation, Technologieoffenheit und Technologiemix. Das ist aber nicht das, was wir gerade erleben. Gerade im Bereich Fahrzeugbau erleben wir, dass viele Vorgaben von Herrn Altmaier oder von der EU-Kommission völlig überzogen sind. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen Technologieoffenheit und machbare Ziele. Das ist unser Ansatz. ({0}) Wir wollen CO2 bepreisen und dann den Ingenieuren und den Kunden überlassen, welche Technologie sich am Markt durchsetzt. Derzeit erleben wir jedoch eine große Verunsicherung, sowohl aufseiten der Hersteller als auch bei den Kunden. Ganz gleich, ob bei den Pkws oder bei den Nutzfahrzeugen: Reden Sie mal mit den Spediteuren, mit den Busunternehmern. Die stehen jetzt unter totalem Kostendruck und können sich gar keine neuen Fahrzeuge leisten. Jetzt wird aber von politischer Seite das Fahren mit Diesel-Lkw und Dieselbus noch verteuert. Die Alternativen sind auch sehr teuer, und die Ladeinfrastruktur ist nicht da; deswegen haben wir die Krise im Fahrzeugbau. Wir sind nicht technologieoffen, weil sämtliche Flottengrenzwerte ganz einseitig auf die batteriegetriebene E-Mobilität setzen. Ich unterstütze die Ziele der Nationalen Wasserstoffstrategie ausdrücklich; aber wir müssen feststellen: Sie kommt spät, und sie ist in vielem unkonkret. Ja, Kollege Klare, wir brauchen E-Fuels, aber Ihre eigene Umweltministerin – ob das den Care-Diesel oder die Anrechnung bei den Flottengrenzwerten betrifft – steht da auf der Bremse. Wir brauchen das im Luftverkehr, wir brauchen es im Schiffsverkehr, übrigens auch im Bestand bei Fahrzeugen, aber da darf die Bundesregierung nicht auf der Bremse stehen. ({1}) Es ist schwer erklärlich, warum wir bei der Industrie nicht einen einheitlichen CO2-Preis haben. Der europaweite Zertifikatehandel funktioniert gut; da haben wir eine Reduktion, und da sind Wachstum und CO2 entkoppelt. Derzeit liegt der Preis bei knapp 25 Euro pro Tonne. Wir müssen aber feststellen, dass bei den Flottengrenzwerten die Strafzahlungen von 95 Euro pro Gramm Grenzwertüberschreitung hochgerechnet einen CO2-Preis von knapp 475 Euro pro Tonne ergeben. Warum das bei Fahrzeugen so viel schädlicher und so viel teurer ist, das kann man mir schwer erklären. ({2}) Jetzt will die EU-Kommission das noch weiter verschärfen. Man muss sich schon fragen: Ist das die Timmermans-Kommission, oder hat Frau von der Leyen nichts mehr mit dem deutschen Fahrzeugbau zu tun? Lieber Felix Schreiner, das sind ja nicht die Grünen, sondern Ihre EU-Kommissarin prüft ein Verbot von Verbrennungsmotoren und will jetzt 50 Prozent Reduktion. ({3}) Die Reaktion der Gewerkschaften und der Industrie ist ganz klar. Unsere Industrie kann Transformation; was hier aber droht, ist der Strukturbruch. ({4}) Wir sind Weltmeister im Fahrzeugbau. Das sind doch keine Zombie-Unternehmen, sondern das sind Hochleistungsunternehmen, die bis 2019 alle hochprofitabel waren. Ob es die Hersteller sind, die vielen großen Zulieferer, die vielen kleinen und mittleren Unternehmen – die sind jetzt alle gleichzeitig in der Krise, einerseits wegen Corona, andererseits aber auch wegen der Flottengrenzwerte. Diese Grenzwerte in dieser Lage jetzt noch mal zu verschärfen, – wie kann man nur auf diese Idee kommen? ({5}) Wir müssen feststellen: Der Patient Fahrzeugbau liegt derzeit auf der Intensivstation. Wenn der Patient auf der Intensivstation ist, dann zieht man nicht den Stecker. Dass das den Grünen egal ist, verstehe ich; aber dass Peter Altmaier und auch die EU-Kommissionspräsidentin die wirtschaftliche Lage völlig ignorieren, das leuchtet mir nicht ein. Das ist der falsche Weg. Wir wollen die Arbeitsplätze und die Wertschöpfungsketten erhalten. Fahrzeugbau, Maschinenbau, Chemieindustrie – das macht Deutschland stark. Das wird derzeit gefährdet, und da brauchen wir dringend einen anderen Weg. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Gäste! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zum Auftakt unserer Debatte über die deutsche Nachhaltigkeitspolitik hat das Forum Umwelt und Entwicklung uns alle angeschrieben: 145 Nichtregierungsorganisationen, vom Arbeiter-Samariter-Bund über den Deutschen Kulturrat, von der Gepa über die GEW, von Greenpeace bis Brot für die Welt – alle sind sich einig, dass die Politik der Bundesregierung – ich zitiere – „abgrundtiefe Lücken in der Nachhaltigkeit“ zeigt. Sogar die Ziele der eigenen schwachen Nachhaltigkeitsstrategie werden verfehlt. Beim Thema Mobilität sind die Verfehlungen eklatant. Noch immer wachsen Lkw- und Autoverkehr, noch immer werden fossile Verkehre jedes Jahr mit zig Milliarden Euro subventioniert, noch immer steigen der Flächenverbrauch und der Ressourcenverbrauch, noch immer befeuert der Bund den Aus- und Neubau von Autobahnen. Wenigstens damit muss mal Schluss sein! ({0}) Allerdings ist die Lage nicht so hoffnungslos, wie es aussieht; denn wir sehen, dass die soziale und ökologische Verkehrswende in gesellschaftlichen Bewegungen an Fahrt gewinnt. Darüber möchte ich gerne reden, zuallererst über das neue Bündnis, in dem sich die Gewerkschaft Verdi und Fridays for Future zusammengetan haben. Gemeinsam mit dem BUND, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und anderen fordern sie eine konsequente Verkehrswende und ein langfristiges Konjunktur- und Investitionspaket, das die Bedürfnisse der Menschen und nicht den Autoverkehr zum Mittelpunkt macht. Im Zentrum stehen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr. Dort ist unter Wettbewerbsdruck vor 20 Jahren in den Kommunen auf Sparkurs umgestellt worden. Die Folge sind Personalabbau, Flexibilisierungen der Arbeitszeit, Arbeitsverdichtung, Belastung und Stress vor allem bei den Fahrerinnen und Fahrern von Bussen, U-Bahnen und Straßenbahnen. 15 000 Vollzeitstellen fehlen heute schon, und durch den jahrelangen Einstellungsstopp wird in den nächsten zehn Jahren fast die Hälfte der Beschäftigten in Rente gehen. 100 000 Neueinstellungen stehen hier an. Mindestens 2 Milliarden Euro mehr sind pro Jahr nötig, damit es gute Arbeit für motivierte Menschen gibt, die uns in Bus und Bahn fahren und begleiten. Und ohne sie gibt es keine nachhaltige Mobilität. ({1}) An dieser Stelle: Danke an alle, die das so zuverlässig unter allen widrigen Bedingungen getan haben und weiter tun. ({2}) Wir stehen als Linke an der Seite dieser Kolleginnen und Kollegen, wir stehen auch an der Seite der Allianz zwischen Gewerkschaft und Klimabewegung. Das ist eine nachhaltige Perspektive. ({3}) Dazu liegt auch ein Antrag von uns an den Bundestag vor. Insgesamt werden jedes Jahr mindestens 10 Milliarden Euro mehr gebraucht, damit die Angebote im öffentlichen Nahverkehr verdoppelt werden können und alle Menschen nachhaltig mobil sein können. Vor diesem Hintergrund ist es wirklich widersinnig, dass jetzt – in meinem Heimatland Hessen – noch mehr Autobahnkilometer für Milliarden Euro gebaut werden sollen. Es ist gut, dass das Aktionsbündnis „Keine A49“ die jahrelange Arbeit der Bürgerinitiativen vor Ort – für Wasserschutz, für nachhaltige Alternativen – mit den tatkräftigen Baumbesetzungen zusammenbringt, unter dem Motto „Wald statt Asphalt“. Am vergangenen Sonntag haben sich Hunderte interessierte Bürger vor Ort die Lage angesehen: Der Wald steht noch, und es sind viel Solidarität und öffentliche Aufmerksamkeit erwachsen. Die Grünen fordern jetzt hier vom Bundesverkehrsminister ein Moratorium für den geplanten Ausbau. Dem stimmen wir natürlich zu; denn für nachhaltige Verkehrswege muss gelten: Eisenbahn statt Autobahn. ({4}) Allerdings ist natürlich völlig klar, dass, obwohl wir mehr Bahninfrastruktur brauchen, nicht jedes Projekt, das viele Milliarden Euro kostet, sinnvoll ist, und deshalb fordern wir auch für Stuttgart 21 ein Moratorium, damit die interessanten Vorschläge für eine bessere und nachhaltige Nutzung geprüft werden können, bevor noch mehr Milliarden in diese Baugrube versenkt werden. ({5}) Es ist schon verrückt, dass dort der öffentliche Verkehr über Jahre stark beeinträchtigt wird, während der Auto- und Lkw-Verkehr weiter sechsspurig durch die Stadt rauscht. Es gibt noch eine ganze Menge weiterer Initiativen von unten, die nachhaltige Mobilität vorantreiben. Ich erinnere an die Initiative der Betriebsräte, die kreativ und bündnisstark den Kampf für den Erhalt der Nachtzüge angeführt haben. ({6}) Wir haben das von Anfang an unterstützt. Das Hohe Haus hat in seiner Mehrheit befunden, dass das Schnee von gestern ist. Inzwischen erleben die Nachtzüge eine Renaissance, leider nicht bei der Deutschen Bahn. Auch das ist verfehlte Politik und überhaupt nicht nachhaltig. ({7}) Nicht zuletzt sind die Fahrradvolksentscheide große Räder, die von den Bürgerinnen und Bürgern selbst in Bewegung gebracht werden. 35 Städte sind auf dem Weg, sich mehr gute Fahrradinfrastruktur zu erobern, unterstützt von Changing Cities, und die Wiege dafür ist der Fahrradvolksentscheid in Berlin mit glasklar begründeten Forderungen, konkret für eine fahrradfreundliche Infrastruktur. Hier gibt es auch das erste Mobilitätsgesetz, das gerechte Verkehrsverhältnisse zum Ziel hat. Da ist ein großer Schritt im Wechselspiel mit einer Regierung gelungen, die bereit ist, demokratische Impulse für Nachhaltigkeit aufzunehmen, und daran sollten sich alle hier ein Beispiel nehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung will mehr nachhaltige Mobilität und kein Weiter-so. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort die Kollegin Daniela Wagner. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen in dieser Plenarwoche über Nachhaltigkeit, Klima, Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und über zukunftsfähige Mobilität. Meine Damen und Herren, für all das steht die A 49 definitiv nicht. ({0}) Aber sie steht exemplarisch für zahlreiche Verkehrsprojekte des Bundesverkehrswegeplans, die ebensolche Fossilien der Verkehrspolitik sind, wo für eine Idee von vor 40 Jahren hektarweise gesunde, intakte Mischwälder gerodet werden – auf die kommt es in den nächsten Jahren an –, wo Asphaltschneisen durch wertvolle FFH-, Natur- und Wasserschutzgebiete geschlagen werden, und das nach drei Hitze- und Dürresommern in Folge, Sommern, die ahnen lassen, was uns bevorsteht, wenn wir nicht schnell und entschlossen umsteuern. Und noch ein Fossil der Verkehrspolitik gehört in diese Kategorie: rasen und rasen dürfen. Wir sind das letzte Land in Europa, das sich die Gefährdung, den Lärm, den Spritverbrauch, die Emission, den Feinstaub unbegrenzter Raserei noch leistet. Der Verkehrssektor muss endlich einen substanziellen Beitrag zum Erreichen der Klimaabkommen von Paris leisten. ({1}) Wir brauchen eine umfassende Verkehrswende mit mehr Schiene, weniger Straßen, kleineren Fahrzeugen, weniger Raserei und weniger Verkehrslärm. Wann fangen wir endlich an, den zahlreichen Presseverlautbarungen ein geändertes Handeln folgen zu lassen? Ich zitiere Matthias Miersch: „Wir erwarten Gesetze und nicht bloß schöne Worte.“ Andreas Jung äußerte: Die Treibhausemissionen müssen kraftvoll gebremst werden. ({2}) Andreas Jung nochmals: „Wir dürfen nicht auf Kosten kommender Generationen leben.“ Oder Jochen Vogel selig hat gesagt: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.“ Meine Damen und Herren, Sie können direkt mit dem heutigen Tag beginnen. Überarbeiten und modernisieren Sie den Bundesverkehrswegeplan und die Bedarfsplanung. Senken Sie das Tempo auf Autobahnen, Bundesstraßen und in Städten. ({3}) Begrenzen Sie den Treibstoffverbrauch und die Emissionen endlich wirksam durch beherzte und richtig wirkungsvolle Flottengrenzwerte. Die vielzitierten und gerne bemühten folgenden Generationen werden es Ihnen danken. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes hat das Wort der Bundesminister Andreas Scheuer. ({0})

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eines ist klar: Nachhaltigkeit definiert jeder für sich ein bisschen anders, aber was uns eint, ist, dass wir in unseren Fraktionen und Parteien politische Entscheidungen treffen, die – das spreche ich keinem ab – die Zukunft im Ziel und im Blick haben. Im Ziel haben wir sie deswegen, weil wir ausloten, was über alle Verkehrsträger hinweg der beste Weg in der Verkehrspolitik ist und welche Investitionen oder Förderungen oder Innovationen für die Zukunft das Beste sind. Jeder, der hier sitzt, hat Verantwortung nicht nur für seine Heimatregion, für seinen Wahlkreis, sondern auch für die zukünftigen Generationen. ({0}) Deswegen freue ich mich, dass wir heute beispielsweise bei einem deutschen Automobilhersteller eine Weltpremiere mit einem Lkw mit Wasserstoff-Brennstoffzelle erlebt haben. Das heißt, er hat in der Produktpalette nicht nur einen vollelektrischen Lkw, auch in den Lieferdiensten, sondern einen Wasserstoff-Lkw. Vielleicht mag der eine oder andere sagen: „Viel zu spät, nur ein Prototyp“, aber es tut sich was. Zu dem, was Felix Schreiner angesprochen hat: Vieles von dem, was im Klimaschutzpaket der Bundesregierung beschlossen wurde, stammt aus der Nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“, wo sich 240 Experten in mehreren Arbeitsgruppen Gedanken über Zukunft machen, aber nicht nur über Zukunft, sondern auch über Fortschritt und Wohlstand. Ich finde es nicht nachhaltig, wenn aufgrund politischer Entscheidungen Tausende, vielleicht Hunderttausende von Arbeitsplätzen abgebaut werden ({1}) und damit nachhaltig Finanzpolitik und Wirtschaftspolitik nicht positiv gestaltet werden können, sondern in einer Weise, dass die zukünftigen Generationen eben nicht mehr Chancen haben und wir dann nachhaltig echte Fehler machen würden. Deswegen bemühen wir uns im Verkehrsministerium natürlich, die Infrastruktur immer wieder zu erneuern, zu sanieren, ja, und auch neu auszubauen. Ich war diese Woche bei der A14 nördlich von Magdeburg, einem Neubau einer Autobahn. Ich muss Ihnen sagen: Da standen rund 500 Bürgerinnen und Bürger vor mir und haben dieses neue Teilstück empfunden als den neuen Anschluss an eine wichtige Magistrale, an die ostdeutschen Häfen beispielsweise oder an Berlin, Hannover, Hamburg. Also: sehr positiv. ({2}) Und natürlich hat diese Koalition wie nie zuvor Investitionsmittel für den Ausbau und die Sanierung der Schiene zur Verfügung gestellt. Auch hier kommen nachhaltig strukturpolitische Entscheidungen dazu, wenn ich alleine das Strukturstärkungsgesetz anschaue, Stichwort „Kohleausstieg“. Dort wird auch die Schiene profitieren, um durch den Anschluss an die Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger und für die nachfolgenden Generationen Chancen zu garantieren. Eine Topbotschaft: Nicht nur 86 Milliarden Euro mit der neuen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, sondern ein ordentlicher Schub für den öffentlichen Personennahverkehr und auch für Neubaustrecken. ({3}) Ich bin auch gespannt, wenn es konkret wird, wenn man vor Ort kommt und dann einer dasteht und sagt: Genau an dieser Stelle ist die Neuinvestition und der Neuausbau eben nicht nachhaltig; bitte bau woanders! – Das erlebst du als Verkehrsminister sehr oft. Ich freue mich, dass wir vor ein paar Tagen eine Green-Shipping-Konferenz in Hamburg gehabt haben. Wir haben es vor Jahren alle zusammen, auch durch europäische Vorgaben, geschafft, dass Nord- und Ostsee die saubersten Meere sind. Wir haben eine Schwefelreduzierung um 95 Prozent, weil wir es kontrollieren, weil wir es pönalisieren, und vor allem, weil wir daraus Erfahrungen schöpfen für den alternativen Antrieb bei den Schiffen. Wir haben LNG. Wir diskutieren schon über Wasserstoff. Wir wollen noch höhere Standards, auch fürs Mittelmeer und für die internationalen Meere. Wir wollen in internationalen Gremien die Umsetzung hinbekommen, mit deutscher und europäischer Technologie. Eine Topbotschaft: Damals Entscheidungen getroffen; heute sieht man die Nachhaltigkeit der Entscheidungen. ({4}) Keinem hier, der sich in seiner Fraktion, in seiner Partei Gedanken über die Zukunft, über die nachfolgenden Generationen macht, dem spreche ich seinen Weg dorthin ab. Jeder hat aber die Erlaubnis, andere politische Schwerpunkte und politische Ansätze zu haben. Natürlich haben auch wir viel dazugelernt: Zum ersten Mal investieren wir über 1,4 Milliarden Euro in den Radverkehr. Ja, in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten wurde zu wenig in den Radverkehr investiert. Und jetzt sehen wir durch Innovation im Radverkehr, auch durch Elektromobilität, dass die Bürgerinnen und Bürger genau diese Bedürfnisse, die so oft zitiert werden, auch in der Infrastruktur und Stadtplanung umgesetzt sehen wollen, und das machen wir. ({5}) Herr Präsident, abschließend zum Flugverkehr. Wir hatten vor Monaten einen Luftverkehrsgipfel, bei dem wir natürlich auch über synthetische Kraftstoffe wie bei allen anderen Verkehrsträgern geredet haben. Die Strategie geht auf: Mobil und digital verzahnen; technologieoffen, verkehrsmittel- und verkehrsträgerübergreifend und damit so nachhaltig zu sein, dass es uns die nachfolgenden Generationen danken. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Bundesminister Scheuer. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren, in so gut wie jeder Sitzung des Verkehrsausschusses wird von Sozialwissenschaftlern besserwisserisch behauptet, dass der Verbrennungsmotor durch Elektromobilität ersetzt wird. Auch wenn Sie das jeden Abend vor dem Schlafengehen wiederholen und mittlerweile offensichtlich selber glauben: Das ist eine Fiktion, bestehend aus drei Teilen, die ich Ihnen jetzt erklären werde: Erste Fiktion. Sie behaupten, die Elektromobilität ist kurzfristig umsetzbar. Für die Umsetzung Ihrer Pläne zur CO2-Reduktion brauchen Sie bis 2030 circa 10 Millionen Elektrofahrzeuge in Deutschland. Diese Autos müssen erst einmal von den Kunden in Deutschland gekauft werden, und dafür braucht man eine Verteilernetzstruktur, Trafohäuschen und Leitungen. Wie langsam wir in Deutschland Kabel verlegen können, kann jeder daran ermessen, wie schlecht das mit der Glasfaserinfrastruktur funktioniert. ({0}) Wenn also fast niemand in diesem Land diese Autos kauft, weil der Betrieb eine Zumutung ist, wie soll die Anzahl der Fahrzeuge im Bestand erhöht werden? Sollen die Hersteller ihre Autos verschenken? Was wollen Sie machen? Zweite Fiktion. Sie sagen: Elektromobilität trägt zur CO2-Reduktion bei. Der nationale Strommix ist deutlich kohlestromlastig. Der CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde wird durch die Abschaltung der Kernkraftwerke nächstes Jahr noch weiter zunehmen. Bereits heute ist der CO2-Ausstoß eines Elektrofahrzeugs bei dem Strommix, den wir haben, in etwa vergleichbar mit dem eines modernen Diesels. Rechnerisch senken Sie mit Elektromobilität die CO2-Emissionen im Verkehrssektor; aber dafür erzeugen Sie CO2-Emissionen im Energiesektor. Das ist eine Beleidigung für jeden Naturwissenschaftler! ({1}) Es ist unfassbar, dass Sie damit in der Öffentlichkeit durchkommen. Die dritte Fiktion von Ihnen ist, dass durch Elektromobilität die Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden. Das ist, mit Verlaub, eine dreiste Falschbehauptung von Ihnen. 95 Prozent der Arbeitsplätze in einem Autokonzern hängen am Verbrennungsmotor. Arbeitsplätze, die durch das Ende des Verbrennungsmotors verloren gehen, sind dauerhaft weg. Punkt! Ja, wir von der AfD sehen allein im Erhalt der Arbeitsplätze einen wesentlichen Punkt, warum wir für den Verbrennungsmotor kämpfen. ({2}) Synthetische Kraftstoffe bzw. Biokraftstoffe, wie in unserem Antrag formuliert, sind die einzige Lösung zum Erhalt des Verbrennungsmotors bei dieser EU-Gesetzgebung. Wer das nachher ablehnt, der hat keine Ausreden, wenn der Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie so weitergeht. Wir bitten deshalb um Ihre Unterstützung für unseren Antrag. Ich freue mich, wenn Sie die synthetischen Kraftstoffe unterstützen. Dann können Sie nachher diesem Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Dr. Spaniel. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Mathias Stein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der heutigen Debatte um die Frage der Nachhaltigkeit als Richtschnur unserer Politik geht es auch um die Kernfragen sozialdemokratischer Politik. Wir wollen eine Welt ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, eine Welt ohne Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, in der jeder und jede frei von Not und Angst leben kann. Dazu gehört es auch, dass die Menschen sich frei bewegen können, sei es mit dem Auto, mit dem Bus, mit der Bahn, mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß. In den vergangenen Jahrzehnten sind alle Verkehre in Deutschland dramatisch gestiegen. Die Folge ist: Jede fünfte Tonne des klimaschädlichen CO2 kommt aus dem Bereich Verkehr. Dabei spielt der Straßenverkehr zu 96 Prozent die zentrale Rolle. ({0}) Wenn wir zu einer nachhaltigen und solidarischen Verkehrspolitik kommen wollen, muss dieser Verkehr nicht nur sauberer, sondern auch effizienter und zum Teil auch weniger werden. Und – das ist uns als Sozialdemokraten besonders wichtig –: Alle Menschen haben ein Recht auf gute, sichere und klimafreundliche Mobilität, ({1}) unabhängig davon, wie dick das Konto ist. Es kann sich nicht jeder ein Brennstoffzellenauto leisten. Deshalb brauchen wir nicht nur eine ökologische Verkehrswende, sondern eine solidarische Verkehrswende. Besonders das Fahrradfahren hat aus meiner Sicht dort eine zentrale Bedeutung. Viele Wege, gerade in der Stadt und auch im ländlichen Bereich, sind unter 5 Kilometer lang und lassen sich ohne Zweifel schneller und auch gesünder mit dem Fahrrad zurücklegen. Ich bin stolz und froh, dass der Fahrradverkehr in den vergangenen Jahren schon in vielen Städten zugenommen hat. Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass auch viele andere Städte noch diese Chance bekommen. ({2}) Gemeinsam mit der Union haben wir Geld für Radverkehrsprojekte, für Radfahrschnellwege, für Radwege an Bundesstraßen zur Verfügung gestellt. Und es war die Koalition von Union und SPD, die das Fahrrad aus seinem Nischendasein in der Bundespolitik herausgeführt hat, ({3}) und das auch noch mit einer starken sozialdemokratischen Handschrift. ({4}) – Ja, Sie können ja gerne mal mit mir Wettrennen fahren. Einem anderen Bereich der Verkehrspolitik, der leider nicht den Weg in diesen Antrag gefunden hat, muss mit unserer sozialdemokratischen Handschrift noch ein bisschen mehr Gewicht verliehen werden. Es handelt sich um ein Verkehrselement, das zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien besteht, nämlich den Fußverkehr. Wer mit offenen Augen durch die Straßen und Wege geht – ich tue das oft, auch in Berlin –, der sieht, dass dort einiges zu tun ist. Mal engen parkende Autos auf Gehwegen die Bewegungsfreiheit ein, mal rasen Fahrradfahrende regelwidrig auf dem Fußweg, oder Gehwege sind von vornherein so geplant, dass der Coronaabstand von 1,50 Metern eine völlige Illusion ist. ({5}) Zu einer nachhaltigen und solidarischen Mobilität gehört eine Verkehrspolitik, die gerade die Menschen in den Mittelpunkt nimmt, die zu Fuß unterwegs sind und sich nachhaltig verhalten. ({6}) Als Abgeordnete können wir hier nicht nur Mittel bereitstellen oder fußgängerfreundliche Regeln schaffen – sie sind überfällig –, sondern wir können auch selber Vorbild sein; denn viele kurze Wege haben auch wir Abgeordnete. Tun wir etwas für das Klima, die eigene Gesundheit und auch für die Mitmenschen! Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Als Nächstes erteile ich das Wort der Kollegin Daniela Kluckert, FDP-Fraktion. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Klimawandel ist greifbar. Es ist ein Megathema, das unsere Generation, das wir hier im Bundestag angehen müssen. Der Verkehr muss seinen Beitrag dazu leisten, und er muss ihn besser leisten als in der Vergangenheit. Deswegen müssen wir umdenken. Wir müssen anfangen, wieder auf unsere Stärken zu setzen: Innovationen exportieren statt Verbote, nicht Askese vorleben, sondern den Wettbewerb und die Innovation. Wir müssen globales Vorbild werden durch Marktwirtschaft und Klimaschutz; denn Wettbewerb schafft die großen Innovationen. ({0}) Die Potenziale in der Digitalisierung im Verkehr sind enorm. Nehmen wir als erstes Beispiel Smart Parking. 30 Prozent des innerstädtischen Verkehrs resultiert allein durch Parkplatzsuche. 900 000 Tonnen CO2 – das ist die Hälfe des innerdeutschen Flugverkehrs vor Corona – könnten wir einsparen. Warum tun wir es nicht? Wir tun es entweder nicht, weil wir in der Digitalisierung völlig auf der Bremse stehen, völlig versagen oder weil uns die Ideologie bremst und wir anscheinend gar nicht wollen, dass der Verkehr in unseren Städten flüssiger ist. Das PBefG ist das zweite Beispiel. Mit Vernetzung, mit Pooling könnten wir CO2 sparen. Wir tun es aber nicht. Wir geben den Start-ups keine Chancen, weil wir nur auf Altbewährtes setzen und es eben nicht schaffen, hier voranzukommen. ({1}) Das dritte Beispiel sind die neuen Kraftstoffe, E-Fuels. Sie einzusetzen, wäre tatsächlich ein Beitrag, um CO2 zu sparen. Auch das wird nicht getan. Die E-Fuels können nicht angerechnet werden – nicht in der Bilanz der Automobilindustrie, nicht bei den Kraftstoffen. Was Sie hier sagen, Herr Scheuer, sind leere Worte. ({2}) Sie tragen nichts zur Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, nichts zum Erhalt der Arbeitsplätze bei. Da fragt man sich schon, auch an Herrn Stein gerichtet, ob denn Ihr Beitrag zu dieser Zukunft der Mobilität der Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland ist. ({3}) Woche für Woche bekommen wir schlechte Nachrichten von der Automobilzulieferindustrie. Hier werden Arbeitsplätze wegrationalisiert, hier gehen sie verloren. Heute erst hat der Chef von ZF eindringlich gewarnt, auch vor den Zielen der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen aus der CDU, die die Schraube anziehen will. Das ist die falsche Richtung. ({4}) Denn zur Zukunft der Mobilität gehört eben auch die deutsche Automobilindustrie – für Arbeitsplätze, für Wohlstand und für Innovationen. ({5}) Klimaschutz, Wettbewerb, erstklassige Anbieter vom Nutzer her gedacht und wirtschaftliche Stabilität gehören zusammen. Das gehört zum Klimaschutz, zur Mobilität der Zukunft, und das muss auch zu unserem Land, zu Deutschland gehören. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Stefan Gelbhaar. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Stichwort der Bundestagswoche ist „Nachhaltigkeit“. Wir diskutieren dazu hier die Mobilität der Zukunft. Das Thema steht allerdings so gar nicht auf der Agenda von Andreas Scheuer. Ideen zur Verkehrswende? Klima und Umweltschutz? Verkehrssicherheit? Alles Fehlanzeige! Und, Herr Stein, nein, Sie haben weder das Rad erfunden noch in den Bundestag gebracht. Die Innovationen, die Ideen fehlen. Das ist an dieser Stelle leider ein Totalausfall. ({0}) Die Hoffnung ist ja bekanntlich grün. Deswegen schaut man da ein bisschen weiter und weitet den Blick. Die EU-Kommission teilte heute mit, dass sie über eine weitere Verschärfung der CO2-Flottenwerte für Pkw nachdenkt. Der Bundeswirtschaftsminister kündigt daraufhin immerhin eine Charta für den Klimaschutz an. Und was machen Sie, Herr Scheuer? Sie kramen ein altes Pressestatement aus der Tasche und warnen vor überzogenen Grenzwerten, Maß und Mitte müssen gehalten werden. Mit Verlaub: Das richtige Maß sollte doch wohl die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen sein, oder? ({1}) Und was haben wir? Wir haben Dürre, wir haben Waldbrände, wir haben Eisschmelze, wir haben Überflutungen, wir haben die Vernichtung der Tierwelt und der Pflanzenwelt. Unsere Republik und, ja, insbesondere der Verkehrssektor trägt mit seinen Emissionen dazu maßgeblich bei, und das müssen wir ändern. ({2}) Tatsächlich haben die meisten Ministerinnen und Minister in der Bundesregierung das bemerkt. Das führt jetzt nicht unmittelbar zu merkbaren Taten; aber es gibt immerhin ein bisschen mehr warmen Sound. Bei Ihnen, Herr Scheuer, gibt es leider nur Störgeräusche. Sie wollen noch mehr Straßen. Sie beschweren sich, dass Verbrennerautos nicht gefördert werden. Beim Radverkehr machen Sie Anfängerfehler, und bei der Bahn ist Stau. Bemerken Sie eigentlich selbst, wie sehr Sie damit aus der Zeit fallen? Selbst die Autokanzlerin hält 50 bis 55 Prozent CO2-Reduktion bei den Antrieben bis 2030 für realistisch. Wir sagen: Nötig ist mehr. – Wir fordern ab 2030, nur noch neue Autos zuzulassen, die emissionsfrei sind. Das wäre eine Politik, die einen verlässlichen Rahmen vorgibt. Und das ist der Wirtschaft wichtig: Verlässlichkeit. ({3}) Damit sind wir wieder bei Maß und Mitte, Herr Scheuer. Aristoteles grübelte über die goldene Mitte und meinte die Mitte zwischen Übermaß und Mangel. Sie, Herr Scheuer, praktizieren Übermaß beim Auto und Mangel bei Rad und Bahn. Wo auch immer die Mitte sein mag: Da, wo Sie sind, Herr Scheuer, ist die Mitte jedenfalls nicht. ({4}) Deswegen, Herr Scheuer, werfen Sie diesen veralteten Bundesverkehrswegeplan weg! Investieren Sie in sichere Radwege! Übrigens: Von Ihren jetzt auch wieder erwähnten Millionen Euro – inzwischen sind es Milliarden Euro – aus dem Klimaschutzpaket kommt selbst nach einem Jahr bei den Kommunen für den Radverkehr null, niente, zero an. Das heißt, Sie bauen hier Luftschlösser. Investieren Sie in sichere Radwege! Sagen Sie es nicht nur, tun Sie es. Investieren Sie in Straßenbahnen, in vernetzte Bus- und Sharingsysteme, in die Bahn! ({5}) Machen Sie Autos, Lkws, Flugzeuge, Schiffe umweltfreundlicher. Das ist die Aufgabe. ({6}) Und das, Herr Scheuer, wäre Maß und Mitte. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was können und was müssen wir tun, damit unsere Kinder oder unsere Enkelkinder in 20 oder 30 Jahren in einer lebenswerten Welt leben? Das fragen viele Eltern und Großeltern in unserem Land. Auch die Jüngeren – das wissen wir alle – fragen uns hier im Deutschen Bundestag: Was tut ihr, um eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen? Wir als CDU/CSU-Fraktion reden dann natürlich über Klimaschutz, über Wirtschaftspolitik, auch über soziale Strukturen – der Kollege Felix Schreiner hat das alles eben in einer wunderbaren Rede dargelegt –; aber wir reden, wie auch in dieser Debatte, über Mobilität. Wenn wir über eine nachhaltige Mobilität reden, dann merkt man – auch wieder in diesen Debatten –: Es gibt völlig verschiedene Ansätze. Von der AfD kommen Drucksachen, in denen eigentlich nur steht: Den menschengemachten Klimawandel gibt es gar nicht. – Haken dran, weiter so. Dann gibt es einige, die sagen: Die beste Lösung wären doch Verbote, immer mehr Vorschriften, immer mehr Gängelungen, immer neue Auflagen, und am besten ist es doch, wenn die Bürger nicht mehr fliegen, nicht mehr mit dem Schiff fahren; Autos soll es sowieso nicht mehr geben. – Das treibt manchmal so seltsame Blüten wie hier in Berlin, wo einige von der Regierung auf die Idee kommen, Felsbrocken auf Straßen zu legen, damit keine Autos mehr durchfahren. ({0}) Das sind die Ansätze. Jetzt kommen wir von der AfD und diesem zweiten Ansatz zum dritten Ansatz, dem Ansatz der CDU/CSU-Fraktion. Wir sagen: Wir wollen investieren, wir müssen die Infrastruktur ausbauen. Unser Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat eben dargelegt, was wir allein in dieser Legislaturperiode alles machen: Rekordinvestitionen in die Schiene, Rekordinvestitionen in den öffentlichen Nahverkehr. Wir wollen die Digitalisierung des Verkehrs vorantreiben. Das sind unsere Antworten. Wir sagen: Wir wollen Klimaschutz mit Innovation, mit Technologien und durch technisches Know-how erreichen. Damit wollen wir eine nachhaltige Mobilität schaffen. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn wir über nachhaltige Mobilität sprechen, dann müssen wir aber auch darüber sprechen, dass wir diese guten Ideen hier nicht nur erarbeiten, sondern dass sie – im wahrsten Sinne des Wortes – möglichst schnell auf die Schiene kommen. Wenn wir in unserem Land mittlerweile durchschnittlich 20 Jahre für die Umsetzung eines Schienenprojekts brauchen, dann ist das aus meiner Sicht nicht mehr hinnehmbar. Wenn wir daran nichts ändern, dann brauchen wir über eine nachhaltige Mobilität in unserem Land und eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene nicht zu reden. Deswegen haben wir bereits in dieser Legislaturperiode vier Planungsbeschleunigungsgesetze beschlossen bzw. sind in diesem Monat dabei, das vierte zu beschließen. Dazu gehört zum Beispiel die Elektrifizierung des Schienenverkehrs, aber auch, dass wir – nach dänischem Vorbild – das Planungs- und Baurecht hier im Parlament verabschieden. So werden wir Infrastrukturprojekte beschleunigen. Wir müssen aber auch an heiße Eisen wie das Verbandsklagerecht ran. Das trägt dazu bei, dass mittlerweile eine Klageindustrie entstanden ist: Einige Verbände schauen sich wichtige Infrastrukturprojekte in unserem Land aus, versuchen, diese zu verhindern, und arbeiten damit gegen eine nachhaltige Mobilität. Deswegen ist ein schnelleres Planen und Bauen nicht nur mit Blick auf den nachhaltigen Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig, mit Blick auf eine nachhaltige Mobilität in Deutschland, vielmehr ist es auch wichtig für Klimaschutz und die Nachhaltigkeitsziele insgesamt. Deswegen erwarte ich gerade von den Grünen, dass sie im Bundesrat nicht mehr Initiativen für eine Reform des Verbandsklagerechts blockieren. Da müssen Sie mitmachen, wenn Ihnen Nachhaltigkeit wirklich am Herzen liegt. ({2}) Wir stehen vor der entscheidenden Frage: Wollen wir gängeln, verbieten, wollen wir sagen: „Na ja, es reicht uns, wenn der Ausbau einer nachhaltigen Infrastruktur Jahrzehnte dauert“? Ich will das nicht. Ich sage: Wir müssen in Know-how investieren, in künstliche Intelligenz, in Digitalisierung, dann schaffen wir nachhaltige Strukturen, und dann sorgen wir dafür, dass unsere Kinder, die Enkelkinder unseres Landes in einer guten, lebenswerten Welt leben. Dann werden wir unsere nachhaltigen Modelle zum Vorbild machen für andere Regionen dieser Welt; denn Nachhaltigkeit brauchen wir nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Dafür kämpfen wir als CDU/CSU-Fraktion, und dafür darf ich Sie um Ihre Unterstützung bitten, damit wir zu einem der Innovatoren Europas und der Welt werden. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Detlef Müller von der SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klimawende geht nicht ohne Verkehrswende. Das ist absolut unbestritten und, wie man fast allen Redebeiträgen heute entnehmen kann, auch hier im Deutschen Bundestag Konsens. Klar ist in der Debatte vor allem eines: Die Art und Weise, wie wir heute, aktuell, Mobilität gestalten, ist in fast allen tragenden Bereichen ein Auslaufmodell, vor allem aber im motorisierten Individualverkehr mit Verbrennungsmotoren, im Flugverkehr und im Güterverkehr auf der Straße und auf dem Wasser. Zwei Bereiche gehören aber nicht dazu: die Schiene und der öffentliche Personennahverkehr. Schon heute sind der Schienenverkehr und der ÖPNV, gerechnet auf den CO2-Ausstoß je Personenkilometer, die klimagünstigsten aller Verkehrsmittel. Wir haben seit Jahren in Wahlprogrammen, Koalitionsverträgen, Regierungserklärungen, in Talkshows und Sonntagsreden das Mantra gehört und gelesen, dass mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden muss. Wo es in den letzten Jahrzehnten aber oft nur Lippenbekenntnisse gab, hat sich die jetzige Koalition zur Bahn als Rückgrat der Verkehrswende bekannt und auch entsprechend gehandelt. ({0}) Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III bringt Milliarden in die Infrastruktur. Trassenpreissenkungen im Güterverkehr machen die Bahn zumindest wettbewerbsfähiger, die Erhöhung der Regionalisierungsmittel sorgt für die Angebotsausweitung im Nahverkehr der Bahn. Die Mehrwertsteuersenkung im Fernverkehr macht Reisen preiswerter. Die Ziele, Herr Wiehle, die wir damit verfolgen, sind durchaus ambitioniert: die Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030, einen Anteil von 25 Prozent des Güterverkehrs auf der Schiene und die Umsetzung des Deutschlandtaktes bis 2030. Das ist Nachhaltigkeit im Verkehrssektor, meine Damen und Herren. ({1}) Wer diese Nachhaltigkeit will, muss das System Schiene aber auch nachhaltig finanzieren. Das Bekenntnis zum Verkehrsträger Schiene muss dauerhaft sein, um die Klimaziele und die Verkehrswende zu erreichen. Dazu braucht es entsprechende Konzepte oder auch Planungen seitens des Verkehrsministeriums. Einiges muss aber sofort angegangen werden, beispielsweise die Elektrifizierung von Strecken. Wir haben im Koalitionsvertrag das Ziel festgehalten, bis Ende der Wahlperiode – also bis 2021 – 70 Prozent des Schienennetzes zu elektrifizieren, und haben seit 2018 dafür Mittel im Bundeshaushalt veranschlagt. Passiert ist bisher fast nichts. In den letzten Jahren der untergegangenen DDR wurden pro Jahr 250 bis 280 Kilometer Strecke elektrifiziert; ich weiß: völlig andere Bedingungen, keine Bürgerbeteiligung, Planung per Anordnung. Aber der Fakt steht. Und jetzt? Und wir? Nur 60 Schienenkilometer wurden im letzten Jahr elektrifiziert, nötig wäre das Zehnfache. Der Grund hierfür ist auch das Fehlen der entsprechenden Förderrichtlinie, die seit 2018 aussteht. Herr Bundesminister Scheuer, die Förderrichtlinie zur Elektrifizierung muss jetzt kommen. ({2}) Sie reden oft vom Turbo in der Verkehrspolitik. Hier müsste das Ministerium zumindest einmal in den zweiten Gang schalten; Gleiches gilt für den ÖPNV. Nicht erst die Coronakrise hat gezeigt, dass die Verbundfinanzierung des ÖPNV auf Dauer nicht tragfähig ist. Unsere Städte und Gemeinden sind schlicht nicht in der Lage, die Verkehrswende alleine zu stemmen. Derzeit schaffen sie es gerade, den Status quo einigermaßen zu finanzieren. Es geht dabei nicht nur um das 365-Euro-Ticket; es geht um die Angebotsausweitung und den Infrastrukturausbau, um engere Takte, aber auch um die Anbindung ländlicher Räume überhaupt. Wer hier einen nachhaltigen Beitrag des ÖPNV zur Verkehrswende erwartet, darf die Kommunen mit den laufenden Kosten nicht alleinlassen. ({3}) Deshalb, meine Damen und Herren, muss die ÖPNV-Finanzierung in Zukunft grundsätzlich neu diskutiert werden: als dauerhafte, gesamtgesellschaftliche Aufgabe zur Daseinsvorsorge und für den Klimaschutz. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alois Rainer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität der Zukunft – wo findet sie statt? Nur auf einem Verkehrsträger oder auf mehreren? Ich denke, es muss ein Mix aller Verkehrsträger sein. Der Wunsch in der Bevölkerung nach Mobilität ist groß. Mobilität der Zukunft bedeutet effiziente Mobilität. Die Basis einer effizienten Mobilität der Zukunft ist eine gut ausgebaute und moderne Infrastruktur. Durch die Prioritätensetzung wird eine entscheidende Grundlage für die Mobilität der Zukunft auf allen Verkehrsträgern, nämlich Schiene, Straße, Wasser und auch Luft, geschaffen. Neben den Verkehrswegen stehen aber auch das Breitbandnetz und die Digitalisierung der Verkehrsträger im Fokus. Damit haben wir bereits heute die besten Voraussetzungen für die Ermöglichung der Mobilität der Zukunft. Mobilität der Zukunft bedeutet individuelle und digitale Mobilität. Neben den Verkehrsträgern stehen insbesondere die Nutzer der Verkehrsinfrastruktur im Mittelpunkt aller Bestrebungen. Dazu sind die politischen Rahmenbedingungen und Anreize für Wirtschaft und Gesellschaft so zu setzen, dass eine moderne und zukunftsgerichtete Mobilität auf allen Verkehrsträgern möglich ist. Die kombinierte Benutzung verschiedener Angebote, vor allem im urbanen Umfeld, gesteuert durch Smartphone-Anwendungen, ist nur ein Beispiel dafür, das man aber auch auf den ländlichen Raum übertragen muss. Eine intelligente und verkehrsträgerübergreifende Verkehrssteuerung kann einen wichtigen Beitrag zur modernen Nutzung von Verkehrsmitteln und Verkehrsträgern leisten. Meine Damen und Herren, Mobilität der Zukunft bedeutet innovative Mobilität. Der Wandel in Vernetzung, Digitalisierung und Automatisierung wird ebenso wie die Einbeziehung des Klimaschutzes in die Verkehrspolitik alle Verkehrsträger nachhaltig beeinflussen. ({0}) Durch alternative Antriebe und Kraftstoffe, die technologieoffen gefordert und gefördert werden, durch die Fortsetzung des Markthochlaufs der Elektromobilität, durch die an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Um- und Neuordnung des Individualverkehrs in der Stadt und auf dem Land, durch die besondere Förderung der Schiene als Verkehrsträger der Zukunft für den Personen- und Gütertransport, durch die Neuausrichtung des Luftverkehrs, durch verkehrsträgerübergreifend neue Verkehrsmittel, heute schon durch E-Scooter und zukünftig auch durch Flugtaxis, und durch die fortschreitende Digitalisierung aller Verkehrsträger werden wir eine neue moderne und auch nachhaltige Mobilität in unserem Land ermöglichen. ({1}) Diese und viele weitere Maßnahmen sowie technologische Entwicklungen werden dazu beitragen, eine an den Bedürfnissen aller Menschen, nicht nur der Menschen in unserem Land, die links denken, oder der Menschen in unserem Land, die rechts denken, orientierte Nutzung der Verkehrsträger zu ermöglichen. Mobilität der Zukunft, meine Damen und Herren, bedeutet aber auch klimafreundliche Mobilität. Mobilität der Zukunft bedeutet insbesondere, dass deutlich weniger Emissionen im Verkehrssektor anfallen. Im Vergleich zu 1990 müssen sich die Emissionen im Verkehr bis 2030 um 40 bis 42 Prozent verringern. Im Rahmen des Klimaschutzprogramms 2030 soll dies mit einem Paket aus Förderung der Elektromobilität, Stärkung der Bahn und CO2-Bepreisung erreicht werden. Ergänzt wird dies durch verkehrsträgerspezifische Strategien und Maßnahmen, wie zum Beispiel den Deutschlandtakt, den Masterplan Schiene, die Nationale Wasserstoffstrategie und vieles mehr. Meine Damen und Herren, wir machen jetzt schon unglaublich viel für die Mobilität der Zukunft, für nachhaltige Mobilität. Ziel muss es aber sein, dass wir auch weiterhin die Infrastruktur auf allen Ebenen stärken. Damit übernehmen wir Verantwortung gegenüber der aktuellen und auch gegenüber den künftigen Generationen unseres Landes. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Alois Rainer. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Globalismus. Wenn heute über starke Demokratie, handlungsfähiger Staat und nachhaltige Finanzen gesprochen wird, so zeigt sich vor allem eines: Es braucht einen nachhaltigen Politikwechsel, und zwar gerade, um die Werte der deutschen Demokratie zu bewahren, um diesen Staat handlungsfähig zu erhalten, um die Finanzen nachhaltig für die Zukunft zu ordnen. Stattdessen sehen wir eine Politik, geboren aus einer amoklaufenden globalistischen Ideologie, die das Gegenteil bewirkt. Die Staaten sollen nicht handlungsfähig gehalten werden, sondern als eigenständige Strukturen verschwinden, die Völker jedes einzelnen Landes entmachtet werden, die autonomen Staaten sich auflösen. Scholz und Merkel wollen nicht nur den einmaligen Dammbruch, sondern den Einstieg in die immerwährende Schulden- und Transferunion. Gezielt wird die künstlich geschürte Coronahysterie zur Installierung eines räuberischen EU-Molochs genutzt, wie Herr Schäuble offen zugibt. Deutschland wird um 133 Milliarden Euro bestohlen für die Brüsseler Zentrale, die anderen davon Geschenke macht – Milliarden, die gar nicht da sind. Merkel führt unsere Kinder und Kindeskinder in eine nachhaltige Schuldknechtschaft. Brüssel ist ein neues Versailles. ({0}) Bei einer Einwanderungspolitik muss unsere Rechts- und Wertekultur gesichert werden. Dafür ist die Verbreitung gesetzwidriger Inhalte, insbesondere von Gewaltaufrufen gegen sogenannte Ungläubige oder Frauen, zu unterbinden. Symbole, die die Unterdrückung der Frau propagieren und keineswegs religiös sind, wie etwa Vollverschleierung und Kopftuch, gegen das mutige Frauen im Iran unter Todesdrohung kämpfen, sind im öffentlichen Raum, vor allem aber in Schulen und Polizei, öffentlicher Verwaltung und Rechtspflege zu verbieten. Eine Einwanderung von Personen, welche solche Unterdrückungssymbole gutheißen, hat zu unterbleiben. ({1}) Die beiden Scheinbegründungen für diese schädliche Migration, Flucht und Fachkräfte, sind Blendwerk. Wer aus seinem Heimatland in einen Nachbarstaat angeblich geflohen ist, ist bei nachfolgenden Reisebewegungen kein Fliehender mehr und hat für weitere illegale Grenzübertritte keinen Schutzanspruch mehr. Flüchtling zu sein, ist kein Etikett, das man rund um den Globus mitnimmt. Geboten ist Rückführung. Ihr Hiersein beruht nicht nur auf einem falschen, erschlichenen Status; es schadet auch Deutschland massiv finanziell, inklusive aller Folgen wie Wohnungsnot, explodierender Ausländerkriminalität, sozialer und kultureller Verwerfungen, vom Mobbing deutscher und jüdischer Kinder in den Schulen bis zu Kopftuchreferendarinnen in den Gerichten. Für den Arbeitsmarkt gilt: Statt unqualifizierte, wenig integrierte Ausländer zu importieren, ist die Abwanderung von Hochqualifizierten zu verhindern. Letztes Jahr sind 180 000 Deutsche ausgewandert; junge Akademiker. Um die zu halten, braucht es eine Senkung der Steuerlast und Wiederanwerbeprogramme. Berufe mit Fachkräftemangel bei uns sind attraktiver zu gestalten. Der demografischen Fehlentwicklung ist entgegenzutreten; dafür sind Familien steuerlich zu entlasten. Die rund 50 Milliarden Euro, die jährlich für eine schädliche Immigration rausgeworfen werden, sind für die Förderung junger Familien einzusetzen. Das, meine Damen und Herren, wäre nachhaltig. ({2}) Doch weiterhin lässt diese Regierung rechtswidrig die deutschen Grenzen sperrangelweit offen, um illegale Zuwanderung zu forcieren. Kein Schutz an den deutschen Grenzen, aber ein Graben um den Reichstag gegen das eigene Volk! Mit dieser Politik, meine Damen und Herren, muss Schluss sein. We hold this truth to be self-evident: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Deutschland ist kein Einwanderungsland. ({3}) Im Bundestag muss wieder eine Politik gemacht werden, die endlich seiner Inschrift gerecht wird: „Dem deutschen Volke“. Machen wir die Demokratie in Deutschland wieder stark, den Staat wieder handlungsfähig! ({4}) Schluss mit der Spaltung des deutschen Volkes und der Herrschaft des Unrechts – für Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Andreas Jung. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute schon gesagt worden: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist gefährdet, für alles Mögliche missbraucht zu werden. Das haben wir gerade eben wieder erlebt. ({0}) Deshalb will ich mit der allgemein anerkannten Definition des Nachhaltigkeitsbegriffes beginnen, den die Brundtland-Kommission entwickelt hat. Sie hat gesagt: Eine nachhaltige Entwicklung ist „eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ – gut für die Generation heute, aber eben nicht schlecht für die, die nach uns kommen. Was heißt das für die Finanzpolitik? Was heißt das für nachhaltige Finanzen? Das ist mit einem ganz einfachen Grundsatz zu übersetzen: Wir müssen mit dem Geld, das wir haben, mit den Einnahmen, die uns zukommen, auskommen. ({1}) Das gilt so für jede Familie, es gilt für jedes Unternehmen, und es gilt eben auch für den Staat. Diesen Grundsatz haben wir vor etwas über zehn Jahren auch im Grundgesetz niedergeschrieben: Das ist die Schuldenbremse. Diese Schuldenbremse gilt; die ist intelligent formuliert worden und umfasst eine Ausnahmemöglichkeit für außergewöhnliche Notsituationen. Von der mussten wir in diesem Jahr Gebrauch machen, und wir müssen von ihr im nächsten Jahr noch mal Gebrauch machen. Aber es ist eben die Ausnahme. Sie ist ja auch mit der klaren Regel verbunden, dass dazu ein Tilgungsplan gemacht werden muss. In diesem Tilgungsplan muss dargelegt werden, dass in angemessener Zeit diese Schulden zurückgezahlt werden, um eben nicht künftige Generationen zu belasten. Wir haben in diesem Jahr gesagt: Wir müssen diese Schulden in zwei Jahrzehnten zurückzahlen, in dieser Generation, und dabei muss es bleiben, auch wenn wir noch mal von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen. Wir dürfen nicht die künftigen Generationen belasten. ({2}) Uns ist wichtig, dass es, wenn wir jetzt in einer Notsituation Schulden aufnehmen, trotzdem bei dem Grundsatz bleibt. Darüber führen wir eine Grundsatzdiskussion; das ist heute schon deutlich geworden. Wir müssen im Jahr 2022 zurück zur Schuldenbremse. Wir müssen zurück zu ausgeglichenen Haushalten. Für uns heißt das: Wir müssen so schnell wie möglich auch zurück zur schwarzen Null – aus Verantwortung für die künftigen Generationen. ({3}) Das ist nicht irgendeine Debatte, sondern es geht um unser Grundgesetz, wenn ich über die Schuldenbremse spreche. Das zwingt uns zu sehr konkreten Entscheidungen. Deshalb will ich an dieser Stelle ausdrücklich dafür plädieren, dass wir das, was wir für die Schuldenbremse, für einen Teilbereich der Nachhaltigkeit, und was wir für die natürlichen Lebensgrundlagen geregelt haben, für einen anderen Teilbereich der Nachhaltigkeit generell regeln: dass wir Nachhaltigkeit ins Grundgesetz schreiben und damit ein grundlegendes Strukturprinzip in unserer Verfassung verankern. Ich möchte in Bezug auf nachhaltige Finanzen etwas Weiteres in den Mittelpunkt stellen. Es kommt darauf an, wie wir das Geld investieren. Wir haben hier eine klare Priorität, und die heißt Zukunftsinvestitionen. Wir haben ehrgeizige Klimaziele, und wir werden über die Anhebung der Klimaziele in der Europäischen Union diskutieren. Dies ist eine Diskussion, die wir offensiv und mit Offenheit führen. Aber es ist doch klar: Das muss umgesetzt werden. Dafür brauchen wir Innovationen. Dafür brauchen wir Investitionen. Deshalb brauchen wir genau diese Prioritäten im Bundeshaushalt. Wir werden sehr genau darauf achten, dass es genauso passiert. ({4}) Den entsprechenden Umbau in Industrie, in Energie, bei unseren Gebäuden, in der Mobilität müssen wir leisten. Uns ist klar, dass es nicht allein mit staatlichen Investitionen getan ist. Wir brauchen auch private Investitionen. Wir brauchen dazu Wachstum, aber wir brauchen nachhaltiges Wachstum. Wir wollen Klimaziele nicht mit Schrumpfung erreichen, wir wollen sie mit Wachstum erreichen. Dieses Wachstum muss aber nachhaltig sein. Dazu brauchen wir neben staatlichen auch private Investitionen. Hier müssen wir in der Steuerpolitik Anreize setzen. Wir müssen die ermuntern, anreizen, unterstützen, die bereit sind, ihr Geld in Nachhaltigkeit, in Technologien, in Innovationen zu investieren. Wir müssen auf das, was wir bis jetzt schon gemacht haben, eine Schippe drauflegen und diese Ermunterung, diese Ertüchtigung weiter vorantreiben. ({5}) Eine letzte Bemerkung. Das wird von Privatpersonen gemacht, von Unternehmen. Deshalb hat Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik ganz allgemein auch etwas mit der Besteuerung unserer Unternehmen zu tun. Wir erleben es doch jetzt. Warum müssen wir Schulden aufnehmen? Warum sind die Steuern eingebrochen? Weil die Wirtschaftskraft nicht so ist wie sonst. Wir müssen alles dafür tun, dass kleine Familienbetriebe unterstützt werden. Familienbetriebe sind die Nachhaltigkeit, die Wiege nachhaltigen Wachstums, werden von Generation zu Generation übergeben. Es wird in Generationen gedacht. Wir haben in der Finanzpolitik viele Aufgaben vor uns. Wir wollen und werden diese mit Konsequenz angehen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Andreas Jung. – Für die FDP hat das Wort der Kollege Konstantin Kuhle. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir in dieser Woche über das Thema Nachhaltigkeit sprechen – wir tun dies aus Sicht der Innen- und Rechtspolitik –, dann bedeutet dies: Widerstands- und Regenerationsfähigkeit unserer Demokratie und ihrer Institutionen. Wenn wir über diese Institutionen sprechen, dann müssen wir – das spiegelt sich in den Vorlagen wider, die auf dem Tisch liegen – über das Parlament sprechen. Wir müssen über die Presse und den Rundfunk sprechen. Wir müssen über unterschiedliche Ebenen unseres Staates sprechen: über Justiz und Polizei. Ich will aber beginnen, indem ich über eine Ebene spreche, die in den letzten Tagen aufgrund der Kommunalwahl in NRW eine besondere Rolle gespielt hat. Das ist die Kommunalpolitik; denn nirgendwo sind die Repräsentantinnen und Repräsentanten unseres Staates so dicht dran wie in den Kommunen. Die Widerstands- und Regenerationsfähigkeit unseres demokratischen Systems beginnt auch mit einer Stärkung der Kommunalpolitik. Deswegen sollten aus diesem Haus ein Dank und ein Zeichen des Respekts gegenüber der Kommunalpolitik ausgehen. ({0}) Es ist nicht so einfach. Wer sich mit Kommunalwahlkämpfern unterhält – wie gesagt, in diesem Jahr haben Kommunalwahlen in NRW und Bayern stattgefunden; nächstes Jahr sind Hessen, Niedersachsen und Berlin an der Reihe – oder selber im Wahlkampf aktiv ist, der wird sehr schnell merken, dass man auf eine Menge Unverständnis stößt. Man bekommt Sachen zu hören, wie: „Das tue ich mir doch nicht an“, dass man auf Ablehnung stößt, dass man teilweise sogar auf körperliche Gewalt stößt. – Im aktuellen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 steht auf Seite 47: Aus Todes- und Feindeslisten erwachsen „keine konkreten personenbezogenen Gefährdungsaspekte“, sondern sie führen lediglich zu Einschüchterung. Wenn Kommunalpolitiker das lesen müssen, dann frage ich mich doch: Hat unser Staatswesen eigentlich verstanden, wie krass die Bedrohung für Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker ist? Walter Lübcke hat auch auf einer Todesliste gestanden. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Institutionen gegen diejenigen verteidigen, die versuchen, sie zu zerstören: von den Rändern und ganz besonders von der rechtsextremen Seite. ({1}) Ich glaube, dass die Frage der Widerstands- und Regenerationsfähigkeit unserer Demokratie auch etwas damit zu tun hat, dass wir im Parlament das Thema Nachhaltigkeit unserer Entscheidungen, aber auch Nachhaltigkeit unserer Entscheidungsprozesse reflektieren. Ja, ich halte es für einen Fehler, dass dieser Deutsche Bundestag die epidemische Lage von nationaler Tragweite immer noch nicht wieder aufgehoben hat, obwohl die Voraussetzungen längst nicht mehr bestehen. ({2}) Wir können es doch in Nordrhein-Westfalen beobachten. Dort ist auf Landesebene die epidemische Lage von landesweiter Tragweite aufgehoben worden, während der Bund weiter daran festhält. Das macht keinen Sinn. Es ist gerade in Coronazeiten auch Zeit für parlamentarisches Selbstbewusstsein. Wir haben Demonstranten, die durch Berlin laufen und legitime Fragen stellen. Wir haben auch Leute, die keine legitimen Fragen stellen, komische Sachen machen und auf die Reichstagstreppe marschieren. Aber es sind Leute dabei, die von uns wissen wollen: Was macht ihr da? Wir müssen mit denen debattieren. Wir müssen mit denen auch ins Gespräch kommen. Damit zusammen hängt auch, dass wir uns nicht in einer Art legislativen Notstand befinden und diese parlamentarische Situation nutzen, um die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu beenden. Morgen ist mit einem Antrag der FDP-Fraktion dazu Gelegenheit. ({3}) Meine Damen und Herren, zu guter Letzt hat Nachhaltigkeit unseres demokratischen Systems auch etwas damit zu tun, wie hoch das Ansehen und die Attraktivität unserer liberalen Demokratie in der Welt sind. Erst wenn eine demokratische Entscheidung, erst wenn das Handeln der Exekutive gebunden ist an den Rechtsstaat, an eine Verfassungsordnung, an Menschenrechte, wird aus einer Demokratie eine liberale Demokratie. Es ist nicht zu fassen, dass wir in Zeiten von Corona über chinesische Masken, über russische Impfungen und gar über kubanische Ärzte sprechen, aber nicht über die Vorteile einer demokratischen Verfasstheit der Europäischen Union. Autokratische Regime und ihre Freunde, auch im Deutschen Bundestag, haben doch ein Interesse daran, dass die Europäische Union in Pandemielagen wie jetzt doof dasteht. Die Europäische Union insbesondere unter deutscher Ratspräsidentschaft muss mehr investieren in Aufklärung gegen Desinformation, in eine Stärkung von Rundfunk und Presse, in Public Diplomacy, in die Stärkung der Zivilgesellschaft und in die IT-Sicherheit, damit unsere liberale Demokratie gegen ihre Feinde auf der Welt verteidigt wird. Das hat auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Wenn wir uns unserer eigenen Funktion selbst bewusst sind, dann können wir unsere demokratische Ordnung auch nachhaltig verteidigen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Hagl-Kehl. ({0})

Rita Hagl-Kehl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004287

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit – dazu gehört auch eine lebendige Demokratie. Das sechzehnte Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen fordert die Staaten der Welt ausdrücklich dazu auf, starke Institutionen zu entwickeln und zu pflegen. Denn klar ist: Nur dort, wo die demokratischen Institutionen stark genug sind, um das Gemeinwohl zu fördern, kann eine nachhaltige Entwicklung gelingen. Die Institutionen unseres Rechtsstaates, unserer Demokratie müssen in diesem Jahr bekanntlich eine schwierige Bewährungsprobe bestehen. Die Coronapandemie hat uns alle vor gewaltige Herausforderungen gestellt, und sie tut dies auch weiterhin. Zum Schutz von Leben und Gesundheit sind die Grundrechte der Menschen in unserem Land ganz erheblich eingeschränkt worden, in einer Bandbreite wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie es mich klipp und klar sagen: Unsere Demokratie und unser Rechtsstaat haben sich in dieser Krise als stark erwiesen. ({0}) Unser Gemeinwesen hat auf die Bedrohung angemessen reagiert. Die Regierungen von Bund und Ländern haben jederzeit besonnen und mit Augenmaß gehandelt. Eine Kontrolle behördlicher Maßnahmen durch unabhängige Gerichte war und ist durchweg gewährleistet. Ganz überwiegend haben die Maßnahmen Bestand gehabt. Eindrucksvoll zeigt sich darin, dass die Verwaltungen in Bund und Ländern auch in einer schwierigen Lage fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Sie achten die Grundrechte. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Richtschnur für ihr Handeln. Verhältnismäßiges Handeln bedeutet auch, eine fortdauernde Gefahr mit dem nötigen Ernst zu behandeln. Deutschland ist bisher gut durch diese Krise gekommen. Unser Staat hat sich als handlungsfähig erwiesen. Aber die Pandemie ist nicht überstanden. Die aktuellen regionalen Ausbrüche zeigen das. In der gegenwärtigen Lage müssen wir weiterhin verantwortungsvoll handeln. Deshalb wäre es falsch, jetzt generelle Signale der Entwarnung zu schicken. ({1}) Konkret heißt das auch: Es wäre verfrüht, die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufzuheben. Die Frage, wie mit der Pandemie umzugehen ist, geht uns alle an. Diese Frage muss kontrovers diskutiert werden, und sie wird kontrovers diskutiert – hier im Deutschen Bundestag ebenso wie in der Gesellschaft. Seit Beginn der Pandemie gibt es eine intensive öffentliche Debatte über staatliche Maßnahmen. Lebhaft und leidenschaftlich wird diskutiert, zustimmend und kritisch – im Internet, in Zeitungen, im Fernsehen, im Familien- und Freundeskreis. Auch hier zeigt sich unsere Demokratie. Sie ist vital und stark; ({2}) denn eine überwältigend große Mehrheit der Menschen in diesem Land – 90 Prozent der Bevölkerung – verhält sich solidarisch. Sie haben ihre alltäglichen Gewohnheiten aus Einsicht an die besondere Situation angepasst. Sie haben aus Überzeugung zeitweise Einschränkungen in ihrer Lebensführung hingenommen, um das Leben und die Gesundheit ihrer Mitmenschen zu schützen. Unkritisch ist diese große solidarische Mehrheit keineswegs, aber sie achtet die demokratischen Spielregeln und sagt laut Nein zu Extremismus und Gewalt. ({3}) Dieser demokratische Konsens in einer bunten und vielfältigen Gesellschaft ist die große Kraftquelle unseres Gemeinwesens. Dieser demokratische Konsens ist es, der unsere Institutionen stark macht, und damit ist es nicht zuletzt dieser demokratische Konsens, mit dem wir einen zentralen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein erster Gedanke. Unter der Generalüberschrift „Nachhaltigkeit“ geht es auch um Fragen lebendiger Demokratie – zu Recht. Denn unsere Demokratie steht keineswegs auf sicheren Füßen. Sie muss im Alltag verteidigt und grundsätzlich weiterentwickelt werden. ({0}) Gegen Demokratieverdruss hilft letztlich nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie. Das fordert Die Linke seit Langem, auch auf Bundesebene. ({1}) Ein zweiter Gedanke. ({2}) Zu nachhaltiger Demokratie gehört auch, dass in besonderen Zeiten – aktuell angesichts der Coronapandemie – Maßnahmen dagegen prinzipiell parlamentarisch begründet, begrenzt und begleitet werden. ({3}) Sondervollmachten für die Exekutive widersprechen dem. ({4}) Drittens. Bundesinnenminister Seehofer hat vor Monaten festgestellt: Von Rechtsextremisten geht die größte Gefahr für die Demokratie aus. – Das unterstreiche ich hier – auch für Die Linke. ({5}) Diese Feststellung muss dann aber auch Konsequenzen haben. Dazu gehört, dass Initiativen, die sich für Bürgerrechte und Demokratie und gegen Rechtsextremismus engagieren, dauerhaft und auch hinreichend gefördert werden müssen. ({6}) Das ist nach wie vor nicht der Fall. Wir fordern dies hier ein, und ich füge hinzu: Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten ist gemeinnützig und ungemein wichtig, und wir sollten uns dieser Sache annehmen. ({7}) Ein vierter Gedanke. Demokratie ist gemäß dem Grundgesetz ein hohes Verfassungsgut. Aber es gibt auch immer wieder Versuche, das umzudeuten, etwa als die Bundeskanzlerin Angela Merkel vor Jahren eine marktkonforme Demokratie forderte. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wir brauchen einen demokratiekonformen Markt. ({8}) Davon entfernen wir uns derzeit rasant. Fünftens. Auf die Frage, ob die Digitalisierung Bürgerrechte und Demokratie stärkt oder schwächt, habe ich einmal geantwortet: Chancen groß, Gefahren riesig. – Dazu will ich uns und Ihnen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1983 in Erinnerung rufen. Es wird „Volkszählungsurteil“ genannt. Es besagt verkürzt und sinngemäß: Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, was wer über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist undenkbar. Fragen wir uns selbst, ob wir noch wissen können, wer was über uns weiß! Die Antwort dürfte Nein sein, und dabei spreche ich nicht etwa nur über Datenbegehren von Staats wegen oder von Geheimdiensten. Die Digitalisierung – inklusive der sogenannten sozialen Netzwerke – ist ein wachsender Datenstaubsauger. Umso wichtiger ist ein umfangreicher Datenschutz, der dem 21. Jahrhundert gerecht wird. ({9}) Sechstens. Damit bin ich bei einem global ungelösten Problem. Datenmonopole wie Google, Amazon, Facebook usw. horten, verknüpfen und manipulieren Milliarden persönlicher Daten und vermarkten sie mit einem wahnsinnigen Profit. Dagegen gibt es bislang weder Kontroll- noch Schutzmechanismen. Ich räume ein: Auch ich kenne kein erfolgversprechendes Modell, wie diese digitale Aushöhlung der Demokratie zu bannen ist. Aber es zeigt, wohin eine marktkonforme Demokratie führt. Verlierer sind die Demokratie und die Würde des Menschen. Damit zu meinem siebten und abschließenden Gedanken. Fundierte Untersuchungen, aber auch der Alltag zeigen: Demokratisches Engagement braucht eine solide soziale Basis. ({10}) Eine Gesellschaft, die in massenhaft Arm und elitär Reich zerfällt, bei der zudem die verbindende Mitte schwindet, eine solche Gesellschaft wird demokratischer Teilhabe entzogen, und deshalb engagiert sich Die Linke für beides: für soziale Gerechtigkeit und für mehr Demokratie. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Für Bündnis 90/Grüne hat das Wort die Kollegin Tabea Rößner. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unterliegen Bordbistros im ICE dem Staatsgeheimnis? Das ist eine absurde Frage. Nicht so für Bundesverkehrsminister Scheuer! Mit Verweis auf das Betriebsgeheimnis der Bahn verweigert er einem Oppositionskollegen eine Antwort zur Funktionsfähigkeit der Zugbistros. Das ist grotesk. ({0}) Es sagt aber auch einiges über das Demokratieverständnis dieses Bundesministers aus. Er gibt den Parlamentarismus nicht nur der Lächerlichkeit preis, er unterläuft damit das parlamentarische Fragerecht und gefährdet damit die Demokratie. Das darf nicht sein! ({1}) Mehr denn je wird unsere freiheitliche Demokratie herausgefordert: Verschwörungstheorien, Desinformation, Hass und Hetze zeigen ihre Wirkung – wie in Halle oder in Hanau. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und rechtsextremistische Gewalt ziehen Blutspuren durchs Land. Dieser Entwicklung müssen wir mit aller Vehemenz entgegenwirken. Da stehen wir alle in der Verantwortung, und der Staat in ganz besonderem Maße. ({2}) Unsere freiheitliche Gesellschaft lebt vom Austausch der Argumente und der Meinungen. Dieser gesellschaftliche Diskurs ist das Lebenselixier unserer Demokratie. Für den freien Meinungsbildungsprozess ist eine informierte Gesellschaft essenziell. Deshalb muss der Staat die Voraussetzungen dafür schaffen: durch Bildung, durch Rechtsstaatlichkeit, durch Transparenz, durch die Wahrung der Grundrechte und öffentlichen Güter. Eine lebendige Zivilgesellschaft, eine freie Wissenschaft, Kultur und Medien sind wichtige Akteure für eine informierte Gesellschaft, sie spielen eine entscheidende Rolle für die demokratische Kontrolle. Es gilt daher, diese Akteure zu stärken. ({3}) Wir machen dazu konkrete Vorschläge: für ein Demokratiefördergesetz, das angesichts von verschwörungsideologischen Protesten in der Coronapandemie noch wichtiger geworden ist. Damit sollen zum Beispiel Initiativen in der Demokratiearbeit nachhaltig finanziert werden. Wir beantragen auch die Weiterentwicklung des Informationsfreiheitsgesetzes, um echte Transparenz staatlichen Handelns herzustellen. Deshalb haben wir auch einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Journalistinnen und Journalisten das Recht auf Auskunft und Akteneinsicht bei Bundesbehörden gewährt, damit sie ihre Aufgabe als Public Watchdog auch wirklich erfüllen können. ({4}) Journalisten sollen nicht erst klagen müssen, um von Bundesbehörden Informationen zu erhalten. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, über die Nazivergangenheit ehemaliger BND-Mitarbeiter zu erfahren oder über die Ergebnisse eines Glyphosat-Gutachtens, das von einer Bundesbehörde in Auftrag gegeben wurde. Mit fadenscheinigen Begründungen wird die Herausgabe von Informationen immer und immer wieder verweigert. Das erschwert nicht nur die Arbeit von Journalistinnen, es schadet der Demokratie. ({5}) Der digitale Wandel stellt die Medien vor große Herausforderungen; da sollte der Bund ihnen nicht noch Steine in den Weg legen. Im Zweifelsfall ist die Erfüllung eines Medienzugangsrechts bei Bundesbehörden hilfreicher für die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten als irgendwelche Zustellförderungen. 2016 haben wir Grüne bereits einen Gesetzentwurf für ein Presseauskunftsrecht vorgelegt und ihn jetzt noch einmal verbessert. Nun stehe ich wieder hier, und wir sind noch immer keinen Deut weiter. Laut Koalitionsvertrag wollten Sie die Auskunftsrechte der Presse stärken. Die Bundesregierung sitzt das mit Ignoranz aus. Und die SPD kündigt dauernd einen Gesetzentwurf an, den keiner kennt. Nehmen Sie unseren! Wenn Sie mit Open Data und einem Transparenzgesetz von sich aus mehr Informationen veröffentlichten, dann gäbe es auch weniger Klagen und Auskunftsgesuche, Sie hätten weniger Arbeit, und die Demokratie würde deutlich gestärkt werden. Sie haben von uns gute Vorschläge auf dem Tisch. Um mit Goethe zu schließen: Der Worte sind genug gewechselt,Laßt mich auch endlich Taten sehn! Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Zuerst einmal ein herzliches Dankeschön dafür, dass der Deutsche Bundestag heute und in den kommenden Tagen über das Thema Nachhaltigkeit diskutiert, und das nicht nur in einem verengten Sinne, sondern in all seinen Facetten. Heute geht es um das Thema „starke Demokratie und handlungsfähiger Staat“. Eine Demokratie ist dann stark, ein Staat ist dann handlungsfähig, wenn er, wenn sie wehrhaft ist, wenn sie den Bürgerinnen und Bürgern sichert, dass sie in Freiheit, aber eben auch in Frieden und in Sicherheit leben können. Das gilt gegen Gefahren im Inneren und aus dem Inneren genauso wie für Gefahren, die von außen kommen. Deswegen spielen die Sicherheitsbehörden in Deutschland, die Polizeien des Bundes und der Länder, aber eben auch die Bundeswehr eine große und unverzichtbare Rolle für eine starke Demokratie, einen handlungsfähigen und wehrhaften Staat. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Sicherheitsbehörden bedürfen der nachhaltigen und stetigen Unterstützung. Sicherheit ist keine Ware und nichts, was sich nach der Kassenlage richten sollte, sondern ist ein ureigenes Anrecht der Bürgerinnen und Bürger. Und es ist die hoheitliche Aufgabe dieses Staates, diese Sicherheit zu gewährleisten. Deswegen brauchen die Sicherheitsbehörden – egal ob im Inneren oder gegen Gefahren von außen – eine stetige finanzielle Ausstattung, Ausrüstung, genügend Personal. Aber vor allen Dingen brauchen sie auch die stetige Unterstützung, wenn sie ihre Arbeit, ihren Dienst verrichten, wenn sie in den Einsatz gehen. Für die Bundeswehr ist das sichergestellt dadurch, dass der Bundestag hier etwa über Missionen entscheidet. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren – gestatten Sie mir diese persönliche Anmerkung auch als Mutter eines Polizeibeamten –, was Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, aber auch Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten nicht brauchen, ist, dass sie den Eindruck haben, dass sie für politische Zwecke missbraucht werden, ist, dass sie den Eindruck haben, dass – auch hier in diesem Haus – ein Unterschied gemacht wird, ob der Angriff auf sie von links oder von rechts erfolgte. Was sie brauchen, ist die Solidarität der Demokraten in diesem Haus; das sollten wir an dieser Stelle noch einmal deutlich machen. ({1}) Lassen Sie mich – auch mit Blick auf das, was am Anfang dieser Debatte zu hören war – eines sagen: Viele junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund wie ohne Migrationshintergrund verpflichten sich und stellen sich freiwillig in den Dienst dieser Gesellschaft, in den Dienst der Bundeswehr. Sie leisten einen Eid, und sie sind bereit, im Zweifel auch ihr eigenes Leben und ihre Gesundheit für die Verteidigung der Werte dieses Grundgesetzes, unserer Verfassung, einzusetzen, sind bereit, sich für eine starke Demokratie und für einen handlungsfähigen und wehrhaften Staat einzusetzen. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, diese jungen Männer und Frauen leisten ihren Eid nicht auf eine Demokratie, die aus lauter Angst sich abschließt, sie leisten diesen Eid nicht auf eine Demokratie, die glaubt, dass man Menschen in Kästen stecken darf, je nachdem, wo sie geboren sind, ob sie Männer oder Frauen sind, ob sie schwarz oder weiß sind, ob sie das eine oder das andere glauben. Diese jungen Männer und Frauen, die haben verstanden, um was es diesem Grundgesetz und unserem Staat geht, nämlich um den Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. – Das gilt immer und zu jeder Zeit. Dafür treten sie ein, und manch einer, der heute hier diskutiert hat, könnte sich davon eine Scheibe abschneiden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Harald Weyel. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Kollegen! Liebe vielfältige Zuschauer an den Geräten! Die Wirtschaftsordnung der EU wird in den EU-Verträgen eindeutig als eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb bzw. wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft definiert. ({0}) Umso erstaunlicher ist es, dass sich im Rahmen der sogenannten Klimakrise eine Denkweise etabliert, die das Gegenteil anstrebt. „Die EU als Ganze ist in der Lage, ihre Wirtschaft und Gesellschaft umzugestalten“, heißt es in der Mitteilung der Kommission zum Grünen Deal. Wer sich weiter durch dieses Papier liest, trifft auf Adjektive wie „rigoros“ und Formulierungen wie die, dass „alle Maßnahmen und Strategien der EU … zur Verwirklichung der Ziele des europäischen Grünen Deals beitragen“ müssen. Dieses Dokument ist seit mittlerweile neun Monaten bekannt, ohne dass sich in der Legislative, abgesehen von der AfD, irgendwo Widerstand gegen diese Planwirtschaft rühren würde. Denn immerhin hat sich die Kommission nichts weniger auf die Fahnen geschrieben als eine Ökodiktatur, die die europäische Vielfalt planwirtschaftlich gleichschalten möchte. ({1}) Sie geht damit weit über die mehrjährige Finanzplanung hinaus, die 1988 von Jacques Delors etabliert wurde, um aus dem Morast haushaltspolitischer Fehlpraktiken herauszukommen. Stattdessen hat sie die verstetigt bzw. genau in die hineingeführt. ({2}) Es kommen da unangenehme Erinnerungen auf, auch mit Blick auf die Frage, wie sich die Franzosen diese Planifikation vorstellten oder im eigenen Land teilweise praktizierten. Es ist die Erinnerung an den ominösen, bösen Vierjahresplan von 1936. Wir erinnern uns: Es ist noch nicht so lange her, da gab es immer den Vorwurf, dass die EU ja so eine Art viertes Reich der Deutschen darstellen würde – ein diffamierender Vorwurf von interessierter Seite. ({3}) Bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass da in anderer Hinsicht vielleicht was dran ist, nämlich dass es eher das dritte der Franzosen ist. Und damit man das auf der anderen Rheinseite auch versteht: Cet espace de l’Union européenne est plutôt le troisième Empire français que le quatrième des Allemands. ({4}) Die Bundesregierung setzt sich diesem Ansinnen in keinerlei Weise entgegen. Sie widersteht nicht der Versuchung, den französischen Vorgaben Folge zu leisten. Im Gegenteil: Im Rahmen des Corona-Aufbaufonds „Next Generation EU“ werden nicht nur Milliarden von Euros über südeuropäischen Sanierungsgebieten abgeworfen, sondern die EU nimmt auch noch gemeinsame Schulden auf. Das alles ist ungefähr so nachhaltig wie ein Überraschungsei. ({5}) Alle Erfahrung zeigt zudem: Wer einmal vom süßen Gift des schnellen Kredits, den andere zurückzahlen müssen, gekostet hat, wird irgendwann süchtig. Wir müssen die Spirale der Marktwirtschaftsstörung und ‑schädigung und die EU-Ökogleichschaltung stoppen. Wir müssen unsere Wirtschaft und unsere Sozialsysteme stärken, unsere Grenzen sichern und unsere Identität und Heimat regelrecht regenerieren, ({6}) um den zukünftigen Generationen wenigstens ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu bieten, ({7}) selbst wenn der Wohlstand durch Ihr Treiben schon zu Essig geronnen sein sollte. Danke schön. ({8})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Kurt Schumacher am Ende der Nazidiktatur im Jahr 1946 die deutsche Sozialdemokratie zur Wiedergründung zusammengerufen hat, hat er davon gesprochen, dass das deutsche Volk noch kein positives Verhältnis zur Demokratie entwickelt hat, sondern eher aus Abneigung zur Diktatur nun zur Demokratie neigt. Er hat seine Ausführungen damit geschlossen, dass er dazu aufgefordert hat, in allen Bereichen dafür zu sorgen, dass die Demokratie Einzug hält und dass die Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern auch verinnerlicht und gelebt wird. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man es jetzt, mehr als 70 Jahre später, betrachtet, dann sieht man ja schon, dass Deutschland unter den 22 Demokratien der Welt ist, die als echte Demokratien gezählt werden, wenn man den Global Democracy Index zugrunde legt. Und wir sehen, dass es nicht mal die Hälfte aller Staaten ist, die den Titel „Demokratie“ oder wenigstens „annähernd demokratischer Staat“ überhaupt bekommen. Mehr als die Hälfte der Staaten ist von demokratischen Strukturen weit entfernt. Ein Drittel aller Staaten auf der Welt wird von Diktatoren und Autokraten geführt, und es gibt nicht wenige Staaten – vor allem die Krisenstaaten –, die keinerlei staatlichen Zusammenhalt und keinerlei staatliche Strukturen haben, in denen die Menschen der Willkür derer ausgesetzt sind, die Geld und Macht haben, und in denen die Menschen keine Chance haben, in irgendeiner Form ihr eigenes Leben mitzubestimmen. Vor diesem Hintergrund, finde ich, haben wir allen Grund, auf unsere Demokratie und auf die Errungenschaften unserer Demokratie stolz zu sein. ({1}) Aber wir haben auch allen Grund, diese Demokratie immer wieder aufs Neue zu verteidigen. Ich will einen Aspekt rausnehmen, um den ich mir in den letzten Monaten viele Gedanken gemacht habe: Das ist das Thema „Diskurs in der Demokratie“. Denn Demokratie lebt davon, dass wir diskutieren, dass wir verschiedene Meinungen haben, dass wir gerade nicht moderieren, sondern uns positionieren, dass man sich hinstellt und auch mal aushält, unterschiedlicher Meinung zu sein. ({2}) Und ich fürchte, viele Menschen bei uns im Land – leider auch manche hier im Bundestag – haben verlernt, andere Meinungen überhaupt zu hören. Da geht es nur noch darum, seine eigene Meinung zu postulieren, und gar nicht mehr darum, zu diskutieren, aufeinander einzugehen, sich im Diskurs auseinanderzusetzen. Ich glaube, wir müssen deutlich machen, dass es nicht darum geht, andere irgendwie anzugreifen, wenn man sich auseinandersetzt, sondern dass es einen guten und einen qualifizierten Streit der verschiedenen Ansätze braucht, um zu guten Ergebnissen zu kommen. ({3}) Das bedeutet aber – und das ist das Problem, das bei Ihnen von der AfD dann immer auftritt –, dass man Diskussionen nicht nur mit Sachverstand, sondern vor allem auch mit Respekt vor anderen Menschen führen muss ({4}) und dass es in einer Demokratie notwendig ist, Menschen immer zu respektieren, unabhängig von ihrer Herkunft, unabhängig von ihrem Glauben und unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Wenn das alle im Land verstünden, dann wäre mir nicht bange um unsere Demokratie. Aber im Moment sind wir vor allem gefordert, diese Spielregeln wieder selbstverständlich zu machen: respektvoll miteinander streiten und mit verschiedenen Meinungen am Ende die besten Ergebnisse bekommen. ({5})

Christoph Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004820, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute auch über fiskalische Nachhaltigkeit sprechen. Denn ohne fiskalische, ohne ökonomische Nachhaltigkeit sind all die anderen Facetten, die heute schon hier angeklungen sind und auch morgen und übermorgen besprochen werden, oftmals nichts. Ohne solide Finanzen verlieren wir die Handlungsfähigkeit unseres Staates. Wenn wir eine Bestandsaufnahme machen, wo wir im Jahre 2020 stehen, dann sehen wir: Die Sozialausgaben wachsen seit 2014 deutlich schneller als das Bruttoinlandsprodukt. Jeder zweite Euro im Bundeshaushalt wird für Soziales ausgegeben. Im Rentensystem gibt es Mehrausgaben durch Leistungserweiterungen ({0}) seit 2014 bis 2025 von ungefähr 178 Milliarden Euro – ein beispielloser Anstieg der impliziten Verschuldung. Wenn man sich das alles vergegenwärtigt, Herr Jung, dann müssen Sie, ehrlich gesagt, eigentlich zu dem Ergebnis kommen, dass die Definition von Nachhaltigkeit durch diese Große Koalition in den letzten Jahren gerade nicht gelebt wurde ({1}) und dass es eigentlich an der Zeit ist, zu einer Trendumkehr zu kommen. Wenn wir uns ehrlich machen, dann müssen wir uns eingestehen, dass diese Große Koalition die Früchte des Aufschwungs in den letzten Jahren verfrühstückt, verkonsumiert hat. Wir haben keine Grundlage für solide Finanzen. Das war auch jedem Haushaltspolitiker in den letzten Jahren klar. Es war vor allem auch vor Corona klar. Und nun kommen Corona, der Lockdown und die wirtschaftlichen Folgen dazu. Während Sie hier noch an der schwarzen Null, an einem ausgeglichenen Haushalt festhalten wollen, formulieren Ihr Finanzminister und die Staatssekretärin im Finanzministerium schon munter das Gegenteil, dass nämlich Corona – und das ist unsere Befürchtung – offensichtlich der Einstieg in den nächsten Dammbruch ist, der Deckmantel, um die Schuldenbremse weiter auszuhöhlen. Genau deswegen haben wir mit neuen Forderungen in unserem Antrag ein Beispiel gesetzt, wie man sehr deutlich zu einer ökonomischen Nachhaltigkeit kommen kann. Die wichtigsten Punkte sind, dass wir ökonomische Nachhaltigkeit im Gesetzgebungsverfahren verankern wollen, dass wir einen Schlussstrich unter die Umgehungspraxis bei der Schuldenbremse setzen wollen, was das Thema implizite Schulden angeht – die Verbindlichkeiten, die immer weiter in die Zukunft verschoben werden –, und dass wir aktuell ein Moratorium für alle neuen Ausgaben fordern, die nicht für die Krisenbewältigung notwendig sind. Wenn Sie das alles beherzigen würden, dann könnten wir in der Tat hier im Haus in den nächsten zwei Tagen auch über Nachhaltigkeit diskutieren. ({2}) Das gefällt nicht jedem; das ist unbequem. Es ist einfacher, Geld auszugeben, als zu gucken, wo man Geld einsparen kann, wo man konsolidieren kann. Aber, wie gesagt, wenn Sie es ernst meinen mit Nachhaltigkeit und ernst meinen mit dieser ganzen Woche, dann müssten Sie eigentlich genau dazu kommen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Meyer. – Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Sven-Christian Kindler. ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über nachhaltige Finanzen. Da geht es darum, dass wir gut und verantwortungsbewusst mit den öffentlichen Geldern umgehen und auch keine negativen Wirkungen in anderen Bereichen erzeugen. Aber das Umweltbundesamt stellt jedes Jahr klar, dass der Bund über 50 Milliarden Euro für Subventionen ausgibt, die die Umwelt und das Klima schädigen: für die Flugindustrie, für den schmutzigen Diesel, für die Plastikindustrie. Das verzerrt den Wettbewerb und verhindert Innovationen. Das Geld fehlt für Investitionen und befeuert vor allen Dingen massiv die Klimakrise. Wenn wir also eine nachhaltige Finanzpolitik machen wollen, können wir nicht einerseits Investitionen für Klimaschutz fordern und andererseits Geld für die fossile Industrie ausgeben und die Klimakrise weiter befeuern. Diese Subventionen müssen endlich gestrichen werden. ({0}) Andreas Jung von der CDU hat noch mal deutlich klargestellt, dass die Union unter nachhaltigen Finanzen vor allen Dingen den Fetisch „schwarze Null“ versteht. Aber wenn man vom Fetisch „schwarze Null“ redet, ({1}) dann darf man eben nicht über den Investitionsstau schweigen. Das ist ein sehr eindimensionales Verständnis von Generationengerechtigkeit und nachhaltigen Finanzen. ({2}) Denn was bringt es Kindern und Jugendlichen heute, wenn es eine schwarze Null gibt, aber in den Schulen der Putz von der Decke bröselt? Was bringt es Kindern und Jugendlichen heute, wenn es eine schwarze Null im Haushalt gibt, aber das Geld für Investitionen in Klimaschutz fehlt und ihre Lebensgrundlagen durch die Klimakatastrophe kaputtgemacht werden? Das ist keine nachhaltige Finanzpolitik. ({3}) Wir müssen deutlich mehr investieren und vor allen Dingen die sozial-ökologische Transformation voranbringen. Und noch etwas: Natürlich muss man dafür sorgen, dass Staaten nachhaltig finanziert sind, dass es nicht zu einer Überschuldung kommt. Man braucht auch Regeln für Verschuldung. Aber dann darf man nicht über nominale Schuldenstände oder jährliche Schuldenverbote in Haushalten reden, sondern man muss gucken: Wie sind Schulden nachhaltig, langfristig refinanzierbar? Wie können sich Staaten langfristig gut finanzieren und ihren Aufgaben nachkommen? Wir müssen da doch die Situation wahrnehmen, dass es bei Bundesanleihen gerade negative Zinsen gibt. Das heißt, der Staat kriegt Geld geschenkt, wenn er neue Kredite aufnimmt, und das in einer Situation, wo wir Hunderte Milliarden Euro Investitionsbedarf haben: für Klimaschutz, für Digitalisierung, Pflege, Gesundheit. Wir haben große Transformationsaufgaben vor uns. Da kann man doch nicht sagen, dass man in Zeiten von negativen Zinsen vollständig auf Kredite verzichten will und der Investitionsstau einfach bestehen bleibt. Das ist nicht nachhaltig. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir vom Leitprinzip der Nachhaltigkeit sprechen, dann brauchen wir dafür auch den entsprechenden rechtlichen Rahmen. Wenn man in die Präambel unseres Grundgesetzes schaut, dann sieht man, dass dort steht, dass sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz im „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben hat. Diese Verantwortung betrifft nicht nur die aktuell hier lebenden Generationen, sondern selbstverständlich auch zukünftige Generationen. Die intergenerative Gerechtigkeit ist darin angelegt. Jetzt kann man darüber diskutieren, ob wir es schaffen können, dieses Leitprinzip noch stärker, beispielsweise in Form eines grundsätzlichen Grundgesetzartikels wie etwa Artikel 20, zu verankern und dieses Prinzip zum Leitprinzip unserer Arbeit zu machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, umgekehrt setzt eine nachhaltige Politik in den unterschiedlichsten Themenbereichen – über all diese diskutieren wir ja auch in diesen Tagen – Rechtsstaatlichkeit voraus, einen demokratischen, offenen Rechtsstaat, der in der Lage ist, den Rahmen für eine solche Politik zu setzen. Das bedeutet im Klartext auch, dass Rechtsstaatlichkeit, die wir häufig als Selbstverständlichkeit ansehen, weil wir sie nämlich haben, die Grundvoraussetzung für Prosperität, für Innovation ist, dafür, dass wir so leben können, wie wir das in unserem Land tun. Dabei sollte uns auch bewusst sein, dass der Rechtsstaat am Ende nicht zum Nulltarif zu bekommen ist. Das haben wir auch im Januar des letzten Jahres gesehen, als Bund und Länder einen Pakt für den Rechtsstaat verabschiedet haben, wo es genau um diese personelle, sachliche und finanzielle Ausstattung von Justiz und Sicherheitsbehörden ging. Zur nachhaltigen Politik gehört dazu – das sagen wir an unsere eigene Adresse gerichtet –, dass wir bei den Gesetzen, die wir machen, auch darauf achten, dass der Bonus, der sich sozusagen aus 2 000 zusätzlichen Stellen in der Justiz und 15 000 zusätzlichen Stellen im Bereich der Sicherheitsbehörden ergibt, nicht wieder dadurch aufgezehrt wird, dass diese von uns gemachten Gesetze im Zweifel Aufgaben für die Sicherheitsbehörden und die Justiz enthalten, deren Wahrnehmung verfassungsmäßig gar nicht geboten ist. In einer solchen Situation sind wir auch aufgefordert, Herausforderungen des Rechtsstaates kraftvoll zu begegnen. Das ist beispielsweise dann gegeben, wenn es Formen von Paralleljustiz gibt, etwa im Bereich der Clankriminalität, wo unsere Rechtsordnung dem Grunde nach nicht anerkannt, sondern im Gegenteil sogar verhöhnt wird. Deswegen brauchen wir Ansätze, wenn es sich abzeichnet, dass Friedensrichter unser Rechtssystem in ihrer Legitimität untergraben wollen. Das Gleiche gilt im Bereich der organisierten Kriminalität, wenn beispielsweise über Geldströme versucht wird, unseren Rechtsstaat zu delegitimieren und zu unterminieren. Deswegen schauen wir uns das ganz genau an, wenn wir uns mit Gesetzen wie etwa dem Geldwäschegesetz beschäftigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch einen letzten Gedanken. Ich glaube, wir müssen es schaffen, das Sicherheitsversprechen des Staates in einer Welt kolossaler Veränderungen und digitaler Transformation zu erneuern. Das ist die Aufgabe, die unserer Generation gestellt wird, damit wir auch zukünftig in Sicherheit und Freiheit eine nachhaltige Politik in unserem Land gestalten können. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Thorsten Frei. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn wir über Nachhaltigkeit diskutieren, dann stehen ja oft ökologische Fragen, Klimaschutz oder die Umweltpolitik im Vordergrund; das verbindet man eigentlich zuerst mit Nachhaltigkeit. Aber auch die Rechtspolitik, für die ich hier sprechen darf, hat natürlich ein großes Interesse an nachhaltiger Politik; denn die Vereinten Nationen haben ja in 17 Artikeln die globalen Nachhaltigkeitsziele formuliert und beschlossen, und mindestens drei dieser Ziele, auf die ich eingehen möchte, haben rechtspolitische Relevanz. Mir ist wichtig, dass wir klarmachen: Wir haben durchaus auch in der Rechtspolitik schon nachhaltige Politik für die Bürgerinnen und Bürger gemacht. Aber eines ist mir besonders wichtig: Wir dürfen über Nachhaltigkeit nicht nur diskutieren, sondern wir müssen auch handeln. Wir müssen konkrete, nachhaltige Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) In Artikel 5 der Nachhaltigkeitsziele der UN wird die Gleichstellung von Mann und Frau gefordert. Jetzt könnte man sagen: Die haben wir doch; sogar im Grundgesetz steht die Gleichberechtigung von Mann und Frau. – Aber weit gefehlt! Ich glaube, wir haben hier noch großen Handlungsbedarf in Deutschland, zum Beispiel, wenn es darum geht, dass auch Richterinnen gute Karrierechancen haben sollen. Vor allem aber ist uns in der SPD wichtig, dass Frauen auch in Vorständen die Chance haben, Karriere zu machen. Deswegen brauchen wir nicht die Regelung, wie wir sie heute haben – ich glaube, diese freiwillige Regelung kann man als nicht erfolgreich bezeichnen –, sondern wir brauchen dringend eine verbindliche Regelung, damit auch Frauen in den Vorständen von Unternehmen in Deutschland Posten bekommen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Vereinten Nationen fordern in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie auch, dass Frauen und Mädchen vor Gewalt geschützt werden. Da haben wir schon einiges gemacht, etwa den Stalking-Paragrafen verschärft. Wir haben hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz gegen Kinderehen beschlossen. Ich freue mich auch sehr, dass Ministerin Christine Lambrecht einen umfassenden Vorschlag vorgelegt hat, wie wir insbesondere Mädchen besser vor sexueller Gewalt schützen können. Frau Ministerin, das war ein guter Vorschlag. Ja, wir haben in vielen Paragrafen einen erhöhten Strafrahmen vorgesehen – das ist richtig und wichtig –, aber eben nicht nur. Wir setzen auch auf Prävention, auf eine bessere Richterausbildung, und wenn es nach der SPD geht, dann müssen endlich die Kinderrechte ins Grundgesetz. Auch das wäre ein ganz wichtiger, nachhaltiger Fortschritt in Deutschland. ({2}) In Artikel 11 der Nachhaltigkeitsstrategie werden nachhaltige Städte und bezahlbarer Wohnraum gefordert. Hier haben wir schon eine Menge gemacht, aber gerade im Mietrecht könnten wir noch mehr machen. Die Mietpreisbremse sollte deutschlandweit gelten. Es gibt noch viele weitere Vorschläge, die wir gemacht haben. Denn eines ist klar: In einer nachhaltigen Gesellschaft darf gerade das Wohnen, das eine so zentrale Bedeutung für die Bürgerinnen und Bürger hat, nicht dem freien Markt, nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden. Vielmehr braucht es eine soziale, staatliche Regulierung. Gerade wenn wir bezahlbares Wohnen nachhaltig sichern wollen, müssen wir noch eine ganze Menge tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Schließlich fordert Artikel 16 der Nachhaltigkeitsziele starke Institutionen, und das vollkommen zu Recht. Ich glaube, dass eine freie Gesellschaft nur mit einem starken Rechtsstaat, der den Bürgerinnen und Bürgern ihre Freiheitsrechte garantiert und sie schützt, überleben kann. Zu diesen Freiheitsrechten gehört zum Beispiel die Pressefreiheit; dazu liegen einige Anträge vor. Wir von der SPD sind der Meinung: Wir brauchen dringend eine Rechtsgrundlage dafür, dass Behörden Medien Auskunft geben müssen, wenn die Pressefreiheit wirklich effektiv zum Schutz unserer Demokratie ausgeübt werden soll. Das ist für uns ein ganz wichtiges Ziel, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wir brauchen auch mehr Personal in der Justiz. Die besten Gesetze nutzen nichts, wenn wir zu wenig Personal für deren Anwendung haben. Deshalb ist es für uns ein ganz wichtiges Ziel, dass wir in einer nachhaltigen Gesellschaft eine personell gut ausgestattete Justiz haben, die die Rechte der Bürgerinnen und Bürger sichert und wahrt. Vielen Dank. ({5})

Rüdiger Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004083, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kollegin Vogt, herzlichen Dank für Ihre Worte eben. Ich fand sie sehr treffend und wohlüberlegt. Demokratie lebt hier im Hause vom Streit, und zwar innerhalb des Rahmens der Demokratie. Demokratie lebt insgesamt davon, dass sie von der Bürgergesellschaft getragen und akzeptiert wird, dass Interesse und Begeisterung dafür besteht. Genauso ist es auch mit dem Projekt der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit funktioniert nicht als Elitenprojekt. Wir können die Nachhaltigkeit in all ihren Facetten nicht in einem technokratischen Verfahren umsetzen. Das heißt, wir müssen Interesse dafür wecken und nach Möglichkeit Engagement und langfristige Begeisterung. Dafür, dass Nachhaltigkeit so leicht zu erklären ist, ist es verdammt schwierig. Vor einigen Tagen haben sich Fritz Keller, Celia Sasic, Günther Bachmann, Philipp Lahm und ich getroffen. Spätestens wenn Sie bei meinem Namen ankommen, wissen Sie, dass es nicht um die Aufstellung der Nationalmannschaft gehen kann. Allerdings haben wir über Fußball geredet, nämlich über die Europameisterschaft 2024. Die Idee ist, die Spiele klimaneutral zu gestalten. Nun kann man sagen: Gut, es ist schön, dass sich der DFB dafür engagiert; das ist eine gute Sache. – Aber die Idee ist auch, zu sagen: Wir machen das die ganze Zeit, so wie damals 2006, als selbst Menschen wie ich hochbegeistert und motiviert waren von der Stimmung, von dem, was wir „Sommermärchen“ nennen. Damals hat das ganze Land begriffen, dass es Gastgeber ist. Es hat sich in dieser Rolle wohlgefühlt. Es war auch ein guter Gastgeber. Das ist das, was geblieben ist. Wir wollen versuchen, zu motivieren: Man kann bei dem Projekt von Juni bis Juli 2024 mitspielen, indem man dafür sorgt, dass die Stromversorgung in diesem Land komplett klimaneutral ist. Die Aufgabe ist, das in den großen Stadien entsprechend zu organisieren – das kann man machen –, es kann aber auch jeder Bäckereibetrieb und jeder Einzelne machen. Wir wollen die Ergebnisse dann sammeln und sichtbar machen. Die Idee dahinter ist natürlich nicht nur, zu sagen: Jetzt sind wir für einen Monat mal ganz weit vorne. – Vielmehr geht es darum, dass man das gemeinschaftlich macht und dass das auch Freude macht. Man kann sich erst mal nur für einen Monat entscheiden, um etwas einzuüben, das vielleicht hängen bleibt und dauerhafte Begeisterung erzeugt. Das Gute ist: Heute und morgen diskutieren wir fast ausschließlich über das Thema Nachhaltigkeit. Das haben wir noch nie gemacht, und das ist ein klares Indiz dafür, dass wir bereit sind, das Prinzip der Nachhaltigkeit zur Leitlinie unserer Politik zu machen. Das ist auch notwendig. Das wird von außen auch gesehen. Ein Akteur wie der DFB hat es nicht nötig, auf uns zu reagieren, damit er ein bisschen Öffentlichkeit bekommt – seine Ankündigungen werden auch so wahrgenommen –, aber ganz bewusst ist diese Entscheidung heute veröffentlicht worden mit Bezug auf die Debatte hier im Parlament, um zu sagen: Das ist die Handreichung. Das, was ihr diskutiert, was ihr im Parlament bewegen wollt, das wollen auch wir bewegen, jeder an seiner Stelle, gemeinschaftlich. Es ist wie bei jedem Spiel: Es ist nicht sicher, dass wir es gewinnen, aber wir wollen es gewinnen, und hierfür gibt es gute Vorbilder im Sport. Deswegen hat es mir besondere Freude gemacht, mit diesem Team ein gemeinsames Spiel zu verabreden. Das beginnen wir schon jetzt und die Krönung soll 2024 sein. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Rüdiger Kruse. – Der letzte Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf heute zum Thema Nachhaltigkeit aus der Sicht des Finanzausschusses sprechen. Wir erleben momentan, dass Finanz- und Umweltthemen in Bezug auf Nachhaltigkeit durchaus konträr sein können, aber man möchte momentan die Finanzpolitik nutzen, um die Nachhaltigkeit im Umweltbereich voranzubringen. Das Ziel, meine Damen und Herren, die Ressourcen und die Kräfte der Finanzmärkte zu nutzen, ist ein richtiger Ansatz. Die Frage ist nur, ob der Weg, den wir gerade beschreiten, der richtige ist. Da wir heute so grundsätzlich breit, teilweise philosophisch, die Diskussion hier im Parlament geführt haben, halte ich es für gegeben, dass wir uns das Thema heute zum Abschluss konkret anschauen. Es wird schon länger darüber diskutiert, dass die Förderbanken in Europa, EIB und KfW, sich zukünftig primär nach Umweltthemen ausrichten. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Politik prozyklisch im negativen Sinne beim Strukturwandel wirkt. Im Zuge der neuen Strategie der Europäischen Zentralbank wird darüber diskutiert, dass zukünftig Umwelt- und ESG-Ziele in die Politik der Europäischen Zentralbank Einzug halten sollen. Das heißt, dass die Marktneutralität der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank aufgegeben wird und neue Prioritäten – – ({0}) – Nein, das ist kein Quatsch, Frau Kollegin. Es geht genau darum – ich komme gleich noch auf etwas zu sprechen, das den Grünen wehtut –, dass die Marktneutralität aufgegeben wird. ({1}) Es ist ein Gut der Deutschen, dass die Zentralbanken unabhängig sind. Dass Sie das gerne politisieren und im Inflationsziel abweichen, um zusätzliche Ziele zu erreichen, das wissen wir, aber eine Politisierung der Zentralbank ist genau der falsche Weg und bringt eine Beliebigkeit der Geldpolitik mit allen negativen Konsequenzen. ({2}) Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die aktuelle Diskussion über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, die in die gleiche Richtung geht: Man möchte Investitionen in Ökologie, in Umwelt zukünftig ein Stück weit nicht auf die Schuldenquote anrechnen. Man möchte sozusagen gute Schulden und schlechte Schulden haben. Auch hier jubeln die Grünen. Ich möchte Sie nur daran erinnern: Als Präsident Sarkozy die Meinung vertrat, man solle Rüstungsinvestitionen nicht anrechnen, weil sie wichtig für einen Staat sind, kam von Ihnen ein großer Aufschrei. Meine Damen und Herren, es gibt nicht gute und schlechte Schulden. Es gibt Schulden der Staaten. Und wir müssen zusehen, dass die Staaten nach der Coronakrise von diesem Schuldenstand wieder runterkommen. Es bringt nichts, die Schulden zwischen den ESG-Kriterien beliebig hin und her zu schieben. ({3}) Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft den Kapitalmarkt. Da ist die Kombination ganz besonders bemerkenswert: Auf der einen Seite stehen Teile der europäischen Finanzwirtschaft und auf der anderen Seite die NGOs. Deren Ziel ist momentan, dass man im Bereich der Finanzmarktregulierung die Priorisierung so vornimmt, dass gute, grüne Projekte weniger Risiko haben – das ist der sogenannte Green Supporting Factor – und andere Projekte ein entsprechend höheres Risiko haben. Ich möchte nur daran erinnern: Der Ursprung der Subprime-Krise war die Politisierung der Kapitalmärkte. Die amerikanische Politik wollte, dass Menschen mit Low Income Immobilien erwerben konnten. Die Folgen davon trafen auch uns hier in Europa. Von daher möchte ich darauf drängen, dass wir die Politisierung in dem Bereich nicht weiter vorantreiben. Alle, die heute das Hohelied der Demokratie zu Recht gesungen haben, bitte ich, es auch auf europäischer Ebene anzustimmen, wenn es um die Expertengremien geht, also um Level 2 und Level 3 – jetzt wird es ein bisschen technisch; es tut mir leid, aber zum Abschluss will ich Sie noch mit etwas Konkretem behelligen –: Dadurch, dass Vertreter von NGOs in den Expertengremien sitzen, werden Regelungen nicht demokratischer. Ich bitte alle, die hier gerade für die Demokratie geworben haben, dafür zu kämpfen, dass die wichtigen Entscheidungen demokratisch getroffen werden und nicht in intransparenten Expertengruppen. ({4}) Wir müssen für Innovationen und für Wettbewerb eintreten, und dafür brauchen wir Rahmenbedingungen wie Haftungsregeln und Transparenz. Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Wir befinden uns gerade in der Vorbereitung auf einen Wirecard-Untersuchungsausschuss. Wir haben erlebt, dass Wirtschaftsprüfer, dass Aufsichten an der Komplexität von Unternehmen und Finanzprodukten gescheitert sind. Lassen Sie uns diese ganze Thematik nicht noch weiter verkomplizieren, sodass noch weniger Menschen durchblicken; denn es besteht die Gefahr, dass Leute, die den schnellen Gewinn suchen, dadurch entstehende Möglichkeiten nutzen. Bleiben wir bei einfachen Regeln. Ich glaube, das ist der beste Weg, auch im Sinne der Nachhaltigkeit, sowohl in der Umwelt als auch in der Finanzwirtschaft. Besten Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Radwan. – Ich schließe die Aussprache.